Der erste Papst : Archäologen auf der Spur des historischen Petrus 3629016650

Minutiös rekonstruieren der deutsche Historiker Michael Hesemann und die römische Kirchengeschichtlerin Eva-Maria Jung-I

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German Pages [331] Year 2003

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Der erste Papst : Archäologen auf der Spur des historischen Petrus
 3629016650

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Archäologen auf der Spur des historischen Petrus

Michael Hesemann

Der erste Papst

Michael Hesemann

Der erste Papst Archäologen auf der Spur des historischen Petrus Unter Mitarbeit von Prof. Dr. Eva-Maria Jung-Inglessis

Pattloch

Bildnachweis: Mit freundlicher Genehmigung der Fabbrica di San Pietro in Vaticano: 3-8, 10-11, 33-35, 37-38, 43-46; der Sala Stampa della Santa Sede: 1-2; des Osservatore Romano: 19; der Custodia Terra Santa: 12; der Israeli Antiquity Authority: 15-16; des Archivs Prof. Margherita Guarducci: 9, 53; Archiv Eva-MariaJung-Inglessis: 31, 36, 39-42, 47-50; Archiv Michael Hesemann: 13-14, 17-18, 20-30, 32, 51-52

Es ist nicht gestattet, Abbildungen dieses Buches zu scannen, in Computern oder auf CDs zu speichern oder in PCs/Computem zu verändern oder einzeln oder zusammen mit anderen Bildvorlagen zu manipulieren, es sei denn mit schrifdicher Genehmigung des Verlages.

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Herausgegeben von Hans Christian Meiser.

Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem Papier.

© 2003 Patdoch Verlag GmbH & Co. KG, München Umschlag: ZERO Werbeagentur, München, unter Verwendung einer Abbildung von FinePic Satz und Gestaltung: Hartmut Czaudema, München Reproduktion: Repro Ludwig, Zell am See Druck und Bindung: Ebner & Spiegel, Ulm Printed in Germany ISBN 3-629-01665-0

Bitte besuchen Sie uns im Internet: www.droemer.knaur.de

Dem 265. Nachfolger Petri, Papst Johannes Paul II., zum 25. Pontifikatsjubiläum

gewidmet.

Tu es Petrus! (MT 16,18)

Ubi Petrus, ibi Ecclesia (Augustinus)

Inhalt Einleitung 8

I

Unter den Grotten des Vatikans 17

II

Betsaida 51

III

Kafarnaum 73

IV

Auf Wanderschaft 100

V

Jerusalem 117

VI

Nach dem dritten Tag 144

VII Rom 167 VIII Antiochia, Korinth und Jerusalem 188

IX

Martyrium in Rom 203

X

Verschlusssache Petrus? 228

Epilog: Ein neues Bild des hl. Petrus 261

Anhang A: Ein Gang durch den Petersdom 267 Anhang B: Wie Sie das Petrusgrab besuchen können 278 Anmerkungen 280 Bibliographie 299

Einleitung Uer Gang ist eng. Ich steige eine schmale Steintreppe hinab. Wie von unsichtbarer Hand öffnet sich vor mir eine schwere Panzerglas­ tür. Sie macht den Weg frei in eine geheimnisvolle unterirdische Welt, in der die Zeit stehen geblieben zu sein scheint. Vor mir erhebt sich eine Fassade, die vor 1800Jahren errichtet wurde. Man sieht ihr dieses hohe Alter nicht an, so gut wurde sie von der feuchten Erde des vatikanischen Hügels konserviert. Ein Tor führt ins Innere einer Grabkammer, in deren Mitte ein stuckgeschmückter Altar steht. In ihre Wände sind Bögen und Nischen eingefügt, in denen steinerne Urnen stehen. Das Rot und das Azurblau der Wandmalereien wir­ ken wieder frisch wie am ersten Tag dank der aufwändigen Restau­ rierung, die in den letzten Jahren stattfand. Seit der Entdeckung des Mausoleums vor 60 Jahren waren die Farben stark verblasst. Als ich die letzten Stufen nehme und nach links und rechts blicke, sehe ich, dass die Ziegelfassade dieser Grabkammer nur Teil einer ganzen Totenstraße aus römischer Zeit ist, die sich zu meiner Linken und Rechten erstreckt. Diese Nekropole ist schon dadurch einzigar­ tig, dass sie in der künsdichen Plattform konserviert wurde, auf der sich heute die größte Kirche der Christenheit erhebt, der Petersdom. Ganze 20 Mausoleen hatten die Archäologen Anfang der 40erJahre des 20. Jahrhunderts freigelegt. Am Ende ihrer Suche enthüllten sie das größte Geheimnis der römischen Kirche, lokalisierten sie das Grab ihres Begründers, des Apostelfürsten Petrus. Der Fischer aus Galiläa ist eine der faszinierendsten Persönlichkei­ ten der Weltgeschichte. Jesus von Nazareth, in dem er den Sohn Got­ tes erkannte, hatte ihm den Auftrag erteilt, »seine Schafe zu weiden« (Joh 21, 17), ihn als den Fels bezeichnet, auf dem er seine Kirche er­ richten wollte (Mt 16, 18). Petrus, der eigentlich Simon Bar Ioanan Joh 1, 42; 21, 15-17) hieß, war vielleicht auf den ersten Blick nicht gerade die Idealbesetzung für diese Aufgabe. Seine administrativen Fähigkeiten beschränkten sich auf die Leitung eines familiären Groß­ betriebes, seine Bildung war begrenzt. Trotzdem erfüllte er seine 8

Aufgabe mit Bravour. Bis zu seinem Tod fast vierJahrzehnte später hatte er das Evangelium in die wichtigsten Metropolen der antiken Welt getragen, hatte zu Juden und Heiden gepredigt und den Grund­ stein für die römische Kirche gelegt, die in den nächsten 2000Jahren zur größten Religionsgemeinschaft der Welt mit heute über einer Milliarde Mitgliedern anwachsen sollte. Diese Kirche überdauerte tatsächlich die Wirren der Zeiten und bewies die Wahrheit des Ver­ sprechens Jesu, dass selbst »die Pforten der Unterwelt«, das Reich des Todes, »sie nicht überwältigen« (Mt 16, 18) könne. Als ich zum ersten Mal die Totenstraße unter dem Vatikan be­ suchte, bereitete gerade der 265. Nachfolger Petri, Papst Johannes Paul II., das »Heiligejahr« 2000 und damit den Eintritt der Kirche in das dritte Jahrtausend vor. Zu diesem Anlass hatte man auch die va­ tikanischen Ausgrabungen liebevoll restauriert und neu ausgeleuch­ tet, was jetzt Journalisten aus der ganzen Welt zu sehen bekamen. Weiter der Presseführung folgend, bestaune ich die Meisterwerke antiker Grabbaukunst und die ersten Zeugnisse chrisdicher Bestat­ tungen in ihrer Mitte. Die Totenstraße führt den vatikanischen Hü­ gel hinauf, wird immer wieder durch Stufen unterbrochen. Schließ­ lich kommen wir an ein schmales Fenster in der Wand, durch das sich das einfachste, aber bedeutendste Grab der gesamten Anlage er­ ahnen lässt: das Grab Petri aus dem 1. Jahrhundert, das sich genau unter dem heutigen Papstaltar befindet und dessen seidiche Stütz­ mauer noch erkennbar ist. Es zu finden war das eigentliche Ziel der Ausgrabungen zwischen 1940 und 1950 gewesen, seine Entdeckung eine Weltsensadon; eine fast 2000 Jahre alte Tradition war erstmals durch die Methoden der modernen Archäologie bestätigt worden. Doch erst heute, durch die neuesten Erkenntnisse, lassen sich die Konsequenzen dieses Fundes in ihrer ganzen Tragweite erfassen: Die Kirche Roms steht seitdem nicht länger auf den unsicheren Funda­ menten einer Legende, sondern auf dem »Felsen« Petrus selbst! Was vollbrachte dieses Wunder, das aus dem einfachen Fischer ge­ wissermaßen den ersten Papst machte, einen Mann, der Fundamen­ te legte, die selbst das Rom der Cäsaren überdauerte? Ich denke, es waren sein Gottvertrauen und seine starke Liebe zu Christus. Die Evangelien, die Petrus öfter erwähnen als alle anderen Jünger zusam­ men, machen gar nicht erst den Versuch, sein Bild schönzufarben. Sie schildern sein aufbrausendes Wesen und seine menschlichen 9

Schwächen, seine Zweifel und Ängste, seine Verleumdung Christi und seine tiefe, tränengetränkte Scham danach. Mit all seinen Über­ reaktionen, Fehlem und den darauf folgenden Kompensationen war Petrus jedoch auch ein Mann der großen Gefühle, temperamentvoll und leidenschaftlich. So kraftvoll, so stark war der Eifer für seinen Meister, dass er andere mitreißen und begeistern konnte, Christus nachzufolgen - bis in den Tod. Wer weiß, ob die Missionsarbeit der ersten Christen ohne einen Mann wie Petrus je so erfolgreich verlau­ fen wäre ... Doch nicht der Eifer Petri allein machte diesen Erfolg möglich, sondern in erster Linie die Wirkungskraft des Evangeliums Jesu, das zu verbreiten er ausgezogen war. Man mag darin aber auch ein Werk der göttlichen Vorsehung sehen, wie Kardinal Ratzinger, als er schrieb: »Petrus, ein schwacher Mensch, wurde gerade deshalb zum Felsen er­ wählt, damit offenbar werde, dass der Sieg Christus allem gehört und nicht menschlichen Kräften zuzuschreiben ist. Der Herr wollte seinen Schatz in zer­ brechlichen Gefäßen durch die Zeiten tragen: So ist die menschliche Schwach­ heit zum Zeichen der Wahrheit der göttlichen Verheißungen geworden.«1 War Petrus wirklich »der erste Papst«, wie es der Titel dieses Bu­ ches behauptet? Auf den ersten Blick erscheint diese Behauptung an­ maßend, provozierend, ja anachronistisch, denn zu Lebzeiten Petri gab es den Titel »Papst« noch gar nicht. Petrus selbst bezeichnet sich im ersten Petrusbrief nur schlicht als »Apostel Jesu Christi« und »ein Äl­ tester wie sie und ein Zeuge der Leiden Christi« (1. Petr 5, 19). Aus den Äl­ testen wurden Presbyter und Bischöfe, aber der Titel papa war bis zur Wende vom 3. zum 4. Jahrhundert in Rom unbekannt. Wir fin­ den ihn zum ersten Mal in Rom in der Katakombe von San Callisto in einer Inschrift des Diakons Severus, die sich auf Papst Marcellinus (296-304) bezieht: IUSSU PP SUI MARCELLINUS. Das Kürzel PP steht für PAPA, ein Wort aus dem Griechischen und Ausdruck liebevoller Verehrung, etwa wie »Väterchen«. Nur ganz allmählich bürgerte es sich in Rom als Bezeichnung für das Oberhaupt der Kir­ che ein. Im Liber Rmtificalis, der offiziellen Chronik der Päpste, wird zum ersten Mal Agapitus I. (535-536) nicht mehr als episcopus (d. h. Bischof von Rom), sondern als papa bezeichnet. Von diesem Zeit­ punkt an wird es zur Regel. Trotzdem lassen die Evangelien keinen Zweifel daran, dass Petrus von Anfang an der Erste unter den Zwölfen war; alle Namenlisten 10

der Apostel nennen ihn an erster Stelle, er ist ihr Wortführer und selbst am leeren Grab Christi lässt Johannes ihm den Vortritt. Ganze 135-mal wird sein Name in den Evangelien genannt, öfter als alle an­ deren Apostel zusammen (107-mal). Der Apostelgeschichte zufolge stand er auch der Jerusalemer Urgemeinde in den ersten 12 Jahren (vom Pfingstfest des Jahres 30 bis zum Paschafest des Jahres 42) vor. Das entsprach dem Jesus-Wort, wonach Petrus der Fels sei, auf dem Jesus seine Kirche aufbauen wollte. Doch wie zuverlässig sind die Schilderungen der Evangelien? Be­ ruhen sie auf Augenzeugenberichten, wie die Tradition behauptet, oder haben kritische Theologen Recht, die ihre Entstehung in die zweite Generation von Christen, die Zeit zwischen 70 und 120 n. Chr., datieren? Zudem ist strittig, ob sich diese Weisung auf Petrus als In­ dividuum oder auf ein Petrusamt bezog. Doch da Jesus mit demsel­ ben Satz ankündigte, dass auch die Mächte der »Unterwelt«, des To­ des und der Vergänglichkeit, diese Kirche nicht überwältigen könn­ ten, ist der Schluss legitim, dass ihm die Ewigkeit im Sinn war, nicht nur die nächsten Jahrzehnte der Lebensspanne seines Jüngers. Hat Petrus einen Nachfolger ernannt? Die erste Papstliste ist mehr als 100 Jahre nach seinem Martyrium entstanden. Irenäus, der Bi­ schof von Lyon, war um das Jahr 180 in Rom und hat dort nach den Namen der ersten römischen Bischöfe geforscht. In Adversus haereses schreibt er: »Als die seligen Apostel die Kirche (von Rom) gegründet und aufgebaut haben, legten sie Linus das Amt des Bischofs in die Hände.«2- Da­ nach zählt Irenäus die Nachfolger auf: Anacletus, Clemens, Evaristos, Alexander, Sixtus, Telephoros, Hyginos, Anicetus, Soter bis Eleutheros (175-189). In der 2000-jährigen Geschichte des Papst­ tums gab es nach der offiziellen Liste im Annuario Pmtifido bis heute 265 Päpste. Wie zutreffend jedoch ist die Tradition, dass es Petrus war, der die römische Kirche begründete? Schon die Sekten der Albigenser und Waldenser im 12. und 13. Jahrhundert haben sie angezweifelt, weil die Apostelgeschichte nichts vom Wirken Petri in Rom berichtet. Auch Marsilius von Padua äußerte in seiner Schrift Defensor Pacis von 1326 ernste Zweifel, ob Petrus je in Rom gewesen sei. Dann kam Luther und sprach 1545 in seiner Schmähschrift Wider das Papsttum w. Rom vom Teufel gestiftet einen schweren Verdacht aus: »Wie wol hier sind etliche Gelehrten / die wollen / das Sand Peter nix gen Rom sei kommen. 11

Und sollt dem Pipst sauer werden / sich zu wehren / wider solche Schrifft. Ich will hierin nicht Richter sein. Sand Rter sey da gewest oder nicht... Aber das kann ichfröhlich sagen / wie ich gesehen und gehört hab zu Rom / das man zu Rom nicht weis / wo die Cörper S. Rtri und Pauli liggen / oder ob sie da liggen. Solches weis Bapst und Cardinal seer wol, das sie es nicht wissen.«* In unseren Tagen bestritten prominente Kirchenkritiker wie der SpiegelBegründer Rudolf Augstein4 und die Theologin Prof. Uta RankeHeinemann5 die Tradition vom Wirken und Sterben des Petrus in Rom. Allerdings ist diese Tradition sehr alt und in den ersten Jahrhun­ derten des Christentums nie infrage gestellt worden. Nur drei Jahr­ zehnte nach ihrem Martyrium schrieb Bischof Clemens von Rom, dass Petrus und Paulus und mit ihnen die Schar der namenlosen ers­ ten Märtyrer »unter uns zum schönsten Vorbild geworden sind^. Ein halbes Jahrhundert später spielte Bischof Ignatius von Antiochien auf die Apostel an, wenn er an die Römer schrieb: »Nicht wie Petrus und Pau­ lus befehle ich euch.«1 Auch Dionysius, Bischof von Korinth, bezog sich auf die beiden Apostel, als er um 170 den Römern erklärte: »So habt auch ihr durch solche Ermahnung die durch Pstrus und Paulus versehene Pflanzung bei den Römern ... verbunden. Beide nämlich haben gleichermaßen ...in Italien am gleichen Ort lehrend zur gleichen Zeit das Martyrium erlit­ ten.^ Um 180 bezeichnete Irenäus von Lyon die römische Kirche als »sehr große und alle und allen bekannte, von den ruhmreichen Aposteln Pstrus und Paulus begründete und konstituierte«? Um 200 rühmte sie der Kir­ chenlehrer Tertullian: »Wie glücklich ist diese Kirche (von Rom), zu deren Heil die Apostel (Petrus und Paulus) ihre Lehre zugleich mit ihrem Blut ver­ strömt haben.«10 Etwa zeitgleich berichtete der römische Priester Gaius von der Verehrung der Apostelgräber an der Straße nach Ostia und auf dem Vatikanhügel.11 Um 320, noch vor dem Bau der ersten Peterskirche, stellte Bischof Eusebius von Caesarea fest: »Simon, ge­ nannt Pstrus, brach von Kefarnaum, einer Stadt in Galiläa, auf, erleuchtete zahllose Seelen mit dem Licht der Erkenntnis Gottes und wurde bekannt in der ganzen Welt bis zu den Ländern des Abendlandes; und die Erinnerung an ihn ist bei den Römern lebendiger dennje ... sodass er sogar die Ehre eines glän­ zenden Grabmals vor der Stadt erhielt, ein Grabmal, zu dem, wie zu einem großen Heiligtum und Gotteshaus, unzählige Scharen von allen Seiten des römischen Imperiums eilten.«12 Doch welchen historischen Wert haben diese Überlieferungen 12

und Traditionen, wie lässt sich ihr Wahrheitsgehalt überprüfen? Ei­ gentlich nur durch die Archäologie! Als ich durch das schmale Fens­ ter auf das Grab schaute, in dem, wie mir unser Führer sagte, einst Petrus bestattet war, beschloss ich, den Spuren des Apostelfiirsten zu folgen, herauszufinden, was wir wirklich über den Fischer wissen, seine Welt und sein Wirken - und damit über den Ursprung und die historischen Wurzeln des heutigen Papsttums, das sich im Heiligen Jahr 2000 in seiner ganzen weltlichen und geistlichen Fülle präsen­ tierte. Dabei kam ich in Kontakt mit einer bemerkenswerten Frau, die ihr Leben in den Dienst der Erforschung dieser Frage gestellt hat, der deutschstämmigen, aber in Rom beheimateten Historikerin Prof. Dr. Eva-Maria Jung-Inglessis. Eine Reihe wichtiger Führer durch den Petersdom und die Ewige Stadt stammen aus ihrer Feder. Prof. Jung-Inglessis gehört zu den wenigen heute noch lebenden Augenzeugen der Ausgrabungen unter dem Petersdom. Daher lud ich sie ein, bei dem Rom betreffenden Teil dieses Buches meine Koautorin zu sein. So schilderte sie mir die ganze abenteuerliche Geschichte von der Auffindung der oben beschriebenen antiken To­ tenstraße und der Suche nach dem Grab und den Gebeinen Petri. Es ist eine Geschichte, die zu Petrus passt: voll menschlicher Schwä­ chen, Irrtümer und Intrigen, voller Ängste und Vertuschungen, doch gekrönt von einem unerwarteten Triumph. Es ist Prof. Jung-Inglessis’ Verdienst, dass diese Geschichte heute, nach über 50 Jahren, zum ersten Mal in vollem Umfang geschildert werden kann. Aber lassen wir sie ihre Geschichte mit eigenen Worten schildern: »In den schweren Kriegsjahren, als ich noch einejunge Studentin war, arbei­ tete ich im Archiv der Reverenda Fabbrica di San Pietro. Das ist die Bau­ hütte der Peterskirche, verantwortlich jur die Verwaltung und Erhaltung der größten Kirche der Christenheit. Jetzt hat man die Bezeichnung reverenda, d. h. ehrwürdig gestrichen und spricht nur noch von der Fabbrica di San Pietro, abgekürzt FSP. Das Archiv befand sich hoch oben in den ^wischen­ räumen der Peterskuppel. Um dorthin zu gelangen, musste man eine marmor­ verkleidete Wandtür in der Kapelle der hl. Rtronilla aufstoßen und eine steile Wendeltreppe hochsteigen, die kein Geländer hatte. Man konnte sieh nur an einem langen Seilfesthalten, das in der Mitte der Wendeltreppe von oben he­ runterhing. In diesen Räumen wurden die Akten der Fabbrica aufbewahrt, Baupläne, Rechnungen, Verträge, Prozesse und dergleichen mehr, angefangen von 1506, dem Gründungsjahr des neuen Petersdomes, und weit über das

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Einweihungsjahr der Kirche, 1626, hinaus. Es war ein idealer Arbeitsplatz jurjemanden wie mich, der sich mit Kirchengeschichte, christlicher Archäologie und Kunstgeschichte beschäftigte. Nur war es im Winter dort oben eiskalt. Der Archivar hatte daherJur den Notfall immer eine kleine Cognarflasche in seiner tiefen Soutanentasche stecken. Der Leiter der Bauhütte war damals der Prälat Ludwig Koos aus Trier, ein in Deutschland sehr bekannter Name, denn er war bis 1933 Leiter der Zentrumspartei gewesen. Durch seine parteipolitische Arbeit hatte er viel mit dem Nuntius in Berlin, Eugenia Ruxlli, dem zukürtftigen Ripst Pius XII., zu tun. Daraus entwickelte sich eine lebenslange Freundschctft. In dem verhäng­ nisvollen Jahr 1933, gerade als sich die Zm6umspartei auflösen musste, weilte Kaas in Rom, um über das Konkordat zu verhandeln, und beschloss, da seine politische Rolle ausgespielt war, in Rom zu bleiben. Pacelli, der mittler­ weile zum Kardinalstaatssekretär avanciert war, bot ihm die Stelle des economo c secretario der Revercnda Fabbrica di San Pietro an, was gleichbe­ deutend mit der Stellung eines Direktors war. Kaas nahm sein Amt sehr ernst. Da er aber von Natur aus ein Eblitiker war und kein Archäologe, liefmanches schief, wie wir gleich hören werden. Kaas war mir wohlgesonnen. Ich durfte mirjeden lag nach getaner Arbeit die übrig gebliebenen vatikanischen Brötchen von seiner Haushälterin holen. Und das war damals ein Hochgenuss. Er wollte mir auch einen besonderen Ge­ fallen tun und mir die scavi, so nennt man die Ausgrabungen unterhalb der Rterskirche, zeigen, die gerade unter seiner Leitung im Gange waren. Auch ich wusste, dass, während ich hoch oben in der Kuppel safi, tief unter mir gegra­ ben wurde, um das Petrusgrab zufinden. Durch den hohlen Schacht des Trep­ penhauses drang der Lärm der Hammerschläge bis dort hinauf. Ich höre sie heute noch. Aber alles geschah unter dem Siegel der Verschwiegenheit. Ich musste hoch und heilig versprechen, dass ich nichts aussagen würde von dem, was ich zu sehen bekam. An der Südseite der Rterskirche befindet sich eine Tür, die zu dem Ausgra­ bungsbereich führt. Dort trugen die Bauarbeiter unermüdlich Schubkarren voll von Schutt, Mörtel und Steinen heraus. Es wirkte, als würden sie die Eingeweide aus einem übergroßen, dunklen Lebewesen herausholen. Innen be­ fanden wir uns in einem Labyrinth von Gängen, Winkeln, Mauern und Stütz­ pfeilern. Einst war hier eine antike Nekropole, die am Abhang des vatikani­ schen Hügels im Licht der Sonne lag. Wenn ich meine Augen nach oben richte­ te, konnte ich durch die provisorische Decke in die darüber liegenden Grotten blicken und die Schritte der Kirchenbesucher über meinem Kopf hören. Sogar 14

Orgelmusik und Gesang drangen von der Oberkirche in das antike lotenreich herunter. Es war geradezu unheimlich. Die Nekropole war eine der größten der antiken Stadt gewesen und zog sich über die ganze Länge des heutigen Rtersplatzes bis zum Tiber hin. Aber die Ausgabungen konzentrierten sieh auf die Zone um die Confessio. Es gibt kein deutsches WortJur confessio. Gemeint ist das Grab eines Confessors, eines Bekenners, also eines Märtyrers, der seinen Glauben bis zum Tod und durch seinen Tod bekannt hat. In diesem Fall ist das Rtrusgab gemeint, das man unter dem Papstaltar vermutete. Doch ich sah keine Spur davon: keine Gruft, keine Knochen, keinen Namen. Niemand sprach von Rtrus, und ich wagte nicht, jemanden zu Jagen. Das Schweigegebot war eigentlich ganz überflüssig gewesen, denn es gab sowieso nichts zu sehen und nichts zu verra­ ten. Ich war enttäuscht, beschloss aber, der Geschichte für mich persönlich so weit wie möglich >auf den Grund» zu gehen. Dazu hatte ich die Möglichkeit, als mich Frau Prf. Guarducd viele Male in die scavi mitnahm und mir alles erklärte, was sie nach und nach entdeckte. Heute bin ich einer der Letzten, welche die erstaunliche Geschichte der Wiederentdeckung der Gebeine des Apostels Rtrus miterlebt haben.« Nicht zufällig beendete ich meine Suche, als der 265. Nachfolger Petri, Papst Johannes Paul II., in das 25. Jahr seines Pontifikats ein­ trat. 25 Jahre war, der Tradition nach, Petrus Bischof von Rom. Tu es Rtrus, »Du bist Petrus«, sang man, als Kardinal Karol Wojtyla aus Krakau am 16. Oktober 1978 in die Fußstapfen des Fischers trat. Rückblickend klingt es wie eine Prophezeiung. Während ich diese Zeilen schreibe, meldet die Presse neue Funde unter dem Vatikan. Beim Ausbau eines Parkplatzes hinter der Zen­ trale der vatikanischen Post stieß man Ende Februar 2003 auf eine Reihe von Grabmälem aus der Zeit zwischen dem 1. und dem 4. Jahrhundert n. Chr., darunter zwei kunstvolle Sarkophage und Mar­ morplatten. Zu den interessantesten Funden, so die römische Tages­ zeitung La Repubblica vom 10. März 2003, gehört »der Sarkophag des Sekretärs von Kaiser Nero und seiner Frau«13. Diese Entdeckung beweist immerhin, dass das Gelände schon zur Zeit Neros für Bestattungen genutzt wurde, was die Tradition vom Petrusgrab in seiner unmittel­ baren Nähe nur noch plausibler macht. So forderte die Direktion der vatikanischen Museen den sofortigen Abbruch der Bauarbeiten; die technische Direktion dagegen drängte auf deren Fortführung und setzte sich durch. »Der Vatikan braucht neue Parkplätze. Ich glaube nicht, 15

dass die Funde so bedeutend sind«, meinte zumindest ihr Leiter, Bischof Gianni Danzi. Am nächsten Tag versprach Msgr. Francesco Marchisano, Präsident der »Ständigen Kommission zum Schutz histori­ scher und künstlerischer Monumente des Heiligen Stuhls«, dass die Sarkophage, Grabplatten und Grabbeigaben geborgen und dem­ nächst in den vatikanischen Museen ausgestellt werden würden. Die Suche geht also weiter, wie dieser Vorfall beweist, und immer neue Indizien erhärten die Tradition. Es gab eine Zeit, in der man alles glaubte, das Mittelalter. Seit der Zeit der Reformation, verstärkt seit der Aufklärung war es Trend, je­ de Tradition infrage zu stellen. Heute, zu Anfang des 3. Jahrtau­ sends, haben wir die Mittel und Wege, historische Wahrheiten zu er­ gründen. So ist dieses Buch keine klassische Biographie, noch weni­ ger ein Versuch der Exegese (Schriftdeutung), sondern vielmehr eine fast kriminalistische Spurensuche. Wir versuchen, mithilfe der Archäo­ logie den historischen Petrus zu finden, die Tradition zu überprüfen. Diese Suche führt den Leser, wie einst Petrus selbst, durch die halbe antike Welt. Doch sie beginnt und endet dort, wohin der Weg der Geschichte und der Vorsehung den Apostel führte und wohin er das Zentrum der Weltkirche verlegte - in Rom!

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I Unter den Grotten des Vatikans I iefer UND tiefer drangen die Spitzhacken in das antike Ge­ mäuer ein, während ihr dumpfer Klang in den marmornen Galerien des Petersdomes, ja noch in der mächtigen Kuppel Michelangelos widerhallte. Papst Pius XI. war gestorben und sein Nachfolger, Pius XII., wollte die vatikanischen Grotten, die Gewölbe unter dem Petersdom, erweitern, um für ihn eine würdige Grabstätte zu schaffen. Dabei war der Plan, die Grotten in eine Krypta, eine unterirdische Kirche, zu verwandeln und ihr Bodenniveau um etwa einen Meter zu senken, um Höhe zu schaffen. Als der Marmorboden entfernt war, wurde mit den Ausschachtungen begonnen. Die vatikanischen Grotten befinden sich auf dem Niveau der alten Peterskirche, die von Kaiser Konstantin dem Großen über dem tra­ ditionellen Grab des Apostelfürsten errichtet wurde. Diese war 118 Meter lang und 54 Meter breit und bestand aus fünf Schiffen, die von 88 Säulen getrennt waren. Sie hatte ein Balkendach, eine Vor­ halle und einen quadratischen, säulenumstandenen Vorhof mit ei­ nem Brunnen in der Mitte. Am 18. November 326 wurde sie in ei­ ner feierlichen Zeremonie von Papst Sylvester I. im Beisein von Kai­ ser Konstantin eingeweiht, der zu diesem Zeitpunkt in Rom den 20. Jahrestag seiner Proklamation zum Kaiser feierte. Ansonsten resi­ dierte Konstantin in Nikomedia im Nordwesten der heutigen Türkei und später in Konstantinopel, der von ihm gegründeten neuen Reichshauptstadt. Er selbst, so heißt es, soll 12 Körbe Erde, für jeden Apostel einen, eigenhändig zur Baustelle getragen haben. Die konstantinische Peterskirche stand fast 1200 Jahre, bis sich Papst Julius II. im Jahre 1506 zu einem prachtvollen Neubau im Stil der Renais­ sance entschloss. Der neue Petersdom, drei Meter über dem antiken Gemäuer, sollte hell und vom Sonnenlicht durchstrahlt sein, nicht in magisches Dämmerlicht von unzähligen Öllampen und in dicke Weihrauchwolken gehüllt wie sein Vorgängerbau. Um dieses Ziel zu verwirklichen, engagierten die Päpste die größten Künsder und Bau­ meister ihrer Zeit, Männer wie Bramante und Michelangelo, Raffael, 17

Mademo und Bernini, die durch ihr Werk Unsterblichkeit erlang­ ten. Nur in den Grotten lebte das Düstere und Geheimnisvolle der al­ ten Peterskirche fort. Die Irrgänge und Winkel des flachen Gewöl­ bes bildeten ein unheimliches unterirdisches Totenreich, in dem Päps­ te, Kaiser und Königinnen beigesetzt wurden. Man konnte nur im Schein von Kerzen und Fackeln hinuntersteigen. Am Eingang hing eine Marmortafel, die Frauen unter der Androhung der Exkommu­ nikation den Aufenthalt in den Grotten verbot, da das Dämmerlicht, wie man glaubte, sie zur Sünde verfuhren könnte. Nur einmal im Jahr, am Montag nach Pfingsten, durften sie die Gewölbe betreten; an diesem Tag war aber den Männern der Zutritt untersagt. Erst nach dem II. Weltkrieg, als man die Grotten ausgebaut und elek­ trisch beleuchtet hatte, verschwand die Verbotstafel stillschweigend. Es dauerte nicht lange, bis die 1939 mit der Ausschachtung beauf­ tragten Arbeiter einen seltsamen Fund meldeten. Eine Ziegelmauer, vielleicht 40 Zentimeter dick, reichte in unbekannte Tiefe. Als der Leiter der Bauhütte von St. Peter, der deutsche Prälat Ludwig Kaas, von der Entdeckung erfuhr, eilte er sofort herbei. Zunächst glaubte er, auf die Mauer des Circus Gaü et Neroni, des Zirkus von Caligula und Nero, gestoßen zu sein, in dem einst, wie der römische Histori­ ker Tacitus schrieb, die ersten Christen den Märtyrertod starben. Hier wurde, wie es heißt, auch der heilige Petrus gekreuzigt. Bis jetzt fehlte jeder archäologische Beweis für die Richtigkeit dieser Tradi­ tion. War man nun auf einen solchen gestoßen? Bald zeigte sich, dass die Mauer keineswegs von einem Zirkusbau stammte. Ihre Innenseite war mit grünlich blau bemaltem Stuck ver­ ziert. Je weiter man grub, desto deutlicher wurde, dass sie Teil einer quadratischen Anlage von etwa sieben Metern Seitenlänge war, wie es schien, eines kleinen Gebäudes, dessen Dach einst abgetragen worden war. Das Mauerwerk stammte offenbar aus der frühen römi­ schen Kaiserzeit und war erst später mit Erde aufgefüllt worden. Zentimeter für Zentimeter entfernten die Arbeiter vorsichtig das Erdreich, drangen tiefer in das antike Gemäuer ein. Mehr und mehr legten sie von der grünlich blauen Stuckwand frei, bis sie auf eine Reihe von rot bemalten, säulengesäumten Nischen stießen, in denen Urnen standen. Das Gebäude war eine Grabkammer! Es war ein prachtvolles, reich geschmücktes Mausoleum. Die Wän­ 18

de waren mit Blumen bemalt, zwischen denen Delphine spielten, ei­ ne größere Nische zeigte die Liebesgöttin Venus, wie sie aus dem Schaum des Meeres erstand. In wieder anderen Nischen waren idyl­ lische Landschaften mit Ochsen und Widdern, Kranichen und Zwer­ gen dargestellt. Die Fresken waren Meisterwerke antiker Malerei. Erst als das gesamte Erdreich aus der Grabkammer entfernt wor­ den war, bot sich den Ausgräbern eine weitere Überraschung. Wäh­ rend in den Urnen offenbar wohlhabende heidnische Römer bestat­ tet waren, lag in der Erde auch die Leiche einer Christin namens Aemilia Gorgonia. Ihr hatte ihr Mann eine rührende Grabinschrift auf der weißen Marmorplatte hinterlassen, die das Bodengrab bedeckte. Darin pries er die Schönheit und Unschuld seiner liebreizenden Frau, die im Alter von nur 28 Jahren, zwei Monaten und 28 Tagen verstorben war und jetzt dormit in pace, »in Frieden schläft«, was die älteste und fast vergessene Form des später üblichen requiescat in pace, »er ruhe in Frieden«, ist. Dieser Ausdruck war nur unter Christen üblich. Eine unbeholfene Skizze, wahrscheinlich von dem trauern­ den Gatten in den Stein geritzt, zeigt die anima dulds Gorgonia, die »süße Seele der Gorgonia«, wie sie aus einem kühlen Brunnen fri­ sches Wasser schöpft - ein Symbol der Erquickung und des Glücks. Nach dem Dürsten dieses Erdenlebens findet sie im Himmel das refiigerium, die erfrischende Erfüllung!1 Sofort informierte Kaas den Papst über den Fund. Am Vorabend des Festes Peter und Paul, am 28. Juni 1940, besichtigte Pius XII. persönlich das Mausoleum des Marcus Caetennius Antigynus, wie die neu entdeckte Grabstätte fortan genannt wurde. Lange diskutierte der as­ ketisch-hagere Mann in der weißen Soutane die Konsequenzen der Entdeckung. Alles deutete darauf hin, dass sich unter den vatikani­ schen Grotten antike Gräber befanden. Dadurch gewann die Tradi­ tion, dass hier auch der hl. Petrus bestattet war, an Glaubwürdigkeit. Trotz aller Risiken - ein Grundpfeiler des Petersdomes konnte be­ schädigt werden, die Kirche gar einstürzen, und wenn man nicht fündig würde, wäre die Enttäuschung gewaltig - beschloss der Papst, das Risiko einzugehen. Sein Vertrauen in Gott und die Tradition war groß. So gab er dem Prälaten Ludwig Kaas die Anweisung, mit einer systematischen archäologischen Ausgrabung zu beginnen. Ihr Ziel war die Entdeckung von Hinweisen auf das legendäre Apostelgrab. Die Tradition vom Petrusgrab auf dem Gelände des Vatikans ist 19

seit dem späten 2. Jahrhundert bezeugt. Damals, zur Zeit des Papstes Zephyrinus (199-217), korrespondierte ein gelehrter römischer Pries­ ter namens Gaius mit einem Mann namens Proklos aus Kleinasien, der ein Anführer der Sekte der Montanisten geworden war. Proklos hatte die Autorität der römischen Kirche infrage gestellt; auch seine Heimat könne Apostelgräber vorweisen, so das Grab des Philippus in Hierapolis, dem heutigen Pamukkale in der Westtürkei, das für seine Sinterterrassen berühmt ist. Daraufhin erwiderte Gaius: »Ich kann dir die Grabmäler der Apostel zeigen, dem wenn du zum Vatikan gehen willst oder auf die Straße nach Ostia, so wirst du dort die Grabmäler derer finden, die die römische Kirche gegründet haben.«1 Gaius schrieb auf Grie­ chisch und sprach von den Grabmälem als tropaia, »Siegeszeichen«. Das führte zu einigen Diskussionen unter den Gelehrten, doch der Kontext war eindeutig. Dem Hinweis des Proklos auf das Apostel­ grab in Hierapolis stellte Gaius den Verweis auf die beiden Apostel­ gräber in Rom entgegen. Sie waren »Siegeszeichen«, weil die beiden Märtyrer in Christus und für Christus den letzten Kampf ausgefoch­ ten hatten. Noch zu Anfang des 4. Jahrhunderts, also vor der Errich­ tung der alten Peterskirche, betonte der Kirchengeschichder Euse­ bius, dass »Paulus eben in Rom unter Nero enthauptet und Petrus gekreuzigt (wurde). Dieser Bericht wird bestätigt durch die noch heute erhaltenen Namen Petrus undRiulus in den römischen Coemeterien (Friedhöfen)«3. Das Petrusgrab muss also auf einem Friedhof oder Gräberfeld gelegen haben. Tatsächlich gab es auch vor dem Fund von 1940 Berichte über heidnische Gräber unter dem Petersdom, auf die Arbeiter bei diver­ sen Reparaturarbeiten gestoßen waren. Im Jahre 1574, so heißt es, als man den Boden der vatikanischen Grotten ausbesserte, brach ein Baumeister versehentlich durch ein gemauertes Dach. Als er mit sei­ ner Fackel in den Hohlraum leuchtete, kam er aus dem Staunen nicht mehr heraus. Die Wände und Decken waren, so erklärte er später, über und über mit Goldmosaiken bedeckt. Im Zentrum der Decke sei ein Paar sich aufbäumender Schimmel dargestellt. Der Bo­ den sei mit Erde und Knochen aufgefüllt gewesen und auf einer Marmorplatte habe ein von Kalk bedeckter menschlicher Leichnam gelegen. Ein Schauer lief dem aufgeregten Arbeiter über den Rü­ cken, das Gefühl, den Toten in seiner Ruhe gestört zu haben. Hastig verschloss er die Öffnung wieder und gab das Grab der Finsternis zurück. 20

Viele Jahre später, 1626, wurde nahe dem Hochaltar des Petersdomes ein Marmorsarkophag entdeckt. Er gehörte einem gewissen Flavius Agricola, dessen Porträt als Basrelief den Sargdeckel schmückte, umgeben von einer Inschrift, die seine Botschaft an die Nachwelt war: »Mische den Wein, schaue tief in den Becher und verweigere keinem, schönen Mädchen die Süße der Liebe, denn mit dem Tod verschlingen Erde und Feuer alles!« Dieser unmoralische Rat aus dem Totenreich muss die vatikanischen Prälaten ziemlich peinlich berührt haben. Eine Quelle behauptet, sie hätten den Sarkophagdeckel sofort in tausend Teile zerschlagen, die sie angewidert in den Tiber warfen. Tatsäch­ lich aber muss einer von ihnen die Inschrift seiner privaten Samm­ lung einverleibt haben; jedenfalls tauchte der Deckel 1957 auf dem New Yorker Kunstmarkt wieder auf.4 Der Verdacht, dass sich unter dem Petersdom eine antike Nekro­ pole (Gräberstadt) befunden haben könnte, wurde durch die Gra­ bungen seit 1940 bestätigt. Neben dem Eingang des Mausoleums des Marcus Caetennius Antigonus entdeckten die Arbeiter einen großen, prächtig verzierten Sarkophag aus teuerstem prokonnesischem Mar­ mor. Seine Inschriften bezeichneten ihn als das Grab einer gewissen Ostoria Chelidon, Frau eines kaiserlichen Beamten und Tochter ei­ nes römischen Senators und cansul designatus, eines Konsuls im Ruhe­ stand. Als sie den Deckel vorsichtig entfernten, erblickten die Aus­ gräber die sterblichen Überreste der Toten. Ihr Schädel war von den filigranen Überresten eines goldenen Haarnetzes umgeben. An ihrem linken Handgelenk trug sie ein dickes Goldarmband, das jetzt hell im Licht der Taschenlampen glänzte. Stoffreste, die auf ihren Hüften lagen, erwiesen sich als purpurrot gefärbt; diese Farbe war allein den Angehörigen des höchsten römischen Adels vorbehalten. Doch wa­ rum stand der Sarkophag einer so bedeutenden Dame der Gesell­ schaft nicht etwa in einem prachtvollen Mausoleum, sondern an ei­ ner so unspektakulären Stelle? Auf diese Frage wusste weder Prälat Kaas noch einer der von ihm konsultierten Archäologen eine Antwort. Stattdessen ließ sich das Alter des Caetennius-Mausoleums be­ stimmen. Es war zwischen 140 und 160 n. Chr. errichtet und mehr als anderthalb Jahrhunderte lang benutzt worden. Seine Besitzer wa­ ren wohlhabende Freigelassene, was den Kontrast zu der Adelsdame vor seinem Eingang noch verstärkte. Während die ersten hier beige­ setzten Toten nach heidnischer Sitte verbrannt worden waren, wech-

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sehe man im 3. Jahrhundert zu Sarkophagbestattungen über. Offen­ sichtlich hatte sich auch unter dem Einfluss des Christentums der Glaube an ein Leben nach dem Tod durchgesetzt. Jedenfalls war der Fund eine Sensation, denn es handelte sich um eines der besterhalte­ nen Beispiele römischer Begräbnisarchitektur aus der Blütezeit des Kaiserreiches, an Pracht und Ausstattung allenfalls vergleichbar mit den Mausoleen an der Via Appia, die sich am heutigen Ausgang der Sebastianus-Katakombe befinden. Schon daher lohnte es sich, die Ausgrabungen fortzusetzen. Bald hatte Prälat Kaas, der als früherer Reichstagsabgeordneter und Vorsitzender der katholischen Zentrumspartei über einige admi­ nistrative Fähigkeiten verfugte, ein Team verschwiegener Experten um sich geschart. Es bestand aus drei Mitgliedern des Päpstlichen Institutes für Christliche Archäologie: dem Jesuitenpater Engelbert Kirschbaum, der an der Gregoriana-Universität Kunstgeschichte lehr­ te, seinem Mitbruder Antonio Ferrua, der Epigraphik (Inschriften­ kunde) unterrichtete, und einem der führenden Experten für die römischen Katakomben, Prof. Enrico Josi, Direktor des LateranMuseums. Außerdem dabei war der junge Vatikan-Architekt Bruno Appolonj-Ghetti, der die technischen Zeichnungen des Grabungsbe­ fundes anfertigte. Die manuelle Arbeit wurde von den Sampietrini ge­ leistet, den Arbeitern der Bauhütte von St. Peter, die eine eigene Zunft bilden. Hinzu kamen zwei gelernte Ausgräber aus den Kata­ komben. Alle Mitarbeiter, die sich selbst angeboten hatten, taten ihre Arbeit ehrenamtlich und nebenberuflich, was dazu führte, dass sie nur gelegentlich in die scavi (Ausgrabungen) kommen konnten. Zu­ dem war keiner von ihnen ein studierter Archäologe und hatte Er­ fahrungen mit Ausgrabungen. So führte niemand ein Tagebuch über den täglichen Stand der Dinge und auch Fotos wurden kaum ge­ macht. Ausgerechnet der einzige Archäologe des Vatikans, Filippo Magi, Leiter der Antikensammlung der Vatikanischen Museen, wur­ de nie gefragt. Seine Anwesenheit hätte gewiss verhindert, dass so vieles schief ging. Hinzu kam, dass Krieg herrschte, die Mittel knapp wurden und alles unter strengster Geheimhaltung stattfinden sollte. Kaas selbst ging jeden Abend persönlich durch die scavi, um sich zu vergewissern, dass alles in Ordnung war und keine Gebeine frei he­ rumlagen. Zudem ordnete er an, dass während der Mittagspause das Licht ausgeschaltet würde, damit niemand unbeaufsichtigt zu den 22

Ausgrabungen gehen konnte. Natürlich kochte die Gerüchteküche trotzdem. Bis Anfang 1941 hatte man fünf Gräber rund um das CaetenniusMausoleum freigelegt. Sie waren mit bunten Blumenmustern und feinen Stuckarbeiten ausgestattet, doch ansonsten kleiner und weni­ ger prachtvoll. In ihnen standen die Urnen heidnischer Römer. Nur ein Detail der eleganten Deckenmalerei eines der Gräber fiel ins Au­ ge. Es zeigte zwei Gestalten in angeregtem Gespräch, einen älteren Mann, der eine Schriftrolle hält, und einen jungen, der zu zählen scheint. Sofort identifizierte man sie als einen Lehrer und seinen Schüler. Das Grab, so war man sich sicher, stammte aus der Mitte des 2. Jahrhunderts. Schon zwei Monate später folgte ein Sensationsfund: Das Grab des Gaius Valerius Herma, eines reichen Freigelassenen, war nicht mit Malereien geschmückt. Stattdessen befand sich in seinen stuck­ verzierten Wänden ein Dutzend hoher Nischen, in denen fast lebens­ große Stuckfiguren standen. Es waren Männer und Frauen, Götter und Göttinnen, darunter Hypnos, der fledermausflügelige Gott des Schlafes, und Isis, die auch in Rom verehrte Muttergöttin Ägyptens, zudem Mitglieder der Valerius-Familie, die zwischen 130 und 230 n. Chr. verstarben. Zu ihnen gehörte der Erbauer des Grabes, Gaius Valerius Herma. Von drei Mitgliedern der Familie zeugten kunstvol­ le Marmorköpfe, die lose am Boden lagen. Sie zeigten einen Mann, eine Frau und ein Kind. Der Frauenkopf war von besonderer An­ mut, strahlte zugleich Trauer und Würde aus. Ihre hingabevolle Hal­ tung stand im Kontrast zu der Lebensfreude, die durch die feinen Stuckfiguren an den Wänden der Grabkammer zum Ausdruck kam. Da jagten bärtige Satyren vollbusige Mänaden in leichten, wehenden Gewändern, die zum Klang der Zimbeln tanzten, während der bocksbeinige Gott Pan die nach ihm benannte Flöte blies. Während solch bacchanalische Szenen von heidnischem Hedonismus zeugten, schien sich die Familie des Valerius im 3. Jahrhundert dem keuschen Christentum zugewandt zu haben. Das bezeugen Sarkophage, deren Inschriften charakteristische Begriffe wie bene merenti (»wohlverdient«) und depositio (»verstorben«) aufwiesen. Eine Grabplatte, die des Flavius Istatilius Olympius, ein »guter Mensch, zu allenfreundlich, stets einen Scherz auf den Lippen, der sich nie beschwerte«, trug das Christusmonogramm XP (Chi-Rho = Chr.). Doch die eigentliche Überraschung

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war eine simple, unbeholfene Koh­ lezeichnung, die zwei skizzenhafte Gestalten zeigte. Mit ihren unmög­ lichen Proportionen und ihrer gro­ ben Machart erinnerte sie eher an eine Karikatur und stand im kras­ sen Gegensatz zu den Kunstwerken dieser Grabkammer. Die obere Fi­ gur muss Christus gewesen sein, denn auf ihrer Stirn war der Vogel Phönix dargestellt, das antike, von den Christen übernommene Sym­ bol für die Auferstehung. Der Sage nach starb er im Feuer, um aus sei­ ner eigenen Asche neu zu erstehen. Daneben stand das Wort vivus, »le­ bend«. Darunter war der Kopf ei­ nes alten Mannes gekritzelt, mit fal­ tiger Stirn und bärtigem Kinn, der nicht weiter gekennzeichnet war. Unter dem Bild befand sich eine la­ teinische Inschrift, von der zunächst nur die ersten Worte lesbar waren, die übersetzt lauteten: »Petrus, bete (zu) Christus JesusJur die heiligen ...« Die Entdecker jedoch schenkten dem Graffito aus nicht nachvoll­ ziehbaren Gründen zunächst keine Beachtung. Es wird nicht einmal im offiziellen Grabungsbericht erwähnt, wo stattdessen behauptet wird, man habe in der gesamten Nekropole keinen direkten Hinweis auf Petrus gefunden. Dabei zeugte dieses Petrus-Graffiti doch gerade von einer vorkonstantinischen Petrus-Verehrung auf dem Vatikanhügel, viel­ leicht sogar von der Nähe des Petrusgrabes. Doch erst zehn Jahre später sollte es einer Wissenschafderin gelingen, die Inschrift kom­ plett zu entziffern. 24

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Längsschnitt durch den Rtersdom in der West-Ost-Achse. Oben ist die Kirche aus dem 16. Jahrhundert, darunter die Unterkirche (»vatikanische Grotten«) aus dem 4. Jahrhundert, ganz zuunterst die Totenstadi aus dem 2.-3. Jahrhundert einge­ zeichnet. 1 Das Rtrusgrab; 2 der Papstaltar; 3 der Baldachin des Bernini; 4 Die Petrusstatue; 5-11; Papstgräber in den vatikanischen Grotten; 12 der »clivus«; 13 die »Rote Mauer«; 14 die »aediada«; 15 die »Graffiti-Mauer«; A-S; die Mau­ soleen der spätantiken Totenstadt 25

Die nächsten Monate enthüll­ ten die Ausmaße der antiken Nekropole unter dem Petersdom. Mindestens 22 Grabhäuser lagen zu beiden Seiten einer schmalen Straße von etwa 70 Meter Län­ ge. Wahrscheinlich reichte sie ur­ sprünglich noch weiter, erstreck­ te sich über die gesamte Länge des Petersdomes bis über den Petersplatz hinaus. Pater Kirsch­ baum SJ schätzte ihre einstige Länge auf »mindestens 400 Meter«? Schon 1936 waren Reste eines weiteren Mausoleums etwa 40 Meter ösdich vom Obelisken des Petersplatzes in neun Meter Tiefe gefunden worden.6 Ver­ mutlich verlief die Totenstraße endang der Nordseite des ehe­ maligen neronischen Zirkus, der, wie wir wissen, schon im 2. Jahrhundert nicht mehr in Gebrauch war.7 Diese Lage wird durch die Grabinschrift des Lageplan des neronischen L^irkus (A), Gaius Popilius Heracla bestätigt, der antiken Totenstadt (B), der kondessen Mausoleum am östlichen stantinischen Rtrusbasilika (C) und Ende des Ausgrabungsbereiches des heutigen Rtersdomes und Rtersliegt. In ihr wird aus dem Testa­ plahts (D) ment des Toten zitiert, der ver­ fügt hatte, in Vaticano ad circum, »auf dem Vatikan beim Zirkus« be­ stattet zu werden. Nördlich der Grabanlage, die sich am Hang des vatikanischen Hügels erstreckte, verlief wahrscheinlich die Via Corne­ lia. Das würde erklären, weshalb mehrere Treppen zu der Totenstadt hinabführten; sie bildeten den Zugang von der Straße. Die Via Cor­ nelia wird in spätantiken und frühmittelalterlichen Itinerarien immer wieder mit dem Petrusgrab in Verbindung gebracht.8 Es war ein ursprünglich heidnischer Friedhof, in dem allmählich 26

auch Christen bestattet wurden. Was die Ausgräber jedoch irritierte, war die Tatsache, dass keines seiner Gräber aus der Zeit vor der Mit­ te des 2. Jahrhunderts stammte, also über ein halbes Jahrhundert nach dem Tod des Petrus entstand. Trotzdem sprach ein gewichtiges Argument für die Tradition. Um die alte Peterskirche zu bauen, hat­ te Konstantin der Große eigens am abfallenden Hang des vatikani­ schen Hügels eine gewaltige künstliche Plattform anlegen lassen, in­ dem er an seinem Fuß eine hohe, starke Mauer errichten und den Zwischenraum mit Erdreich auflullen ließ. Fünf weitere, in gleichen Abständen parallel verlaufende Zwischenmauern von jeweils etwa zwei Meter Dicke schwächten den Druck ab, der auf ihr lastete. Uber 100000 Kubikmeter Erdreich waren zu diesem Zweck trans­ portiert worden, meist in Körben auf den Rücken tausender Staats­ sklaven. Dies allein machte den Bau der alten Peterskirche zu einem der monumentalsten Bauvorhaben der Antike. Dabei hatte Konstan­ tin gegen alle guten Sitten Roms verstoßen und eine lotenstadt über­ baut. Den Römern waren ihre Gräber heilig, nur der Kaiser selbst konnte erlauben, ein Grab zu verlegen; jedem anderen, der dies ver­ suchte, drohte die Todesstrafe. Um über der Totenstadt eine Basilika zu errichten, ohne die Gräber zu zerstören, mussten Konstantins Ar­ chitekten geschickt vorgehen. Bei den größeren Mausoleen wurden die Dächer entfernt, ihre Räume mit Erde aufgefullt. War ein Mau­ soleum zu groß, wurde es durch eine Stützwand geteilt. So entstand ein stützendes Netzwerk, welches das Gemäuer stabilisierte und ver­ hinderte, dass es zu Erdrutschen kam. Nur ein einziger Grund recht­ fertigte diesen gewaltigen architektonischen und finanziellen Auf­ wand auf äußerst ungünstigem Terrain: Konstantin der Große muss sich absolut sicher gewesen sein, dass sich dort, wo er baute, das Petrusgrab befand. Dass es noch nicht gefunden worden war, so war den Ausgräbern klar, lag daran, dass sie bislang in der falschen Rich­ tung gesucht hatten, nämlich eben nicht im Bereich der amfessw, der Anlage vor und unter dem Papstaltar, wo die Tradition es lokalisier­ te. So beschloss das Team unter dem Prälaten Kaas, sich in der zwei­ ten Phase der Grabungen ganz auf den Bereich zwischen dem Vale­ rius-Mausoleum und dem Hochaltar zu konzentrieren. Der Papst, der fasziniert den Verlauf der Ausgrabungen verfolgte, erteilte auch dazu seine Erlaubnis. Die uralte Tradition vom Petrusgrab sollte zum ersten Mal mit den Methoden der modernen Wissenschaft 27

überprüft werden. Nur eine Bedingung stellte er: Bis die Arbeit voll­ endet und der Abschlussbericht fertig gestellt war, müsse jeder der Beteiligten über die Entdeckungen absolutes Stillschweigen bewah­ ren. Alles müsse auf privater Ebene und unter strikter Geheimhal­ tung stattfinden. Kaas und seine Getreuen stimmten zu. Keiner von ihnen ahnte zu diesem Zeitpunkt, dass ihr Schweigen ein ganzes Jahrzehnt anzudauem hatte. Die nächste Grabkammer, die das Team freilegte, war wieder ein­ deutig heidnisch. Ihren Boden schmückte ein schwarz-weißes Mar­ mormosaik, das den Raub der Persephone durch Pluto, den Gott der Unterwelt, zeigte. Merkur, der Götterbote und Seelenführer, er­ kennbar an seinem Hügelhelm, führte den vierspännigen Wagen des lötengottes. Dann folgten einige Wochen des Leerlaufs. Die nächs­ ten beiden Gräber erwiesen sich als unwichtig, und irgendwann hat­ te man einen toten Punkt erreicht. Nur noch wenige der leammitglieder ließen sich in den vatikanischen Grotten blicken, und Kaas wies seine Sampietrini an, die Zeit mit Aufräumarbeiten totzuschla­ gen. Als man gerade einen Sarkophag, locker zusammengesetzt aus Marmorplatten, abtransportiert hatte, fiel dem Prälaten die Boden­ platte auf. Irgendetwas störte ihn an ihr, und einem inneren Impuls folgend ließ er sie entfernen. Wie erstaunt mag er gewesen sein, als er unter ihr ein großes, kreisrundes Loch im Boden entdeckte, das sie offenbar verdecken sollte. Einer der Arbeiter ließ eine Lampe hinab in das Dunkel, während Kaas sich niederkniete, um der Öffnung möglichst nahe zu kommen. Zunächst erkannte er nur Staub, Erde, Kalk und Knochen. Dann ließ er den Arbeiter eine Leiter holen, um schließlich zusammen mit ihm durch das enge Loch hinabzusteigen. Das Erste, was er im mat­ ten Licht seiner Taschenlampe erkannte, war das irisierende Gelb ei­ nes Mosaiks. Es bedeckte die gesamte gewölbte Decke einer kleinen Kammer bis auf halbe Höhe der Seitenwände. Eines seiner Motive, von grünen Weinranken umgeben, stammte aus der Bibel. Es war der Prophet Jonas, der dem Bauch eines Walfisches entstieg. Das »Zeichen des Propheten Jona« (Mt 12, 39) war schon für Jesus das Sym­ bol für seine Auferstehung: »Denn so wie Jona drei Tage und drei Nachte im Bauch des Ungetüms war, so wird auch der Menschensohn drei Tage und drei Nachte im Herten der Erde sein« (Mt 12, 40). Auf der danebenlie­ genden Seite warf ein Fischer die Netze aus; eine Anspielung auf die

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Anweisung Jesu an die Apostel, fortan »Menschenfischer« (Mt 4, 19 u. a.) zu sein. Fasziniert und mit pochendem Herzen wurde sich Kaas allmählich bewusst, dass er auf das erste rein christliche Mau­ soleum gestoßen war! Doch kaum hatte er die Tragweite seiner Ent­ deckung erfasst, bemerkte er hoch oben an der Decke ein Meister­ werk. Das Mosaik zeigte zwei sich aufbäumende Schimmel, die ei­ nen Wagen zogen, auf dem Christus als Sonnenheros stand, das Haupt von einem Nimbus und kreuzförmigen Strahlenkranz umge­ ben. Es waren dieselben zwei Pferde, auf die im Jahre 1574 ein Bau­ meister zufällig gestoßen war, als er den Boden der Grotten ausbes­ serte. Der reiche Mosaikschmuck, so stellten Experten später fest, stammte aus der Zeit um 250 n. Chr. Damit handelt es sich um die früheste Darstellung eines Sonnen-Christus in der Geschichte der christlichen Kunst. Kaum hatte man sich von der Aufregung über diese Entdeckung erholt, stand eine weitere Überraschung bevor. Direkt neben dem Mausoleum mit dem »Christus-Helios« stießen die Ausgräber auf die bislang älteste Grabkammer. Eine Inschrift nannte einen Arbutius als ihren Erbauer. Im Zentrum des eher schlichten Ziegelbaus stand eine altarförmige Urne, auf der ein Kelch und ein Öllämpchen dargestellt waren. In ihr fand sich inmitten von Asche und Knochenresten eine Silbermünze des Kaisers Trajan (98-117 n. Chr.). Da das Aschenaltärchen eindeutig jüngeren Datums als das Mausoleum selbst war, konnte dies nur bedeuten, dass die Grabkammer noch aus dem spä­ ten 1. Jahrhundert stammten musste. Damit war man der Zeit des Petrus-Begräbnisses näher gekommen denn je. Durch diesen Fund erneut ermutigt und in ihrem Vorhaben be­ kräftigt, wagten sich die Mitglieder des Teams erstmals an den Be­ reich unter dem Papstaltar heran. Seit der Erbauung der alten Peters­ kirche im frühen 4. Jahrhundert hatte die Tradition das Petrusgrab eindeutig lokalisiert: Es sollte sich direkt unter der Palliennische be­ finden. Pallien sind die weißen Wollstolen der Metropolitan-Erzbischö­ fe, die in einer vergoldeten Kassette in ebendieser Nische vor einem byzantinischen Christusbild aus dem 8. Jahrhundert aufbewahrt werden. Ihre Wolle stammt von Lämmern, die eigens dazu vom Kloster der hl. Agnes im Norden Roms großgezogen werden. Jedes Jahr zu Mariä Lichtmess segnet sie der Papst, bevor sie von den Nonnen geschoren werden. Ein halbes Jahr später, zum Fest Peter

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und Paul, verleiht der Papst den neuen Erzbischöfen in einer feier­ lichen Zeremonie die Pallien. Bis dahin ruhen sie in der vergoldeten Bronzekassette über dem Petrusgrab, womit sie gewissermaßen zu »Berührungsreliquien« und zu einem symbolischen Band zwischen dem Bischofssitz und der römischen Kirche werden. Von der Palliennische aus fuhrt noch heute ein schmaler Schacht in die Tiefe. Wie uns schon Gregor von Tours um 590 berichtet, diente er dem Zweck, Tücher, brandea genannt, zum Petrusgrab hi­ nabzulassen, um sie, durch Berührung zu Reliquien geworden, da­ nach in alle Welt zur Verehrung und zur Heilung von Kranken zu schicken: »Wer gerne beten möchte«, schrieb der Bischof aus dem Fran­ kenreich, »der schließt die Schranken auf, mit denen der Ort umgeben ist, und kommt so zum Grabe. Dann öffnet er das kleine Fensterchen (zum Schacht), beugt seinen Kopf hinein und bittet um das, was er nötig hat. Der Erfolg lässt nicht auf sich warten, wenn er nur richtig gebetet hat. Wenn er aber eine heilige Reliquie haben möchte, soll er ein mit der Waage gewogenes Küchlein hineinlegen. Dann möge er andächtig mit Wachen und Fasten beten, damit die Macht des Apostels seiner Andacht zu Hilfe komme. 0 Wunder! Wenn sein Glaube stark war, dann wird das vom Grabe genommene Tuchlein so voll göttlicher Kraft sein, dass es viel mehr wiegt als vorher ... Viele lassen sich goldene Schlüsselfür die Schranken des Grabes machen, und nachdem sie diese dorthin wegen des Segens gebracht haben, heilen sie Kranke damit. Alles vermag der echte Glaube.^ Auf die Idee, nach den Knochen des Apos­ tels zu graben oder sie gar als Reliquien zu verteilen, kam zu diesem Zeitpunkt noch niemand; diese »Mode« kam in Westeuropa erst zur Karolingerzeit auf. Als die byzantinische Kaiserin Konstantina um das Jahr 600 Papst Gregor den Großen um eine Petrus-Reliquie bat, reagierte der Pontifex empört: »Bei den Römern und im ganzen Westen gilt es als untragbar und sakrilegisch, die Leiber der Heiligen auch nur zu be­ rühren. Sollte einer das wagen, so würde diese Vermessenheit keinesfalls unbe­ straft bleiben«10, rügte er sie in seinem Antwortschreiben. Doch während der Schacht sehr präzise die Lage des Petrusgrabes anzeigte, wusste niemand, wie man sich dieses vorzustellen hatte. War es eine Urne mit den Resten der Gebeine des Apostels, ein un­ versehrtes Grab oder gar ein Bronzekasten von anderthalb Meter Höhe, Länge und Breite, wie das LiberRmtificalis, das Buch der Päpste, behauptete? Ein archäologischer Vorstoß von oben wäre nicht zu verantworten gewesen, denn er hätte große Teile des altehrwürdigen 30

und mit kostbarem antikem Marmor verkleideten Heiligtums zer­ stört. Zudem hätte dies nicht unter Ausschluss der Öffentlichkeit ge­ schehen können, wie es vom Papst gefordert war. So beschlossen die Ausgräber, weiter unterirdisch, durch die Mausoleenstraße, in Rich­ tung der Palliennische vorzudringen. Ein zweiter Schacht wurde von der Cappella Clementina aus angelegt, einem kleinen, prunkvoll ausge­ statteten Heiligtum hinter der Palliennische, das Papst Clemens VIII. (1592-1605) hatte anlegen lassen. Hier erleichterte ein niedriger, kel­ lerartiger Raum, den der päpstliche Architekt Giacomo della Porta unter ihr angelegt hatte, um ihre Feuchtigkeit zu mildem, zunächst den Zugang. Doch schließlich blieb den Ausgräbern keine andere Wahl, als die Wände der Cappella Clementina selbst zu durchbrechen. Hinter dem Altar befand sich eine Marmorwand, deren oberer Teil aus der Zeit Clemens VIII. stammte, deren größerer unterer Teil aber bereits zur Zeit Gregors des Großen um das Jahr 600 entstan­ den war. Als man sie aufbrach, kam eine weiße Marmorverkleidung aus zwei großen Paonazzetto-Platten zum Vorschein, zwischen denen eine senkrechte Porphyrleiste verlief. Der Porphyr allein sprach schon für die Heiligkeit des Ortes, denn er durfte nur für die Gräber hochstehender Persönlichkeiten benutzt werden. Wie sich heraus­ stellte, war dies die Rückwand des konstantinischen Grabmals, die an eine Mauer aus dem 2. Jahrhundert angrenzte. Aufgrund der Far­ be ihres Putzes sollte diese fortan als die »Rote Mauer« bezeichnet werden. Die Höhe der Roten Mauer, nämlich mindestens 2,05 Meter, legte nahe, dass sie von keinem Altar stammte, weil sie dafür einfach zu hoch war. Dass Konstantin der Große sie mit kostbaren Marmor­ platten hatte verkleiden lassen, deutete auf eine hohe Verehrung die­ ser Überreste schon zu Anfang des 4. Jahrhunderts hin. Die Ausgrä­ ber erinnerten sich an Berichte vom Bau der konstantinischen Grabeskirche in Jerusalem. Auch dort ließen die Architekten des Kaisers das Heilige Grab - das leere Grab Jesu - freilegen, um es dann mit kostbarem Marmor zu verkleiden. War man in Rom diesem Vorbild gefolgt? Gehörte die Rote Mauer zum Petrusgrab, war sie Teil eines Monumentes, das über ihm errichtet worden war? Sofort musste das Team an den Brief des Gaius aus der Zeit um 200 und das von ihm erwähnte tropaion, das »Siegeszeichen« Petri, denken. Als Kaas und seine Männer auch die Seitenwände der Cappella Cle31

mentina öffneten, kamen weitere Überreste des Marmorbodens der konstantinischen Anlage aus dem 4. Jahrhundert zutage. Die Platten waren von den Füßen hunderttausender Pilger ausgetreten, einige Löcher zeugten davon, dass in ihnen zeitweise hölzerne Absperrun­ gen eingelassen waren. Später ersetzte man diese durch Schranken aus Marmor. Um die Memorialanlage herum standen sechs Säulen, die zu den herrlichsten Kunstwerken der alten Peterskirche gehör­ ten. Sie waren gewunden und mit Weinlaub und Putten kostbar ge­ schmückt. Der Kaiser hatte sie eigens aus dem Osten des Reiches heranschaffen lassen, und bald kursierte die Legende, dass sie ur­ sprünglich vom Tempel des Salomon aus Jerusalem stammten. Vier von ihnen waren im Abstand von je sieben Metern im Quadrat an­ geordnet und durch Gebälk zu einem Baldachin vereinigt, der durch zwei sich in der Mitte schneidende Bronzebögen nach oben abge­ schlossen war und wie eine Laube oder Kuppel wirkte. Später, 1633, hat Bernini diese antiken Marmorsäulen nachgeahmt, als er den bron­ zenen Baldachin für den Papstaltar des neuen Petersdomes schuf. Vom Schnittpunkt der Bögen, die ein Kreuz bildeten, hing eine gol­ dene Lampe in Form einer Krone herab, wie das Liber Rmtificalis be­ richtet. Da sich der Baldachin nicht direkt über dem Marmorschrein wölbte, sondern leicht nach vom versetzt war, trifft die Bemerkung im Päpstebuch zu, die Lampe hätte »vor dem Grabe« gehangen. Ge­ meint war das in einen Kubus aus Paonazzetto-Marmor und roten Porphyrstreifen von drei Meter Breite, drei Meter Höhe und 1,50 Meter Tiefe eingeschlossene Apostelgrab. Es bildete das Zentrum der Basilika, stand zwischen Querschnitt und Apsis und war damit im Blickfeld der ganzen Gemeinde. Ein Elfenbeinkästchen, das 1906 in Samagher bei Pola in Istrien gefunden wurde, sich heute in Venedig befindet und aus dem frühen 5. Jahrhundert stammt, zeigt dieses Arrangement. Zwei Männer und zwei Frauen - offenbar zwei Kaiserpaare - stehen vor einer von ge­ wundenen Säulen umgebenen Anlage in Orantenhaltung, der anti­ ken Gebetsgeste. Zur Linken und Rechten des Schreins vollziehen zwei Personen eine kultische Handlung oder Stiftung. Die sich darü­ ber erhebende rundbogige Anlage ist durch niedrige Schranken ge­ schlossen. Von ihrem Scheitelpunkt hängt eine kronenförmige Lam­ pe herab. Die für die damalige Zeit einzigartige gewundene Form der Säulen lässt keinen Zweifel daran, dass hier die konstantinische Me-

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Das Utrusgrab in seinem Marmorschrein in der konstantinischen Rtrusbasilika (4-Jh.)

moria mit dem Petrusgrab dargestellt ist. Diese Darstellung stimmt nicht nur präzise mit dem archäologischen Befund überein, sondern erlaubt uns auch noch, ihn zu ergänzen. Im Hintergrund des Innen­ raumes der Anlage ist ein Kreuz zu sehen. Wie von der goldenen Lampenkrone, so berichtet das Päpstebuch auch von einem golde­ nen Kreuz, das Kaiser Konstantin der Große und seine Mutter und Mitregentin Helena für das Petrusgrab stifteten. Seine Inschrift laute­ te: Constantinus Augustus et Helena Augusta hone domum regalem similiJulgare coruscans aula circumdat - »Konstantin und Helena ließen dieses königliche Haus in ähnlichem Glanze erstrahlend von der Halle um­ geben«.11 Vielleicht stellt das Elfenbeinkästchen ebendiese Stiftung dar. Man nimmt an, dass das Goldkreuz über dem Schnittpunkt des Bogen-Baldachins angebracht wurde. Von ihm handelt eine Anekdote, von der uns Tbrrigio berichtet. Bei den Arbeiten zur Cappella Clementina im Jahre 1594 glaubte ein Arbeiter, durch einen Spalt sein goldenes Schimmern ausgemacht zu

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haben. Auf Anordnung des Papstes wurde der Spalt sofort geschlos­ sen. Wäre diese Geschichte wahr, hätte das Team von Kaas das Kreuz gefunden; doch tatsächlich ist es wohl während einer der Plünderungen der Peterskirche gestohlen worden. Zur Zeit Konstantins fanden in der Peterskirche keine regelmäßi­ gen Messfeiem statt; sie waren den besonderen Gedenktagen des Apostels vorbehalten. Zudem kannte man damals in Rom noch kei­ ne festgemauerten Altäre wie im Osten des Reiches. Zur Eucharistie­ feier wurde ein geschmückter tragbarer Altartisch vor der memoria, der Apostel-Gedenkstätte, aufgestellt. Erst Papst Gregor der Große (590-604) ließ den oberen Teil der konstantinischen Memoria in ei­ nen Altar zur Feier der Eucharistie umwandeln. Das bestätigt das Päpstebuch, wenn es darin heißt, er habe gewünscht, dass »die Messe Wie »chinesische Schachteln«: Altäre aus 1700 Jahren über dem Petrusgrab (nach Kirschbaum)

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Querschnitt durch die Monumente unter dem Papstaltar des Utersdomes (nach Kirschbaum) über dem Leib des heiligen Rtrus«12 gelesen wird. Dazu ließ er, wie der archäologische Befund enthüllte, das Presbyterium der konstantini­ schen Basilika erhöhen und gleichzeitig um das Petrusgrab eine Ringkrypta anlegen, die den Gläubigen den Zugang von der West­ seite her erlaubte. Auf der Ostseite wurde der heilige Bereich von der Confessio eingefasst, die sechs konstantinischen Säulen jetzt in ei­ ner Reihe angeordnet. Den Altar überragte ein von vier silberum­ kleideten Säulen getragenes ciborium, ein steinerner Baldachin. Damit entstand der Vorläufer des heute noch sichtbaren Arrangements. Papst Callistus II. (1119-1124) errichtete über dem Altar Gregors ei­ nen weiteren Altar, aus kostbarem Marmor und mit »Kosmatenarbeit« - Einlegearbeiten - verziert. Über ihm wiederum entstand der Altar von Clemens VIII. (1592-1605). Die Schichten der Jahr­ hunderte erinnerten an Zwiebelschalen, waren ineinander verschach­ telt wie eine russische Puppe. So gut geschützt und hochverehrt blieb das Petrusgrab die Jahr­ hunderte hinweg unangetastet, bis es zu einer Katastrophe kam. Im

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Die aedicula aus dem 2. Jh., eingeschlossen in die konstantinische memoria des 4. Jh. - rechts (»Muro g«) die Graffiti-Mauer mit dem Marmorfach (»l«), oben die Rote Mauer (»muro rosso«) Jahre 846 fielen die Sarazenen über Rom her! Obwohl von Graf Adalbert von Toscana vor der nahenden Flotte der Moslems gewarnt, waren die Römer zu schwach und zu schlecht vorbereitet, um den Überfall abzuwehren. Nur die wichtigsten Reliquien konnte man in den Lateranpalast bringen, wo sie fortan in der Privatkapelle des Papstes, der Sancta Sanctorum, verwahrt wurden. Die Peterskirche aber blieb ungeschützt. Ohne auf nennenswerten Widerstand zu stoßen, drangen die Sarazenen in ihr Inneres ein. Ihr Ziel war das Apostel­ grab, in dem sie kostbare Schätze vermuteten. So rissen sie nicht nur alles an sich, das materiellen Wert hatte - wahrscheinlich auch das gol­ dene Kreuz des Konstantin und der Helena, die goldene Lampe und die silberne Verkleidung der Säulen -, sie brachen auch mit brutaler Gewalt den unteren Grabraum auf. Hatten die Römer ihn bislang stets ehrfurchtsvoll gemieden, drangen jetzt Ungläubige in das Inne­ re des konstantinischen Marmorschreins - der memoria - ein. Den von ihnen angerichteten Schaden - zerschlagene Marmorplatten und ge­ öffnete Gräber - entdeckte erst 1 lOOJahre später das Team von Kaas.13 Das Ausgräberteam hatte seine Untersuchung an der Rückseite des konstantinischen Monumentes begonnen und war dabei auf die vorkonstantinische Rote Mauer gestoßen, deren Mittelteil im frühen 4. Jahrhundert in den Marmorschrein eingefugt worden war. Offen­ bar hatte man sie damals als Teil des Apostelgrabes identifiziert. Des­ halb beschlossen Kaas und seine Männer, sie besonders gründlich zu

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untersuchen. Die Mauer hatte eine Nische, die sich nach Osten hin öffnete. Über ihr befand sich eine glatt verputzte kleine Öffnung, die ein Fenster gewesen sein könnte. Unterhalb der Nische erstreckte sich eine Platte aus Travertin, die rückwärts in die Rote Mauer stieß. Die Nische entsprach in ihrer Lage der heutigen Palliennische. Ihre Entdeckungen ermutigten die Ausgräber, fortan weniger be­ hutsam mit der konstantinischen Marmorverkleidung umzugehen. Denn Marmor ist ein Schmuck, und Schmuck tragen nur bedeutsa­ me Stellen; was sich dahinter befand, war mit Sicherheit wichtiger. So entfernte man mit Hammer und Meißel die Marmorplatten auch an der Südseite des Grabhauses, wobei ein Mäuerchen zum Vor­ schein kam, das an die Rote Mauer grenzte. Die Tatsache, dass es zehn Zentimeter weniger tief reichte als die Rote Mauer, ließ darauf schließen, dass es aus jüngerer Zeit stammte. Zu seiner Rechten rag­ te eine zierliche Marmorsäule aus dem Erdreich, deren Kapitell lei­ der fehlte. Wie die Rote Mauer, so reichte auch sie zehn Zentimeter tiefer in den Boden als das Mäuerchen; sie gehörte also zur ur­ sprünglichen Anlage. Auf ihr musste einst die mächtige Travertin­ platte geruht haben, die in die Rote Mauer eingelassen war. Zusam­ men bildeten sie eine aedicula, eine Kultnische, wie man sie aus ande­ ren römischen Gräbern kannte. Bei diesem Arrangement konnte es sich nur um das tropaion des Gaius, das eigentliche Grabmonument Petri, gehandelt haben. Zu einem späteren Zeitraum, wahrscheinlich im 3. Jahrhundert, wurde es nach Süden hin von dem erwähnten Mäuerchen eingefasst. Mit gespannten Erwartungen nahmen sich die Ausgräber darauf­ hin die Nordseite des Grabbaues vor. Kaum hatten sie die konstantinische Verkleidung entfernt, stießen sie auch hier auf eine Mauer, die 90 Zentimeter lang und 45 Zentimeter breit war. Diese Mauer bot ei­ ne weitere Überraschung. Sie war mit feinem Stuck in hellblauen, ro­ ten und gelben Streifen bedeckt, was darauf schließen ließ, dass sie keine Außenmauer war, sondern zu einem Innenraum gehörte, viel­ leicht zu einem kleinen Gebetsraum. In ihren Putz waren Inschriften gekritzelt, die Graffiti frühchristlicher Pilger. Vor allem waren es Na­ men, immer wieder Namen, die sich rücksichtslos übereinander lagerten und einander unlesbar machten, mal mit groben Instrumen­ ten, mal mit feinster Nadel in den blau-weißen Putz gekratzt: Simplicius, Bonifatia, Victor, Gaudentia, Nicasius, Ursianus, Paulina, Seve37

ra, Venerosa und andere. Einige dieser Namen kennzeichneten Ver­ storbene, wie der Zusatz vivas in Christo - »du lebst in Christus« verriet. Auch das Chi-Rho, das Christusmonogramm, war hier zu finden. All dies ließ keinen Zweifel daran, welch große Verehrung die römischen Christen der Frühzeit diesem Ort entgegenbrachten, einem Grab, an dem sie für ihre Toten beteten. Zwischen den Na­ men und Anrufungen fanden sich auch geheimnisvolle Zeichen, ei­ nem Code ähnlich; sie stammten, wie man glaubte, aus einer Zeit der Verfolgung, in der viele Christen es nicht wagten, offen ihren Glauben zu bekennen. Entschlüsseln konnte keiner der Ausgräber diese mysteriöse Geheimschrift.14 Am unteren Ende der Mauer g, wie die Graffitiwand fortan ge­ nannt wurde, erwartete die Ausgräber die nächste Überraschung. Bei den Grabungsarbeiten hatte sich ein Teil des Putzes gelöst, was den Blick in eine schlitzförmige Öffnung ermöglichte. Als die For­ scher mit einer Taschenlampe hineinleuchteten, erkannten sie, dass sich hinter ihr ein künstlich angelegter Hohlraum verbarg. Er war ringsum mit Marmorplatten ausgelegt. Doch bevor man ihn öffnete und damit einen Teil des mit Graffiti bedeckten Putzes zerstörte, wollte man abwarten, bis zumindest der Epigraphik-Experte des Teams, Pater Ferrua, sie begutachtet hatte. So dauerte es ein paar Tage, bis man sich wieder dem Hohlraum widmete. Vorsichtig hämmerte ei­ ner der Sampietrini Stück für Stück des antiken Putzes weg, bis die Öffnung groß genug war, dass man in sie hineinblicken konnte. Im Innern des Hohlraums befand sich ein aus dünnen Marmorplatten zusammengesetzter Kasten ohne Deckel, 77 Zentimeter lang, 20 Zen­ timeter breit und 31,5 Zentimeter hoch. Wie ein Mitglied des Gra­ bungsteams, Pater Kirschbaum SJ, in seinem Buch Die Gräber der Apostefursten schrieb, »war (er) leer bis aufunbedeutende Reste von mit Er­ de vermischten Knochensplittern, etwas Blei, ein paar Silberjaden und einer Münze der Grafen von Limoges, deren Datierung zwischen dem 10. und dem 12. Jahrhundert schwankt.«15 Wir werden noch sehen, dass diese Fest­ stellung fehlerhaft war. Fest stand, dass der Hohlraum für dieses Marmorkistchen aus der bereits bestehenden Mauer herausgeschlagen worden war. Das muss also einige Zeit nach ihrer Errichtung und spätestens in konstantinischer Zeit geschehen sein. Davon zeugte eine Kritzelei mit dem Christusmonogramm und den Worten hoc vince, »in diesem (Zei­ 38

chen) siege!«. Diese Worte hatte, wie sein Biograph Eusebius berich­ tete, Konstantin der Große gehört, als er kurz vor der Entschei­ dungsschlacht an der Milvischen Brücke eine Vision des Kreuzes oder des Chi-Rho hatte, die ihn zum Christentum bekehrte. Das war im Oktober des Jahres 312, kurz bevor er seinen Gegner Maxentius bei Rom besiegte und danach im Triumph in die Ewige Stadt einzog. Irgendwann zwischen 312 und 326, dem Jahr der Einweihung der Petrusbasilika, war der Hohlraum also verschlossen worden.16 Die Münze aus dem Mittelalter, die man in ihm fand, muss durch den schmalen Spalt in sein Inneres geraten sein. Doch wenn der Hohl­ raum fortan nie mehr geöffnet worden war, wo war dann sein Inhalt hingekommen? Niemand wunderte sich. Niemand fragte danach. Durch die jetzt vergrößerte Öffnung konnte man bis zur Roten Mauer durchsehen, an die die Mauer g grenzt. Auch in ihren Putz waren Worte eingeritzt, die man aber aus dieser Entfernung nicht le­ sen konnte. Es versuchte aber auch niemand, ihrem Geheimnis auf den Grund zu gehen. Erst einjahrzehnt später sollten sie sich als von größter Wichtigkeit erweisen. Nicht sonderlich irritiert über die neue Entdeckung, beschlossen die Ausgräber, ihre Suche nach dem Petrusgrab fortzusetzen. Nach wie vor rechnete man damit, die Bronzekiste zu finden, von der im Liber Rmtificalis die Rede war, oder zumindest ein ungeöffnetes Erd­ grab aus der Zeit Neros. So widmete man sich in den folgenden Wo­ chen dem Bereich unter der Roten Mauer und der Graffitimauer. Da sie die Rote Mauer im Westen nicht zerstören wollten, der Bereich aber im Osten durch die Palliennische begrenzt war, gab es nur eine Möglichkeit, hierher vorzudringen: indem man einen Tunnel unter der Graffitimauer grub. Zunächst wurde der konstantinische Mar­ morboden an der Nordseite des Monumentes entfernt und gegra­ ben. Der erste Fund in etwa 45 Zentimeter Tiefe war ein ziemlich grob ummauertes Grab aus dem 4. Jahrhundert, in dem sich eher schlecht erhaltene Skelettreste befanden. Um tiefer vordringen zu können, wurde es weggeräumt. Nun wurde der untere Teil der Graf­ fitimauer und der Roten Mauer sichtbar. Zwei alte Gräber lagen übereinander entlang der Roten Mauer, als würden sie sich um ei­ nen ganz besonderen Ort drängen. Auch die Graffitimauer stieß in 1,80 Meter Tiefe auf ein altes Grab, das, wie sich bald herausstellte, aus dem 1. Jahrhundert stammte. Dann wagte man es endlich, ihr

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Fundament zu durchbrechen. Diese Öffnung wurde nahe der Roten Mauer geschlagen und war gerade groß genug, dass sich ein Mann durchzwingen konnte. Gleich dahinter stieß man auf einen Hohl­ raum, den es näher zu untersuchen galt. Pater Kirschbaum meldete sich freiwillig für diesen gefährlichen Einsatz; der ganze Papstaltar hätte über ihm einbrechen und ihn wohlmöglich zusammen mit den eifrig gesuchten Gebeinen des Apostelfürsten begraben können. To­ desmutig kroch der Jesuit auf dem Rücken liegend, mit dem Kopf nach oben, die Taschenlampe in der Hand, durch die Öffnung, bis er die unregelmäßige Kammer über dem irdenen Boden erreichte. Sie war vielleicht 1,20 Meter breit und reichte bis an die Rote Mauer. Doch sie war leer. Darm, als er nach oben schaute, bemerkte Kirsch­ baum, dass ihre Decke eine in der Mitte geborstene Marmorplatte bildete. Sie war auf ihrer Unterseite beschriftet und trug den Namen eines gewissen P. Aelius Isidorus. Daraus ließ sich schließen, dass sie einst über dem Eingang eines der benachbarten Mausoleen ange­ bracht war und dessen Erbauer nannte. In der Mitte wies sie eine rechteckige Öffnung auf, die man erst nachträglich und auf ziemlich grobe Weise eingefügt hatte. Wie man später feststellte, lagen über der Isidorus-Platte vier Schichten aus Malta, Marmor und Blei, die alle an der gleichen Stelle durchbohrt waren, sodass ein kleiner, viel­ leicht 32 Zentimeter tiefer Schacht entstand. Sein Rand war von grü­ nem Serpentin umgeben und mit einem Nagel durchschlagen, an dem Weihrauchfasser aufgehängt werden konnten. Es war die Fort­ setzung des Schachtes, der von der Palliennische aus in die Tiefe reichte und durch den einst die brandea, die Reliquientüchlein, hi­ nuntergelassen wurden. Seit dem 4. Jahrhundert war man sich si­ cher, dass dieser Schacht hinunter zum Petrusgrab führte. Das konn­ te nur bedeuten, dass sich unter der Isidorus-Platte einst die Gebeine des Apostels befunden haben mussten. Tatsächlich, so stellte Kirschbaum fest, verlief die Marmorplatte schräg zur Roten Mauer. Unter ihr, in dem Hohlraum, befanden sich zwei Reihen schwellenartiger Ziegelgemäuer, die weit unter die Rote Mauer reichten. Dabei verliefen sie schräg zu ihr, aber parallel zur Platte des Isidorus. Das sprach dafür, dass sie von einem Grab stammten, das bereits an dieser Stelle existierte, bevor die Rote Mau­ er errichtet wurde. Zudem wies das Fundament der Roten Mauer an dieser Stelle eine dreieckförmige Hebung auf, als wollte sie eine eins­

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tige Bedeckung (aus Ziegel?) des Grabes unversehrt lassen. Vor der Travertinplatte, vor ihrer nordöstlichen Ecke, hing eine kleine Säule wie eingeklemmt in den Raum hinein. Offenbar hatte sie die schwere Platte auf dieser Seite getragen. Alles in dem Grabbereich erweckte den Eindruck der Zerstörung. Marmorplatten waren zerschlagen, die Nische der Roten Mauer wies Hiebspuren auf. Als er sich die kleine Marmorsäule noch ein­ mal genauer anschaute, bemerkte Pater Kirschbaum hinter ihr im Licht seiner Taschenlampe ein helles Blitzen. Sofort reckte er sich hinüber, griff mit den Fingern in den Zwischenraum und spürte die scharfe Kante eines metallenen Gegenstandes. Mit einem festen Griff zog er ihn heraus. Während der antike Mörtel rieselte und das Säul­ chen kurz darauf mit lautem Krachen in sich zusammenfiel, hielt er ein dünnes, zierliches Plättchen aus reinstem Gold in den Händen, nur 3,5 mal 6,1 Zentimeter groß. In ihm waren zwei offene Augen eingestanzt, dazwischen ein Kreuz. Offenbar handelte es sich um die Votivgabe eines Pilgers, der glaubte, durch die Fürsprache des hl. Petrus sein Augenlicht zurückerlangt zu haben. Den Sarazenen war dieser winzige Schatz glücklicherweise entgangen. Auch Münzen la­ gen zu hunderten in der Erde. Sie waren von Pilgern durch den brantiea-Schacht auf das Petrusgrab geworfen worden. Dieser Brauch ist noch heute aktuell, wie die tausenden von Münzen verraten, die je­ den Tag zum Beispiel in der confessio der Lateranbasilika landen. Die ältesten dieser antiken Geldstücke stammten aus dem 1. Jahrhun­ dert, was eine lange Tradition dieser Verehrung anzeigte. Durch diese Entdeckung in ihrem Eifer bestärkt, beschlossen die Ausgräber, auch das Innere der Palliennische zu erforschen. Das konnte, um unbemerkt zu bleiben, nur nachts geschehen, wenn der Petersdom für Besucher geschlossen ist. Bei diesen nächtlichen Un­ ternehmungen, so erinnerte sich Pater Kirschbaum später, herrschte eine geradezu mystische Atmosphäre: »Unvergesslich (waren diese Nacht­ schichten) ... wegen des Zaubers, den die nächtliche Basilika ausstrahlt. Die klaren Linien verschwimmen und der riesige Raum weitet sich schier ins End­ lose. Was der Scheinwerfer anleuchten kann, taucht vorübergehend auf, ma­ gisch-unwirklich, um wieder ins Dunkel zu entsinken. Die so gigantische Sta­ tik und Plastizität des herrlichen Raumes gerät ins Fließen, Gleiten und Schimmern und wandelt sich beinahe zum lautlosen Choral«, schwärmte er in seinem Buch.17 41

Die Ausgräber waren dabei wahrhaft abgeschlossen von der übri­ gen Welt, wie Gefangene in einer Zeitblase, während um sie herum Europa in der Finsternis und dem Chaos des Krieges versank. Nur wenige hundert Meter entfernt, im Apostolischen Palast, grübelte Papst Pius XII. darüber, ob ein päpstliches Machtwort gegen den Rassenwahn der Nazis helfen oder die Situation der Katholiken in Deutschland nur verschlechtern würde. Nächtelang betete der hage­ re, geradezu asketische Römer in seiner Privatkapelle um den Frie­ den, darum, dass der Vormarsch der Mächte des Bösen durch ein Wunder gestoppt würde. Ein Hoffnungsschimmer war bald der Ein­ tritt Amerikas in den II. Weltkrieg. Doch von alldem bekamen die »Jäger nach den verlorenen Reliquien« unter den Grotten des Vati­ kans nicht viel mit. Selbst Prälat Kaas, als ehemaliger Reichstagsab­ geordneter und Zentrums-Politiker, zog es vor, sich auf die Ausgra­ bungen zu konzentrieren. Sie halfen ihm, Deutschland, das ihn in diesen Tagen - um ein Heine-Wort zu zitieren - wahrhaft um den Schlaf brachte, für einige Augenblicke zu vergessen. Dabei ergänzten die Ergebnisse dieser nächtlichen Exkursionen nur, was in den Wochen zuvor zutage gefördert wurde. Die Traver­ tinplatte, die einst auf den beiden Säulen ruhte, war an der Südseite abgeschlagen, so als hätte man sie verkürzt und versetzt. Zudem war ihr Mittelstück heraus geschlagen worden, als man die Palliennische anlegte. Die Rote Mauer wies insgesamt drei senkrecht übereinander gestellte Nischen auf, von denen eine unterirdisch und zwei sichtbar waren; zwischen ihnen lag in 80 Zentimeter Höhe die Travertinplat­ te, deren einstige Breite 1,75 Meter bei 90 Zentimeter Tiefe betrug. In den Boden unter ihr war die Isidorus-Platte eingelassen. Nach oben hin mag diese aedicula den üblichen giebelförmigen Abschluss gehabt haben. Zumindest auf den modernen Betrachter wirkte das ganze Arrangement wie ein kleiner Altar. Wurde auf der Travertin­ platte einst die Eucharistie oder ein refrigerium, ein Totenmahl, ge­ feiert? Pater Kirschbaum bezweifelt das in seinem Buch, doch denk­ bar ist es zumindest. Jedenfalls stand die einst 2,70 Meter hohe und 1,65 Meter breite aedicula über einem ganz bestimmten Grab und war damit eindeutig ein später errichtetes Grabdenkmal zu Ehren des Verstorbenen. Ein epitaph, eine reine Gedenkstätte, kann es je­ denfalls nicht gewesen sein, hatte doch die aedicula auf dem Boden ei­ ne Verschlussplatte, die hochgehoben werden konnte.18 Das macht 42

Die Monumente aus dem 2.-4. Jahrhundert hinter der Palliennische

nur Sinn, wenn sich ein Grab darunter befindet, und tatsächlich hat­ te man ein solches entdeckt. Dieses Grab war schon vor Errichtung der aedicula auf besondere Weise gepflegt worden. Davon zeugten zwei Mäuerchen, die das Grab von Norden und Süden gegen Ver­ schüttungen durch Erde schützen sollten, die bei Regen von den stei­ len Abhängen des Vatikanhügels herabgeschwemmt wurde. Dass der hier bestattete Verstorbene ein bedeutender Märtyrer gewesen sein muss, bezeugen die Anrufungen auf der Graffitimauer. Stimmt die Tradition, so kann es sich bei diesem Märtyrer nur um den hl. Petrus gehandelt haben. Sein Grab war also gefunden, was an sich schon eine Sensation war. Doch es gab einen Wermutstropfen mit äußerst bitterem Beigeschmack: Die Gebeine des Apostelfürsten fehlten! Vielleicht um von dieser großen Enttäuschung abzulenken, kon­ zentrierten sich die Ausgräber in den nächsten Monaten darauf, ei­ nen Eindruck von der Gesamtanlage zu bekommen. Vor der Roten 43

Der »GrabhofP« mit der aedicula (»Tropaicm«) (nach Kirschbaum)

Mauer mit der aedicula befand sich ein Grabhof, den sie campo p tauf­ ten und der eine Größe von 8 mal 4 Metern oder 32 Quadratmetern hatte. Wahrscheinlich diente er einst kultischen Versammlungen. Man fand auch Spuren eines Mosaikbodens mit grünem und wei­ ßem Muster. Unter ihm befanden sich über- und nebeneinander 11 alte Gräber, fast sternförmig um das Grab unter der aedicula ange­ ordnet. Sie stammten aller Wahrscheinlichkeit nach von Christen, da es Erdbestattungen waren. Offenbar wollten sie dem Zentralgrab von den Ausgräbern vorsichtig als »verehrtes Grab« bezeichnet - so nahe wie möglich sein. Wahrend sie, wie gesagt, sich in verschiede­ nen Erdschichten teilweise überschnitten, wagte es keines, den Be­ reich des Zentralgrabes zu kreuzen; stets wurde ein, wenn auch klei­ ner, respektvoller Abstand gewahrt. In einem dieser Gräber stieß das Grabungsteam inmitten der braungelben Überreste eines loten auf Goldfaden, die auf ein hohes Amt hindeuten. Es könnte sich dabei, so glaubten die Forscher, durchaus um das Grab eines der frühen Päpste aus dem 2. Jahrhundert gehandelt haben. Ein anderes, sehr

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Die Entwicklung des Pdrusgrabes: 1 Erste Phase (ca. 70 - 120 n.Chr.) 2 Zweite Phase (ca. 120 - 160 n.Chr.) 3 Dritte Phase (ca. 160-170 n.Chr.): Der GrabhofP und die aedicula ent­ stehen

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viel ärmlicheres Grab war von sechs Ziegeln bedeckt, die den Stem­ pel eines Stat. Marcius Demetrius trugen; diese Ziegelei bestand zur Zeit des Kaisers Vespasian (69-79). War hier vielleicht der hl. Linus (64/67-76) beigesetzt, der erste Nachfolger Petri, von dem es im Li­ ber Lbniificalis heißt, dass er »neben dem Grab des hl. Rtrus bestattet« wur­ de? Zumindest bewies die Existenz eines Grabes aus den 70erJahren des 1. Jahrhunderts, das einen Bezug zu dem »verehrten Grab« auf­ wies, dessen Verehrung schon im Jahrzehnt nach dem Tod Petri. Ein weiterer Grabhof, campo q genannt, grenzte von hinten an die West­ seite der Roten Mauer. Hier befanden sich sechs weitere Grabplätze, diesmal ordentlich endang der breiten Ummauerung angeordnet. Zum Erstaunen des Teams fand man in keinem von ihnen einen To­ ten. An der Westseite der Roten Mauer führte zudem ein Gang vor­ bei, den die Ausgräber cliuus (Weg) nannten und der als Zugang zum campo q und zu dem ihm gegenüber liegenden Mausoleum r diente. Dieses gehörte, wie man bald feststellte, einst jenem lebenslusdgen Heiden Flavius Agricola, dessen Sarkophaginschrift den humorlosen Prälaten des 17. Jahrhunderts so sehr missfallen hatte. Dick umwi­ ckelt lagen seine Gebeine und die seiner Frau noch immer in dem Grab. Ein großer Teil dieses Mausoleums wird heute von den Fun­ damenten des Bronzebaldachins Berninis eingenommen. Auch ein frühchristlicher Sarkophag, dessen Frontseite Petrus und Paulus zei­ gen, stand hier. Er stammte, wie eine Inschrift belegte, von einem ge­ wissenJunius Bassus und wurde dort wohl während der konstantini­ schen Bauarbeiten im 4. Jahrhundert abgestellt. Heute kann er im tesoro, der Schatzkammer des Petersdomes, besichtigt werden. Neben dem Mausoleum r und nicht mit ihm verbunden lag eine Kammer, die vom clivus aus betreten werden konnte. Sie diente nie einer Bestat­ tung und trägt keinerlei Verzierung. In einer Ecke befand sich eine große Zisterne. Alles deutete darauf hin, dass die gesamte Anlage - die Bestattungs­ höfe p und q, die aedicula, der clivus und vielleicht auch die Kammer neben r - zusammengehörte und einem einzigen Bauplan entstamm­ te. Glücklicherweise lässt sich ihre Errichtung ziemlich genau datie­ ren. Unter dem clivus, so entdeckte das Grabungsteam, befand sich ein gemauerter Kanal, der das immer reichlich von dem vatikani­ schen Hügel herabfließende Regenwasser aus dem Grabhofq ableiten sollte. Fünf der Ziegel, aus denen er gemauert wurde, trugen die 46

Stempel einer Ziegelei, die dem späteren Kaiser Marc Aurel und sei­ ner Gattin Faustina gehörte - ex praedis Aureli Caesaris et Faustinae Augustae. Nun wird auf dem Stempel zwar Faustina als Augusta be­ zeichnet, ein Titel, den sie im Jahre 147 erhielt, aber ihr Gemahl noch als Cäsar, also Thronfolger, was er bis zum Tod des Antoninus Pius im Jahre 161 blieb. Die Herstellung dieser Ziegel kann also ziemlich präzise in den Zeitraum von 147 bis 161 n. Chr. datiert wer­ den. Zu dieser Zeit standen zwei Päpste der römischen Gemeinde vor, nämlich Pius I. (140-155) und Anicetus (155-166). Zwar heißt es im Liber Rmtificalis, dass Papst Anacletus (76-88) »das Grabmal des hl. Petrus erbaute und damit eine Bestattungsstelle Jur die Bischöfe vereinig­ te«™, aber diese Zuschreibung könnte auch auf eine Verwechslung der beiden Päpste Anicetus und Anacletus zurückgehen, deren Na­ men sich tatsächlich sehr ähneln. Schließlich wurde das Buch der Päpste erst im 6. Jahrhundert auf der Grundlage alter Aufzeichnun­ gen verfasst, und seine Autoren tendierten allgemein dazu, »das ehr­ würdige Alter von Nachrichten und Monumenten besonders hervoruiheben«™, wie es Pater Kirschbaum vorsichtig formulierte, im Klartext: gerne zu übertreiben. Der Zeitpunkt »um 155« ist zumindest ein realistischer. Unter dem weisen und tief religiösen Kaiser Antoninus, der den Beinamen »der Fromme« (Pius) zu Recht trug, herrschte eine Zeit des Friedens und der Toleranz auch für die römische Christengemeinde. Der Kaiser korrespondierte mit dem chrisdichen Philosophen Justin und erließ ein Verbot jeglicher Verfolgungen der Christen. Sollte jemand einen Christen anzeigen, so schrieb er seinen Statthaltern, sei der Ankläger zu verhaften, nicht aber der Christ.21 Die römische Gemeinde konn­ te also aufatmen. Vorbei war (zunächst einmal) die Zeit, in der sie sich verstecken musste, und so stand auch einer Bauaktivität über dem Petrusgrab, der Schaffung des tropaions, eines Kultraumes und eines Bischofsmausoleums, nichts mehr im Wege. Dabei ist es, wie gesagt, zumindest theoretisch durchaus möglich, dass im campo p kleine Eucharistiefeiem zu Ehren des Apostelfürsten stattfanden, bei denen die Travertinplatte der aedicula als Altar - gewissermaßen der erste Vorläufer des Papstaltars! - diente. Der amerikanische Autor John E. Walsh ist sogar davon überzeugt, dass die Kammer neben dem Mausoleum r mit ihrer Zisterne eine Taufkapelle war. Damit wä­ re die Anlage vielleicht nicht unbedingt »das erste reine Kirchengebäude

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in Rom und in der Welk?2, wie er glaubt, aber doch zumindest eines der ersten.23 Die nächsten Umbauten fanden zu Anfang oder Mitte des 3. Jahr­ hunderts statt. Statische Veränderungen, möglicherweise der Druck des schweren Blocks der c/tvuj-Treppe mit dem Eingang zum campo q, bewirkten einen Riss in der Roten Mauer. Vielleicht um ihn zu ver­ decken und weitere Schäden zu verhindern, errichtete man, wie Kirschbaum glaubt, damals die Graffitimauer. Zwar versuchte man, die aedicula möglichst zu schonen, doch es war notwendig, die Tra­ vertinplatte an der Nordseite zu verkürzen und ihr Stützsäulchen ein wenig nach Süden zu verschieben. Zudem wurde der Boden der Me­ morialanlage mit einer sieben Zentimeter starken Schicht aus wei­ ßem Marmor belegt. Die nach wie vor auf dem alten Boden stehen­ den Säulchen wurden durch eine Leiste mit der erhöhten Oberfläche verbunden. Um die so entstandene Asymmetrie ein wenig ausglei­ chen, errichtete man etwas später, wohl gegen Ende des 3. Jahrhun­ derts, eine weitere Mauer auf der Südseite als Gegenstück zur Graffi­ timauer. Damit war die Travertinplatte jetzt von beiden Seiten her eingeschlossen. Zudem wurde der Boden des gesamten Grabhofes p mit einem weiß-grünen Mosaikboden ausgestattet. Da diese Maß­ nahme den Boden erhöhte, wurde eine Marmorleiste vor der aedicu­ la, parallel zur Travertinplatte, angebracht. Als Pater Kirschbaum ein weiteres Mal durch das Loch unter der Mauer g kroch, um das Fundament der Roten Mauer genauer zu untersuchen, bemerkte er, dass neben ihrem dreieckigen Einbruch etwas Weißes aus dem Boden ragte. Mit dem Finger entfernte er ein enig von dem Erdreich, zog und rüttelte vorsichtig das Objekt seiner Neugierde, bis er es herausgezogen hatte. Es war ein menschlicher Knochen, etwa 12 Zentimeter lang. Plötzlich begann er zu schwitzen, spürte er, wie sein Herz heftiger schlug. Gehörte er vielleicht zu den Gebeinen des Apostelfürsten, hatte man sie zu Füßen des tropaians er­ neut bestattet? Im Licht seiner Taschenlampe gruben Kirschbaums Hände immer schneller, immer tiefer, bis er ein ganzes Häuflein menschlicher Knochen freigelegt hatte. Dann rief er einem der Gra­ bungsarbeiter zu, ihm aus dem Schacht herauszuhelfen. Minuten später erzählte er seinen Kollegen aufgeregt von seiner Entdeckung. Es war bereits Abend, als der eigens herbeigeholte Prälat Kaas in den Apostolischen Palast eilte, um den Papst über den Fund zu in­

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formieren. Nur zehn Minuten später erschien Pius XII. gemessenen Schrittes in der Cappella Clementina, auf deren Altar die Ausgräber ei­ ligst die geborgenen Knochen ausgelegt hatten. Mit durchdringen­ dem Blick studierte der hagere Mann in der weißen Soutane die Ge­ beine durch seine dicken, runden Brillengläser, während Pater Kirschbaum, vor ihm kniend, die Begleitumstände ihrer Freilegung schilderte. Nach einer längeren, äußerst sachlichen Diskussion gab Pius XII. seine Genehmigung, die Suche nach weiteren Skelettresten fortzusetzen. Doch fortan wollte er vor Ort dabei sein. Schnell wur­ de ein mit weißer Seide bezogener Stuhl aus der Sakristei des Petersdomes geholt und direkt vor den Schacht gestellt, damit sich der Papst setzen konnte. Pater Kirschbaum, jetzt mit einer Maurerkelle und einer Bürste ausgerüstet, stieg wieder in die Grube.24 Immer wieder erschien er in den nächsten Stunden im Ausgang des Schachtes, um neue Knochenfragmente in die Metallkiste zu Fü­ ßen des Papstes zu legen. Die meisten von ihnen waren klein, man­ che sogar nur winzig: Wirbel und Wirbelteile, Glieder von Fingern und Zehen, zerbrochene Rippen und Teile des Hüftknochens. Uber 250 Fragmente zählte das Team, als gegen Mitternacht das letzte ge­ borgen war, genug wohl, um ein vollständiges Skelett zu bilden. Dass der Schädel fehlte, man nicht einmal Teile von ihm fand, ent­ täuschte weder den Papst noch das Team; im Gegenteil, es wurde als positives Zeichen gewertet. Nach der römischen Tradition befinden sich die Schädel von Petrus und Paulus mindestens seit dem 11. Jahr­ hundert in kostbaren Büstenreliquiaren, die über dem Altar der Lateranbasilika aufgestellt wurden. Noch heute stehen die Apostel­ büsten über dem Altar, in dem ein großes Fragment des Tisches ein­ gemauert ist, auf dem Petrus in Rom, im Haus des Senators Pudens, die Eucharistie gefeiert haben soll. Allerdings weiß niemand, wie die Apostelschädel dorthin gelangten; vielleicht wurden sie während ei­ ner Christenverfolgung versteckt, vielleicht hatte man sie nach dem Überfall der Sarazenen in Sicherheit gebracht. Als die Reliquienbüs­ ten im Jahre 1804 geöffnet wurden, befanden sich in ihnen nur noch vereinzelte Schädelknochen und ein Stück Kiefer, in dem noch die Zähne steckten, neben sehr viel Staub. Immer stärker wuchs in den Männern, die fast andächtig die Ber­ gung der Knochen verfolgt hatten, die Gewissheit, dass es sich dabei nur um die Gebeine des Apostelfürsten handeln könne. Die sterb­ 49

liehen Überreste des ersten Papstes, des Felsens, auf dem die Kirche begründet war, lagen womöglich hier vor seinem Nachfolger als stumme Zeugen einer ununterbrochenen apostolischen Sukzession. Die Tradition, dass der Petersdom direkt über seinem Grab errichtet wurde, entsprach jedenfalls historischer Wahrheit. Das hatten die Ausgrabungen der Kriegsjahre zweifellos belegt. Trotzdem gab es keinerlei Beweis dafür, dass man tatsächlich die Petrus-Gebeine ge­ funden hatte. Dass der Fund zu einem regelrechten Skandal führen sollte, konnte zu diesem Zeitpunkt noch keiner der Zeugen seiner Bergung ahnen. Doch ungeachtet der folgenden Kontroverse um die Knochen kennzeichnete die Ausgrabung unter den Grotten des Vatikans eine neue Phase im Verständnis des Neuen Testamentes. Hatte man im Mittelalter alles blind geglaubt, was in der Bibel steht, hatte man seit der Aufklärung alles a priori infrage gestellt, standen jetzt die Mög­ lichkeiten zur Verfügung, die Wahrheit hinter der Tradition mit dem Spaten zu ergründen. An die Stelle exegetischer Spekulationen traten erstmals konkrete archäologische Entdeckungen, die uns ein völlig neues Bild von dem Fischer aus Galiläa und der Welt, in der er lebte und wirkte, vermitteln. So beschloss ich, als ich meinen Rundgang durch die vatikani­ schen scavi beendet hatte, seinen Spuren zu folgen. Ich begann meine Suche in Betsaida, dort, wo der Jordan in den See Gennesaret mün­ det, am Geburtsort des hl. Petrus.

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II Betsaida Immer wilder flackerten die Fackeln in dem frischen Wind, der,

von den Golanhöhen kommend, in die Tiefebene rund um den See Gennesaret einfiel. Ein leichtes Frösteln erfasste auch uns, die wir auf den großen Augenblick warteten. Alle Augen richteten sich nach Westen, auf den Heliport bei Ka­ farnaum, von wo er kommen musste. Die Sonne war längst unterge­ gangen, hatte nur noch ein purpurrotes Glänzen am Horizont hinter­ lassen, das immer mehr von der Schwärze der einbrechenden Nacht verdrängt wurde. Dann machten die ersten von uns ein blinkendes Licht aus, das sich langsam zu nähern schien. Bald war ein Knattern zu hören, das immer lauter wurde. War er das? Nein! Es war nur ein Helikopter der israelischen Streitkräfte, der offenbar das Territorium unter die Lupe nahm, bevor er seinen Weg nachjerusalem fortsetzte. »Die Israelis sind clever, mein Kompliment!«, raunte mir ein schwer­ gewichtiger Amerikaner mit Baseball-Kappe zu, als ein zweiter Hub­ schrauber über unserem Camp kurvte. »Die gehen auf Nummer Sicher. Ein klassisches Ablenkungsmanöver! Mögliche Terroristen sollen verwirrt werden, damit sie nicht wissen, in welchem Chopper er sitzt«, fügte er hinzu, während er den Reißverschluss seiner dicken Daunenjacke schloss. »Ich war selber bei der Military Intelligence, ich weiß, wovon ich rede.« Mein Blick schweifte über die Landschaft. In der Feme glitzerten die Lichter von Tiberias, spiegelten sich in den sanften Wellen des Sees. Zu unseren Füßen schlängelte sich der Jordan durch sumpfige Wiesen. Um uns herum leuchteten uralte Mauern geheimnisvoll im roten Licht der Fackeln. Er würde von seinem Hubschrauber aus zu­ mindest erahnen können, wo sich einst die Stadt Betsaida befand, die in den letzten 14 Jahren von den Amerikanem ausgegraben und gründlich untersucht worden war. Wieder näherte sich ein Hubschrauber, wurde die Gruppe, zu der ich mich gesellt hatte, unruhig. Aufgeregt sahen wir, dass er langsam herunterkam, direkt auf uns zuflog, dann mehrere Kurven über dem 51

Grabungsgelände drehte. Wer ein gutes Fernglas dabei hatte, er­ kannte auf dem Rücksitz eine leicht gebeugte, in Weiß gekleidete Ge­ stalt. Im schwachen Licht der Innenbeleuchtung des Helikopters er­ schien er eher schemenhaft, doch das dämpfte keineswegs die Begeis­ terung, von der alle Anwesenden übermannt wurden. Das war er! Die Amerikaner winkten mit bloßen Händen oder weißen Taschen­ tüchern, riefen im Sprechchor: »John fhul two, we love you!«, und be­ kreuzigten sich, als er seine Hand zum Segen erhob. Für sie war der Kurzbesuch des Papstes der schönste Lohn für ihre harte Arbeit oder ihren Beitrag zur Finanzierung der Ausgrabung. Mehr noch, es war ein historischer Augenblick. Zum ersten Mal seit 2000 Jahren war der Fischer in seine Heimat zurückgekehrt, hatte der Nachfolger Petri den Geburtsort des Apostelfürsten besucht. Mit dem Luftbesuch der Ausgrabungsstätte von Betsaida ging ein bemerkenswerter Tag auf der Heiligjahr-Pilgerreise des Papstes in das Heilige Land zu Ende. Frühmorgens waren wir zu zehntausen­ den durch den Schlamm gewatet, in den ein Gewitter in der Nacht zuvor die begrasten Auen am Nordufer des Sees Gennesaret verwan­ delt hatte, um bei Korazim (dem biblischen Chorazin) mit Johannes Paul II. die Heilige Messe zu feiern. Dort, auf dem Berg der Selig­ preisungen, der Überlieferung nach der Ort der Bergpredigt, fühlte man sich in biblische Zeiten zurückversetzt. Über hunderttausend Menschen, meist Jugendliche, hatten trotz des strömenden Regens auf dem Gelände übernachtet. Jetzt säumten sie die sanften Hänge des Hügels, der sich über dem See Gennesaret erhob. In dem See selbst, von den Arabern »das Auge Gottes« genannt, spiegelten sich die grauen Wolken eines kühlen Frühlingstages. Singend und betend warteten sie auf den Mann aus Rom, der gekommen war, um hier, an historischer Stätte, die Botschaft Christi erneut zu verkünden. Erst als er eintraf, an winkenden Händen vorbeigefahren wurde und schließlich langsam, unsicheren Schrittes, die überdimensionale Al­ tarplattform betrat, brachen erste Sonnenstrahlen durch und trock­ neten langsam den morastigen Boden, erwärmten die fröstelnden Pilger. Schließlich nahm der altersgebeugte Papst auf einem monoli­ thischen Thronsessel Platz, in den das umgedrehte Kreuz Petri eingeschnitten war. Hinter ihm thronte, im Stil byzantinischer Ikonen auf eine überdimensionale Leinwand gemalt, ein lehrender Christus. Besser ließ sich die Cathedra Rtri, das Lehramt des Nachfolgers Petri, 52

nicht illustrieren. Auch die Predigt des Papstes aus Polen führte zu­ rück zu den Anfängen, zur Kembotschaft des Christentums, dessen Wiege in dieser lieblichen Landschaft stand; sie rief auf zur Solida­ rität mit den Armen, den Unterdrückten und den Verlierern der Ge­ sellschaft. Am Nachmittag, nach einem Essen mit den Benediktinern und Franziskanern, die die heiligen Stätten betreuen, einem erholsamen Mittagschlaf und einem Treffen mit Israels Premierminister Benja­ min Netanjahu im Domus Galilaeae, einem Ordenshaus am Hange des Berges der Seligsprechungen, setzte der Papst sein Besuchspro­ gramm fort. Gegen 17.00 Uhr wurde er nach Tabgha gefahren, wo er zuerst in der Kirche der wunderbaren Brotvermehrung, dann in der Kirche des Primats Rtn betete. Eine Stunde später traf er in Kafarnaum ein, der Stadt, in derJesus seine meisten Wunder gewirkt hatte. Dort fiel er vor den Ruinen, die seit Urzeiten als das Haus des hl. Petrus verehrt wurden, auf die Knie. Seine innere Betrachtung führte ihn zurück zu den Anfängen der Kirche. Erst gegen 19.00 Uhr bestieg er den Helikopter, der ihn zuerst über Betsaida fliegen, dann nach Jeru­ salem zurückbringen sollte. Auch ich hatte diesen 24. März 2000 genutzt, um an den Anfang des langen Weges zurückzukehren, der den Papst jetzt auf seiner Ju­ biläums-Pilgerfahrt wieder nach Israel geführt hatte. Nach der Messe bei Korazim war ich mit meinem Mietwagen durch die Hügel Galilä­ as gefahren, hatte auf einer eisernen Brücke den Jordan überquert, um an die Stelle zu kommen, an der er in den See Gennesaret strömt. Dort liegt, seit fast 5000Jahren, eine Siedlung namens Betsai­ da. Sie war der Geburtsort des Apostels Petrus. Hier traf ich auf die Gruppe von Amerikanern, Archäologen und Sponsoren der Ausgra­ bungen, die seit gut einem Jahrzehnt erstaunliche Details über das Leben in dieser Stadt aus der Zeit Jesu zutage förderte. Alle Anwe­ senden waren gekommen, um diese, wenngleich bloß für einen kur­ zen Augenblick, dem Papst zu präsentieren. Mit der symbolischen »Rückkehr Petri in seine Stadt« endete eines der abenteuerlichsten Kapitel der Archäologie des Neuen Testamen­ tes. Denn Betsaida galt als verlorene Stadt, verschwunden aus der Erinnerung der Gläubigen, begraben im Treibsand der Zeit. Dabei zeugen die Evangelien davon, dass die Fischerstadt - Betsaula heißt wörtlich »Haus des Fisches«, was sich salopp als »Fischhausen« ver­ 53

deutschen lässt - eines der Zentren des Wirkens Jesu war. Immerhin wird sie in den Evangelien nach Jerusalem, Kafarnaum, Nazaret und Bethanien am fünfthäufigsten erwähnt. Die Neutestamender spre­ chen gar von einem »evangelischen Dreieck«, einem Gebiet von rund 20 Quadratkilometern mit den Eckpunkten Kafarnaum, Cho­ razin und Betsaida, als dem engeren Tätigkeitsfeld Jesu in Galiläa. Auch nichtkanonische Traditionen zeugen davon, wie das uns leider nicht mehr erhaltene Evangelium der Hebräer (d. h. der Judenchristen), das der Kirchenvater Hieronymus zu Ende des 4. Jahrhunderts zi­ tierte: »In diesen Städten (er erwähnte zuvor Chorazin und Betsaida) wurden viele Wunder gewirkt, dem Evangelium der Hebräer zufolge waren es 53.«1 Von nur zweien berichten die kanonischen Evangelien. Hier wurde ein Blinder geheilt (Mk 8, 22), hier, auf den Wiesen außer­ halb von Betsaida, fand, zumindest dem Evangelisten Lukas zufolge, die wunderbare Speisung von »an diefünftausend Männern« (Lk 9, 14) statt.2 Zudem war Betsaida die Geburtsstadt von mindestens drei Aposteln, wie es im Johannesevangelium heißt: »Philippus war aus Betsaida, der Stadt des Andreas und Petrus« (Joh 1, 44). Einer späteren Tradition nach, die Theodosius um 530 zitiert, soll es auch die Hei­ mat des Fischereiuntemehmers Zebedäus, des Vaters der Jesus Jün­ ger Johannes und Jakobus, gewesen sein. All das machte Betsaida, von Markus als »Dorf« (Mk 8, 23), von Lukas als »Stadt« (Lk 9, 10) bezeichnet, zu einer der wichtigsten Stätten der frühen Christenheit. Doch wenn Christen von Betsaida hörten, dachten sie an erster Stelle nicht an die Wunder, auch nicht an die mindestens drei Apos­ tel, die dort geboren wurden. Vielmehr erinnerten sie sich an den Fluch Jesu: »Wehe dir, Chorazin! Wehe dir, Betsaida! Denn wären zu Tyrus und Sidon die Wunder geschehen, die bei euch geschahen, sie hätten sich längst in Sack und Asche bekehrt. Aber ich sage euch: Tyrus und Sidon wird es er­ träglicher ergehen am Tag des Gerichtes als euch« (Mt 11, 20-22). Betsaida, die verfluchte Stadt, schien vom Erdboden verschluckt zu sein wie einst Sodom und Gomorra. Zwar wurde sie in der Natur­ geschichte des römischen Prokurators, Admirals und Schriftstellers Pli­ nius des Alteren, der beim Vesuvausbruch im Jahre 79 ums Leben kam, ausdrücklich als »eine von vier lieblichen Städten am Galiläischen Meer