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German Pages [471] Year 2020
Palaestra Untersuchungen zur europäischen Literatur
Band 350
Begründet von Erich Schmidt und Alois Brandl Herausgegeben von Bernd Auerochs, Heinrich Detering und Maria Moog-Grünewald
Editorial Board: Irene Albers, Elisabeth Galvan, Julika Griem, Achim Hölter, Karin Hoff, Frank Kelleter, Katrin Kohl, Paul Michael Lützeler, Per Øhrgaard
Stefanie Seidel
Dem Anfang auf der Spur Detektivisches Erzählen zwischen Literatur und Wissenschaft (1850–1926)
Mit 7 Abbildungen
V&R unipress
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: © Stefanie Seidel, »Dem Anfang auf der Spur« Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 0303-4607 ISBN 978-3-7370-1204-1
Meiner Familie in Liebe und Dankbarkeit für alles
Inhalt
Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Literatur / Wissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Aufbau der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
13 13 28
I. Literatur . . .
33 39 45
. . . . .
52 62 64 76 84
. .
93
. .
97
. .
108
. .
110
. .
124
1 Literatur: Die Detektiverzählung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Namen: Die terminologische Diskussion . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Gestalten: Die definitorische Diskussion . . . . . . . . . . . . . . 1.2.1 Wovon sie erzählt: Die Detektiverzählung als Suche nach einer verlorenen Erzählung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.2 Wie sie erzählt: Die Detektiverzählung als Aition . . . . . . 1.2.2.1 Labyrinth, Palimpsest, Kreis . . . . . . . . . . . . . . 1.2.3 Die Detektiverzählung: Metanarrativität und Wissen(schaft) 1.3 Ursprünge: Die genetische Diskussion . . . . . . . . . . . . . . .
II. Wissen 2 Wissen: Das 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Das 19. Jahrhundert als ›Zeitalter der Geschichte‹: Epistemische Verzeitlichungstendenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Historia und Narration: Das Paradigma der Geschichtswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Geschichtsphilosophie, Geschichtstheorie, Geschichtsschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Exkurs: G.K. Chestertons The Sign of the Broken Sword (1911) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
8
Inhalt
. . . . . . .
142 144 155 167 178 188 200
3 Texte: Der aitiologische Erzählraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Schichten-Geschichten: Detektiverzählung und Archäologie . . . . 3.1.1 Wilkie Collins: The Law and the Lady (1875) . . . . . . . . . 3.1.2 Heinrich Schliemann: Ilios (1881) . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs: Theodor Storms Aquis submersus (1876), Nathanael Hawthornes The Scarlet Letter (1850) . . . . . . . . . . . . . . 3.1.3 Theodor Fontane: Unterm Birnbaum (1885) . . . . . . . . . . 3.1.4 Wilhelm Raabe: Stopfkuchen (1890) . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.5 Arthur Conan Doyle: The Musgrave Ritual (1893) . . . . . . . 3.1.6 G.K. Chesterton: The Curse of the Golden Cross (1926) . . . . 3.2 Missing Links: Detektiverzählung und Evolutionsbiologie . . . . . 3.2.1 Charles Darwin: On the Origin of Species (1859), The Descent of Man (1871) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Arthur Conan Doyle: The Hound of the Baskervilles (1902) . . 3.2.3 Arthur Conan Doyle: The Adventure of the Empty House (1903) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Notwendige Ursachen: Detektiverzählung und (bakteriologische) Medizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1 Adalbert Stifter: Turmalin (1853) . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2 Wilkie Collins: The Moonstone (1868) . . . . . . . . . . . . . 3.3.3 Robert Koch: Die Ätiologie der Tuberkulose (1884) . . . . . . 3.3.4 Arthur Conan Doyle: The Adventure of the Dying Detective (1913) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.5 Leo Perutz: Der Meister des Jüngsten Tages (1923) . . . . . . . 3.4 ›Talking Cure‹ oder Die Heilung der Erzählung: Detektiverzählung und Psychoanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.1 Sigmund Freud: Studien über Hysterie [mit J. Breuer] (1893/95) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.2 G.K. Chesterton: The Honour of Israel Gow (1911) . . . . . . 3.4.3 Ricarda Huch: Der Fall Deruga (1917) . . . . . . . . . . . . .
211 212 212 235
2.2.3 ›Geschichte-als-Wissenschaft‹ – ›Geschichte-als-Erzählung‹ 2.3 Das 19. Jahrhundert als ›Zeitalter der Geschichte(n)‹ . . . . . . . 2.3.1 Archäologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2 Evolutionsbiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3 (Bakteriologische) Medizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.4 Psychoanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Zwischenfazit: Auf der Suche nach der verlorenen Erzählung . . .
III. Texte
240 258 269 280 288 301 301 316 334 346 346 354 371 381 389 402 402 415 426
Inhalt
9
Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
435
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
445
Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
469
Danksagung
Am Ende einer langen, nicht immer glatten Promotionszeit und am Anfang dieser langen, sicher ebenso nicht in jedem Detail glatten Dissertationsschrift möchte ich zunächst eine angenehme Pflicht erfüllen und all jenen danken, ohne die die vorliegende Arbeit gar nicht erst entstanden wäre oder zumindest nicht in ihrer jetzigen Form, nämlich abgeschlossen und gebunden, vorliegen würde. Dazu gehört an erster Stelle mein Doktorvater Heinrich Detering, der meinem Projekt von Anfang an mit bewundernswerter Offenheit und regem Interesse begegnet ist. Er hat die anschließende Arbeit daran großzügig mit Kritik, Rat und entscheidenden Denkanstößen (sowie einigen Gutachten) begleitet und mich dabei doch in größtmöglicher Freiheit und Unabhängigkeit arbeiten lassen. Seine Geduld und sein Verständnis für die großen und kleinen Hürden des Familienalltags, beide weit über das erwartbare Maß hinaus gewährt, haben die Fertigstellung dieser Arbeit überhaupt erst ermöglicht. Verbunden bin ich Heinrich Detering darüber hinaus für zwei ebenso wichtige wie aufregende wissenschaftliche rites de passage: Meine erste Einladung als Referentin zu einer Tagung und meine erste Publikation gehen auf seine Initiative zurück. Ausdrücklich gedankt sei hier auch meinen zahlreichen akademischen Lehrern an den Universitäten Tübingen und Oxford, darunter ganz besonders Volker Mergenthaler, dessen innovative und konzentrierte Art zu lehren mich nachhaltig begeistert hat, und Barbara Thums, die mich – fördernd, vor allem aber fordernd – als Literaturwissenschaftlerin mehr geformt und beeinflusst hat, als ihr vielleicht bewusst ist. Mein herzlicher Dank gilt außerdem der Konrad-Adenauer-Stiftung, die meine Promotion mehr als zwei Jahre lang großzügig finanziell unterstützt hat, sowie den Herausgebern der »Palaestra«, die die Aufnahme meiner Arbeit in ihre traditionsreiche Reihe befürwortet haben.
12
Danksagung
Schließlich gebührt tiefempfundene Dankbarkeit meiner Familie, meinem Mann und meinen Töchtern, ohne die nichts so wäre, wie es ist. Tübingen, Stuttgart & Göttingen, im Juni 2020
Stefanie Seidel
Einleitung
I.
Literatur / Wissen
Literatur Entweder die Gesamtheit des Geschriebenen bzw. Gedruckten überhaupt oder die Gesamtheit der Texte mit gleichem Thema bzw. gleichen Merkmalen bzw. gleichem Wert oder aber ein gesellschaftliches Handlungssystem. Expl: Literatur hat derzeit je nach Zusammenhang eine Reihe von unterschiedlichen und unterschiedlich genau bestimmten Bedeutungen: […] (3) synonym mit Primärliteratur: ›Gesamtheit besonderer Texte, Gegenstand der Literaturwissenschaft‹, wobei die Besonderheit ausdrücklich oder unausdrücklich als Literarizität (& Poetizität) gefaßt wird und die unter diesen Begriff fallenden Texte allgemein das Attribut ›literarisch‹ erhalten; […] Die praktische Bestimmung einzelner Texte als literarisch gemäß Bedeutung (3) nehmen Erwachsene in unserem Kulturkreis relativ sicher und jedenfalls selbstverständlich so vor, daß sie ihnen gegenüber eine besondere Lese-Einstellung (Rezeptionshaltung) einnehmen: Man suspendiert die & Referenz und läßt dahingestellt sein, ob auch stimmt (zutrifft, jemals der Fall war), was man liest. Die theoretische Bestimmung der Eigenart solcher Texte setzt daher mit Vorteil bei den Anlässen zur automatisierten Wahl dieser Lese-Einstellung an. [Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, 443f.]
Wissen (griech. ɛπιστημη; lat. scientia; engl. knowledge, science; frz. connaissance, savoir, science; ital. conoscenza, scienza) I. – A. Terminologie. – Wissen bedeutet teils eine Fähigkeit, und zwar zum einen die Fähigkeit, einen Gegenstand so aufzufassen, wie er wirklich beschaffen ist, und zum anderen die Fähigkeit, mit den Gegenständen des W. erfolgreich umgehen zu können, teils den epistemischen Zustand, in dem man sich aufgrund der erfolgreichen Ausübung seiner Erkenntnisfähigkeit befindet, und teils auch den Inhalt, auf den eine erkennende Person sich dabei bezieht, sowie die Aussage, in der man das Ergebnis eines Erkenntnisvorgangs sprachlich zum Ausdruck bringt. W. zeichnet sich in subjektiver Hinsicht durch das Merkmal der Gewißheit und in objektiver Hinsicht durch das Merkmal der Wahrheit aus. [Historisches Wörterbuch der Philosophie, 856]
14
Einleitung
Eigentlich hätten an dieser Stelle zwei Lemmata aus demselben Nachschlagewerk in das durchaus nicht ganz selbstverständliche Verhältnis der Begriffe ›Literatur‹ und ›Wissen‹ einführen sollen. Stattdessen bürgt nun aber für die Literatur das Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft mit einem ausführlichen Artikel, während für die Definition des Wissens ein ebenso ausführlicher Artikel im Historischen Wörterbuch der Philosophie bemüht werden muss. In keinem einschlägigen Fachlexikon zur Literatur- oder Kulturwissenschaft nämlich sind beide Begriffe in aller Eindeutigkeit vertreten, nur auf lemmatischen Schleichwegen und verborgen hinter Verweisketten lassen sie sich gelegentlich, zumal in neueren Auflagen, gemeinsam ausmachen: Gero von Wilperts Sachwörterbuch der Literatur (82001) etwa enthält neben dem obligatorischen Artikel zur ›Literatur‹ und über den immerhin erwartbaren Brückenartikel zur Gattung der ›Science Fiction‹ hinaus keine Einträge über den Bereich des Wissens. Auch das RLW (2003) verzeichnet neben dem oben bereits anzitierten Lemma ›Literatur‹ und einem zur ›Science Fiction‹ keine Artikel zu den Begriffen ›Episteme‹, ›Epistemologie‹ oder ›Wissen‹. Allerdings finden sich ein Eintrag zur Foucaultschen ›Archäologie des Wissens‹, der freilich sehr spezifisch ist, sowie einer zur ›Wissenschaftsgeschichte‹, der ein Verhältnis zwischen den Bereichen der Literatur und des Wissens zumindest andeutet, indem er auf die mit dem Begriff des Diskurses verbundene poststrukturalistische Tendenz zur Einebnung der »Differenz zwischen dem wissenschaftlichen Wissen und anderen Wissensformen«1 hinweist. Im Metzler Lexikon Literatur (32007) wiederum stößt man lediglich auf den Begriff ›Wissensliteratur‹, der als leeres Verweislemma auf den Artikel zur ›Sachliteratur‹ fungiert. Gerade umgekehrt verhält es sich hingegen im Historischen Wörterbuch der Philosophie (1984), aus dem der obige Auszug aus dem mehrseitigen Lemma ›Wissen‹ stammt. Obwohl man hier für die Begriffe ›Linguistik/Sprachwissenschaft‹, ›Text‹ und ›Narrativ/Narrativität‹ durchaus fündig wird, sucht man einen Eintrag zum Thema ›Literatur‹ vergebens. Auf eben diesen verzichtet auch Ansgar Nünning in den Grundbegriffen der Literaturtheorie (2004) wie auch in den ein Jahr später erschienenen Grundbegriffen der Kulturtheorie und Kulturwissenschaften (2005). Während der Artikel in der späteren Publikation (erwartungsgemäß) vollständig fehlt, taucht im ersten Fall an seiner Stelle immerhin das terminologisch vorsichtigere Lemma ›Literaturbegriff‹ auf. Beide Lexika verzeichnen zudem als einzigen Hinweis auf den Bereich des Wissens einen zunächst vielversprechend erscheinenden Artikel zur ›Episteme‹, hinter dem sich aber erneut ein Beitrag zu Foucault und seiner Archéologie du savoir verbirgt. Demselbem Artikel zur ›Episteme‹ begegnet man übrigens auch im ebenfalls von Nünning herausgegebenen Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie 1 Thomé, Horst (2003): Wissenschaftsgeschichte1. In: RLW (Band 3). Berlin, 855–57, hier: 856.
Literatur / Wissen
15
(11998, 22001, 32004, 42008, 52013), das für die Zwecke dieser Einführung besonders aufschlussreich ist. Im Gegensatz zu anderen Nachschlagewerken ist hier der Begriff der Literatur auch und sogar vorrangig als bezogenes Lemma verzeichnet, er tritt also stets mit einem lexikalischen Tandempartner auf, so etwa als ›Literatur und Kunst‹ oder ›Literatur und Medien‹. Einen auf systematische Darstellung zielenden Eintrag ›Literatur und Wissen‹ gibt es darunter zwar ebenfalls nicht. Allerdings werden in Artikeln wie ›Literatur und Recht‹, ›Literatur und Medizin‹, ›Literatur und Historiographie‹ oder ›Literatur und Naturwissenschaften‹ Verbindungen zwischen dem literarischen Feld und einzelnen konkreten Wissensbereichen sinnfällig gemacht, die jeweils auch Anlass zu prinzipiellen Überlegungen zum Verhältnis von Literatur und Wissen geben. Erst ab der vierten Auflage des Lexikons aber nimmt das Wissen als ›Wissen, kulturelles‹ mit einem wenn auch relativierten, so doch eigenständigen Lemma seinen Platz neben den Einträgen zur Literatur ein. Überhaupt scheint es mit geringeren konzeptionellen Hürden verbunden zu sein, die Begriffe Literatur und Wissen in von vornherein eingeschränkten Kontexten zusammenzuführen. Davon zeugen zumindest das von Bettina von Jagow und Florian Steger herausgegebene Nachschlagewerk Literatur und Medizin. Ein Lexikon (2005), das die Präsenz medizinischer Begriffe und Konzepte in literarischen Texten verzeichnet, sowie die Princeton Encyclopedia of Poetry and Poetics (42012), in der zwei Lemmata (namentlich ›Knowledge, Poetry as‹ und ›Science and Poetry‹) beide Bereiche in der Zusammenschau verhandeln. Aus dieser kleinen Auswahl wird ersichtlich, dass eine Begegnung der Begriffe ›Literatur‹ und ›Wissen‹ auf lemmatischer Augenhöhe offenbar nicht oder doch nur schwer konzipierbar ist. Sie scheinen nicht denselben lexikalischen Räumen anzugehören, nicht denselben epistemischen Modus zu teilen, nicht nach denselben Regeln platzierbar zu sein. Dieser Befund, der schon an Hand einer rein formalen Betrachtung augenfällig wird, lässt sich auch an der inhaltlichen Bestimmung der beiden Begriffe ablesen, wie sie die einleitenden Lexikoneinträge anbieten. Die in unserem Kulturkreis geläufige Konzeption von Literatur, so führt das RLW aus, beruhe auf dem Merkmal der Poetizität eines Textes, dem Signalisieren einer spezifischen Rezeptionshaltung also, bei der der Leser »dahingestellt sein [läßt], ob auch stimmt (zutrifft, jemals der Fall war), was man liest«2. Dem setzt das Historische Wörterbuch der Philosophie einen Wissensbegriff entgegen, der unter anderem konturiert ist als »Fähigkeit, einen Gegenstand so aufzufassen, wie er wirklich beschaffen ist«3. Unverkennbar trifft in der Zusammenschau dieser beiden überaus konträren Basisdefinitionen die Wahr2 Weimar, Klaus (2000): Literatur. In: RLW (Band 2). Berlin, 443–48, hier: 444. 3 Hardy, Jörg / Meier-Oeser, Stephan u. a. (2004): Wissen. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie (Band 12). Darmstadt, 855–902, hier: 855.
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Einleitung
heitsfähigkeit von Wissen auf den literarischen ›Möglichkeitssinn‹ (Musil), trifft Gewissheit auf ein ›Spiel der Wahrscheinlichkeiten‹ (Campe), trifft Wirklichkeitshaltigkeit auf die vollständige Suspendierung von Referenz: Literatur erscheint als Weltverhältnis auf Als-Ob-Basis, Wissen hingegen als Erkenntnis nach Maßgabe des Wie-es-wirklich-ist. Diese Gegenüberstellung trifft vor allem dann zu, wenn man, wie dies Charles Percy Snow 1959 an prominenter Stelle und durchaus folgenreich getan hat, den Begriff des Wissens vorrangig auf naturwissenschaftlich hergestellte Wissensinhalte verengt. In seiner Cambridger Rede Lecture mit dem vielsagenden Titel ›The Two Cultures‹ hatte der englische Literaturkritiker Naturwissenschaftlern und Intellektuellen ein von Unverständnis, Ignoranz, gar Feindseligkeit geprägtes Verhältnis bescheinigt und die entsprechend geringe Interaktion beider Bereiche konstatiert. Der Graben, der sich so zwischen geisteswissenschaftlichliterarischen Standpunkten und Herangehensweisen und einer Wissenskultur aufgetan habe, die auf Methodentreue, Empirie und Überprüfbarkeit basiere, berechtige dazu, von einer tatsächlichen Unvereinbarkeit der beiden ›Kulturen‹ zu sprechen. Snow hatte mit diesen Thesen eine zunächst überaus polemisch geführte Debatte um das Verhältnis von Literatur und (Natur)Wissen(schaft) ausgelöst, deren Ursprünge allerdings mindestens ins 19. Jahrhundert, wenn nicht sogar weiter zurückreichen.4 Im Prinzip hält diese Auseinandersetzung noch bis heute an, auch wenn die Positionen an Objektivität gewonnen haben und sich aus der Debatte im angloamerikanischen Raum mit den ›Literature and Science Studies‹ ein veritables Forschungsfeld entwickelt hat, das auch in der deutschen Literaturwissenschaft seit etwas mehr als 20 Jahren mit steigendem Interesse diskutiert wird.5
4 Vgl. für die Wurzeln der Debatte in den sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ausdifferenzierenden Systemen Literatur und Wissenschaft und für die sich an Snows Beitrag anschließende Grundlagendebatte um eine (Levine), zwei (Livingston), drei (Lepenies) oder gar vier (Cordle) Kulturen Pethes 2003, 186ff. Hörisch 2007, 25ff. verfolgt die Debatte bis ins griechische und römische Altertum zu Platon (Dichter als Lügner, die eher Schönes als Wahres wiedergeben), Aristoteles (Dichtung als wertvoller Möglichkeits- statt als einfacher Tatsachenmodus) und Horaz (Synthese in der literarischen Doppelfunktion des ›prodesse et delectare‹) zurück. Vgl. hierzu auch Schmitz-Emans 2008, 38ff. In direktem kritischem Anschluss an das Konzept der voneinander getrennten Wissenskulturen vgl. Elsner / Frick 2004 sowie den Sammelband von Welsh / Willer 2008, der an Hand zahlreicher Fallbeispiele für einen »Gegenentwurf zur Trennungsgeschichte« (so der Untertitel der Einleitung) wirbt. 5 Vgl. hierzu neben den weiter unten genannten einschlägigen Publikationen die Forschungsberichte von Pethes 2003, Krämer 2010, Wübben 2013 und Schmitz-Emans 2015 sowie die von Hörisch und Klinkert seit 2006 herausgegebene Reihe Das Wissen der Literatur. Für den Bereich ›Literature and Science‹ liegt ebenfalls eine stetig wachsende Auswahl an Handbüchern vor, die systematisch über die Forschungsgeschichte informieren. Vgl. etwa Clarke 2011 und Meyer 2018.
Literatur / Wissen
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Dabei ist es vor allem gelungen, das vielschichtige Verhältnis von Literatur und Wissen systematisch zu beleuchten und in seinen zahlreichen Dimensionen zu erfassen.6 Denn es gibt durchaus andere Möglichkeiten als ein kontrastives ›oder‹, um die Begriffe ›Literatur‹ und ›Wissen‹ sinnfällig zueinander in Beziehung zu setzen. So existiert zunächst einmal, das demonstriert ja bereits der einleitende Eintrag aus dem RLW, ein Wissen von der Literatur, ein dem Umgang mit literarischen Texten spezifisches Reservoir epistemischer Inhalte, das dem Benutzer solcher Texte in ganz alltäglichen Lektürekontexten ebenso zur Verfügung steht wie dem professionalisierten Leser im institutionellen Rahmen der Literaturwissenschaft. Lesen wir einen Text, zumal einen als literarisch gekennzeichneten, liegt seiner Rezeption stets ein implizites oder explizites Wissen um die fundamentalen Strukturen seines Funktionierens zu Grunde, ein Wissen etwa um die Konzepte von Autorschaft und Erzähler, ein Wissen um Gattungen und Fiktionssignale, um Lektüreregeln und Kanonbildung. Das Lesen, Verstehen, Deuten und Beurteilen eines literarisches Textes, mithin unser gesamtes kommunikatives Handeln mit und über Literatur wird überhaupt erst ermöglicht durch Verständigungsprozesse, in denen der konkrete literarische Text, in denen Literatur an sich als epistemischer Gegenstand aktualisiert wird. Literatur partizipert damit an kommunikativen Strukturen, prozessualen Rahmenbedingungen und Selbstversicherungsstrategien, die sich als anderen Wissenskulturen, wie etwa der von Snow so vehement gegen die Literatur abgesetzten Naturwissenschaft, durchaus analog begreifen lassen.7 Über das Wissen von der Literatur hinaus gibt es aber auch ganz unbestritten ein Wissen in der Literatur. So wie Literatur ihre Rezeption betreffend in ein Netz ihr eigener epistemischer Grundannahmen eingebunden ist, speist sie ihre Inhalte, gelegentlich auch ihre Formen aus Wissensbeständen, die ihr aus anderen Bereichen zur Verfügung gestellt werden. Das kann affirmierend in Form einer wertungsfreien Übernahme geschehen, meist und ihren Möglichkeiten angemessener präsentiert sich Literatur aber in der Funktion eines Korrektivs. Indem der konkrete literarische Text ausgewählte Wissensinhalte kritisch in Szene setzt, sie in überraschenden Konstellationen aufeinander treffen lässt, sie vielleicht sogar in die Form eines neuen Genres wie der Science Fiction gießt, bietet er sich als epistemischer Möglichkeitsraum an, als scheinbar harmloses Spiel, in dem hypothetische Wissenskonfigurationen erprobt werden können.8 Für diese ex-
6 Für einen systematischen Überblick zum Verhältnis von Literatur und Wissen sowie eine Dokumentation des Problemkomplexes vgl. Hörisch 2007, Klausnitzer 2008, Köppe 2010, Borgards u. a. 2013 sowie (mit einem weniger systematisierenden als eher konzeptualisierenden Anspruch) Müller-Sievers 2015. 7 Vgl. Klausnitzer 2008, 165–209. 8 Vgl. ebd, 210–252 und 302–312.
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Einleitung
perimentelle Arbeit ist Literatur bei weitem nicht auf streng tagesaktuelles Wissen beschränkt. Vielmehr greift sie auch auf verworfene, ausgemusterte und zeitweilig verlegte Wissensbestände zurück und fungiert damit ebenso als Spiegel und Korrektiv momentanen Wissens wie als Archiv und Speicher des Schoneinmal- bzw. Nicht-Mehr-Gewussten. In diesem Sinn ist Literatur also nicht nur Gegenstand von Wissen, sie weiß auch selbst, insofern sie fremde Wissensbestände inhaltlich wie formal rezipiert und verarbeitet. Mit den bisherigen Überlegungen zu einem Wissen von der Literatur und einem Wissen in der Literatur sind ausschließlich Modelle zur Sprache gekommen, die einwegig von einem Primat des epistemischen Bereichs ausgehen, an dem die Literatur dann erst in einem zweiten Schritt prozessual oder als Empfängerin möglicher Erzählstoffe und -formen partizipiert. Es sind allerdings auch andere, offenere Transfermodelle denkbar. Diese fußen vorrangig auf poststrukturalistischen Theorieangeboten wie der Dekonstruktion, der Diskursanalyse oder dem New Historicism, die die Literaturwissenschaft etwa seit den 1970er Jahren stark beeinflussen und damit auch der aktuellen Debatte um das Verhältnis von Literatur und Wissen wichtige Impulse geben.9 Dabei spielt vor allem das Auflösen und Infragestellen von scheinbar fixen Grenzen eine Rolle, das in den verschiedenen Schulen des Poststrukturalismus beständig postuliert und erprobt wird. Zu denken wäre hier beispielsweise an: die dekonstruktivistische Öffnung des sprachlichen Zeichens und des Textes hin zum sprachlichen bzw. textuellen Weltzugang an sich, die sich an Jacques Derridas bekanntes Diktum »Il n’y a pas de hors-texte«10 knüpft; die Erosion des in sich geschlossenen Textganzen in Julia Kristevas Intertextualitätstheorie, die den Text als Mosaik umfassender zwischentextlicher Verweisbewegungen begreift; die von Michel Foucault in seiner Diskursanalyse vorgenommene Einebnung der Differenzen zwischen Texten verschiedener Provenienz unter dem umfassenden Begriff des Diskurses, der darüber hinaus auch soziale Praktiken einschließt; das von Stephen Greenblatt im Sinne einer Austauschbeziehung (›negotiation‹) neu konturierte Verhältnis von (literarischem) Text und (historisch-kulturellem) Kontext, das im New Historicism als prinzipielle Textualität von Kultur und Geschichte einerseits und als Rekontextualisierung der Literatur andererseits fassbar wird. Fallstudien zu einem so verstandenen Verhältnis von Literatur und Wissen(schaft) liefern u. a. Cartwright / Baker 2005 (im historischen Durchgang vom Mittelalter bis zur Gegenwart), Schmitz-Emans 2008 und Hufnagel / Krämer 2015 (für das Verhältnis von Lyrik und Wissenschaft). 9 Überblicke hierzu bei Pethes 2003, 199–210; Pethes 2004 (unter Einbeziehung der Luhmannschen Systemtheorie); Klausnitzer 2008, 142–54. 10 Derrida, Jacques (1967): De la grammatologie. Paris, 227.
Literatur / Wissen
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Unter dem poststrukturalistischen Blick verliert der Text seine exkludierende Geschlossenheit, er erscheint vielstimmig und durchlässig. An Stelle klar umrissener Außengrenzen rückt die Funktion des Textes als Schaltstelle, als Kreuzungspunkt kultureller Äußerungen in den Vordergrund, wird er transparent in Bezug auf ihn durchziehende diskursive Strukturen und Formationen, an deren Konstituierung Literatur und Wissen(schaft) gleichermaßen beteiligt sind. Begreift man beide Bereiche nämlich beispielsweise als Diskurse im Foucaultschen Sinn, partizipiert nicht nur die Literatur, sondern gerade auch ihr wissenschaftliches Gegenstück an einem kulturellen »Archiv des Sagbaren«11, aus dem sich beide Diskurse sowohl speisen als auch selbst zu dessen spezifischer Form beitragen. Denn ein solches Archiv, auf das Foucault auch den Begriff der ›Episteme‹ umwidmet, enthält zum einen alle kulturellen Aussagen, die zu einer bestimmten Zeit entweder in sprachlicher Form oder als soziale Praxis bereits getätigt worden sind. Zum anderen stellt es aber auch den diskursiven Rahmen bereit, innerhalb dessen zukünftige Aussagen ermöglicht oder unterbunden werden. Es legt fest, was zu eben demselben Zeitpunkt überhaupt vorgestellt, gedacht, formuliert, gewusst werden kann. Auf Grund dieser Doppelfunktion kann die Foucaultsche Episteme kein statisches Gefüge sein, sie ist nur historisch und relativ zu denken, nicht aber als übergeschichtliche, absolute Größe. Produziert eine Gruppe von Aussagen beispielsweise neue diskursive Strukturen und entstehen so andersartige kulturelle Formationen, verändert sich auch das diese Aussagen speichernde Archiv in entsprechender Weise: Es kommt zu einem epistemologischen Bruch, zu einer neuen ›Ordnung der Dinge‹12, die sich wiederum auf alle am Archiv partizipierenden Diskurse überträgt. Indem sie sich so im selben Raum des Sagbaren begegnen, indem ihre Aussagen denselben Regeln und Beschränkungen, denselben historisch variablen Parametern unterliegen, werden die Bereiche von Literatur und Wissen in ganz neuer Weise füreinander geöffnet. Sie treten in ein Verhältnis zueinander, in dem neben einer epistemischen Grundierung literarischer Texte auch das umgekehrte Modell eines Einflusses literarischer Formen und Strategien auf Wissenschaft und Wissen konzipierbar wird. Foucaults Diskursarchiv bildet hierbei zusammen mit den oben erwähnten poststrukturalistischen Öffnungsbewegungen die theoretische Kulisse einer Entwicklung, die sich von den Vorläufern der Historischen Epistemologie13 in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts bis zu den ak-
11 Pethes 2003, 203. 12 So der deutsche Titel von Foucaults Les mots et les choses (1966). 13 Zu denken ist hierbei z. B. an Ludwik Flecks Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache (1935), Thomas S. Kuhns The Structure of Scientific Revolutions (1962) sowie an die Arbeiten von Gaston Bachelard, Georges Canguilhem, Bruno Latour und HansJörg Rheinberger.
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Einleitung
tuelleren Arbeiten an einer Poetologie des Wissens14 erstreckt. Erkenntnisleitend ist dabei stets die Einsicht in die prinzipielle Bedingtheit epistemischer Produktions- und Darstellungsprozesse. Wissen lässt sich, wenn es einmal als genuin historisches, d. h. Veränderungen unterworfenes Phänomen begriffen wird, nicht mehr zu den »beruhigend geschichtsfernen Wahrheiten«15 rechnen. Neben seiner Historizität können dann auch andere, diese Veränderungen bedingende Faktoren in den Vordergrund treten. Ob und wie bestimmte Wissensinhalte etwa erzeugt und weitergegeben werden, ist das Ergebnis nachvollziehbarer kommunikativer Abläufe: Wissen entsteht nicht in einem sozialen Vakuum, sondern innerhalb dessen, was Ludwik Fleck als ›Denkkollektiv‹ bezeichnet hat, als Produkt zwischenmenschlicher Kommunikation also (Sozialität von Wissen). Zweifelhaft darf dann aber auch sein, ob aus diesen subjektiven Strukturen überhaupt Wissen im Sinne objektiver Tatsachen hervorgehen kann. Betroffen ist damit die Konzeption des Wissensbegriffs an sich. Wissen lässt sich nicht mehr als das Entbergen einer schon immer existenten Wahrheit verstehen, sondern als ein Prozess des Herstellens von Gewissheit, als wörtlich zu nehmende Verifikation: Wissen wird nicht entdeckt oder enthüllt, es wird gemacht (Konstruktivität von Wissen). Das wiederum geschieht meist auf sprachlichem Weg, entweder mündlich in Form von Kolloquien, Besprechungen und Konferenzbeiträgen oder schriftlich als Labortagebuch, Arbeitsnotiz und Skizze. Dasselbe gilt für die Darstellung und Vermittlung von Wissen in Vorlesungen, Lehrbüchern und Fachpublikationen: Wissen entsteht in der Regel als Text und ist auch als solcher niedergelegt (Diskursivität von Wissen). Der wissenschaftlichen Rede stehen damit prinzipiell dieselben Formelemente und Darstellungsmittel zur Verfügung wie dem literarischen Text auch; sie kann als Narration ausgestaltet sein, sie kann sich literarischer Schreibweisen wie der Fallgeschichte bedienen, sie kann mit Allegorien, Metaphern, sprachlichen Bildern arbeiten, um ihre Begriffe und Theorien zu bilden (Poetizität von Wissen). Genau hier setzen Arbeiten wie die von Jacques Rancière und Joseph Vogl an, die sich weniger für die sachlichen Referenten des Wissens interessieren als für die Schreibweisen, die Diskursarten und Genres, mit denen Aussagen als epistemische Objekte formiert werden. Rancière etwa definiert sein Projekt einer solchen Poetik des Wissens als die »Untersuchung aller literarischen Verfahren, durch die eine Rede sich der Literatur entzieht, sich den Status einer Wissenschaft gibt und ihn bezeichnet«16. Im Vordergrund stehen dabei die »Regeln, nach denen ein Wissen geschrieben und gelesen wird, sich als eine spezifische Rede 14 Etwa: Rancière 1994, Vogl 1997 und 1999. 15 Sarasin 2009, 9. Zum Projekt einer Wissensgeschichte vgl. die von Philipp Sarasin (2011 und 2011a), Achim Geisenhanslücke (2011) und Holger Dainat (2011) in Heft 36 (1) des Internationalen Archivs für Sozialgeschichte der deutschen Literatur geführte Kontroverse. 16 Rancière 1994, 17.
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konstituiert«17. Auch Vogl verfolgt die Geschichte des Wissens als »Poetologie seiner Formen«18, d. h. als für jede Wissensform je spezifische Art der Inszenierung und Darstellbarkeit, wobei die These gilt, »daß jede Wissensordnung bestimmte Repräsentationsweisen ausbildet und privilegiert«19. Auf diese Weise tritt das (wissenschaftliche) Gesagte hinter dem (textuellen, literarischen) Sagen dergestalt zurück, dass letzteres nicht einfach als Darstellungsmittel, sondern vielmehr als konstitutives Element des Wissens in Erscheinung tritt. Die Poetizität von Wissen bedeutet dann nicht mehr nur eine ornamentale, quasi ästhetische Qualität der wissenschaftlichen Rede, sondern die elementare Beteiligung literarischer Verfahren und Strategien an der Herstellung epistemischer Inhalte. Ob ein wissenschaftlicher Text in der Konsequenz lediglich wie ein literarischer Text gelesen wird oder ob er unter Einebnung aller Differenzen unmittelbar als solcher betrachtet wird, ist eine Frage der wissenspoetologischen Radikalität, mit der man das Verhältnis der beiden Diskurse zueinander auslegt. Die Studien, die auf dieser konzeptuellen Basis gezielt das Literarische im Epistemischen aufsuchen, den Spuren der Literatur im Wissen nachgehen, wissenschaftliche Texte literarisch in den Blick nehmen, sind zahlreich und vielfältig. Sie reichen von Hayden Whites früher Pionierarbeit zu literarischen Erzählmodellen in der Historiographie des 19. Jahrhunderts über Gillian Beers Untersuchung des ›evolutionary narrative‹ bei Charles Darwin bis zu Marianne Hänselers Auseinandersetzung mit der epistemisch-konstitutiven Metapher in der Bakteriologie Robert Kochs.20 Komplementär zu einer so verstandenen Literarizität des Wissens verhält sich das Modell einer Epistemizität der Literatur, das sich jetzt freilich nicht mehr in bloß einwegigen Konzepten erschöpft. Einem solchen epistemischen Verständnis von Literatur geht es eben nicht um die Aufbereitung von Literatur als Wissensobjekt (Wissen von der Literatur) und nicht um die Migration von Wissensbeständen in literarische Texte (Wissen in der Literatur). Es geht dabei 17 18 19 20
Ebd. Vogl 1997, 118. Vogl 1999, 13. White 81993, Beer 22000, Hänseler 2009. Dazu in Auswahl: Bulhof 1992 (zur Literarizität der Wissenschaftssprache, ebenfalls am Beispiel Darwins), Clark 1995 (zur Poetizität der Wissenschaftsgeschichte), Epstein 1995 (zu narrativen Prozessen in der Medizin), Danneberg / Niederhauser 1998 (zu literarischen Darstellungsformen in der Wissenschaft allgemein), Höcker / Moser / Weber 2006 (zur Relevanz von Narration und Figuration in der Artikulation bzw. Produktion von szientifischem Wissen), Lehmann / Borgards / Bergengruen 2012 (zu einer narratologisch informierten Sicht auf das epistemische Konzept der biologischen Vorgeschichte des Menschen). Von der Aktualität des regen Dialogs gerade zwischen Wissenschafts- und Erzählforschung zeugt auch die im November 2011 in Berlin durchgeführte Tagung zum Thema Wissenschaft als Erzählung – Erzählungen der Wissenschaft.
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auch nicht um die Verwendung literarischer Verfahren zur Herstellung und Vermittlung epistemischer Inhalte, sondern gerade darum, die wissenspoetologische Formel vom ›Wissen als Literatur‹ mit umgekehrten Vorzeichen zu versehen und Einsicht in die prinzipielle epistemische Valenz literarischer Texte zu gewinnen. Erst hier erhält die Rede vom ›Wissen der Literatur‹ (Hörisch), von dem, was ein literarischer Text wissen kann und darf, eine neue Dimension. Literatur erscheint als spezifische Schreibweise von Wissen, die eigene epistemische Aussagen hervorbringt und mit diesen zu szientifisch hergestelltem Wissen in Konkurrenz treten kann.21 Dabei muss man Wissenschaft und Literatur nicht zwangsläufig als entgegengesetzte, einander gar ausschließende epistemische Projekte betrachten. Vielmehr erscheint es sinnvoll, sie als koevolutive Prozesse zu verstehen: Insofern sie die gleichen diskursiven Gesetzmäßigkeiten, die gleichen Wissensstrukturen etablieren, insofern sich in ihnen eine gemeinsame Ordnung artikuliert, sie am gleichen diskursiven Geschehen teilnehmen und die gleichen epistemischen Probleme bearbeiten, sind Wissenschaft und Literatur lediglich zwei Seiten derselben Medaille. Für den konkreten Text, sei er literarisch oder wissenschaftlich, bedeutet das eine immense Erweiterung seiner potenziellen Kon-Texte. Er bezieht seine Materialien, seine Muster und Reibungsflächen nicht mehr nur aus dem ihm am nächsten stehenden Umfeld diskursverwandter Texte, sondern gerade auch aus scheinbar fremden Diskursfeldern, zu denen er stetige Wechselbeziehungen unterhält. Wissenschaftlicher und literarischer Text leuchten sich so gegenseitig aus, sie kommentieren einander, tauschen 21 Dazu liefert der Sammelband von Klinkert / Neuhofer 2008 einige Anregungen: Christian Kohlroß plädiert in seinem Beitrag etwa dafür, das Wissen der Literatur als prozessuales statt propositionales Wissen anzuerkennen, als Ergebnis einer spezifischen ›Literarischen Epistemologie‹, die Kohlroß anschließend in seiner Monografie Die poetische Erkundung der wirklichen Welt (2010) ausführlich entwickelt. Dagegen versucht im selben Sammelband Gérard Dessons, das literarische (spezifisch: das lyrische) Wissen als ›désavoir‹, als »mode critique de la connaissance« (54) zu begreifen, während Niels Werber wiederum die Anschlussfähigkeit ausschließlich literarisch generierter Wissensmodelle im außerliterarischen Kontext untersucht und dabei zu dem Schluss kommt, dass Literatur in der Lage sei, Epistememe, Wissenspartikel zu produzieren und sie nicht-literarischen Diskursen zur Verfügung zu stellen. Hörisch 2007 beschreibt seinerseits die Literatur als »Alternativ-Wissen« (10): Ihre Sätze seien dabei nicht wahrheitsfähig im Sinne einer sachlichen Richtigkeit, sondern schlicht »negationsimmun« (18), insofern sie auf Referenzferne basierten und – mit Luhmann gesprochen – anderen Leitdifferenzen unterlägen als szientifisches Wissen. Vgl. hierzu auch Klinkert 2010 und Albrecht 2010 sowie für eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem Erkenntniswert der Literatur Demmerling / Vendrell Ferran 2014. Einen anderen Akzent setzt der Band von Bühler / Eder 2015, der ein außerhalb der epistemischen Praxis stehendes ›unnützes Wissen‹ als konstitutiv für die spezifische Poetologie und Ästhetik literarischer Texte zu Grunde legt. Für eine kritische Diskussion der epistemischen Valenz von Literatur mit einer Aufbereitung der diesbezüglichen, von Tillmann Köppe angestoßenen Debatte vgl. Kapraun 2015, 30ff.
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Schreibweisen und narrative Strategien. An ihren Rändern und Kontaktstellen entstehen dabei neue Partikel epistemischer wie literarischer Natur, die dann von beiden Diskursen in unter Umständen ganz verschiedener Weise aufgenommen und verarbeitet werden können. Auch für diesen Forschungsbereich liegen bereits zahlreiche Arbeiten vor, die meist an Hand konkreter Einzelfallstudien literarische Texte in ihrer Funktion als genuin epistemisches Arrangement erproben. Dazu gehört eine ganze Reihe von Sammelbänden und Monografien, die ohne Rücksicht auf bestimmte Wissensbereiche das Verhältnis von Literatur und Wissenschaften in je unterschiedlichen Zeiträumen in den Blick nehmen: Karl Richter, Jörg Schönert und Michael Titzmann widmen sich etwa der recht ausgedehnten Spanne von 1770 bis 1930, während Lutz Danneberg und Friedrich Vollhardt sich auf die Jahre 1830 bis etwa 1900 konzentrieren. Christine Maillard verengt zusammen mit Titzmann das in Frage kommende Zeitfenster noch einmal auf die frühmoderne Phase von 1890 bis 1935, wohingegen Gabriele Brandstetter und Gerhard Neumann bei ihrer Etablierung einer spezifisch romantischen Wissenspoetik auf die Zeit um 1800 zurückgehen. Der bereits erwähnte Sammelband von Thomas Klinkert und Monika Neuhofer schließlich untersucht laut Titel in einem wieder umfänglicheren Rahmen Literatur, Wissenschaft und Wissen seit der Epochenschwelle um 1800, während Klinkert den Fokus seiner anschließenden monografischen Untersuchung noch einmal in bis in das 18. Jahrhundert hinein zurückverlängert. Einem ähnlichen Zeitfenster, aber umgekehrten epistemologischen Vorzeichen ist wiederum der von Michael Bies und Michael Gamper herausgegebene Band Literatur und Nicht-Wissen. Historische Konstellationen 1730–1930 verpflichtet.22 Neben solchen vorrangig nach zeitlichen Kriterien organisierten Projekten sind aber auch Arbeiten entstanden, die sich zum einen mit bestimmten epistemischen Feldern, Konzepten und Methoden auseinandersetzen und die zum anderen dabei eine explizit doppelte Blickrichtung einnehmen, die also tatsächlich im Sinne eines koevolutiven Ansatzes nach der Literarizität des Wissens und der Epistemizität der Literatur zugleich fragen. Beispielhaft zu nennen wären hier in loser chronologischer Reihenfolge: George Levines frühe Untersuchung der Auseinandersetzung viktorianischer Schriftsteller mit Darwinschen Konzepten, wobei Levine eben keine Einflussstudien betreibt, sondern sich für den »two-way-traffic«23 zwischen literarischen und szientifischen Ideen und Formen, für das »interplay of Darwinian und literary form«24 interessiert; Stefan 22 Richter / Schönert / Titzmann 1997, Danneberg / Vollhardt 2002, Mailard / Titzmann 2002, Brandtstetter / Neumann 2004, Klinkert / Neuhofer 2008, Klinkert 2010a, Bies / Gamper 2012. Eine allein nach persönlichen Lektürevorlieben angelegte Sammlung von Einzelfallstudien bietet Hörisch 2017. 23 Levine 1988, 5. Vgl. mit einer ähnlichen Ausrichtung schon Shuttleworth 1984. 24 Ebd, 20.
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Andriopoulos’ Studie25, die sich am Beispiel der Konzepte von Unfall und Verbrechen den interdiskursiven Austauschbeziehungen zwischen Literatur und Recht um 1900 widmet; Christiane Zintzens Versuch der »Rekonstruktion einer Liter/ar/chäologie des 19. Jahrhunderts«26; die Arbeiten von Sigrid Weigel27, die sich dem Konzept der Generation bzw. Geneaologie und seinem Verhältnis zur wissenschaftlichen Disziplin der Genetik widmen; die von Marc Föcking unter dem Titel Pathologia litteralis vorgelegte Studie über klinisches Erzählen in Biologie und Medizin sowie im französischen Roman des 19. Jahrhunderts28; Andreas Kilchers Habilitationsschrift, die enzyklopädische Schreibweisen der Literatur (den »Einbruch des Wissens in die Literatur«) sowie literarische Formen enzyklopädischen Schreibens (die »Artistik der Enzyklopädie«29) untersucht und so den Verbund von enzyklopädischer mathesis und literarischer poiesis in den Blick nimmt; Marcus Krauses und Nicolas Pethes’ Beschäftigung mit Poetologien des Experiments im 19. Jahrhundert, mit dem wissenschaftlichen Rahmen literarischer Versuchsanordnungen auf der einen und den poetologischen Prinzipien des wissenschaftlichen Experiments auf der anderen Seite; Peter-André Alts und Thomas Anz’ Sammelband, der eine »Auseinandersetzung mit den literarischen Merkmalen psychoanalytischer Wissensvermittlung und den epistemischen Leistungen fiktionaler Darstellungsordnungen«30 unternimmt; Daniela Gretz’ Versuch der wissenspoetologischen Ausleuchtung des Verhältnisses zwischen realistischem Erzählen und dem (pseudo-)enzyklopädistischen Projekt der Familienzeitschriften des 19. Jahrhunderts31; der von Jan Broch und Jörn Lang herausgegebene Sammelband Literatur der Archäologie, der die Präsenz des Faches in literarischen Texten auf der einen und literarische Verfahren in der Archäologie auf der anderen Seite untersucht; das von Nicola Gess und Sandra Janssen unternommene Projekt einer historischen Epistemologie der Literatur32, das Literatur als eigenständige Wissensordnung begreift; 25 26 27 28
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Andriopoulos 1996. Zintzen 1998, 23. Weigel 2002, 2005 und 2006. Im Anschluss daran: Parnes / Vedder / Willer 2008. Föcking 2002; zum Transferverhältnis zwischen Literatur und Medizin allgemein und in einem größeren zeitlichen Rahmen: Pethes / Richter 2008, King 2010, Wübben / Zelle 2013, Bölts 2016. Diese Arbeiten lösen eine Forderung ein, die Erhart 1997 an Hand eines Forschungsüberblicks speziell für das Verhältnis von Literaturwissenschaft und Medizingeschichte formuliert hat: die Entwicklung hin zu einem »Forschungsfeld, das die narrativen Modelle von Medizingeschichte und Literatur vergleichen analysiert«, das sich konzentriert auf die »Herkunft und den Transfer der Erzählmodelle selbst« (beide: 266). Beide: Kilcher 2003, 16. Alt / Anz 2008, 2 (»Einführung«). Gretz 2011 und 2016. Für das im Sinne einer Reziprozität von Literatur und Wissen verstandene Verhältnis von realistischem Erzählen und zeitgenössischer Naturwissenschaft vgl. Mayer 2014. Gess / Janßen 2014.
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der Sammelband von Thomas Rütten und Martina King33, der sich dem Konzept der Ansteckung diskursübergreifend nähert, indem er es als (wissenschaftliches) Modell wie (literarische) Trope zugleich in den Blick nimmt; der von Benjamin Brückner, Judith Preiß und Peter Schnyder in der Reihe Das unsichere Wissen der Literatur herausgegebene Band Lebenswissen, der sich mit zeitgleich in Ästhetik, Literatur und Wissenschaft valenten Poetologien des Lebendigen im langen 19. Jahrhundert auseinandersetzt. Es ist bemerkenswert, dass sich bei aller Vielseitigkeit der Untersuchungsgegenstände, die mit der obigen Auswahl angedeutet sein mag, dennoch eine auffällige Lücke ergibt. Zwar erstreckt sich die Bandbreite des Forschungsinteresses von bestimmten Zeiträumen über einzelne wissenschaftliche Disziplinen (Archäologie, (Evolutions-)Biologie, Psychoanalyse etc.) bis hin zu Konzepten wie dem Experiment, der Generation oder der Ansteckung. Erst seit kurzem aber werden hierbei statt einzelner literarischer Texte auch zusammengehörige Textkollektive, sprich: Gattungen einbezogen und als spezifische textuelle Schreibweisen zu einem entsprechenden wissenschaftlichen Phänomen in Beziehung gesetzt.34 Eine für die Zwecke dieser Arbeit wichtige Ausnahme bildet Achim Saupes 2009 erschienene Studie Der Historiker als Detektiv – der Detektiv als Historiker, die hier in zweierlei Hinsicht von Bedeutung ist. Zum einen stellt Saupe darin einen festen Nexus zwischen einem epistemischen Bereich, der Geschichtswissenschaft, und einem literarischen Gattungsgefüge, der Kriminalliteratur und hier besonders der Detektiverzählung, her. Damit hat Saupe aber zum anderen eine Gattung gewählt, die sich, obwohl sie in der zugehörigen 33 King / Rütten 2014. 34 Die von Klaus W. Hempfer in seiner Gattungstheorie (1973) vorgeschlagene und allgemein etablierte Differenzierung zwischen ›Schreibweisen‹ (»ahistorische Konstanten wie das Narrative, das Dramatische, das Satirische«) und ›Gattungen‹ (»historisch konkrete Realisationen dieser allgemeinen Schreibweisen«, beide: 27) ist hier nicht entscheidend für die Begriffswahl, da die zur Debatte stehende Gattung nicht allein in ihrer konkreten literarischen Realisation von Interesse ist, sondern vor allem als textsortenübergreifendes Verfahren in den Blick kommt, das sich auch in Texten nachweisen lässt, die außerhalb des literarischen Gattungsspektrums liegen. Es ist daher ein Gattungsbegriff maßgebend, der sich in seiner Orientierung an Aspekten der Erzählweise bzw. des Narrativs eher mit dem übergreifenden Konzept der Schreibweise, der »poetogenen Strukturen« (Zymner 2003, 172) verknüpfen lässt, ohne dass aber eine Deckungsgleichheit mit Hempfers Begriffen vorliegt. Für einen ähnlich offenen Begriff der Schreibweise speziell in Bezug auf den Gattungsbereich der Kriminalliteratur spricht sich auch Genç 2018, 36ff. aus. Explizit auf die epistemische Valenz von Gattungen zielen etwa: Bies / Gamper / Kleeberg 2013, Berg 2014, Bölts 2016 sowie (im Rahmen eines formepistemologischen Ansatzes) auch der vom Graduiertenkolleg Literarische Form 2017 herausgegebene Band Formen des Wissens. Mit der poetologischen wie epistemischen Valenz der Mythographie als traditionsreicher Textform befasst sich der 2013 erschienene Band Mythos als Wissensform. Epistemik und Poetik des >Trojanerkriegs< Konrads von Würzburg von Bent Gebert.
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Forschung bislang kaum eine nennenswerte Rolle spielt, einer Berücksichtigung im Rahmen des Verhältnisses von Literatur und Wissen eigentlich geradezu aufdrängt. Das betrifft zunächst einmal die zeitlichen Koordinaten, die die meisten der oben genannten Sammelbände für ihre Untersuchung bevorzugen. Wenn Klinkert und Neuhofer etwa einen »seit etwa 1800 immer wieder nachweisbare[n] Nexus von Literatur, Wissenschaft und Wissen«35 zum Ausgangspunkt ihrer Überlegungen machen, wenn Maillard und Titzmann darüber hinaus die Zeit um 1900 hervorheben als »die Phase, in der die Literatur in größerem Umfang, mit größerer Intensität als je zuvor (und bislang: auch danach) Relationen zu unterschiedlichsten Diskursen und Wissensmengen, und darunter auch nicht zuletzt denen der zeitgenössischen Wissenschaften, unterhalten hat«36 – wenn also das gesamte 19. Jahrhundert und vor allem die Zeit um 1900 als für die Austauschbeziehungen zwischen literarischem und wissenschaftlichem Diskurs besonders fruchtbar gekennzeichnet sind, dann muss auch eine Gattung ins Zentrum des Interesses rücken, die als ausgesprochenes »Kind des 19. Jahrhunderts«37 gilt und ihr sogenanntes Golden Age zwischen 1890 und 1940 erlebt, deren Genese und Erfolgsgeschichte also beinahe synchron zu diesen intensivierten literarisch-epistemischen Aushandlungsprozessen verlaufen. Berührungspunkte zwischen Detektiverzählung und Wissenschaftskultur des 19. Jahrhunderts zeigen sich denn auch schnell und ganz augenfällig an deren jeweiligen Protagonisten. Sowohl der literarische Detektiv als auch der reale Fachwissenschaftler, beide in so professionalisierter Form erst Erscheinungen des 19. Jahrhunderts, figurieren den Typus des unermüdlichen Aus- und Erforschers, geben der unbedingten Suche nach Wissen und Wahrheit ein Gesicht. Wie letztere noch zu Lebzeiten als wissenschaftliche Heroen und Medienstars inszeniert und massenwirksam auf Sammelbildchen verewigt werden38, avanciert auch die Figur des ›Great Detective‹ à la Sherlock Holmes schnell zum beliebten Kollektivsymbol des unaufhaltsamen Fortschritts durch Verstandeskraft und mentale Persistenz. Dabei ist ein durchaus bemerkenswertes Gemenge aus Wissenschaftsgläubigkeit und Individualkult am Werk. Zwar knüpft sich im Bereich der Wissenschaft die öffentliche Wertschätzung an einzelne Personen, doch nur insoweit diese als Verkörperung ihrer Wissensbereiche verstanden werden: Charles Darwin verschwindet als Person hinter der Formel des ›struggle for existence‹, der Name Robert Koch ist von dem des Tuberkelbazillus nicht mehr zu trennen, Heinrich Schliemann interessiert als schillernder Self-Made35 36 37 38
Klinkert / Neuhofer 2008, 12 (»Vorwort«). Maillard / Titzmann 2002, 8 (»Vorstellung eines Forschungsprojekts«). Hügel 1978, 202. Samida 2011a, Schwarz 2011.
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Akademiker, mehr noch aber als Entdecker von Troja und Begründer der Archäologie mit dem Spaten. Das Subjekt (der Wissenschaftler), wiewohl vordergründig noch Gegenstand der Verehrung, tritt hinter das Objekt (die Wissenschaft, die Entdeckung) zurück.39 In ganz ähnlicher Weise bleibt auch der literarische Detektiv überraschend häufig eine eher blasse Figur, mit nicht viel mehr als ein paar typischen und überzeichneten Charakterzügen versehen, beinahe entwicklungsresistent auch durch viele Textauftritte hindurch. Ihren Lesereiz entwickelt die einzelne Erzählung, obwohl sie ausschließlich auf ihren detektivischen Protagonisten fokussiert ist, nicht aus dessen schablonenhafter Personalität, sondern allein aus seiner Profession, seiner stets neu gezeigten Tätigkeit als Detektiv. Derartige Beobachtungen zu zeitlichen und personellen Konvergenzen zwischen Wissen(schaft) und Detektiverzählung im 19. Jahrhundert berühren das Verhältnis beider Bereiche freilich nur an der Oberfläche. Sie plausibilisieren eine Verbindung von literarischer Gattung und Episteme, ohne sie indes auszubuchstabieren. Legt man hingegen das komplexe koevolutive Modell von Literatur und Wissen zu Grunde, das in den letzten Jahren ausgearbeitet worden ist, dann können solche vereinzelten Diskursbegegnungen zum Ausgangspunkt systematischer Fragestellungen werden. Zu prüfen wäre dann beispielsweise, inwiefern sich die für die Detektiverzählung spezifische Erzählweise an wissenschaftlichen Modellen schult und welche Spuren diese im konkreten Text hinterlassen. Zugleich wäre umgekehrt zu untersuchen, inwiefern wiederum detektivische Narrative Muster wissenschaftlichen Handelns und Schreibens abgeben. Einen Beitrag hierzu leistet ja etwa Saupe, der die Pose des Historikers als Detektiv offenlegt, indem er unter Zuhilfenahme der Historik Johann Gustav Droysens die Erzählmuster der historiografischen Wissenschaftsprosa des 19. Jahrhunderts vor dem Hintergrund kriminalliterarischer Narrative interpretiert, die sich zur selben Zeit formieren. Wenn aber die Detektiverzählung mit bestimmten Wissensbereichen wie etwa der Geschichtswissenschaft dieselben narrativen Strukturen und Strategien teilt und zwischen ihnen gegenseitige Austauschbewegungen stattfinden, berührt das auch die grundsätzliche Frage danach, ob eine literarische Textgattung wie die Detektiverzählung auch als wissenschaftliche Schreibweise verstehbar ist, die in beiden Diskursen als Narrativ eine je eigene epistemische Wirkung entfaltet, ob 39 Levine (2002) macht diese Beobachtung zum Ausgangspunkt seiner moralischen Ausdeutung des wissenschaftlichen Kriteriums der Objektivität. An Hand literarischer und wissenschaftlicher Texte zeigt er, dass der Wissenschaftler des 19. Jahrhunderts seine Arbeit auch als moralische Anforderung begreift, insofern er seinen Heroenstatus durch Selbstverleugnung und -beherrschung, mithin durch Objektivität im moralischen Sinn, durch ein Zurücktreten des Subjekts hinter das Objekt erreicht. Damit lebe er das eigentlich paradoxe Konzept einer (populär-)wissenschaftlichen Ich-Werdung durch persönliche Ich-Verleugnung.
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sich also in der Detektiverzählung ein Erzählmodell erkennen lässt, das literarischer wie wissenschaftlicher Diskurs gleichermaßen bearbeiten.40 Für den Umgang mit dem konkreten Text würde das wiederum bedeuten, dass sich eine Detektiverzählung ebenso epistemisch deuten ließe wie ein entsprechender wissenschaftlicher Text als Detektiverzählung gelesen werden könnte.
II.
Aufbau der Arbeit
Um diesen und ähnlichen Fragen nachzugehen, möchte die vorliegende Arbeit das komplexe Verhältnis von Literatur und Wissen also exemplarisch an Hand einer Schreibweise nachzeichnen, die sich ab der zweiten Hälfte des langen 19. Jahrhunderts sowohl im literarischen als auch im wissenschaftlichen Diskurs identifizieren lässt. Zum einen ist sie das Charakteristikum der sich in diesem Zeitfenster als Gattung formierenden Detektivliteratur, zum anderen erscheint sie als Signatur ausgewählter Wissensbereiche, die sich im selben Zeitraum als wissenschaftliche Disziplinen konstituieren. Diese Schreibweise zu umreißen und sie in beiden Diskursen gezielt aufzusuchen soll Aufgabe der ersten beiden Abschnitte der Arbeit sein. Dazu steht im ersten Teil unter dem Titel Literatur zunächst die Detektiverzählung im Vordergrund. Im Rahmen eines Forschungsüberblicks sollen Begrifflichkeit, Definition und Genese der Gattung diskutiert werden, um so ihre spezifische Art des Erzählens, ihr distinktes Narrativ freizulegen. Zentral wird es hierbei auch sein, die der Gattung immer wieder nachgesagte, in der Lektürepraxis aber selten ernst genommene Affinität zu epistemischen Fragestellungen zu betonen. Der zweite Teil der Arbeit (Wissen) nimmt dann unter den Vorzeichen derselben Schreibweise die Episteme des 19. Jahrhunderts in den Blick. Auf der Basis 40 Insofern sie die Wissenshaltigkeit von Literatur im Allgemeinen und die der detektivischen Schreibweise im Besonderen in den Vordergrund rückt und das Konzept der Gattung über einen streng literarischen Kontext hinausprojiziert, berührt die Arbeit ein Gattungsmodell, das über eine Orientierung an rein textuellen Parametern hinaus – im Sinne des umfassenden Verbundmodells, das Marion Gymnich und Birgit Neumann (2007) angeregt haben – auch individuell-kognitive, kulturell-historische und funktionale Dimensionen des Gattungsbegriffs einschließt. Die Gattung überschreitet dabei ihre Funktion als bloße literaturwissenschaftliche Ordnungs- und Verständigungskategorie und wird konzeptualisierbar als kognitives Schema, als Deutungsmuster und Verstehensstruktur, das als Antwort auf je aktuelle Sinnbedürfnisse und historisch spezifische Problemlagen entworfen wird. Weil sie damit aber schon immer ein erweitertes und dezidiert außerliterarisches Referenzfeld, »Welt- und Erfahrungshaltigkeit« (Hallet 2007, 57) besitzt, verliert in einem solchen Gattungsmodell die Trennung von literarischen und nicht-literarischen Texten an Schärfe, so dass eine Gattung gleichermaßen im epistemischen wie im literarischen Bereich als modellhaftes Narrativ aktualisiert und bearbeitet werden kann.
Aufbau der Arbeit
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der von Foucault geprägten Charakterisierung des Jahrhunderts als ›Zeitalter der Geschichte‹ werden dabei zunächst die in der Forschung wohluntersuchten ›Verzeitlichungstendenzen‹ (Lepenies) dargestellt, die das Wissen im 19. Jahrhundert erfassen. Ausgehend davon soll am Beispiel der Geschichtswissenschaft, die seit ihrem ›narrative turn‹ in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts eine diesbezüglich sehr komplexe Debatte entwickelt hat, die Doppelbedeutung von Geschichte als Historie und Narration fruchtbar gemacht werden, um diese Verzeitlichungstendenzen auch als Narrativierungstendenzen sichtbar zu machen. Spezifiziert wird das an den wissenschaftlichen Disziplinen der Archäologie, der Evolutionsbiologie, der Bakteriologie und der Psychoanalyse, die, das wird zu zeigen sein, nicht nur narrative, sondern genauer: narrativ-rekonstruierende Tendenzen aufweisen und sich damit derselben Schreibweise bedienen wie die Detektiverzählung auch. Ergebnis nach den ersten beiden Teilen der Arbeit soll sein, dass sowohl literarischer als auch wissenschaftlicher Diskurs mit ähnlichen erzählerischen Mitteln im Grunde dasselbe Narrativ bearbeiten: den Versuch nämlich, eine verlorene Vergangenheit bzw. Geschichte rekonstruierend einzuholen. Diese Zwischenbilanz wiederum liefert die Grundlage für die kombinierte Lektüre literarischer und szientifischer Texte im ebenso überschriebenen dritten Teil der Arbeit. Die Textauswahl balanciert dabei zwischen bekannten Vertretern der Detektivliteratur, für die sich vor dem Hintergrund dieser Herangehensweise neue hermeneutische Perspektiven ergeben, und bislang nicht zur Gattung gerechneten Texten, die erst jetzt als demselben Narrativ, derselben Schreibweise verpflichtet in den Blick kommen. Das betrifft neben Vertretern der umfangreichen englischen (und amerikanischen) Gattungstradition vor allem auch das kontrovers diskutierte Textkorpus der deutschsprachigen Detektiverzählung.41 41 Gern wird, wie etwa von Todd Herzog (2009 und – mit Lynn M. Kutch – 2014), argumentiert, es gäbe keine deutsche Detektiverzählung im eigentlichen Sinn, da deutschsprachige Autoren (Döblin, Serner, Dürrenmatt) die regelgerechte Produktion der Gattung ›übersprängen‹ und gleich zu einer Kritik ihrer epistemologischen Voraussetzungen gelangten. Dagegen stehen Hans-Otto Hügels (1978) Versuch, die deutsche Detektiverzählung motivisch schon im 19. Jahrhundert nachzuweisen, und Volker Neuhaus’ (1977 und 2005) Überlegungen zu einer Vorgeschichte des detektorischen Erzählens auch bei deutschen Autoren mit einem begonnenen Kanon. Für eine konzise Übersicht über die von Hügel ausgemachte deutschsprachige Texttradition vgl. aktuell Tannert 2016. Davon abgesetzt existieren im Umfeld der Forschungen zum Poetischen Realismus Versuche, eine genuin deutsche Tradition der Kriminalerzählung zu konstruieren, die sich aber von der kritischen anthropologischen Fallgeschichte (Pitaval, Schiller, Meißner, Feuerbach) herleite und daher ihren Erzählfokus weniger auf die Verbrechensaufklärung als auf den Verbrecher selbst lege. Eine deutsche Detektiverzählung wird dabei meist nicht in Betracht gezogen. Vgl. hierzu etwa Stockhorst 2002, die in Anlehnung an Eisele 1979 »bestenfalls Stopfkuchen als Detektivgeschichte« (62) klassifizieren möchte. Jüngst hat sich etwa Julia Karolle-Berg (2015, 2018 und 2018a) – auf Basis statistischer Daten, aber auch unter Zugrundelegung einer eher diffusen Gattungsdefinition – für
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Die ausgewählten wissenschaftlichen Texte wiederum lassen sich jeweils als Gründungs- oder anderweitig herausgehobene Dokumente ihrer Disziplinen ansprechen und eignen sich daher in besonderer Weise für deren textuelle Repräsentation. Die so entstehenden Einzellektüren umspannen ein Zeitfenster, das von Nathaniel Hawthornes 1850 erschienenem Roman The Scarlet Letter bis zu G.K. Chestertons Father-Brown-Erzählung The Curse of the Golden Cross aus dem Jahr 1926 reicht. In der Zusammenschau sollen diese zunächst so unterschiedlich erscheinenden Texte Fallbeispiele einer Poetologie des Wissens wie auch einer Epistemizität der Literatur liefern und damit das zu leisten versuchen, was Pethes bereits 2004 als Desiderat der Forschung zum Verhältnis von Literatur und Wissen benannt hat: »das wissenpoetische – also poetologische wie epistemologische – Paradigma einer Zeit zu lesen«42.
eine Neubewertung der als praktisch inexistent geltenden deutschen Gattungstradition speziell im frühen 20. Jahrhundert ausgesprochen. Eine ausführliche Studie zu den – so der Titel – Mustern detektorischen Erzählens in der deutschsprachigen Literatur hat auch Beck 2017 vorgelegt. 42 Pethes 2004, 368.
I. Literatur
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Literatur: Die Detektiverzählung
Über die Detektiverzählung lässt sich nur schwer unbefangen sprechen. Kaum eine Gattung erfreut sich bis heute so allgemeiner Bekannt- und Beliebtheit beim Lesepublikum und weist dabei gleichzeitig eine vergleichbare Formtreue auf: Wer in einer Buchhandlung das meist umfängliche Regal mit der Aufschrift ›Krimi‹ aufsucht, weiß genau, was er dort erwarten kann und darf. Man muss aber nicht einmal ausgesprochen literaturaffin sein, um einer eventuellen Vorliebe für diese Gattung zu frönen. Längst ist die Detektiverzählung nämlich auch in anderen Medien heimisch und erfolgreich, namentlich in Film und vor allem Fernsehen. Das betrifft natürlich zum einen Literaturverfilmungen und -adaptionen von Sir Arthur Conan Doyle über Agatha Christie bis Henning Mankell, darunter vielleicht zuletzt die zwischen 2010 und 2017 in vier Staffeln gesendete BBC-Reihe Sherlock, die Doyles Originalerzählungen geschickt in das heutige London transponiert. Zum anderen existiert aber auch eine mittlerweile schier unüberschaubare Menge genuin für das Fernsehen hergestellter detektivischer Formate ohne literarische Vorlage. Prominent gehören dazu etwa die seit 1970 im deutschen Fernsehen ausgestrahlte Tatort-Reihe, das ebenfalls auf mehrere Ermittlerteams in unterschiedlichen Städten fokussierte CSI-Universum (seit 2000)43 des amerikanischen Senders CBS oder das vergleichbare Law& Order-Projekt (seit 1990)44 des Senders NBC. Hier steht jeweils die professionelle Polizeiarbeit im Vordergrund, wobei zusätzlich gern die Justiz im engeren Sinn sporadisch oder systematisch einbezogen wird. Daneben beweist aber auch die auf Auguste Dupin und Sherlock Holmes zurückgehende 43 Dazu zählt die Mutterserie CSI: Crime Scene Investigations (2000–2015, zur besseren Unterscheidung später auch als CSI: Vegas) mit ihren Spin-Offs CSI: Miami (2002–2012), CSI: New York (2004–2013) und CSI: Cyber (2015–2016). 44 Die Mutterserie Law and Order (1990–2010) gehört mit einer ununterbrochenen Laufzeit von zwanzig Jahren zu den am längsten gesendeten Primetime-Serien des amerikanischen Fernsehens. Spin-Offs wie Law and Order: Special Victims Unit (seit 1999), Criminal Intent (2001–2011) und Law & Order: Los Angeles (2010–2011) waren teils mehr, teils weniger erfolgreich.
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Figur des ›consultant detective‹, des lediglich mit der Polizei zusammenarbeitenden Laien-Ermittlers, einige Persistenz. In einem Format wie Monk (2002– 2009 auf USA Network) taucht er als verschrobener und mit jedem denkbaren psychischen Defekt belasteter Ex-Polizist auf, in den Serien Psych (2006–2014 auf USA Network) und The Mentalist (2008–2015 auf CBS) löst er seine Fälle als vermeintlich mit spirituellen Fähigkeiten begabtes Medium. Die Detektiverzählung ist so in ihrer modernen Erscheinungsform als ›Krimi‹ oder ›detective drama‹ nicht mehr nur literarische Textgattung, sondern eigentlich ein mediales Crossover-Projekt, das mit dem Genre der sogenannten ›mystery games‹ oder ›detective adventures‹ auch interaktive Computerspiele einschließt.45 Diese Medienwechsel aber, und hierin liegt die eigentliche Besonderheit des Vorgangs, erfolgen praktisch ohne nennenswerte Veränderung oder Anpassung der ursprünglichen Erzählstruktur: Egal ob in Text, Film, Serie oder Spiel – das detektivische Narrativ bleibt problemlos erkennbar, die spezifische Schreibweise der Gattung fast unberührt. Zu dieser medienübergreifenden allgemeinen Präsenz der Detektiverzählung tritt das rege Interesse, das die literaturwissenschaftliche Forschung der Gattung, naturgemäß vor allem in ihrer textuellen Form, seit einiger Zeit entgegenbringt. Als in den späten 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts neben der ohnehin kanonischen Höhenkammliteratur auch die sogenannte Unterhaltungs- und Trivialliteratur akademisch salonfähig wurde, gehörte die Detektiverzählung zu den ersten populärliterarischen Phänomenen, die sich der Wissenschaft als neue Forschungsgegenstände eröffneten.46 Seitdem ist sie kontinuierlich, umfassend und in vielgestaltigen methodischen Kontexten untersucht worden: So gilt die Gattung etwa als beliebter und fruchtbarer Gegenstand strukturalistischer wie linguistischer Analysen, sie wurde im Rahmen semiotischer und mediengeschichtlicher Überlegungen berücksichtigt, vor allem aber unter sozialökonomischen und sozialgeschichtlichen Gesichtspunkten erforscht.47 Seit kurzem erweitern insbesondere postkoloniale, feministische, gendertheoretische und medienkulturwissenschaftliche Zugänge zur Detektivliteratur das für die Gattung zur Verfügung stehende theoretische Analysespektrum.48 45 Für einen multimedialen Zugang zur Gattung vgl. Cothran / Cannon 2016; Düwell u. a. 2018, 351ff. 46 Das gilt vor allem für den deutschen, aber auch den britischen Sprachraum. Namentlich die amerikanische Literaturwissenschaft hat Populärgenres wie die Detektivliteratur als Forschungsgegenstände bereits erheblich früher berücksichtigt. 47 Für strukturalistisch grundierte Ansätze: Sˇklovskij 1929, Todorov 1966, Schulze-Witzenrath 1979. Zu semiotischen und medienwissenschaftlichen Ansätzen: Eco / Sebeok 1985 (prominent darunter der Beitrag von Carlo Ginzburg), Drexler 1990, Kittler 1991, Holzmann 1993 und 2001. Für den sozialgeschichtlichen Ansatz: Egloff 1974; Schönert 1983, 1991 und 2015; Drexler 1991; Böker / Houswitschka 1996; Linder 2013; Friedrich / Ort 2014. 48 Für einen Überblick hierzu vgl. Kniesche 2015, 39ff. und Genç 2018a.
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Umfänglich sind auch die Bemühungen, Funktionsweise, Gestalt und Textkorpus der Gattung zu erfassen und zu beschreiben. Dabei stehen systematische Gesamtdarstellungen und Einzelfallstudien zu Texten, Textgruppen und Autoren neben – in einem bereits zweiten Schritt – Anthologien einflussreicher Sekundärtexte.49 In diesem Bereich liegen zum einen zahlreiche Arbeiten zu Anatomie, Theorie und Geschichte der Detektiverzählung im Allgemeinen, zu rekurrenten Motiven, Figuren und Schauplätzen vor sowie zum anderen Untersuchungen, die sich feineren Binnendifferenzierungen innerhalb der Gattung oder umgekehrt gerade ihrem äußeren Umkreis, den Gattungsrändern, widmen. Das betrifft dann etwa die verschiedenen ›Schulen‹ der Detektiverzählung wie beispielsweise den (vorrangig britischen) Rätselroman und die (vorrangig amerikanische) ›hard-boiled novel‹ oder das Verhältnis der Gattung zu benachbarten literarischen Formen wie Thriller, Schauerliteratur, Abenteuererzählung und Agentenroman. Zuletzt sind hier vor allem die aktuellen Hybridisierungstendenzen der Gattung ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt.50 Begleitet wird diese wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Detektiverzählung von ausgesprochen metareflexiven Tendenzen innerhalb der Gattung selbst, die dem systematischen akademischen Interesse zeitlich weit vorausgehen.51 Kritische Beobachter und Liebhaber der Detektiverzählung wie Siegfried Kracauer und Bertolt Brecht setzten sich bereits sehr früh mit der Gattung auseinander: Kracauer 1925 in seiner als ›philosophischer Traktat‹ untertitelten Abhandlung Der Detektiv-Roman, Brecht 1938 in einem kleinen Aufsatz mit dem Titel Über die Popularität des Kriminalromans.52 Abgesehen von einem solchen zeitlichen Primat der nicht-professionellen Beschäftigung mit der Gattung über ihre im strengen Sinn professionelle, also literaturwissenschaftliche Rezeption ist es aber vor allem die rege Reflexions- und Regulierungsarbeit auf Seiten der die Gattung bearbeitenden Autoren, die in diesem Zusammenhang von Bedeutung ist. Zu denken wäre hier natürlich in prominenter Weise an den berühmten Detection Club, eine seit 1930 bestehende Vereinigung vorrangig britischer Kriminalschriftsteller, zu deren Gründungsmitgliedern unter anderem G.K. Chesterton, Agatha Christie und Dorothy L. Sayers gehörten. Der Club verstand 49 Für systematische Überblicke in Auswahl: Schulz-Buschhaus 1975, Buchloh / Becker 21978, Marsch 21983, Suerbaum 1984, Nusser 42009, Kniesche 2015, Düwell u. a. 2018. Eine Forschungsanthologie bieten v. a. der 1971 publizierte zweibändige Sammelband von Jochen Vogt und dessen einbändige Fortsetzung von 1998, ebenfalls 1971 erschienen ist die Anthologie von Viktor Zˇmegacˇ. Für den anglophonen Sprachraum sei stellvertretend auf die Anthologie von Robin Winks (1980) verwiesen. 50 Vgl. Thielking / Vogt 2014 (mit dem Konzept des ›Beinahe-Krimis‹) und Genç / Hamann 2018. 51 Pyrhönen 1994, 1f. 52 Für eine Zusammenstellung noch früherer Beispiele für die feuilletonistische Auseinandersetzung mit der Gattung vgl. die Anthologie von Paul Buchloh und Jens Becker (1977), die sich der englischen Detektivliteratur widmet.
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und versteht sich als Publikationsorgan und gesellige Plattform für den professionellen Austausch zwischen seinen Mitgliedern, nimmt aber auch eine gewisse normative Funktion wahr. Bis heute gehört zum ausgefallenen Beitrittsritual der Schwur auf eine Art schriftstellerischen Ehrenkodex, der den Initianden auf ein gewisses kreatives Fairplay beim Verfassen von Detektiverzählungen verpflichtet. Als Regulierung des Schreibprozesses zu Gunsten des Lesers ist genau dieses Fairplay auch zentrales Anliegen der berüchtigten Regelkataloge, die im Umfeld des Detection Club entstanden sind und der Detektiverzählung den Ruf einer besonders formelhaften und konventionalisierten, ja geradezu ›gefesselten‹ (Suerbaum) Gattung eingetragen haben. Angesichts der entschieden humorvollen Konzeption des Detection Club und der meisten seiner Aktivitäten ist freilich davon auszugehen, dass auch Ronald Knox’ Detective Story Decalogue (1928), S.S. van Dines Twenty Rules For Writing A Detective Story (1928) oder Stefan Brockhoffs Zehn Gebote für den Kriminalroman (1937) mit nicht halb so viel biblischer Strenge auftreten, wie die Titel anzudeuten scheinen.53 Dass die renommierte Poetik-Dozentur der Universität Tübingen im Jahr 2017 unter dem Titel Poetics of Crime – Die Poetik der Kriminalliteratur54 von vier ausgewiesenen Krimiautoren übernommen wurde, mag als jüngster Niederschlag dieses ausgeprägten poetologischen Bewusstseins gelten. Eine überdurchschnittlich hohe Selbstbeobachtung und Selbstbezüglichkeit der Gattung ist auch im Rahmen ihrer konkreten textuellen Vertreter erkennbar. Das beginnt bereits bei Edgar Allan Poe und seinen drei Dupin-Erzählungen aus den Jahren 1841 bis 1844. Ihren traktatartigen Charakter stellen diese frühen Gattungsexemplare, die das detektivische Vorgehen des exzentrischen Auguste Dupin nicht allein zeigen, sondern vor allem auch ausdrücklich explizieren, gleich zu Beginn der Textserie aus. Dupins erster Auftritt in der Erzählung The Murders in the Rue Morgue steht unter den Vorzeichen einer knappen philosophischen Reflexion über das analytische Denken, dessen Wirken und Funktionsweise – so die Leseanweisung des Textes – durch den nachfolgenden Mordfall und seine Aufklärung kommentiert und illustriert werden soll. Der Suggestivität dieses durchaus ungewöhnlichen Ensembles haben sich späterhin weder andere Kriminalschriftsteller noch Literaturwissenschaftler entziehen können, so dass
53 Das bedeutet allerdings nicht, dass die in den Katalogen formulierten Ge- und Verbote nichtig und das schriftstellerische Fairplay lediglich als augenzwinkernde Pose zu verstehen wäre. Als Agatha Christie 1926 – noch vor Gründung des Detection Clubs also – in ihrem sechsten Roman The Murder of Roger Ackroyd den Ich-Erzähler zum Mörder machte, waren viele Leser und auch Schriftstellerkollegen entrüstet, weil sie diese höchst unkonventionelle Wendung des Mordfalls für unfair und daher nicht zulässig hielten. 54 Zugänglich sind die insgesamt sechs Vorlesungen in Kimmich / Ostrowicz 2018.
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die Arbeit mit und an der Gattung vom Poe’schen Konzept der »tales of ratiocination«55 eigentlich nicht zu trennen ist. Poes Dupin-Erzählungen markieren indes nicht nur den Geburtsort des Topos von den analytischen Fähigkeiten des literarischen Detektivs beziehungsweise von der prinzipiell analytischen Textbewegung der Detektiverzählung. Sie ordnen ihrem detektivischen Protagonisten mit Eugène Vidocq, dem ersten Leiter der französischen Surêté Nationale, auch ein personelles Vorbild zu56 und haben so entscheidend dazu beigetragen, der Detektiverzählung eine literarhistorische Tiefendimension zu verleihen. Dankbar nämlich ist die Erwähnung Vidocqs von der Forschung registriert und in eine ganze genetische Kette möglicher Gattungsvorläufer umgesetzt worden: Ihren Ausgang nimmt diese Kette bei Vidocqs 1828 erschienenen Mémoires de Vidocq jusqu’en 1827, welche wiederum als Quelle für den äußerst erfolgreichen Fortsetzungsroman Les Mystères de Paris des Schriftstellers Eugène Sue gelten. Dieser wird 1842/43 zum Publikumserfolg und orientiert sich seinerseits entscheidend an den Frontier-Romanen von James Fenimore Cooper, die damit ebenfalls als potenzielle Vorläufer der Detektiverzählung in den Blick genommen wurden. Die Konstruktion einer möglichen Gattungs(vor)geschichte muss aber gar nicht über so viele Umwege erfolgen, denn andere Autoren, namentlich Arthur Conan Doyle, haben sich deutlich unmissverständlicher über ihre Vorbilder geäußert. In seiner Autobiografie von 1924 benennt Doyle neben den Dupin-Erzählungen von Edgar Allan Poe die Detektivromane von Émile Gaboriau als maßgebliche Einflüsse bei der Entwicklung seiner Erzählungen.57 Einen entsprechenden Passus hat er bereits 1887 in seinem Sherlock-Holmes-Erstling A Study in Scarlet den beiden Protagonisten Watson und Holmes als anspielungsreichen Dialog in den Mund gelegt: »›You remind me of Edgar Allan Poe’s Dupin. I had no idea that such individuals did exist outside of stories.‹ Sherlock Holmes rose and lit his pipe. ›No doubt you think that you are complimenting me in comparing me to Dupin‹, he observed. ›Now, in my opinion, Dupin was a very inferior fellow. […] He had some analytical genius, no doubt; but he was by no means such a phenomenon as Poe appeared to imagine.‹ ›Have you read Gaboriau’s works?‹ I asked. ›Does Lecoq come up to your idea of a detective?‹ Sherlock Holmes sniffed sardonically. ›Lecoq was a miserable bungler,‹ he said, in an angry voice; ›he had only one thing to recommend him, and that was his energy.‹«58
55 Den einflussreichen Terminus prägt Poe in einem Brief an Philip Pendleton Cooke vom 9. August 1846 – vgl. Ostrom, John Ward (Hg.) (1948): The Letters of Edgar Allan Poe (Band 2). Cambridge/Mass., 327–30, hier: 328. 56 Poe 1994, 132f. (»The Murders in the Rue Morgue«). 57 Doyle, Arthur Conan (1924/2012): Memories and Adventures. Cambridge, 74. 58 Doyle 2009, 24f. (»A Study in Scarlet«).
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Wie schon im Fall von Poes Murders in the Rue Morgue nimmt auch hier der Text über den geschickten Einsatz von Namen seine eigene Verortung innerhalb eines bestimmten literarischen Feldes vor und setzt auf diese Weise den bei Poe begonnenen Gattungskanon, im doppelten Wortsinn selbst-bewusst, fort.59 Lange bevor also die literaturwissenschaftliche Forschung die Detektiverzählung als Gegenstand intensivierten Interesses entdeckt, hat die Gattung selbst schon inner- wie außerhalb ihrer Texte Geschichte, Poetik, Strukturen, Lese- und Schreibanweisungen für sich entworfen. In gewissem Sinn ist sie damit ihre eigene Wissenschaft60, deren Ergebnissen sich die akademische Forschung ihrerseits selten verschlossen, sondern diese ganz im Gegenteil bereitwillig zu ihrer Arbeitsgrundlage gemacht hat. Die Detektiverzählung lässt sich vor dem Hintergrund solcher Beobachtungen als eine im dreifachen Sinn determinierte Gattung verstehen: Sie ist erstens mit einer wiewohl nicht ausdrücklich explizierten, so doch überaus konstanten und entschiedenen Lese-, Seh- und Spielerwartung ihres jeweiligen Rezipienten verbunden; sie ist zweitens seit geraumer Zeit Gegenstand umfassender wissenschaftlicher Beschreibungs- und Deutungsversuche; drittens verfügt sie darüber hinaus selbst bereits über einen hohen Grad an Selbstreflexivität und daraus hervorgehende elaborierte Regulierungsmechanismen. Das alles trägt dazu bei, dass sich die wissenschaftliche wie literarische Arbeit an der Detektiverzählung oft in vorgefertigten und erstarrten Gleisen bewegt. Statt die Gattung präzise und klar auszuleuchten, wirken die oben beschriebenen Verortungs- und Bestimmungsprozesse deshalb oft eher wie Paravents, die den Blick auf die Detektiverzählung verstellen und dadurch eine unvoreingenommene Rezeption und Analyse erschweren.
59 Der Tradition einer solchen »history of detective science« fühlt sich in der Folge beispielsweise auch G.K. Chesterton verbunden, wenn er seinen Detektiv Father Brown im Prolog zur Erzählsammlung The Secret of Father Brown (1927) »with the alleged achievements of Dupin and others; and with those of Lecoq, Sherlock Holmes, Nicholas Carter, and other imaginative incarnations of the craft« (beide: Chesterton 2005 [Bd. 13], 215) konkurrieren lässt. 60 Ganz wörtlich zu nehmen ist das in Bezug auf die sogenannten ›Holmesian Studies‹, die eine seit den späten 20er Jahren des 20. Jahrhunderts ununterbrochene Tradition aufweisen. Unter diesem Begriff firmieren eine ganze Reihe pseudowissenschaftlicher (und literarischer) Arbeiten, die sich Sherlock Holmes und Watson als real existenten Personen nähern. Auf Grundlage der wenigen Angaben in Doyles Erzählungen entstehen in diesem Rahmen etwa Biografien des Detektivs oder es wird über ungeklärte Details wie Watsons zweiten Vornamen oder Holmes’ Familie spekuliert. Den evident spielerischen Charakter dieser Auseinandersetzung mit den kanonischen Texten von Doyle, die den wissenschaftlichen Gestus auf äußerst humorvolle Weise imitiert, verrät auch die Bezeichnung, die die selbsternannten Holmes-›Forscher‹ in der Regel für ihre Beschäftigung verwenden: Wie Doyles Detektiv in seinen Fällen spielen auch sie ›The Great Game‹.
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Es gilt daher, sich der Gattung auf Basis der bisherigen Forschungsergebnisse noch einmal neu zu nähern, bereits Bekanntes auf den Prüfstand zu stellen und mit anderen Akzenten zu versehen. Dabei ist es notwendig, tatsächlich und im eigentlichen Sinn ganz von vorn zu beginnen, nämlich bei ihren Namen.
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Um zu zeigen, dass im Umgang mit der hier zur Untersuchung stehenden Schreibweise ein evidentes terminologisches Durcheinander herrscht, bedarf es keiner großen Anstrengungen. Schon Kracauer und Brecht setzen 1925 und 1938 in ihren oben erwähnten Essays auf zwei unterschiedliche Gattungsbezeichnungen: Während Kracauer vom ›Detektiv-Roman‹ spricht, verwendet Brecht den Begriff ›Kriminalroman‹, um genau dasselbe literarische Phänomen zu beschreiben. Dabei können sowohl Kracauer als auch Brecht für ihre jeweilige terminologische Wahl eine gewisse Tradition geltend machen: 1908 veröffentlicht der Schriftsteller Alfred Lichtenstein unter dem Titel Der Kriminalroman eine der ersten umfänglicheren Laien-Studien in deutscher Sprache; die wahrscheinlich früheste wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Gattung wiederum, die 1914 erschienene Dissertation des Anglisten Friedrich Depken, versteht sich laut Untertitel zwar als Beitrag zur Entwicklungsgeschichte und Technik der Kriminalerzählung, arbeitet dann aber auf Basis der Erzählungen von Poe und Doyle fast ausschließlich mit dem Begriff der ›Detektivnovelle‹. Neben diesem bereits sehr frühen Schwanken zwischen zwei überwiegend synonym gebrauchten terminologischen Varianten im deutschen Sprachraum formiert sich in der anglophonen Kritik etwa zur selben Zeit ein weiteres Cluster möglicher Gattungsbezeichnungen.62 Dieses gruppiert sich vor allem um den zentralen Begriff der ›mystery story‹, dessen Verwendung allerdings nicht immer eindeutig ist. Zum einen nämlich bezeichnet er – so etwa in Carolyn Wells’ The Technique of the Mystery Story von 1913 – als Unterform der ›crime fiction‹, also 61 Einen immer noch aktuellen Überblick über diese vielschichtige Diskussion bieten Buchloh / Becker 21978, 4ff. Die »ganze Definitions- und Terminologiefrage« bezeichnen Buchloh und Becker dabei allerdings als »Scheinproblem« (beide: 10). Richtig ist, dass eine bloße Etikettierung von Texten nicht zu deren eigentlicher Erfassung beiträgt und dass es keinen Unterschied macht, wie man über etwas spricht, solange man weiß, worüber man spricht. Um aber genau das sicherzustellen, ist eine kurze terminologische Auseinandersetzung – auch im Sinne einer einheitlichen Begriffsregelung für diese Arbeit – unerlässlich. 62 Instruktiv hierfür ist die bereits erwähnte Anthologie von Buchloh und Becker (1977). Die darin versammelten Texte umspannen das für die endgültige Konstituierung der Gattung entscheidende Zeitfenster von der Jahrhundertwende bis in die späten 50er Jahre des 20. Jahrhunderts und dokumentieren die komplexe Verortung der Gattung zwischen ›crime fiction‹, ›mystery‹ und ›detective story‹.
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der Literatur über Verbrecher, Verbrechen, Kriminalfälle und deren Aufklärung, ausschließlich das besondere narrative Modell in der Nachfolge Poes, für das gleichzeitig auch der (näherliegende) Begriff ›detective story‹ gebräuchlich wird.63 In diesem Sinn entspricht die englische ›mystery story‹ also der deutschen Kriminal- bzw. Detektiverzählung. Der Terminus fungiert zum anderen aber auch, das zeigt ein Blick auf das entsprechende Lemma in der 14. Auflage der Encyclopaedia Britannica von 1929, als Sammelbegriff gleich mehrerer Textgattungen, die wie die ›gothic novel‹ oder die Rätselerzählung im engeren Sinn nicht einmal zwingend in den Bereich der ›crime fiction‹ gehören. Die ›detective story‹ nach dem Muster Poes und Doyles ist im Fall dieses terminologischen Modells lediglich eine Sonderform der ›mystery story‹, die damit ihre Deckungsgleichheit mit dem Begriffspaar aus Kriminal- und Detektiverzählung einbüßt. Solche Differenzen und Mehrstimmigkeiten in der Bezeichnungspraxis sind bis heute unvermindert Bestandteil der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Gattung. Selbst die konkreten Begrifflichkeiten, die in den unterschiedlichen Forschungstraditionen jeweils im Vordergrund stehen, sind dabei im Wesentlichen unverändert geblieben: Die deutschsprachige Forschung arbeitet auch weiterhin hauptsächlich mit dem Begriff der Kriminalerzählung, ihr anglophones Pendant hingegen basiert überwiegend auf dem bereits bekannten Konzept der ›mystery bzw. detective story‹, hat sich daneben aber unter anderem auch die entsprechende französische Gattungsbezeichnung ›roman policier‹ angeeignet.64 Ebenso gängig ist die aus der für die Gattung vermeintlich zentralen Täterfrage abgeleitete Begriffsbildung ›whodunit‹, deren spielerischer Charakter evident ist. Ohnehin ist in der anglophonen Literaturwissenschaft ein eher gelöstes Verhältnis zur terminologischen Genauigkeit zu verzeichnen. Im Vordergrund stehen zumeist pragmatische und heuristische Überlegungen, weniger eine dogmatische Handhabung der in Frage kommenden Begriffe.
63 Vgl. u. a. Matthew Branders Poe and the Detective Story (1907) und R. Austin Freemans The Art of the Detective Story (1924). Der verwandte Begriff ›detective narrative‹ ist bereits ab 1864 belegt (Böker 1980, 244), ›detective fiction‹ ab 1886 (Drexler 1991, 117). Beide oben genannten Texte sowie der Aufsatz von Wells und der von Ronald A. Knox verfasste Britannica-Artikel sind bei Buchloh / Becker 1977 (zusammen mit dem bibliografischen Nachweis der Erstveröffentlichung) wiederabgedruckt. 64 Das ist insofern nicht überraschend, als schon Gaboriau seine zunächst als Fortsetzungstexte konzipierten Detektivromane in Zeitschriften unter der Rubrik ›mystère‹ veröffentlichte (Schulze-Witzenrath 1983, 156) und die Detektiverzählung in der französischen Forschung durchaus auch mit dem Begriff des ›roman à énigme‹ in Verbindung gebracht wird. Es liegt hier also eine prinzipielle Nähe beider Bezeichnungs- und Zuordnungstraditionen vor. Diese äußert sich auch schon bei Régis Messac, der in seiner 1929 erschienenen Studie zur Detektiverzählung die aus dem Englischen entlehnte Gattungsbezeichnung ›le detective-novel‹ verwendet.
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Anders verhält es sich in der deutschen Forschung, in der ausführlich und ausdauernd über das schwierige begriffliche Doppelerbe aus Kriminal- und Detektiverzählung gestritten wird. In diesem Zusammenhang steht dann etwa zur Debatte, ob es sich bei Kriminal- und Detektiverzählung – entgegen der frühen Verwendungspraxis – um zwei distinkte und einander entgegengesetzte narrative Modelle handelt, wobei im Sinne Richard Alewyns gelten muss, dass »[d]er Kriminalroman […] die Geschichte eines Verbrechens, der Detektivroman die der Aufklärung eines Verbrechens«65 erzählt. Weiterhin aktuell ist am entsprechend anderen Ende des Diskussionsspektrums auch der synonyme Gebrauch der beiden Begriffe. In der Regel wird dabei die Bezeichnung ›Kriminalerzählung‹ bevorzugt, um ein Textkorpus zu charakterisieren, das wiederum ausschließlich Alewyns Definition des Detektivromans entspricht.66 Einschlägig hierfür ist vor allem das liebevolle Kürzel ›Krimi‹, das sich in der lesenden Öffentlichkeit und auf dem Buchmarkt für die Gattung etabliert hat und das auch von der Forschung im Sinne einer Anpassung an den allgemeinen Sprachgebrauch gelegentlich übernommen worden ist.67 Diese beiden Modelle eines kontrastiven auf der einen und eines deckungsgleichen Verhältnisses der zwei Begriffe auf der anderen Seite lassen sich indes lediglich als Randerscheinungen ansprechen. Am häufigsten nämlich wird in der deutschen Forschung eine dritte Position vertreten, nach der Kriminal- und Detektiverzählung eine begriffliche Hierarchie bilden, in der erstere einen übergeordneten Gattungsrahmen für letztere bereitstellt.68 Auch hier darf man allerdings keine Einigkeit vermuten. Umstritten sind dabei nicht etwa Definition und Einordnung der Detektiverzählung, sondern vor allem die divergenten Auslegungen, die ihren Oberbegriff, also die Kriminalerzählung bzw. Kriminal65 Alewyn 1982, 343. Im Anschluss an Alewyn vertreten auch Rainer Schönhaar (1969) und Volker Neuhaus (1977, 1996 und 2005) die Position, dass sich das verschlüsselte Erzählmodell der Detektiverzählung fundamental vom unverschlüsselten, progressiven Vorgehen der Kriminalerzählung unterscheide. Dass diese entschiedene Trennung von Kriminal- und Detektiverzählung aber vor dem Hintergrund eines ganz anderen allgemeinen Umgangs mit den beiden Begriffen stattfindet, verrät schon die Tatsache, dass Schönhaar das narrative Muster der Detektiverzählung mit einer gewissen Inkonsequenz als ›Kriminalschema‹ bezeichnet, während Neuhaus noch 2005 bedauernd darauf hinweisen muss, dass sich Alewyns Differenzierung zwischen Kriminal- und Detektivliteratur in der deutschen Forschung nicht habe durchsetzen können. 66 Prominent etwa in Jochen Vogts Anthologien (1971 und 1998), die Essays und Aufsätze zur ›detective story‹ unter dem Titel Der Kriminalroman versammeln, wie auch bei Kaufmann 1982, Landfester 1996 und Kosˇenina 2007. 67 Vgl. Suerbaum 1984, der seine Gesamtdarstellung der Gattung entsprechend betitelt. 68 Sehr früh bei Depken 1914 und zuletzt bei Kniesche 2015. Ohne spezifische Positionierung zum Definitionsproblem der Kriminalliteratur auch bei Hügel 1978, der detektivisches Erzählen als Unterform kriminalistischer Sensationsliteratur begreift, oder bei Freund 21980, der innerhalb seiner Fallbeispiele aus dem Genre der Kriminalnovelle unterschiedslos auch Detektiverzählungen berücksichtigt.
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literatur, umgeben. Diese kann beispielsweise mit Jörg Schönert ganz allgemein als »Literatur über abweichendes, kriminelles Verhalten, über Kriminelle (Täter) und die Bekämpfung von Kriminalität«69 und damit als maximal-inklusiver Begriff verstanden werden. Sie kann aber auch, wie das etwa Edgar Marsch und Peter Nusser vertreten70, innerhalb eines feineren begrifflichen Netzes einen Gegenentwurf zu einem weiteren Terminus, dem der Verbrechensliteratur, bilden. Die Kriminalliteratur selbst umfasst dann lediglich Texte, die – wie Pitavalerzählung, Thriller oder eben Detektiverzählung – den Standpunkt der verbrechensaufklärenden Instanzen, nicht aber – wie Verbrecherbiografie oder Gaunerroman – den des Verbrechers einnehmen.71 In einer noch weiter textreduzierten Definition lässt sich die Kriminalerzählung schließlich, wie Ulrich Broich das nachdrücklich tut72, auch überhaupt nicht als eigenständige narrative Form, sondern als Sammelbegriff im strengen Sinn begreifen, als Terminus also, der abgesehen von den unter ihm versammelten Subgenres selbst leer bleiben muss. Innerhalb der literaturwissenschaftlichen Diskussion geht die Kriminalerzählung demzufolge nur sehr selten begrifflich in der Detektiverzählung auf, sondern umfasst in der Regel als (vielseitig deutbarer) Gattungsoberbegriff ein größeres textuelles Feld oder wird der Detektiverzählung gelegentlich sogar explizit entgegengesetzt. Angesichts der Unschärfen, die so von den Begriffen der Kriminalerzählung, des Kriminalromans, der Kriminalliteratur und in der Folge vor allem von dem des Krimis ausgehen, scheint es durchaus sinnvoll, diese ungenauen und deshalb problematischen Termini zu vermeiden und stattdessen Anschluss an Alewyn und die anglophone Begriffstradition der ›detective story‹ zu suchen. Doch selbst wenn man sich aus Gründen der größeren Eindeutigkeit auf das terminologische Feld aus Detektivroman, Detektiverzählung und Detektivliteratur zurückzieht, besteht noch Differenzierungsbedarf. Auch diese vermeintlich engen Begriffe nämlich sind akademisch betrachtet nicht ganz unbelastet. Ge69 Schönert 1983, 7 (»Literatur und Kriminalität. Probleme, Forschungsstand und Konzeption des Kolloquiums«). 70 Marsch 21983, Nusser 42009. 71 Jüngst hat Markus Biesdorf (2016) dieses Begriffspaar als genetische Reihe aktualisiert, in deren Verlauf sich die Verbrecherliteratur des 18. und 19. Jahrhunderts (etwa vor dem Hintergrund entsprechender Veränderungen des Buchmarktes und der Entwicklung der Forensik) zur Kriminalliteratur umbildet. Für eine grundlegende Neujustierung der persistenten terminologischen Frontstellung zwischen Kriminal- und Verbrecherliteratur spricht sich hingegen Metin Genç (2018) aus, der zur Strukturierung des Gattungsfeldes stattdessen ein »triadisches Modell mit den Polen Kriminalität, Kriminalistik und Kriminologie« (ebd, 23) vorschlägt. 72 Broich 1975, 45f.
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rade im Zuge der Arbeiten zu einer möglichen Gattungsvorgeschichte der Detektiverzählung sind sie nicht nur mit dem narrativen Modell Poe’scher und Doyle’scher Provenienz in Verbindung gebracht worden, sondern auch mit Texten, die in engem Zusammenhang mit der zunehmenden Professionalisierung bestimmter Berufe im 19. Jahrhundert stehen. Populär werden ab der ersten Hälfte des Jahrhunderts beispielsweise fiktive Tagebücher, Berichte und Memoiren, die – wie Samuel Warrens Passages from the Diary of a Late Physician (1830–37) oder später Clifford Halifax’ und L.T. Meades Stories from the Diary of a Doctor (1894/1896) – einen intimen und zumeist dramatisch oder moralisierend gestalteten Einblick in die Arbeit von Ärzten simulieren. Ebenso beliebte Protagonisten dieser äußerst erfolgreichen Professionsliteratur sind aber eben vor allem auch Detektive und Polizisten als exekutive Organe eines sich neu formierenden Konzepts öffentlicher Sicherheit. Autoren wie William Russell (Recollections of a Detective Police Officer, 1856), Charles Martel (The Diary of an Ex-Detective, 1860) und Andrew Forrester Jr. (Revelations of a Private Detective, 1863 und The Female Detective, 1864) lassen ihre professionellen Ermittler in seriell publizierten Erzählungen von einem Arbeitsleben voller Abenteuer und Gefahren, verdeckter Ermittlungen und Informanten, Wagemut und Pflichtbewusstsein berichten. Dabei haben die Texte häufig einen dezidiert technischen Fokus: Ausführlich werden polizeiliches Vorgehen, Ermittlungstechniken und das juristische Procedere während eines Falls gezeigt und geschildert. Stützt man nun den Begriff der Detektiverzählung, wie das gelegentlich getan worden ist73, auch auf ein solches Textkorpus, dann verliert er, insofern er ganz allgemein auf einem detektivischen Personal oder einem irgendwie gearteten detektivischen Grundinteresse des jeweiligen Textes basiert, seine Bindung an eine bestimmte Schreibweise, ein spezifisches Erzählmodell. Die Detektiverzählung wird unter diesen Umständen folgerichtig in einem sehr umfassendem Sinn, nämlich als »genre concerned with their [the detectives’] activities«74 verstanden. Angesichts einer derartigen Ausweitung der in Frage kommenden Texte gilt es also noch einmal genau zu unterscheiden: Der Begriff ›Detektiverzählung‹ soll im Folgenden ausschließlich eine Gruppe von Texten bezeichnen, die dem narrativen Modell verpflichtet sind, das unter anderem den Dupin-Erzählungen Edgar Allan Poes und den Sherlock-Holmes-Geschichten Arthur Conan Doyles zu Grunde liegt. Da dieses Modell, das im Anschluss genauer zu bestimmen sein wird, vom Umfang des jeweiligen Textes nicht grundsätzlich beeinflusst wird, bleibt dabei die Unterscheidung zwischen Lang- und Kurzform der Gattung unberücksichtigt: Als Detektiv-Erzählung kommen damit nicht nur Texte in den 73 Vgl. v. a. die entsprechenden Arbeiten von Uwe Böker (1980, 1980/81 und 1982) und Peter Drexler (1991 und 1998) sowie Worthington 2005. 74 Worthington 2005, 104.
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Blick, die auf Grund ihrer Kürze tatsächlich als Erzählung im strengen Sinn angesprochen werden müssen, sondern auch solche, die meist als Detektiv-Romane deklariert werden. Eher denn als konkreter Hinweis auf Textlänge und -typ soll der Begriff der Erzählung hier also ganz allgemein in seiner Bedeutung als narratives Produkt verstanden werden. Häufig wird deshalb auch einfach die Rede vom detektivischen Narrativ oder der detektivischen Schreibweise sein, die sich in den Texten in ihrer ganz besonderen Form nachweisen lassen. Es versteht sich nach den obigen Ausführungen von selbst, dass das genuin Detektivische dieser Schreibweise nicht zwingend an die tatsächliche Figur eines Detektivs gebunden ist.75 Der Begriff verweist nicht auf eine Eigenheit des Textpersonals, sondern auf die spezifische narrative Verfasstheit der Texte, ihre besondere Form des Erzählens. Für dieses Erzählen steht seit Beginn der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Gattung auch der alternative Begriff des detektorischen Erzählens zur Verfügung, der vor allem auf die entsprechenden Arbeiten von Ernst Bloch, Rainer Schönhaar und Volker Neuhaus zurückgeht.76 Dabei gilt, dass das detektorische insofern vom detektivischen Erzählen zu trennen sei, als dieses ohne intratextuellen und damit mittelbar auch ohne extratextuellen Detektiv nicht möglich sei, während jenes auch unabhängig von einer solchen Figur konzipiert werden könne. Daraus ergeben sich sowohl eine historische Abfolge wie auch eine hierarchische Trennung der beiden Begriffe. Bloch etwa vertritt die Ansicht, dass »die Darstellung der auf Indizien gerichteten Detektivarbeit nicht älter als das Indizienverfahren selbst«77 sein könne, das detektivische Erzählen also nicht vor dem 19. Jahrhundert anzunehmen sei. Bereits sehr viel früher ließe sich hingegen schon im antiken ÖdipusMythos der »Urstoff des Detektorischen schlechthin«78 identifizieren: das Detektorische als Vorläufer des Detektivischen. Schönhaar seinerseits betont, die Figur des Detektivs als gattungsdefinierendes Element sei »im Grunde nur ein […] Spezialfall innerhalb der weiter gesteckten Grenzen detektorischen Erzählens«79: das Detektorische als narratives Habitat des Detektivischen. Bei aller Plausibilität der Gründe, die für eine solche terminologische Differenzierung angeführt worden sind, soll sie hier dennoch keine Rolle spielen. Das liegt zum einen daran, dass die bislang formulierten Definitionen dessen, was 75 Damit erweist sich die hier praktizierte Abgrenzung von der detektivischen Professionsliteratur nicht nur als Einschränkung oder Präzisierung des in Frage kommenden Textkorpus, sondern gleichzeitig auch als eine Öffnung desselben, insofern auch Texte ohne explizit detektivische Figur berücksichtigt werden können. 76 Für einen aktuellen Gattungszugang über das Modell eines »modernen detektorischen Erzählens« vgl. Beck 2017, für das Zitat: 21. 77 Bloch 1960, 39 (meine Hervorhebung). Im Anschluss an Bloch: Schenk 2004. 78 Ebd, 46 (meine Hervorhebung). 79 Schönhaar 1969, 47.
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detektorisches Erzählen genau bedeutet, nicht immer mit dem übereinstimmen, was im Folgenden unter diesem Narrativ verstanden werden soll. Der Verzicht auf den Begriff des detektorischen Erzählens markiert aber nicht nur das Vermeiden einer akademisch vorbelasteten, sondern auch das einer in gewisser Weise künstlichen und unnötig umständlichen Terminologie. Denn was hier so gründlich und genau voneinander getrennt werden soll, ist im Begriff der ›detective story‹ bei genauem Hinsehen gemeinsam aufgehoben: Versteht man den Begriffsbestandteil ›detective‹ als Substantiv, referiert er auf eine Figur, eben den Detektiv oder Polizeifahnder; liest man ihn aber als Adjektiv, erhält er ausgehend vom Verb ›to detect‹ die Bedeutung ›ermittelnd‹ oder ›aufdeckend‹. In diesem Sinn kann auch die ›Detektiverzählung‹ zwischen den Bestimmungen ›Erzählung mit einem Detektiv‹ und ›aufdeckende Erzählung‹ oszillieren, ohne dass eigens der Begriff des Detektorischen bemüht werden muss. Der Einfachheit halber soll also im Folgenden für die zur Diskussion stehende Gattung von Detektiverzählung, detektivischem Narrativ oder detektivischer Schreibweise die Rede sein, womit aber nicht notwendigerweise die Bindung an eine bestimmte Textfigur signalisiert sei.
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Wovon ist nun aber genau die Rede, wenn man den Begriff ›Detektiverzählung‹ verwendet? Wie lässt sich das Narrativ nach dem Muster von Poe und Doyle beschreiben: als komplexer Wechsel von Frage und Antwort (Alewyn, Suerbaum), als Lektüre eines vom Täter verschlüsselten Verbrechenstextes (Hühn), als Spiel von Wissen und Nicht-Wissen (Lehmann), von Verbergen und Enthüllen (Arnold-de Simine), Erzähltem und Unerzähltem (Bloch, Schönhaar, Marsch)? Neben solchen eher umrisshaften und tentativen Annäherungen an die Gattung hat die literaturwissenschaftliche und linguistische Forschung auch ausgesprochen umfassende Modelle zur Funktionsweise der Detektiverzählung entwickelt. Dabei ist die Frage danach, was genau das Detektivische der Detektiverzählung ist, durchaus vielfältig beantwortet worden. Unternimmt man eine Klassifikation dieser Antworten, lassen sich im Wesentlichen vier Herangehensweisen unterscheiden, bei denen das die Gattung als solche kennzeichnende Charakteristikum auf je unterschiedlichen Textebenen, nämlich motivisch, methodisch, strukturell oder narrativ, lokalisiert wird. Drei dieser Definitionsoptionen lassen sich verhältnismäßig schnell besprechen: Die motivische Verortung des Detektivischen begreift in bereits bekannter Weise die Figur des Detektivs als eigentümlich für die Detektiverzählung. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Figur allein oder im Verbund mit weiteren Merkmalen als Gattungsträger fungiert – entscheidend für diese Position ist das
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grundsätzliche (und bereits problematisierte) Credo, dass es ohne detektivisches Personal keine Detektiverzählung geben kann. Daneben ist die Frage nach der Definition der Detektiverzählung auch von einem Standpunkt aus beantwortet worden, der sich zwar nicht an der Figur des Detektivs, wohl aber an seinen Methoden orientiert und sich dabei vor allem auf den (innertextlichen) Akt der Detektion bezieht. Zum ausschlaggebenden Kriterium wird hier, ob der Text detektivische Ermittlungen im Sinne einer Suche nach Opfer- wie Täterspuren zeigt und ob er im Idealfall selbst dem Modell einer solchen Spurensuche nachempfunden ist, insofern er seine Interaktion mit dem Leser ebenfalls als Suche nach und Lesen von verborgenen Spuren, also als semiotisches Rätselspiel gestaltet. Solche Ansätze, die das Spezifische der Gattung in einem als Spurenlesen gekennzeichneten Detektionsverhalten des Textes verorten, basieren in der Regel auf dem Konzept des sogenannten Indizien- oder auch konjekturalen Paradigmas, das der Historiker Carlo Ginzburg in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts entworfen hat.80 Ginzburg identifiziert für das späte 19. Jahrhundert ein im Bereich der Sozial- und Humanwissenschaften verbreitetes epistemologisches Modell, das auf der Entzifferung und Interpretation von Zeichen, mithin auf einem semiotischen Mechanismus beruht und dessen Ursprung Ginzburg bis zum fährtenlesenden Jäger der Urgeschichte zurückverfolgt. Kennzeichnend für dieses Modell sei eine verstärkte Aufmerksamkeit für Details, für Unbeachtetes, Randständiges, scheinbar Nebensächliches, für Marginalisiertes und Unbewusstes. Zu den Disziplinen, denen ein solches zeichenorientiertes Paradigma zu Grunde liegt, zählen laut Ginzburg sowohl traditionelle Wissensbereiche wie Divination, Physiognomik, Graphologie, Kunstgeschichte und Medizin als auch erst für das 19. Jahrhundert typische Wissenschaften wie Philologie und Psychoanalyse. Entscheidend ist nun, dass Ginzburg ein weiteres Phänomen des 19. Jahrhunderts ausführlich in seine Überlegungen einbezieht: So wie der Kunsthistoriker Giovanni Morelli bei der Echtheitsprüfung von Kunstwerken aus Merkmalen der Maltechnik den Urheber eines Gemäldes erschließe und so wie Sigmund Freud aus Symptomen das eine psychische Störung auslösende Moment rekonstruiere, erkenne auch der literarische Detektiv aus Indizien wie Zigarettenasche und Stiefelabdrücken den Urheber der jeweiligen Spur. Mit dieser expliziten »Analogie zwischen den Methoden von Morelli, Holmes und Freud«81, die die Detektiverzählung auf ein semiotisch-konjekturales Fundament stellt, ist Ginzburg maßgebend für eine Definition der Gattung,
80 Ginzburg 1985. Erschienen ist Ginzburgs Aufsatz in einem von Umberto Eco und Thomas A. Sebeok herausgegebenen Sammelband, der insgesamt einschlägig für die semiotisch orientierte Definition der Detektiverzählung ist. Vgl. im Anschluss an diese Arbeiten auch Holzmann 2001 sowie die entsprechenden Beiträge in Krämer 2007. 81 Ginzburg 1985, 133.
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die das an Indizien orientierte Vorgehen der Detektion in ihren Mittelpunkt rückt. Detektion lässt sich aber nicht nur methodisch verstehen, sondern auch in einem strukturbezogenen Sinn, nämlich als isolierbares Handlungselement der Detektiverzählung. Bestimmt man die Gattung auf diese Weise, umfasst sie ausschließlich Texte, die eine Reihe von festen plotbezogenen Bausteinen aufweisen, die sich um die (nicht zwangsläufig semiotisch akzentuierte) Aufklärung eines verrätselt dargestellten Verbrechens gruppieren, bei dem Täter, Motiv und Tathergang zunächst unbekannt sind und erst im Verlauf der Erzählung ermittelt werden, meist von einer detektivischen Figur als zentralem analytischen Medium. Diese Bausteine, ihre Kombination, Gewichtung und Anordnung sind bevorzugt als Triaden beschrieben worden: Ulrich Schulz-Buschhaus etwa benennt die Elemente ›mystery‹, ›analysis‹ und ›action‹ – also (Mord-)Rätsel, intellektuelle und aktionsbezogene Detektion bzw. Täterjagd – als unverzichtbare Bestandteile des detektivischen Textgeschehens, deren variables Verhältnis zueinander der einzelnen Erzählung einen je eigenen Charakter verleihe.82 Weniger an den konkreten inhaltlichen Konstituenden der Handlung als an ihrer Chronologie orientiert sich dagegen die Plot-Triade, die Edgar Marsch für die Detektiverzählung entwirft.83 Jede Kriminalerzählung, und das heißt nach Marschs Definition: jeder analytisch ausgerichtete literarische Kriminalfall, setze sich aus Vorgeschichte, Fall und Detektion zusammen. Abhängig davon, wie viele dieser Elemente der Text in den Bereich des zunächst Unerzählten verschiebt, entstünden unterschiedliche Typen der Kriminalerzählung: von der ohne unerzählte Bestandteile auskommenden und daher stringent und unverrätselt erzählten Fallgeschichte bis zur Detektiverzählung, die die Vorgeschichte des Verbrechens und gegebenenfalls den Fall selbst erst in der Detektion mitteilt. Ein solcher Blick auf die erzähllogische Machart der Detektiverzählung nähert sich bereits einer auf narrativen Aspekten basierenden Definition der Gattung, einer Herangehensweise also, die das Detektivische nicht an Figuren, dargestellte Methoden oder Plot-Elemente bindet, sondern an eine distinkte Form des Erzählens, eine bestimmte narrative Gesamtoptik der Texte. Man hat es hierbei mit einer Bestimmung der Detektiverzählung zu tun, die sich aus dem konkreten Text und seinen inhaltlichen Konstituenden hinausbewegt, um zu einer Beschreibung 82 Schulz-Buschhaus 1975. Die Herkunft der einzelnen Strukturelemente leitet Schulz-Buschhaus – gemäß seinem Credo, bei der Definition der Detektiverzählung mit »immanent literarische[n] Strukturen« (x) arbeiten zu wollen – aus den benachbarten Gattungen der ›mystery bzw. gothic novel‹ (›mystery‹), des Abenteuerromans (›action‹) und der analytischen Beispielerzählung (›analysis‹) ab: vgl. 1ff. Zu den drei sich aus der unterschiedlichen Gewichtung der Elemente ableitenden Strukturparadigmen der Gattung vgl. 86f. 83 Marsch 21983, 94f. Vgl. für eine Konzentration auf den Vorgang der Detektion auch Hügel 1978.
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des übergeordneten narrativen Konzepts zu gelangen, dem die Gattung folgt. In diesem Rahmen hat sich eine komplexe und lebhafte Debatte entwickelt, die der Detektiverzählung auf Basis der für sie spezifischen narrativen Gestalt nachspürt. Zentraler Ausgangspunkt bleiben dabei eigentlich figuren- und plotbezogene Charakteristika, die aber narrativ aus- und umgedeutet werden: Das aufzuklärende Verbrechen als das die Erzählung auslösende Geheimnis und die minutiöse Spurensuche als Mittel der Aufklärung werden dabei ebenso zu Niederschlagsprodukten einer spezifischen Erzählstrategie wie auch die Figur des Detektivs als vornehmliches Medium des gezeigten Aufklärungsprozesses. Diese Erzählstrategie ist, wiewohl die einzelnen Beschreibungsversuche erkennbar ähnliche narrative Tatbestände umspielen, durchaus unterschiedlich akzentuiert worden: als entlarvendes Erzählen, dessen Ziel die rekonstruierende Aufdeckung eines unerzählten geheimnisvollen Anfangs ist84; als analytisches Erzählen, das als »Hysteron-Proteron-Konstruktion«85 auf einer systematischen Permutation der Erzählchronologie beruht86; als mit eigentlich zwei Geschichten arbeitendes Erzählen, das eine Aufklärungsgeschichte als diskursive Plattform verwendet, auf der die zeitlich zurückliegende Verbrechensgeschichte dargeboten wird87. Es versteht sich von selbst, dass die gerade umrissenen möglichen Konzeptionen des Detektivischen selten in reiner Form auftreten, sondern häufig miteinander kombiniert werden, um zu einer umfassenden textbezogenen Definition der Gattung zu gelangen. Das mag auch daran liegen, dass zumindest drei der vier Optionen für sich allein genommen in gewisser Weise defizitär sind. Die Angabe figuren-, methoden-, themen- oder plotbasierter Koordinaten ist in der Regel nicht hinreichend für die adäquate Beschreibung einer Gattung, ihr Konzept erschöpft sich nicht in fixierten Handlungsmustern, Figurenkonstellationen und Motiven. Erst der ergänzende Blick auf die narrative Verfasstheit ihrer Texte, auf die ihr eigene Erzählweise ermöglicht es, valide Aussagen über die sich mit einer Gattung verknüpfende Leseerwartung und damit über das wiedererkennbare Aussehen der sich in ihrem Rahmen verortenden Texte zu machen.88 Dieses 84 85 86 87
Bloch 1960, Schönhaar 1969, Neuhaus 1977. Weber 1975, 28. Sˇklovskij 1929, Alewyn 1982 (»Anatomie des Detektivromans«), Weber 1975, Neuhaus 1977. Todorov 1966. In kritischer Auseinandersetzung mit und Ergänzung von Todorov: SchulzeWitzenrath 1979, die die Anzahl der erzählten Geschichten erweitert, und Hühn 1987, der die Verbrechensgeschichte als Geschichte des Schreibens und die Aufklärungsgeschichte entsprechend als Geschichte des Lesens akzentuiert. Die Todorovsche Doppelstruktur bestimmt auch Kniesche 2015 in seiner Einführung in die Gattung als »das definierende Strukturmerkmal der [!] Detektivromans« (ebd, 14). 88 Zur Notwendigkeit eines prinzipiellen Kriterienpluralismus in der textbezogenen Bestimmung von Gattungen: Gymnich / Neumann / Nünning 2007, 4 und 7f. (»Einleitung«) sowie im selben Band Gymnich / Neumann 2007, 32f. mit weiterführenden Literaturverweisen. Vgl. für eine ausführliche Diskussion verschiedener gattungstheoretischer Bestimmungskriterien auch Zymner 2010, 29ff. sowie 217ff.
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Vorgehen geht insofern über die gewöhnliche Beschreibungsdyade aus Inhalt und Form hinaus, als dabei nicht so sehr Merkmale der äußeren Form eines Textes wie etwa sein Umfang und auch nur mittelbar klassische narratologische Kriterien wie die Erzählsituation oder die Gestaltung der Zeitebene von Bedeutung sind. Vielmehr geht es darum, den Text in seiner narrativen Funktionsweise zu erfassen, sein Erzählkonzept freizulegen, ihm ein spezifisches narratives Muster nachzuweisen, das er mit anderen Texten teilt und ihn mit diesen in Beziehung setzt. Ein solches Erzählmuster ist dabei, wiewohl es bestimmte Konstellationen aus formalen und inhaltlichen Textmerkmalen bevorzugen oder bedingen kann, nicht völlig deckungsgleich mit der Gesamtheit dieser Merkmale in einem oder mehreren Texten. Die Autobiografie beispielsweise scheint, folgt man der Definition, die Dieter Lampings Handbuch der literarischen Gattungen anbietet, als »prinzipiell nichtfiktionaler narrativer Text, in dem das Leben des Autors in seiner Gesamtheit oder in Abschnitten retrospektiv geschildert wird«89 fest an die Position eines irgendwie realitätshaltigen Ich- (Stanzel) oder autodiegetischen (Genette) Erzählers gebunden zu sein. Allerdings bliebe das autobiografische Narrativ doch auch dann für den Leser als solches erkennbar, wenn einige dieser inhaltlichen wie formalen Fixpunkte ausgesetzt oder verändert würden: Der in Frage kommende Text könnte etwa, auch wenn er sich als Autobiografie ausweist, nicht faktenbasiert, sondern rein fiktiv sein; sein Erzähler-Ich könnte nur nominell oder auch überhaupt nicht mit dem tatsächlichen Autor übereinstimmen; es könnte statt seiner eigenen Geschichte eine andere Lebensgeschichte als Als-Ob-Autobiograf usurpieren oder sich umgekehrt selbst als Fremden entwerfen und damit die Erzählposition der dritten Person annehmen; die Lebensgeschichte könnte vielleicht sogar nicht als Bericht im Rückblick geschildert, sondern als Möglichkeitserzählung prognostiziert werden. All diese Modifikationen auf inhaltlicher und/oder formaler Ebene wären möglich, ohne die Gattungszugehörigkeit des entsprechenden Textes nachhaltig zu beeinträchtigen, ohne also seine Verortung im Rahmen eines sich als autobiografisch kennzeichnenden Narrativs zu gefährden. Noch deutlicher wird die relative Unabhängigkeit des gattungsspezifischen Erzählmusters von vor allem inhaltlichen, aber auch formalen Kriterien, wenn man die deutsche Prestige-Gattung des Bildungsromans in den Blick nimmt, deren Bestimmung in einschlägigen Handbüchern und Lexika zumeist ausschließlich auf einer Wiedergabe ihrer typischen Handlungsstruktur basiert. Zwar ist es evident, dass der Bildungsroman im Sinne seiner »Entwicklungsgeschichte einer zentralen Figur durch Konflikte und Krisen bis zur Selbstfindung 89 Kraus, Esther: Autobiografie. In: Lamping, Dieter (Hg.): Handbuch der literarischen Gattungen. Stuttgart 2009, 22–30, hier: 22.
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und zu einem Ausgleich zwischen Subjekt und Welt«90 gewisse Figurenkonstellationen und Plot-Elemente bevorzugt. Damit ist aber noch nicht seine spezifische Art des Erzählens erfasst, die ihn in seiner narrativen Machart von anderen Texten mit ähnlichen Themen abhebt und die auch dann erhalten bleibt, wenn etwa der Bildungsprozess ein scheiternder ist oder es vielleicht nicht nur einen, sondern mehrere Bildungsprotagonisten gibt. Ohne hier eine vollgültige Gattungstheorie des Bildungsromans entwickeln zu wollen, gehört dazu etwa die Beobachtung, dass der Bildungsroman, etwas salopp formuliert, eigentlich ein Roman mit ›Werbepausen‹ ist. In mehr oder minder regelmäßigen Abständen nämlich wird die sonst so in den Vordergrund gestellte Romanhandlung durch Passagen unterbrochen, die in keinem unmittelbar ersichtlichen Zusammenhang zum Textgeschehen stehen und deshalb beinahe wie narrative Fremdkörper wirken. Sie können in Form von in den Text eingelassenen Briefen oder Tagebucheinträgen auch tatsächlich als solche gekennzeichnet sein, in der Regel aber sind sie als Gespräche oder Berichte der Erzählordnung zumindest formal bruchlos eingeschrieben. Inhaltlich fungieren diese rekurrenten Textmomente pausierender Handlung dann als eine Art narrativer Platzhalter, der beliebig gefüllt werden kann: Goethe etwa nutzt sie im zweiten Teil seines WilhelmMeister-Projektes, den Wanderjahren (1821/1829), für ausführliche Informationen über Bergbau und Wollverarbeitung; in Thomas Manns Zauberberg (1924) treten sie als philosophische Streitgespräche zwischen den Antagonisten Naphta und Settembrini auf; bei Adalbert Stifter überlagern sie im enzyklopädischen Exzess beinahe die eigentliche Bildungshandlung des Nachsommers (1857). Der Textkörper des Bildungsromans ähnelt daher einem Archiv oder einem Ausstellungsraum, in dem ausgewählte Wissensbestände aufbewahrt, präsentiert, arrangiert und inszeniert werden können. Die für den Bildungsroman spezifische Erzählweise, die zu der von ihm bevorzugten Handlungsstruktur tritt, ließe sich vielleicht mit dem Gang durch eine Galerie vergleichen, bei dem man gelegentlich vor einem Exponat verharrt und es auf seine Funktion im Ausstellungsganzen hin befragt, bevor man den vorgegebenen Weg durch den (Erzähl-) Raum fortsetzt. Um eine Gattung wie den Bildungsroman also in angemessener Genauigkeit zu erfassen, ist nicht allein entscheidend, wovon erzählt wird, sondern vor allem auch, wie davon erzählt wird, und das heißt im Sinn der vorangegangenen Überlegungen: welche Gestalt das Narrativ oder die Narrative besitzen, die den Texten, die sich einer bestimmten Gattung oder mehrerer Gat-
90 Jacobs, Jürgen C. (2009): Bildungsroman. In: Lamping, Dieter (Hg.): Handbuch der literarischen Gattungen. Stuttgart, 56–64, hier: 56. Vgl. für ähnliche Definitionen auch das entsprechende Lemma in Gero von Wilperts Sachwörterbuch der Literatur (82001) sowie den ebenfalls von Jacobs verfassten Artikel im ersten Band des RLW (1997).
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tungsmuster zugleich bedienen, als gemeinsame und umspielbare Basis zu Grunde liegen. Wie wichtig eine solche Kombination von inhaltlichen und narrativen Aspekten speziell für eine Bestimmung der Detektiverzählung ist, zeigt die Tatsache, dass Texte, in denen ein zunächst unaufgelöstes Verbrechen stattfindet, in denen ein Täter ermittelt, überführt und gegebenenfalls bestraft wird, bei denen also die auf der Inhaltsebene angesiedelten Gattungskoordinaten durchaus zutreffend sind, keineswegs zwingend als Detektiverzählungen apostrophiert werden können. James Thurbers kleine Erzählung The Macbeth Murder Mystery91 gewinnt aus genau diesem Missverständnis ihre humorvolle Pointe: Der Ich-Erzähler trifft in einem Hotel auf eine amerikanische Liebhaberin von ›detective stories‹, die statt einer solchen versehentlich eine billige Ausgabe von Shakespeares Drama Macbeth gekauft hat. Bei einer Tasse Tee berichtet sie von ihren Lektüreerfahrungen (»›Did you like it?‹ I asked. ›No, I did not‹, she said, decisively«92) und legt dabei zur Überraschung des Erzählers ausführlich dar, warum sie als »murder specialist«93 nicht Macbeth oder dessen Frau, sondern Macduff für den Mörder des Königs hält. Angesteckt von einer solchen ungewöhnlichen Lesart beschließt der Erzähler, den Text selbst noch einmal einer genauen Prüfung zu unterziehen. Am nächsten Morgen verkündet er dann in konspirativem Tonfall nicht nur, dass er als Täter zweifelsfrei den Vater von Lady Macbeth überführt habe, der zugleich der unidentifizierte alte Mann in der vierten Szene des zweiten Aktes und obendrein eine der drei Hexen sei, sondern auch, dass er vorhabe, nun auch die Morde in Shakespeares Hamlet endgültig aufzuklären. Was dem Leser hier ein Lächeln entlockt, ist zum einen natürlich die Tatsache, dass mit Macbeth und Hamlet zwei Texte nach den Regeln einer Gattung gelesen und begriffen werden, der sie sich intuitiv als nicht zugehörig identifizieren lassen. Zum anderen, und hierin liegt die eigentliche Raffinesse von Thurbers Erzählung, ist die Zuordnung, die der Erzähler und seine amerikanische Bekanntschaft vornehmen, aber auch nicht völlig absurd: Immerhin finden doch jeweils rätselhafte Morde statt, die im Textverlauf aufgeklärt werden und so mindestens eine inhaltliche Nähe zur Detektiverzählung etablieren. Die Erzählung bestätigt so den generischen Instinkt des Lesers und irritiert ihn doch auch wieder, indem sie die von den beiden Protagonisten unterstellte Gattungszugehörigkeit zwar als falsch akzentuiert, gleichzeitig aber die Begründung für dieses Urteil unbestimmt lässt.
91 Die Erzählung ist ursprünglich 1937 in The New Yorker erschienen, erneut publiziert wurde sie in My World and Welcome to It (1942) sowie in der Anthologie The Thurber Carnival (1945), nach der im Folgenden zitiert wird. 92 Thurber, James (1945): The Macbeth Murder Mystery. In: Ders.: The Thurber Carnival. New York, 60–63, hier: 60. 93 Ebd, 61.
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Der von Thurbers Erzählung humorvoll illustrierten Notwendigkeit, zu anderen als lediglich inhaltlich orientierten Kriterien für die Detektiverzählung zu gelangen, entspricht die literaturwissenschaftliche Diagnose, die Ulrich Suerbaum der Gattung noch vor kurzem gestellt hat: »Auf die Frage nach der über die Handlungsstruktur hinausgehenden Eigenart des Kriminalromans – oder des Krimis überhaupt [auch: Filme, Fernsehkrimis, Hörspiele etc.] – gibt es derzeit noch keine Antwort, die konsensfähig wäre«94. Es ergibt sich damit im Rahmen einer auf angemessene Beschreibung zielenden Beschäftigung mit der Detektiverzählung dieselbe Beobachtung, die bereits für die terminologische Diskussion der Gattung im voranstehenden Kapitel erkenntnisleitend war: Um sie möglichst eindeutig zu erfassen, muss die Lösung von einer allzu ausschließlich inhaltlichen Orientierung unter verstärkter Berücksichtigung narrativer Aspekte im Zentrum einer systematischen Bemühung um die Gattung stehen, ohne deren inhaltsbezogene Konstituenden indes völlig zu verwerfen. Wovon die Detektiverzählung nun also tatsächlich erzählt und in Form welchen spezifischen Narrativs sie es tut – diese beiden Aspekte der Gattung gilt es im Anschluss an die hierzu bereits entwickelten und zu Anfang des Kapitels kurz umrissenen Positionen zu beschreiben und sich der Detektiverzählung so mit besonderem Blick auf ihre ganz eigene Erzählweise zu nähern.
1.2.1 Wovon sie erzählt: Die Detektiverzählung als Suche nach einer verlorenen Erzählung Dass die Aufklärung eines zunächst mysteriösen Verbrechens und damit die Suche nach dem Täter mittels Auswertung von Spuren und Hinweisen Gegenstand der Detektiverzählung sei, scheint Forschungs- wie Lektürekonsens zu sein. Es lohnt sich aber, schon hier genau hinzuschauen. Denn zum einen fällt, und darauf wird zurückzukommen sein, entgegen Ernst Blochs eingängiger Formulierung bei weitem nicht jede Detektiverzählung »mit der Leiche ins Haus«95. Zum anderen taugt auch die von semiotischen Lesarten in den Vordergrund gerückte Spurensuche nur bedingt als inhaltliches Determinans der Gattung, insofern dabei das Ergebnis des detektivischen Verfahrens durch seine Methode substituiert wird.96 Spurensuche und -deutung lassen sich zwar sicher
94 Suerbaum 2009, 438 (meine Erläuterung). 95 Bloch 1960, 45. 96 Auch hier lässt sich vielleicht eine Spätfolge allzu unkritischer Poe-Rezeption vermuten. In Poes Dupin-Erzählungen wird die (analytische) Vorgehensweise des Detektivs derart ausführlich expliziert, derart auffällig in den Vordergrund des Textinteresses gerückt, dass sie, insofern sie durch eine Konzentration auf das detektivische Denk- und Handlungsmuster
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als integrale Bestandteile des Erzählgeschehens der Detektiverzählung ansprechen, doch sind sie weder das Ziel der detektivischen Tätigkeit im Text noch des detektivischen Erzählens des Textes. Ein solches Verharren auf erzähllogisch halber Strecke ist auch insofern problematisch, als es dem Konzept der Spur, das ja per se über diese selbst hinaus verweist, nicht ganz gerecht wird. Für die Spur ist es konstitutiv, dass sie eben nicht für sich selbst, sondern für etwas anderes, nicht Präsentes steht, an dessen Stelle sie, ersetzend und hinweisend, tritt. Dabei spielt in diesem Zusammenhang freilich weniger eine Rolle, was die konkrete Spur, etwa die Zigarettenasche oder der Fußabdruck, im detektivischen Einzelfall bezeichnet oder wie genau der Detektiv sie deutet. Entscheidend ist es, mit Sybille Krämer die kontextunabhängige Funktionsweise dieses Prozesses von Lektüre und Bedeutungsgenerierung in den Blick zu nehmen: »Eine Spur zu lesen heißt, die gestörte Ordnung, der sich die Spurbildung verdankt, in eine neue Ordnung zu integrieren und zu überführen; dies geschieht, indem das spurbildende Geschehen als eine Erzählung rekonstruiert wird. Die Semantik der Spur entfaltet sich nur innerhalb der ›Logik‹ der Narration, in der die Spur ihren ›erzählten Ort‹ bekommt.«97
Die Spur ist ein Platzhalter, der erst im Rahmen einer seinen Ursprung erklärenden Erzählung die ihm eigene Bedeutung annimmt, er muss hermeneutisch fruchtbar gemacht, »durch narrative Deutung ›zum Reden gebracht‹«98 werden. Spuren konstituieren eine in ihrer Existenz implizierte (Spurbildungs-)Erzählung und werden gleichzeitig selbst erst durch diese Erzählung, durch ihre narrative Verortung innerhalb dieser Erzählung als Spuren konstituiert. Auf diesen engen, ja unauflösbaren Nexus von Spur und Narration kommt es an, wenn man statt der Methoden auch das Ziel des in der Detektiverzählung gezeigten spurenbasierten Ermittlungsprozesses erfassen will. Dass das Durchsetzen von geltendem Recht dabei kaum eine Rolle spielt, ist ebenso evident wie der Sachverhalt, dass die tatsächliche Ergreifung des Verbrechers häufig von nur marginalem Interesse für den Erzählverlauf ist: Der Detektiv ist weder besonders gesetzestreu noch eine im eigentlichen Sinn moralische Instanz. Aber auch mit dem umfassenderen Begriff der Fallaufklärung ist das Ziel der literarischen detektivischen Tätigkeit nur unzureichend beschrieben, wie ein Blick auf Doyles zweite Sherlock-Holmes-Erzählung The Sign of Four (1890) zeigt. Dort sind gegen Ende des noch nicht im späteren Kurzgeschichten-Format verfassten Textes naturgemäß auch die Ermittlungen des Detektivs eigentlich an den Blick auf das eigentliche Ergebnis dieses Prozesses verstellt, beinahe wie der berüchtigte ›red herring‹ der Detektiverzählung fungiert. 97 Krämer 2007a, 17. Vgl. für eine ausführliche Diskussion des Konzepts der Spur auch Kessler 2012. 98 Ebd, 18.
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ihr Ende gekommen: Ablauf und Motiv des Verbrechens, eines Mordes qua Giftpfeil, sind geklärt, einer der Täter ist ergriffen, der zweite tot, der im Zentrum des Verbrechens stehende Schatz ist zwar verloren, sein Verbleib auf dem Grund der Themse aber eine gesicherte Tatsache. Dennoch ist Holmes mit diesen Ergebnissen noch nicht zufrieden. Vielmehr erbittet er zusätzlich ein Gespräch mit dem überlebenden Verbrecher, dem Veteranen Jonathan Small, zwecks Einholung eines »true account of the matter«99, wogegen dieser auch nichts einzuwenden hat: »If you want to hear my story, I have no wish to hold it back«100. Die versprochene Erzählung umfasst nun aber nicht nur den engeren Ablauf des eigentlichen Verbrechens, den Holmes ohnehin bereits selbst rekonstruiert hatte. Statt dessen holt sie die in einen autobiografischen Bericht Jonathan Smalls eingelassene, drei Jahrzehnte zurückliegende Vorgeschichte des Falls ein, die sich, auch geografisch weit ausholend, vom englischen Worcestershire über die Stadt Agra im kolonialen Indien bis zu einer britischen Strafkolonie auf den Adamanen erstreckt. Smalls ausführlicher Bericht, der mit der Schilderung des von Holmes gelösten Giftmordes endet, bildet als letztes Kapitel des Textes den Schlusspunkt der Erzählung. Überschrieben mit ›The Strange Story of Jonathan Small‹ und augenfällig durchzogen von Begriffen wie ›account‹, ›narrative‹, ›story‹ oder ›story-teller‹ macht es in wünschenswerter Ausdrücklichkeit deutlich, dass am Ende des detektivischen Prozesses nichts anderes als eine Erzählung steht. Fallaufklärung meint hier also viel mehr als nur das Begreifen von Mechanik und Motivierung eines vorgestellten Verbrechens oder das Überführen des dafür Verantwortlichen. Es meint, eine vollständige und lückenlose Geschichte dieses Verbrechens präsentieren zu können, sie entweder selbst zu erzählen oder denjenigen zu finden, der über die gesuchte Narration verfügt. Holmes’ Fälle sind damit weniger eine moralische oder kriminalistische als vielmehr eine erzählerische Herausforderung. Folgerichtig löst in den meisten Holmes-Erzählungen auch nicht der tatsächliche Fund einer Leiche oder ein anderes Verbrechen den Einsatz des Detektivs aus, sondern zunächst einmal eine Narration, die Erzählung des Klienten nämlich, mit der die Fälle des Detektivs in der Regel einsetzen und die gelegentlich, wie etwa in The Adventure of the Engineer’s Thumb (1892), durchaus nahezu den gesamten Text ausmachen können. Diese Initialerzählungen geben gemäß ihrer Funktion als Einführung des jeweiligen Falls natürlich die Rätsel auf, die Sherlock Holmes im Folgenden zu lösen aufgefordert ist. Ihren rätselhaften Charakter gewinnen sie dabei aber nur vordergründig aus der mysteriösen oder bizarren Qualität der in ihnen mitgeteilten Begebenheiten. Viel entscheidender ist die Beobachtung, dass all diese Erzählungen auf der scheinbaren Unmög99 Doyle 2009, 140 (»The Sign of Four«). 100 Ebd, 144.
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lichkeit basieren, bestimmte Ereignisse sinnhaft zu einem Erzählganzen zu verbinden: Die Rätselhaftigkeit der Fälle, die die Dienste des Detektivs erforderlich macht, ist ein Produkt ihrer narrativen Dysfunktionalität. Das wird besonders dann deutlich, wenn es sich zunächst gar nicht um ein offenkundiges Verbrechen handelt. In The Red-headed League (1891) gerät der Pfandleiher Jabez Wilson per Zeitungsannonce an eine profitable, aber höchst eigenartige Anstellung, bei der er unter der Auflage, das dafür vorgesehene Büro nicht zu verlassen, je vier Stunden am Tag die Encyclopaedia Britannica abschreiben soll. Nach acht Wochen findet er das Büro plötzlich verschlossen vor, sein bisheriger Arbeitgeber, der ihm einen falschen Namen angegeben hatte, ist spurlos verschwunden. Wilson wendet sich nun nicht an Sherlock Holmes, weil er hinter diesen merkwürdigen Vorkommnissen ein Verbrechen vermutet, und auch der Detektiv selbst ist sich der kriminellen Natur des Falls keineswegs sicher: »As far as I have heard it is impossible for me to say whether the present case is an instance of crime or not […]«101. Beide, Detektiv wie Klient, interessieren sich aber dafür, wie aus dieser Reihe verwirrender Ereignisse ein verständlicher Sinn gewonnen werden kann, wie sie mittels einer Vervollständigung ihrer erzählerischen Lücken kohärent gemacht und damit erklärt werden kann: »But I want to find out about them, and who they are, and what their object was in playing this prank – if it was a prank – upon me«102 formuliert Wilson seinen Auftrag an den Detektiv. Was die von Wilson angebotene Initialerzählung ausmacht, ist das Fehlen eines Plots im doppelten Sinn. Handlungslogisch betrachtet ist kein Motiv (›object‹) ersichtlich, das die denkwürdigen Ereignisse strukturiert, kein übergeordneter Plan (›plot‹), der ihre Abfolge verständlich machen würde: Das offenkundig konspirative Vorgehen (›plotting‹) der Verantwortlichen scheint gegenstandslos, ohne Ziel. Wilsons Erzählung bietet aber auch, und das ist der entscheidende Punkt, keinen Plot im narratologischen Sinn. Dieser zeichnet sich als »das zu einem kausal motivierten, abgeschlossenen Ganzen integrierte Geschehen«103 eines Textes gerade durch das aus, was in der fraglichen Initialerzählung abwesend, nicht eingelöst bleibt: die Verbindung von Chronologie und Kausalität, von Sequenz und Konsequenz. Wilsons Darstellung umfasst mit ihrer Reihe von Einzelereignissen lediglich erzählerisches Rohmaterial, ohne dieses aber zu einer funktionierenden Handlungsstruktur, »zur Einheit einer ›Geschichte‹«104 zusammenfügen zu können. Die Lösung dieses Problems delegiert Wilson durch seine Konsultation des Detektivs an Sherlock Holmes, dessen 101 Ebd, 176 (»The Red-headed League«). 102 Ebd, 183. 103 Martinez, Matias (2003): Plot. In: RLW (Band 3). Berlin, 92–94, hier: 92. Die Argumentation stützt sich auf die erste der drei von Martinez beschriebenen Verwendungen des PlotBegriffs. 104 Ebd, 93.
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Aufgabe es also ist, nicht einem Verbrecher nachzuspüren, sondern dem Plot, den die Erzählung gleich in zweifacher Hinsicht, als Motiv und als kausal begründbares Handlungsganzes, verweigert. Die deutliche Akzentuierung des detektivischen Rätsels als Resultat eines erzählerischen Defizits, wie sie in The Red-headed League deutlich nachweisbar ist, kann als exemplarisch für das besondere Arrangement der Holmes-Erzählungen gelten. Die einleitenden Falldarstellungen präsentieren sich als gescheiterte, als fragmentierte, unvollständige Erzählungen, insofern es ihnen nicht gelingt, logische Zusammenhänge zwischen einzelnen Ereignissen evident zu machen, kausal-chronologische Sequenzen, eben einen Plot im beschriebenen Doppelsinn herzustellen105: »You will find it rather disconnected, I fear […]«106 benennt Holmes’ Klientin in The Adventure of the Copper Beeches (1892) luzide den Defekt ihrer Schilderung. Vielleicht könnte man sagen, dass es das Strukturprinzip des berühmten Gedankenstrichs aus Kleists Marquise von O…. (1808) ist, das hier konsequent als Charakteristikum der falleinleitenden Initialerzählungen begegnet. Als den Erzählfluss auch optisch unterbrechendes Zeichen fragmentiert Kleists Gedankenstrich, an offensichtlich anstößiger Stelle: »Hier – traf er, da bald darauf ihre erschrockenen Frauen erschienen, Anstalten, einen Arzt zu rufen«107, den Textkörper. Gleichzeitig durch- wie unterstreichend, verhüllend wie exponierend birgt er in einem sehr konkreten Sinn die Lösung des Rätsels der ungewussten Schwangerschaft der Marquise. Er zeigt ihren erzähllogischen Ort an und hält ihn frei für die spätere Aufklärung, in deren Verlauf er schließlich durch die verlorene Erzählung der Vergewaltigung ersetzbar wird. In äquivalenter Weise sind auch die Fallschilderungen der Holmes-Erzählungen von solchen (wenn auch meist nicht tatsächlich vorhandenen, so doch ihrer Funktionsweise nach zu ergänzenden) Gedankenstrichen durchzogen. Sie sind gekennzeichnet durch blinde Stellen, durch fehlende Glieder in der Kette der Ereignisse, durch erzählerische Abgründe, die es zu überbrücken oder aufzuschütten gilt. Wenn Holmes also einen seiner Fälle bearbeitet, klärt er der durch die narrativ defizitären Initialerzählungen vorgegebenen Auftragslage entsprechend nicht eigentlich ein Verbrechen auf. Er stellt logische Verkettungen zwischen vorher disparaten Elementen her, er stiftet den »Zusammenhang des Mannigfaltigen«108, 105 Zur Abhängigkeit des Konzepts der Narrativität von dem des Plots, der in einer Erzählung gebotenen Handlungssequenz vgl. Pier 2008 (mit einer differenzierten Diskussion des Verhältnisses von Kausalität und Chronologie), Hühn 2009 (mit Bezug auf die Konzepte von ›event‹ und ›eventfulness‹), Abbott 2009, 313 und 315f. sowie Schmeling, Manfred / Walstra, Kerst (1997): Erzählung1. In: RLW (Band 1). Berlin, 517–19, hier: 517. 106 Doyle 2009, 326 (»The Adventure of the Copper Beeches«). 107 Kleist 1990, 145 (»Die Marquise von O…«). 108 Kracauer 1925, 122.
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bildet aus den zunächst unlesbaren Bestandteilen eines fragmentierten (Verbrechens-)Textes eine sinnhafte Narration. Erfolgreich ist der Detektiv erst dann, wenn er die rätselhafte, weil unvollständige Erzählung des Anfangs am Ende in eine funktionierende Erzählung überführt hat. Diese beiden Narrationen, in deren Rahmen sich die Doyleschen Texte entfalten, sind in der Regel so geschickt in den Erzählverlauf verwoben, dass sie nicht mehr in aller Deutlichkeit sichtbar bleiben. Es ist deshalb eigentlich ein Glücksfall, dass Doyles erzählerisches Konzept in den ersten Holmes-Erzählungen noch nicht ganz ausgereift scheint. Zum einen experimentiert er sowohl in A Study in Scarlet (1887) als auch in The Sign of Four (1890) noch mit der Langform der Erzählungen, die er später zu Gunsten der seinen Erfolg begründenden Kurzform verwirft und dann nur noch gelegentlich, wie etwa für The Hound of the Baskervilles (1902), wiederbelebt. Zum anderen tritt in der etwas ungelenken Machart der Texte auch das für sie typische Bauprinzip von fragmentierter Anfangs- und auflösender Schlussnarration überaus deutlich hervor. In The Sign of Four kann man das beispielsweise bereits an den Kapitelüberschriften ablesen, die den Text zwischen zwei einander ablösenden Geschichten, der einführenden ›Story of the Bald-headed Man‹ als viertem und der abschließenden ›Strange Story of Jonathan Small‹ als letztem Kapitel, verorten. Noch unübersehbarer ist dieses Arrangement in A Study in Scarlet, denn hier liegen die beiden Narrationen in zwei nicht nur äußerlich voneinander getrennten Teilen der Erzählung vor.109 Der erste Teil des Textes stellt sich gleich zu Beginn als »reprint from the reminiscences of John H. Watson, M.D., Late of the Army Medical Department«110, also als autobiografischer Auszug aus Watsons Memoiren vor. Er schildert die erste Begegnung des gerade verwundet aus Af109 Vielleicht muss man für A Study in Scarlet dabei weniger von schriftstellerischen Anfangsschwierigkeiten ausgehen als vielmehr von Orientierungseffekten. Ein beinahe identisches Erzählarrangment zeichnet nämlich schon Émile Gaboriaus ebenfalls in Langform verfasste Detektiverzählung Monsieur Lecoq von 1869 aus. Auch hier folgt auf den ersten Teil der Erzählung (›L’enquête‹) ein aus erzähllogischer Sicht zunächst nicht begründbarer Bruch: Der zweite Teil des Textes, der mit ›L’honneur du nom‹ überschrieben ist, unterbricht die laufenden Ermittlungen Lecoqs und sein passioniertes Versprechen, er werde das Geheimnis des Tatverdächtigen schon noch lüften – »Mais je le tiendrai le jour où j’aurai pénétré son secret« (Gaboriau 1987 [Bd. 1] , 249) –, für eine bis in das Jahr 1815 zurückreichende Familiengeschichte, die beinahe den gesamten verbleibenden Textkörper ausmacht. Erst ganz zum Schluss mündet diese Schilderung in die Anfangsszene der Erzählung ein und weist sich so als Vorgeschichte und damit Erklärung des zur Untersuchung stehenden Verbrechens aus, als von Lecoq zu Recht an dieser Stelle angekündigte Lösung des Rätsels (›secret‹). Angesichts der offenkundigen technischen Ähnlichkeiten zwischen den Erzählungen Doyles und Gaboriaus ist es durchaus denkbar, dass Doyle, der die LecoqErzählungen Gaboriaus ausdrücklich als literarische Vorbilder seiner Detektiverzählungen benannt hat, für seinen Erstling A Study in Scarlet zunächst ein bereits erprobtes Erzählarrangement übernommen hat, um es dann später weiterzuentwickeln. 110 Doyle 2009, 15 (»A Study in Scarlet«).
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ghanistan zurückgekehrten Militärarztes mit dem exzentrisch auftretenden Holmes, den Einzug der späteren Freunde in das berühmte Appartment No. 221B, Baker Street und natürlich auch ihren ersten Fall. Zu lösen sind die rätselhaften Morde an einem Amerikaner und seinem Sekretär, einer davon offenbar durch die Verabreichung von Gift, der andere mit einem Messer verübt. An beiden Tatorten finden die offziellen Ermittler von Scotland Yard das jeweils mit Blut an die Wand geschriebene deutsche Wort ›Rache‹, man ist allgemein eher ratlos und bittet daher Sherlock Holmes um Unterstützung. Dessen Ermittlungserfolge, die der Detektiv entsprechend seiner Gewohnheit freilich stets nur andeutet, nie aber expliziert, führen am Ende des ersten Teils denn auch zur recht unvermittelten und überraschenden Ergreifung des Täters – Holmes kommentiert selbstzufrieden: »And now, gentlemen […] we have reached the end of our little mystery. You are very welcome to put any questions that you like to me now, and there is no danger that I will refuse to answer them«111. Diese vollmundige Ankündigung, die den ersten Teil der Erzählung abrupt beendet und von der sich auch der verblüffte Leser einige Aufklärung versprechen kann, wird aber zunächst überhaupt nicht eingelöst. Der zweite Teil nämlich scheint mit einer völlig anderen Geschichte ganz neu einzusetzen. Schauplatz der mit ›The Country of the Saints‹ übertitelten Schilderung ist plötzlich eine Wüste in Nordamerika, in der die neuen Protagonisten, ein Mann und ein kleines Mädchen, ums Überleben kämpfen; der bislang durch die Memoiren-Fiktion bedingte Ich-Erzähler weicht einer auktorialen Erzählsituation: Am Übergang der beiden Textteile steht damit ein harscher und fürs Erste auch nicht zu erklärender Bruch in der erzählerischen Ordnung. Durch geschickt in den Text eingestreute Namen wie beispielsweise diejenigen der beiden späteren Mordopfer wird aber schnell klar, dass es sich hier um die Vorgeschichte der Morde handeln muss, deren Personal mit dem Auftritt des späteren Täters dann auch komplettiert wird. Nach fünf Kapiteln mündet diese Geschichte von religiösem Fanatismus, Machtmissbrauch, Verbrechen und Ungerechtigkeit, die die ursprünglichen Morde in einem neuen Licht erscheinen lässt, wieder in die anfängliche Erzählsituation des ersten Textteils, also den Auszug aus Watsons Memoiren. Erst jetzt erhält der Täter Gelegenheit, im Rahmen eines Geständnisses sein Vorgehen bei beiden Morden ausführlich zu erläutern; erst jetzt löst abschließend auch Holmes sein Versprechen ein, die Kette seiner Deduktionen, den Aufklärungsprozess transparent zu machen. Während der erste Teil von A Study in Scarlet also die unvollständigen Narrationen zweier Verbrechen sowie die von Holmes nur bruchstückhaft mitgeteilte Narration seiner Fallaufklärung zeigt, setzt der zweite Textteil diese fragmentierten Erzählungen systematisch in komplettierte um, indem er sie zu vollständigen und vollgütigen Narrationen 111 Ebd, 51.
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ergänzt: Ein auktorialer Erzähler holt die umfassende Vorgeschichte, der Täter die eigentliche Geschichte der beiden Morde ein, Sherlock Holmes reicht die Erzählung der Detektion nach. Das auffällige Auseinanderfallen des Textganzen in zwei zwar formal distinkte, funktional aber dennoch eng miteinander verbundene Teile, durch das sich A Study in Scarlet auszeichnet, zeigt noch einmal in größtmöglicher Deutlichkeit: Weil die Dysfunktionalität der Erzählung, die am rätselhaften Anfang der Detektiverzählung steht, nicht sachlicher, sondern narrativer Natur ist, kann sie auch nur im Medium einer weiteren, sie vervollständigenden Erzählung aufgelöst werden. Sich auf die Suche nach dieser in der Anfangserzählung bereits verborgenen, aber noch verlorenen zweiten Erzählung zu machen, sie schlussendlich mitzuteilen, ist die eigentliche Aufgabe, das eigentliche Verlangen des Detektivs.112 Diese explizit als narratives Unternehmen akzentuierte Suche kann sogar Holmes’ viel besprochene ›science of deduction‹ zur bloßen Randnotiz geraten lassen – etwa wenn er in The Adventure of the Veiled Lodger (1927), statt ermittelnd und deduzierend tätig zu werden, als eine Art Beichtvater die auflösende Erzählung eines verjährten Mordes lediglich entgegennimmt – und sie bleibt auch das letzte Wort der Erzählungen um den Detektiv: »You can file it in our archives, Watson. Some day the true story may be told«113 bemerkt Holmes zum Abschluss seines letzten Falls The Adventure of the Retired Colourman (1926/27). Ein solches Ensemble von verlorener und wiedergefundener Erzählung, von fragmentiertem und vervollständigtem Narrativ, von der detektivischen Suche nach dem noch nicht sichtbaren Plot ist indes keine Spezialität Arthur Conan Doyles, wie die bisherige Textauswahl vielleicht vermuten lassen könnte. Unverkennbar liegt es auch anderen Texten zu Grunde, die dem detektivischen Erzählen zweifelsfrei zugeordnet werden, darunter insbesondere solchen, die neben A Study in Scarlet wiederholt als Ursprungstexte dieses Erzählens diskutiert worden sind.
112 Hühn 1987, 239. 113 Doyle 2009, 1122 (»The Adventure of the Retired Colourman«). Explizit anders gelagert ist Holmes’ Fall in A Scandal in Bohemia (1891). Hier geht es, wie auch schon in Poes The Purloined Letter, nicht eigentlich um die Suche nach einem verlorenen Narrativ, sondern um das ganz konkrete Beschaffen eines Dokuments, in diesem Fall einer kompromittierenden Fotografie. Watson kommentiert »[T]he nature of the case […] gave it a character of its own« (ebd, 167) und erklärt zugleich, der Reiz dieses Falles bestünde, damit durchaus in Abweichung von seinen übrigen Fallschilderungen, im Nachvollzug von Holmes’ Vorgehen selbst. Ein etwaiges Abrücken von der sonst im Vordergrund stehenden Suche nach der verlorenen Narration wird in Doyles Erzählungen also explizit als solches ausgewiesen und damit als Ausnahme markiert.
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So führt beispielsweise in Edgar Allan Poes The Murders in the Rue Morgue (1841), in Analogie zu den Initialerzählungen der Klienten bei Doyle, gerade ein Zeitungsartikel in den ersten Fall des Auguste Dupin ein. Dieser enthält neben einem Bericht über »this horrible mystery«114, den Doppelmord an einer Mutter und ihrer Tochter, auch eine Zusammenstellung aller verfügbaren und einander teils widersprechenden Zeugenaussagen, macht also den Umgang mit nicht ineinander aufgehenden Erzählungen zum Ausgangspunkt der detektivischen Ermittlungen. Diese Technik rückt bei Dupins zweitem Auftritt in The Mystery of Marie Rogêt (1842/43) dann auf sehr pointierte Weise in den Mittelpunkt der Erzählung. Der Detektiv und sein Partner erfahren hier nämlich erst drei Wochen nach dem Fund der Leiche überhaupt von dem Mord an einer jungen Frau, eine minutiöse Untersuchung des Tat- bzw. Fundortes, wie sie noch in The Murders in the Rue Morgue zentrales Mittel der Aufklärung war, ist nicht mehr möglich. Statt mit greifbaren materiellen Spuren arbeitet Dupin daher mit einem »full report of all the evidence elicited«, den ihm die ermittelnden Behörden zur Verfügung stellen, und »a copy of every paper in which, from first to last, had been published any decisive information in regard to this sad affair«115. Dupins Vorgehen basiert damit ausschließlich auf einer Harmonisierung von verschiedenen Fallberichten, der Detektiv extrahiert die Lösung des Rätsels aus dem gegeneinander abzuwägenden Material ihm vorliegender Erzählungen. In The Purloined Letter (1844) schließlich, Dupins drittem und letztem Fall, richtet sich das Interesse von Poes Detektiv ganz ausdrücklich weder auf einen Täter noch auf einen Tathergang, die beide bereits zu Beginn der Erzählung bekannt sind. Vielmehr wird er ausschließlich engagiert, um sich auf die Suche zu begeben, auf die Suche nach dem entwendeten Brief des Titels und das heißt bei genauem Hinsehen: auf die Suche nach einem verlorengegangenen Text. Neben Edgar Allan Poes Dupin-Erzählungen ist auch E.T.A. Hoffmanns Novelle Das Fräulein von Scuderi (1819) an den Beginn des Gattungsstammbaums der Detektiverzählung gesetzt worden.116 Die Wahl ist nicht unumstritten, vor allem weil die Scuderi, eine »historisch verfrühte Detektivin«117, weder als solche in den Text eingeführt wird noch ihr eher abwartendes Verhalten dieser Rolle gerecht zu werden scheint. Es ist nun aber gerade ihre die Gattungszuordnung scheinbar so erschwerende, tatsächliche Tätigkeit, die im Zusammenhang der bisherigen Beobachtungen aufschlussreich ist: Die Scuderi ist, ihrem historischen Vorbild Madeleine de Scudery gemäß, nämlich gerade Schriftstellerin. Das aber macht ihren Umgang mit den zahlreichen (Verbrechens-)Erzählungen, die als 114 115 116 117
Poe 1994, 127 (»The Murders in the Rue Morgue«). Ebd, 204f. (»The Mystery of Marie Rogêt«). So etwa von Alewyn 1982, 351ff. und Katritzky 2004. Kittler 1991, 214.
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Flugblätter, Beichten und Suppliken den Text durchziehen, zu einem äußerst professionellen und sie selbst beinahe prädestiniert dazu, die den Fall und damit auch die Novelle abschließende ›Detektivgeschichte der ersten Detektivgeschichte‹ (Kittler) zusammenzufügen und zu erzählen. Die Scuderi mag demnach zwar keine Detektivin im Sinne ihrer bekannten literarischen Nachfolger sein. Ihre Tätigkeit als Dichterin und Schriftstellerin zeigt aber sehr genau an, was die Figur des Detektivs im Kern auszeichnet: ihre Fähigkeit, verborgene Geschichten aufzuspüren, sie herzustellen und zu erzählen.118 Um zusammenfassend und wie angekündigt noch einmal auf Blochs anfangs zitiertes Diktum zurückzukommen: Nicht jede Detektiverzählung fällt mit einer wörtlich zu nehmenden Leiche, also mit einem offenkundigen Verbrechen ins Haus. Alle aber nehmen ihren Ausgang bei einer Leiche im übertragenen Sinn, nämlich bei einem Fall (›case‹), einem Problem (›problem‹), einem Geheimnis oder Rätsel (›mystery‹). Dieses Rätsel, das als ›mystery‹ oder ›mystère‹ nicht umsonst als Bestandteil einiger geläufiger Bezeichnungen für die Gattung fungiert, ist der Zentralbegriff der Detektiverzählung, um den sich ihre Erzählhandlung gruppiert. Gegenstand des detektivischen Rätsels sind nun aber, das hat der Blick auf einige prominente Beispiele gezeigt, nicht oder doch nur vordergründig der zu ergreifende Täter oder das aufzuklärende Verbrechen. Das für die Gattung spezifische Problem, das ihr wesentliche ›mystery‹ ist eine erzählerische Irritation, eine »narrative illness«119, ausgelöst durch eine verlorene Erzählung, einen nicht herstellbaren Plot, ein fehlendes Stück Narration, nach dem sich die Detektiverzählung auf die Suche begibt: »I am looking for a word […]. A word that isn’t there«120 bemerkt G.K. Chestertons Father Brown in The Sign of the Broken Sword (1911) auf die Frage, wonach er diesmal auf der Jagd sei. Folgerichtig lässt sich auch das im anglophonen Sprachraum zur kolloquialen 118 Zum Detektiv als »storyteller« vgl. Champigny 1977 (hier: 46). 119 Ebd, 139. 120 Chesterton 2005 [Bd. 12], 207 (»The Sign of the Broken Sword«). Chesterton hat sich auch außerhalb seiner bekannten Father Brown-Erzählungen mit dieser thematischen Konstellation auseinandergesetzt, so etwa in einer Serie von geistreichen und humorvollen QuasiDetektiverzählungen ante Father Brown mit dem Titel The Club of Queer Trades (1904). Darin entpuppt sich der ›queer trade‹, das eigenartige Geschäftsmodell jedes Clubmitglieds, das in einer Erzählung jeweils im Vordergrund steht, als Erklärung für die rätselhaften Ereignisse, die dem Ich-Erzähler entweder berichtet werden oder ihm selbst zustoßen. In der ersten dieser Erzählungen, The Tremendous Adventures of Major Brown (Chesterton 1991, 52–82), bildet nun ausgerechnet eine Geschichte im ganz wörtlichen Sinn die Lösung des anfänglichen Rätsels. Denn Major Brown wird durch ein Missverständnis unfreiwilliger Protagonist einer tatsächlich stattfindenden Abenteuererzählung, die eine darauf spezialisierte Agentur auf Bestellung für einen anderen Kunden maßgeschneidert inszeniert hatte und die dem Major nur Rätsel aufgibt, weil es nicht seine eigene ist: »Thus you were suddenly hurled into the middle of another man’s story« (ebd, 79).
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Gattungsbezeichnung geronnene ›whodunit‹ nicht eigentlich als zentrale Fragestellung der Detektiverzählung identifizieren. Eher liegt sie mit Blick auf den narrativ grundierten Gehalt des detektivischen Rätsels im ›what has happened‹ der verlorenen Erzählung, noch präziser und dem spezifischen Erzählmuster der Gattung angemessener aber in ihrem ›what will have happened‹.
1.2.2 Wie sie erzählt: Die Detektiverzählung als Aition Die von Robert Champigny geprägte Formel des ›what will have happened‹, die die detektivische Suche nach der verlorenen Erzählung in den selten betretenen Bereich des Futur II verlegt, mag zunächst umständlich, pedantisch, ja überflüssig erscheinen. Gerade durch ihr grammatisches Zwitterdasein zwischen Futur und Perfekt, Zukunfts- und Vergangenheitsform beleuchtet sie aber die sehr eigene Art des Erzählens, die das für die Gattung typische Narrativ auszeichnet. Was damit genau gemeint ist, lässt sich vielleicht am einfachsten an Hand einer weiteren Sherlock-Holmes-Erzählung illustrieren. In The Adventure of the Three Gables (1926/27) bearbeitet der Detektiv einen Einbruch, bei dem seiner Klientin lediglich ein von ihrem kürzlich verstorbenen Sohn verfasstes Manuskript gestohlen wurde. Die einzige Seite dieses Manuskripts, die sie retten konnte, zeigt einen Text, der »in the middle of a sentence« beginnt und »the end some queer novel« zu sein scheint, wie der ermittelnde Inspektor abfällig bemerkt, »certainly […] the end of a queer tale«121, wie Holmes selbst hintersinnig formuliert. Die Lösung des Rätsels besteht natürlich darin, den Anfang der auf dem Manuskript festgehaltenen (und für eine gewisse Dame der Gesellschaft kompromittierenden) Geschichte wiederherzustellen, um so an die Vorgeschichte und damit die Erklärung des Verbrechens zu gelangen. Die Besonderheit der Erzählung liegt nun nicht allein darin, dass ein zunächst fragmentierter und dann komplettierter Text von so zentraler Bedeutung für die Falllösung ist. Entscheidender ist die enge Verbindung, die zwischen der kleinen Erzählung im Text und der übergeordneten Erzählung des Textes hergestellt wird. So wie diese »in the middle of a sentence«, also unvermittelt beginnt, versichert auch Watson zu Beginn seiner Erzählung: »I don’t think that any of my adventures with Mr. Sherlock Holmes opened quite so abruptly […], as that which I associate with The Three Gables«122; sobald das Manuskript (zumindest virtuell, denn das eigentliche Schriftstück wurde verbrannt) vervollständigt, als Ganzes wiederhergestellt und in diesem Sinn abgeschlossen ist, kommt auch Watsons
121 Alle: Doyle 2009, 1030 (»The Adventure of the Three Gables«). 122 Ebd, 1023 (meine Hervorhebung).
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Erzählung mit der Lösung des Rätsels an ihr Ende – oder besser gesagt: an ihren Anfang. Denn wie dem Schriftstück im Text fehlt auch der Detektiverzählung eigentlich ein Anfang, ein Ursprung. Insofern das sie konstituierende Ereignis oder dessen Ursachen in der Regel »im Rücken der Geschichte«123 liegen, zu Anfang der Erzählung bereits vergangen sind, beginnt auch das detektivische Erzählen »in the middle of a sentence«, gewissermaßen als Ende einer Geschichte, nämlich der des Verbrechens. Die verlorene Erzählung, nach der sich die Detektiverzählung auf die Suche begibt, ist damit nicht einfach die (Vor-)Geschichte eines beliebigen Rechtsbruchs, sondern gleichzeitig auch ihr eigener Erzählanfang. Der Text einer Detektiverzählung bewegt sich unter diesen Umständen also, indem er sich weitererzählt, stetig zurück, auf seinen Anfang hin. Anders formuliert: Die handlungslogische Vergangenheit eines solchen Textes liegt in seiner Erzählzukunft, ist also eigentlich eine Zukunft zweiten Grades, eben das narratologische Futur II, das Champigny mit der Formel des ›what will have happened‹ umschreibt. Die Detektiverzählung kann erst an ihrem Ende erkennen, was an ihrem Anfang stehen muss; sie wird beschlossen, womit sie eigentlich beginnt. Der logische Anfang und das tatsächliche Ende ihrer Erzählbewegung fallen so in eins. Mit diesem Erzählen, das systematisch seinen eigenen Anfang einholt, ähnelt die Detektiverzählung in auffallender Weise einer anderen, um vieles älteren Erzählform, dem antiken Ursprungsmythos nämlich, dem Aition. Schon seinem Namen nach ist das aitiologische Erzählen ein Erzählen vom Anfang, ausgerichtet auf die »Erklärung des αιτιον, d. h. des Ursprungs eines die Gegenwart des Autors oder seines Publikums betreffenden Phänomens«124. Das kann beispielsweise Institutionen, Naturerscheinungen, Kulthandlungen oder Riten umfassen. Entscheidend ist dabei, dass diese Erklärung »durch eine in einer der Jetztzeit vorangehenden Vergangenheit angesiedelte […] Handlung«125 geleistet wird. Aitiologische Erzählungen bemühen sich also darum, »einen kausalen Zusammenhang zwischen Vergangenheit und Gegenwart herzustellen«126: Das Aition erklärt, indem es den in der (mythischen) Vergangenheit liegenden Ursprung des in Frage stehenden ›aktuellen‹ Phänomens aufsucht und ihn qua kausalem Nexus mit diesem in Verbindung setzt. Als Antwort auf die aitiologische Frage127, von der es seinen Ausgang nimmt, bietet es eine Erzählung, an 123 Bloch 1960, 41. 124 Fantuzzi, Marco / Wittke, Anna-Maria (1996): Aitiologie. In: Der neue Pauly (Band 1). Stuttgart, Weimar, 369–71, hier: 369. 125 Graf, Fritz (2000): Mythos. In: Der neue Pauly (Band 8). Stuttgart, Weimar, 633–35, hier: 634. 126 Fantuzzi / Wittke 1996, 369. 127 Bei einer Durchsicht der leider nur fragmentarisch erhaltenen Aitia des hellenistischen Dichters Kallimachos beispielsweise stößt man auf einige solcher aitiologischen Fragen, die
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deren Ende schließlich eben das Phänomen steht, das es zu Beginn zu erklären galt. Auch das Aition erzählt sich so eigentlich wieder an seinen Anfang zurück. Das Aition ist in einschlägigen Lexika nun aber nicht nur im Sinne eines Erzählens vom Ursprung vermerkt. Das Lexikon der Alten Welt etwa verweist auf die zunächst juristische Bedeutung des Begriffs, der dann im Sinne einer Zuweisung von Handlungsverantwortlichkeit bzw. Schuld verwendet wird.128 Als Aitiologie taucht er im Neuen Pauly wiederum unter dem Lemma ›Kausalität‹ auf, mithin also als philosophischer Grundbegriff für die »Erklärung eines Ereignisses«129 im Sinne einer kausalen Verkettung von Ursache und Wirkung. Im vielschichtigen Begriff des Aition begegnen sich Ursprung, Ursache, kausaler Nexus und Schuld. In ihm fällt damit zusammen, was auch die Detektiverzählung und ihr Erzählziel auszeichnet: die Erklärung eines Phänomens, die Enthüllung seiner Ursachen bzw. seines Anfangs, seine kausallogische Fundierung in einem Handlungszusammenhang bzw. Plot und das Zuweisen von Schuld. Die Detektiverzählung gibt sich so nicht allein im Rahmen ihrer spezifischen Erzählweise als aitiologisch zu erkennen. Sie begegnet dem Aition auch auf der Ebene dessen, wovon sie erzählt. Dabei lässt sich das terminologische Spiel durchaus noch weiter fortsetzen: Insofern der Korrespondenzbegriff des philosophischen ›aition‹ (Ursache) im Lateinischen nämlich ausgerechnet ›causa‹ ist, gerät der rätselhafte Fall, den die Detektiverzählung zur Lösung ausschreibt, als kriminalistische Causa zumindest begrifflich selbst immer schon zum Aition.
1.2.2.1 Labyrinth, Palimpsest, Kreis Es ist vor diesem Hintergrund vielleicht kein Zufall, dass Detektiverzählungen als »kleine[…] Mythen« apostrophiert worden sind, »mittels derer wir unser Bedürfnis nach guter Ordnung stillen«130, und dass die Gattung häufig gerade mit mythischen Stoffen in Verbindung gebracht worden ist. Das betrifft natürlich an erster Stelle den (in der Übereinstimmung von Detektiv und Mörder bereits sich in der Regel auf religiöse Bräuche beziehen: »…why did it please the Parians to sacrifice (to the Graces) without flutes and garlands…?« (11) – »And, O Goddesses, how is it that a man of Anaphe sacrifices (to Apollo) with shameful (words), and the city of Lindus with blasphemy…pays honour to Heracles?« (13) – »Why does Haliartus, the Cadmean City, celebrate the Theodaesia, a Cretan festival, by the waters of Cissousa?« (37) – »Why is it the tradition of your country to worship Peleus, king of the Myrmidons?« (97). Vgl. Callimachus: Aetia, Iambi, Lyric Poems, Hecale, Minor Epic and Elegiac Poems and Other Fragments. Herausgegeben, übersetzt und kommentiert von Constantine A. Trypanis. Cambridge (Mass.) 1975. 128 Mansion, S. (1965): Aitia. In: Lexikon der Alten Welt. Zürich, Stuttgart, 86–87, hier: 86. 129 Detel, Wolfgang (1999): Kausalität. In: Der neue Pauly (Band 6). Stuttgart, Weimar, 365–68, hier: 366. 130 Beide: Knellwolf 2007, 62.
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tragisch gewendeten) Ödipus-Mythos131, vor allem in seiner Verarbeitung durch Sophokles, aber auch den Mythenkomplex um Theseus und den Minotaurus, den John T. Irwin als paradigmatisch für die Gattung begreift und beispielhaft für Poes Dupin-Erzählungen fruchtbar gemacht hat.132 Irwin macht den »original link between this myth and the detective genre«133 im zum geläufigen Repertoire der Detektiverzählung gehörenden Begriff des ›clue‹ aus, der seine figurale Standardbedeutung (›Hinweis‹) eben aus dem Theseus-Mythos beziehe. Denn dort ist es ja das Wollknäuel (›clew‹) der Ariadne, das Theseus, indem er den mitgeführten Faden als Hinweis auf die richtige Richtung verwenden kann, die unbeschadete Rückkehr aus dem tödlichen Labyrinth des Minotaurus ermöglicht. Die spezielle Verbindung des Mythos zu Poes The Murders in the Rue Morgue stellt Irwin dann über einen Strukturvergleich her, nämlich über »the resemblance between the mystery of a locked room and the puzzle of the labyrinth«134. Der ›locked room‹, also ein eigentlich nicht zugänglicher bzw. vom Mörder nach verübter Tat nicht ohne weiteres zu verlassender Raum, bildet das Zentrum des detektivischen Rätsels in Dupins erstem Fall. Das Zimmer in der Rue Morgue, in dem die beiden Frauenleichen gefunden werden, ist von innen verschlossen und auch die Fenster lassen sich (scheinbar) nicht öffnen. Darin ähnele der Tatort laut Irwin dem mythischen Labyrinth, das ja ebenfalls dem Zweck dient, seinen Opfern den Ausweg zu erschweren oder sogar zu verunmöglichen. Darüber hinaus kommentiere das ›locked room mystery‹ in Poes Erzählung aber auch die Labyrinthstruktur der Detektiverzählung an sich, indem es deren strukturelles Hinweis-Puzzle in einem innertextlichen Problem verräumliche: Der Ausgang aus dem verschlossenen Mordzimmer wird zum Ausweg aus dem labyrinthischen Rätsel des Doppelmords; mit der gelingenden Öffnung des abgeriegelten Raumes wird auch der gesamte Fall, das Rätselspiel des Textes auf seine Lösung hin geöffnet. Begreift man die Detektiverzählung nun als aitiologisches Narrativ im obigen Sinn, lassen sich ihre Beziehungen zum Theseus-Mythos über den ›locked room‹ hinaus weiterspinnen. Denn Theseus’ Gang durch das minotaurische Labyrinth ist ja eigentlich ein Rück-Gang, eine Suche nach dem (gleichzeitig als Eingang fungierenden) Ausgang des Labyrinths qua Ariadnefaden, also mit Hilfe eines 131 Vgl. noch einmal Bloch 1960, 39. 132 Irwin 1994, 176ff. Zu denken wäre in Kombination beider Mythologeme auch an Kleists detektivische Komödie Der zerbrochne Krug (1806), die im Motiv des selbst schuldigen Untersuchungsrichters dem Ödipus-Mythos nachgebildet ist und in Übereinstimmung mit dem Minotaurus-Mythologem ein tiermenschliches Mischwesen vorstellt, nämlich den halb pferde-, halb menschenfüßigen Täter (Kleist 1991, 347ff.), der sich schließlich als Richter Adam herausstellt und wie ein Hund am Baum fäkale Überreste bzw. Spuren, »ein Denkmal seiner« (ebd, 350) hinterlässt. 133 Irwin 1994, 176. 134 Ebd, 180.
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Gewebes, eines ›textum‹. Unverkennbar enthält der Mythos damit bereits die Grundkoordinaten des detektivischen Erzählens: die an Hand der Suche nach einem Text, einer Erzählung vollzogene Rückkehr in den eigenen Erzählbeginn. Auch dieser Zusammenhang lässt sich an den bereits ins Spiel gebrachten möglichen Ursprungstexten der Gattung ablesen. Sie explizieren nicht nur, wie zuvor gezeigt, die Suche nach der verlorenen (Verbrechens-)Erzählung als eigentliches Thema der Detektiverzählung, sondern demonstrieren darüber hinaus die Nähe der für sie spezifischen Erzählweise zum Faden- und Labyrinthmotiv des Theseus-Mythos.135 Poes The Murders in the Rue Morgue (1841) etwa steht schon im Zeichen der mythisch unterlegten Rückverfolgung eines Gewebes, bevor der eigentliche Fall überhaupt beginnt. Das der Erzählung vorangestellte Motto – »What song the Sirens sang, or what name Achilles assumed when he hid himself among women, although puzzling questions, are not beyond all conjecture«136 – verortet gleich zu
135 Zum Potenzial des Labyrinths als Erzählmodell vgl. u. a. Schmeling 1987 und SchmitzEmans 2000. Manfred Schmeling entwickelt in seiner ausführlichen Studie ausgehend vom mythischen Grundmaterial des kretischen Sagenkreises um Theseus und Daedalus das Konzept eines genuin labyrinthischen Erzählens, dessen Anfänge er im 20. Jahrhundert, etwa bei Franz Kafka und James Joyce, verortet. Das Labyrinth fungiert hier innerhalb eines Erzähltextes nicht mehr nur als Motiv oder Thema, sondern als seine diskursive Gestalt, als »labyrinthische Architektur« (47) eines solchen Textes. Dabei betont Schmeling vor allem den chaogenen Charakter des labyrinthischen Erzählens, seinen prekären Status als »ein in narrative Form umgesetztes Krisenbewußtsein« (281), das klassische Erzählkonventionen auflöst und durch prinzipiell doppelbödige, hochgradig selbstreflexive narrative Arrangements ersetzt. Ein spezielleres (und in seinen Ursprüngen deutlich weiter zurückreichendes) Textkorpus untersucht Monika Schmitz-Emans. Im Zentrum ihres Interesses stehen Texte, die sich in der Anordnung ihrer Bestandteile als visuelle Labyrinthe ausweisen, wie etwa (vorwiegend lyrische) Buchstaben- und Wortlabyrinthe oder auch das moderne Genre der Labyrinth-Bücher. Nur der Vollständigkeit halber erwähnt Schmitz-Emans daneben noch zwei andere Möglichkeiten von Text-Labyrinth-Beziehungen: Texte, die von Labyrinthen sprechen, und Texte, die »hinsichtlich ihres Inhalts ›labyrinthisch‹ wirken« (137), deren Handlungsstränge also beispielsweise komplex ineinander verflochten sind. Als Beispiel für letztere Spielart verweist Schmitz-Emans auch auf »Affinitäten […] zwischen der LabyrinthKonzeption und der Gattung des Detektivromans, in welchem ein ›Gewirr‹ von Ereignissen und Indizien ein zentrales ›Rätsel‹ zu umgeben pflegt wie den Minotaurus das Gewirr labyrinthischer Gänge« (138). Aufschlussreicher als diese stark motivisch orientierte Einordnung des detektivischen Erzählens in den Labyrinthkontext ist allerdings SchmitzEmans’ Konzeption des Labyrinth-Buchs. Gerne markiere ein Text seinen eigenen labyrinthischen Anspruch, seinen Status als Labyrinth-Buch nämlich durch »Strategien der (angeblichen oder tatsächlichen) Verschiebung, Verlegung oder gar Verbergung konventioneller Textteile, inbesondere des Anfangs der mitgeteilten Geschichte« (149). Im Sinne der hier entwickelten Definition des detektivischen Erzählens wiese sich dann auch die Detektiverzählung in gewisser Weise als Labyrinth-Buch aus. 136 Poe 1994, 118 (»The Murders in the Rue Morgue«). Der Bezug auf die Sirenen und Achill mag nicht zufällig sein, verweisen erstere doch auf die entsprechende Episode in der Odyssee, letzterer wiederum auf den Erzählraum der Ilias, mithin also auf die beiden großen Homer
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Beginn die zunächst im Zentrum des Textes stehende Fähigkeit zur Konjektur bzw. Analyse in einem explizit mythenbezogenen Zusammenhang. Kurz darauf wird diese Fähigkeit als »moral activity which disentangles«137 präzisiert und so mit einer an das Bild des ›clew‹ (tangle – Verwicklung, Knäuel) angelehnten textilen Signatur versehen, die auch sofort auf Dupin übertragen wird. Denn der Detektiv als exemplarischer Träger einer solchen analytischen Befähigung scheint in beständigem Umgang mit Texten jeglicher Art zu stehen: Sein erstes zufälliges Zusammentreffen mit dem Ich-Erzähler findet in einer Bibliothek statt, in der beide auf der Suche nach demselben »very rare and very remarkable volume«138 sind; Bücher überhaupt sind die »sole luxuries«139 des verarmten Dupin, der auf beinahe alles andere verzichtet; in ihrer gemeinsamen Wohnung verbringen Dupin und der Ich-Erzähler ihre Zeit tagsüber mit »reading, writing, or conversing«140, mithin also mit der Rezeption und (schriftlichen wie mündlichen) Produktion von Texten, bevor sie nach Sonnenuntergang in die Stadt aufbrechen, um sich in der Manier nächtlicher Flaneure der »quiet observation«141 zu widmen. Auf einem dieser Spaziergänge liefert Dupin denn auch die finale Probe seines eigentümlichen Könnens, indem er die Gedanken seines Begleiters zu lesen scheint. Nach einer Erklärung hierfür befragt beschreibt der Detektiv seine Methode als das Zurückverfolgen (»retrace«) einer Reihe scheinbar unbedeutender Vorkommnisse (»links of the chain«), die ihm die Rekonstruktion der Gedankengänge des Ich-Erzählers »from the moment in which I spoke to you until that of the rencontre with the fruiterer in question«142, mithin also als Bewegung von End- zu Ausgangspunkt, ermöglicht. Im Rahmen des eigentlichen Mordfalls kommt es dann zu einer Reprise all dieser Elemente – mythische Grundierung, textiles bzw. ›textum‹-bezogenes Begriffsfeld und analytische Rückwärtsbewegung –, für deren Kombination die Einleitung der Erzählung den Blick bereits geschärft hat. In dem Zeitungsartikel, der Dupin mit dem Fall bekannt macht, fällt der textile Begriff des ›clue‹ gleich zweimal: »To this horrible mystery there is not as yet, we believe, the slightest clue« und »There is not, however, the shadow of a clue apparent«143. Hinweise findet Dupin bei seiner Untersuchung des Tatorts dann aber doch, nämlich ein »tuft of tawny hair«144 und »a small piece of ribbon«145 sowie einen zerbrochenen
137 138 139 140 141 142 143 144
zugeschriebenen epischen Mythenerzählungen, die neben den entsprechenden Werken Hesiods grundlegend für unser Verständnis des antiken Mythos sind. Ebd. Ebd, 121. Ebd. Ebd, 122. Ebd. Alle: Ebd, 124. Ebd, 127 und 132. Ebd, 146 (meine Hervorhebung).
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Fensternagel und die deutlichen Abdrücke von »finger-nails«146 auf dem Hals einer der beiden Leichen. Irwin hat darauf hingewiesen, dass all diese Indizien, die schlussendlich zur Falllösung beitragen, auf raffinierte Weise mit dem ›clue‹ im Sinne des Theseusmythos verbunden sind. Für ›tuft‹ (Büschel, Flor) und ›ribbon‹ (Band, Schleife) ergibt sich der textile Kontext bereits aus der Wortbedeutung: der Hinweis als Faden oder Knäuel, der ›clue‹ als (Ariadne-)›clew‹. Für Finger- und Fensternagel ist der Zusammenhang weniger offensichtlich gestaltet. Hierfür muss man nämlich im Blick behalten, dass die Erzählhandlung in Paris spielt und Dupin Franzose ist, er in Bezug auf den Nagel also eigentlich auf französisch von einem ›clou‹ spricht: der Hinweis als Nagel, der ›clue‹ als (homophoner) ›clou‹. Diese textilen Hinweise des Tatorts, die sich äußerst dicht um das Begriffsfeld aus ›clue‹, ›clew‹ und ›clou‹ gruppieren147, fungieren als einzelne Fasern des labyrinthischen Verbrechensgewebes, die Dupin schließlich zum Täter, einem Affen, und dessen Besitzer, einem Seemann, führen. Letzteren stellt der Detektiv übrigens wiederum in einem verschlossenen Raum zur Rede und reproduziert damit am Ende der Erzählung deren Ausgangssituation auch räumlich als zweiten ›locked room‹. Das Prinzip einer solchen systematischen Rückkehr an den Anfang macht Dupin auch dann explizit, wenn er seine Methode wie auch schon zu Beginn der Erzählung erneut mit dem Bild des »link of the chain« in Verbindung bringt und sie darüber hinaus mit der Formel »to think […] a posteriori«148 und damit als ein Denken vom Ende her umreißt. Dupins Vorgehen lässt sich so kennzeichnen als Orientierung an Hinweisfäden, die insgesamt einen Weg zurück an ihren Anfang beschreiben. Auf die offensichtliche Nähe dieses Modells zum Theseus-Mythos weist der Text selbst hin, indem er die tiermenschliche Doppelnatur des mythischen Minotaurus mehrfach spiegelt.149 So wie der Minotaurus als Mischwesen nämlich an einer Trennung von Kopf (Stier) und Körper (Mensch) leidet, zeigt auch die Erzählung zahlreiche diesem Muster verwandte Trennungsvorgänge. So fällt etwa bei der Bergung einer der beiden Leichen deren Kopf beinahe von selbst ab (»the head fell off« und »The head of the deceased […] was entirely separated 145 Ebd, 147. ›Tuft‹ (Büschel, Flor) und ›ribbon‹ verweisen zwar schon rein terminologisch auf das textile Begriffsfeld, sind aber außerdem auch über einen expliziten Wortbezug zur Einleitung der Erzählung (›disentangle‹ – ›tangle‹ – ›clew‹) damit verbunden: »I disentangled [!] this tuft of hair from the rigidly clutched fingers of Madame L’Espanaye« (145). 146 Ebd, 127 und 145. 147 Irwin 1994 fasst diese Konstellation in schöner Prägnanz zusammen: Die Tatsache, dass ausgerechnet ein Nagel die Lösung des ›locked room mystery‹ enthält, sei »simply Poe’s way of giving the reader a linguistic clue (hint) that the clew (thread) will ultimately terminate at a clou (nail)« (196). 148 Poe 1994, 140 und 139 (»The Murders in the Rue Morgue«). 149 Irwin 1994, 197f.
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from the body«150) – ein Vorgang, der sich in ganz ähnlicher Wortwahl (»and the head […] came off in my fingers«151) auch bei der Entdeckung des zerbrochenen Fensternagels wiederholt. Dem minotaurischen Muster ebenfalls verpflichtet ist die frühe Beschreibung Dupins als »Bi-Part Soul«, die den Detektiv als gespaltenen Charakter, als »double Dupin«152 kennzeichnet. Und so wie das dem Text vorangestellte Motto dessen mythischen Untergrund von Anfang an vorgibt, wird die Erzählung auch mit einer entsprechenden Markierung beschlossen, die ein letztes Mal auf die Figur des Minotaurus deutet: mit dem Verweis auf die altrömische Göttin Laverna nämlich, die laut Text »all head and no body«153 ist. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang auch Doyles bereits besprochene Erzählung A Study in Scarlet (1887), die ihr titelgebendes Zentralbild direkt aus dem textilen Motivumfeld des Theseus-Mythos zu beziehen scheint154: »There’s the scarlet thread of murder running through the colourless skein of life, and our duty is to unravel it […]«155. Diesen roten Faden (»scarlet thread«), den der Detektiv entwirren (»unravel«) will und muss, kann aber auch der Leser bereits im Titel der Erzählung aufnehmen und ihm als ›net‹, ›knot‹, ›tissue‹, ›thread‹, ›ribbon‹, ›clue‹ oder ›tangle‹ durch den gesamten Text folgen. Präsent ist das Bild des roten Fadens aber nicht nur begrifflich, sondern vor allem auch farblich. Denn die Erzählung ist auch insofern eine veritable ›Studie in Scharlachrot‹, als sie von dieser Farbe förmlich durchzogen ist: Watson lernt Holmes 150 151 152 153 154
Poe 1994, 127 und 131 (»The Murders in the Rue Morgue«). Ebd, 140. Beide: Ebd, 123. Ebd, 123 und 153. Auch hier lohnt übrigens ein Seitenblick auf die zeitlich zwischen Poe und Doyle zu verortenden Lecoq-Erzählungen Gaboriaus, die in der Regel ebenfalls zu den Ursprungstexten der Gattung gezählt werden. Das Motiv des Leit- bzw. roten Fadens (›fil‹) ist hier ein stets präsenter Begleiter des Erzählens. In L’Affaire Lerouge (1864) werden die beeindruckenden Fähigkeiten des Untersuchungsrichters Daburon in ausschließlich textilen Begrifflichkeiten ausgelobt: »[…] il savait avec une pénétration rare démêler [›entflechten‹] l’écheveau [›Knäuel‹] de l’affaire la plus embrouillée [›verworren‹], et, au milieu de mille fils, saisir le fil conducteur [›Leitfaden‹]« (Gaboriau 1991, 18). In Monsieur Lecoq (1869) wiederum beschließt der gleichnamige Ermittler seine ersten Untersuchungen zufrieden mit der Bemerkung »Nous tenons le fil, il s’agit d’aller jusqu’au bout« (Gaboriau 1987 [Bd. 1], 32). In einem besonders instruktiven Zusammenhang ist das Fadenmotiv in Le Crime d’Orcival (1866) ausgestaltet. Im Verlauf der Erzählung beschreibt Lecoq seine Arbeit folgendermaßen: »Un crime se commet, c’est le prologue. J’arrive, le premier acte commence. […] Bientôt, l’action se corse, le fil de mes inductions me conduit au coupable« (Gaboriau 1985, 130). Drei Aspekte des detektivischen Erzählens – Thema, Narrativ und Strukturbild – treten hier in schöner Prägnanz zusammen: die genuine Verbindung der detektivischen Tätigkeit mit dem Akt des Erzählens, hier im Rahmen des Dramas; das Verbrechen, das als Prolog der eigentlichen dramatischen Handlung vorgelagert ist, als fehlender Anfang der Detektiverzählung; das Motiv des Fadens als bildhafter Verweis auf den Theseus-Mythos und damit auch das Aition als Strukturmodell der Detektiverzählung. 155 Doyle 2009, 36 (»A Study in Scarlet«).
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bei einem Nachweistest für Blut kennen; mit Blut ist an beiden Tatorten das Wort ›Rache‹ an die Wand geschrieben; bei der ersten Leiche geben Blutstropfen ohne passende Wunde Rätsel auf, während zur zweiten Leiche wiederum »a little red ribbon of blood«156 führt; ein Augenzeuge erkennt an dem mutmaßlichen Täter ein »reddish face« und ein »brownish coat«157 – beides Farben, die schon in Holmes’ anfänglichem Bluttest eine Rolle gespielt haben; außerdem hinterlässt der Mörder »blood-stained water« vom Händewaschen und ebensolche »marks on the sheets«158, wo er sein Messer abgerieben hat; bei seiner Gefangennahme schließlich ist der Täter auf Grund eines versuchten Sprungs durch das Fenster selbst blutbedeckt. Entscheidende Passagen der Handlung sind also titelgerecht eingefärbt, sie erscheinen sozusagen rot hinterlegt und stehen, die Wendung des »scarlet thread« wieder aufnehmend, häufig auch in Verbindung mit einem textilbezogenen Begriff wie etwa im Fall des »red ribbon of blood«. Leser wie Detektiv orientieren sich auf ihrem Weg durch den Text damit an der Textil- und Farbmetaphorik des roten Fadens, der im entwirrten Zustand schließlich das gesuchte Gewebe, sprich: ›textum‹ des Verbrechens bildet, die vervollständigte Erzählung nämlich, die den Fall aufzuklären vermag. Holmes selbst eröffnet diese Lesart in aller Deutlichkeit, wenn er »a chain of logical events without a break or flaw«159, mithin also die kausal-kohärente Sequenz des plotbasierten Erzählmodells zum Ziel seiner Arbeit erklärt. Dass der den Text durchziehende rote Faden nach Art des mythischen Ariadnefadens eben gerade an seinen eigenen Anfang zurückführt, macht dann das resümierende und irgendwie methodisch-systematische Schlusskapitel der Erzählung deutlich. Hier betont Holmes, dass sein detektivisches Vorgehen auf dem Zurückverfolgen der Ereigniskette des fraglichen Verbrechens basiert, auf der Fähigkeit »to reason backward« bzw. »analytically«160. Dabei folgt nicht nur Holmes’ Methode diesem Schema, sondern ganz explizit auch die Berichte, die Watson darüber verfasst, mithin also die Detektiverzählung selbst: In The Problem of Thor Bridge (1922) bemerkt Holmes, er übernehme langsam Watsons »involved habit […] of telling a story backward«161. Neben dem (minotaurischen) Labyrinth hat die Detektiverzählung aber auch andere Strukturbilder für ihre Erzählweise entwickelt. Dazu gehört beispielsweise
156 157 158 159 160 161
Ebd, 47. Beide: Ebd, 48. Beide: Ebd. Ebd, 85. Ebd, 83 und 84. Ebd, 1056 (»The Problem of Thor Bridge«).
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das des Palimpsests162, dessen einander überlagernde Einschreibungsschichten den Irrgängen des Theseus-Mythos durchaus nahestehen. In beiden Fällen sind es nämlich Texte, die den (Rück-)Weg säumen: hier das an den Eingang des Labyrinths zurückführende ›textum‹ des Ariadnefadens, dort die textuellen Zwischenstufen, die ein schrittweises Rückarbeiten zum ursprünglichen, zum Anfangstext des Palimpsests flankieren. Deutlich ablesbar ist diese Verwandtschaft etwa an Doyles Erzählung The Adventure of the Golden Pince-Nez (1904), in der Motiv und Konzept des Palimpsests stetig präsent sind. Zu Anfang zeigt der Text zwei beinahe simultane Blicke in ein Manuskript: Watsons Konsultation der »three massive manuscript volumes which contain our work for the year 1894« zwecks Auswahl eines zur Publikation geeigneten Falls und Holmes’ nächtliche Beschäftigung mit den »remains of the original inscription upon a palimpsest«, die als »deciphering«163 charakterisiert ist. Gleich zu Beginn etabliert der Text damit eine Berührungsfläche zwischen der Arbeit des Detektivs (»work«) und dem Entziffern des Palimpsests (»deciphering«), genauer noch: zwischen den Detektiverzählungen (›manuscript volumes‹), die Watson in drei Bänden gesammelt hat, und der palimpsesttypischen Suche nach dem Ursprungs- bzw. Anfangstext (»original inscription«). Gattungstexte und gattungsspezifisches Narrativ treten hier unter den poetologischen Auspizien des Palimpsests zusammen. Diese enge Beziehung zwischen dem detektivischen Erzählen und dem Modell des Palimpsests verliert die Erzählung auch in ihrem weiteren Verlauf nicht aus den Augen. So bringt Holmes seine anfängliche Arbeit an dem Palimpsest erneut ins Spiel und setzt sie diesmal mit seinen aktuellen Ermittlungen in Verbindung, wenn er sich angesichts eines starken Unwetters darüber beklagt, dass eventuelle Fußspuren »harder to read now than that palimpsest«164 sein würden. Überhaupt scheint das Motiv des Palimpsests den Fall um den zu Tode gekommenen Privatsekretär des zurückgezogen lebenden Professors Coram zu grundieren. Die letztlich im Zentrum des Rätsels stehende Figur des Professors beispielsweise ist zum einen insofern mit dem Palimpsest des Textanfangs verknüpft, als Holmes diesen vorläufig als »an Abbey’s accounts dating from the second half of the fifteenth century«165 identifiziert. Das gerade im Entstehen begriffene opus magnum des Professors wiederum beschäftigt sich mit einer »analysis of the documents found in the Coptic Monasteries of Syria 162 Für die detektivische Virulenz des Palimpsestmodells vgl. Dillon 2007, 63–84 (mit einer vergleichbaren Lektüre von The Adventure of the Golden Pince-Nez (ebd, 63–68), die das Strukturprinzip des Palimpsests allerdings traditionell an Todorovs Modell der zwei Geschichten der Detektiverzählung rückbindet) und im Anschluss Kimyongür / Wigelsworth 2014. 163 Alle: Ebd, 607 (»The Adventure of the Golden Pince-Nez«). 164 Ebd, 611. 165 Ebd, 608.
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and Egypt«166 und ruft so über die klerikalen Architekturen von Abtei und Kloster den Holmes’schen Palimpsest zumindest vage in Erinnerung. Zum anderen führt aber auch die schlussgültige Lösung des Falls über den Professor und das Konzept des Palimpsests. Denn Professor Coram, so stellt sich am Ende heraus, ist nicht das, was er zu sein vorgibt. Der invalide, von seinen Nachbarn geschätzte Gelehrte trägt lediglich eine Maske, verbirgt seine tatsächliche Identität, seinen richtigen Namen, seinen Status als Ehemann, seine Nationalität als Russe und den hinterhältigen Verrat an seinen Revolutionskameraden hinter der angenommenen persona des britischen Akademikers im Ruhestand. Erst der Blick auf den Grund, auf die ›original inscription‹ dieses Identitäten-Palimpsests ermöglicht es Holmes, das Rätsel vollständig zu durchdringen, den verborgenen Plot des Verbrechens offenzulegen. Neben den Palimpsest setzt die Erzählung nun aber auch das konzeptuell verwandte Labyrinth. Als eines der Hauptprobleme des Falls entpuppt sich nämlich die Frage danach, wie der Täter das Mordzimmer überhaupt betreten und verlassen hat, da zu diesem Zweck gleich drei Korridore in Frage kommen, von denen einer ins Haus, einer in den Garten und einer in das Schlafzimmer des Professors führt. Diese labyrinthisch anmutende Anlage des Tatorts ist zuvor auch schon dem Eindringling selbst, der verratenen Ehefrau des Professors, zum Verhängnis geworden. Bedingt durch ihre Eile und ein überaus schlechtes Sehvermögen hatte sie sich nach der Tat auf dem Rückweg verlaufen, »the wrong passage«167 gewählt und sich so statt im Garten, durch den sie das Haus betreten hatte, in einer Sackgasse, dem Schlafzimmer des Professors, wiedergefunden. Damit ist sie aber nicht zum Ausgang, sondern zur Mitte des Labyrinths, in das letztliche Zentrum des detektivischen Rätsels vorgedrungen – ein Fehltritt, den sie gemäß der tödlichen Anlage des minotaurischen Labyrinths am Ende mit dem Leben bezahlt. Der Professor wird damit selbst zum Minotaurus, der als Mischwesen aus zwei palimpsestartig übereinandergeschichteten Persönlichkeiten im Zentrum seines Labyrinths aus Korridoren und Identitäten auf Opfer wartet. Auch Hoffmanns Fräulein von Scuderi (1819) folgt, wenn auch weniger offenkundig als Doyles Erzählung, dem Modell des Palimpsests. Es ist dabei ein augenfälliges Charakteristikum des Textes, dass einzelne, im Erzählverlauf bereits geschilderte Handlungsabschnitte später noch einmal in eigenständige Binnentexte gegossen werden. Das betrifft beispielsweise: die spektakuläre Verfolgung des mysteriösen Juwelenräubers durch den Maréchaussée-Beamten Desgrais, von der man erfährt, dass »[d]ie Erzählung davon mit einem Holz-
166 Ebd, 615. 167 Ebd, 618.
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schnitt […] gedruckt und an allen Ecken verkauft [wurde]«168; die nächtlichen Attacken des Juwelendiebs auf junge Kavaliere, die in einer dem König in Versform überreichten Klage der Liebhaber über die unhaltbaren nächtlichen Zustände erneut geschildert werden169; das Verschenken eines Kästchens mit kostbarem Schmuck durch den Goldschmied Cardillac, das die Scuderi als Empfängerin des Geschenks kurz darauf in ein Gedicht umsetzt – »Den Auftritt mit dem Meister René brachte die Scuderi in gar anmutige Verse, die sie den folgenden Abend in den Gemächern der Maintenon dem König vorlas«170. Dazu treten einige mündliche Erzählungen, in denen verschiedene Figuren bereits Geschehenes noch einmal in Worte fassen und gegebenenfalls durch bislang Unbekanntes ergänzen: die Erzählung der Martinière vom nächtlichen Eindringen eines Fremden mit einem Kästchen in das Haus der Scuderi171; die Wiederholung dieser Geschichte durch die Scuderi vor Cardillac172; die Schilderungen des vermeintlichen Tathergangs nach dem Mord an Cardillac durch dessen Tochter Madelon und durch den Polizeipräsidenten La Regnie173; das Geständnis Oliviers vor der Scuderi174, in das auch das Geständnis Cardillacs über die Raubmorde eingelassen ist175, sowie das Geständnis des Obristen, der Cardillac in Notwehr erstochen hat176. Die prominenteste dieser rekapitulierenden Narrationen aber ist die finale Erzählung der Scuderi vor dem König, mit der sie diesen zur Begnadigung des unschuldigen Olivier bewegen möchte177. Um dieses schwierige Unterfangen zu meistern, greift das kluge Fräulein zu einer erzählerischen List: Zwar umfasst ihre Darstellung der Ereignisse den gesamten bisherigen Handlungsverlauf, allerdings in einer auf entscheidende Weise abgewandelten Form. Denn die Erzählung setzt nicht, wie es der Text eigentlich vorgibt, mit dem nächtlichen Besuch Oliviers im Haus der Scuderi ein, sondern mit dem den Fall erst eigentlich in Gang setzenden Fund der Leiche Cardillacs. Es folgen die Ermittlungsbemühungen von offizieller und inoffizieller Seite, wobei die Scuderi die tatsächlichen Umstände der Tat, die aufgelöste Geschichte des Verbrechens mit all ihren Ver168 Hoffmann 2002, 16. 169 Als »dichterische Supplik« (ebd, 18) fordert das Gedicht den König übrigens auf, er solle die Gefahr bekämpfen »wie Theseus den Minotaur« (ebd, 17). Vgl. zum Labyrinthmotiv auch die Rede vom »Labyrinth des Verbrechens« (ebd, 58), in dem sich der der unschuldig angeklagte Olivier durch seine Mitwisserschaft gefangen wähnt. 170 Ebd, 29. 171 Ebd, 18. 172 Ebd, 26. 173 Ebd, 33f. und 37ff. 174 Ebd, 46ff. 175 Ebd, 54ff. 176 Ebd, 66ff. 177 Ebd, 70f.
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wicklungen bis zum Ende ihrer Schilderung aufspart. Indem sie den König zu eigener detektivischer Tätigkeit animiert und so letztlich zur Freilassung Oliviers führt, erweist sich damit als »die geschickteste Weise«178, den ungewöhnlichen Fall zu präsentieren, eigentlich und ausgerechnet die Form der Detektiverzählung. Insgesamt betrachtet basiert Hoffmanns Erzählung also auf einer kontinuierlichen Reihe narrativer Gerinnungsprozesse, an deren Ende eine intentional geformte Reprise des gesamten Textgeschehens steht. Über verschiedene vorbereitende Binnentexte und -erzählungen zeigt der Text die allmähliche Metamorphose seiner eigenen Erzählhandlung hin zu einem neuen Typus der erzählerischen Darstellung, zu einer neuen Art von Geschichte. Auch wenn das Motiv des Palimpsests nicht explizit auftaucht, ähnelt damit doch die Textgestalt selbst einem Palimpsest, insofern sie dessen schichtweisen Aufbau aus mehreren aufeinanderfolgenden Textstufen imitiert. Auf dem Grund dieses Palimpsests, zu dem auch der Leser vordringen muss, liegt dann nicht nur die Lösung des Rätsels um die Raubmorde und den Tod Cardillacs sowie das Lebensglück der Liebenden Olivier und Madelon, sondern auch die Gattung der Detektiverzählung selbst. Ganz zu Recht hat Friedrich Kittler Das Fräulein von Scuderi daher als ›Detektivgeschichte der ersten Detektivgeschichte‹179 apostropiert, als Erzählung also, in der die Suche nach der verlorenen Erzählung eines Verbrechens mit der Suche nach einer neuen Art, eben davon zu erzählen, in eins fällt.180 Als ebenfalls mit dem Konzept des (minotaurischen) Labyrinths verwandt lässt sich, wenn man die Rückkehr an den Ein- bzw. Ausgang des Labyrinths als zirkuläre Bewegung auffasst, schlussendlich auch der Kreis verstehen. Diesem Strukturmodell begegnet man etwa bei G.K. Chesterton, allerdings außerhalb seiner ab 1910 erschienenen Father-Brown-Erzählungen. Dazu lohnt eine 178 Ebd, 69. 179 Kittler 1991, 197. 180 Das wird besonders deutlich, wenn man Das Fräulein von Scuderi einem Text gegenüberstellt, der Hoffmanns Erzählung zwar unübersehbar nachgebildet ist, die detektivische Erzählweise des Textes dabei aber nicht oder doch nur sehr bedingt übernimmt. Die Rede ist von Gustave Flauberts früher Erzählung Bibliomanie (1836), in der ein von seinen Büchern besessener Buchhändler tötet, um bereits verkaufte Exemplare wieder in seinen Besitz zu bringen oder an neue Manuskripte zu gelangen. Die Figur des Giacomo, der schließlich überführt und vor Gericht mit dem Tod bestraft wird, ist dabei als »un de ces êtres sataniques et bizarres tels qu’Hoffmann en déterrait dans ses songes« (Flaubert 1967, 4) ganz explizit in eine Reihe mit Hoffmanns mörderischem Goldschmied Cardillac gestellt. Während Hoffmann die Raubmordserie und den Tod Cardillacs aber systematisch als im Verlauf der Erzählung zu lösendes Rätsel modelliert, bei dem das Charakterbild des Goldschmieds als nachgetragene Erklärung für die Morde fungiert, bietet Flauberts Erzählung das Psychogramm einer gequälten Seele, das linear von der Charakterzeichnung hin zum Verbrechen fortschreitet.
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Rückkehr zu Chestertons bereits am Rande besprochener181 Erzählsammlung The Club of Queer Trades (1904), die sich zumindest im näheren narrativen Umfeld der Detektiverzählung verorten lässt.182 Die sechs Einzelerzählungen der Sammlung, deren rätselhafte Ereignisse jeweils auf eines der titelgebenden eigentümlichen Geschäftsmodelle (›queer trades‹) zurückzuführen sind, bilden einen Spannungsbogen, der in der letzten Erzählung schließlich zum Club of Queer Trades und dessen mysteriösem Präsidenten selbst führt. Dieser entpuppt sich als bereits seit der ersten Erzählung wohlbekannte Figur und fordert während einer Sitzung des Clubs, der man zum Abschluss beiwohnen darf, eines der Clubmitglieder dazu auf, die Geschichte seines ›queer trade‹ mitzuteilen. Dieses Clubmitglied ist nun niemand anderes als Mr. Northover, dessen ›Adventure and Romance Agency‹ das Zentrum der die Sammlung eröffnenden Erzählung The Tremendous Adventures of Major Brown bildet. Die in der letzten Erzählung der Sammlung eingeforderte Geschichte wäre demzufolge deckungsgleich mit ihrer ersten Erzählung – ein Umstand, den der Text in seinem Schlusssatz festhält: »Thus our epic ended where it had begun, like a true cycle«183. Zusammengefasst: In den stetig wiederkehrenden Strukturbildern von Labyrinth, Palimpsest oder Kreis demonstriert die Detektiverzählung die Verwandtschaft der für sie spezifischen Erzählweise zu zentralen Motiven des TheseusMythos im Besonderen und zu den narrativen Charakteristika des Aition im Allgemeinen. Für eine Definition der Gattung, die sich, wie weiter oben vorgeschlagen, sowohl auf inhaltsbezogene wie auf narrative Aspekte der Beschreibung stützen soll, bedeutet das: Texte, die sich im Rahmen des detektivischen Erzählens verorten bzw. an diesem Erzählen partizipieren, figurieren die Suche nach einer anfangs fragmentierten Verbrechensgeschichte in Form eines am Erzählprinzip des Aition orientierten Narrativs, eines Narrativs also, das systematisch seinen eigenen Erzählursprung einholt.
181 Vgl. Fußnote 120. 182 Zu diesem Umfeld, häufig gar zum eigentlichen Terrain des detektivischen Schreibens bei Chesterton zählen u. a. auch die Erzählsammlungen The Poet and the Lunatics. Episodes in the Life of Gabriel Gale (1929) und The Paradoxes of Mr. Pond (1937), die jeweils Erzählungen enthalten, die wenigstens als quasi-detektivisch, gelegentlich aber auch als vollwertige Detektiverzählungen angesprochen werden können. Stetes Bild ist dabei das tatsächliche oder übertragene Auf-dem-Kopf-Stehen der Erzählungen und ihrer Protagonisten. Die Qualität dieser Erzählungen als ›paradoxes‹ (The Paradoxes of Mr. Pond), die für sie charakteristische Atmosphäre von ›queerness‹ (The Club of Queer Trades) und ›topsyturvydom‹ (The Poet and the Lunatics) lässt sich leicht in Verbindung mit dem aitiologischen Erzählmodell der Detektiverzählung bringen, das ja auf einem Ineinanderfallen von Erzählanfang und -ende und damit gewissermaßen auf einem narrativen Auf-dem-KopfStehen basiert. 183 Chesterton 1991, 213 (»The Eccentric Seclusion of the Old Lady«).
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Literatur: Die Detektiverzählung
Die Detektiverzählung erzählt damit nicht, wie das bisher im Sinne einer narrativen Verortung des Detektivischen vorgeschlagen wurde, zwei oder mehrere Geschichten, die sie ineinander verschiebt.184 Sie spielt auch nicht eigentlich mit der gezielten Umstellung von erwartbaren Chronologien oder kokettiert mit die Leseneugier herausfordernden Kombinationen aus Erzähltem und Unerzähltem.185 Nimmt man die Detektiverzählung tatsächlich linear ernst und geht dabei nicht bereits von einer aufgelösten Handlungschronologie aus, lässt sie sich als eine Erzählung beschreiben, deren narrative Progression zugleich inhaltliche Retrogression ist, als eine Erzählung, die sich, indem sie sich forterzählt, an ihren Anfang zurückerzählt: »I don’t know whether you think you’ve got to the end; but I haven’t got to the beginning«186 bemerkt der polizeiliche Ermittler in Chestertons The Green Man (1935) gegenüber Father Brown, um seine Ratlosigkeit bezüglich des Falls anzuzeigen.
1.2.3 Die Detektiverzählung: Metanarrativität und Wissen(schaft) Angesichts einer solchen Definition, die den vielgestaltigen Umgang mit Narration(en) in den Mittelpunkt des detektivischen Erzählens rückt, überrascht es nicht, dass sich die Gattung in ihren Texten ausführlich und durchaus experimentell mit Erzählvorgängen und ihren Finessen beschäftigt. Die Detektiverzählung spielt gern mit besonderen narrativen Ensembles, mit Erzählerschichtungen und Herausgeberfiktionen, platziert wiederholt Schriftstücke und Texte im Zentrum ihrer Falllösungen. Dass sie den professionellen Umgang mit Erzählungen aller Art in ihren Erzählfokus rückt, lässt sie ebenso selten vergessen wie die Tatsache, dass auch sie selbst eigentlich ein Text, eine Erzählung ist.187 Die 184 185 186 187
Vgl. Fußnote 87. Vgl. Fußnoten 86 und 84. Chesterton 2005 [Band 13], 452 (»The Green Man«). Besonders prominent ist die Figur der Fälle als von einem Erzähler verantwortete Texte in Doyles Holmes-Erzählungen. So kokettiert Watson beispielsweise sehr häufig mit seiner Rolle als Chronist des berühmten Detektivs, indem er einleitend vorgibt, aus einer großen Anzahl nur angedeuteter, aber bereits niedergeschriebener Falltexte wählen zu müssen. Ebenso unablässig weist auch Holmes selbst auf den Erzählungscharakter dieser Texte hin und rügt Watson regelmäßig für dessen Hang zur sensationellen Darstellung: »Your fatal habit of looking at everything from the point of view of a story instead of as a scientific exercise has ruined what might have been an instructive and even classical series of demonstrations« (Doyle 2009, 636 – »The Adventure of the Abbey Grange«). Häufig ist auch der Topos einer auf Grund von politischen oder anderen Sensibilitäten lange zurückgehaltenen Fallerzählung, für deren Veröffentlichung Watson erst jetzt Holmes’ Erlaubnis erhält. So gerät nie lang aus dem Blick, dass man es als Leser mit in Textform vorliegenden Berichten bzw. mit für eine (fiktive wie tatsächliche) Publikation entworfenen Erzählungen zu tun hat.
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Detektiverzählung ist damit, und das ist keine im eigentlichen Sinn neue Einsicht, hochgradig metanarrativ. Die Untersuchung ihrer ausgestellten und selbstreflexiven Narrativität ist, folgt man der Darstellung Heta Pyrhönens188, zwar die jüngste der wissenschaftlichen Herangehensweisen an die Gattung, aber dennoch mittlerweile bereits seit den 80er Jahren Gegenstand der Forschung zur Detektiverzählung. In der Folge ist die Detektiverzählung als »Parabel über die Entzifferung«189, als »prototype of narrativity« und »›laboratory‹ for various features of narrativity«190, ja als »paradigm for all narrative«191 geadelt worden. Gelegentlich wird sie gar als performatives Pendant zu Disziplinen wie Literaturwissenschaft und Literaturtheorie gehandelt, das im literarischen Vollzug bearbeite, was diese im wissenschaftlichen Meta-Diskurs verhandelten.192 Wenig Beachtung hat dabei allerdings gefunden, was die in dieser Arbeit vorgeschlagene Definition der Detektiverzählung nahelegt: die ostentative Auseinandersetzung detektivischer Texte mit den Konzepten der Narration und des Narrativen auf das Was und Wie ihres eigenen gattungsspezifischen Erzählens zurückzuführen und ihre Affinität zu metanarrativen Arrangements als Folge gattungskonstitutiver Strukturen zu begreifen. In besonderem Maß metanarrativ wäre die Detektiverzählung dann nicht, weil es eine der Gattung inhärente Tradition oder Verpflichtung zur Auseinandersetzung mit den Bedingungen und Möglichkeiten des Erzählens gäbe: Ihre Metanarrativität ist kein Topos, keine absichtsvoll oder unreflektiert eingenommene Textpose. Sie wäre es auch nicht, weil ihre Autoren, wiewohl das freilich nicht ganz auszuschließen ist, eine besondere Vorliebe oder Kompetenz für derartige Fragestellungen besäßen: Ihre Metanarrativität ist kein in Kauf zu nehmender Nebeneffekt schriftstellerischer Neigungen. Und sie wäre es drittens auch nur bedingt, wiewohl Korrelationen hier noch viel weniger auszuschließen sind, als Konsequenz der berüchtigten ›turns‹, die die Literaturwissenschaft regelmäßig heimsuchen und in deren Folge der Literaturwissenschaftler in Texten erkennt, was zu erkennen gerade en vogue ist: Ihre Metanarrativität ist kein in sie 188 189 190 191 192
Pyrhönen 1994, 32ff. Kesting 1978, 58. Pyrhönen 1994, 115 und 23. Sweeney 1990, 4. Kesting 1978 bezeichnet etwa die (frühe) Detektiverzählung als poetologische Erzählung über die Textlektüre. Dieser Zuweisung schließt sich neben Hühn 1987 auch Kittler 1991 (hier: 198) an, wenn er betont, die Detektiverzählung erprobe den Doppelsinn (hermeneutischen) Auslegens als Deuten des Sinns (Detektion) einerseits und als Auslegen eines Köders (›red herring‹) andererseits. Zur Detektiverzählung als hermeneutischer Erzählung vgl. auch bereits Champigny 1977 sowie die entsprechenden Aufsätze in der Forschungsanthologie von Glenn W. Most und William W. Stowe (1983). Zum Verhältnis von Detektiverzählung und Literaturtheorie: Walker / Frazer 1990 (darin vor allem der Beitrag von Sweeney); Merivale / Sweeney 1999. Zur Detektiverzählung als metaliterarischer Gattung vgl. Marcus 2003.
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hineingelesener akademischer Trend. Viel eher ist es die Verfasstheit ihres gattungsspezifischen Erzählens selbst, die die Detektiverzählung in besonderem Maß dazu befähigt, metanarrative Fragen aufzuwerfen, zu bearbeiten und kritisch in Szene zu setzen. Insofern die Gattung nämlich sowohl auf inhaltlicher Ebene (Suche nach bzw. Wiederherstellung einer verlorenen Erzählung) als auch auf der Ebene des für sie typischen Narrativs (Einholung des eigenen Erzählanfangs) auf der komplexen Auseinandersetzung mit Erzählvorgängen beruht, lädt sie die sich in ihrem Rahmen verortenden Texte geradezu dazu ein, Bedingungen, Formen, Strategien und Mechanismen ihres eigenen Erzählens wie auch des Erzählens an sich in den Blick zu nehmen. In diesem Sinn ist die Metanarrativität der Detektiverzählung ein Spiegel der sie als Gattung konstituierenden Schreibweise. Bislang steht eine solche generisch gewendete Beurteilung metanarrativer Muster innerhalb der Detektiverzählung hinter Arbeiten zurück, die sich um die ausgestellte Narrativität detektivischer Texte vor allem im Rahmen thematischer Analysen, vornehmlich an Gattungsvertretern des 19. Jahrhunderts, bemühen. Immer wieder diskutiert werden dabei die machtbezogenen Implikationen der detektivischen Aufklärungsbemühungen qua Narration193: Exemplarisch zeige die Detektiverzählung in der Arbeit ihres Protagonisten den intimen Zusammenhang von Machtausübung und Erzählung, es gehe um die narrative Kontrolle, das hermeneutische Monopol, die durchaus auch gewaltsam zu verstehende Deutungshoheit des Detektivs. Dessen scheinbar Gerechtigkeit stiftende Tätigkeit werde entlarvt als »oppressive authorship«, als »egoistic need to display his power which derives from his storytelling skill«194. Indem er den Fall löst, reißt der Detektiv die Verfügungsgewalt über die von da an einzig wahrheitsfähige Erzählung des fraglichen Verbrechens an sich; er übernimmt als erzählerische Autorität die Zuweisung von Schuld und Unschuld, Devianz und gesellschaftskonformem Verhalten, sozialem Ein- und Ausschluss. Mit derartigen Kompetenzen ausgestattet erweist sich der Detektiv als überaus ambivalenter Agent eben der diskursiven Disziplinarmacht, die Michel Foucault als kulturelles Signum des ausgehenden 18. und des 19. Jahrhunderts entworfen hat195 und an deren Modell sich die oben genannten Arbeiten zur Detektiverzählung, implizit oder explizit, anlehnen. 193 Eisele 1979, 20ff.; Thomas 1991 und 1999; Thoms 1998; Frank 1989 und 2003; Herzog 2009, 34ff. 194 Thoms 1998, 65 und 3. 195 Vgl. Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft (1961, Histoire de la folie à l’âge classique. Folie et déraison) und Die Anormalen (1974/75, Les Anormaux), besonders aber Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses (1975, Surveiller et punir. La naissance de la prison) und Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit Bd. 1 (1976, Histoire de la sexualité, vol. 1: La volonté de savoir.)
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Die so vorgenommene Einschreibung des literarischen Detektivs in die diskursive Machtmaschinerie Foucaults verweist ihn aber auch, und das ist das eigentlich Interessante, in unmittelbare Nähe zu einem Bereich, der bei Foucault in untrennbarer Beziehung zur Macht steht: dem des Wissens.196 In Überwachen und Strafen (1975) formuliert Foucault sein Verständnis vom Verhältnis der beiden Bereiche folgendermaßen: »Man muß wohl auch einer Denktradition entsagen, die von der Vorstellung geleitet ist, daß es Wissen nur dort geben kann, wo die Machtverhältnisse suspendiert sind, daß das Wissen sich nur außerhalb der Befehle, Anforderungen, Interessen der Macht entfalten kann. […] Eher ist wohl anzunehmen, daß die Macht Wissen hervorbringt (und nicht bloß fördert, anwendet, ausnutzt); daß Macht und Wissen einander unmittelbar einschließen; daß es keine Machtbeziehung gibt, ohne daß sich ein entsprechendes Wissensfeld konstituiert, und kein Wissen, das nicht gleichzeitig Machtbeziehungen voraussetzt und konstituiert.«197
Statt Wissen und Macht als antagonistisch zu begreifen, bringt Foucault sie überraschend in eine reziproke, ja einander streng inkludierende Beziehung. Auf der einen Seite ist Macht ohne Wissen und dessen absichtsvolle Verwaltung überhaupt nicht konzipierbar, da die Mechanismen der Ausübung von Macht ausnahmslos auf der restriktiv-exklusiven Handhabung entsprechender epistemischer Bestände beruhen. Auf der anderen Seite gilt für das Wissen, dass es ohne Strukturen, die zumindest mittelbar auf Formen der Macht beruhen, also etwa ohne Verfahren des Sammelns, Aufbewahrens, Kommunizierens, Zugänglichmachens und Autorisierens gar nicht erst entstehen kann. Illustriert und erprobt hat Foucault diesen Mechanismus der unauflöslich zu denkenden Interdependenz von Macht und Wissen vor allem an den Bereichen von Kriminalität (eben in Überwachen und Strafen) und Sexualität (unter dem Titel Der Wille zum Wissen im 1976 erschienenen ersten Band der Reihe Sexualität und Wahrheit), die im 19. Jahrhundert sowohl Gegenstand machtpolitischer Normierungswünsche sind als auch umfassenden wissenschaftlichen Erfassungsbemühungen unterliegen. Es geht hier nun nicht um eine angemessene und differenzierte Bewertung der (durchaus heftig umstrittenen198) Thesen Foucaults zum Verhältnis von Macht und Wissen. Entscheidend ist lediglich die Beobachtung, dass literaturwissen196 Vgl. zur Einführung: Rouse, Joseph (1994): Power/Knowledge. In: Gutting, Gary (Hg.): The Cambridge Companion to Foucault. Cambridge, 92–114; Kögler, Hans-Herbert (22004): Michel Foucault. Stuttgart, Weimar, 74–135. Eine Sammlung einschlägiger Textzeugnisse bietet: Foucault, Michel (1980): Power/Knowledge. Selected Interviews and Other Writings 1972–77. Hrsg. v. Colin Gordon. New York. 197 Foucault 1977, 39 (meine Hervorhebung). 198 Vgl. die entsprechenden Abschnitte und weiterführenden Literaturhinweise der in Fußnote 196 genannten Einführungen; ausführlich hierzu v. a. Kögler 22004, 99ff.
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Literatur: Die Detektiverzählung
schaftliche Arbeiten, die ihre Analyse der Detektiverzählung auf das Foucaultsche Modell der Disziplinarmacht stützen, die untersuchten Texte folgerichtig meist ebenfalls auf das Feld von Wissen und Wissenschaft hin öffnen. So argumentiert Ronald R. Thomas, dass die Ausübung diskursiver Macht qua Deutungshoheit, die an der Figur des Detektivs beobachtbar ist, auch bestimmten wissenschaftlichen Disziplinen zu Grunde liegt, die sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts formieren. Dazu gehöre die Psychoanalyse, die mit den machtpolitischen Konzepten von Zensur, Unterdrückung und Widerstand arbeite, die Kriminalanthropologie, die den Kriminellen in Übereinstimmung mit imperial-kolonialistischen Diskursen als Fremden, evolutionär Rückständigen, Asozialen figuriere, und die Medizin, die letztlich auch »a form of surveillance and discipline«199 sei. In einer später erschienenen Studie200 greift Thomas diese Konstellation von detektivischer Tätigkeit und szientifischen Mustern noch einmal auf und überträgt sie diesmal auf den Bereich der Forensik des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts. Dabei interessiert ihn vor allem die hermeneutische Kontrolle, die sich der Detektiv durch forensische Techniken wie Fotografie und Daktyloskopie über den kriminellen Körper verschafft und mit deren Hilfe er kriminelle Identität als genuin fremde Identität konstruiert. In einem ganz ähnlichen Sinn, nämlich als Zusammenhang von Devianz und Krankheit, moralischer und körperlicher Degeneration, Detektion und Diagnose, versucht auch Heather Worthington eine Verknüpfung von detektivischer und wissenschaftlicher Tätigkeit.201 Dem Detektiv steht hier der Mediziner als professionelle disziplinarische Instanz zur Seite. Lawrence Frank wiederum stützt seine großangelegte Studie zur Detektiverzählung nicht nur auf einen szientifischen Bereich, sondern gleich auf einen ganzen Verbund wissenschaftlicher Disziplinen des 19. Jahrhunderts, wenn er die auf kohärenten Narrationen basierende Verbürgungsstrategie der »historical disciplines that sought to reconstruct the past from fragmentary evidence«202 mit dem Vorgehen des literarischen Detektivs zusammendenkt. In gewisser Weise sind diese Beispiele symptomatisch für den Umgang der Forschung mit der Detektiverzählung. Denn auch außerhalb von Arbeiten, die für ihren Blick auf die Gattung auf Foucaultsche Modelle zurückgreifen, werden wissens- und wissenschaftsbezogene Verbindungslinien zur Detektiverzählung überraschend häufig und gern hergestellt.
199 200 201 202
Thomas 1991, 241. Thomas 1999. Worthington 2005, 46–102. Frank 2003, 4. Vgl. mit Bezug auf Geologie und Evolutionsbiologie auch bereits Frank 1989.
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Evidenzerzeugend wirkt dabei schon das auffallend szientifisch geprägte Personal des detektivischen Schreibens wie Agierens, die die Geschichte der Gattung durchziehende Verortbarkeit prominenter Autoren und ihrer Figuren in klar benannten wissenschaftlichen Räumen: Auguste Dupin steht durch seine Affinität zu Kombinatorik und strenger Logik in der Nähe der Mathematik, Émile Gaboriaus Monsieur Lecoq verweist auf seine Ausbildung als »calculateur«203; als Vorbild für Sherlock Holmes fungierte nach Doyles eigener Aussage der Arzt und brillante Diagnostiker Joseph Bell, während R. Austin Freemans Ermittler John Thorndyke auf Alfred Swaine Taylor, dem Begründer der modernen Gerichtsmedizin, basiert; Watson ist praktizierender Arzt, George Simenons Inspektor Maigret hingegen hat lediglich ein abgebrochenes Medizinstudium vorzuweisen, Dorothy Sayers’ Detektiv Lord Peter Wimsey wiederum ist Historiker; Arthur Conan Doyle war selbst als Arzt, G.K. Chesterton als Historiker ausgebildet, die amerikanische Krimiautorin Mary Roberts Rineheart arbeitete als Krankenschwester und war mit einem Arzt verheiratet; Agatha Christie, selbst zeitweise als Krankenschwester tätig, besaß eine ausgesprochene Passion für Archäologie. Die hier begonnene Reihe ließe sich sicher fortsetzen. Offenbar haben diese wissenschaftsverknüpften Realien der Gattung schon früh einen hinreichenden Anfangsverdacht dafür geliefert, die Verwandtschaft des literarischen Detektivs mit bestimmten Wissenschaftlertypen zum Gegenstand der Forschung zu machen. Namentlich für den Arzt204 und den Historiker205 ist das umfassend geschehen. Über solche an einzelnen Disziplinen und ihren Protagonisten orientierten Untersuchungen hinaus hat es auch Bemühungen gegeben, weniger die Figur des Detektivs selbst, wohl aber seine Aufklärungsarbeit auf eine im weitesten Sinn wissenschaftliche Kenntnisbasis zu stellen.206 Hierfür wird in den Vordergrund gerückt, dass der Detektiv seine Arbeit bevorzugt auf wissenschaftliche (oder zumindest pseudowissenschaftliche) Verfahren »such as chemical tests for various poisons, details of forensic medicine, the systematic examination of material clues, or the work of police laboratories«207 stütze, seine Detektion also als Tätigkeit mit wissenschaftlichem Anspruch präsentiert werde. In diesem Sinn spricht man auch vom ›scientific detective‹, der seine Fallaufklärung auf streng analytisch-deduktiver Grundlage
203 Gaboriau 1985, 128 (»Le Crime d’Orcival«). 204 Kracauer 1925, 62ff.; Accardo 1987; Hunter 1991 (besonders: 21ff.); Worthington 2005, 46– 102; Robert 2013. 205 Winks 1968; Browne / Kreiser 2000; Scaggs 2005, 122ff.; Saupe 2009. 206 Lichtenstein 1908, Messac 1929, Murch 1958. Einen Überblick über die diesbezügliche Forschung liefert Pyrhönen 1994, 64ff. 207 Murch 1958, 15.
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Literatur: Die Detektiverzählung
selbst wie eine vollgültige Wissenschaft betreibt.208 Bereits bekanntes Gegenstück dieser Sichtweise, die das detektivische Vorgehen als Wissenschaft (›detection as science‹) akzentuiert, ist übrigens das auf Carlo Ginzburgs Indizienparadigma fußende Modell der Wissenschaft als detektivischer Tätigkeit (›science as detection‹), vor dessen Hintergrund Wissenschaft und Detektiverzählung ebenfalls auf methodischer Basis zusammentreten.209 Neben diesen beiden Zugängen steht eine weitere Forschungstradition, die sich weder für die Verbindung der Detektiverzählung zu bestimmten akademischen Disziplinen noch für ein irgendwie geartetes wissenschaftliches Vorgehen des Detektivs interessiert, sondern für den Umgang der Gattung mit dem Konzept des Wissens überhaupt.210 Als zentrales Thema der Detektiverzählung wird dabei die (auf ein Verbrechen bezogene) Suche nach gesicherten Kenntnissen, nach positivem Wissen begriffen. Wie kein anderes literarisches Medium sei sie deshalb dazu geeignet, die Bedingungen der Möglichkeit eines solchen Wissens kritisch zu prüfen: Die Detektiverzählung wird zum »epistemological genre par excellence«211. Diese Zuschreibung betrifft weniger die klassische Detektiverzählung (die »detective story proper«212), die dazu tendiere, mit den ihr zu Grunde liegenden epistemischen Voraussetzungen affirmativ umzugehen, als vielmehr die sogenannte ›metaphysical detective story‹. Der Begriff geht auf Michael Holquist zurück und bezeichnet einen vorrangig, aber nicht ausschließlich in der Postmoderne verorteten Typus detektivischen Erzählens, der den »epistemological quest«213 seines Detektivs auf überaus wacklige Füße stellt, ihn unter Umständen auch scheitern lässt und so als Meta- oder Anti-Detektiverzählung die gattungseigenen Annahmen über die Möglichkeit von Wissen unterläuft.
208 Zum ›scientific detective‹ vgl. etwa Kayman 2003, 46ff. Die vermeintlich deduktive Methode des Detektivs ist allerdings regelmäßig Gegenstand kritischer Auseinandersetzungen. Dabei wird meist darauf hingewiesen, dass das detektivische Vorgehen eben nicht streng deduktiv, sondern wahlweise induktiv, abduktiv, spekulativ, intuitiv, kreativ oder gar para-noetisch sei. Zum Konzept der Abduktion vgl. Sebeok / Umiker-Sebeok 1985; Harrowitz 1985; Klein / Keller 1986, 429–33. Zur »para-noetic methodology of detection« vgl. Willer 2014, hier: 73. Für eine Zusammenstellung üblicherweise zur literarischen Verbrechensaufklärung herangezogener Wissensbestände vgl. zuletzt Eggers / Hohlweck 2018. 209 Auf dieser Grundlage arbeitet etwa Bähr 2006 seine aus literarischen (›sensation‹ und ›detective novels‹) wie wissenschaftlichen Texten (Cuvier, Darwin, Bichat u. a.) gewonnene »Archäologie des detektivischen Blicks« (ebd, 15) heraus. 210 Zur Tradition der metaphysischen Detektiverzählung vgl. Holquist 1971; McHale 1992, 145ff.; Merivale / Sweeney 1999. Einen ähnlichen Ansatz bietet auch Irwin 1994. 211 McHale 1992, 147. 212 Merivale / Sweeney 1999, 6 (»The Game’s Afoot. On the Trail of the Metaphysical Detective Story«). 213 Merivale 1999, 109.
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Auf die leicht herstellbare Nähe der Detektiverzählung zu Wissenschaft und Epistemologie wird indes nicht nur in der Forschung immer wieder hingewiesen. Auch außerhalb des akademischen Elfenbeinturms entfaltet diese nicht ganz selbstverständliche Verbindung von literarischer Gattung und szientifischem Bereich eine offenkundige Plausibilität. Das deutet schon der geläufige Begriff des ›Wissenschaftskrimis‹ an, bei dem die Referenz auf den Krimi, also: den detektivischen Plot, eine außergewöhnlich spannende und nervenaufreibende wissenschaftliche Entdeckungsgeschichte signalisieren soll. Ansonsten scheint das den Kontakt stiftende tertium comparationis aber vor allem die Figur und Handlungsweise des Detektivs selbst zu sein. Er steht beispielsweise Pate, wenn Guido Knopp, das Urgestein des öffentlich-rechtlichen Dokumentar-Formats ZDF History, in verlässlicher Regelmäßigkeit Historiker und Vertreter der zugehörigen Hilfswissenschaften als ›Detektive der Geschichte‹ betitelt. Er ist aber auch das verbindende Element eines Sendekonzepts, wie es der Sender RTL über mehrere Jahre hinweg äußerst erfolgreich ausgestrahlt hat. Von 2006 bis 2012 bestritten dort die amerikanischen Import-Serien CSI: Miami, Dr. House und Monk (ab Ende 2010: Psych) das Dienstagabendprogramm: Damit rahmten zwei im engeren Sinn detektivische Formate, die die Aufklärung von Verbrechen durch polizeiliche oder Laienermittler inszenieren, ein Format, das seinen Ermittler als misanthropen Krankenhausdiagnostiker in die Sphäre der Medizin transponiert und ihn dort als Quasi-Detektiv ebenso diffizile (Krankheits-)Fälle lösen lässt. Indem eine solche Serienkonstellation Verbrechens- und Krankheitsbekämpfung als verwandte Bausteine eines in sich schlüssigen, und das heißt: die Seherwartung des Zuschauers nicht prinzipiell unterbrechenden Sendekonzepts präsentiert, bildet sie die professionellen Kontaktflächen zwischen Detektiv und Arzt ab, die in der Forschung zur Detektiverzählung ebenfalls präsent sind. Auch wenn in der Serie Dr. House im Gegensatz zu den sie umgebenden klassischen Krimiformaten also statt Morde ›medical mysteries‹ gelöst werden und die Detektive Weiß tragen214, steht in beiden Formaten doch jeweils das um Aufklärung bemühte Ringen der Protagonisten mit dem Tod im Vordergrund, dem bereits eingetretenen auf der einen (detektivischen), dem drohenden auf der anderen (medizinischen) Seite. Die knappe Zusammenstellung zeigt, dass die Verknüpfung von Wissen(schaft) und Detektiverzählung inner- wie außerhalb eines streng akademischen Kontexts mitnichten Seltenheitswert besitzt. Allerdings, und auch das ist unschwer erkennbar, bewegt sich ein solches Zusammendenken von literarischem 214 So Teile des originalsprachlichen (Every Patient Tells A Story. Medical Mysteries and the Art of Diagnosis) wie des übersetzten (Detektive in Weiß. Mysteriöse Krankheitsfälle und ihre Diagnose) Titels eines von Lisa Sanders 2009 veröffentlichten Bandes. Sanders ist selbst Ärztin und war die maßgebliche fachliche Beraterin für House, M.D. Zur für die Serie typischen Genremischung aus ›medical drama‹ und ›police procedural‹ vgl. Süß 2013.
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Literatur: Die Detektiverzählung
und epistemisch-szientifischem Bereich in der Regel an der Oberfläche, es bleibt beim Offensichtlichen, bei Textmotiven, Figuren, Methoden stehen. Über eher aperçuhafte Analogisierungen zwischen detektivischer und szientifischer Tätigkeit kommen auch die meisten wissenschaftlichen Arbeiten nicht hinaus.215 Und selbst da, wo wie im Fall der metaphysischen Detektiverzählung systematischere Bezüge hergestellt werden, bleibt das Forschungsinteresse auf ein ausgewähltes Korpus detektivischer Texte beschränkt. Es lässt sich aber auf Basis der für die Detektiverzählung typischen Erzählweise, ihres sie als Gattung konstituierenden Narrativs eine weit tiefere Beziehung zwischen Literarischem und Epistemischem ausmachen.216 Denn ein Einholen des eigenen Anfangs qua Narration, wie es für das detektivische Erzählen spezifisch ist, liegt auch, und das wird im zweiten Teil der Arbeit zu zeigen sein, bestimmten Wissenschaften bzw. Wissensbereichen zu Grunde, die sich etwa zur selben Zeit wie die Detektiverzählung formieren. Zuvor sei aber noch ein Blick auf den Forschungsstand zur Entstehung der Detektiverzählung geworfen. Auch hier wird nämlich – eine Art ewiger, in seiner Tragweite aber unterschätzter Wiedergänger der Forschung – eine mögliche epistemische Dimension der Gattung stetig umspielt.
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Ursprünge: Die genetische Diskussion
Die Frage danach, unter welchen Umständen sich die Detektiverzählung als unterscheidbare Form literarischen Schreibens etabliert, ist seit Beginn der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Gattung sehr divers beantwortet und gelegentlich auch kontrovers diskutiert worden.217 Weitgehende Einigkeit herrscht lediglich bezüglich der zeitlichen Verortung dieses Prozesses. Viktor Zˇmegacˇs frühe Charakterisierung der literarischen Detektive als »Kinder des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts, Helden des Positivismus«218, die in Hans-Otto Hügels Diktum von der Detektiverzählung als »Kind des 19. Jahrhunderts«219 nachklingt und auch noch in Laura Marcus’ Betonung der »cen-
215 Eine Ausnahme bildet jüngst die sich mit dem Verhältnis von zeitgenössischer optischer Theoriebildung und viktorianischer Detektiv- und Schauerliteratur auseinandersetzende Studie Ghost-Seers, Detectives, and Spiritualists (2010) von Srdjan Smajic´, die allerdings eher als klassische Einflussstudie wissenschaftlicher Konzepte auf den literarischen Text angelegt ist. 216 Vorarbeiten dazu bieten Eisele 1979 sowie Frank 1989 und 2003. 217 Einen Überblick über die verschiedenen Positionen liefert Nusser 42009, 70ff. 218 Zˇmegacˇ 1971, 13 (»Aspekte des Detektivromans. Statt einer Einleitung«). 219 Hügel 1978, 202.
Ursprünge: Die genetische Diskussion
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trality of detective fiction to the nineteenth century«220 unbestritten bleibt, kann hier als Forschungskonsens gelten.221 In der Folge hat man beispielsweise versucht, die Genese der Gattung im 19. Jahrhundert auf binnenliterarische Entwicklungen zurückzuführen.222 Dabei wird ausgehend von der Detektiverzählung eine direkte Linie zu verwandten Gattungsclustern gezogen, deren vornehmliche Blütezeit häufig bereits in das 18. Jahrhundert fällt und die sich, so die Annahme, unter dem Einfluss sich verschiebender Leseerwartungen im 19. Jahrhundert schließlich zur Detektiverzählung umbilden. Das betrifft auf der einen Seite die Tradition von Schauerroman, ›gothic novel‹ und ›roman noir‹ und deren Entwicklung hin zur rational gewendeten Schauererzählung (›explained supernatural‹) und zur Rätselerzählung im engeren Sinn (›mystery novel‹), auf der anderen Seite die Tradition der Fallgeschichte, der Pitavalerzählung und der ›aktenmäßigen Darstellung‹ von Verbrechen, die durch den zunehmenden Erfolg von Feuilleton- und Abenteuerroman unter Dramatisierungsdruck geraten. Auf eine Kombination dieser beiden literarischen Gattungsquellen ließen sich dann sowohl thematische (Aufklärung von Verbrechen, die rationale Durchdringung des Mysteriösen) wie auch erzähltechnische Merkmale (Rätselspannung, Schauererzeugung) der sich entwickelnden Detektiverzählung zurückführen. Daneben steht aber auch eine Vielzahl von Versuchen, vor allem auch außerliterarische Einflüsse auf die Gattung geltend zu machen. Eine biografistische Ausnahmeerscheinung bleibt dabei die von Friedrich Depken bereits 1914 vorgetragene These, dass Charakteristika sowohl der Detektiverzählung an sich wie auch ihres Protagonisten aus den persönlichen Wesenszügen Edgar Allan Poes ableitbar seien. Dessen offensichtliche Vorliebe für Dunkles, Rätselhaftes und Abnormes wie auch sein »unerbittliche[r] Intellektualismus«223 hätten sich auf die von ihm begründete Gattung übertragen, insofern die logische Zergliederung des Pathologischen durch einen streng rational vorgehenden Detektiv im Zentrum der Detektiverzählung stehe. Das bis dato vorherrschende genetische Erklärungsmuster für die Gattung wird hingegen seit den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts von sozialgeschichtli-
220 Marcus 2003, 246. 221 Versuche, die Anfänge der Detektiverzählung bereits auf barocke Erzählsammlungen zurückzuführen, haben ein eher kritisches Echo gefunden. Vgl. zu dieser Debatte stellvertretend Halisch 1999 und (für die Gegenposition) Siebenpfeiffer 2007. 222 Haas 1958; Conrad 1974; Schulz-Buschhaus 1975; Schönert 1977; Hügel 1978, 15f.; Alewyn 1982; Broich 1983; Schulze-Witzenrath 1983; Drexler 1996; Arnold-de Simine 2000; Cook 2014. Einen Überblick über die möglichen literarischen Quellen der Detektiverzählung liefert auch Murch 1958, 18ff. 223 Depken 1914, 2.
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Literatur: Die Detektiverzählung
chen Überlegungen dominiert.224 Dabei rücken gesamtgesellschaftliche, (kultur-) politische, arbeitsmarkt- und institutionenbezogene Entwicklungstendenzen als lebensweltliche Basis und Entstehungsvoraussetzung literarischer Produktion in das Zentrum des Forschungsinteresses. Die Detektiverzählung wird hier vor allem vor der Kulisse des modernen Rechts-, Gerichts- und Polizeiwesens begriffen, das sich im 19. Jahrhundert entwickelt. Mit ihrer systematisch und (mindestens mittelbar) institutionell vorgenommenen Untersuchung eines Verbrechens begleite sie in literarischer Form rechtskulturelle Phänomene wie die Schaffung einer professionell agierenden Kriminalpolizei, die prozessordnungsnormierte Regulierung der Urteilsfindung vor Gericht oder die Einführung des Indizienbeweises225 und dessen Aufwertung gegenüber der Zeugenaussage und dem Geständnis. Über diesen naheliegenden Zusammenhang hinaus ist die Gattung auch mit im engeren Sinn politischen Entwicklungen in Verbindung gebracht worden. So wird immer wieder argumentiert, das thematische Konzept der Detektiverzählung sei nur vor dem Hintergrund eines zunehmend demokratischen Staatsbewusstseins denkbar, wie es das 19. Jahrhundert herauszubilden beginnt.226 Immerhin müsse ihr Leser die Überführung des Täters und damit die Wiederherstellung der bestehenden Rechtsordnung, anders als in autokratischen Systemen, ja als befriedigend und wünschenswert empfinden: die Detektiverzählung als literarische Nebenwirkung demokratischer Staatsbejahung. Damit ließe sich dann auch der Umstand erklären, dass die Gattung vorrangig in Ländern mit freiheitlichen Staatsordnungen, namentlich in England und den USA, entstanden und beheimatet sei. Bereits aus Zˇmegacˇs eingangs zitierter Bestimmung der literarischen Detektive als »Helden des Positivismus« lässt sich ablesen, dass die Genese der Detektiverzählung schon sehr früh zudem geistes- bzw. mentalitätsgeschichtlich diskutiert worden ist. Prominent ist dabei nicht nur die Verknüpfung der Gattung mit dem sich aus der Aufklärung speisenden bürgerlichen Rationalismus des 19. Jahrhunderts, die auch Zˇmegacˇs Formulierung zu Grunde liegt.227 Ebenso 224 Murch 1968, Routley 1972, Egloff 1974, Hügel 1978, Böker / Houswitschka 1996 sowie die entsprechenden Arbeiten von Peter Drexler und vor allem Jörg Schönert. 225 Vgl. zur Rolle des Indizienbeweises: Hügel 1978, 93ff. (mit Bezug zur Detektiverzählung); Beavan 2001, 20–38 (im Rahmen einer allgemeinen Geschichte der Forensik); Saupe 2009, 114–18 (in überaus konziser Darstellung) und Bergengruen / Haut / Langer 2015 (für eine literarische Perspektive auf das durch den Indizienbeweis hergestellte Wissen über das Verbrechen). 226 Anders 1952, 540ff.; Pyrhönen 1994, 82. Ablehnend wird diese Position etwa bei Alewyn 1982, 344 vorgestellt; mit Quellen kritisch referiert wird sie auch bei Buchloh / Becker 21978, 121ff. Zur Voraussetzung einer positiven Besetzung der Ordnungsmacht vgl. auch Drexler 1991, 117ff. 227 Vgl. u. a. Brecht 1938; Thier 1940; Waldmann 1961; Buchloh / Becker 21978, 34ff.; Tawnee 2011.
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häufig werden der Detektiverzählung nämlich, meist vor dem Hintergrund ihrer Verwandtschaft mit dem Schauerroman, gerade Wurzeln in der intellektuellen Komplementärbewegung des Rationalismus, der Romantik, zugeschrieben.228 Ob man die Detektiverzählung nun als »späte, doch dauerhafte Blüte des Vernunftglaubens der Aufklärung« betrachtet oder doch eher als »Kind der Romantik«229, hängt maßgeblich davon ab, welche thematischen Aspekte der Gattung man in den Vordergrund treten lässt. Konzentriert man sich auf das für die Detektiverzählung zentrale ungeklärte Verbrechen, auf ihr prinzipielles Gründen im Rätselhaften und Ungelösten, spiegelt sie die romantische Auffassung von der Welt als Geheimniszustand und befriedigt das Bedürfnis des aufgeklärten 19. Jahrhunderts nach Geheimnis, Unalltäglichkeit und Schauer. Betont man hingegen die Tatsache, dass das anfängliche Rätsel im Verlauf der Detektiverzählung systematisch seiner Lösung zugeführt wird, in der Logik der Detektion schrittweise seine Rätselhaftigkeit verliert, verkörpert der Detektiv eben nicht den Wiederverzauberungswillen der Romantik, sondern ganz im Gegenteil den positivistischen Glauben des 19. Jahrhunderts an die generelle rationale Durchdringbarkeit der Welt und ihrer Erscheinungen. Gerade in jüngerer Zeit hat die Forschung zur Detektiverzählung verstärkt begonnen, sich aus dem sozialgeschichtlichen Korsett zu befreien, und verortet die Entstehung der Gattung zunehmend auch in anderen Zusammenhängen, darunter etwa in mediengeschichtlichen. Dazu gehören zunächst einmal auch Arbeiten, die mit der regelmäßig erscheinenden und einem Massenpublikum zugänglichen Zeitschrift den primären Publikationsort der (frühen) Detektiverzählung in den Blick nehmen.230 Dabei wird der Aufstieg einflussreicher und zugleich erschwinglicher Zeitschriftenformate wie Blackwood’s Magazine (gegründet 1817), Die Gartenlaube (gegründet 1853) und The Strand Magazine (gegründet 1871) als entscheidender medialer Faktor akzentuiert, der die Entstehung der Detektiverzählung im 19. Jahrhundert, ihre Konsolidierung und Erfolgsgeschichte wenn nicht ermöglicht, so doch wesentlich begünstigt hat. Es ist allerdings deutlich erkennbar, dass ein solches Argumentationsmuster genau genommen immer noch den Grundannahmen der Sozialgeschichte verpflichtet bleibt. In einem strengeren Sinn mediengeschichtlich sind hingegen die vornehmlich von Gabriele Holzmann unternommenen Versuche, die Genese der Detektiverzählung über eine Betrachtung der Printmedien hinaus vor dem Hintergrund der gesamtmedialen Entwicklung des 19. Jahrhunderts zu konstruieren.231 Holz228 Vgl. u. a. Bien 1965, Alewyn 1982; Gillespie 2008. 229 Waldmann 1961, 207 und Bien 1965, 459. 230 Drexler 1990; Kayman 2003, 41f. Der Verweis auf die Zeitschrift als medialem Ort der Detektiverzählung taucht auch schon bei Hügel 1978, 161ff. auf. 231 Holzmann 1993 und 2001.
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Literatur: Die Detektiverzählung
manns Projekt, die Gattungsgeschichte der Detektiverzählung als Mediengeschichte zu schreiben, lässt mediale Umbrüche wie die Erfindung von Daguerrotypie, Fotografie und Film als wichtige Schaltstellen der Gattungsentwicklung erscheinen, die den spezifisch detektivischen Blick beispielsweise als »Kamerablick«232 sichtbar machen oder das gattungstypische Spiel von Verbergen und Enthüllen auf filmische Licht-Schatten-Inszenierungen zurückführen. Die Detektiverzählung bleibt in Holzmanns Analyse aber nicht das einzige Ergebnis der Medienentwicklung im 19. Jahrhundert: Vor allem die Fotografie und ihre Anwendung im Rahmen von Bertillonage und Fotokartei habe eine Weiterentwicklung erkennungsdienstlicher Verfahren ermöglicht, die Kriminalistik und Kriminologie in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts schließlich zum Durchbruch verhelfen und damit, so Holzmann, mittelbar auch den Aufstieg der Detektiverzählung beeinflussen. Wie die angewendeten und theoretischen Wissenschaften vom Verbrechen beruhe nämlich auch die Detektiverzählung auf einem Konzept von Identität und Wiederauffindbarkeit des verbrecherischen Individuums, das sich aus (vor allem auch medial produziertem233) Indizienwissen speise. Ein solcher genetischer Wechselwirkungsverbund von wissenschaftlicher Disziplin und literarischer Gattung, wie er von Holzmann hergestellt wird, ist insofern interessant, als sowohl in der jüngeren als auch in der älteren Forschung zur Detektiverzählung eine gewisse Tendenz zu beobachten ist, die Gattungsgenese in epistemisch-szientifischen Kontexten zu denken. Wie schon im Fall von Arbeiten, die die Detektiverzählung im Rahmen thematischer Analysen mit wissens- und wissenschaftsbezogenen Aspekten in Verbindung bringen, wird auch hier vorwiegend der Bezug zu den im Text gezeigten Methoden der Detektion gesucht. Als epistemisches Modell der detektivischen Tätigkeit gelten dabei, durchaus in Anlehnung an die oben diskutierte Verortung der Gattung im Positivismus, meist die exakten Wissenschaften.234 Deren Aufstieg als Musterdisziplinen einwandfreien wissenschaftlichen Arbeitens im 19. Jahrhundert, so wird argumentiert, mache die Mittel ihres Denkens und Vorgehens zu einem vorbildhaften und populären Methodenkomplex aus Logik, Empirie und kontrollierter Kombination, auf dessen Basis sich dann auch die Detektiverzählung entwickele. Diese Sichtweise auf die Entstehung der Gattung, deren Tradition bis auf Régis Messacs frühe Studie Le detective-novel et l’influence de la pensée scientifique aus dem Jahr 1929 zurückreicht, wird seit einigen Jahren zwar nicht 232 Holzmann 2001, 3. 233 Ebd, 99ff. 234 Sehr früh und umfänglich bereits bei Messac 1929, kritisch besprochen bei Alewyn 1982, 347ff.; vgl. außerdem Diedel-Käßner 1986 und Hackenbruch 1996. Auch Waltraud Woellers Illustrierte Geschichte der Kriminalliteratur (1985) arbeitet mit dem Zusammenhang zwischen Naturwissenschaft und Detektiverzählung.
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grundsätzlich, wohl aber in ihrer ausschließlichen Konzentration auf den Fächerverbund der Naturwissenschaften in Frage gestellt. Kurt Jauslin hat etwa darauf hingewiesen, dass die Methode des literarischen Detektivs keineswegs als Verfahren der exakten Wissenschaften ansprechbar sei: Es gehe eben nicht um Messung, Beobachtung und die Bildung kontingenzreduzierender Gesetze, sondern um »reines Denken«235. Die Detektion erscheint Jauslin daher als ein »spekulativer Prozess«, der eher der »philosophischen Imagination«236 und damit dem konjekturalen Paradigma der nicht-exakten Wissenschaften nachgebildet sei. Zuletzt hat Reto Fetz bezüglich des in der Detektiverzählung präsentierten Ermittlungsprozesses für eine methodische Synthese geworben. Konstitutiv für die Detektion sei sowohl naturwissenschaftliches Erklären als auch geisteswissenschaftlich-philosophisches Erzählen, »Narration und Explikation« stünden hier »in einer nicht aufzulösenden Einheit«237. Die Forschung hat aber auch über die Methode der Detektion hinausgehende genetische Zusammenhänge zwischen Detektiverzählung und Wissenschaft sichtbar gemacht. Das ist meist dann der Fall, wenn statt der oben genannten wissenschaftlichen Fachverbünde einzelne Disziplinen bzw. Wissensfelder als Entstehungsgrundlage und genetische Bezugsgröße der Gattung in den Blick genommen werden. Besonders naheliegend ist eine solche Verbindung natürlich für Kriminologie und Forensik, die sich im akademischen Kontext und auf wissenschaftlicher Basis etwa zur selben Zeit wie die Detektiverzählung formieren.238 Eine der bislang ausführlichsten Studien hierzu hat Ronald R. Thomas vorgelegt.239 Zudem ist die Entstehung der Detektiverzählung in weniger systematischer Absicht auch unter Bezugnahme auf die Psychologie des frühen 19. Jahrhunderts untersucht worden.240 Es lässt sich festhalten: In der umfangreichen Forschung zur Detektiverzählung wird sowohl in Bezug auf ihre Definition als auch in Bezug auf ihre Genese mit überraschender Beständigkeit umkreist, dass sich die Gattung in vielfacher 235 236 237 238
Jauslin 2004, 230. Beide: Ebd, 232. Fetz 2007, 67. Zur Verwissenschaftlichung der Kriminologie im 19. Jahrhundert vgl. Becker 2002 und Becker / Wetzell 2006. 239 Thomas 1999. Vgl. jüngst auch Peck / Sedlmeier 2015 und Haut 2017, der die von ihm zur Lektüre ausgewählten ›Kriminalnovellen‹ allerdings eher als Spielarten realistischen Erzählens begreift. Die Verknüpfung der Gattung mit kriminalistischen und kriminologischen Wissensparadigmen bildet auch in dem von Metin Genç (2018a) für das jüngst bei Metzler erschienene Handbuch Kriminalliteratur entworfenen Überblick über aktuelle Forschungsperpektiven den Kernbestand der unter den Stichworten ›Wissensgeschichte‹ und ›Wissenpoetologie‹ verhandelten Ansätze. 240 Kittler 1991.
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Hinsicht mit den Konzepten der Narration und des Narrativen auseinandersetzt und darüber hinaus in (mehr oder weniger systematisch gefasster) Verbindung zu epistemisch-szientifischen Kontexten steht. Metanarrative Analysen ihrer Texte wie auch Engführungen von Detektiv und Wissenschaftler, Detektiverzählung und bestimmten Wissensbereichen erscheinen offenkundig naheliegend und plausibel. Dabei hat die hier vorgelegte Diskussion einer neu akzentuierten Definition der Detektiverzählung bereits gezeigt, dass man ihre auffällige Vorliebe für narrationsbezogene Szenarien als paradigmatischer und wesenseigener für die Gattung begreifen kann, als das bislang geschehen ist. Dasselbe gilt, und das wird im Folgenden im Zentrum stehen, auch für ihre Verbindung zu Wissen und Wissenschaft.
II. Wissen
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Wissen: Das 19. Jahrhundert
Indem sie einem Narrativ folgt, das in der erzählenden Vorwärtsbewegung seinen eigenen Anfang, seinen Ursprung einholt, erzählt die Detektiverzählung, obwohl sie einem streng mythologischen Kontext freilich entwachsen ist, als Aition. Mit dieser aus den bisherigen Überlegungen gewonnenen Teilbestimmung der Gattung wird das detektivische Erzählen in der Tradition einer narrativen Form verortbar, die in genuiner und vielschichtiger Verbindung zum Konzept des Wissens steht. Das jedenfalls verrät ein erneuter Blick auf die schon einmal zu Rate gezogenen Lexikonartikel aus dem Begriffsumfeld des Aition. So betont Marco Fantuzzi im Neuen Pauly den dezidiert »kultisch-antiquarischen Aspekt«241 der sich im Hellenismus zu einem eigenständigen literarischen Genus entwickelnden antiken Aitiologie. Deren Erzählen von den Ursprüngen entfaltet sich damit zunächst einmal im konzeptuellen Rahmen der Aufbewahrung überlieferten Wissens. Auch in seiner häufigsten Erscheinungsform als aitiologischer Mythos fungiert das Aition, das hebt Fritz Graf im selben Lexikon unter dem Lemma ›Mythos‹ mit Verweis auf Aristoteles hervor, als ein »Behältnis des Wissens«242. Folgt man Grafs konzisem Abriss über die griechische und römische Antike, wird dieses Zusammenspiel von Mythos und Wissen interessanterweise gerade dort besonders deutlich sichtbar, wo der antike Mythos in seiner Glaubwürdigkeit und Plausibilität zunehmend angezweifelt wird. Der grundsätzlichen Kritik, die vor allem Historiker und Philosophen bereits seit dem Ende des 6. Jahrhunderts v. Chr. an der mythischen Tradition üben, können deren Fürsprecher nur durch Historisierung und allegorische Deutung der mythischen Stoffe entgegentreten. Die antike ›Rettung‹ des Mythos vollzieht sich damit im Rahmen einer Rezeptionshaltung, die den (auch aitiologischen) Mythos als Medium eines aus ihm herauszudeutenden Wissens begreift. Diese Grundannahme gilt indes nicht nur für das überlieferte Korpus traditioneller 241 Fantuzzi, Marco / Wittke, Anna-Maria (1996): Aitiologie. In: Der neue Pauly (Band 1). Stuttgart, Weimar, 369–71, hier: 371. 242 Graf, Fritz (2000): Mythos. In: Der neue Pauly (Band 8). Stuttgart, Weimar, 640–47, hier: 645.
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Mythen, sondern im Umkehrschluss auch für die Funktionsweise des absichtsvoll entworfenen Kunst- bzw. philosophischen Mythos.243 Hier wird der Kontext mythischen Erzählens vorsätzlich fingiert, um in einer diesem Zweck entgegenkommenden Form moralisch-didaktische Lehren zu vermitteln und philosophisches Wissen anschaulich zu illustrieren. Sowohl in der Praxis der Mythenallegorese als auch in seiner artifiziellen Erscheinungsform als philosophischer Mythos weist sich das mythische und mit ihm das aitiologische Erzählen so als Bestandteil eines gleichermaßen antiquarischen wie didaktisch-enzyklopädischen Projektes aus. Die Aufbewahrung und Vermittlung tradierter wie neuer Wissensbestände bildet indes nur einen Teil der Beziehungen ab, die das Aition zum Bereich des Wissens unterhält. Darüber hinaus entwickelt es als Begriff nämlich selbst auch epistemische Valenz. Das betrifft zum einen seine evidente Nähe zur Etymologie, die neben dem bereits besprochenen Lemma ›Mythos‹ ebenfalls zum lexikalischen Verweispfad gehört, den der Neue Pauly vom Begriff der Aitiologie ausgehend empfiehlt. Wiewohl je unterschiedliche Gegenstandsbereiche – kultische und genealogische Phänomene auf der einen, Sprache und Wörter auf der anderen Seite – im Vordergrund stehen, begegnen sich aitiologisches und etymologisches Denken in ihrer Suche nach den Ursprüngen. Dabei können sie sich durchaus gegenseitig beglaubigen, etwa wenn etymologische Überlegungen aitiologische Erzählungen plausibilisieren. So schildert der römische Dichter Ovid im dritten Buch seines Versepos Metamorphoses, wie der phönizische Königssohn Cadmus die Stadt Theben an der Stelle gründet, an der sich ein Rind niederlegt, dem zu folgen Apoll Cadmus zuvor befohlen hat: »›Bos tibi‹, Phoebus ait, ›solis occurret in arvis […]‹«244. Das Rind ist dabei aber nicht nur ausschlaggebend für die Auswahl des Siedlungsplatzes, sondern auch für dessen Benennung. Denn in seinem Orakelspruch empfiehlt Apoll abschließend eben nicht den erst später im Text auftauchenden Namen Thebae für die neue Stadt, sondern zunächst einmal »Boeotia«245, die Böotische. Damit gibt sich die Prophezeihung des delphischen Gottes, die die Erzählung eröffnet, ein offenkundiges etymologisches Fundament: Der Name der Landschaft Böotien, deren Hauptort Theben ist, leitete sich nach antiker Vorstellung wegen der dortigen Rinderweiden vom altgriechischen ›βοûς‹ (›Rind‹) ab, das das Lateinische wie-
243 Zum philosophischen Mythos vgl. ebd, 646. 244 Met. III, 10: »›Ein Rind wird dir‹, sagte Apoll, ›auf einsamen Feldern begegnen […]‹«. Es liegt der von W.S. Anderson für die Bibliotheca Teubneriana besorgte Text der Metamorphosen zu Grunde. 245 Ovid, Met. III, 13. Für das erstmalige Auftauchen des eigentlichen Stadtnamens Thebae vgl. Met. III, 131.
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derum als ›bos‹ übernommen hat.246 Man kann diese Engführung der etymologisch virulenten Begriffe »bos« und »Boeotia« im Rahmen des einleitenden Orakelspruchs als erzählerisch durchaus absichtsvoll begreifen. Sie garantiert bereits vor Mitteilung des eigentlichen Aition den Erfolg des Cadmus, der vor der tatsächlichen Stadtgründung noch einige Prüfungen zu bestehen hat, und stattet sein Unternehmen mit eben der scheinbaren Zwangsläufigkeit aus, die dem Aition seine auf etymologischer Logik beruhende Unanfechtbarkeit verleiht. Etymologie und Aition sind bei Ovid also auf kunstvolle Weise ineinander verschränkt: Während der thebanische Gründungsmythos bereits zu Beginn eine Art etymologisches Sicherheitsnetz erhält, wird die Etymologie des Wortes Böotien im erzählenden Vollzug des Aition ihrerseits schlussgültig verifziert. Dass Etymologie und Aitiologie bei ihrer je eigenen Ursprungssuche in ein so enges Verhältnis zueinander treten können wie es der kleine Auszug aus Ovids Metamorphoses illustriert, ist insofern interessant, als diese Suche zumindest im Rahmen der Etymologie bereits in der Antike einen wissenschaftlich-systematischen Anspruch entfaltet. Lexikalische Bildungen in Form von etymologischen Wörterbüchern sind etwa seit der Spätantike überliefert.247 Schon früh bildet die Etymologie so einen eigenständigen Wissensbereich zwischen Philosophie und Grammatik, der heute als Wissenschaftszweig in der historischen Linguistik angesiedelt ist. Das Aition etabliert sich aber nicht nur über seine Nähe zur Etymologie als epistemisch valent. Es ist dazu nicht eigentlich auf disziplinäre Abfärbeeffekte angewiesen, sondern setzt sich als zentraler Begriff (natur-)philosophischer Überlegungen zum Prinzip der Kausalität auch selbst in ein produktives Verhältnis zu Fragen des Wissens.248 Die umfängliche Auseinandersetzung mit dem Begriff der Ursache (oder eben des ›aition‹) in gleich vier Bedeutungsdimensionen, die Aristoteles im dritten Kapitel des zweiten Buchs seiner Physik vornimmt, ist hierfür lediglich das wahrscheinlich einflussreichste Beispiel. In den verschiedenen lexikalischen Schichten des Aition-Begriffs eröffnet sich eine Verbindung der Detektiverzählung zum Bereich des Epistemischen, die nicht – wie das bislang im Vordergrund der Forschung stand – vornehmlich auf Figuren oder Textmotiven basiert, sondern die sich aus dem konstitutiven Kern der Gattung selbst herleitet. Das lässt sich indes nicht nur für das Wie, sondern auch für das Was ihres Erzählens geltend machen. Im Rahmen ihrer aitiologi246 Vgl. stellvertretend die entsprechende Anmerkung im ersten Band des von Rudolf Ehwald herausgegebenen Metamorphosen-Kommentars (101966, 147). Kritisch besprochen wird die Etymologie im Kommentar von Franz Bömer (1969, 447). 247 Tosi, Renzo / Heinze, Theodor (1998): Etymologica. In: Der Neue Pauly (Band 4). Stuttgart, Weimar, 198–200. 248 Mansion, S. (1965): Aitia. In: Lexikon der Alten Welt. Zürich, Stuttgart, 86–87; Detel, Wolfgang (1999): Kausalität. In: Der neue Pauly (Band 6). Stuttgart, Weimar, 365–68.
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Wissen: Das 19. Jahrhundert
schen Schreibweise begibt sich die Detektiverzählung, auch das ist Ergebnis der bisherigen Überlegungen, auf die Suche nach der zunächst fragmentierten, verlorenen oder verborgenen Erzählung eines (tatsächlichen oder vermeintlichen) Verbrechens. Sie löst damit etwas ein, das Peter Brooks mit der Formel des »desire […] for narrative«249 als menschliches Grundbedürfnis identifiziert hat: das Hervorbringen einer Erzählung, die durch ihre narrative Kohärenz aufeinanderfolgende Ereignisse in kausale Handlungsstrukturen überführt und so Zusammenhänge herstellt, Sinn stiftet, kurz: einen Plot erkennbar macht.250 Dieses Bedürfnis sei zwar universell und zeige sich schon in sehr frühen Erzählformen wie Mythos und Märchen, doch werde ihm zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedlich viel Bedeutung beigemessen. So habe sein eigenes, das 20. Jahrhundert eine tendenziell skeptische, ja argwöhnische Haltung gegenüber dem Plot und dem ›plotting‹ entwickelt, ohne sich indes von der Notwendigkeit erzählender Strukturen vollständig lösen zu können. Für das 19. Jahrhundert hingegen sei der Modus der Erzählung bei der Herstellung von Bedeutung so zentral, dass Brooks emphatisch von einem »golden age of narrative«251 spricht. Das betrifft natürlich zunächst einmal die große Tradition des literarischen Erzählens im 19. Jahrhundert, aus der Brooks neben dem Roman übrigens gerade die Detektiverzählung als »inevitable product […] of its [d.i. the 19th century’s] privileging of narrative explanation«252 heraushebt. Dem »narrative impulse« des 249 Brooks 1984, xv. 250 In jüngster Zeit hat Brooks’ »desire for narrative« auf dem Gebiet der Literaturtheorie eine adaptionistische Grundlage erhalten. Für die Vertreter der Adaptionist Literary Studies bzw. des Darwinian Literary Criticism, darunter prominent der Literaturwissenschaftler Joseph Carroll, erfüllen sowohl die Kunst im Allgemeinen als auch die Literatur als erzählende Kunst im Besonderen vorrangig adaptive Funktionen: »Art provides an emotionally and subjectively intellegible model of reality, and it is within such models that human beings organize their complex behaviors in flexible response to contingent circumstances. The imaginative models that we construct about our experience in the world do not merely convey practical information. They direct our behavior by entering into our motivational system at its very roots – our feelings, our ideas, and our values. We use imaginative models to make sense of the world, not just to »understand« it abstractly but to feel and perceive our own place in it – to see it from the inside out. Making sense of the world in this way, through narrative and through other arts, is both a primary psychological need and a necessary precondition for organizing our behavior in ways that satisfy all our other adaptive needs« – Carroll, Joseph (2004): Literary Darwinism. Evolution, Human Nature, and Literature. New York u. a., xxii. Es entbehrt hierbei nicht einer gewissen zirkelhaften Ironie, dass sich eine solche Position ausdrücklich aus evolutionsbiologischen Grundannahmen speist und damit eigentlich auf einer Disziplin fußt, die laut Brooks in ihrer Verfasstheit bereits selbst auf eben das Verlangen nach Narration antwortet, das ihr literaturtheoretischer Zögling mit ihrer Hilfe zu erklären versucht. Weitere Arbeiten Carrolls zum Thema: Evolution and Literary Theory (1995), Reading Human Nature: Literary Darwinism in Theory and Practice (2011). Vgl. zum Menschen als ›story-telling animal‹ auch Wolf 2013. 251 Brooks 1984, xi. 252 Ebd, 270 (meine Erläuterung).
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Jahrhunderts, seinem »unquenchable thirst for plots«253 folgen neben der Literatur aber auch und gerade, und hier schlagen Brooks’ Überlegungen eine entscheidende Richtung ein, dessen Wissenschaften.
2.1
Das 19. Jahrhundert als ›Zeitalter der Geschichte‹: Epistemische Verzeitlichungstendenzen
Als Michael Buback in einem am 07. 12. 2011 ausgestrahlten Interview für die Sendung 3sat Kulturzeit nach den Erwartungen gefragt wurde, die er an den seit einem Jahr laufenden Prozess gegen die ehemalige RAF-Terroristin Verena Becker habe, gab der Sohn des 1977 erschossenen Generalbundesanwalts Siegfried Buback folgende Antwort: »Die Frage, ob jetzt Frau Becker verurteilt wird oder nicht verurteilt wird oder auf Bewährung vielleicht verurteilt wird, ist letztlich für uns fast ohne Bedeutung. Aber was eben nicht ohne Bedeutung ist, ist zu wissen, wie es war.«254
Dieses Eingeständnis mag überraschen. Immerhin hält Buback Verena Becker bereits seit Jahren für die Mörderin seines Vaters, er hatte mit seinen 2008 unter dem Titel Der zweite Tod meines Vaters publizierten Recherchen die erneute Anklage gegen Becker maßgeblich betrieben und trat im Prozess selbst als Nebenkläger auf. Und doch: Eine mögliche Verurteilung spielt für Buback eine nur untergeordnete Rolle. Es geht ihm offenbar nicht, wie zu erwarten wäre, um Strafe, nicht um Sühne, nicht um Gerechtigkeit im juristischen Sinn. Stattdessen formuliert er eine Hoffnung, die auf den ersten Blick äußerst bescheiden, fast ein wenig simpel anmutet: endlich zu wissen, was damals geschehen ist. Man kann das verstehen als die in jedem Strafprozess zu leistende Aufarbeitung der für die jeweilige Tat relevanten Ereignisse und Zusammenhänge, ohne die ein Zuweisen von Tatverantwortlichkeit schlichtweg nicht möglich wäre. Erst wenn zweifelsfrei feststeht, wer wann unter welchen Umständen was getan, unterlassen, begünstigt oder veranlasst hat, lässt sich über die Art der Wiedergutmachung, das Maß der Strafe sprechen. Bubacks Wunsch scheint allerdings von einem anderen Interesse getrieben zu sein. »Zu wissen, wie es war« – das ist hier eben nicht Mittel zum Zweck der Urteilsfindung, sondern selbst bereits das Ziel. Was der Prozess beheben soll, ist eben nicht das Ausbleiben einer befriedigenden Form der Vergeltung. Es geht für Buback um ein offenbar ungleich unerträglicheres Leiden: das Leiden an der Ungewissheit darüber, was vor beinahe vier 253 Ebd, 3 und 5. 254 Eigenhändig angefertigtes Wortprotokoll des Beitrags, der in der Mediathek des Senders unter http://www.3sat.de/mediathek/index.php?mode=play&obj=28404 (letzter Zugriff am 08. 05. 2015) einsehbar ist.
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Jahrzehnten gewesen ist, an der Ungewissheit darüber also, welche Form die Geschichte vom Tod des Vaters schlussgültig annehmen muss. Im Prozess soll diese Geschichte an ihr Ende kommen, soll die Erzähllücke geschlossen werden, die die eigene Familiengeschichte, die eigene Biografie schon so lange fragmentiert. Das erinnert nicht von ungefähr an Peter Brooks’ Bestimmung des Menschen als plotbedürftiges Wesen: Auch dem Interesse Michael Bubacks am Prozess gegen Verena Becker scheint nicht so sehr ein moralisch-rechtlicher als vielmehr ein erzählerischer Impetus zu Grunde zu liegen. Bubacks Wunsch »zu wissen, wie es war« und Brooks’ »desire for narrative« entsprechen einander im Kern. Man könnte indes beinahe versucht sein, unter Berufung auf eben dieses »zu wissen, wie es war« noch ein weiteres Motiv für den Prozess anzunehmen, namentlich ein historisches. Zu unüberhörbar klingt doch in Bubacks Formulierung das vielzitierte Diktum des Historikers Leopold von Ranke mit, Aufgabe der Historiografie sei es, zu »sagen, wie es eigentlich gewesen«255. Diese Assoziation ist nicht unerheblich. Sie verknüpft das Brooks’sche Bedürfnis des Opfers nach der lückenlosen Erzählbarkeit eines Verbrechens, die ja auch im Zentrum der Detektiverzählung steht, mit der sich als Wissenschaft verstehenden, modernen Geschichtsforschung, als deren Gründungsformel Rankes Forderung gemeinhin begriffen wird – und die darüber hinaus spätestens seit Foucaults Charakterisierung des 19. Jahrhunderts als »Zeitalter der Geschichte«256 als Leitwissenschaft eben dieses Jahrhunderts gilt. Der Aufstieg der Geschichtswissenschaft zur zentralen akademischen Disziplin des 19. Jahrhunderts vollzieht sich im Rahmen eines von der Forschung gut dokumentierten wissenskulturellen Wandlungsprozesses. In dessen Verlauf wird für das 19. Jahrhundert eine Wahrnehmung, eine Konzeption des Menschen und der Welt maßgeblich, die beinahe ausschließlich an die Kategorie der Zeit gebunden und in diesem Sinn historisch ist. Eine solche »Verabsolutierung des historischen Wissens«257, wie es Ulrich Muhlack prägnant formuliert hat, lässt sich dabei sowohl für bereits bestehende Wissensfelder beobachten als auch bei der Entstehung neuer wissenschaftlicher Disziplinen geltend machen. Einige Beispiele mögen genügen: In der Theologie beginnt sich, maßgeblich betrieben durch den evangelischen Theologen Johann Salomo Semler, das Verfahren der historisch-kritischen Exegese und damit die Einsicht durchzusetzen, dass für ein angemessenes Verständnis vermeintlich offenbarter Schriften wie der Bibel 255 Ranke, Leopold (1824): Geschichten der romanischen und germanischen Völker von 1494 bis 1535 (Band 1). Leipzig, Berlin, vi (»Vorrede«). 256 Foucault 1974, 269. 257 Muhlack 2003, 9 (»Einleitung«).
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deren Verortung in konkreten historisch-sozialen Zusammenhängen unabdingbar ist. Auch heilige Texte haben Kontexte, haben Geschichte. In gleicher Weise ist seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erstmals ein im Wesentlichen historisch informiertes Interesse an Sprache und Literatur zu verzeichnen258. Bislang vergessene Texte wie Wolframs von Eschenbach Parzival oder das Nibelungenlied werden ediert (1753 und 1782), die mittelalterlichen Sprachstufen des Deutschen, Englischen und Französischen mit den zugehörigen Literaturen systematisch erschlossen und erforscht. Auch die Arbeit an (teils bereits untergegangenen) außereuropäischen Sprachen und Schriftsystemen erlangt neue Bedeutung: Namentlich die Entzifferung der ägyptischen Hieroglyphen durch Jean-François Champollion und die zumindest teilweise Entschlüsselung der Keilschrift durch Georg Friedrich Grotefend eröffnen zu Beginn des 19. Jahrhunderts wichtige historische Textbestände. Ebenfalls im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen Persisch und Sanskrit. Es entstehen Übersetzungen, vor allem aber neue akademische Fächer wie die Klassische Indologie oder die Indogermanistik, aus der sich später die Historisch-vergleichende Sprachwissenschaft entwickelt. Auch die Archäologie, wiewohl freilich mit wesentlich weiter zurückliegenden Fachursprüngen ausgestattet, erhält ihr vertrautes, und das heißt: wissenschaftliches Gesicht erst im Lauf des 19. Jahrhunderts. Noch während der ersten gezielten Grabungen in Herculaneum (1738) und Pompeji (1748) ist der Archäologe kaum vom archivarisch ambitionierten Kunstsammler zu unterscheiden. Die Entdeckung, Erfassung und Würdigung bedeutender Einzelfunde, meist Kunstwerke, steht im Vordergrund des archäologischen Arbeitens. Nur langsam beginnen genuin historische Interessenlagen diesen Primat des Ästhetischen abzulösen, bis die Archäologie ab der Mitte des 19. Jahrhunderts den endgültigen Schritt aus dem antiquarisch verwalteten Antikenkabinett wagt. Die Wende ist bereits mit Johann Joachim Winckelmann und seiner umfangreichen Geschichte der Kunst des Altertums von 1764 markiert. Winckelmann entwirft darin die Geschichte der griechischen Kunst als Abfolge von vier Stilen – dem älteren Stil, dem hohen Stil, dem schönen Stil und dem Stil der Nachahmer – und konzipiert sie damit nicht mehr als Künstlergeschichte, sondern als eine am Idealschönen orientierte Stilgeschichte. Entscheidend ist der diachrone Impetus dieses Konzepts, seine auf dem Prinzip einer kontinuierlichen Stilentwicklung basierende Perspektive. Mit eben diesem Prinzip bezeichnet Winckelmanns Schrift den Beginn gleich zweier Pfade, von denen der eine zur modernen Kunstgeschichte, der andere zu einer historisch orientierten Archäologie mit systematisch-do258 Die anschließende Darstellung folgt der komprimierten Übersicht in Leonhardt, Jürgen (2009): Latein. Geschichte einer Weltsprache. München, 260–66 (»Die Entdeckung der alten Sprachen«).
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kumentierendem Anspruch führt: 1846 beginnen die Ausgrabungen im österreichischen Hallstatt, 1871 entdeckt Heinrich Schliemann auf dem Berg Hissarlik ›sein‹ Troja, zwischen 1875 und 1881 findet unter Ernst Curtius die erste umfassende Freilegung des antiken Zeus-Heiligtums in Olympia statt. Die Grundlagen ihrer Grabungspraxis bezieht die Archäologie des 19. Jahrhunderts dabei zu einem wesentlichen Teil aus der Geologie, die zu Beginn des Jahrhunderts selbst noch eine junge Wissenschaft ist.259 Mit dem über vier Jahrzehnte andauernden Streit zwischen Plutonisten und Neptunisten beginnen geologische Diskurse ab dem Ende des 18. Jahrhunderts erstmals in akademische Kontexte hineinzuwachsen. Als der Ingenieur William Smith 1815 seine nach stratigrafischen Prinzipien vorgenommene geologische Kartierung von England und Wales vorlegt, ist diese institutionelle Schwelle beinahe überschritten: Bereits 1807 wird die Geological Society of London gegründet, 1818/19 besetzt William Buckland an der Oxforder Universität die neu geschaffene Stelle eines Dozenten für Geologie. Zumindest die britische Geologie versteht sich dann auch spätestens ab den 1830er Jahren als eigenständige akademische Disziplin, in Deutschland wird ein vergleichbarer Prozess etwa zwei Jahrzehnte später erkennbar. Diese Entwicklung ist indes nicht denkbar ohne eine weitere große Debatte des 18. Jahrhunderts. Dabei sprachen sich Naturforscher wie Georges Buffon und James Hutton dafür aus, die bis dahin anerkannte erdgeschichtliche Zeitskala bedeutend in Richtung Ursprung zu verlängern. Zuvor waren Berechnungen gültig gewesen, die sich auf aus der Bibel extrapolierte Zeitangaben stützten und die – wie etwa das annalistische Werk des Theologen James Ussher von 1650, der das Schöpfungsdatum in das Jahr 4004 v. Chr. verlegt hatte – die Erde als verhältnismäßig jung kennzeichneten. Dass gerade das angenommene Erdalter eine so zentrale Rolle für die Ausbildung einer auch im universitären Raum präsenten Geologie spielt, erklärt sich aus einer Besonderheit des Faches, die es auch für die Beschreibung eines epistemischen Verzeitlichungsprozesses relevant macht. Als Wissenschaft von der Entwicklungsgeschichte der Erde und den zu ihrer aktuellen Gestalt beitragenden Formationsprozessen denkt die Geologie – anders als beispielsweise die Geografie – ihren Forschungsgegenstand nicht in drei, sondern in vier Dimensionen. Sie nimmt den Raum vor allem in seinem Werden und Gewordensein in den Blick und stattet ihn so mit zeitlicher Tiefe aus. Damit steht die Geologie als (mit Ausnahme der Paläontologie) nahezu einzige Disziplin innerhalb des Spektrums der Geowissenschaften auf einem grundsätzlich historisch-prozessualen Fundament.
259 Zur Fachgeschichte der Geologie vgl. beispielsweise: Wagenbreth, Otfried (1999): Geschichte der Geologie in Deutschland. Stuttgart; Schimkat, Peter (2008): Geologie in Deutschland. Zur Etablierung einer naturwissenschaftlichen Disziplin im 19. Jahrhundert. Augsburg.
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Insgesamt lässt sich so praktisch allen nicht-naturwissenschaftlichen Disziplinen – und auch mancher naturwissenschaftlichen Disziplin – des 19. Jahrhunderts eine theoretische Grundlegung nachweisen, die auf der Annahme einer epistemisch relevanten zeitlichen Tiefe des jeweiligen Untersuchungsgegenstandes beruht. Die Wissenschaften des 19. Jahrhunderts folgen einem überwiegend in die Vergangenheit gerichteten Erkenntnisinteresse, Jürgen Osterhammel hat diesbezüglich von einem »Imperativ der Ursachenforschung«260 gesprochen. Das so hergestellte Wissen, die sich so formierende Episteme ist im Kern diachron, historisch organisiert. Vor allem zwei einflussreiche Arbeiten haben dazu beigetragen, diese Historizität nicht einfach als vereinzeltes und über mehrere Wissensbereiche verstreutes Phänomen zu registrieren, sondern sie als epistemische Grundsignatur des 19. Jahrhunderts sichtbar zu machen: Michel Foucaults Die Ordnung der Dinge (zuerst 1966 als Les mots et les choses) und Wolf Lepenies’ Das Ende der Naturgeschichte (1976).261 Foucault geht von der Annahme aus, dass zwischen 1775 und 1825 ein massiver Wandel im epistemischen »System der Positivitäten«262 stattfindet, dass sich also die Seinsweise des Wissens an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert grundlegend verändert. Mit besonderem Blick auf die Wissensbereiche Ökonomie, Sprachwissenschaft und Biologie kennzeichnet Foucault diesen Wandel als Übergang von einer vorrangig räumlich-synchronen Ordnung des Wissens zu einem historisch-diachronen Bewusstsein, das auf der Basis von »Kausalitäts- und Geschichtsfolgen«263 arbeitet: Die Genealogie löst die Nomenklatur als grundlegende Organisationsform 260 Osterhammel 52010, 33. 261 Gerade Foucaults Thesen sind dabei nicht unumstritten. Wiederholt wurde ihm etwa vorgeworfen, seine Beobachtungen seien empirisch mindestens unzulänglich, wenn nicht gar schlichtweg falsch. In seinen Überlegungen herrsche darüber hinaus ein gewisser Symmetriezwang, der dazu führe, dass die Argumentation unterstützende Zusammenhänge – auch durch unzulässige Verallgemeinerungen – überzeichnet, eventuell gegenläufige Tendenzen hingegen vernachlässigt würden. Auch wenn die Vorwürfe grundsätzlich sicher nicht von der Hand zu weisen sind, bleiben Foucaults Thesen doch relevant, wenn man ihren Modellcharakter hervorhebt. Sie entspringen eben nicht einem genauen Studium aller Details. Vielmehr sind sie als eine Arbeitsgrundlage zu verstehen, als eine Heuristik des Nachdenkens über Zeitlichkeit, die binnenwissenschaftliche Reibungsdifferenzen in Kauf nimmt und empirische Unebenheiten willentlich glättet, um die großen Linien einer Entwicklung überhaupt sichtbar zu machen. Zur kritischen Auseinandersetzung mit Foucault vgl. Gutting, Gary (1994): Foucault and the History of Madness. In: Ders. (Hg.): The Cambridge Companion to Foucault. Cambridge, 47–70; Wehler, Hans-Ulrich (1998): Die Herausforderung der Kulturgeschichte. München, 45–95, hier besonders: 77ff. Für eine knappe Zusammenfassung der Kritik und weitere Literaturhinweise vgl. Kammler, Clemens (2007): Foucaults Werk. Konzeptualisierungen und Rekonstruktionen. In: Ders. / Parr, Rolf (Hg.): Foucault in den Kulturwissenschaften. Eine Bestandsaufnahme. Heidelberg, 11–25, hier: 22ff. Die meisten Handbücher zu Foucault enthalten einen oder mehrere Abschnitte zur kritischen Foucault-Rezeption mit entsprechenden Literaturhinweisen. 262 Foucault 1974, 25. 263 Ebd, 111.
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der Episteme ab. Lepenies entwirft in Das Ende der Naturgeschichte seinerseits ein ganz ähnlich gelagertes Modell der Verzeitlichung, das – dem Titel der Studie entsprechend – seinen Ausgang in den unter dem Begriff der Naturgeschichte versammelten Wissenschaften vom Leben nimmt. Dabei werde ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts – für die Datierung verweist Lepenies ausdrücklich auf Foucault – das als Tableau und klassifikatorisches Verzeichnis angelegte System der Naturgeschichte durch eine Denkweise ersetzt, die auf evolutiv-entwicklungsgeschichtlichen Konzepten beruhe. Eine solche »Verzeitlichung ihrer Grundannahmen«264 beschreibt Lepenies ähnlich wie Foucault in der Folge auch für weitere Wissensbereiche, darunter vor allem die Medizin. Auf Grundlage der Arbeiten von Foucault und Lepenies sind gerade auch in jüngerer Zeit zahlreiche weitere Aufsätze, Monografien und Sammelbände entstanden, die von derselben wissensgeschichtlichen Prämisse ausgehen: eben jenem epistemischen Umbruchsprozess an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, den Muhlack emphatisch als »Umsturz der ganzen alteuropäischen Wissenskultur«265 beschreibt und der gemeinhin als Einbruch der Geschichte in das Wissen begriffen wird.266 Im Konzept der Historizität lässt sich so für das 19. Jahrhunderts durchaus das erkennen, was der Wissenschaftshistoriker Thomas S. Kuhn als ›Paradigma‹ im Sinne eines »conceptual network through which scientists view the world«267 beschrieben hat und was bei Ludwik Fleck mit ähnlichen definitorischen Vorzeichen unter dem Begriff ›Denkstil‹ firmiert. Die in diesem Zusammenhang am häufigsten bearbeitete wissenschaftliche Disziplin ist vermutlich die Biologie. Deren Fachgeschichte ist für das 19. Jahrhundert nur mit Blick auf drei einander bedingende Entwicklungen zu schreiben, in deren Zentrum jeweils ein neues Verhältnis zu Geschichtlichkeit und zeitlicher Tiefe steht: der Übergang (1) von der Klassifikation zu einer deszendenzbasierten Systematik, (2) von der Präformation zur Epigenese und (3) von einem Konzept der Verwandtschaft als Ähnlichkeit zu einem der Verwandtschaft als Abstammung.
264 Lepenies 1976, 75. Lepenies hält den epistemischen Verzeitlichungsprozess, der das 19. Jahrhundert prägt, übrigens keinesfalls für irreversibel. Vielmehr vertritt er die These, dass es im Übergang von der Moderne zur Posthistoire wieder zu einer Abkehr von historisch dominierten Vorstellungen, zu einer regelrechten Enthistorisierung komme. 265 Muhlack 2003, 8 (»Einleitung«). 266 So etwa Hagner 1997, der die Wissenschaftsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts als den Versuch bestimmt, »den modernen Menschen als ein Schichtenwesen zu konzipieren« (349), als eine temporale Chimäre, »in verschiedenenen historischen Räumen beheimatet« (354). Vgl. außerdem Matussek 1998, Föcking 2002 und Muhlack 2003. 267 Kuhn 1962, 101.
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Die Tradition eines systematisierenden Zugriffs auf die Natur und ihre Lebewesen ist lang.268 Sie reicht von Aristoteles’ zoologischen Schriften, insbesondere der Historia Animalium (4. Jh.v.Chr.), über Carl von Linnés Systema Naturae (zuerst 1735) bis in die taxonomischen Aufstellungen der modernen Biologie. Traditionellerweise wurden die der Beobachtung zugänglichen natürlichen Lebensformen – Tiere und Pflanzen, lange Zeit auch Minerale – dabei nach Kriterien der Ähnlichkeit und der Komplexität gruppiert. Die daraus resultierende Unterscheidung von niederen (primitiven) und höheren (komplexen) Organismen und deren hierarchische Anordnung ergab eine umfassende Kartografie des Lebens, in der jedem Lebewesen sein fester klassifikatorischer Ort zugewiesen werden konnte. Dieses Konzept einer Stufenleiter des Lebens, besser bekannt als ›Scala Naturae‹ oder ›Great Chain of Being‹, muss als naturgeschichtliche Systematik mit der bei weitem längsten Wirkungsgeschichte gelten. Im Kern bereits bei Aristoteles angelegt und im scholastischen Mittelalter detailreich (und über den Kontext der Naturforschung hinaus) weiterentwickelt, ist sie bis weit in das 18. Jahrhundert hinein virulent und spielt auch im gesamten 19. Jahrhundert als konzeptionelle Basis des Nachdenkens über die Natur noch eine entscheidende Rolle. War die ›Scala Naturae‹ bis dahin aber vor allem als Bestandsaufnahme eines prinzipiell unveränderlichen natürlichen Systems, der Schöpfung, und damit als streng synchrones Ordnungsprojekt gedacht, wird sie ab Beginn des 19. Jahrhunderts zunehmend für diachrone, sprich: Entwicklungszusammenhänge geöffnet. Das geschieht in Ansätzen bereits im Laufe des 18. Jahrhunderts bei Naturforschern wie Georges-Louis Leclerc de Buffon und Jean Baptiste René Robinet, vor allem aber ab der Wende zum 19. Jahrhundert in den Arbeiten von Jean-Baptiste Lamarck und Étienne Geoffroy de Saint-Hilaire. Prominenteste Figur dieser Entwicklung ist natürlich Charles Darwin (im Verein mit und in Konkurrenz zu seinem häufig unbeachteten Kollegen Alfred Russell Wallace), der das statische, entzeitlichte Konzept der ›Scala Naturae‹ mit seiner Evolutionstheorie endgültig als potenziell historisch-dynamischen Prozess aktualisiert: Die Landkarte des Lebens wird zum Zeitstrahl.269
268 Für einen ausführlichen historischen Überblick vgl. die Lemmata ›Systematik‹ (443–68) und ›Taxonomie‹ (469–93) in: Toepfer, Georg (2011): Historisches Wörterbuch der Biologie. Geschichte und Theorie der biologischen Grundbegriffe (Band 3). Stuttgart, Weimar. 269 Zur ›Scala Naturae‹ und ihrer Temporalisierung vgl. u. a. Lovejoy 1948, Diekmann 1992 (mit einem besonderen Fokus auf der Pharmazie) sowie Toepfer 2011 (Band 3), 34–87, hier: 35ff. (›Phylogenese‹).
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Der Begriff der Evolution hat auf seinem Weg zu Darwin allerdings selbst schon einen bemerkenswerten Bedeutungswandel durchlaufen.270 Ursprünglich gehört er zum festen terminologischen Inventar der bis ins 18. Jahrhundert als gültig anerkannten Präformationslehre, die von einer vollständigen Anlage des gesamten Individuums bereits im Spermium oder Ei ausgeht. Evolution bezeichnet in diesem Zusammenhang im Sinne des lateinischen ›evolvere‹ (›herausschälen‹) den Vorgang der graduellen Entfaltung des präformierten Keims. Zunächst tritt der Terminus Evolution damit als Bestandteil, ja Synonym eines Modells in Erscheinung, das seinen Entwicklungsbegriff streng auf den Moment der Zeugung hin fokussiert, im Vergleich zu der die tatsächliche Ausformung des individuellen Organismus lediglich eine Art Nachtrag ist. Den Gegenentwurf zu einer solchen Interpretation von Entwicklung, die ihre eigene zeitliche Dimension im Kern als sekundär begreift, bildet seit der Antike das Konzept der Epigenese. Statt Entwicklung als Wachstum bereits angelegter Strukturen zu verstehen, beruhen epigenetische Ansätze auf der Vorstellung eines durch die Zeugung in Gang gesetzten Prozesses der tatsächlichen Neu- und Umbildung organischer Strukturen. Die Entstehung eines Organismus wird hier nicht in einem als Schöpfung figurierten Zeugungsmoment verortet, sondern ist ein erst und ausschließlich im zeitlichen Verlauf sichtbares Werden. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts beginnen sich solche epigenetischen Positionen zusehends gegen die bis dahin dominierende Präformationslehre durchzusetzen. Im Zuge dieses Paradigmenwechsels verschieben sich auch die terminologischen Vorzeichen des Evolutionsbegriffs hin zu einem auf grundsätzlichere Weise zeitbasierten Verständnis von Entwicklung wie es zur gleichen Zeit etwa auch dem Metamorphosebegriff als Kernmechanismus der Goetheschen Morphologie zu Grunde liegt. Mitte des 19. Jahrhunderts ist es dann schließlich Darwin, der den von seiner streng präformistischen Prägung freigewordenen Begriff erneut aufgreift und ihn zu seiner bis heute gängigen Verwendung im Sinne eines offenen, generationenübergreifenden Entwicklungs- und Transformationsprozesses formt. Ähnlich wie die ›Scala Naturae‹ wird so auch der Begriff der Evolution im 19. Jahrhundert dynamisiert, indem er von der Präformation über die Epigenese bis zur Darwinschen Evolutionstheorie schrittweise in einen entwicklungsbiologischen Kontext migriert, der überhaupt erst mit einer für seinen Gegenstand relevanten zeitlichen Dimension operiert und insofern eine genuin historische Perspektive einnimmt. In diesen Zusammenhang gehört schließlich auch, dass sich die Kriterien der biologischen Taxonomie grundlegend verschieben. Statt Gruppenzugehörigkei270 Vgl. Toepfer 2011 (Band 1), 481–539, hier besonders: 481–90 (›Evolution‹). Zum wechselhaften Verhältnis von Präformation und Epigenese vgl. im selben Band 407–12 (›Entwicklung‹). Vgl. auch Lepenies 1976, 39 und 45–51.
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ten über (vorwiegend morphologisch begründete) Ähnlichkeitsoperationen zu etablieren, wird Artverwandtschaft zunehmend phylogenetisch, also als Deszendenzzusammenhang begriffen: Der Taxonom des 19. Jahrhunderts beginnt in Fortpflanzungs- bzw. Abstammungsgemeinschaften und reproduktiven Zusammenhängen zu denken. Ins Zentrum einer Systematik der Lebewesen rücken damit geniun diachrone Konzepte wie das der Generation und der Genealogie.271 Erst diese und ähnlich gelagerte Entwicklungen ermöglichen letztlich ein dynamisch-prozessuales, ein geschichtliches Konzept von Leben. Sie bilden damit die epistemische Grundlage für eine ganze Reihe immanent historischer Theoriebildungen, die im Lauf des 19. Jahrhunderts und auch noch darüber hinaus in Erscheinung treten. Teils bewegen sich diese Theorien wie eben die Darwinsche Evolutionstheorie oder die von Ernst Haeckel entworfene Rekapitulationstheorie in ihrem ursprünglichen disziplinären Habitat, der Biologie. Teils überschreiten sie aber auch Diskursgrenzen und entfalten ihre Wirkung dann beispielsweise in medizinisch-psychiatrischen oder kriminologischen Zusammenhängen. Zu denken wäre hierbei etwa an die von Bénédict Morel entwickelte Degenerationstheorie, die daran anschließende Atavismustheorie Cesare Lombrosos oder – in einigem zeitlichen Abstand – Sigmund Freuds Konzeption des Es als eines triebhaften, primitiven Residuums innerhalb der menschlichen Psyche272. Insofern all diese Theoriebildungen auf der als sicher angenommenen Existenz eines alle Lebewesen, also auch den Menschen umfassenden Entwicklungsprozesses beruhen, stehen sie – unabhängig davon, ob sie diesen Prozess nun in Bezug auf seine Erfassung, Wiederholung, Umkehr oder Synchronizität in den Blick nehmen – auf dem Fundament derselben zeitlichen Tiefenargumentation. Als deren jüngster Ausläufer lässt sich (in zugegeben grober Vereinfachung) möglicherweise sogar die Einsteinsche Relativitätstheorie adressieren, auf deren Grundlage die Zeit als vierte Dimension des Raumes im Lauf des 20. Jahrhunderts ihren Platz als auch physikalisch relevante Größe einnimmt. Es ist vielleicht kein Zufall, dass ein mögliches Zentralbild dieses weitverzweigten und folgenreichen Einbruchs der Geschichte in die Episteme des 19. Jahrhunderts ebenfalls aus den Wissenschaften vom Leben stammt: der
271 Vgl. zur neuen epistemischen Relevanz dieser beiden Konzepte die entsprechenden Arbeiten von Sigrid Weigel (2002, 2005 und 2006) sowie Parnes / Vedder / Willer 2008. 272 Hier sei noch einmal auf Hagner 1997 verwiesen. Freuds dreigeteiltes topisches Modell der Psyche arbeitet mit eben der Gleichzeitigkeit von »verschiedenen historischen Räumen« (354), die Hagner als Charakteristikum der auf den Menschen gerichteten wissenschaftlichen Bemühungen des 19. und 20. Jahrhunderts verstanden wissen will. Es, Ich und Über-Ich repräsentieren dabei im Grunde unterschiedliche Stadien der menschlichen Entwicklung, die in spannungsreicher Koexistenz zueinander stehen.
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Abb. 1: Die scholastische Scala Naturae, von der unbelebten Natur bis zu Gott reichend und in der Mitte durch eine Gliederkette verbunden. [aus: Valadés, Diego (1579): Rhetorica Christiana]
Stammbaum.273 Noch heute in vielen Disziplinen von der Biologie bis hin zur Sprachwissenschaft als erkenntnisleitendes Modell präsent, entwickelt sich auch der Stammbaum in seiner uns vertrauten Form aus dem traditionsreichen Konzept der ›Scala Naturae‹. Auch diese ist ihrer grafischen Darstellung nach nämlich eigentlich ein Baum, freilich einer, der in seinen Verästelungen ein hierarchisch-räumliches Verhältnis, ein Zueinander-in-Beziehung-Stehen verbildlicht (Abb. 1).
273 Zum »wissenschaftlichen Leitbildcharakter des Stammbaums im 19. Jahrhundert« vgl. für den Fall der Sprachwissenschaft Roggenbuck 2005 (für das Zitat: 311) sowie Frigo 2001, Macho 2002, Castaneda 2002, Weigel 2002a und Weigel 2006, 29–54 (»Der Baum als Schema – Zwischen Leben und Wissen, Taxonomie und Genealogie«). Zu auch von Darwin zu Anfang selbst erwogenen alternativen (und nicht primär zeitlich orientierten) Verbildlichungsmodellen wie etwa der Koralle vgl. u. a. Bredekamp 2005 und Voss 2007.
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Abb. 2: Ernst Haeckels Stammbaum des Menschen. Wiewohl genealogisch angelegt, bleibt die aufsteigende Anordnung der Scala Naturae auch hier noch sichtbar. [aus: Haeckel, Ernst (1874): Anthropogenie]
Der Stammbaum des 19. Jahrhunderts hingegen gräbt seine Wurzeln in die zeitliche Tiefe. Er figuriert genealogische Zusammenhänge, Entstehungsbeziehungen, diachrone Abfolgen und gerät damit zur exemplarischen Wissensfigur eines im Kern historisch orientierten epistemischen Denkmusters (Abb. 2).274 274 Es ist nur folgerichtig, dass der Stammbaum als grafische Beigabe nicht nur im Kontext evolutionsbiologischer Schriften, sondern auch in allen anderen für diese Arbeit relevanten Wissenbereichen, also auch der Archäologie, der Bakteriologie sowie der Psychoanalyse auftaucht. Vgl. hierzu die sich mit den wissenschaftlichen Grundlagentexten dieser Disziplinen auseinandersetzenden Kapitel im dritten Teil der vorliegenden Arbeit, denen entsprechende Abbildungen beigegeben sind.
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2.2
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Es ist nun bemerkenswert und für die Zusammenhänge dieser Arbeit überaus aufschlussreich, dass mit der Geschichtswissenschaft ausgerechnet eine Wissenschaft als Leitdisziplin des 19. Jahrhunderts identifiziert worden ist, die im grauen Bereich der Homonymie ihrer eigenen Begrifflichkeit seit jeher mit der (durchaus unsicheren) Grenzziehung zwischen Geschichte und Geschichten ringt. Während ich für die Einleitung der vorliegenden Arbeit in verschiedenen einschlägigen Fachlexika möglichen lemmatischen Beziehungen zwischen Literatur und Wissen nachgegangen bin, habe ich auch das von Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck zwischen 1972 und 1992 herausgegebene begriffsgeschichtliche Standardwerk Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland zu Rate gezogen. Hier findet sich zwar ebenfalls weder ein Lemma ›Wissen(schaft)‹ noch ein Lemma ›Literatur‹. Auch nach verwandten Einträgen zu Text, Erzählung, Narration oder Episteme sucht man vergebens. Selbstverständlich aber enthalten die Geschichtlichen Grundbegriffe ein umfängliches Lemma ›Geschichte, Historie‹275, das eigentlich – und das soll uns im Folgenden interessieren – die beiden gesuchten Lemmata in sich vereint: Geschichte als wahrnehm- und darstellbares Kausalkontinuum, als Gegenstand und begriffliche Basis der modernen Geschichtswissenschaft und Geschichte als Erzählung, als Narration. Das intime Verhältnis dieser beiden Bedeutungsseiten derselben terminologischen Medaille ist, so lässt es sich dem über weite Strecken von Koselleck verantworteten Artikel entnehmen, über die gesamte Begriffsgeschichte verfolgbar. Schon in der Antike bezeichnet ›Historia‹ weniger einen abgrenzbaren Gegenstandsbereich als vielmehr eine spezifische Form der literarischen Darbietung, eine zwar weit gefasste, aber dennoch identifizierbare Textsorte mit durchaus hohem ästhetischen Anspruch. Als Begriff kann sich Geschichte damit »nicht von der Bestimmung als Inhalt der Form Historie lösen«276. Abgrenzungen zur Literatur im engeren Sinn werden in der Antike zumeist unter den Vorzeichen der je verschiedenen Realitätshaltigkeit diskutiert, prominent etwa bei Aristoteles.277 Dessen Poetik enthält eine knappe und vielbesprochene Gegenüberstellung von Dichtung und Historie. Nicht die Verwendung von Vers oder 275 Engels, Odilo u. a. (1975): Geschichte, Historie. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland (Band 2). Stuttgart, 593–717. 276 Ebd, 600. Für den Abschnitt »Antike« (595–610) zeichnet Christian Meier verantwortlich. 277 Vgl. zur Entgegensetzung von Mythos (›fabula‹) und Geschichtsschreibung (›historia‹) unter den Vorzeichen der Glaubwürdigkeit und Verlässlichkeit auch Graf, Fritz (2000): Mythos. In: Der neue Pauly (Band 8). Stuttgart, Weimar, 640–47, hier: 643.
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Prosa, nicht also die Form, in der Dichter und Geschichtsschreiber sich mitteilten, mache dabei den Unterschied zwischen beiden Erzählformen aus. Entscheidend sei vielmehr, so Aristoteles, der Modus der von ihnen gebotenen Erzählungen. Während der Dichter das allgemeingültige Wahrscheinliche zeige, berichte der Geschichtsschreiber das tatsächlich Geschehene. Dabei ist die Tatsächlichkeit der historischen Erzählung bei Aristoteles, auch entgegen moderner Objektivitätsinstinkte, mit einer Abwertung verbunden: So wie der philosophische Möglichkeitsmodus die Dichtung adelt, deklassiert ihre bloße Realitätshaltigkeit die Historie. Auch das Mittelalter positioniert in Aristotelischer Tradition die Gattung der Historie als »wahrheitsgetreuen Bericht vergangener Ereignisse«278 im Gegensatz zu Erzählformen wie Argument oder Fabel. Allerdings übernimmt es nicht zwangsläufig die damit verbundene Beurteilung historischen Schreibens als eine der Dichtung unterlegene literarische Form. Gerade ihr Anspruch auf Unverfälschtheit der Darstellung, gerade ihre Wahrheitsfähigkeit kann der historischen Erzählung Gewicht verleihen. Die Historia gewinnt hier wenn auch keine von der Literatur unabhängige Existenz, so doch einen eigenständigen Wert außerhalb rhetorisch-ästhetischer Kriterien. In der Frühen Neuzeit beginnt das Verhältnis zwischen Historia und Literatur bzw. Rhethorik zunehmend komplex zu werden. Noch immer ist es überaus eng. Doch aus dem Unvermögen, eine systematische Unterscheidbarkeit zwischen beiden Bereichen herzustellen, entstehen Zuständigkeitsdebatten, Reibungen und Abgrenzungsbewegungen, die aber noch ins Leere laufen. Historische und literarische Narration bleiben, wenn auch zunehmend unwillig, aneinander gebunden. Erst in der Neuzeit beginnen der Erkenntnisgegenstand historischer Forschung und vor allem der Historiografie und eine ihrer möglichen Darstellungsformen, beginnen die Geschichte und eine Geschichte unterscheidbar auseinanderzutreten. In seiner modernen Verwendung als ›Geschichte überhaupt‹, als ›Geschichte an sich‹ formiert sich der Begriff Geschichte schließlich an der Wende zum 19. Jahrhundert. Er ist das Ergebnis eines umfassenden Bündelungsprozesses, in dessen Verlauf sich die Geschichte die Gesamtheit der sie bildenden Geschichten einverleibt und sich gleichzeitig von ihnen emanzipiert. Mit dem ›Kollektivsingular‹ (Koselleck) Geschichte entsteht ein Begriff, der komplexer, umfassender, allgemeingültiger, wirkmächtiger ist als die Summe seiner Einzeldarstellungen. Er beschreibt einen die konkreten Ereignisabfolgen überwölbenden Wirkmechanismus, eine die Wirklichkeit formende Kraft. Geschichte ist damit nicht mehr nur ein wahrheitsgetreu zu schildernder Ereigniszusammenhang und 278 Engels, Odilo u. a. (1975): Geschichte, Historie. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Historische Grundbegriffe (Band 2). Stuttgart, 593–717, hier: 622. Verfasser des Abschnittes »Begriffsverständnis im Mittelalter« (610–24) ist Odilo Engels.
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damit im Kern eine Form von Erzählung. Sie wird, so formuliert es Reinhart Koselleck durchaus emphatisch, zum »Subjekt ihrer selbst«, zum »eigentätigen Agens«279. Und dennoch: Das prinzipielle Oszillieren des Wortes Geschichte zwischen Historia und Narration ist mit dieser Entwicklung freilich nicht überwunden. Wenn Foucault etwa vom ›l’âge de l’histoire‹ spricht, dann bleibt diese Formulierung im Französischen genauso doppeldeutig wie ihr ins Deutsche übertragenes Pendant ›Zeitalter der Geschichte‹. Die terminologische Nähe der Geschichte zur Erzählung lässt sich durch Theoriebildung vielleicht auf ein die Unterscheidbarkeit garantierendes Mindestmaß reduzieren. Vergessen machen lässt sie sich aber nicht. Die Trennwand, die theoretische Reflexion zwischen Geschichte und Geschichten zu errichten vermag, bleibt transparent für die jeweils andere Seite.
2.2.1 Geschichtsphilosophie, Geschichtstheorie, Geschichtsschreibung Folgerichtig hat die Geschichtswissenschaft eine elaborierte Diskussion über die grundsätzliche Zweideutigkeit des ihr zu Grunde liegenden Begriffs der Geschichte entwickelt. Besondere Kontur gewinnt diese Diskussion dabei in den Bereichen von a) Geschichtsphilosophie, b) Geschichtstheorie und c) Geschichtsschreibung. Die im 18. Jahrhundert entstehende Geschichtsphilosophie ist eigentlich und auch schon ihrem Begriff nach eine Zwitterform zwischen Philosophie und Geschichtsforschung. Sie bezieht ihre konzeptuelle Basis im Wesentlichen aus drei Grundannahmen, die ihrerseits im Glauben der Aufklärung an die rationale Durchdringung und Durchdringbarkeit der Welt und des Lebens fußen. Das ist zum einen die Annahme eines a priori vorhandenen geschichtlichen Zusammenhangs, zum zweiten die Annahme einer prinzipiellen Nachvollziehbarkeit eben dieses Zusammenhangs und drittens die Annahme einer mehr oder weniger linaren kulturellen Entwicklung, zusammengefasst: die Annahme einer existenten, erkennbaren und sinnvollen historischen Kontinuität.280 Eine Geschichtsforschung, wie sie die Geschichtsphilosophie von Kant über Fichte bis Hegel auf dieser Grundlage entwirft und fordert, muss damit die Herleitung der gegenwärtigen Zustände aus vergangenen Zuständen nach den Maßgaben des Kausalitätsprinzips und unter Zugrundelegen einer teleologischen Vorstellung von Geschichte leisten. 279 Beide: Ebd, 653. Die Ausführungen zum Abschnitt »Die Herausbildung des modernen Geschichtsbegriffs« (647–91) sowie die den Artikel abschließenden Abschnitte verantwortet Reinhart Koselleck. 280 So zusammengestellt bei Knopf 2002, 12. Vgl. hierzu auch Baumgartner 1972 und Rüsen 1993, 53ff. (»Von der Aufklärung zum Historismus. Eine strukturgenetische These«).
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Anschaulich wird dieses Idealbild historischer Arbeit etwa in Schillers bekannter Jenaer Antrittsvorlesung Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? von 1789. Deren Grundtenor einer idealistisch gestimmten Fortschrittseuphorie ist von Beginn an unverkennbar. Die Menschheit, und dabei hat Schiller natürlich vor allem die europäischen Völker und Staaten im Blick, befinde sich in einer prinzipiellen Auf- und Vorwärtsbewegung, die sich vornehmlich als eine Zunahme des Grades ihrer Zivilisiertheit beschreiben lasse. Der Mensch reife beständig in seinem Gebrauch der Freiheit, in seiner Mitmenschlichkeit, in der Komplexität seiner Organisationsformen, in seiner Fähigkeit Frieden zu halten und Rechtssicherheit herzustellen, in der steten Verfeinerung seiner Erkenntnisfähigkeit, in seiner Wertschätzung von und dem Zugewinn an Wissen281. Diese Entwicklung als zielgerichtet zu erkennen, sie als absichtsvoll und zweckhaft zu begreifen sei nicht schwer, ja es bestehe sogar eine gewisse Neigung dazu, das, was man »als Ursache und Wirkung in einander greifen sieht, als Mittel und Absicht zu verbinden«282. Der teleologischen Versuchung nachzugeben ist dem Geschichtsforscher in seiner Arbeit also ausdrücklich erlaubt. Ausdrücklich erlaubt ist darüber hinaus aber noch etwas anderes: In seiner Vorlesung bestimmt Schiller Geschichte als »eine lange Kette von Begebenheiten von dem gegenwärtigen Augenblicke bis zum Anfange des Menschengeschlechts«283. Diese Kette sei aber auf Grund fehlender, zerstörter oder sich dem Verständnis entziehender Überlieferung nicht als Ganzes wahrnehmbar, sondern nur als »ein Aggregat von Bruchstücken«284. Um diesen Mangel zu beheben, und hier formuliert Schiller eine entscheidende Handlungsanweisung für seine zukünftigen Studenten, müsse der »philosophische Verstand« angewendet werden, der »diese Bruchstücke durch künstliche Bindungsglieder verkettet« und so durch Analogiebildung »das Aggregat zum System [erhebt]«285. Schiller hält das analoge Denken, das Denken im Wahr-
281 Gerade zu den letzten beiden Punkten unterhält die von Schiller beschriebene Geschichtsforschung selbst freilich ein doppeltes Verhältnis: Indem sie den Fortschritt der Menschheit im forschenden Nachvollzug beschreibt, trägt sie selbst zu eben diesem Fortschritt bei. Diese Konstellation entspricht der geschichtsphilosophischen Grundidee, dass die Darstellung von Geschichte mit der Reflexion über Geschichte in eins fallen soll. In Reinform begegnet dieses Postulat bei Hegel und seinem Konzept des Weltgeists als sich dem forschenden Geist offenbarendes und in seiner Offenbarung zur Vollendung gelangendes ›telos‹ der Geschichte. 282 Schiller, Friedrich (1789/1970): Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? Eine akdemische Antrittsrede. In: Schillers Werke (Band 17: Historische Schriften, Erster Teil). Hrsg. v. Karl-Heinz Hahn. Weimar, 359–76, hier: 373 (Hervorhebungen im Original). 283 Ebd, 370. 284 Ebd, 373. 285 Alle: Ebd (meine Hervorhebung).
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scheinlichen für ein »mächtiges Hülfsmittel«286, das man zwar in Maßen und mit der gebotenen Vorsicht einsetzen müsse, das aber bei der Auseinandersetzung mit historischen Zusammenhängen weder ehrenrührig noch grundsätzlich problematisch sei. Im Gegenteil: Ohne eine lückenlose Schilderung ihrer Zusammenhänge verlöre Geschichte die zwangsläufige Logik ihrer Teleologie, sie verlöre ihre moralische Überzeugungskraft, die Einheit ihres Gegenstandes und damit sogar »den Nahmen [!] einer Wissenschaft«287 überhaupt. Schillers so entschieden vorgetragene Aufforderung an den Geschichtsforscher, nach den Regeln beobachtbarer Gesetzmäßigkeiten zu ergänzen, was empirisch schlicht nicht vorhanden ist, ist im Grunde eine Aufforderung nicht zu erfinden oder zu fingieren, aber doch zu extrapolieren und zu vermuten. Es ist die Aufforderung, historische Glaubwürdigkeit nicht allein durch die tatsächliche Faktenlage, sondern im Zweifel mit Hilfe eines kontinuierlichen Erzählgefüges herzustellen. Schillers Vorlesungstext zeigt: Die Geschichtsphilosophie braucht, um ihr auch begrifflich bereits anspruchsvoll formuliertes Ziel einer Universal- bzw. Weltgeschichte, ihren Anspruch auf »Kontinuität in der Geschichte oder gar Geschichte als Kontinuität«288 einlösen zu können, eine Geschichtsforschung, die bis zu einem gewissen Grad spekulativ und in diesem Sinn auch narrativ vorgeht. Um Überlieferungslücken zu füllen, benötigt der Geschichtsforscher eine (freilich in den Grenzen der Vernunft agierende) historische Kreativität, vielleicht sogar ein gewisses literarisches Talent. Nur durch die »Einbindung einzelner Geschehnisse in narrativ offengelegte Kausalketten«289 kommt er vom einzelnen Ereignis zum großen Zusammenhang, kann er das bisweilen unsichtbare Zusammenspiel aller geschichtlichen Einzelerscheinungen enthüllen und die Wirkkräfte offenlegen, die Geschichte formen. Die Geschichte wird in der Geschichtsphilosophie so nicht nur »der Philosophie fähig«290, wie es Reinhart Koselleck formuliert hat, sondern auch der (durchaus literarisch verstehbaren) Erzählung. Dieser Entwurf von Geschichte und Geschichtsforschung ist indes nicht unwidersprochen geblieben. Kritik an der Geschichtsphilosophie kommt im 19. Jahrhundert vor allem aus dem Historismus, der sich derselben Frage nicht von der Philosophie, sondern von der Historiografie her nähert. Autoren wie Leopold von Ranke, Johann Gustav Droysen oder Wilhelm Dilthey sprechen sich 286 287 288 289 290
Ebd. Ebd. Knopf 2002, 13. Landfester 1996a, 180. Engels, Odilo u. a. (1975): Geschichte, Historie. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Historische Grundbegriffe (Band 2). Stuttgart, 593–717, hier: 660 [das Zitat befindet sich im von Koselleck verantworteten fünften Abschnitt des Artikels].
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dafür aus, die Geschichte aus ihrem teleologischen Korsett zu lösen und sie stattdessen um ihrer selbst willen zu betreiben. Der Wert historischer Erkenntnis liegt dabei nicht in einer absichtsvollen Bewegung der Geschichte auf ein ihr externes Ziel hin. Er liegt ausdrücklich und auschließlich im aus den historischen Fakten nachvollziehbaren Zusammenhang der Geschichte selbst. Die historistische Absage an die (Fiktionalisierungen durchaus begünstigende) Teleologie ist damit zugleich ein Versuch der Objektivierung historischer Arbeit. Denn das Ziel geschichtlicher Forschung soll nicht mehr der große spekulative Wurf des Philosophen sein, sondern der streng empirische Befund des Historikers. Mit diesem Programm distanziert sich der Historismus zwar zum einen von den Konzepten der Geschichtsphilosophie. Zum anderen bleibt aber die grundsätzliche Annahme eines objektiv gegebenen historischen Sinnzusammenhangs, den es zu erkennen gilt, für den Historismus ebenso konstitutiv wie für die Geschichtsphilosophie.291 Genau diese Annahme ist es, die von geschichtstheoretischer Seite vor allem im 20., aber auch bereits im 19. Jahrhundert kritisch auf den Prüfstand kommt. Auf der einen Seite stehen dabei Historiker, die wie etwa Ranke oder Droysen einen starken Glauben an die Existenz eines solchen Zusammenhangs pflegen, auf der anderen Historiker, die eben diese Existenz zu Gunsten eines generellen Konstruktionscharakters von Geschichte in Frage stellen. Das zu Grunde liegende Problem berührt den Kern der Geschichtswissenschaft, nämlich die Frage nach dem ontologischen Status ihres Gegenstandes: Ist Geschichte objektive Realität, existiert also die ›Geschichte an sich‹, wie sie durch die Entstehung des Kollektivsingular in die Welt kommt, tatsächlich? Oder ist sie lediglich Konstrukt, Produkt einer überformenden Wahrnehmung des Menschen? Es sind vor allem die Historiker zweiter Generation, diejenigen Historiker also, die ihre Arbeit in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nach der von Ranke und vor allem Droysen geleisteten wissenschaftlichen Konstituierung der Geschichtsforschung aufnehmen, die sich dieser Frage widmen. Jacob Burckhardt etwa, Schüler von Ranke wie Droysen und Verfasser einflussreicher kulturgeschichtlicher Arbeiten, beschreibt in seinen (als geschichtstheoretische Einführungsvorlesung angelegten und 1905 posthum erschienenen) Weltgeschichtlichen Betrachtungen die Vergangenheit als ein »geistiges Kontinuum«292 und den Besitz eines solchen als »ein wesentliches Interesse unseres Menschendaseins«293. Denn der Mensch gewinne die Kontinuität seiner eigenen Existenz aus der Kontinuität der Geschichte, sie sei »ein metaphysischer Beweis für die Bedeutung seiner 291 Vgl. Simonis 2002. 292 Burckhardt, Jacob (1905/2007): Weltgeschichtliche Betrachtungen. In: Ders.: Das Geschichtswerk (Band 1). Frankfurt/Main, 761–972, hier: 769. 293 Ebd, 962.
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Dauer«294. Überlieferungslücken und -verluste seien für den Historiker deshalb so schmerzlich, weil sie sein Ziel einer »Rekonstruktion ganzer vergangener Geisteshorizonte«295 behinderten, weil sie die so wichtige »Kontinuität der geistigen Erinnerungen«296 fragmentarisierten. Allerdings, so schränkt Burckhardt ein, »ob Zusammenhang des Geistigen auch ohne unser Wissen davon vorhanden wäre […], das wissen wir nicht und können uns jedenfalls keine Vorstellung davon machen […]«297. Zwei Punkte sind hier wichtig. Zum einen bestimmt Burckhardt das Bedürfnis nach geschichtlicher Kontinuität als Bestandteil der conditio humana, das Denken in und das Herstellen von historischen Zusammenhängen als essentielle Eigenschaft des menschlichen Geistes. Zum anderen gesteht er zu, dass eben dieses Vorgehen die tatsächliche Verfasstheit der Wirklichkeit möglicherweise gar nicht trifft, dass Geschichte außerhalb einer vom Menschen implementierten historischen Wahrnehmung vielleicht gar nicht existiert. Geschichte wäre dann eben nicht die Wiedergabe eines objektiv vorhandenen Ereigniszusammenhangs, sondern eine subjektive Konstruktion desselben. Deutlich kompromissloser in seinen Ansichten ist Jahrzehnte später der Publizist und (Laien-)Kulturgeschichtler Egon Friedell. Wo Burckhardt mit der Abwägung und Vorsicht des Wissenschaftlers formuliert, pflegt Friedell den bisweilen radikalen Gestus des Kulturschaffenden. Unerbittlich und konsequent spinnt er in seiner Einleitung zur Kulturgeschichte Ägyptens und des Alten Orients von 1936 die Kritik des Historismus an der Geschichtsphilosophie zu einem Fundamentalurteil über die Grundlagen der Geschichtswissenschaft überhaupt fort: »Wir hörten von der ›teleologischen Urteilskraft‹, daß sie eine bloße Anschauungsweise sei, die die Lebensbedingungen für zweckbeherrscht nimmt: ebenso verhält es sich mit der historischen Urteilskraft. Sie ist eine hineingelegte Betrachtung, sie sieht die Dinge so an, ›als ob‹ sie historisch wären, sie werden erst durch sie historisch. Aber dies ist wiederum keine Willkür, keine freigewählte Fiktion, die wir auch ebensogut unterlassen könnten, sondern dieser historisierende Blick ist uns angeboren; die ›Historie‹: das, Vermögen, historisch zu empfinden, ›liegt in unserem Gemüte bereit‹ […]. Eine Welt ohne Zwecke wäre für uns überhaupt keine Welt; eine Welt ohne Geschichte auch nicht.«298
294 295 296 297 298
Ebd. Ebd, 769. Ebd, 962. Ebd. Friedell, Egon (1936/2009): Kulturgeschichte Ägyptens und des Alten Orients. Leben und Legende der vorchristlichen Seele. In: Ders.: Kulturgeschichte der Neuzeit, Kulturgeschichte Ägyptens. Frankfurt/Main, 1021–1335, hier: 1045f.
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An anderer Stelle lässt er den Leser seiner mehrbändigen und sehr erfolgreichen Kulturgeschichte der Neuzeit (1927–31) kurz angebunden, ja geradezu lakonisch wissen: »Geschichte wird erfunden«299. Folgerichtig, und auch hier geht der Publizist weit über den Historiker hinaus, fallen Friedells kulturgeschichtliche Texte durch eine absichtsvoll herbeigeführte literarische Optik auf. Sie sind mit Literarizitäts-, ja Fiktionalitätssignalen durchsetzt: Ihre einzelnen Abschnitte werden mit »Romankapiteln«300 verglichen, die Argumentation der Texte als »Erzählung«301 adressiert, die Ereignisse im Nachgang der Französischen Revolution werden unter dem Etikett »Schundroman«302 verhandelt, Napoleons Aufstieg und Fall als »ein vollständiges Drama […], mit Exposition, Steigerung, Höhepunkt, Peripetie, ›Moment der letzten Spannung‹ und Katastrophe«303 eingeführt. Verschiedene literarische Textsorten okkupieren hier den Diskurs ihres wissenschaftlichen Wirtstextes, wobei sie die Ebene seines Narrativs freilich unangetastet lassen. Friedells Texte sprechen zwar beständig von ihrer Literarizität, literarisch im Sinne einer Aneignung dafür spezifischer Formen oder eines grundsätzlichen Fiktionsvorbehaltes sind sie aber – ebenso wie Burckhardts Arbeiten – (noch) nicht. So unterschiedlich sie in ihren Schriften auch auftreten mögen: Burckhardt und Friedell eint die Suspension eines objektiv gegebenen historischen Zusammenhangs zu Gunsten einer in das Subjekt verlagerten Konstruktion von geschichtlicher Kontinuität durch historisches Erzählen.304 Eine so verstandene 299 Friedell, Egon (1927ff./2009): Kulturgeschichte der Neuzeit. In: Ders.: Kulturgeschichte der Neuzeit, Kulturgeschichte Ägyptens. Frankfurt/Main, 17–1020, hier: 639. 300 Ebd, 445. 301 Ebd, 447. 302 Ebd, 585. 303 Ebd, 622. 304 Für eine systematisch-theoretische Einholung dieser frühen Überlegungen vgl. Baumgartner 1972 und Rüsen 1993. Vgl. in etwas kürzerer Form auch Mink 1978. Mittlerweile kann diese Einsicht in den Konstruktcharakter historischer Erkenntnis als geschichtswissenschaftlicher Konsens gelten. Auch in der Archäologie gibt es übrigens im 20. Jahrhundert eine vergleichbare erkenntnistheoretische Entwicklung. Mit dem Aufkommen der ›New Archaeology‹ wird der Glaube an das Objekt als direktes und untrügliches Zeugnis der Vergangenheit suspendiert. Stattdessen rückt (vor allem auch auf der Basis der kulturtheoretisch-semiotischen Konzepte der ›Postprocessual Archaeology‹) die indiziengeleitete Interpretationsleistung des jeweiligen Archäologen in den Vordergrund und wird in ihrer Befähigung, objektive Erkenntnis herzustellen, gleichzeitig bereits problematisiert. Vgl. hierzu Lang 2002 (12 und 18f.) sowie die Beiträge in Eggert/Veit 1998 und Veit 2003, etwa den von Hans Peter Hahn (29–51) oder den von Cornelius Holtorf (533–44). Holtorf vertritt dabei – auch in Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Archäologie, Kriminalistik, Psychoanalyse und Detektivroman – die nicht unumstrittene Extremposition einer Fiktionalität der Archäologie. Sie leiste nicht die Rekonstruktion der Vergangenheit, sondern deren Konstruktion: Archäologie sei eine »fiktive ›Spurensicherung‹, die vergangene Wirklichkeiten erst erschafft« (541). Ebenso lieferten auch Psychoanalyse und Detektivroman keine akkurate Rekonstruktion von Vergangenem, sondern »ein Heilen auf Basis einer
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historische Vernunft des Menschen, die den einzelnen Ereignissen ein kausales Erzählkontinuum lediglich unterlegt, mag dem, was tatsächlich ist, zwar nicht entsprechen. Sie ist zugleich aber unhintergehbar. Das erinnert nicht von ungefähr an Heinrich von Kleists berühmte Denkfigur von den grünen Augengläsern. In einem Brief vom 22. März 1801 illustriert Kleist damit für seine Verlobte Wilhelmine von Zenge den erkenntnistheoretischen Relativismus der Kantischen Philosophie: »Wenn alle Menschen statt der Augen grüne Gläser hätten, so würden sie urtheilen müssen, die Gegenstände, welche sie dadurch erblicken, sind grün – und nie würden sie entscheiden können, ob ihr Auge ihnen die Dinge zeigt, wie sie sind, oder ob es nicht etwas zu ihnen hinzuthut, was nicht ihnen, sondern dem Auge gehört.«305
Mit Blick auf die vorangegangenen Ausführungen ließe sich ergänzen: Man könnte die Dinge auch nicht wahrnehmen, wie sie sind, wenn man zwar sicher wüsste, dass man Augengläser trägt, sie aber trotzdem nicht entfernen könnte. Die Reflexion über die historische Vernunft des Menschen, über die (immanent narrative) »Logik historischer Sinnbildung«306 ist ein Gewinn an kritischer Bewusstheit, nicht aber an Wahrheit. Drei Entwicklungen, die das komplexe Verhältnis von Geschichte und Erzählung unmittelbar berühren, sind es also bislang, die an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert und vor allem im 19. Jahrhundert selbst ineinanderfallen und -greifen: 1. die Herausbildung des Kollektivsingular Geschichte, 2. die Formierung von (idealistischer) Geschichtsphilosophie und Historismus mit der ihnen gemeinsamen Vorstellung von Geschichte als eines realiter existenten kontinuierlichen Sinnzusammenhangs sowie 3. die beginnende geschichtstheoretische Hinterfragung eben dieser Prämisse vor dem Hintergrund der Annahme von »allgemeinen und fundamentalen narrativen Operationen des menschlichen Geschichtsbewußtseins«307. Eine vierte Entwicklung ist noch hinzuzufügen. Sie findet auf dem Gebiet der Geschichtsschreibung statt und ergänzt die Gesamtentwicklung dergestalt, dass »Sachverhalt, Darstellung und Wissenschaft davon […] als ›Geschichte‹ auf
Vergangenheitskonstruktion, ein Überzeugen« (541). Hier lässt sich der Bogen wieder zur Geschichtswissenschaft zurückschlagen: Postmoderne Strömungen wie der Dekonstruktivismus verfahren nämlich in jüngster Zeit ähnlich radikal bei der Zersetzung und Fragmentierung der Geschichte als Kollektivsingular wie es Holtorf im Fall der Archäologie tut. 305 Kleist, Heinrich von (1997): Sämtliche Werke und Briefe (Band 4: Briefe von und an Heinrich von Kleist, 1793–1811). Hrsg. v. Klaus Müller-Salget und Stefan Ormanns. Frankfurt/Main, 205 (Hervorhebung im Original). 306 Rüsen 1993, 114. 307 Ebd.
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einen einzigen gemeinsamen Begriff gebracht [werden]«308, wie es Koselleck formuliert hat. Die Rede ist von der historiografischen ›Wende zur Narratio‹ (Pandel), in deren Verlauf sich die narrative Form »als der zentrale Darstellungsmodus der Geschichtsschreibung gegen chronikalische, tabellarische und katechetische Formen«309 endgültig durchsetzt. Eine erzählende Tradition besteht in der historischen Darstellung zwar bereits seit der Antike. Allerdings ist sie lange Zeit nur eine Spielart neben vielen, die für die Präsentation geschichtlicher Inhalte zur Verfügung stehen. Erst im Zuge des frühen Historismus werden die meisten dieser anderen Formen – Sammlung, Tableau, Chronik, Annalen, Tabelle, Dialog – aus dem Darstellungskanon ausgeschieden und von einem »narrativen Paradigma«310 ersetzt: Ab der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert entledigt sich die Historiografie ihres bis dahin herrschenden Formpluralismus und legt überwiegend »Geschichte in Erzählstrukturen«311 vor. In der Historiografie des 19. Jahrhunderts wird die Geschichte damit am augenfälligsten zur Geschichte im doppelten Sinn. Historia und Narration treten hier in einer Synthese von (als darstellbare Einheit konzipiertem) Gegenstand und (von diesem Gegenstand bevorzugter wie auch bedingter) Form besonders eng nebeneinander. Dadurch büßt freilich auch das Verhältnis beider Begriffspole erneut an Trennschärfe ein. Die Grenze zwischen Geschichte und Geschichten wird zu einem nicht ohne weiteres bestimmbaren Raum, der über kontinuierliche Aushandlungsbeziehungen stets neu konstitutiert werden muss. Eine solche Gemengelage ist, wie der anfängliche Blick in die Begriffsgeschichte gezeigt hat, nun ebenfalls keineswegs neu und, solange Historie und Literatur ohnehin nicht klar voneinander geschieden sind oder werden sollen, im Kern durchaus unproblematisch. Für das geschichtswissenschaftlich reflektierte und akademisch sensibilisierte 19. Jahrhundert aber bedeutet sie die Notwendigkeit einer diffizilen Standortbestimmung: Wie viel Ästhetik verträgt der wissenschaftliche Text, ohne seiner Wissenschaftlichkeit verlustig zu gehen? Ab wann tritt der wissenschaftliche Gegenstand hinter die ästhetische Formung seiner Darstellung zurück? Wo hört erzählte Geschichte auf und wo fängt das Erzählen einer Geschichte an?
308 Engels, Odilo u. a. (1975): Geschichte, Historie. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Historische Grundbegriffe (Band 2). Stuttgart, 593–717, hier: 657 [das Zitat stammt aus dem von Koselleck verfassten fünften Abschnitt des Artikels]. 309 Pandel 1990, 5 (»Zusammenfassung«). 310 Ebd, 48. 311 Ebd, 40. Für den gesamten Zusammenhang vgl. Pandel 1990, 23–127. Auch Rüsen 1993 erkennt den Historismus im 19. Jahrhundert als »eine historische Denkweise und eine Wissenschaftskonzeption […], die die erzählende Darstellung favorisiert« (115).
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Bei der Bearbeitung dieser Fragen gerät gerade die Historiografie des 19. Jahrhunderts in einen nur schwer aufzulösenden Zwiespalt. In theoretischen Schriften wie Rankes Zur Kritik neuerer Geschichtschreiber, einer quellenkritischen Beilage zu seinem 1824 erschienenen historiografischen Werk Geschichten der romanischen und germanischen Völker von 1497 bis 1514, etabliert sie sich mit wissenschaftlichem Anspruch unter strikt empirisch-rationalen, und das heißt auch: antirhetorischen Methoden. Dem entgegen steht aber, und das gilt gerade und insbesondere für die im Umfeld des Historismus entstandenen historiografischen Schriften, die hohe ästhetische Qualität ihrer konkreten Texte. Dass Theodor Mommsen als bislang einziger Historiker 1902 den Literaturnobelpreis für seine zwischen 1854 und 1856 in drei Bänden erschienene Römische Geschichte erhielt, mag diesen Sachverhalt hinreichend illustrieren. Jacques Rancière hat einmal bemerkt, die moderne Geschichtswissenschaft habe es bewältigt, »in ein und derselben Rede einen dreifachen Vertrag zu artikulieren«312: erstens einen sich zu größtmöglicher Objektivität verpflichtenden wissenschaftlichen Vertrag, zweitens einen narrativen Vertrag über die Übersetzung ihrer Ergebnisse »in die lesbaren Formen einer Geschichte« und drittens einen politischen Vertrag, der das »verborgene Geheimnis der Menschenmengen«313 sichtbar machen will. Man kann der Historiografie des 19. Jahrhunderts und ihren ästhetisch anspruchsvollen Texten nun entweder ein wissenschaftlich nicht ganz sauberes Verhältnis zu literarischen Darstellungsweisen und damit ein Scheitern an zumindest einem Paragrafen dieses Vertragswerks diagnostizieren. Oder man kann darin im Gegenteil, wie etwa Jörn Rüsen das tut, eine erfolgreiche Verknüpfung von Forschungs- und Darstellungsaspekt erkennen. Rüsen betont dabei, dass die antirhetorische Wende der Geschichtswissenschaft die Rhetorik nicht eigentlich ausschließe, sondern sie lediglich qualitativ verändere, insofern »sich die Rhetorik der Geschichtsschreibung zur Ästhetik der historiographischen Formung«314 wandele. Unabhängig von solchen Urteilen ist für die Belange dieser Arbeit aber ein grundsätzlicherer Aspekt entscheidend. Anders als in den im Theoretischen verbleibenden Debatten der Geschichtsphilosophie und -theorie gerinnt der Aushandlungsprozess zwischen Historie und Narration in der Geschichtsschreibung zu konkreter textueller Gestalt. Er erhält einen Text312 Rancière 1994, 18. 313 Beide: Ebd, 19. 314 Rüsen 1990, 6. Beinahe wortgleich findet sich diese Überlegung noch einmal in Rüsen 1993 – für das Zitat: 129; für den Gesamtzusammenhang: 114–35 (»Historisches Erzählen zwischen Kunst und Wissenschaft. Zwei Bemerkungen zur Geschichtswissenschaft und ein Blick auf Ranke«). Vgl. auch Rüsen 2011. Für einen Forschungsüberblick zum Spannungsfeld aus Rhetorik und Verwissenschaftlichung der Geschichtswissenschaft bei Droysen vgl. Saupe 2009, 126–34. Saupe selbst vertritt dabei die Position einer »Reaktualisierung der Rhetorik vor dem Hintergrund neuer kriminalistischer, detektorischer Schreibweisen« (134).
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körper, der sicht-, vor allem aber beschreibbar ist. Im Ergebnis begegnen sich in der historiografischen Textrealität des 19. Jahrhunderts eine historische Erzählung, die sich ausdrücklich als wissenschaftliche Textform begreift, und die literarische Erzählung auf engstem Raum und bieten sich so einer theoriebasierten Erforschung ihrer narrativen Strukturen gleichermaßen an. Diese Erforschung wird in der Literatur- wie Geschichtswissenschaft mit systematischem Anspruch etwa seit den 1970er Jahren geleistet. Die Debatte hat dabei einen hohen Reflexionsgrad erreicht und wird in vielen Facetten geführt: Geschichtsschreibung wird (von Literaturwissenschaftlern wie Historikern) in ihrer Literarizität oder auch explizit als Literatur untersucht und dann beispielsweise mit dem historischen Roman und seinen Geschichtserzählungen zusammengelesen.315 Nicht selten taucht die Historiografie als Gegenstand der literaturwissenschaftlichen Erzählforschung auf.316 Auch die Narrativität des Geschichtskonzepts, die narrative Struktur der Geschichtswahrnehmung hat weitreichende Beachtung gefunden, etwa wenn sie im Kontext postmoderner Überlegungen (mit einer den Kollektivsingular Geschichte durchaus zersetzenden Wirkung) zu einer grundsätzlichen Fiktionalität von Geschichte und Geschichtsschreibung umgedeutet wird.317 315 In Auswahl: White 1973 und 2010, Rüth 2005 und 2012 sowie die Sammelbände von Koselleck / Stempel 1973, Canary / Kozicki 1978 (darin besonders der Beitrag von Hayden White: 41–62), Eggert 1990, Fulda / Tschopp 2002 (darin etwa die Beiträge von Daniel Fulda: 39–59 und Günter Butzer: 147–69), Munslow 22006. Eine Zusammenstellung wichtiger Primärtexte bietet Roberts 2001. Canary / Kozicki untersuchen »the relationship between the content of historical writing and the literary form in which it is presented« (ix) und nehmen dabei auch die prinzipielle Nähe geschichtlicher Erzählungen zu Mythos, Poesie und ›storytelling‹ – als »literary structures that help shape historical writing« (xv) – in den Blick (Zitate: »Introduction«). Fulda / Tschopp wiederum legen ihrem Sammelband die (aus dem New Historicism entlehnte) Prämisse einer grundsätzlichen Textualität von Geschichte zu Grunde: Geschichte sei »unhintergehbar textgebunden« (1, »Literatur und Geschichte. Zur Konzeption des Kompendiums«). Zur Geschichtsschreibung als Literatur vgl. auch allgemein die Arbeiten von Reinhart Koselleck, Jörn Rüsen und Christian Meier. 316 In Auswahl: Lämmert 1982, Abbott 2002, Phelan / Rabinowitz 2006, Huber / Schmid 2018. Lämmert formuliert in der Einleitung seines Bandes zur Erzählforschung, sowohl literarische als auch historische Erzählung seien »als ein um Konsens werbendes und im Erfolgsfalle konsensstiftendes Angebot eines sinnvollen Zusammenhangs von Begebenheiten zu betrachten« (xiii). Entsprechend enthält der Sammelband ein eigenes Kapitel zum Thema ›Erzählung und Geschichte‹ (519–701), das in seinen letzten vier Beiträgen (Hermann Lübbe, Bernhard Lypp, Arthur C. Danto, Hans-Jörg Porath) insbesondere das komplexe Verhältnis von historiografischer Narrativität und geschichtswissenschaftlicher Objektivität beleuchtet. 317 Für eine einführende Darstellung in Bezug auf die Diskursanalyse (Roland Barthes, Michel Foucault, Michel de Certeau) vgl. Jaeger 2002. Vgl. auch Conrad / Kessel 1994, Berkhofer 1995, Wachholz 2005. Eine Zusammenstellung wichtiger Primärtexte dieser Debatte versammelt Jenkins 1997, einen geschichtswissenschaftlichen Abwehrreflex liefert Evans 2000. Einen konzisen, stellenweisen allerdings recht polemischen Überblick über postmoderne
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Die Geschichtswissenschaft hat auf letztere Entwicklung wiederum in ganz eigener Weise reagiert, nämlich mit historiografischen Projekten, die das fiktionale Arbeiten des Historikers unterstreichen, indem sie gerade nicht erzählen, wie es gewesen ist, sondern wie es hätte gewesen sein können.318 Die ›Counterfactual History‹ entwirft Geschichte in Was-wäre-wenn-Szenarien, bei denen die Veränderung eines einzelnen, für den geschichtlichen Gesamtzusammenhang aber mutmaßlich entscheidenden Ereignisses zu Grunde gelegt wird, um einen alternativen Geschichtsverlauf zu konstruieren: Was wäre geschehen, wenn Pontius Pilatus Jesus nicht zum Tod verurteilt hätte? Was, wenn Sokrates 424 v. Chr. in der Schlacht bei Delium umgekommen wäre, bevor Platon seine Philosophie hätte niederschreiben können? Was, wenn Varus und seine Legionen Arminius 9 n. Chr. im Teutoburger Wald geschlagen hätten oder wenn die Spanische Armada 1588 erfolgreich in England gelandet wäre? Und, beinahe klassisch: Was wäre geschehen, wenn das Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 geglückt wäre? Es geht bei der Beantwortung dieser Fragen freilich nicht um historische Kaffeesatzleserei. Ähnlich wie bei der von Schiller befürworteten Methode des historischen Analogieschlusses geht es um das Herstellen eines wahrscheinlichen geschichtlichen Zusammenhangs auf Basis einer möglichst genauen Kenntnis der damit verbundenen Fakten und Ereignisketten. Die ›Counterfactual History‹ ist oder möchte sich zumindest verstanden wissen als eine geschichtswissenschaftliche Methode der Extrapolation, die, indem sie zum grundsätzlichen Verständnis geschichtlicher Zusammenhänge beiträgt, der wissenschaftlichen Wertschöpfung dient. Eine konsensfähige geschichtstheoretische Validierung dieses Anspruchs steht allerdings noch aus. Die ›Counterfactual History‹ bleibt abseits ihres intellektuellen Unterhaltungswerts akademisch umstritten. Denn auch wenn sie das ihr zu Grunde liegende Vorgehen explizit nicht als literarisches Gestaltungsmittel begreift und einsetzt, bleibt doch festzuhalten: Die von ihr hergestellte Geschichte ist stets eine virtuelle, die von vornherein unter einem Fiktionsvorbehalt steht und damit ihrem Wesen nach streng genommen eigentlich als literarische gelten muss. Die ›Counterfactual History‹ betreibt so die bewusste Verunklärung der von Aristoteles gezogenen Grenzen zwischen LiteTheorien im Raum der Geschichtswissenschaft kann man bei Gross 1998, 382–409 (»Die Postmoderne«) nachlesen. 318 Vgl. den von Niall Ferguson 1997 herausgegebenen Sammelband Virtual History. Alternatives and Counterfactuals sowie im Anschluss daran den 2000 erschienenen und von J. Cheryl Exum verantworteten Sammelband Virtual History and the Bible. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang auch der Sammelband What If ? The World’s Foremost Military Historians Imagine What Might Have Been (1999) des Militärhistorikers Robert Cowley, dem noch zwei weitere Bände folgten: What If ? 2. Eminent Historians Imagine What Might Have Been (2001) und What Ifs? of American History. Eminent Historians Imagine What Might Have Been (2003). Erst kürzlich erschienen ist Richard J. Evans’ Altered Pasts. Counterfactuals in History (2013).
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ratur und Historiografie und macht damit die Grenzen und Möglichkeiten der Rekonstruierbarkeit von Geschichte sichtbar. Unter ganz ähnlichen Vorzeichen arbeiten auch historiografische Publikationen, die, obwohl sie ›Factual History‹, also einen tatsächlich stattgefundenen historischen Zusammenhang zum Gegenstand haben, ihren Interpretationscharakter doch ganz bewusst ausstellen: etwa indem sie ihren eigenen Entstehungsprozess, wissenschaftliche Irr- und Fehlgänge nicht ausgenommen, ausführlich reflektieren, indem sie systematisch verschiedene Perspektiven einnehmen, indem sie den betreffenden historischen Zusammenhang in multiplen, einander möglicherweise widersprechenden Erzählungen darstellen oder ihn sogar vollständig im Gewand einer literarischen Schilderung präsentieren.319 In unterschiedlichen Stufen der Radikalität betreiben solche Texte neben der Darstellung geschichtlicher Ereigniszusammenhänge zugleich eine Art Meta-Historiografie, die die komplexen Mechanismen des Entstehens von erzählter Geschichte offenlegt. Es ist bemerkenswert, dass innerhalb dieser vielgestaltigen Auseinandersetzung mit der Literarizität der Historiografie auch immer wieder Bezüge zur Gattung der Detektiverzählung hergestellt werden.320 Mit einem ganz konkreten Zusammenhang zwischen Geschichtsschreibung und Detektiverzählung arbeitet beispielsweise schon früh der Historiker Robin Winks. In The Historian as Detective (1968) verschränkt Winks Auszüge aus historiografischen Publikationen mit an Detektiverzählungen anmutenden Titeln (The Strange Nature of Pure Joy, The Secret of the Ebony Cabinet) und kleinen Einleitungen, die sich auf konkrete Detektiverzählungen und/oder detektivische Themenkomplexe bzw. Methoden wie Fälschung, Jagd, Indizienbeweis oder Spurensuche beziehen. Die so ganz zwanglos hergestellte Verbindung zwischen dem akademisch arbeitenden Historiker und der literarischen Figur des Detektivs auf der einen und wissen319 Vgl. u. a. Simon Schamas Dead Certainties. Unwarranted Speculations (1991, dt. Wahrheit ohne Gewähr) sowie den von Alun Munslow und Robert A. Rosenstone herausgegebenen Sammelband Experiments in Rethinking History (2004). Dass man übrigens auch den Film (und das meint weder die Geschichtsdokumentation noch den Historienfilm) als Medium einer solchen progressiven und experimentellen Historiografie verstehen kann, zeigt Robert A. Rosenstones 1995 erschienener Sammelband Revisioning History. Film and The Construction of a New Past. Vgl. für eine kurze Darstellung dieser Tendenzen auch Rüth 2005, 45ff. sowie Saupe 2009, der die zwischen rekonstruierter und Rekonstruktionsgeschichte gedoppelte Struktur moderner Historiografie bereits in Droysens früher Unterscheidung von untersuchender (d.i. die analytische, selbstreflexive Geschichtserzählung) und erzählender (d.i. die einfache Geschichtserzählung, die »die ordnende Hand des Autors verschweigt« – 150) historiografischer Darstellung erkennt. 320 So ist ja übrigens schon die von Lämmert vorgeschlagene Definition von historischer wie literarischer Erzählung als »ein um Konsens werbendes und im Erfolgsfalle konsensstiftendes Angebot eines sinnvollen Zusammenhangs von Begebenheiten« (vgl. Fußnote 316) vom narrativen Grundanliegen der Detektivgeschichte nicht weit entfernt.
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schaftlichem und literarischem Text auf der anderen Seite betreibt Winks dabei nach eigener Aussage lediglich »for fun«, er verfolge damit »no other high purpose«321. Trotz dieses demonstrativen Gestus der Relativierung aber führt Winks’ Zusammenstellung noch vor Beginn der zugehörigen akademischen Debatte einen Umgang mit dem Rollenmuster des Historikers, vor allem aber mit historiografischen Texten vor, der Diskursgrenzen absichtsvoll außer Acht lässt. Allein dem Titel nach schließen gleich zwei Publikationen explizit an Winks’ Arbeit an: Julian Lethbridges 1998 veröffentlichter Aufsatz The Historian as Detective. Historical Method in Edgar Allan Poe’s ›The Murders in the Rue Morgue‹ und der von Ray B. Browne und Lawrence Kreiser Jr. im Jahr 2000 herausgegebene Sammelband The Detective as Historian. History and Art in Historical Crime Fiction. Jede der beiden Publikationen verfolgt dabei eine der von Winks angebotenen Verbindungslinien zwischen Historiografie und Detektivliteratur. Lethbridge etwa unterstellt Poes Erzählung eine »implicit theory of historical method«322 und arbeitet auf dieser Grundlage die Figur des Detektivs und des Historikers hinsichtlich ihrer Methode (Detektion) und ihrer Zielsetzung (Lösung eines Problems) als vergleichbar heraus. Die gemeinsame Herausgeberarbeit des Literaturwissenschaftlers Browne und des Historikers Kreiser hingegen entwickelt den diskursübergreifenden Textzugang Robin Winks’ weiter. Browne und Kreiser verstehen (historische) Detektiverzählung und wissenschaftliche Geschichtserzählung als prinzipiell gleichrangige (und oft auch von den denselben Personen, nämlich Historikern, verantwortete) Möglichkeiten der Vermittlung von Vergangenheit, insbesondere von Alltagsgeschichte. Die historische Detektiverzählung wird dabei gleich im doppelten Sinn zur Erzählung mit historiografischem Wert: Als in der näheren oder ferneren Vergangenheit verfasste Erzählung liefert sie Material für den alltagsgeschichtlich interessierten Historiker, als in der Vergangenheit spielende Erzählung wird sie selbst zur darstellenden Geschichtserzählung, zum historiografischen Text. Es geht Browne und Kreiser hierbei allerdings weder um ein systematisches Ausloten der Beziehungen zwischen wissenschaftlichem und literarischem Text noch um einen spezifischen oder gar ausschließlichen Bezug der Historiografie gerade zur Detektiverzählung. Diese ist im Rahmen der essayistisch angelegten Einzelfallstudien, auf denen der Sammelband basiert, lediglich als eine Sonderform der ›historical fiction‹ interessant, nicht aber als eigenständige literarische Schreibweise.323
321 Winks 1968, xiii (»Introduction«). 322 Lethbridge 1998, 104. Mit einer ähnlichen methodischen Ausrichtung arbeitet auch Salzano 2007 die Detektion als Geschäft des Detektivs wie des Historikers heraus. 323 Vgl. in direktem Anschluss an Browne und Kreiser: Korte / Paletschek 2009.
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Als solche nimmt sie dann aber Achim Saupe in den Blick, auf dessen bereits mehrfach erwähnte Dissertationsschrift Der Historiker als Detektiv – der Detektiv als Historiker (2009) in diesem Zusammenhang selbstverständlich auch noch einmal verwiesen werden muss. Saupes Arbeit greift dabei, und auch hier ist der auf Synthese deutende Titel ein durchaus verlässlicher Indikator, beide bei Winks angelegte Argumentationslinien auf und entwickelt sie mit systematischem Anspruch weiter. Saupe geht von der Beobachtung aus, dass der Historiker in der Geschichtstheorie des 18. bis 20. Jahrhunderts prominent mit der Metapher des Untersuchungsrichters bzw. Detektivs besetzt, die historische Forschungspraxis also »vor dem Hintergrund detektivischer Fiktionen reflektiert«324 werde. In einer komplementären Bewegung sei, so Saupes zweiter Befund, die Detektivliteratur im Lauf des 20. Jahrhunderts ihrerseits zusehends als »Variante historischen Erzählens« zu begreifen, sie werde zu einer »alternativen Geschichtsschreibung«325: »Während sich Geschichtstheorie und Geschichtsschreibung auf den fiktionalen Detektiv berufen, um ihren Wahrheitsstatus durch die im Detektivroman ständig neu erzählte Fiktion gelingender Rekonstruktion zu behaupten, wird der Kriminalroman zu einer Gattung, die sich zunehmend der historischen Aufklärung widmet.«326
Es geht hier also um wechselseitige interdiskursive Verflechtungen zwischen Historik und Kriminalistik einserseits (d.i. die metaphorische Überschreibung der Arbeitsweise des Historikers mit der des (literarischen) Detektivs) und zwischen Geschichtsschreibung und Kriminalliteratur andererseits (d.i. die literarische Gattung als historiografische Schreibweise). Folgerichtig arbeitet Saupe seine Thesen nicht allein vor dem Hintergrund des Ginzburgschen Indizienparadigmas heraus. Er verfolgt sie über das naheliegende tertium comparationis aus Detektion und Spurenlesen hinaus auch auf einer im engeren Sinn text- und narrationsbezogenen Ebene, nämlich in Form kriminalliterarischer Narrative in der Geschichtsschreibung und der spezifischen Repräsentation historischer Sachverhalte in der Kriminalliteratur. Es ist dies übrigens insgesamt eine Reflexionsbewegung, die nicht nur von der literatur- oder geschichtswissenschaftlichen Seite ausgeht. Auch die Detektiverzählung selbst ist sich ihrer Nähe zum geschichtlichen Erzählen durchaus bewusst und kann dabei mit ihren Mitteln ein ganz eigenes Licht auf dieses Verhältnis werfen.
324 Saupe 2009, 12. 325 Ebd, 22 und 23. 326 Ebd, 22. Saupe verwendet die Begriffe Detektiv- und Kriminalroman weitgehend bedeutungsgleich.
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2.2.2 Exkurs: G.K. Chestertons The Sign of the Broken Sword (1911) Chestertons Erzählung beginnt, wie um ihren Verzicht auf einen Mordfall im klassischen Sinn zu kompensieren, in der schauergeladenen Tonlage einer ›gothic novel‹. Der Textblick schweift zunächst über eine unwirtliche und menschenleere nächtliche Landschaft, einen gespenstischen Wald, der an »that heartless Scandinavian hell, a hell of incalculable cold« erinnert, und (natürlich) einen Friedhof, »a place oddly dumb and neglected«327, um sich dann auf sein Ziel hin zu verengen, ein aufwändig gestaltetes Grabmal auf eben diesem Friedhof. Der per Streichholzbeleuchtung dramatisch als vorläufiger Spannungshöhepunkt inszenierte Blick auf dessen Inschrift enthüllt den Insassen des Grabes als »General Sir Arthur St. Clare, Hero and Martyr«328. Das mit einer Skulptur des Verstorbenen versehene Monument, so schildert es der Text, sei »famous«329, ein beliebtes Ausflugsziel für kulturell und historisch Interessierte, geschaffen von einem europaweit angesehenen Bildhauer, dessen Ruhm von dem seines Gegenstandes allerdings weit in den Schatten gestellt werde. Denn der General wird als überaus prominente historische Persönlichkeit eingeführt, ein Ehrenmal in der Westminster Abbey, diverse Gedenkplaketten und eine Reiterstatue am Londoner Themseufer inklusive. Zum Glück für den historisch nicht umfassend informierten Leser gibt die Unwissenheit seines Adlatus Flambeau – »I know nothing about English generals, Father Brown«330 – dem kleinen Priester Gelegenheit, die militärische Biografie St. Clares an dessen Grab noch einmal in aller Kürze zu schildern. Dabei hebt er insbesondere die letzte Schlacht des Generals am Black River hervor. In deren verlustreichem Verlauf war St. Clare mitsamt seinen verbliebenen Soldaten von den zahlenmäßig weit überlegenen gegnerischen Brasilianern gefangen genommen und von deren Befehlshaber Olivier aufgehängt worden. Dass diese allgemein verbreitete und akzeptierte Version der Ereignisse »if not wholly untrue«, so doch »at least very inadequate«331 sei, schickt Father Brown allerdings bereits relativierend voraus. Denn die geschichtliche Erzählung vom Tod des Generals in der Schlacht am Black River habe, so Brown, einen gravierenden erzähllogischen Defekt. Die Handlungsweise ihrer Protagonisten sei unstimmig, nicht konsistent mit ihrem üblichen Charakter und Verhalten: St. Clare galt als fähiger und umsichtiger Offizier, sein Gegner Olivier als in herausragendem Maße einem Ideal der Ritterlichkeit verpflichtet. Es sind der von vornherein aussichtslose Angriff des britischen Generals auf die Brasilianer und die jedem 327 328 329 330 331
Chesterton 2005 [Band 12], 205 (»The Sign of the Broken Sword«). Ebd, 206. Ebd, 205. Ebd, 207. Ebd, 208.
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militärischen Ehrenkodex widersprechende Hinrichtung eines wehrlosen Gefangenen durch den brasilianischen Kommandeur, die aus dem historischen Ereignis ein in den Zuständigkeitsbereich des Detektivs fallendes »mystery«332, einen Fall machen. Kürzlich aufgetauchte Hinweise verstärken denn auch diesen grundsätzlichen Zweifel an der Richtigkeit der bislang gültigen historischen Darstellung. Im Einzelnen nennt Father Brown hier: »a series of articles«333 eines der Familie des Generals entfremdeten ehemaligen Leibarztes; »a sort of autobiography«334, verfasst vom Schwiegersohn des Generals; die »dispatches«335 des gegnerischen Befehlshabers Olivier; die letzten Worte des sterbenden britischen Colonels des Regiments, mitgeteilt von einem überlebenden Soldaten der Schlacht, den Father Brown ausfindig gemacht hatte; das Father Brown vorliegende und aus dem Nachlass eines »certain Brazilian official«336 namens Espado stammende Tagebuch eines weiteren britischen Kombattanten, das dem Gefallenen vermutlich nach der Schlacht von den Brasilianern abgenommen worden war; die Beichterzählung eben dieses Espado, die Father Brown (mutmaßlich337) kurz vor dessen Tod entgegengenommen hatte. Mit der ihm ganz eigenen, gelegentlich ins Melancholische umschlagenden Empathie, die die Schärfe seiner Schlussfolgerungen allerdings nie beeinträchtigt, erstellt Father Brown aus all diesen »fragment[s]«338 das entheroisierende Charakterbild des Generals, der in Wirklichkeit korrupt, geldgierig und ein Verräter war. Auch die Schlacht am Black River erfährt in den Ausführungen des Priesters eine grundsätzliche Umdeutung. Kein waghalsiges oder schlimmstenfalls fahrlässiges militärisches Manöver sei sie gewesen, sondern eine aus der Not geborene Inszenierung, die, einer unerbittlichen Logik folgend, der Vertuschung eines Mordes dienen sollte: »And if a man had to hide a dead body, he would make a field of dead bodies to hide it in«339. Father Brown klärt hier also tatsächlich ein bislang nicht als solches erkennbares Verbrechen, namentlich den Mord des Generals am Major seines Regiments, auf. Dieser detektivische Erfolg scheint diesmal aber beinahe nur eine Art Nebeneffekt zu sein. Denn gleichzeitig und vor allem wird Father Brown in The 332 333 334 335 336 337
Ebd. Ebd, 209. Ebd. Ebd, 212. Ebd, 213. Father Brown teilt hierzu lediglich mit: »[…] he was a Catholic, of course, and I had been with him towards the end« (213). Als Priester, so lässt sich zumindest vermuten, hat Brown dem Brasilianer im Rahmen der Sterbesakramente wohl auch die letzte Beichte abgenommen. Anders ist eigentlich nicht zu erklären, wie Father Brown von St. Clares Verrat im Vorfeld der Schlacht wissen konnte. 338 Ebd. 339 Ebd, 217.
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Sign of the Broken Sword als Historiker tätig. Das betrifft zum einen den Gegenstand seiner Ermittlungen. Damit ist nun nicht eigentlich das gleich zu Beginn des Textes Offensichtliche gemeint, nämlich dass der den Priester zunächst interessierende Todesfall, der den Besuch eines bereits Kulturgut gewordenen Grabmals auf einem Friedhof nötig macht, etwas weiter in der Vergangenheit liegt als es der durchschnittliche Leichenfund in der Detektiverzählung zu tun pflegt. Historisch ist vielmehr der Gesamtzuschnitt des sich im Textverlauf entfaltenden Falls um die Geschehnisse am Black River. Denn sowohl die Kampfhandlung zwischen gegnerischen Heeren (die Schlacht) als auch die militärische Führungsfigur (der General) sind klassische Elemente der historistischen Geschichtsforschung des 19. Jahrhundert, die sich als Politische bzw. Ereignisgeschichte an herausgehobenen Ereignissen und Persönlichkeiten orientiert. Zum anderen lässt sich auch das Vorgehen Father Browns als das eines Historikers ansprechen. Ganz im Sinne der Diltheyschen Charakterisierung der geschichtswissenschaftlichen Tätigkeit als »Auslegung der Reste, die zurückgeblieben sind«340 macht er Textzeugnisse und Augenzeugenberichte ausfindig, besucht weitere Gräber und kombiniert anschließend diese Quellen zu einer Gesamterzählung der Schlacht am Black River und ihrer Protagonisten. Diese neue Erzählung korrigiert die zu Anfang geschilderte »popular story«341 vom Heldentod St. Clares und überführt sie in eine, wenn auch nicht in allen Einzelheiten durch Beweise abgesicherte, wahrheitsfähige historiografische Form. Gerade das Schicksal des Generals, seine mutmaßliche Hinrichtung als Verräter durch die eigenen Soldaten, bleibt dabei Extrapolation. »I can’t prove it«342 muss Father Brown eingestehen. Das hindert den Priester jedoch nicht daran, St. Clares letzte Momente mit einem geradezu filmischen Blick für wirkungsvolle Details szenisch zu imaginieren: »There is a camp breaking up on the bare, torrid hills at morning, and Brazilian uniforms massed in blocks and columns to march. There is the red shirt and long black beard of Olivier, which blows as he stands, his broad-brimmed hat in his hand. He is saying farewell to the great enemy he is setting free – the simple, snow-headed English veteran, who thanks him in the name of his men. The English remnant stand behind at attention; beside them are stores and vehicles for the retreat. The drums roll; the Brazilians are moving; the English are still like statues. So they abide till the last hum and flash of the enemy have faded from the tropic horizon. Then they alter their postures all at once, like dead men coming to life; they turn their fifty faces upon the general – faces not to be forgotten […]. It was an English hand that put the rope around St. Clare’s neck; I believe the hand that put the ring on his daughter’s finger. They were English hands 340 Dilthey, Wilhelm (1910/1981): Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. Einleitung von Manfred Riedel. Frankfurt/Main, 349. 341 Chesterton 2005 [Band 12], 208 (»The Sign of the Broken Sword«). 342 Ebd, 220.
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that dragged him up to the tree of shame; the hands of men that had adored him and followed him into victory. And they were English souls (God pardon and endure us all!) who stared at him swinging in that foreign sun on the green gallows of palm, and prayed in their hatred that he might drop off it into hell.«343
Als Schlussnote der von Father Brown vorgelegten Geschichtsdarstellung entfaltet die Erzählung vom Tod General St. Clares eine Überzeugungskraft, die ausdrücklich außerhalb der bislang verwendeten Beglaubigungsstrategien steht. Ihre Glaubwürdigkeit entsteht nicht durch quellenbasierte, historikfeste Beweise, sondern durch Anschaulichkeit, innere Plausibilität, die Plastizität ihrer Figuren, kurz: als Produkt eines unverhohlen literarischen Wirklichkeitseffekts. Gerade durch diese kontrastive Setzung treten die zuvor beschriebenen Ereignisse und Abläufe freilich noch stärker als legitimiert und wahr im wissenschaftlichen Sinn, eben als valide historiografische Erzählung hervor. Dass Chesterton seinen Priester-Detektiv in The Sign of the Broken Sword also mit geschichtswissenschaftlichen Methoden an einer genuin historischen Fragestellung arbeiten, ihn als Historiker auftreten lässt, ist ein für die Gattung der Detektiverzählung vielleicht nicht ganz gewöhnliches Setting. Spektakulär ist es freilich nicht. Ihren außerordentlichen Reiz gewinnt Chestertons kurze Erzählung erst, wenn der Leser es unternimmt, selbst als Historiker tätig zu werden. Überprüft man nämlich die im Text geschilderten geschichtlichen Zusammenhänge auf ihre eventuelle Realitätshaltigkeit, eröffnet sich ein gänzlich neuer Blick auf den Text und die von ihm vorgeführte historische Methode. Denn tatsächlich gibt es eine historische Persönlichkeit, die man für das Vorbild des britischen Generals Sir Arthur St. Clare halten kann, ja eigentlich halten muss: den gebürtigen Briten und späteren amerikanischen Staatsbürger Arthur St. Clair344. 1737 geboren dient er zunächst in der britischen Armee als
343 Ebd, 222f. 344 Zur Biografie St. Clairs vgl. Dowd, Gregory Evans (1999): Arthur St. Clair. In: American National Biography (Band 20). Hrsg. v. John A. Garraty und Mark C. Carnes. New York, Oxford, 583–85. Ausführliche biografische Informationen erhält man auch in der – leider nur online zugänglichen – Dissertationsschrift Arthur St. Clair and the Struggle for Power in the Old Northwest, 1763–1803 (2005) von Kevin Patrick Copper. Vgl. https://etd.ohiolink. edu/!etd.send_file?accession=kent1113952769&disposition=inline (letzter Zugriff am 30. 04. 2018). Alle übrigen namentlich genannten Figuren der Erzählung – der mal als »Brazilian patriot« (208), mal als »Brazilian general[…]« (209), mal auch als »President« (209) titulierte Olivier, Colonel Clancy, Major Murray, Captain Keith, der »Brazilian official« (213) Espado – sind historisch nicht ohne weiteres identifizierbar. Möglicherweise ist es aber auch gerade beabsichtigt, diese Figuren mit sehr verbreiteten Nachnamen und ohne die Nennung von Vornamen im historisch Ungefähren zu belassen, um dadurch die vielschichtige Verbindung Arthur St. Clares zu seinem historischen Beinahe-Namensvetter umso unübersehbarer zu machen. Auffällig sind in diesem Zusammenhang vor allem die Namen der britischen Offiziere: Sie alliterieren nämlich allesamt die Dienstgrade ihrer
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Offizier, bevor er im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg auf Seiten der Amerikaner kämpft und dort bis zum Major General aufsteigt. Seine militärische Karriere kommt zunächst zum Stillstand, als er 1777 das ihm zur Verteidigung anvertraute Fort Ticonderoga gegen eine britische Übermacht nicht halten kann und den geordneten Rückzug anordnen muss. Ein Jahr später steht er wegen dieser Niederlage vor einem Kriegsgericht, wird jedoch freigesprochen. Nach einer Phase vorwiegend politischer Betätigung (unter anderem als Kongresspräsident und Gouverneur) erhält er während des Krieges gegen die Indianerstämme des Nordwestens, dem ›Northwest Indian War‹, als Major General den Oberbefehl über die Streitkräfte der noch jungen Vereinigten Staaten. Dabei hat er 1791 eine der größten und entscheidensten Niederlagen der gesamten amerikanischen Militärgeschichte zu verantworten. Am Morgen des 4. November kommt es zu einem Überraschungsangriff der gegnerischen Indianerstämme auf die schlecht ausgerüsteten und durch Krankheit geschwächten amerikanischen Soldaten, die dem Angriff in der Folge nur wenig entgegenzusetzen haben. Die unvermeidbare Niederlage ist nahezu total: Die amerikanische Artillerie ist außer Gefecht gesetzt, die Verlustzahlen sind schwindelerregend hoch, man zählt allein mehrere hundert Tote, dazu kommen unzählige Verletzte. Auch der das Heer begleitende Tross aus Händlern, Frauen und Kindern fällt den Kampfhandlungen zum Opfer. ›St. Clair’s Defeat‹, wie die Schlacht gemeinhin genannt wird, ist ein Massaker, eine militärische Katastrophe. Arthur St. Clair muss mit sofortiger Wirkung von seinem Oberbefehl zurücktreten, ein möglicherweise entlastendes Verfahren vor einem Kriegsgericht wird ihm verwehrt, seine militärische Karriere ist endgültig beendet. Auch nach einem eigentlich zu seinen Gunsten verlaufenden Untersuchungsausschuss des Kongresses, der sich mit der Angelegenheit auseinandersetzt, wird St. Clairs Ruf nicht offiziell wiederhergestellt. St. Clair bleibt danach weiterhin als Gouverneur tätig, wird allerdings nach einem politischen Zerwürfnis mit Präsident Jefferson 1802 aus dem Staatsdienst entlassen. Seine letzten Lebensjahre im Ruhestand verbringt er mit seiner Frau und seiner geschiedenen Tochter auf dem Anwesen ›The Hermitage‹ in der Nähe von Greensburg, Pennsylvania. 1818 stirbt Major General Arthur St. Clair verarmt im Alter von 81 Jahren. Sein Grab befindet sich in Greensburg auf einem Hügel im heutigen St. Clair Park.345 Das 1913 von lokalen Freimaurern neu errichtete jeweiligen Träger und verstärken damit den Eindruck, dass es sich bei diesen Figuren um rein literarische Schöpfungen handelt. 345 In unmittelbarer Nähe zum Grab Arthur St. Clairs befindet sich in St. Clair Park übrigens eine Bronzestatue Nathanael Greenes. Sie zeigt den im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg ebenfalls auf Seiten der Amerikaner kämpfenden Major General lebensgroß, in stolzer, aufrechter Pose und Uniform. Die Inschrift auf dem Sockel lautet: »General Nathanael Greene, 1742–1786, American Revolutionary, War Hero, For Whom Greensburg Was
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Grabmonument – eine einfache antikisierende Stele, gekrönt von einer Amphore – ist eine exakte Nachbildung des ursprünglichen Sandsteinmonuments von 1832, lediglich ergänzt um eine Inschrift für St. Clairs Frau Phoebe Bayard. Die Stele ist beinahe schmucklos, nichts verweist auf den Menschen, nichts auf den Politiker, nichts auf den Soldaten St. Clair. Die knappe Grabinschrift ist eine Mahnung, die bis heute uneingelöst geblieben ist: »The earthly remains of Major-General Arthur St. Clair are deposited beneath this humble monument which is erected to supply the place of a nobler one due from his country. He died August 31, 1818 in the 84th year of his age.«346
Named«. Greene galt als George Washingtons fähigster Offizier, als brillianter Stratege, dem seine militärischen Erfolge den Beinamen ›Strategist of the Revolution‹ eintrugen. 1781 genehmigte der Kongress die höchste von ihm zu vergebende zivile Ehrung für Greene, die Prägung einer Congressional Gold Medal. Zahlreiche amerikanische Ortschaften, Countys, Parks und Kriegsschiffe sind heute nach Nathanael Greene benannt (darunter eben auch Greensburg, Pennsylvania), an ihn erinnern Statuen und Reiterstandbilder. Die Inschrift auf seinem zentral gelegenen Grabmonument in Savannah, Georgia adressiert ihn als »Soldier, Patriot, The Friend of Washington« und honoriert »His Great Services To The American Revolution«. Die direkte Greensburger Nachbarschaft der beiden so unterschiedlichen Monumente für zwei derart unterschiedliche und vor allem unterschiedlich erinnerte Männer entbehrt vor dem Hintergrund von Chestertons Erzählung nicht einer gewissen Feinsinnigkeit. Zwar wurde die Bronzestatue Nathanael Greenes erst im Jahr 2000, also weit nach Erscheinen der Erzählung, enthüllt. Sie ist aber auch nur der konkrete gegenständliche Ausdruck einer bereits zuvor und auch ohne sie erkennbaren Beziehung, die das Grabmal des glücklosen Offiziers in der Stadt des Kriegshelden herstellt. Es ist wenigstens auffällig, dass die in Chestertons Text stattfindende Verwandlung des von einem militärischen Unstern verfolgten St. Clair in den Kriegshelden St. Clare hier eine gewisse Entsprechung, möglicherweise ein (durch gegenseitige Überschreibung beider historischer Figuren entstehendes) Vorbild findet. Für die Bronzestatue Nathanael Greenes in St. Clair Park, Greensburg samt Inschrift vgl. die unter http://www.catsafterme.com/wp-content/uploads/ 2009/11/ak2.jpg (letzter Zugriff am 17. 04. 2018) zugängliche Fotografie der Statue. Eine Fotografie der Inschrift auf Nathanael Greenes Grabmonument in Savannah, Georgia findet sich unter https://www.findagrave.com/memorial/418/nathanael-greene/photo (letzter Zugriff am 17. 07. 2018). Für biografische Informationen zu Nathanael Greene vgl. die bereits 1849 erschienene Biografie des Historikers William Gilmore Simms The Life of Nathanel Greene, Major-General in the Army of the Revolution. Simms schließt mit den Worten: »His reputation […] has been steadily rising to the first rank among the military men of the Revolution. His talents, as a soldier, are supposed to resemble those of the commander-in– chief, and, of all our major-generals of the Revolution, he is universally admitted to be the one who stands nearest to Washington« (357). Vgl. auch den entsprechenden (von Paul David Nelson verantworteten) Eintrag in Band 9 der American National Biography, 528–30, mit weiteren Literaturhinweisen. 346 Informationen zu Arthur St. Clairs letzter Ruhestätte sowie Fotografien des Grabmals und seiner Inschrift sind unter https://www.findagrave.com/memorial/11822/arthur-st._clair (letzter Zugriff am 17. 04. 2018) zugänglich. Unter dem zugehörigen Eintrag von Phoebe Bayard St. Clair findet sich auch die zweite Inschrift der Stele, die beide Errichtungsdaten nennt.
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Neben seinem Grab erinnern an Arthur St. Clair eine (bis heute immer wieder neu aufgenommene) populäre Ballade mit dem Titel St. Clair’s Defeat347 sowie einige wenige nach ihm benannte Ortschaften und Countys in den Vereinigten Staaten. Ebenfalls nach ihm benannt war das im Amerikanischen Bürgerkrieg ab 1862 für die Nordstaaten operierende Kriegsschiff USS St. Clair348. 1864 war die St. Clair an einem Kampfeinsatz im Südosten der USA beteiligt, dessen Ziel es war, durch eine konzertierte Aktion zu Wasser und zu Land die Kontrolle über den konföderierten Staat Texas zu gewinnen. Dazu sollten Kriegsschiffe wie die St. Clair die zahlreichen Zuflüsse des sich bereits in Unionistenhand befindlichen Mississippi militärisch bereinigen und absichern. Diese Mission betraf insbesondere den Red River sowie – und hier beginnt sich eine neue Beziehungsebene zwischen (literarischem) Text und (historischem) Kontext zu öffnen – einen seiner Zuflüsse, den Black River. Nun ist die militärische Kampagne der USS St. Clair auf dem Black River eher ein entferntes historisches Echo der literarischen Schlacht General St. Clares am Black River. Als deren unmittelbare geschichtliche Blaupause taugt sie nicht unbedingt. Diese lässt sich aber in einer anderen militärischen Auseinandersetzung ausmachen, die ebenfalls im Rahmen des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges, allerdings weder auf US-amerikanischem Boden noch überhaupt unter unmittelbarer Beteiligung der Amerikaner stattfand: die Schlacht um Black River.349 Unter der Bezeichnung ›Battle of Black River‹ firmiert eine Reihe im Jahr 1782 zwischen Spaniern und Briten ausgetragener Konflikte um die britische Siedlung Black River im heutigen Honduras. Dabei lag das Schlachtenglück zunächst bei den Spaniern, die, in erdrückender Überzahl anrückend, die wenigen britischen Soldaten, die zur Verteidigung der Siedlung abgestellt waren, zur Flucht zwangen. Einige Monate später konnten die neu formierten und durch Siedler und Einheimische verstärkten britischen Truppen Black River allerdings zurückerobern. Die meisten der dabei gemachten spanischen Gefangenen wurden anschließend unter der Auflage, sich nicht weiter an Kampfhandlungen gegen die Briten zu beteiligen, freigelassen.
347 Gedruckt wurde die Ballade als Sinclair’s Defeat beispielsweise in der von U.P. James 1836 herausgegebenen Liedersammlung The United States Songster. One Hundred and Seventy of the Most Popular Songs (Cincinnati, hier: 123–25). 348 Der Eintrag über die USS St. Clair im entsprechenden Standardnachschlagewerk, dem Dictionary of American Naval Fighting Ships (DANFS), ist in seiner autorisierten Onlineversion (die Originalbände erschienen zwischen 1959 und 1981, eine aktuelle Printversion ist momentan nicht verfügbar) zugänglich unter https://www.history.navy.mil/research/histo ries/ship-histories/danfs/s/st-clair.html (letzter Zugriff am 30. 04. 2018). 349 Vgl. Dawson, Frank Griffith (1983): William Pitt’s Settlement at Black River on the Mosquito Shore. A Challenge to Spain in Central America, 1732–87. In: Hispanic American Historical Review 63 (4), 677–706.
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Umgibt man Chestertons literarischen Text auf diese Weise mit seinen möglichen geschichtlichen Bezugserzählungen, entsteht ein grundsätzlich verändertes Bild seiner historiografischen Möglichkeiten. Bevor Father Brown am Beginn der Erzählung zu seiner knappen Darstellung der gemeinhin bekannten Version der Ereignisse am Black River ansetzt, bemerkt sein ebenfalls zum Paradox neigender Begleiter Flambeau: »Let’s begin at the wrong end. Let’s begin with what everybody knows, which isn’t true«350. Das bezieht sich natürlich auf die bereits vorausgeschickte Ankündigung des Priesters, eben diese allgemein zirkulierende Version der Geschichte sei »entirely wrong«351. Als falsch muss im Ergebnis der gerade vorgenommenen Kontextualisierung allerdings auch Father Browns Korrektur dieser Version gelten. Denn von der Warte des historisch informierten Lesers aus stellt sie eben keinen wahrheitsgemäßen geschichtlichen Zusammenhang vor. So überzeugend die Geschichtsarbeit des Priesters auf den ersten Blick auch erscheint, als wie gelingend der historische Rekonstruktionsprozess im Text auch dargestellt wird: Die Vergangenheitserzählung, die er hervorbringt, ist im Kern letztlich ebenso unhistorisch wie die Geschichte, deren (geschichts-) wissenschaftlich valider Ersatz sie sein soll. Innere Stimmigkeit und Wahrheitsfähigkeit, so zeigt der Text, sind nicht zwangsläufig deckungsgleich, das eine ist keine einfache Garantie für das andere. Dass alle in The Sign of the Broken Sword als historiografisch gekennzeichneten Erzählungen einen grundsätzlich fiktionalen Charakter haben, zeigen schon die Begriffe, mit denen der Text sie in Verbindung bringt. Kontinuierlich und konsequent werden sie nämlich als »story«352 oder (mit noch deutlicherem Verweis auf ein nicht eigentlich auf historische Wahrheit zielendes Erzählen) als »tale«353 bezeichnet. Folgerichtig tritt Father Brown auch mehrfach als »narrator«354 dieser Geschichten auf. Dabei spielt es im Übrigen auch keine Rolle, ob die jeweilige Erzählung innerhalb der vorgestellten Textwirklichkeit als historisch adäquat gilt oder nicht: Zumindest ihrer Bezeichnung nach sind alle Geschichtsdarstellungen im Text unterschiedslos »story« oder »tale«, ob vor oder nach der historisch-kritischen Korrektur durch den Priester. Begriffe hingegen, die aus einem im engeren Sinn geschichtsbezogenen Wortfeld stammen, sind auffallend spärlich gesät. Der Text vermeidet sie zwar nicht. Sie werden aber stets nur sehr allgemein-abstrakt und nie in direktem Bezug auf eine der von Father Brown vorgelegten Geschichtserzählungen verwendet. Dazu gehört: die Beschreibung General St. Clares als »historic warrior«, die Bewertung der Kontrahenten Olivier
350 351 352 353 354
Chesterton 2005 [Band 12], 207 (»The Sign of the Broken Sword«). Ebd. Ebd, 207, 208, 210, 211, 212, 221. Ebd, 219. Ebd, 210 und 220.
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und St. Clare als »two of the most famous men in modern history«355, das emphatische Lob General Oliviers an seine Gegner, »that few finer sights can have been seen in history than the last stand of this extraordinary regiment«356, die Bezeichnung der Enthüllungen des Leibarztes als »tales of monstrous and prehistoric things«357 sowie mit gutem terminologischem Willen vielleicht noch die Bezeichnung der drei schriftlich vorliegenden ›Quellen‹ (das sind: die Autobiografie Captain Keiths, General Oliviers offizieller Bericht über die Schlacht sowie das Tagebuch des namenlosen britischen Soldaten) als »account«358. Im Zusammenspiel mit ihren möglichen historischen Vorbildern erhält sowohl die sich als historiografisch gültig ausgebende Erzählung der Schlacht am Black River als auch die von Father Brown scheinbar ins rechte geschichtliche Licht gerückte Biografie des Generals, erhalten also beide ereignisgeschichtlich relevanten Elemente des literarischen Textes einen fiktionalen Firnis. Eine solche die geschichtlichen Tatsachen weitgehend außer Acht lassende Arbeit am Historischen ist aber, auch ohne dass man den Text auf eventuelle Kontexte hin öffnen müsste, bereits zentraler Bestandteil von Chestertons Erzählung. Denn der Schlüssel zur Lösung des in The Sign of the Broken Sword gezeigten (historischen wie kriminalistischen) Falls ist ja gerade ein im ursprünglichen Wortsinn kreativer Umgang mit der Vergangenheit. Das meint natürlich zum einen die Tatsache, dass es sich bei der Schlacht am Black River ja eben nicht um eine authentische, militärstrategischen Wirkmechanismen folgende Kampfhandlung, sondern um eine aus der Not geborene Inszenierung, um das regelrechte Fabrizieren eines historischen Ereignisses handelt. Ein »impromptu«359 nennt Father Brown die Schlacht einmal, eine Stegreifdarbietung, erdacht und konzertiert von General St. Clare, um – die Redensart entfaltet ihre Ironie im Nachgang der Ereignisse – den eigenen Kopf aus der Schlinge zu ziehen: Ereignisgeschichte als Deckmantel eines Verbrechens. Die Schlacht am Black River, so zeigen es die Ausführungen des Priesters, ist nicht als authentisches geschichtliches Geschehen zu bewerten, sondern als eine Nebelkerze, die historische Ereignisrelevanz lediglich vortäuscht. Zum anderen ist auch der General selbst, zumindest soweit es seine historische persona betrifft, in gewisser Weise eine Fiktion. Der ein (an Vergils berühmtes »parcere subiectis et debellare superbos«360 erinnerndes) Ethos der militärischen Gewalteffizienz
355 356 357 358 359 360
Ebd, 206 und 208. Ebd, 213. Ebd, 218. Ebd, 210, 213 und 214. Ebd, 220. Vergil, Aen. VI, 853: »die Unterworfenen zu verschonen, die Aufmüpfigen zu bezwingen«. Es liegt der von Johannes Götte für die Sammlung Tusculum besorgte Text der Aeneis zu
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verkörpernde, jedem unnötigen Verlust von Menschenleben, gleich ob Freund oder Feind, abgeneigte Offizier, wie ihn die nationale Erinnerungskultur zeigt und konserviert, erweist sich im Fortgang der Erzählung als Produkt einer bewussten Geschichtsklitterung. Denn seine Henker, so zumindest imaginiert es Father Brown mangels konkreter Beweise, verständigen sich mittels eines Eides nach der Tat darauf, den wahren Charakter des Generals »for the honour of England and of his daughter«361 zu verschweigen. Vereinbart wird hier also ein vorsätzliches Überschreiben der historischen Wahrheit durch eine (die Überlebenden schonende) Geschichtsfiktion. Beide Gegenstände der klassischen Ereignisgeschichte, die Schlacht wie der General, werden durch die Nachforschungen des Priesters in ihrer Historizität in Frage gestellt, ja demontiert. Stattdessen treten sie als (mit mehr oder minder hehren Zielen) absichtsvoll fingiert hervor. Geschichte, wie sie Chestertons Text zeigt, geschieht nicht einfach, sie wird gemacht – und zwar nicht erst nachträglich im Rahmen einer geschichtliche Zusammenhänge unterstellenden historischen Vernunft des Menschen. Sie entsteht von vonherein in verschiedenen Modi des Fiktionalen als Inszenierung bzw. Fälschung. Geschichte ist hier nicht Ergebnis eines den interesselosen Gesetzen der Kausalität folgenden Werdens, sondern Produkt eines aktiven gestalterischen Willens. Dieses Motiv der gemachten, der sich von ihren Tatsachen emanzipierenden Geschichte wiederholt sich, wie es die vorangegangenen Überlegungen bereits gezeigt haben, auf einer zweiten den literarischen Text selbst verlassenden Ebene: in der von Father Brown als wahrheitsfähig präsentierten Variante der Ereignisse am Black River, die aus dieser kontextualisierenden Perspektive heraus eben keine historische, sondern ebenfalls eine fiktionale Erzählung ist. Der zunächst recht simpel wirkende Fall einer Korrektur historischer Wahrheit durch den historikversierten Detektiv Father Brown erweist sich damit als unerwartet vielschichtig. Er ist darüber hinaus aber auch ein sehr subtiles literarisches Spiel. Nimmt man noch einmal die realen Ereigniszusammenhänge um Major General Arthur St. Claire und die Schlacht um Black River hinzu, zeigt sich, wie doppelbödig das Verhältnis von (historischer) Wahrheit und Fiktion in The Sign of the Broken Sword tatsächlich gearbeitet ist. So ist die Diskrepanz zwischen dem literarischen General Sir Arthur St. Clare und seinem historischen Gegenpart Major General Arthur St. Claire zwar denkbar groß. Der eine ist als nationaler Kriegsheld angelegt, der andere muss als durch und durch glücklos in den von ihm verantworteten militärischen UnterGrunde. Auf seinem Grabmonument wird St. Clare als ein Offizier beschrieben, »who Always Vanquished his Enemies and Always Spared Them« (Chesterton 2005 [Band 12], 206). 361 Ebd, 221.
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nehmungen gelten. Der eine findet den Tod auf dem Höhepunkt seines Ruhms im Nachgang einer Schlacht, der andere verstirbt verarmt in hohem Alter auf einem Anwesen, dessen Name (›The Hermitage‹ – ›Einsiedelei‹) vielleicht auf eine gewisse Verbitterung, mindestens aber auf Isoliertheit hindeutet. Der eine wird mit einem vielbesuchten Grabmonument und an diversen anderen Gedenkorten als »Hero and Martyr«362 geehrt, der andere fristet noch auf seinem Grabstein das Dasein eines in seinen Verdiensten für das Land verkannten Patrioten. Bei all diesen Verschiedenheiten teilen die beiden Offiziere aber doch mehr als nur die frappante Ähnlichkeit ihrer militärischen Grade und Namen. Das betrifft beispielsweise ihre nationale Verortung: Auf der einen Seite steht der historische Arthur St. Clair, der als gebürtiger Schotte zunächst in der britischen Armee dient, dann aber auf die amerikanische Seite wechselt und für den eine Gedenkkultur vorwiegend auf amerikanischem Boden existiert. Auf der anderen Seite befindet sich der britische Offizier Arthur St. Clare, dem in der Westminster Abbey und am Themseufer offensichtlich urbritische Auszeichnungen zuteil werden, dessen Grab aber überraschender- und auch unerklärterweise vor allem von »Americans«363 besucht und verehrt wird. Darüber hinaus ist es zwar offensichtlich, dass Major General St. Clair im Gegensatz zu seinem literarischen Kameraden vor dem Hintergrund seiner militärischen Erfolgsbilanz weder den Titel eines Helden noch bei seinem (Unfall-)Tod im Alter von 81 Jahren wohl den eines Märtyrers zugesprochen bekäme. Weder ein Held noch ein Märtyrer ist aber eben auch, das zeigt sich nach der Beseitigung seiner populärhistorischen Maske durch Father Brown, der zu Recht als Verräter hingerichtete General St. Clare. Auch an anderen Stellen wird der Text durchlässig für seinen Kontext: Die Anklage vor einem Kriegsgericht, die Major Murray General St. Clare in der Erzählung androht, erinnert an den tatsächlich durchgeführten Prozess gegen St. Clair nach der Aufgabe von Fort Ticonderoga; im anschließenden Mord des Generals an seinem Major klingt der Dienstgrad des historischen Major General mit; zwar sind beide Offiziere in unterschiedlichen historischen Kontexten verortet – St. Clair agiert als Beteiligter des amerikanischen Unabhängigkeitskriegs im 18. Jahrhundert, St. Clare hingegen mutmaßlich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts364 –, doch scheint die Adressierung des literarischen Generals 362 Ebd, 206. 363 Ebd, 205 und 206. 364 Sein Grabmomument zeigt St. Clare in der Uniform des »modern war« und mit einem Bart »in the old, heavy Colonel Newcome fashion« (beide: 205), einer Referenz auf William Makepeace Thackerays gleichnamige Figur aus dem Roman The Newcomes. Memoirs of a Most Respectable Family (1853–55), der in den 1830er und 1840er Jahren spielt. Zudem kann Father Brown gerade noch lebende Augenzeugen der Schlacht am Black River ausfindig
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als »historic warrior«365 auch ihn in eine durchaus weiter entfernte Vergangenheit zu transponieren. Zudem verweist auch ihre charakteristische Bewaffnung die beiden Offiziere aufeinander. Mehrfach wird in der Erzählung betont, dass das titelgebende Schwert des Generals zum Zeitpunkt seiner militärischen Laufbahn bereits nicht mehr die selbstverständliche Waffe des Soldaten ist. Seine Grabskulptur zeigt St. Clare daher mit zerbrochenem Schwert und einer nicht näher bestimmten Schusswaffe (»gun«366). Diese Waffensignatur entspricht derjenigen der beiden Kriege, in denen der historische St. Clair kämpft und die zu den ersten gehören, in denen Soldaten standardmäßig bereits mit einer Schusswaffe (meist einer Muskete), für den Nahkampf aber immer auch mit einer Stichwaffe (als Offizier meist mit einem Degen oder Säbel, als einfacher Soldat meist mit Langmesser oder dem Bajonett) ausgerüstet sind.367 Ähnliche Beobachtungen gelten für die literarische Schlacht am Black River und ihr historisches Vorbild. Beide Kampfhandlungen haben bis auf ihren Namen auf den ersten Blick nicht viel gemein. Ihr politischer Hintergrund, ihr Verlauf, ihr militärischer Charakter sind grundsätzlich verschieden. Und doch ähneln sie sich auf eine diffuse, nie ganz greifbare Weise: Die Siedlung Black River als Schauplatz der historischen Schlacht wird in der Erzählung zum Fluss Black River; die Briten kämpfen dort gegen Spanier, nicht gegen Brasilianer und sind, von einer nicht ganz unbedeutenden Zwischenniederlage abgesehen, im Gegensatz zu dem von General St. Clare geopferten Regiment die am Ende siegreiche Partei; die literarische Schlacht findet nicht in Honduras statt, sondern in Brasilien, verbleibt damit aber immerhin in Lateinamerika; im Nachgang der Kämpfe werden in beiden Fällen die gefangenen Gegner – einmal sind es die Spanier, einmal die Briten – freigelassen. Darüber hinaus inkorporiert die literarische Schlacht am Black River in auffallender Weise auch Elemente von ›St. Clair’s Defeat‹: Dem Überraschungsangriff der Indianer im Morgengrauen entspricht dabei der für die Brasilianer völlig unvorhersehbare Ausfall des britischen Regiments »[a]t daybreak«368. Die eklatante Niederlage St. Clairs gegen die indianischen Koalitionstruppen mit ihren immensen Truppenverlusten spiegelt – freilich unter völlig anderen Vorzeichen und ohne das überaus ritterliche Verhalten der Sieger, die im Fall der historischen Niederlage brutal gegen alle Überlebenden der eigentlichen Schlacht vorgingen – die Niederlage St. Clares am
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machen, was eine deutlich frühere zeitliche Verortung der Ereignisse zumindest unwahrscheinlich macht. Ebd, 206. Ebd, 205. Für eine detaillierte Darstellung der zeitgenössischen Bewaffnung vgl. Stephenson, Michael (2007): Patriot Battles. How the War of Independence Was Fought. New York, hier: 119–53 (»The Things They Carried. Weapons, Equipment, and Clothing«). Chesterton 2005 [Band 12], 212 (»The Sign of the Broken Sword«).
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Black River, deren hohe Verlustzahlen ja von vornherein zum mitleidlosen Kalkül des Manövers gehörten. Und schließlich gibt General St. Clares Schlacht am Black River auch Sichtachsen zwischen Ereignissen frei, die überhaupt kein tatsächlicher historischer Zusammenhang verbindet. Die (vorläufige) Flucht der britischen Soldaten aus der Siedlung Black River im Angesicht einer spanischen Übermacht im Jahr 1782 ruft vor diesem Hintergrund beispielsweise auch die (endgültige) Aufgabe von Fort Ticonderoga auf, die Major General St. Clair 1777 gegen die in deutlich überlegener Truppenstärke anrückenden Briten anordnen musste. Im Ergebnis ist festzuhalten: Chestertons Erzählung inszeniert ein sich auf mehreren Textebenen entfaltendes Verwirrspiel zwischen (extratextueller) historischer Wahrheit, (intratextueller) historischer Fiktion und deren Auflösung in eine vermeintliche (intratextuelle) historische Wahrheit, die selbst wiederum auch (extratextuelle) historische Fiktion ist. Dabei sind die beiden derart gegeneinander in Stellung gebrachten Modi des Erzählens, der wahrheitsfähige historische und der fiktionale pseudo-historische, aber nicht klar voneinander geschieden. Sie bleiben im Gegenteil überraschend transparent füreinander. Historische Wahrheit und Fiktion sind in The Sign of the Broken Sword weder deckungsgleich noch grundverschieden. Sie verweisen immer wieder aufeinander, stellen Kontaktflächen zueinander her, berühren sich für einen kurzen Moment, kommen aber nie eigentlich zueinander. Der Text verweigert so eine eindeutige Positionierung seines eigenen Erzählens und bewegt sich stattdessen auf dem schmalen Grat eines steten Oszillierens zwischen Historizität und Fiktionalität. Terminologisch gebündelt wird dieses oszillierende Verhalten in einem unauffällig, ja prosaisch wirkenden Begriff, der gleich zu Beginn der Erzählung, nämlich in ihrem ersten Satz auftaucht: »The thousand arms of the forest were grey […]«369. Dass das englische Wort »arms«, um das es hier geht, den Text in einer recht spezifischen Bedeutung (»Äste«) eröffnet, ist ein Eindruck, der sich mit der zweiten Satzhälfte sofort wieder verflüchtigt. »The thousand arms of the forest were grey, and its million fingers silver«370: Erst in seiner Gesamtanlage gibt sich der einleitende Satz der Erzählung als eine Form des uneigentlichen Sprechens zu erkennen, wird unzweifelhaft, dass der Leser es hier mit dem Begriff »arms« in seiner metaphorisch gebrochenen Grundbedeutung (»Arme«) zu tun hat. Bei all seiner Kürze gelingt es diesem ersten Satz also, ein Schwingen des Wortes »arms« zwischen verschiedenen semantischen Nuancen zu erzeugen. Eben dieses niederfrequente Schwingen, dieses kaum wahrnehmbare Bedeu369 Ebd, 205. 370 Ebd.
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tungsflimmern ist entscheidend für die zentrale Funktion, die der Begriff in Chestertons Erzählung einnimmt. Die nur Sekundenbruchteile anhaltende Irritation der Sinnbildungsmechanismen verursacht einen Haarriss in seiner terminologischen Hülle und legt die dem Begriff zu Grunde liegende Struktur der Mehrdeutigkeit offen. Das Wort ›arms‹ ist nämlich, gerade in seiner Pluralform, lexikalisch ambig. Und es sind genau diese neu in den Blick geratenden Bedeutungsebenen, die den Begriff, wiewohl er in der Erzählung nur noch ein weiteres Mal auftaucht371, als Scharnierbegriff des gesamten Textes ausweisen. Das betrifft zum einen seine Verwendung in einem militärsprachlichen Kontext: ›arms‹ als ›Waffen‹. Mit dieser Bedeutungsvariante ist natürlich insbesondere das Schwert des Generals aufgerufen, das die Erzählung, angefangen bei ihrem Titel, als stets präsentes Element durchzieht. Es wird von Father Brown mehrfach als Schlüssel zu den tatsächlichen Ereignissen um die Schlacht am Black River hervorgehoben, als für den Mörder selbst nicht ungefährliche Mordwaffe – seine abgebrochene Spitze im Körper des getöteten Majors ist die untrügliche Spur, die es mit der Schlacht zu verwischen gilt – spielt es eine zentrale Rolle für den (historischen wie kriminalistischen) Fall Arthur St. Clare. Auch der Brasilianer Espado, der Father Brown den wahren Charakter des Generals und dessen Verrat eröffnet, ist damit verbunden, übrigens erneut über eine lexikalische Brücke: Das portugiesische Wort ›espada‹ bedeutet ›Schwert‹. Zum anderen ist der Begriff ›arms‹ als Verkürzung der Wendung ›coat of arms‹ auch im Kontext der Heraldik gebräuchlich: ›arms‹ als ›Wappen‹. Er bewegt sich hierbei im direkten terminologischen Umfeld des Gasthauses, in das Father Brown und sein Begleiter Flambeau am Ende der Erzählung einkehren und das, darin Ziel- wie Ausgangspunkt des Textes, der Erzählung auch ihren Namen gibt: The Sign of the Broken Sword. Bis heute ist das Wort ›arms‹ häufiger Namensbestandteil britischer Pubs, so etwa in The King’s Arms, The Melbourne Arms oder (in schöner Doppeldeutigkeit) The Blacksmith’s Arms. Er leitet sich von der in Zeiten des weit verbreiteten Analphabetismus üblichen, mittlerweile freilich überlebten Praxis ab, diverse Wappen, etwa von lokalen Landadligen oder Zünften, als piktorales Erkennungszeichen einer Gastwirtschaft oder eines Schankbetriebes zu verwenden. Interessant ist dabei natürlich, dass dieses bildlich gestaltete Aushängeschild (›sign‹), insofern es oft ein Wappen (›coat of arms‹) zeigt, in Übertragung selbst eigentlich eine Art verkürztes Wappen 371 Vgl. ebd, 217: »When will people understand that it is useless for a man to read his Bible unless we [sic! wahrscheinlich: he] also reads everybody else’s Bible? A printer reads a Bible for misprints. A Mormon reads his Bible and finds polygamy; a Christian scientist reads his, and finds we have no arms and legs«. Der Begriff wiederholt und bestätigt hier noch einmal sein erstes Auftreten, insofern er ebenfalls in seiner Grundbedeutung (»Arme«) verwendet wird und einem – diesmal deutlich weniger subtilen, weil vom Text explizit ausbuchstabierten – Kontext der Mehrdeutigkeit eingeschrieben ist.
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(›arms‹), nämlich das des von ihm bezeichneten Hauses ist – ein Wappen, auf dem das Wort ›arms‹ als möglicher Namensbestandteil des betreffenden Pubs überdies auch ganz explizit erscheinen kann. Auf diese Weise entsteht eine direkte Berührungsfläche auch zwischen den auf den ersten Blick nicht miteinander verwandten Begriffe ›sign‹ und ›arms‹. Im Fall von Chestertons Erzählung geht dieses verschlungene Spiel mit der Mehrdeutigkeit des ›arms‹-Begriffes sogar noch einen Schritt weiter: Denn das Schild (›sign‹) des Gasthauses zeigt als dessen an ein Wappen (›coat of arms‹) erinnerndes Erkennungszeichen (›arms‹) ja gerade eine Waffe (›arms‹), nämlich das zerbrochene Schwert des General als »the crude shape of a sabre hilt and a shortened blade«372. Der militärische Kontext, das Schwert und sein Träger, der Titel der Erzählung, der Name des Gasthauses und sein sinnreich bebildertes Aushängeschild: Das Wort ›arms‹ berührt innerhalb seiner verschiedenen, komplex miteinander verschränkten Bedeutungsebenen sämtliche für den Text zentrale Motive. Als Begriff, der selbst als zwischen zwei Bedeutungen oszillierend eingeführt wird und im Verlauf der Erzählung beständig an Oszillationspotenzial gewinnt, spiegelt er dabei auch das gemeinsame Wesensmerkmal all dieser Motive. Zerbrochen wie das Schwert des Generals zeigt er sich, chamäleonhaft und schwer greifbar auch wie St. Clare selbst, der den Text als Held betritt und ihn als Mörder wieder verlässt und von dem Flambeau zwischenzeitlich den Eindruck hat, er sei als eine Art erinnerungskulturelles Phantom an sechs verschiedenen Orten zugleich begraben; grenzverwischend wirkt er wie der Nebel, den der Text mit der eisigen Nebelwelt der »Scandinavian hell«373 gleich zu Anfang heraufbeschwört 372 Ebd, 221. Im Übrigen lässt sich das Spiel mit den semantischen Verschränkungen auch (1) auf die Spitze treiben oder im Gegenteil (2) lakonisch umkehren. Zu (1): Das Schild des Londoner Pubs The Artillery Arms zeigt Wappen und Motto der Honourable Artillery Company, in deren unmittelbarer Nachbarschaft sich der Pub befindet: das mit einem englischen Löwen versehene Georgskreuz auf einem Schild, gekrönt von einem geflügelten Helm und einer gepanzerten Faust sowie flankiert von zwei historisch ausgerüsteten Soldaten, einem Pikenier zur Linken und einem Musketier zur Rechten, die zusätzlich zu ihrer namensgebenden Bewaffnung jeweils auch eine Stichwaffe tragen. Unterschrieben ist das Wappenarrangement mit dem lateinischen Motto des Regiments »Arma Pacis Fulcra« (»Waffen [sind] die Stützen des Friedens«). The Artillery Arms ist also ein Pub, der ein Aushängeschild (›sign‹) besitzt, das ein tatsächliches Wappen (›coat of arms‹) in Form eines Schildes (›shield of arms‹) zeigt, das selbst wiederum Waffen in Wort (›arma‹) und Bild (›arms‹) enthält, wobei in diesem Fall sogar noch der Name des Pubs zu einem Spiel zwischen zwei verschiedenen Bedeutungen des Wortes ›arms‹ wird. Zu (2): Die Besonderheit des Pubs mit dem Namen Six Arms in Seattle, Washington besteht darin, dass er, weil er nach seinem sechsarmigen Hindumaskottchen benannt ist, den ›arms‹-Begriff, im Kontext der Pub-Benennungskultur durchaus ironisch, auf seine Grundbedeutung hin bricht. Fotos der besprochenen Lokalitäten sind unter deren jeweiliger Homepage zugänglich: http://www.ar tillery-arms.co.uk und https://www.mcmenamins.com/six-arms (letzter Zugriff jeweils am 25. 04. 2018). 373 Chesterton 2005 [Band 12], 205 (»The Sign of the Broken Sword«).
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und der in den die Erzählung durchziehenden Vernebelungsmanövern – den vernebelten Zusammenhängen der Schlacht, dem vernebelten Mord, der vernebelten Verräterhinrichtung, dem vernebelten Charakter des Generals – ständig wiederkehrt; freischwingend zwischen seinen verschiedenen Bedeutungsebenen ist er schließlich, wie auch der Text selbst zwischen einem historischen und einem fiktionalen Erzählmodus pendelt. Auch wenn es also zunächst etwas verwegen anmuten mag, einem im gesamten Text nur zweimal auftauchenden Wort eine herausgehobene Funktion innerhalb dieses Textes unterstellen zu wollen: Im Licht der eben diskutierten Beobachtungen kann der Begriff ›arms‹ unbedingt als zentral für Chestertons Erzählung und ihr Erzählen gelten. Folgerichtig bildet er etwa auch, insofern er sowohl an das Begriffsfeld von ›sign‹ wie auch an das von ›sword‹ semantisch anschließbar ist, eine auffällige terminologische Klammer um den Titel der Erzählung. Entsprechendes leistet er für die Erzählung insgesamt. So wie er den Text als »arms of the forest«374 eröffnet, beschließt er ihn auch als »square wooden sign« des Gasthauses, »inscribed in false archaic lettering, The Sign of the Broken Sword«375. Zwei Dinge sind an dieser Schlussnote des Textes hervorzuheben. Zum einen, und das wird jetzt nicht mehr überraschen, wird die titelgebende Wendung, die hier das erste Mal nicht nur als Paratext, sondern als Bestandteil des Textes selbst auftaucht, nach ihrem Durchgang durch die Erzählung als im Kern doppeldeutig erkennbar. Sie ist einerseits die ganz konkrete Beschreibung der betreffenden Hinweistafel, die als Emblem ein zerbrochenes Schwert zeigt und dem Gasthaus seinen Namen gibt: The Sign of the Broken Sword als ›Das Aushängeschild mit dem zerbrochenen Schwert‹. Andererseits kann, der auch detektivisch relevante Fall des Generals legt es nahe, das Wort ›sign‹ hier aber auch in seiner Bedeutung als ›Hinweis / Spur / Indiz‹ aktualisiert werden und meint dann das zerbrochene Schwert des Generals als Spur, die letztlich zu ihm als Mörder führt: The Sign of the Broken Sword als ›Die Spur des zerbrochenen Schwertes‹. Der Text, und auch das ist keine Überraschung, privilegiert keine der beiden Lesarten seines Titels.376 Zum anderen liegt auch hier noch einmal ein Fall kreativer Vergangenheitsbearbeitung vor. Die Aufschrift des Schildes »in false archaic lettering«377 ist 374 Ebd, 205. 375 Beide: Ebd, 221. 376 In der zwischen 1991 und 1993 im Haffmanns Verlag erschienenen und seither immer wieder neu aufgelegten (zuletzt 2008 im Insel Verlag) vollständigen Neuübersetzung der Father-Brown-Geschichten von Hanswilhelm Haefs wird die Erzählung übrigens unter dem deutschen Titel Das Zeichen des zerbrochenen Säbels geführt. Die Übertragung ist streng wörtlich, scheint im Deutschen aber nicht recht aufzugehen. Der Titel wirkt nichtssagend, ohne wirklichen Sinn und Richtung. Das semantische Schwingen des Originals vermag er jedenfalls nicht oder doch nur sehr ungenügend zu transportieren. 377 Chesterton 2005 [Band 12], 221 (»The Sign of the Broken Sword«).
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Geschichtsfiktion in winzigem Maßstab, die Schrifttype ein (diesmal allerdings lässliches) Vorgeben von Historiziät. Das Schild ist seinem Standort damit freilich durchaus angemessen. Denn das von ihm bezeichnete Gasthaus, das Father Brown und Flambeau am Ende ihres erkenntnisreichen Marsches durch die Nacht erreichen, steht – und hier erhält der Name The Sign of the Broken Sword noch einmal einen neuen Bedeutungsimpuls – von außen wie innen ganz im Zeichen des zerbrochenen Schwertes und seines Trägers: »On a table stood a silver model of the tomb of St. Clare, the silver head bowed, the silver sword broken. On the walls were coloured photographs of the same scene, and of the system of wagonettes that took tourists to see it.«378
Mit seinem sorgfältigen Arrangement historischer Devotionalien ist das Gasthaus, übrigens genau wie die vielleicht auch mit Blick auf dieses Detail gleichlautend betitelte Erzählung selbst, ein Ort der Inszenierung von Vergangenheit. Mehr noch: Insofern sich die von ihm präsent gehaltene Geschichte in den Ausführungen Father Browns als pseudohistorische Farce entpuppt, ist es ein Ort der Inszenierung von Geschichtlichkeit überhaupt. Nicht umsonst wird das Gasthaus hintersinnig als »red-curtained tavern«379 beschrieben, als ein theatraler Ort des historischen Scheins. Father Brown und sein Begleiter nehmen am Ende der Erzählung Platz in den Kulissen einer als unhistorisch demaskierten Heldenverehrung, deren bitterer Beigeschmack zumindest für Flambeau nur mit Spirituosen zu ertragen ist: »›Come, it’s cold,‹ cried Father Brown; ›let’s have some wine or beer.‹ – ›Or brandy,‹ said Flambeau«380. Chestertons kleine, aber überaus dicht gearbeite Erzählung bezieht auf eine ganz eigene, eine literarische Art Stellung zum auch in der Geschichts- und Literaturwissenschaft diskutierten Verhältnis von historischem und literarischem Erzählen. The Sign of the Broken Sword zeigt das absichtsvolle Fingieren von Geschichte als omnipräsenten Mechanismus. Historische Zusammenhänge werden hergestellt, inszeniert, simuliert, gefälscht und damit in möglicherweise sogar grundsätzlicher Absicht als fiktiv markiert. Denn keine der im Text präsentierten Geschichtserzählungen, auch nicht die von Father Brown als gültig vorgelegte, bleibt im Verlauf der Erzählung in ihrer Wahrheitsfähigkeit ungebrochen. Sie alle erhalten ihre Glaubwürdigkeit, ihren ›historischen‹ Wert nicht dadurch, dass sie einem geschichtlichen Tatsachenzusammenhang objektiv angemessen sind. Stattdessen beziehen sie ihn aus erzählerischer Plausibilität, aus der Qualität ihrer inneren Erzähllogik und sind darin weniger ›history‹ als ›story‹. Historische
378 Ebd, 222. 379 Ebd. 380 Ebd.
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Wahrheit und Fiktion sind dabei in Chestertons Erzählung einander nicht eigentlich entgegengesetzt. Im Gegenteil: In The Sign of the Broken Sword sind a) ein Erzählen, das als geschichtswissenschaftlich valide vorgestellt wird (Father Browns korrigierte Version der Ereignisse am Black River), b) ein Erzählen, das, wiewohl am Ende als unhistorisch entlarvt, doch mit bestem Wissen als historisch geglaubt wird (die in der Öffentlichkeit verbreitete und durch die offizielle Erinnerungskultur sanktionierte Version dieser Ereignisse), und c) ein Erzählen, das geschichtliche Zusammenhänge bewusst zu einer die Fakten verbergenden Gegenhistorie umarbeitet (die verabredete Geschichtsklitterung der Soldaten im Nachgang der Hinrichtung des Generals) eng und manchmal bis zur Ununterscheidbarkeit ineinandergearbeitet. Innerhalb dieses aus historischen, pseudohistorischen und fiktionalen Elementen verdichteten Erzählkomplexes liegen Historizität und Literarizität, liegen Geschichte und Geschichten deutlich näher beieinander als man zunächst vermuten mag. Diese Konstellation kennzeichnet der Text nun aber eben nicht als einen die historische Erkenntnisfähigkeit grundsätzlich hemmenden Defekt. Bevor er die Hinrichtung des Generals durch die überlebenden Soldaten schildert, muss Father Brown, übrigens bereits zum zweiten Mal in seinen Ausführungen, zugeben: »I can’t prove it […]«, allerdings nur um sofort hinzuzufügen: »[…] but I can do more – I can see it«381. Die dieser Aussage implizite Privilegierung von (begründeter) Imagination vor Beweisbarkeit erinnert nicht umsonst an Aristoteles und seinen Vergleich zwischen Dichter und Historiker. Auch hier scheint die extrapolierte, wahrscheinliche Version der Vergangenheit, scheint die literarische Möglichkeit der bloßen Tatsächlichkeit überlegen. Zumindest aber verunmöglicht das Übergreifen des literarischen in den historischen Erzählmodus eine ernstzunehmende historiografische Darstellung nicht. Unbewiesen, so gibt der Text zu verstehen, ist nicht gleichbedeutend mit unwahr, fiktional bedeutet nicht zwangsläufig falsch, imaginierte Geschichte steht nicht unter dem Diktat eines grundsätzlichen historischen Irrealis. Anders gesagt: Ihre mögliche Literarizität entwertet die Geschichtserzählung als solche nicht. Dafür, dass sich der Wert geschichtlichen Erzählens in The Sign of the Broken Sword letztlich ohnehin nach anderen Kriterien als denen der Faktentreue und der Wahrheitsfähigkeit bemisst, spricht auch die Entscheidung, die Father Brown kurz vor Betreten des Gasthauses trifft. Es ist eine ungewöhnliche, wenn auch für Kenner der Figur nicht gänzlich überraschende Entscheidung. Anstatt die von ihm aufgedeckte Wahrheit über die Ereignisse am Black River und General St. Clare zu enthüllen, spricht Father Brown ein beinahe biblisches Verdikt: »and the 381 Beide: Ebd, 220. Das erste Eingeständnis eines fehlenden Beweises leistet Father Brown im Zusammenhang mit der abgebrochenen Schwertspitze: »I cannot prove it, even after hunting through the tombs. But I am sure of it« (216.).
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truth shall never be told of him«382. Entsprechend weist er seinen Begleiter Flambeau an: »Let us try to forget it, anyhow«383. Nun gehören das Schweigen und das Vergessen nicht gerade zum fachlichen Selbstverständnis der Geschichtswissenschaft (und im Übrigen auch nicht zum Wesen der Literatur): Der Historiker vergisst nicht, er erinnert; er verschweigt historische Wahrheiten nicht, er bringt sie ans Licht. Father Browns so vehement vorgetragener Entschluss, die Vergangenheit und ihre Toten ruhen zu lassen384, beruht ausdrücklich nicht mehr auf geschichtswissenschaftlichen, sondern auf moralischen Kriterien. Er ist nicht der Wahrheit, nicht einer wissenschaftlichen Objektivität verpflichtet, sondern einer persönlichen Gewissensentscheidung: »But I told myself that if anywhere, by name, in metal or marble […] any innocent man was wrongly blamed, then I would speak. If it were only that St. Clare was wrongly praised, I would be silent. And I will.«385
Am Ende ist Father Brown damit weder Historiker noch Detektiv. Er folgt wie so oft in Chestertons Erzählungen seiner ursprünglichen Berufung und handelt, auch in The Sign of the Broken Sword, als Priester.
2.2.3 ›Geschichte-als-Wissenschaft‹ – ›Geschichte-als-Erzählung‹386 Noch einmal zusammengefasst: Sowohl in der Geschichtsphilosophie als auch in der Geschichtstheorie als auch in der Geschichtsschreibung lässt sich eine lebhafte und vielschichtige Auseinandersetzung mit der grundsätzlichen Doppeldeutigkeit des der Geschichtswissenschaft zu Grunde liegenden Begriffs der Geschichte nachweisen. Dabei wird Geschichte vor allem in der Historiografie 382 Ebd, 221. 383 Ebd. 384 Verborgen in einer allgemeingebräuchlichen Redewendung nimmt der Text diese Entscheidung gleich zu Beginn übrigens bereits vorweg. Auf ihre gemeinsame Vergangenheit anspielend – Flambeau trat in der ersten Father-Brown-Erzählung The Blue Cross (1910) noch als dessen Gegenspieler auf – beschwichtigt der Priester seinen Begleiter dabei mit den Worten »[…] we will let bygones be bygones« (ebd, 206). Das Wort »bygones« bezeichnet im Englischen sowohl vergangene Ereignisse im Allgemeinen als auch Vergangenes mit einem unerfreulichen Beigeschmack. In der Redewendung werden dabei beide Bedeutungen zugleich aktualisiert: »Wir wollen das Unerfreuliche, das zwischen uns geschehen ist, vergangen sein lassen«. Wendet man die Worte allerdings auf Father Browns historiker-untypisches Schweigen an, steht vor allem die ursprüngliche Bedeutung des Begriffs im Vordergrund: »Wir wollen das Vergangene vergangen sein lassen«. Insofern liegt auch hier wieder ein Fall feinsinniger Doppeldeutigkeit vor. Zur Bedeutung der Redewendung vgl. den Eintrag ›bygone‹ in: Ichikawa, Sanki u. a. (1964): The Kenkyusha Dictionary of Current English Idioms. Tokyo, 93. 385 Chesterton 2005 [Band 12], 222 (»The Sign of the Broken Sword«). 386 So differenziert bei Rancière 1994, 10.
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zur Geschichte im doppelten Sinn. In ihren konkreten Texten treffen Historizität und Narrativität, treffen der forschende Blick auf die Vergangenheit (›historia‹) und seine erzählende Darstellung (›narratio‹) am unmittelbarsten aufeinander. Diese enge Verbindung, wiewohl über lange Phasen der Begriffsgeschichte weitgehend unumstritten oder zumindest unbeachtet, rückt im Zuge der im 19. Jahrhundert stattfindenden Eingliederung der Geschichtsforschung in wissenschaftliche Kontexte ins Zentrum diverser Abgrenzungsstrategien. Dabei ist bis in die heutigen geschichtswissenschaftlichen Debatten hinein weder grundsätzlich entschieden, ob eine solche Abgrenzung sicher möglich ist, noch ob sie überhaupt im Interesse des Historikers liegt. Denn die Tatsache, dass sich die Ergebnisse historischer Forschung überwiegend in erzählenden Strukturen entfalten, dass also der Charakter historischer Erkenntnis ein prinzipiell narrativer ist, kann zwar zum einen durchaus problematisiert werden. Eine in diesem Sinn kritische Annäherung an die Geschichtswissenschaft diagnostiziert ihr in der Regel einen mit ihrer Nähe zur Erzählung einhergehenden Verlust von Objektivität, eine Minderung ihrer wissenschaftlichen Qualität und Aussagekraft. In postmodernen Kontexten führt das gelegentlich bis zur regelrechten Fragmentierung ihres Gegenstandes und im äußersten Fall zur Negierung jedes Konzepts von Geschichtlichkeit überhaupt. Derselbe Befund kann aber auch gerade nicht als Defizit, sondern ganz im Gegenteil als bindendes Spezifikum historischer Sinnbildungsleistung und damit als akademisches Alleinstellungsmerkmal der Geschichtswissenschaft begriffen werden. Das Erzählen in der Geschichtswissenschaft wird dann positiv zu einem konstitutiven Akt historischer Erkenntnis gewendet. Die entschiedene Apologetik einer solchen auf ›forschendes Verstehen‹ (Droysen) zielenden Verbindung von geschichtswissenschaftlichem Denken und Erzählen hat eine beinahe ungebrochene Tradition, die von Droysens Grundriss der Historik (1868) über Diltheys hermeneutischen Historismus bis zu den Arbeiten zeitgenössischer Historiker wie Jörn Rüsen reicht.387 Das Ergebnis ist freilich in beiden Fällen das gleiche: die Freilegung der Textualität von Geschichte, das Sichtbarmachen ihres unhintergehbaren Erzählcharakters, das es ermöglicht, die Nähe (vor allem) der Historiografie auch zu fiktionalen Formen des Erzählens, mithin also das Einbrechen des Literarischen in den historischen Diskurs zu thematisieren. Die endgültige Wende hin zu dieser Einsicht, der ›narrative turn‹ der Geschichtswissenschaft ist dabei mit Hayden Whites 1973 erschienener Metahistory388 markiert, seine bislang radi387 Zur Entwicklung dieses Denkmusters vgl. Rüsen 1982 und 1993. 388 White entwickelt in seiner Metahistory eine vielbesprochene Poetik der Geschichtsschreibung, auf die Rüsen wiederum mit seinem Modell einer Typologie des historischen Erzählens aufsetzt (vgl. Rüsen 1982b).
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kalste Ausformung hat er wohl in der ›Counterfactual History‹ gefunden. In der Literatur, das hat der Blick auf Chestertons Erzählung gezeigt, beginnt die Arbeit an und mit der narrativen Struktur historischen Wissens bedeutend früher. Insgesamt löst die Debatte, gleich ob sie kritisch oder affirmativ, akademisch oder literarisch geführt wird, eine Forderung ein, die der Philosoph Jacques Rancière noch Anfang der 1990er Jahre formuliert hat: Die Geschichte müsse sich »lediglich (und allerdings) mit ihrem eigenen Namen aussöhnen«389.
2.3
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Der ›narrative turn‹ der Geschichtswissenschaft, wiewohl durchaus exemplarisch in seinem Facettenreichtum, seiner Konsequenz und seiner Streuweite, ist kein Einzelfall. Auch andere Disziplinen und Wissensfelder entdecken seit einiger Zeit ihr je eigenes Verhältnis zur Erzählung und zum Erzählen.390 Ein Bewusstsein für die ihnen inhärenten narrativen Strategien und Strukturen gibt es mittlerweile (in bei weitem nicht abschließender Aufzählung) beispielsweise in Psychologie und Psychoanalyse, im juristischen Kontext, in Medizin, Ökonomie und Ethik sowie sehr verhalten auch im Umfeld einiger Naturwissenschaften. Die mit dieser Entwicklung zusammenhängende Generalisierung des Begriffs ›Narrativ‹ ist etwa ab den 70er und 80er Jahren des 20. Jahrhunderts zu beobachten. Der Begriff transzendiert dabei die Grenzen des Textuellen im engeren Sinn und wird zu einer omnipräsenten Struktur, zu einem interdisziplinären Konzept, das sein ursprüngliches Habitat, den literarischen Text, verlässt und in nichtliterarische, nicht textgebundene und (im Fall etwa von Malerei oder Musik) sogar nichtsprachliche Gebrauchszusammenhänge migriert. Mittlerweile taucht das Narrativ, von der Armutsforschung bis zum Sport, in unzähligen Kontexten auf. Selbst eine politische Partei muss ihrem Wähler heute ein überzeugendes und zur Wahlentscheidung animierendes Narrativ anbieten können. Die Verwendung des Begriffs ist dabei, das ist die Schattenseite dieser Entwicklung, durchaus nicht immer qualifiziert, trennscharf ist sie ohnehin nicht mehr. Als Narrativ werden unterschiedslos erzählende, halberzählende und pseudoerzählende Formen, Strukturen und Phänomene angesprochen. Oft meint der Begriff in Verkürzung seiner sozialwissenschaftlichen Verwendung als Erzählung, mittels derer eine Verständigung über kulturelle Wertgrundlagen stattfindet, schlicht einen irgendwie gearteten sinnstiftenden Zusammenhang, 389 Rancière 1994, 150. 390 Vgl. Nash 1990; Fludernik 2006, 43 und 46ff. sowie den von Norbert Meuter verantworteten Artikel ›Narration in Various Disciplines‹ (242–62) im von Peter Hühn 2009 herausgegebenen Handbook of Narratology. Vgl. hierzu auch den Sammelband von Aumüller 2012.
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ohne dass eine mehr oder minder präzise Definition im Hintergrund stünde oder überhaupt ein zugehöriger Erzählvorgang identifiziert würde: das Narrativ als intellektuelle Floskel. Jenseits einer solchen feuilletonistischen Beliebigkeit, die freilich auch mit einer erheblichen Ausfaserung des Begriffs verbunden ist, bedeutet die akademische Auseinandersetzung mit erzählenden Strukturen, bedeuten die jeweiligen ›narrative turns‹ der genannten Disziplinen eine erkenntnistheoretische Aufund Umwertung narrativer Prozesse. Rhetorizität und Narrativität geraten nicht mehr nur als für eine ansprechende Präsentation in Kauf genommene Mittel zur Darstellung und Vermittlung von Wissensinhalten in den Blick. Sie erhalten einen Platz als integrative epistemologische Bestandteile der jeweiligen Wissensfelder: Erzählen erscheint im Sinne einer »epistemologischen Rückkopplung«391 als Akt mit wissenskonstitutiver Funktion. Entsprechend sind auch veränderte Anforderungen an die Narratologie als Theorie dieser neuen Wissenserzählungen zu verzeichnen. Angesichts der zunehmenden Präsenz erzählender Strukturen gerade auch in »nonnarratological contexts«392, also in Kontexten, für die die klassische Erzählwissenschaft keine Zuständigkeit mehr beanspruchen kann und will, muss sie zu einem interdisziplinären Projekt werden, zu einer disziplinenübergreifenden Universalmethodik, einer epistemologischen Kulturtechnik, wie sie etwa Albrecht Koschorke unlängst zu umreißen versucht hat.393 Zu den Aufgaben einer in diesem umfassenden Sinn verstandenen Erzählwissenschaft gehört es angesichts der eben beschriebenen terminologischen Sorgfaltsdefizite zweifelsohne auch, sich über eine mindestens basale Definition dessen zu verständigen, was Narration überhaupt ist. Als diesbezüglicher Konsens kann momentan gelten, dass das Konzept der Narration entscheidend von einem Begriff abhängt, der auch zum terminologischen Grundinventar der Geschichtswissenschaft gehört, nämlich dem des Ereignisses.394 Überlegungen zur Zentralität des Ereignisses für das Erzählen finden sich bereits bei Aristoteles, der in seiner Poetik (335 v. Chr.) mit dem ›μûθος‹ (›mythos‹) die Handlung als intentional geformte Wiedergabe von Geschehnissen zum wesentlichen Bezugspunkt der Dichtung macht. Auch in Lessings Laokoon oder Über die Grenzen der Mahlerey und Poesie (1766) wird das Verhältnis von bildender Kunst und Dichtung bzw. Literatur als Gegenüberstellung von raumbezogener Gegenstandsdarstellung und zeitbezogener Handlungsdarstellung diskutiert. Besondere Relevanz erhält das ereignisbasierte Verständnis von Erzählung in der 391 392 393 394
Koschorke 32013, 22. Fludernik 2006, 46. Koschorke 32013. Vgl. auch Heinen / Sommer 2009. Vgl. mit entsprechenden weiterführenden Literaturhinweisen: Hühn, Peter (2009): Event and Eventfulness. In: Ders. u. a. (Hg.): Handbook of Narratology. Berlin, 80–97.
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Novellentheorie des 19. Jahrhunderts, wenn etwa bei Goethe, Tieck oder Heyse das unerhörte Ereignis, die ungewöhnliche Begebenheit zum Charakteristikum der Novelle als Erzählform erklärt wird. Narratologisch gewendet wird das Ereignis, auf dem die Erzählung basiert, wird ihre Handlung zur kausallogischen Sequenz, zum aus der Fusion von Sequenz und Konsequenz, Temporalität und Kausalität hervorgehenden Plot. Auch wenn Erzählungen sich aber einer klassischen Plot-Struktur verweigern, Kausalität, Kontinuität, erzähllogische Kohäsion und teleologische Sequenz also suspendieren, bleiben sie doch einem Konzept der einfachen Sequenz, der reinen Abfolge verpflichtet.395 Auch wenn die Erzählung nicht entlang eines Handlungssinns erzählt, erzählt sie doch im Rahmen einer ihr eigenen Zeitordnung. Als kleinster gemeinsamer Nenner eines normativen Verständnisses von Narration, Narrativ und Narrativität, als eine mögliche Sockeldefinition lässt sich damit die Temporalität der Erzählung bestimmen, ihr Sich-Entfalten in der Zeit. Das gilt im Übrigen auch für die erwähnten nichtsprachlichen Verwendungskontexte des Narrativ-Begriffs: Musik, ob auf dem Notenpapier oder in der Aufführungspraxis, unterliegt als eine dem künstlerischen Gestaltungswillen entspringende Abfolge von Geräuschen, Tönen und Klangereignissen einer organisierten Klangchronologie und auch das Betrachten eines Gemäldes oder einer Skulptur vollzieht sich, darin dem Lektüreumgang mit einem Text analog, im Spannungsbogen einer zeitlich strukturierten Wahrnehmungsfolge. Dass Narrativität und Zeitlichkeit auf diese Weise eng ineinandergreifende Konzepte sind, entfaltet gerade vor dem wissenskulturellen Hintergrund des 19. Jahrhunderts eine spezifische Wirksamkeit. Insofern nämlich die Wissenschaften des 19. Jahrhunderts eine Tendenz zur Verzeitlichung ihres epistemischen Grundinteresses aufweisen und insofern sie das Tableau durch die Sequenz, das Nebeneinander durch das Nacheinander ersetzen, nähern sie sich inhaltlich wie formal, in ihren Gegenständen wie in ihren Darstellungs- und Denkweisen dem Paradigma der Narration, erhalten sie Narrativität.396 Diese mehrsinnige Entdeckung von Geschichtlichkeit umfasst wie schon in der Geschichtswissenschaft in letzter Konsequenz auch eine sich neu eröffnende Nähe des wissenschaftlichen Diskurses zum fiktionalen Erzählen, zur Literatur. Folgerichtig entwickelt sich im 19. Jahrhundert eine ganze Reihe von Erzählformen und Schreibweisen, die auf je eigene Art Grenzgänger zwischen Literatur und Wissenschaft sind. Dass gerade das 19. Jahrhundert die Entstehung einer 395 Zur Krise des Plot-Konzeptes vgl. Richardson 2006, der entsprechend dafür plädiert, das Konzept des Plots durch das einer »narrative progression« zu ersetzen mit dem Ziel »to have a thorough account of the way narrative fiction unfolds in time« (beide: 178). 396 Zur Unterscheidung von Narrativität und Narration vgl. Abbott, Porter H. (2009): Narrativity. In: Hühn. Peter. u. a. (Hg.): Handbook of Narratology. Berlin, 309–28.
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solchen erstmals in der gesamten Rezeptionsbreite wirksamen und bis heute fortgeschriebenen Texttradition begünstigt, ist auch Resultat des besonderen Kultivierungsgrades seiner Wissen(schaft)slandschaft. Zu deren Charakteristika gehören unter anderem: der erhebliche Zuwachs an akademischen Disziplinen und Einrichtungen, die Etablierung neuer und die (meist, aber nicht ausschließlich) universitäre Institutionalisierung bereits bestehender Wissensfelder, die daraus resultierende Professionalisierung von Forschungs-, Lehr- und wissenschaftlichen Dialogstrukturen sowie eine stetig ansteigende Produktion von Wissensinhalten. Solche und ähnliche Entwicklungsbewegungen sind dabei nicht auf den akademischen Raum einer sich umformenden und erweiternden Wissenschaftsgemeinde beschränkt. Sie führen weit darüber hinaus. Denn neben einem umfangreichen, professionalisierten und produktiven Wissensbetrieb etablieren sich im 19. Jahrhundert auch bis dahin beispiellose Strukturen der Wissenspopularisierung.397 Wissen(schaft) findet im 19. Jahrhundert als Bestandteil einer bürgerlichen Bildungskultur weitgehend öffentlich statt. Über neue wissenschaftliche Entdeckungen und Entwicklungen beispielsweise in Naturkunde, Archäologie, Völkerkunde und Naturwissenschaft wird regelmäßig berichtet, sie werden besprochen, massentauglich aufgearbeitet, kontrovers diskutiert, mit kritischen Gegendarstellungen beantwortet, gefeiert, verworfen. Vor allem aber, und das ist wichtig, wird eine solche journalistische Aufbereitung epistemischer Inhalte von den Lesern erwartet. Es gibt im 19. Jahrhundert ein weite Bevölkerungsteile durchziehendes Bedürfnis nach informationeller Teilhabe an wissenschaftlichen Diskursen, eine (auch kommerziell relevante) Nachfrage nach einer wissensbezogenen Nachrichten- und Publikationskultur. Der interessierte Bürger kann seinem wissenschaftlichen Bildungsbedarf über die Presse hinaus auch in Museen und Ausstellungen, mit Fachpublikationen und in öffentlichen Vorträgen, über Zeitschriften und Magazine, in der Literatur, ja sogar in Form von Abziehsammelbildchen mit wissenschaftlichen Motiven398 nachkommen. Das Wissen und die Wissenschaft des 19. Jahrhunderts sind, so lässt sich vielleicht zusammenfassen, Gegenstand einer neuartigen Form von breitenöffentlicher Aufmerksamkeit. Sie haben ein Publikum, eine konstante diskursive Basis und ein vielschichtiges mediales Netzwerk. Ein solches wissen(schaft)saffines Klima macht das Auftreten von Texten, die epistemische Inhalte mit einer bewusst ansprechend-ästhetischen, und das kann auch heißen: literarischen Form verbinden, mindestens möglich, wenn nicht gar wahrscheinlich. Es bedingt und unterstützt die Herausbildung von Schreibweisen, die sich, wiewohl stets von der 397 Vgl. Berentsen 1986, Daum 1998, Schwarz 1999, die entsprechenden Beiträge in Kretschmann 2003, Samida 2011. 398 Vgl. Schwarz 2011.
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einen oder der anderen Seite ihren Ausgang nehmend, im interdiskursiven Raum zwischen Wissenschaft und Literatur bewegen.399 Wissenschaftsseitig gehören zu den (in aller Regel populärwissenschaftliche Zwecke verfolgenden) Textformen, die sich im 19. Jahrhundert in unmittelbarer Auseinandersetzung mit und an der (Natur-)Wissenschaft entlang entwickeln, unter anderem: von Fachwissenschaftlern ausdrücklich für ein Laienpublikum verfasste Texte wie Justus von Liebigs Chemische Briefe (ab 1841 zunächst in der Augsburger Allgemeinen Zeitung, ab 1844 in mehreren Auflagen als Sammelband publiziert); hochwertig illustrierte und kommerziell oft äußerst erfolgreiche Nachschlagewerke wie Brehms Thierleben (ab 1863 in mehreren Auflagen und auch bis heute noch verlegt); populärwissenschaftliche Sachprosa mit literarischem Anspruch wie die naturkundlich-evolutionsbiologisch orientierten Schriften des Publizisten Wilhelm Bölsche, darunter Das Liebesleben in der Natur (ab 1898 in drei Bänden erschienen) oder Vom Bazillus zum Affenmenschen. Naturwissenschaftliche Plaudereien (1900). Auf Seiten der Literatur sind insbesondere und am augenfälligsten solche Texte hervorzuheben, die sich der neu entstehenden Erzählform der Science Fiction, im 19. Jahrhundert meist unter ihrer Vorgängerbezeichnung ›scientific romance‹ geläufig, zuordnen lassen. Das betrifft (mit erheblichen Abstrichen) bereits Mary Shelleys Frankenstein (1818) und später etwa die Romane von Jules Verne (Voyage au centre de la terre, 1864; De la terre à la lune, 1865; Vingt mille lieues sous les mers, 1869/70), H.G. Wells (The Time Machine, 1895; The Island of Dr. Moreau, 1896; The War of the Worlds, 1898), Kurd Laßwitz (Auf zwei Planeten, 1897) oder – eine durchaus bemerkenswerte Verschränkung – Arthur Conan Doyles späte Erzählung The Lost World (1912). Ihren Charakter als (natur-) wissenschaftliches bzw. sich als solches ausgebendes Märchen stellt die Science Fiction oder ›scientific romance‹ in der Verbindung von Wissenschaft (›science‹, ›scientific‹) und Literatur (›fiction‹, ›romance‹), Fakt und Fiktion dabei bereits in ihrem Namen aus. 399 Ein (freilich erst am Anfang dieser Entwicklung stehendes) Beispiel für eine solche Schreibweise bildet um 1800 etwa die Fallgeschichte. In der Literatur manifestiert sie sich als (psychologischer) Entwicklungsroman, im epistemischen Bereich als juridische, medizinische und seelenkundliche Fallstudie. Ihre Emergenz lässt sich auf eine sich in der Spätaufklärung vollziehende subjektbezogene »Anthropologisierung der Diskursformen« (Berg 2006, 7) zurückführen. Deren Fokus auf den Menschen ( juridisch: sein Geständnis, seine Zeugenaussage; medizinisch: seine Lebensumstände, seine Veranlagung; seelenkundlich: sein Gemüt; literarisch: seine Entwicklungs- und Bildungsgeschichte) bedingt in beiden Diskursen ein vom Menschen her gedachtes und auf ihn hin zentriertes Schreiben. Vgl. Berg 2006 sowie die Ausgabe 19/2009 (2) der Zeitschrift für Germanistik, die sich dem Schwerpunktthema Fallgeschichten. Von der Dokumentation zur Fiktion widmet. Zur (nicht nur anthropologischen) Fallgeschichte als literarischer wie epistemischer Schreibweise vgl. auch Zelle 2009, Düwell / Pethes 2014, Aschauer / Gruner / Gutmann 2015, Pethes 2016, Wegmann / King 2016.
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Im Rahmen dieser Überlegungen lohnt ein genauerer Blick auf einen im Vergleich zu den bisherigen Beispielen recht spät, nämlich 1935 veröffentlichten Text: die sich als »biography«400 vorstellende, populärwissenschaftliche Arbeit Rats, Lice, and History des amerikanischen Bakteriologen Hans Zinsser. In seiner medizingeschichtlichen Orientierung (wie auch übrigens in seinem kommerziellen Erfolg) ist Zinssers Text durchaus verschwistert mit bekannten Arbeiten wie Paul de Kruifs Microbe Hunters (1926) und Men Against Death (1932)401. Während de Kruif aber mit seinen ganz in der Tradition des positivistischen Wissenschaftler-Helden stehenden Fachbiografien berühmter Bakteriologen bzw. Mediziner den Standpunkt der Jäger einnimmt, interessiert sich Zinsser für die Biografie eines Gejagten, nämlich die des Fleckfieber-Erregers. Es ist freilich nicht die etwas ungewöhnliche Themenwahl, die Rats, Lice, and History an dieser Stelle interessant macht. Entscheidend ist, dass Zinssers Text bei genauerer Betrachtung eine Sichtachse auf die Detektiverzählung freigibt, die sich nicht in der beinahe schon formelhaften Ansprache des Wissenschaftlers als Detektiv erschöpft.402 Bei Zinsser gehört nämlich nicht nur das detektivische Ermitteln zu den Fähigkeiten des erfolgreichen Wissenschaftlers403, vielmehr wird das detektivische Erzählen zum narrativen Modell des (populär)wissenschaftlichen Textes selbst. Zinsser versteht, das ist die konzeptuelle Basis seines Textes, Infektionskrankheiten weniger als medizinisches oder mikrobiologisches Problem. Mit der beinahe liebevollen Intimität des forschenden Bakteriologen betrachtet er sie vielmehr als »biological individuals which have lived through centuries, spanning many generations of men«404. Als solche hätten sie, so Zinsser, einen enormen Einfluss auf historische Verläufe, vornehmlich in Schlachten und Kriegen, gehabt, ohne dass ihre Rolle als historisches Agens bislang hinreichend gewürdigt worden sei. Zwar könne auch er zu diesem Thema »little more than preliminary 400 Zinsser 2008, 3. 401 Auf Men Against Death, das er als »thriller« (ebd, 13) bezeichnet, verweist Zinsser in seinem einleitenden Kapitel auch explizit, freilich nicht ohne sich von de Kruifs heroisierendem Stil zu distanzieren. 402 Ein Beispiel unter vielen: In seinem 1949 erschienenen Sachbuch-Bestseller Götter, Gräber und Gelehrte. Roman der Archäologie charakterisiert der unter dem Pseudonym C.W. Ceram publizierende Journalist Kurt. W. Marek den Archäologen als »Fährtensucher« mit »einem Scharfsinn, den wir detektivisch nennen dürfen« (beide: ebd, 39). Zitiert wird nach der 2009 bei Rowohlt erschienenen Sonderausgabe. 403 Im ersten Kapitel benennt Zinsser die »detective story« (Zinsser 2008, 3) als in direkter Popularitätskonkurrenz zur Gattung der Biografie stehend. Zu den detektivischen Fähigkeiten, mit denen Zinsser seinen Wissenschaftler ausstattet, gehören beispielsweise: »an intelligence eager to uncover mysteries« und »investigative vitality and courage« (ebd, 34 und 37). 404 Zinsser 2008, xxix.
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notes«405 beitragen. Dennoch sei Rats, Lice, and History der Versuch, »the biography of a disease«406 zu schreiben. Mit dieser Rezeptionsanweisung ist es Zinsser, so legt es zumindest seine (polemische) Auseinandersetzung mit der literarischen Form der Biografie gleich im einleitenden Kapitel nahe, durchaus ernst. Wenn er ankündigt, seinen Gegenstand »biographically«407 behandeln zu wollen, ist das nicht einfach als Phrase zu verstehen, sondern als Gattungssignal. Rats, Lice, and History bietet damit gewissermaßen eine Krankheitsgeschichte zweiten Grades. Nicht eine diagnostische Fallstudie, die die individuelle Erkrankung eines Patienten schildert, ist das Ziel der Darstellung, sondern die Geschichte einer Krankheit, verstanden als vom konkreten Krankenfall abgelöste Entität. Ein solches Vorhaben, das historischen Ablauf und infektiösen Verlauf, Biografie und Pathologie ineinanderblendet, doppelt in seinem thematischen Umriss die populärwissenschaftliche Verbindung von epistemischem Inhalt und ästhetischer Form, Wissenschaft und Literatur. Darüber hinaus basiert auch die von Zinsser als generischer Fluchtpunkt für seine Arbeit gewählte Gattung der Biografie auf einem ganz ähnlichen Prinzip des Grenzgängertums: Zwar steht sie, das macht ja ihre spezifische Glaubwürdigkeit aus, auf dem grundsätzlich nichtfiktionalen Fundament realer Lebensfakten. Als Gesamterzählung eben dieses Lebens und als umfassende Charakterstudie ihres Protagonisten aber ist sie doch auch auf extrapolierende Ergänzung, auf szenische Imagination, auf die kreative Rekonstruktion seelischer, emotionaler und geistiger Prozesse, mithin also auf literarische Techniken angewiesen. Ob sie eher Sachbuch oder Roman eines Lebens sein will, ist jeder biografischen Erzählung selbst überlassen. Nun ist die angekündigte biografische Auseinandersetzung mit dem Fleckfieber in Rats, Lice, and History aber überraschenderweise überhaupt nicht von Anfang an erkennbar. Erst sehr spät im Text, nämlich ab Kapitel XII, beginnt eine stringent chronologische Schilderung der Geschichte dieser Krankheit, stilecht unterteilt in biografisch, ja beinahe bildungsromanhaft anmutende Entwicklungsphasen. Nacheinander werden, so Auszüge aus den entsprechenden Kapitelüberschriften, »intimate family relations« und »immediate ancestors«408, »birth, childhood, and adolescence«, »young adult phases« und »young manhood« des Fleckfiebers sowie »prospects of future education and discipline«409 besprochen. Den unbiografischen Beginn seiner Biografie, der tatsächlich den größten Teil des Textes ausmacht, kommentiert Zinsser freimütig und mit dem ihm eigenen ironisch grundierten Bescheidenheitsgestus. Mehrfach entschuldigt 405 406 407 408 409
Ebd, xxx. Ebd, 152. Ebd, xxix. Beide: Ebd, 212. Ebd, 229, 239, 265 und 282.
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er die ersten elf (!) Kapitel seines Textes als »digressions«410, betont aber auch, dass sie essentiell für das Verständnis des Themas seien: »Without the developments here recorded, we should now know little about the true nature of the subject of our biography«411. In der Tat lohnt es sich, einen genaueren Blick auf diese sogenannten ›Abschweifungen‹ zu werfen. Denn natürlich sind sie nicht einfach das Verständnis erleichternde, die versprochene Biografie aber verzögernde Exkurse, sondern der immer wieder neu einsetzende Versuch des Textes, seinen Anfang zu finden. Kapitel II, »[b]eing a discussion of the relationship between science and art«412, schlägt hierzu einen denkbar weiten Bogen, nämlich vom Thema des Textes hin zu seiner Form. Ausgeführt als Lehrdialog zwischen einem auf sich selbst im wissenschaftlichen Pluralis Auctoris referierenden Zinsser und einem »literary friend«413, der im Kapitel zuvor bereits als »professional writer«414 aufgetaucht ist, widmet es sich der im Rahmen des Gesprächs betont unakademisch formulierten Frage »What’s the essential difference between art and science anyway?«415 – übrigens ohne sie je eigentlich zu beantworten. Das ist aber auch gar nicht notwendig. Denn allein die (vielleicht auch gerade deshalb als Lehrdialog geschilderte416) Debatte an sich, allein das Infragestellen einer grundsätzlichen Trennung beider Bereiche öffnet bereits den diskursiven Raum, in dem auch Zinssers Text selbst sich entfaltet. Insofern es das populärwissenschaftliche417 Verortetsein des Textes zwischen epistemischem und literarischem Diskurs sowohl argumentativ unterlegt als auch überhaupt erst ermöglicht, formuliert das zweite Kapitel von Rats, Lice, and History so nicht nur eine Apologetik seiner eigenen Textgestalt, sondern auch deren Urszene. Kapitel III nähert sich aus einer ähnlich grundsätzlichen, aber doch ganz anderen Richtung. Es porträtiert die Suche nach dem Umschlagpunkt von unbelebter zu belebter Materie als Fachgeschichte der Biologie: »Among the impractical quests of man, none has been more alluring than that concerning the
410 411 412 413 414 415 416
Ebd, 6. Ebd, 56. Ebd, 15. Ebd, 17. Ebd, 11. Ebd, 18. Der Lehrdialog ist ja (wie etwa auch das Lehrgedicht) selbst bereits eine Form, die eben diese Grenzen einebnet, insofern sie die Vermittlung epistemischer Inhalte mittels einer fiktiven szenischen Schilderung unternimmt. 417 Zinsser selbst will seinen Text übrigens nicht der »popular science« (ebd, 301) zugeordnet wissen, der er als »technical literature« (ebd, 300) nicht viel abgewinnen kann. Das scheint indes ein eher stilistischer Vorbehalt zu sein, der den auf ein Laienpublikum zielenden und in diesem Sinn populärwissenschaftlichen Impetus von Rats, Lice, and History im Kern nicht betrifft.
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origin of life«418. Das moderne Ergebnis dieses ›quests‹ sei »the development of biological thought«419 und damit die Biologie als akademische Disziplin, die das fachliche Habitat auch der Bakteriologie und Immunologie ist. In Ergänzung des vorangehenden Kapitels geht es hier also um den Ursprung des (wiederum selbst als Ursprungssuche akzentuierten) Wissensfeldes, innerhalb dessen sich Rats, Lice, and History bewegt. Einen erneut anders perspektivierten Ausgangspunkt gibt Zinsser seinen Überlegungen mit den Kapiteln IV und V, die von der Klassifikation des Fleckfiebers als Infektionskrankheit her gedacht sind. Die beiden Kapitel bieten zum einen eine Auseinandersetzung mit dem Mechanismus des Parasitismus, der der Funktionsweise jeder Infektionskrankheit zu Grunde liegt, und zum anderen eine epidemiologische Bestimmung des allgemeinen Charakters von Infektionskrankheiten. Es geht dabei unter anderem um das Prinzip der Durchseuchung und die graduelle Abschwächung von Infektionskrankheiten, es geht um das Auftreten ›neuer‹ und das Verschwinden ›alter‹ Infektionskrankheiten, um das Verhältnis von Infektionskrankheit und Epidemie. An diese Ausführungen zumindest oberflächlich anschließend entwerfen die folgenden drei Kapitel in einem großangelegten historischen Panorama die Geschichte der Menschheit als Geschichte ihrer Epidemien. Kapitel VIII nimmt sich dabei insbesondere der klassischen Ereignisgeschichte an und untersucht, wie Schlachten und Kriege durch, oder vor dem Hintergrund von Zinssers personalem Krankheitsverständnis wohl eher: von Infektionskrankheiten gewonnen wurden. Die Zinsser-typische Kapitelüberschrift »On the influence of epidemic diseases on political and military history, and on the relative unimportance of generals« spricht für sich. All diese Schilderungen sind indes nicht absichtslos: Es geht Zinsser bei seinem epidemiologischen Durchgang durch die Geschichte vor allem darum, die ersten Fälle von Fleckfieber ausfindig und benennbar zu machen. Damit steht hier die Suche nach den historischen Anfängen der Krankheit, nach dem Ursprung des Fleckfiebers im Sinne seines ersten gesicherten Auftretens im Vordergrund. Mit ihrem Fokus auf der Laus als Überträger und Wirtstier der Erkrankung nehmen die Kapitel IX und X eben diesen Ursprung des Fleckfiebers noch einmal neu in den Blick, diesmal im Sinne seiner Übertragungsanfänge. Dabei geht es insbesondere darum zu klären, unter welchen spezifischen Bedingungen die Übertragbarkeit des Fleckfiebers auf den Menschen überhaupt möglich wird. Zu diesem Zweck begibt sich Zinsser zunächst in »the legendary past of louse history«420, um dort (nach einer Darstellung des »[a]ncestral origin«421 der Laus) den 418 Ebd, 45. 419 Ebd, 51. 420 Ebd, 172.
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evolutionären Moment ihrer Entscheidung für ein Dasein als sich vom Blut eines Wirtstieres ernährender Parasit zu imaginieren. Als Movens dieser Entscheidung unterstellt Zinsser augenzwinkernd »the impulse of a bourgeois desire for easy living«422. Anschließend widmet er sich den beiden Protagonisten des menschlichen Übertragungsgeschehens, namentlich der Kopf- und der Körperlaus, und ihrem durch die Geschichte verfolgbaren intimen Verhältnis zum Menschen. Kapitel XI, knapp überschrieben mit »Much about rats – a little about mice«, erprobt dasselbe Programm – Geschichte der Spezies, ihres Ursprungs, ihres ersten Auftretens in Europa, ihrer parasitären Bindung an den Menschen – noch einmal an der Ratte als zweitem (Über-)Träger und Reservoir der Erkrankung. Damit ist nicht nur die titelgebende Trias aus Ratten, Läusen und Weltgeschichte423, eben aus Rats, Lice, and History komplettiert. Mit Kapitel XII, dessen Überschrift als eine Art Stoßseufzer formuliert ist (»We are at last arriving at the point at which we can approach the subject of this biography directly«), ist zugleich ein Umschlagpunkt für die verbleibenden fünf Kapitel des Textes erreicht. Hier endlich setzt nämlich die eigentliche, die chronologisch angelegte Biografie des Fleckfiebers ein. Hier endlich erhält der Leser den erwarteten stringenten Abriss über die präepidemische Entwicklung der Krankheit seit der Prähistorie, ihre epidemische Massenausbreitung im 17. und 18. Jahrhundert, die Entdeckung ihres Erregers und seiner Übertragungswege kurz nach der Wende ins 20. Jahrhundert und ihr erneutes Aufflammen in den Gräben des Ersten Weltkriegs. Davor, das hat der kurze Durchgang durch den Text gezeigt, umkreist Zinssers Studie ihr Thema lediglich in Form immer wieder neu ansetzender Anfänge, die oft auch selbst als Ursprungssuchen oder als Durchgänge durch die (Fach-, Menschheits-, Arten-)Geschichte und damit selbst als kleine Biografien bzw. Historiografien markiert sind. Mit Rats, Lice, and History liegt eine Geschichte der verschobenen Anfänge, der stets neu einsetzenden Suche nach einem Erzählbeginn vor. Das mag durchaus auch ein formaler Kommentar auf die geschilderten wissenschaftlichen Ursprungssuchen und deren Erfolgsaussichten sein. Zumindest betont Zinsser an entsprechender Stelle: »The more we discover, the greater is our hopelessness of knowing origins and purposes«424 – ein Unvermögen, das eben auch Zinssers Text seine markante Gestalt zu verleihen scheint.
421 Ebd, 171. 422 Ebd, 180. 423 Die deutsche Übertragung von Zinssers Titel erfolgt in der Regel entweder in genau dieser Kombination als Ratten, Läuse und die Weltgeschichte (beispielsweise in der 1949 im Stuttgarter Hatje Verlag erschienenen Ausgabe) oder als Der Roman des Fleckfiebers (so bei der im Ring-Verlag Wien publizierten Ausgabe von 1948). 424 Zinsser 2008, 35.
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Im Übrigen lässt der tatsächliche Anfang von Zinssers (als Biografie wie als Erzählung verstandener) Geschichte des Fleckfiebers aber auch in Kapitel XII noch auf sich warten. Zunächst steht nämlich das klinische Bild der Krankheit im Vordergrund, ihre charakteristische Symptomfolge, die Zinsser um ein als Familienstammbaum entworfenes nosologisches Modell akut fiebriger Erkrankungen ergänzt, innerhalb dessen er das Fleckfieber verortet. Danach erfolgt die Benennung und Beschreibung des für den Ausbruch der Krankheit verantwortlichen Erregers, mit der das Fleckfieber den Text das erste Mal nun auch im bakteriologischen Sinn betritt. Und erst jetzt, wir befinden uns mittlerweile in Kapitel XIII, taucht der Satz auf, der die bis dahin immer wieder ernüchterte Rezeptionserwartung des Lesers endlich einlöst: »Typhus fever was born when the first infected rat flea fed upon a man«425. Die Geburt ihres Protagonisten und damit der traditionelle Anfang jeder biografischen Erzählung erfolgt in Zinssers Rats, Lice, and History, das sich ja mehrfach selbst als solche ausweist, mit beinahe schon unverschämter Verspätung fast am Ende des Textes. Ein solches Vorgehen mag den Erzählkonventionen der Biografie eher fremd sein. Es entspricht dafür aber auf verblüffende Weise dem detektivischen Erzählen. Was Zinsser hinter einem Gestus der Vergesslichkeit und der Nachlässigkeit, hinter einer Anfälligkeit für die »temptation of discursiveness«426 verbirgt und an anderer Stelle einer diskursiven Montagetechnik wie in Lawrence Sternes Tristram Shandy zurechnet427, lässt sich durchaus als Narrativ der Detektiverzählung mit ihren die chronologische Auflösungserzählung erst ermöglichenden Recherchen, mit ihrer Suche nach dem eigenen Erzählanfang erkennen und beschreiben. Bedenkenswert ist in diesem Zusammenhang auch der Titel, den Zinsser für seine Studie gewählt hat und der ebenfalls eher auf einen detektivischen denn auf einen biografischen Charakter des Textes deutet. Das Fleckfieber, immerhin Subjekt der vorgestellten Biografie und damit eigentlich erwartbares Erzählzentrum, beansprucht hier keinerlei Raum, nicht einmal in einem ( ja durchaus möglichen) Untertitel. Titelgebend sind stattdessen drei der von Zinsser aufgesuchten möglichen Orte des Anfangs, Schauplätze der detektivischen Ursprungssuche des Textes. Die aus der Auseinandersetzung mit Zinssers Text gewonnene Beobachtung, dass die populärwissenschaftliche Berührung von Literatur und Wissenschaft Schreibweisen hervorbringt, die sich mit dem Narrativ der Detektiverzählung in Verbindung bringen lassen, ist indes nicht auf Texte begrenzt, die ausdrücklich 425 Ebd, 237. 426 Ebd, 212. 427 Vgl. ebd, 235: »If hitherto we have followed the discursive plan of Dr. Sterne in Tristram Shandy […]«.
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für ein Laienpublikum gearbeitet sind. Sie liegt, und das ist ungleich interessanter, bereits in den auf diese Weise popularisierten Wissensfeldern selbst, in ihren Gegenständen, Methoden und Texten, ihrem Erkenntnisinteresse und der Verfasstheit des von ihnen hergestellten Wissens. Im Folgenden soll es daher um vier für die akademische und epistemische Signatur des 19. Jahrhunderts maßgebende Disziplinen gehen, die alle einen je eigenen »quest for origins«428 verfolgen: die Archäologie, die Evolutionsbiologie, die (bakteriologische) Medizin und die Psychoanalyse.
2.3.1 Archäologie Dass es sich bei der Archäologie um eine Grabungswissenschaft mit historischkulturwissenschaftlichem Anspruch handelt, mag auf den ersten Blick als Selbstverständlichkeit erscheinen. Tatsächlich reichen die Wurzeln der modernen Archäologie, wie sie uns heute vertraut ist, aber nicht weiter als bis in das 19. Jahrhundert. Der (in seiner Einseitigkeit auch problematisierte429) Topos von der archäologischen »Forschung mit Spitzhacke und Spaten«430 geht dabei vor allem und erst auf den in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts archäologisch tätigen Heinrich Schliemann zurück. Und auch die systematische Rekonstruktion eines historischen Kulturganzen etabliert sich erst im Lauf des 19. Jahrhunderts allmählich als natürliches Erkenntnisinteresse des Archäologen. Das bedeutet freilich nicht, dass es bis dahin keine (auch durchaus gezielten) Ausgrabungen und keine ernsthaften Bemühungen um die dabei zu Tage geförderten Funde gegeben hätte.431 Die wissenskulturellen Voraussetzungen, unter denen das geschieht, sind allerdings grundsätzlich andere. Bis an die Wende vom 18. ins 19. Jahrhundert unterliegt archäologisches Arbeiten, wenn es nicht schlicht einer punktuellen Neugier oder auch gänzlich forschungsfremden Interessen wie der Hoffnung auf finanziellen Gewinn oder öffentliche Auf428 429 430 431
Davies 1988, 108. Vgl. u. a. Hansen 2005 und Eggert 2006, 30f. Schliemann 1881, 747. Vgl. Schnapp 1996, der in seiner Geschichte der Archäologie vor allem darum bemüht ist, Kontinuitäten zwischen vorwissenschaftlichem (d.i. antiquarischem) und modernem (d.i. archäologischem) Erkenntnisinteresse sichtbar zu machen. So weist er (landschafts-)archäologische und stratigrafische Methoden in Ansätzen bereits im späten 17. und 18. Jahrhundert nach, stellt aber auch deren grundsätzliche Befangenheit in der Trennung von säkularer und religiöser Geschichte heraus. Erst im 19. Jahrhundert entstehe mit der Ablösung der Naturgeschichte durch die Biologie und der Auflösung der biblischen Chronologie durch die Geologie eine einzige rekonstruierbare Geschichte, die entsprechend auch zum Gegenstand des archäologischen Bemühens werden könne. Für einen auf die Prähistorische Archäologie konzentrierten Überblick auf die Fachgeschichte vgl. Samida 2018, 51– 66.
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merksamkeit entspringt, einem eher archivarischen Impuls. Vor der Verwissenschaftlichung des Faches (und in Einzelfällen auch noch danach) ist der Archäologe entweder ein Schatzgräber und Abenteurer oder er versteht sich im besten Fall als ambitionierter Sammler oder forschender Antiquar. Auch die Archäologie kennt damit, ähnlich wie die Biologie, einen sozusagen taxonomisch, nämlich am ausstellenden Nebeneinander orientierten Vorläufer: das antiquarisch verwaltete Antikenkabinett, das vor allem auf den bedeutenden Einzelfund konzentriert ist, ohne indes, wie es im 19. Jahrhundert üblich wird, eine systematische Auseinandersetzung mit möglichen Fund-, Entstehungsoder kulturellen Kontexten der jeweiligen Objekte zu leisten. Am Scheideweg dieser Entwicklung der modernen Archäologie steht Johann Joachims Winckelmanns bereits erwähnte Geschichte der Kunst des Altertums von 1764. Als »erste nach stilistischen Gesichtspunkten geordnete Bestandsaufnahme der griechischen Plastik«432 illustriert sie zum einen das den frühen Archäologen beherrschende ästhetische Denken. Zum anderen markiert sie aber zugleich auch einen wichtigen Umschlagpunkt. Denn Winckelmann versucht nicht mehr ausschließlich, einzelne Funde zu beschreiben und zu deuten, sie in ihrem künstlerischen Wert zu erfassen. In der systematisierenden Zusammenschau beginnt er sie darüber hinaus als ästhetische Spuren einer historischkulturellen Mentalität, als Überreste einer materiellen Kultur zu begreifen. Nicht mehr die Würdigung des für sich genommenen Kunstobjektes an sich steht hier im Vordergrund, sondern die archäologische Rekonstruktion einer Kultur, einer Geschichte hinter diesem Objekt. Winckelmanns Arbeit, so formuliert es C.W. Ceram in seinem (so untertitelten) Roman der Archäologie, »zeigte den Weg, den Schlüssel zum Verständnis alter Kulturen durch Betrachtung ihrer Denkmäler zu finden«433. Greifbar wird diese langsame Verschiebung von primär ästhetischen hin zu genuin historischen Sichtweisen etwa in der Bibelarchäologie, die seit ihrer Etablierung in der Mitte des 19. Jahrhunderts als erste archäologische Teildisziplin überhaupt »von Anfang an auf eine Bestätigung geschichtlicher Befunde, nicht auf den bedeutenden Einzelfund«434 zielt. Auch Heinrich Schliemanns Projekt einer historischen Verifizierung der Homerschen Epen mittels beglaubigender Grabungsergebnisse ist in diesem Sinn als »eine Doublette der biblischen Archäologie«435 bezeichnet worden. Den Reiz des (sich gerade auch dem glücklichen Zufall verdankenden) Einzelfundes verliert indes auch die sich akademisch nüchtern gebende Archäologie des 19. Jahrhunderts nicht. Gerade in der öffentlichen Wahrnehmung der Wis432 Bäbler 2004, 23. Vgl. auch Maier 1994, dessen fachgeschichtlicher Abriss der Archäologie im 19. Jahrhundert bei Winckelmann einsetzt. 433 Vgl. den bibliografischen Hinweis in Fußnote 402 (für das Zitat: 31). 434 Maier 1994, 52. 435 Ebd.
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senschaft spielt dieser »kairos des Auffindens«, spielt das »Wunder des Fundes« als jedem Relikt anhaftende »stets uneinholbare Urszene«436 eine entscheidende Rolle. Er sichert ihr ein hohes Maß an Aufmerksamkeit, ein in seiner prinzipiellen Wiederholbarkeit verlässliches und breitenwirksames Sensationspotenzial. Als auch in diesem Sinn für die Laienöffentlichkeit interessante und zugängliche Wissenschaft partizipiert die Archäologie in vielgestaltiger Weise an den Popularisierungsmechanismen des 19. Jahrhunderts: Die Mittel und Medien ihrer Verbreitung reichen von Fachpublikationen, (Kultur-)Zeitschriften und Vorträgen über Tourismus und Industriedesign bis hin zu Vereinen, Museen und Weltausstellungen, Bildbänden und historischen Romanen wie Edward BulwerLyttons The Last Days of Pompeii (1834).437 Gerade die Zeitschriften sind hierbei interessant, fungieren sie doch nicht nur als Vermittler wissenschaftsbezogener Nachrichten, sondern auch als Erscheinungsort fiktionaler Texte. In auflagenstarken Blättern wie Die Gartenlaube oder The Strand Magazine trifft der archäologische Grabungsbericht, trifft übrigens auch das ethnologische, zoologische, botanische, geografische, paläontologische, medizinische Stück ganz konkret auf den literarischen Text, den Fortsetzungsroman, die Novelle, die Erzählung.438 Nah ist die Archäologie dem Erzählen aber nicht nur in ihren Popularisierungsmedien, sondern auch in ihren Methoden und das bereits bei ihrem ohne Frage prominentesten Instrument, der Grabung. Gezielte und planmäßige Ausgrabungen größeren Umfangs, die nicht mehr nur wertvolle Objekte zu bergen, sondern das vollständige Erscheinungsbild etwa einer Siedlung oder eines Tempels wiederzugewinnen und in diesem umfassenden Sinn Vergangenes zu rekonstruieren versuchen, finden etwa seit Mitte des 19. Jahrhunderts statt. Dieses neuartige Interesse des Archäologen an Fundzusammenhängen, an Freilegungskontexten und der Erschließung von Gesamtanlagen markiert die Geburtsstunde der wissenschaftlichen Ausgrabung. Als deren wichtigste Methode muss wohl die Stratigrafie, also das von Schicht zu
436 Alle: Zintzen 1998, 138f. (Hervorhebung im Text). 437 Zur Popularisierung der Archäologie im ausgehenden 18. und 19. Jahrhundert vgl. Zintzen 1998, 61–201 und 203ff. sowie Samida 2018, 67–79. Für einen besonderen Fokus auf der Popularisierung der Antike in Zeitschriften des 18. und frühen 19. Jahrhunderts vgl. MillerGruber 2011. 438 Gerade für die Detektiverzählung ist der gattungsbildende Einfluss dieser diskurshybriden Zeitschriften des 19. Jahrhunderts des Öfteren betont worden, allerdings unter fast ausschließlicher Berücksichtigung des Nebeneinanders von literarischer Erzählung und kriminalistisch-juridischer Berichterstattung. Vgl. stellvertretend Hügel 1978, 161ff.; Kayman 2003, 41f.; Nusser 2009, 76ff. Für die Zeitschrift des 19. Jahrhunderts als Schnittstelle zwischen literarischen und epistemischen Diskursen allgemein vgl. Meinold 2015 sowie Gretz 2011 und 2016.
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Schicht vorgehende systematische Freilegen eines Fundortes, gelten.439 Die dem Prinzip der Schichtengrabung zu Grunde liegende Einsicht in den erkenntnisleitenden Zusammenhang von Ablagerungstiefe und Entstehungszeit stammt dabei ursprünglich aus der Geologie und ist mit Namen wie John Michell, Charles Lyell und William Smith (›Strata-Smith‹) verknüpft. Sie bedingt ein in der Archäologie bis heute gültiges methodisches Vorgehen aus stratigrafischer Grabung, Befundsicherung und Funddokumentation, nach dem beispielsweise ab den 1860er Jahren Guiseppe Fiorelli in Pompeji arbeitet und dem etwas später auch Alexander Conze bei seinen Ausgrabungen in Pergamon und auf Samothrake sowie Ernst Curtius bei der Freilegung Olympias folgen. Die letztgenannte archäologische Kampagne begreift der Archäologe Adolf Michaelis in seiner 1906 erschienenen Vorlesungspublikation Die archäologischen Entdeckungen des 19. Jahrhunderts als »die Hauptstation auf diesem Wege«440 zu einem neuen methodischen Fundament archäologischer Grabungsarbeit. Unter dem (mit Blick auf die Detektiverzählung durchaus bezeichnenden) Abschnittstitel ›Die Aufdeckung Olympias‹ schreibt er im Rückblick auf die zwischen 1875 und 1880 durchgeführten Grabungen: »Die zu lösende Aufgabe umfaßte die ganze Altis und ward ganz planmäßig durchgeführt. Kein Fleck, kein Gebäude ward nur leicht angegraben und dann verlassen, sondern überall ward volle Arbeit gemacht. Auf jede Einzelheit ward sorgfältig geachtet und das Ausgegrabene alsbald soweit geordnet, daß die Mittel zur Rekonstruktion übersichtlich vorlagen; das Konservieren und Ordnen schloß zugleich das Rekonstruieren in sich – ein durchaus neues und heilsames Verfahren. Bei den in zahllose Stücke zerbrochenen und zersplitterten Skulpturen ward bei jedem Fragmente die Lage und die Tiefe der Verschüttung beachtet; die Schichtenhöhe gab bei baulichen Denkmälern nicht selten den entscheidenden Fingerzeig für die Zeitbestimmung.«441
Und wiewohl sich Michaelis in der Auswahl seiner Fundbeschreibungen nicht auf die Alltagsarchäologie, sondern, hierin eher traditionell vorgehend, auf die deutlich ältere Kunstarchäologie konzentriert, wird auch bei ihm »das auszeichnende Merkmal dieser neuen Methode«, ihr ganz spezifischer Wesenskern überaus deutlich:
439 Vgl. Maier 1994, Bäbler 2004, 11ff. sowie Lang 2002, 76ff., die aber auch einschränkend darauf hinweist, dass sich die Stratigrafie, wiewohl ihr Mechanismus bereits im 19. Jahrhundert erkannt worden sei, erst im späteren 20. Jahrhundert letztgültig durchgesetzt habe. Vgl. ebd, 130f. 440 Michaelis 1906, 132. Dem Inhalt nach basiert der laut Vorwort sowohl für ein studentisches als auch für ein interessiertes Laienpublikum verfasste Text auf einer Vorlesungsreihe, die Michaelis im Winter 1904/05 an der Universität Straßburg unter großem Zuspruch gehalten hat. 441 Ebd, 107 (meine Hervorhebung).
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»Auf ganz anderem Gebiete liegt es, daß diese Arbeiten die hohe Schule für die Methode und Technik der Ausgrabungen geworden sind. Überall strebt die Grabung, ohne das Einzelne und Kleine zu vernachlässigen, dem Ganzen zu. Die ursprüngliche Gestaltung sowohl der Gesamtanlage wie aller einzelnen Teile zu ermitteln, die allmählichen Umgestaltungen durch den Lauf der Zeiten zu verfolgen, jeder Einzelheit ihren festen Platz in dieser Entwickelung [sic!] anzuweisen und so die Ausgrabung zu einer Rekonstruktion des verlorenen Ganzen zu machen, das ist das auszeichnende Merkmal dieser neuen Methode.«442
An genau diesem Punkt setzt eine durch den ›narrative turn‹ der Disziplin sensibilisierte Sicht auf die archäologische Grabung an, wie sie vor allem auch die aktuellen theoretischen Debatten innerhalb der Archäologie betonen.443 Dabei wird dem (wissenschaftlich) rekonstruierenden Charakter der Grabungstätigkeit eine nicht unerhebliche (kreativ) konstruierende Komponente beigeordnet. Denn der Archäologe gräbt eben nicht einfach aus, er gräbt stets auch nach etwas. Das ist nicht nur in dem naheliegenden Sinn zu verstehen, dass unter Umständen bereits vor oder während der eigentlichen Grabung Deutungshypothesen für eventuelle Funde existieren, dass es also vielleicht einen gewissen Interpretationsvorbehalt, ein hermeneutisches Vor-Urteil gibt, das sich aber mit größtmöglicher Offenheit für etwaige andere Deutungen auch wieder bereinigen ließe. Auf einer viel grundsätzlicheren Ebene bedeutet es vielmehr, dass der Archäologe in seiner Tätigkeit spätestens seit dem 19. Jahrhundert einem unhintergehbaren Kohärenzbedürfnis unterliegt: Er kann sich nicht mehr mit unverbundenen Einzelfunden zufrieden geben, sondern muss nach Zusammenhängen graben, nach einem (kultur-)historischen Gesamtpanorama, eben nach dem von Michaelis beschworenen »verlorenen Ganzen«. Dieses Ganze aber, das liegt nun einmal im Wesen der Archäologie als Trümmerwissenschaft, ist in aller Regel nicht ohne Weiteres ausfindig zu machen. Es liegt, besondere Fundkontexte wie plötzliche Verschüttungen oder Vulkanausbrüche vielleicht ausgenommen, nicht einfach unter einigen Erdschichten verborgen vor, nur darauf wartend, ans Licht gehoben zu werden. Es muss aus den von ihm zurückgebliebenen Resten, aus im Wortsinn verstandenen archäologischen Relikten erst extrapoliert, ergänzt, hergestellt werden. Um an sein Ziel zu gelangen, bleibt dem Archäologen daher (wie auch schon Schillers geschichtsphilosophisch geschultem Historiker) nichts anderes übrig, als sich einer wissenschaftstheoretisch sanktionierten »Rekonstruktionsphantasie«444 zu bedienen, die man, wie etwa Christiane Zintzen das getan hat, als der poetischen Einbildungskraft durchaus analog begreifen kann. 442 Ebd, 132 (meine Hervorhebungen). 443 Vgl. die entsprechenden Ausführungen und Hinweise in Fußnote 304. 444 Zintzen 1998, 221.
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Zintzen spricht von einer »Liter/ar/chäologie des 19. Jahrhunderts«445 und macht dabei ein prinzipiell doppelwegiges Modell geltend. Zum einen diagnostiziert sie dem historischen Roman des 19. Jahrhunderts eine der archäologischen Rekonstruktionsarbeit nachempfundene Poetik der Vergangenheitssimulation. Diese folge einem »Imperativ zur narrativen Wiederherstellung des Fragmentarischen«446 und sei in diesem Sinn das »Projekt eines in Romanform unternommenen rekonstruktiven Aktes«447. Zum anderen untersucht Zintzen aber auch der bereits erwähnten Kohärenzsehnsucht verpflichtete Schreibweisen in archäologischen Fachtexten, die die vermeintlich objektiv rekonstruierende Tätigkeit des Archäologen als teleologisch, als im Kern auch kreative Leistung erkennbar machen. Umfangreich setzt Zintzen das am Beispiel Heinrich Schliemanns auseinander, indem sie zu zeigen versucht, dass auch dessen (vordergründig nach wissenschaftlichen Kriterien verfasste und wissenschaftlichen Zwecken dienende) Grabungsberichte dem Paradigma der »Rekonstruktionsphantasie«, der sinnstiftenden Erzählung zuzurechnen sind. Schliemann, so resümiert Zintzen, arbeite mit seinem Troja-Projekt vor allem an einem: »eine[r] erzählbare[n] Geschichte«448. Unerlässlich für ein solches Vorhaben ist, auch im Sinne der narratologischen Minimaldefinition der Erzählung als einfache Sequenz, freilich eine verlässliche zeitliche Einordnung der zu Tage tretenden Funde. Die Archäologie bedient sich hierzu einer Kombination aus relativen und absoluten Datierungsmethoden.449 Sie liefern das entstehungschronologische Gerüst der ausgegrabenen Objekte und ermöglichen so überhaupt erst ihre Erzählbarkeit, ihre Verbindung zum zeitlich geordneten Ganzen einer Geschichte. Das stratigrafische Prinzip der archäologischen Grabung bildet dabei ein räumliches Modell relativer Datierung, bei dem die Fundschichtung als chronologisches Indiz verwertet wird: Höherliegende Funde gelten als jünger als die unter ihnen befindlichen Objekte, eine tiefere Grabungsschicht ist entsprechend gleichbedeutend mit einer weiter in der Vergangenheit liegenden Datierungsebene. Eine relative Chronologie archäologischer Artefakte lässt sich darüber hinaus auch attributiv, das heißt: mit Hilfe 445 Zintzen 1998, 23. 446 Ebd, 235. 447 Ebd, 236. Wiewohl diese Formulierungen durchaus auch das Narrativ der Detektiverzählung beschreiben könnten, beschränkt sich Zintzen in der Auswahl der von ihr untersuchten Texte auf wissenschaftliche wie literarische Pompejitexte, die entsprechend einem explizit archäologischen Kontext verhaftet bleiben. Andere Textsorten nimmt Zintzen kaum in den Blick. Lediglich mit dem Verweis auf das Ginzburgsche Indizienparadigma (vgl. ebd, 239ff.), das Zintzen als archäologisch grundiert versteht, gerät das detektivische Element kurz in den Blick. 448 Ebd, 270. 449 Die Übersicht folgt Bäbler 2004, die sich in ihrer Einführung vor allem auf die Klassische Archäologie konzentriert. Vgl. auch Lang 2002, 127ff.
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einer Stilanalyse herstellen. In diesem Fall konzeptualisiert der Archäologe in der Tradition Winckelmanns die von ihm gebildete stilistische Reihe seiner Funde auf der Basis eines Modells steten Fortschritts als chronologische Abfolge. Dabei wird eine sich am Objekt niederschlagende Weiterentwicklung von Herstellungstechniken, stilistischen Elementen oder formalen Schemata als Zeichen für ein geringeres Alter des jeweiligen Objektes begriffen. Die zeitlich fixierten Referenzpunkte, die diese relativen Zeitverhältnisse in eine historisch konkret verortbare Chronologie überführen können, werden mit den Mitteln der absoluten Chronologie gewonnen. Dazu zählen einige erst seit neuerem zur Verfügung stehende naturwissenschaftliche Methoden wie die bei hölzernen Funden angewandte Dendrochronologie, die auf dem Prinzip des Isotopenzerfalls in abgestorbenen Organismen basierende Radiokarbon-Datierung oder die bei der Altersbestimmung von Keramik und anderen gebrannten Objekten eingesetzte Thermoluminiszenz-Datierung. Wesentlich älter ist die absolute Datierung über den Bezug zu zweifelsfrei verbürgten historischen Ereignissen, etwa dem zur Verschüttung Pompejis führenden Ausbruch des Vesuvs im Jahr 79 n. Chr., sowie schriftlichen Quellen, die literarischer, epigraphischer, historischer oder (wie Beamten- und Königslisten) chronologischer Natur sein können. Im Zusammenspiel lassen sich durch Querverweise, Mehrfachbelege und logische Kombination unter Vorbehalt die absoluten Eckdaten eines Fundes destillieren und mit dessen materiellen Überresten, also archäologischen Objekten wie Vasen, Keramiken, Bauwerken und Münzen verbinden. Insgesamt, so lässt sich zusammenfassen, erschließt sich Chronologie in der Archäologie im Wesentlichen also als ein aus Objekt- und Schriftfunden geknüpftes historisches Netz. Die genannten Funde bilden dabei die als Überreste wie Hinweise verstandenen Spuren des Erzählgewebes, an dem und innerhalb dessen der Archäologe arbeitet. Jede der geschilderten archäologischen Chronologisierungsmethoden birgt allerdings auch ihre je eigenen Mängel, methodische Fallstricke, die den auf ihrer Basis getroffenen Aussagen einen lediglich hypothetischen Charakter verleihen. Das historische Erzählgefüge der Archäologie ist nicht unlösbar verbunden, eine begründete Revision der einmal vorgenommenen Datierungen jederzeit möglich. In der Stratigrafie etwa können durch absinkende Objekte oder Umgrabungen verunreinigte Schichten das Datierungsergebnis empfindlich verfälschen. Die Stilanalyse wiederum leidet an der ihr impliziten Teleologie, deren Eindimensionalität weder bewusste Rückgriffe auf ältere noch die Existenz gänzlich zeitunabhängiger Stilmuster noch auch stilistische Wahlmöglichkeiten innerhalb desselben Zeitfensters, mithin also weder Archaismen noch Klassizismen noch Stilpluralismen angemessen zu berücksichtigen vermag. Zudem sind die für eine stilistische Reihung notwendigen morphologischen Veränderungen in der Regel eher an Kunstwerken, weniger aber an Alltagsgegenständen
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ablesbar, da deren einmal perfektionierte Funktionalität keinen Grund zur Weiterentwicklung mehr bietet. Damit liegt zum einen ein bedeutender Teil möglicher Grabungsfunde außerhalb des eigentlichen Anwendungsbereichs der Stilanalyse. Zum anderen ist aber auch bereits eine sichere Unterscheidung zwischen beiden Fundkategorien, wie es das Beispiel von künstlerischen Massenprodukten wie Vasen oder Grabstelen zeigt, nicht immer ohne weiteres zu leisten. Auch und gerade die Methoden der absoluten Chronologie sind von solchen Einschränkungen nicht ausgenommen: Bei der Radiokarbon-Datierung sind auf Grund des schwankenden 14C-Gehalts der Atmosphäre beispielsweise Kalibrierungen nötig, die Datierung mittels Thermoluminiszenz liefert nur sehr ungenaue Ergebnisse und die Reichweite von Ereignissen, die in ausreichendem Maß als historisch gesichert gelten können, ist auf den Zeitraum überlieferter Schriftlichkeit begrenzt. Diese prinzipielle Unabschließbarkeit, das stets Vorläufige ihrer Ergebnisse teilt die Chronologisierung mit einem weiteren methodischen Zugang der Archäologie zu ihren Objekten: dem hermeneutischen Umgang mit Bildfunden. Die archäologische Hermeneutik, die ebenfalls auf Winckelmann zurückgeht und vor allem plastische Kunst und Wandmalereien, aber auch Münzen sowie szenisch gestaltete Keramiken und Vasen zum Gegenstand hat, bewegt sich unübersehbar im Bereich der Kunstarchäologie, die als ältere Schwesterdisziplin der Grabungs- und Alltagsarchäologie gerade hier der Kunstgeschichte überaus nahesteht. Dass sie darüber hinaus auch ganz konkret in den Kontext des Wiederauffindens und Wiederherstellens verlorener Erzählungen gehört, zeigt ein Blick in das von Carl Robert mit strengem methodischen Anspruch verfasste Handbuch Archäologische Hermeneutik. Anleitung zur Deutung klassischer Bildwerke von 1919. Robert rückt das Erkennen und Benennen der im Bild dargestellten Figuren und Handlungen ins Zentrum seiner als methodisches Instrumentarium angelegten Ausführungen. Das kann, so legen es die einzelnen Kapitel des Handbuchs detailreich dar, beispielswese durch die Darstellung als solche geschehen, wobei Attribute, Gebärden, Gesichtsausdrücke, Fingerstellungen, Komposition oder Genrewissen wichtige Anhaltspunkte liefern. Möglich ist auch eine Bestimmung des Bildinhalts unter Rückgriff auf den Mythos, die Literatur oder andere Bildwerke sowie in Bezug auf Aufstellungs- und Fundkontext des betreffenden Objekts. Ziel dieser hermeneutischen Tätigkeit ist aber nicht allein die Identifizierung der abgebildeten Szenen, sondern immer auch deren Verortung in mythischen oder historischen Ereigniszusammenhängen. Anders formuliert geht es um die Deutung der dargestellten Inhalte als aus Bildspuren und philologischantiquarischem Vorwissen zu rekonstruierende Narrative, die der Archäologe mit Vorsicht und Bedacht enträtseln muss, um die zunächst stummen Bilder erneut zum Sprechen zu bringen, ihnen ihre Erzählung zu entlocken.
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Dabei nimmt auch die Darstellung objektiver wie subjektiver Fehlerquellen, nimmt die Fälschung, die (unzutreffende) Ergänzung, das fehlerhaft oder überhaupt nicht Gedeutete, nimmt schließlich auch das gänzlich Undeutbare seinen Platz in Roberts Arbeitsanleitung ein. Die umfangreiche Berücksichtigung auch dieser auf der methodischen Schattenseite der Hermeneutik liegenden Themenbereiche verweist auf das Tentative, das Fehleranfällige und Unabgeschlossene des vorgestellten Deutungsprozesses, für dessen Gelingen es keine Garantie gibt, dessen Scheitern zumindest potenziell ist. Dass sich die gesuchte (Bild-)Erzählung dem Archäologen letztlich verweigert, ist keineswegs ausgeschlossen. Erzählen und archäologisches Arbeiten stehen, das ist deutlich geworden, seit dem 19. Jahrhundert in einem engen, ja beinahe imperativen Verhältnis zueinander: Um den neu formulierten Anforderungen seiner Disziplin gerecht zu werden, muss der Archäologe erzählen. Dieses Verhältnis umfasst, und auch das ist deutlich geworden, nicht nur einen im engeren Sinn faktischen Erzählmodus, der dazu dient, archäologische Sachverhalte wie Grabungsfunde und deren Einordnung in eine kohärenten Form zu bringen und zu präsentieren. Es erstreckt sich durchaus auch auf ein Erzählen, das sich an das Faktische lediglich herantastet, das als Rekonstruktion auf offen extrapolierender Basis dem fiktionalen Erzählen möglicherweise sogar näher steht als es einem sich als wissenschaftlich verstehenden Diskurs eigentlich lieb sein kann. Noch nicht in den Blick geraten ist dabei allerdings, dass es sich beim Erzählen der Archäologie auch um ein detektivisches Erzählen, um ein dem distinkten Narrativ der Detektiverzählung vergleichbares Erzählprojekt handelt. Zwar ist das Herausstellen augenfälliger Korrespondenzen zwischen Archäologe und (literarischem) Detektiv bei weitem nicht unüblich, doch werden diese meist methodenbezogen vor dem Hintergrund des Indizienparadigmas oder auf rein motivischer Basis verhandelt. Da ist dann beispielsweise die Rede von der Archäologie als »Kriminalistik der menschlichen Vergangenheit«450, der Detektiv gilt als »Archäologe des Verbrechens«, während der Archäologe seinerseits als »Detektiv, der der Vergangenheit auf die Spur kommt«451 tituliert wird. Für die Analogie zwischen archäologischem und kriminalistischem Vorgehen wird in der Regel auf den Begriff der Spurensicherung verwiesen, dem beide Disziplinen in besonderer Weise verpflichtet seien.452 Auch die kreative Interpretationsleis450 Holtorf 2007, 334. 451 Beide: Holtorf 2003, 533. 452 Vgl. u. a. Mante 2003 und Kümmel 2003. Mante begreift Spurensuche, -sicherung und -deutung als beiden Disziplinen germeinsame Operationen, während Kümmel die Arbeit der Archäologie mit dem Indizienbeweis für seine Auseinandersetzung mit dem Phänomen des archäologisch nachweisbaren Grabraubs fruchtbar zu machen versucht. Beide Beiträge
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tung des Archäologen, sein Konstruieren von Zusammenhängen kann auf diese Weise mit der in der Kriminalistik üblichen Umsetzung von (zunächst neutralen) Tatortbefunden in (erst vom Ermittler als für die Aufklärung relevant verstandenen) Spuren zusammengedacht werden.453 Den »Tücken der Objekte«454 unterliegen dabei beide Professionen: Ob ein auffälliges Tatortdetail tatsächlich auch eine Spur ist oder wie sich ein archäologisches Artefakt in ein sich aus dem Fundzusammenhang eröffnendes kulturhistorisches Gesamtbild einfügen lässt, bleibt ein fehleranfälliger Deutungsprozess. Im Zuge solcher Überlegungen taucht gelegentlich auch die Beziehung der Archäologie nicht nur zu einem allgemein ermittelnd-kriminalistischen Kontext, sondern auch zur Detektiverzählung auf. Das geschieht besonders dann, wenn es, wie etwa im Fall von Agatha Christie, greifbare personelle Verbindungen zwischen beiden Bereichen gibt. Der von Charlotte Trümpler herausgegebene Ausstellungsband Agatha Christie und der Orient. Kriminalistik und Archäologie (1999) widmet sich beispielsweise in einer eigenen Sektion mit dem Titel ›Kriminalromane‹ ganz gezielt dem Verhältnis von wissenschaftlicher Disziplin und literarischer Gattung, beschränkt sich hierbei allerdings auf die bekannte methodische Verflechtung von Ausgrabung und Detektion455 sowie auf Einflussund Rezeptionsstudien, die Christies persönlichen Erfahrungen mit professionellen Grabungen in ihren Detektivromanen nachspüren. Dabei sind Archäologie und Detektiverzählung auch auf anderen, sich weniger an der Oberfläche bewegenden Ebenen miteinander verknüpfbar. Unverkennbar ist beispielsweise, dass für den Archäologen wie für den literarischen Detektiv ein fach- bzw. gattungskonstitutiver Umgang mit Tod und Verfall kennzeichnend ist. So wie die Detektiverzählung oft bei einer Leiche, mindestens aber bei einem versehrten Erzählzusammenhang ansetzt, basiert auch die Arbeit des Archäologen in nicht unerheblichem Maße weniger auf (Re-)Konstruktion als auf Zerstörung. Das gilt gleich in zweifacher Hinsicht, nämlich für den Gegenstand der Archäologie wie auch für ihre Methoden. Dass das Zerstörte, Weggeworfene und Verlorene, das im Schutt Begrabene, das in Trümmern Liegende, die Ruine, die Scherbe, das Fragment, das Gräberfeld im Zentrum des archäologischen Interesses steht, zeigt ebenso wie die (für die Fachgeschichte wichtigen) Freilegungen der im Leben erstarrten Städte Herculaneum und Pompeji oder die unter anderem von Rudolf Virchow betriebene stammen wie auch der von Holtorf (Fußnote 451) aus dem von Ulrich Veit herausgegebenen Sammelband Spuren und Botschaften. Interpretationen materieller Kultur, der für das Verhältnis der Archäologie zu kriminalistischen Kontexten insgesamt überaus instruktiv ist. 453 Vgl. Reichertz 2007. 454 Ceram 2009, 41 (für die vollständige bibliografische Angabe vgl. Fußnote 402). 455 Vgl. hierzu v. a. den Beitrag von Volker Neuhaus (Die Archäologie des Mordes, 425–34).
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Abfallarchäologie456 ganz deutlich: Erst das Ausscheiden von Objekten aus dem Kreislauf der Benutzung sichert ihr Überleben als archäologisches Artefakt. Entsprechendes gilt auch für den Menschen selbst, der erst als Gegenstand eines Erinnerungsmonuments, erst im Begräbnis- oder Verschüttungskontext in das Gesichtsfeld des Archäologen gerät. Dass jemand erst sterben müsse, um für die Archäologie lebendig zu werden, lässt in eben diesem Sinn auch Wilhelm Jensen die selbst von diesem Schicksal betroffene Protagonistin seiner Pompeji-Novelle Gradiva (1903) anmerken.457 Zerstörung ist aber nicht nur Voraussetzung für, sondern oft genug auch Nebenwirkung des archäologischen Arbeitens. Das gilt in besonderem Maße für die stratigrafische Grabung. Deren epistemologisch prekärer Status rührt eben daher, dass der aus ihr entstehende archäologische Erkenntnisgewinn mit einer zumindest teilweisen Zerstörung seiner Quellen verbunden ist.458 Denn jede der (übrigens oft selbst durch Abfallschichtung, die Zerstörung oder den natürlichen Zerfall von Siedlungen entstandenen) Fundschichten muss ja im Verlauf der Grabungstätigkeit abgetragen werden, um an die unter ihr liegende nächstältere Schicht zu gelangen. Zwar werden die in der betreffenden Schicht enthaltenen materiellen Funde sorgfältig geborgen, zwar sichert eine möglichst genaue und umfassende Dokumentation den Fundzusammenhang auch nach seiner Auflösung. Die stratigrafischen Fundbedingungen selbst, der Fundort als solcher ist nach Abschluss der Grabung allerdings unwiederbringlich verloren. In ähnlicher Weise wird auch bei der Radiokarbon-Datierung der archäologische Blick in die Vergangenheit durch die Vernichtung der zu Grunde liegenden Probe erkauft. Eine Trümmerwissenschaft ist die Archäologie also in mehr als der üblicherweise mit diesem Begriff verbundenen Bedeutung: Sie arbeitet nicht nur mit Trümmern, sie hinterlässt sie auch. Bevor er seinen jeweiligen Fund zu einem kulturgeschichtlichen Ganzen zusammenfügen kann, muss ihn der Archäologe erst systematisch und planmäßig in seine Einzelteile zerlegen. Unter Schaufel, Spitzkelle, Pinsel und Sieb verschwindet der Fundort, damit die archäologische Erzählung entstehen kann. Das nun bereits mehrfach erwähnte kulturgeschichtliche Ganze, auf dessen Rekonstruktion die archäologische Tätigkeit zielt, bildet eine weitere wichtige Verbindungslinie der Archäologie zur Detektiverzählung. Wenn es, wie Franziska Lang formuliert, Aufgabe des Archäologen ist, »[d]ie Spuren der Vergangenheit
456 Vgl. aus der umfangreichen Publikationstätigkeit des Mediziners Virchow zu (prä-)historischen Themen die aus dem Jahr 1872 stammenden Beiträge Über moderne Pfahlanlagen und Küchenabfälle in Berlin und Küchenabfälle in der Dorotheenstraße zu Berlin. 457 Vgl. Jensen 32003, 211: »Daß jemand erst sterben muss, um lebendig zu werden. Aber für die Archäologie ist das wohl notwendig«. 458 Vgl. Bäbler 2004, 15; Veit 2005.
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[…] zu einem anschaulichen Bild zusammenzufügen«459, und wenn er das, wie es Gabriele Mante hervorgehoben hat, mit »rückläufigen, d. h. von der Wirkung zur Ursache schreitenden, Schlüssen«460 bewerkstelligt, dann ist das vom Was und Wie des detektivischen Erzählens nicht besonders weit entfernt. Wie die Detektiverzählung geht auch die Archäologie bei ihrer Suche nach dem verlorenen Ganzen einer lediglich in Fragmenten vorliegenden Erzählung chronologisch invers vor. Dabei entspricht gerade die stratigrafische Grabung, wie sie im 19. Jahrhundert zum wissenschaftlichen Goldstandard der Archäologie zu werden beginnt, auf verblüffende Weise dem Narrativ der Detektiverzählung. Durch die mit Michail Bachtin als Chronotopoi461, als Zeitorte verstehbaren Fundschichten dringt der Archäologe schrittweise an den Beginn seiner Erzählung vor: Je tiefer er gräbt, umso näher kommt er ihm. Den Ausgangspunkt der Rekonstruktionstätigkeit wie auch den Abschluss der daraus entstehenden Erzählung bildet dabei jeweils der ursprüngliche Fund. Anfang und Ende der archäologischen Erzählbewegung fallen so, auch das in deutlicher Kongruenz zum aitiologischen Erzählmuster der Detektiverzählung, in eins. Als mit erzählenden Zügen ausgestattete Rekonstruktion von Geschichte, zu deren Anfängen sie sich durch die Schichten in der Zeit rückwärts grabend vorarbeitet462, ist die Archäologie der Detektiverzählung zweifelsohne verwandt. Wie nah sich Wissenschaft und literarische Gattung aber tatsächlich stehen, zeigt ein Ausschnitt aus Wilhelm Diltheys erkenntnistheoretischer Schrift Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften von 1910: »Die Geschichtsschreibung beginnt, indem von der Gegenwart und dem eigenen Staat rückwärts, was fast noch in der Erinnerung des gegenwärtigen Geschlechtes lebt, dargestellt wird; es ist Erinnerung noch im eigentlichen Verstande. […] Wie Geschichte weiterschreitet, erweitert sich der Blick über den eigenen Staat hinaus, und immer mehr 459 Lang 2002, 11. 460 Mante 2003, 160. 461 Vgl. Spörl 2006, der den Begriff des Chronotopos für den Kriminalroman fruchtbar zu machen versucht, sowie Wigbers 2006, die an entsprechenden Texten innerhalb eines großangelegten Zeitfensters von der Romantik (ab 1819) bis in die Gegenwart die Tendenz des Kriminalromans nachweist, »sein zentrales Rätsel zu verräumlichen« (244). 462 Eine solche Bewegung auf die Anfänge hin kennzeichnet übrigens auf einer zweiten Ebene auch die Fachgeschichte der Archäologie selbst, die sich im Lauf des 19. Jahrhunderts ebenfalls immer weiter in der Vergangenheit angesiedelte Forschungsgebiete erschließt: Stützte sich Winckelmann in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts noch auf ein chronologisch recht undifferenziertes Bild der Antike, verlagert sich das archäologisch-historische Interesse im 19. Jahrhundert zunehmend auf immer ältere Zivilisationsstufen, so etwa den Hellenismus, die Spät- und Frühklassik sowie die mykenische und kretische Frühzeit. Mit den Ausgrabungen eisenzeitlicher Siedlungsstrukturen in Hallstatt 1846 und dem (zunächst umstrittenen) Fund des Neandertalers im Jahr 1856 eröffnet sich der Archäologie ab der zweiten Jahrhunderthälfte nach der Früh- schließlich auch die Urgeschichte des Menschen.
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von der Vergangenheit tritt in dies Totenreich des Gedächtnisses ein. Ausdruck ist von dem allen zurückgeblieben, nachdem das Leben selbst vergangen ist. Direkter Ausdruck, in dem Seelen ausgesprochen haben, was sie waren, und dann Erzählungen von Handlungen und Zuständen der Individuen, der Gemeinschaften, der Staaten. Und der Geschichtsschreiber steht inmitten dieses Trümmerfeldes von Resten vergangener Dinge, der Äußerungen von Seelen in Taten, Worten, Tönen, Bildern – Seelen, die längst nicht mehr sind. Wie soll er sie beschwören? All seine Arbeit, sie zurückzurufen, ist Auslegung der Reste, die zurückgeblieben sind«.463
Zwar arbeitet Dilthey hier eigentlich einen epistemologischen Umriss des historischen Wissens heraus, doch ließen sich die Begriffe ›Geschichtsschreibung‹ und ›Geschichtsschreiber‹ ohne Weiteres durch ›Archäologie‹ und ›Archäologe‹ ersetzen. Das archäologische Bildfeld, der Trümmer- und Reliktkontext, dessen sich Dilthey bedient, scheint eine solche Substitution ja beinahe selbst nahezulegen. Das eigentlich Instruktive dieser Passage ist aber, dass sich eben auch die Begriffe ›Detektiverzählung‹ und ›Detektiv‹ umstandslos in sie einfügen ließen. Der gesamte Beziehungszusammenhang zwischen Archäologie und Detektiverzählung ist hier, auf dem Lichttisch der Geschichtswissenschaft, in nuce vorhanden: das Sich-Zurückbewegen an den eigenen Anfang (historisch: an die Grenzen des Gedächtnisses, archäologisch: an die älteste Grabungsschicht, detektivisch: an den Beginn der gesuchten Erzählung), das Versehrte (historisch: die vereinzelten Quellen, archäologisch: der Trümmerkontext, detektivisch: die ›Leiche‹, das narrativ Dysfunktionale) als Ausgangspunkt der Rekonstruktionsarbeit und das Herstellen eines verlorenen Erzählganzen (historisch: der Geschichte, archäologisch: der materiellen Funde, detektivisch: des vermeintlichen oder tatsächlichen Verbrechens) als deren Ziel. Auch und gerade in Diltheys einer entsprechenden Absicht durchaus unverdächtigem Text wird also deutlich, dass Archäologie und Detektiverzählung derselbe narrative Impetus zu Grunde liegt, dass sie einen gemeinsamen Erzählraum teilen.
2.3.2 Evolutionsbiologie Neben der Archäologie arbeitet auch die Biologie mit einem dem geologischarchäologischen Schichtenmodell durchaus entsprechenden Chronotopos: dem Konzept der Generation. So wie die stratigrafische Methode auf einer räumlichen Konsonanz der jeweiligen Fundobjekte bei gleichzeitiger zeitlicher Abfolge der Schichten selbst beruht, die Schicht als Raum-Zeit-Hybrid also sowohl Träger einer synchronen wie auch einer diachronen Funktion ist, oszilliert auch der 463 Dilthey, Wilhelm (1910/1981): Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. Einleitung von Manfred Riedel. Frankfurt/Main, 348f. [meine Hervorhebung].
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Generationenbegriff zwischen Ähnlichkeit und Abstammung, zwischen der Kontinuität zwischen den Mitgliedern einer Generation und deren Differenz zu anderen Generationen: die Generation als genetische, als Deszendenzschicht.464 Gerade im 19. Jahrhundert wird dieses Generationenkonzept in vielen Wissensbereichen von der Statistik bis zur Soziologie anwendungsrelevant, vor allem aber eben in der Biologie. Dass die Biologie sich ein solches wesentlich auf Diachronizität basierendes Konzept überhaupt sinnvoll zu Eigen machen kann, ist auf ihre eigene, bereits ausführlich beschriebene Verzeitlichung zurückzuführen. Erst die Anfang des 19. Jahrhunderts beginnende Ablösung der Naturgeschichte als (taxonomische) Wissenschaft von den Lebewesen durch die Biologie als (entwicklungsbezogene) Wissenschaft vom Leben ermöglicht den selbstverständlichen Umgang der Disziplin mit zeitbasierten Modellen. Erst die Überlagerung tableauhafter Systeme durch genuin zeitliche Konzepte und Strukturen macht aus der Naturgeschichte eine Geschichte der Natur. Eine herausgehobene Rolle spielt in diesem Zusammenhang zweifelsohne Charles Darwins evolutionstheoretischer Ansatz. Wolfgang Lefèvre hat darauf hingewiesen, dass die über die Fachgrenzen der Biologie hinausreichende Bedeutung der Evolutionstheorie für das 19. Jahrhundert dabei weniger auf ihre innere Stimmigkeit oder ihre durchschlagende wissenschaftliche Überzeugungskraft als vielmehr auf ihre integrative Erklärungsleistung zurückzuführen ist.465 Tatsächlich sind Darwins Thesen zunächst alles andere als unumstritten. 1858 zusammen mit der Abhandlung On the Tendency of Varieties to Depart Indefinitely From the Original Type seines Kollegen und Konkurrenten Alfred Russell Wallace erstmals der wissenschaftlichen Öffentlichkeit vorgestellt, werden sie vom Fachpublikum ausgesprochen kritisch aufgenommen. Dass wichtige theoretische Grundlagen für ein Verständnis evolutionsbiologischer Vorgänge wie etwa die sich erst Anfang des 20. Jahrhunderts durchsetzenden Erkenntnisse der Genetik zur Vererbung zu diesem Zeitpunkt schlicht noch nicht zur Verfügung stehen, trägt nicht unwesentlich zur allgemeinen Skepsis bei. Spätestens mit dem Erscheinen von On The Origin of Species 1859 nimmt neben dem wissenschaftlichen auch das öffentliche Interesse an Darwins Theorie zu. Auch hier ist bei weitem nicht immer Begeisterung oder auch nur Wohlwollen zu verzeichnen. Das gilt insbesondere für Darwins ab 1871 vorgestellte Überlegungen zur menschlichen Abstammungslinie. Dass Darwin etwa in The Descent 464 Vgl. Parnes / Vedder / Willer 2008, die in einem historischen Durchlauf an unterschiedlichen Stationen der Entwicklung des Konzepts der Generation eben diesem Doppelsinn nachspüren. 465 Vgl. Lefèvre 1984, 94ff. Für die im Folgenden knapp dargestellte Rezeption der Darwinschen Theorie vgl. ebd, 80ff. Vgl. hierzu auch Bowler, Peter J. Bowler (2010): On the Origin of Species und die Evolutionsbiologie bis 1900. In: Sarasin / Sommer 2010, 89–102, für die Rezeption: 93–97 (»Die Aufnahme von Darwins Theorie«).
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of Man unter anderem einen gemeinsamen Vorfahren für Mensch und Affe andeutet und damit den vormals kategorischen Unterschied zwischen Mensch und Tier zu einem abstammungsbiologischen einebnet, erzeugt eine enorme, vor allem auch satirische Resonanz. Die wohl bekannteste der zahllosen in diesem Zusammenhang erscheinenden Karikaturen, veröffentlicht im direkten Nachgang der Publikation von The Descent of Man 1871 in The Hornet Magazine, zeigt den an seinem charakteristischen Bart erkennbaren Darwin in gebückter Haltung mit einem Affenkörper, den linken Fuß als Greifwerkzeug benutzend. Die humoristische, aber eben auch die auf das Lächerlichmachen, auf das Kleinhalten, auf das Wahren von Distanz zielende Absicht der Zeichnung ist unverkennbar. Karikaturen wie diese sind bezeichnend für die sich zwischen Zweifel, Verunsicherung, Spott und Empörung bewegende öffentliche Meinung zu Darwins Thesen, die dem Menschen des 19. Jahrhunderts, egal ob Wissenschaftler oder Laie, in ihrer radikalen Konsequenz durchaus einiges zumuten. Nicht umsonst zählt Sigmund Freud sie 1917 als »biologische Kränkung des menschlichen Narzißmus« zu den drei schweren Kränkungen, die »der allgemeine Narzißmus, die Eigenliebe der Menschheit, bis jetzt […] von Seiten der wissenschaftlichen Forschung erfahren hat«466. Dass sich die Evolutionstheorie dennoch dauerhaft und erfolgreich als eines der prägenden epistemischen Ereignisse des 19. Jahrhunderts etabliert, hängt zum einen, wie bereits erwähnt, mit ihrer von Lefèvre hervorgehobenen Integrationsleistung für die Biologie als Gesamtdisziplin zusammen. Indem sie umfassende Erklärungsmuster für bereits existierende, durchaus auch in biologischen Nachbardisziplinen wie der Biogeografie angesiedelte Problemkomplexe bietet, indem sie ganze Disziplinen wie beispielsweise die Paläontologie dabei auf ein völlig neues theoretisches Fundament stellt, begründet die Evolutionstheorie, so Lefèvre, erst eigentlich den Zusammenhang der Biologie als Wissenschaft. Zum anderen macht die Evolutionstheorie aber auch die neuartige Verzeitlichung des Wissens vom Leben wie kein anderes biologisches Modell des 19. Jahrhunderts zu ihrer Grundlage.467 Evolutionäre Prozesse entfalten sich ausschließlich in der Zeit, ihre Beschreibung ist ein hochgradig zeitgebundenes Projekt, das zum Teil sehr weit zurückliegende Phasen der Erdgeschichte zu 466 Freud, Sigmund (1917): Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse. In: Imago. Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften 5/1917–1919, 1–7, hier: 3 und 4. 467 Das gilt übrigens auch in einem gedoppelten Sinn, wenn Ernst Haeckel in seinem einflussreichen und auflagenstarken Sachbuch Die Welträthsel. Gemeinverständliche Studien über monistische Philosophie (1899) die Entwicklung der Wissenschaften hin zu einer evolutionistischen Grundüberzeugung, mithin also eine Art evolutionistischer Meta-Ezählung der Wissenschaftsgeschichte, eine Entwicklungsgeschichte der auf dem Entwicklungsgedanken aufbauenden Wissenschaften entwirft. Vgl. Grätz 2002, 247ff., die hierzu bemerkt, Haeckel schreibe »eine Wissenschaftsgeschichte als Fortschrittsgeschichte« (249).
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überspannen hat. Nicht von ungefähr ist daher auch die Evolutionstheorie, ähnlich wie schon die Archäologie, nicht ohne entsprechende vorausgehende Entwicklungen in der Geologie konzipierbar. Zu den geologischen Erkenntnissen, auf deren Basis sich Darwins evolutionstheoretisches Denken überhaupt erst formieren kann, gehört dabei vor allem die Annahme eines im Vergleich zu den bisherigen bibelbezogenen Schätzungen deutlich höheren Alters der Erde sowie die Einsicht, dass sich geologische Veränderungen der Erdoberfläche mit einer sich der direkten Wahrnehmbarkeit entziehenden Langsamkeit vollziehen. An der Verbreitung dieser beiden Positionen ist der Geologe Charles Lyell, ein enger Freund Darwins, wesentlich beteiligt. In seinen ab 1830 in drei Bänden erschienenen Principles of Geology befürwortet Lyell statt des beispielsweise von Georges Cuvier vertretenen und überwiegend als gültig anerkannten Katastrophismus ein uniformitaristisches Modell geologischer Prozesse. Nicht unvorhersehbare abrupte Ereignisse wie Vulkanausbrüche, Erdbeben oder Überflutungen seien, so Lyell, hauptsächlich verantwortlich für Veränderungen der geologischen Gestalt der Erde. Diese werde vielmehr im Rahmen einer langsamen und steten Entwicklung graduell nach auch in der Gegenwart noch beobachtbaren geologischen Mechanismen geformt. Statt in unvermittelten und gewaltsamen Sprüngen denkt Lyell, insofern er seiner Arbeit sowohl ein Prinzip der Kontinuität als auch eines der Aktualität zu Grunde legt, in bruchlosen Zeitreihen. Sie schließen geologische Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu eben jenem kontinuierlichen Ganzen aneinander, das der überzeugte Darwinanhänger Ernst Haeckel als »ununterbrochene[n] Zusammenhang der geschichtlichen Entwicklung«468 zur conditio sine qua non auch aller evolutionstheoretischen Überlegungen erklärt hat. Es ist daher möglicherweise durchaus kein nebensächlicher Umstand, dass Darwin die ersten beiden Bände der Principles of Geology während seiner folgenreichen Forschungsreise auf der HMS Beagle mitführt und studiert. Denn es ist gerade die von 1831 bis 1836 dauernde Expedition an Bord der Beagle – mit ihrem Fokus auf dem Sammeln und Klassifizieren möglichst vieler tierischer, pflanzlicher, mineralischer und fossiler Exemplare ursprünglich und eigentlich ein taxonomisches Projekt –, die Darwin nach eigener Aussage die entscheidenden Anstöße für die Entwicklung seiner evolutionstheoretischen Ideen liefert.469 Haeckel bemerkt hierzu, das Schiff habe »in treffend symbolischer Weise
468 Haeckel 101902, 116. 469 Für eine ausführliche Genese der Darwinschen Ideen vgl. Sarasin 2009, 23–55 (für Darwins zunehmend kritische Sicht auf das taxonomische Konzept der Spezies bzw. Art: 35–50). Darwin selbst verweist in der Einleitung zu On the Origin of Species (1859) auf den Gründungscharakter seiner Reise.
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den Namen ›Beagle‹ oder Spürhund«470 getragen. Darwins während der Reise gemachte Beobachtungen umkreisen dabei stets dasselbe widerständige Phänomen: die augenfällige Diskrepanz zwischen der vergangenen und der aktuellen Erscheinungsform oder auch zwischen zwei parallel existierenden Erscheinungsformen einer Art, die die gängige Vorstellung von der Konstanz der Arten, die im Übrigen auch Lyell noch engagiert vertritt, mindestens mit einem Fragezeichen versieht. Fossile Funde wie der des Riesenfaultiers, deren Verwandtschaft zu existierenden Arten zwar evident ist, die aber eben auch nicht als mit diesen identisch klassifiziert werden können, spielen hier ebenso eine Rolle wie Darwins biogeografische Beobachtungen zu verschiedenen Varietäten der gleichen Art auf den Galapagos-Inseln, die er vor allem an Spottdrosseln und den heute nach ihm benannten Darwinfinken vornimmt. Was auf Darwins fünfjähriger Reise mit der Beagle entsteht, ist die empirische Irritation eines geschlossenen epistemischen Systems in Form einer eigentlich einfachen Frage: der Frage danach, wie man von der einen Erscheinungsform einer Art zur anderen gelangt und zwar auf kontinuierlichem Weg, ohne Sprünge und Totalbrüche. Denn die Beantwortung dieser Frage ist freilich völlig unproblematisch, solange katastrophische tabula-rasa-Ereignisse im Stile einer Sintflut als Erklärungsmuster zur Verfügung stehen, solange also im Sinne des geologischen Katastrophismus abrupte Veränderungen des gesamten Artensystems jederzeit einen Neuanfang unter gänzlich anderen Vorzeichen ermöglichen. Der gesuchte Bogen muss dann schlicht nicht geschlagen werden. Nimmt man hingegen wie Lyell eine gleichförmige und stete geologische Entwicklungsbewegung an und beginnt man diese wie Darwin auch biologisch als kontinuierliche Geschichte der Arten zu denken, ist deren durchgängige Verfolgbarkeit nicht mehr nur optional, sondern unerlässlich. Weil sie die Kohärenz des Modells, seine innere Glaubwürdigkeit gefährden, werden fehlende Glieder in der Kette der Kausalitäten, werden logische Lücken, wird ein Mangel an zeitlichem Zusammenhang, wird unterbrochene Sequenzialität inakzeptabel. Wissenschaftliche Erklärbarkeit und narratologische Erzählbarkeit fallen damit ineinander: Die Frage nach dem Zusammenhang der Artentwicklung wird zur Frage nach dem Zusammenhang ihres Erzählganzen. An eben diesem Punkt setzt Darwins evolutionstheoretisches Konzept an. Es liefert genau das fehlende Stück Erzählung, das den zunächst isoliert erscheinenden Ist-Zustand des Artensystems mittels eines großen rekonstruierenden Brückenschlags mit seinem War-Zustand verbindet und ihn so im Rahmen einer als bruchlos angelegten Entwicklungserzählung zu erklären vermag. Die prinzipielle Veränderlichkeit der Arten durch den Anpassungsdruck sich wandelnder Lebensbedingungen (d.i. die natürliche Selektion) und die Notwendigkeit er470 Haeckel 101902, 117.
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folgreicher Fortpflanzung (d.i. die sexuelle Selektion) sowie die Umsetzung dieses Mechanismus in die Idee einer Abstammungslinie bilden dabei den Kern des von Darwin entworfenen Evolutionsnarrativs. Dass die Evolutionstheorie durch ihre streng zeitbezogene Organisation dem Narrativen, dem Erzählen im Allgemeinen nahesteht, dass sie darüber hinaus eine Affinität zum Mythischen, zu großen Mythologemen wie der Metamorphose oder dem Lebensbaum besitzt, dass ihren Texten auch literarische Modelle wie etwa John Miltons Paradise Lost (1667) zu Grunde liegen, dass die sprachliche Machart eben dieser Texte selbst »imaginative properties«471 aufweist und sie so auch als literarische lesbar macht, all das ist nicht neu. Bereits 1983 hat Gillian Beer mit Darwin’s Plots. Evolutionary Narrative in Darwin, George Eliot and Nineteenth-Century Fiction eine umfängliche Studie hierzu vorgelegt.472 Aufschlussreicher noch als die literarische Textur seiner wissenschaftlichen Texte ist allerdings die Beobachtung, dass das evolutionstheoretische Denken Darwinscher Prägung selbst bereits auf Mechanismen gerade auch des fiktionalen Erzählens beruht. Beer weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass Darwins Evolutionstheorie als ein Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erhebendes Modell eigentlich an zwei Defiziten leidet: (1) einem systemimmanenten Mangel an greifbaren Beweisen und (2) einem dem wissenschaftlichen Denken traditionell eher unangenehmen Schlüsselprinzip, der Kontingenz. Die notorische Beweisschwäche der Evolutionstheorie geht dabei auf ihr zentrales Agens, nämlich die Selektion, zurück. Immerhin führt die evolutionäre Zuchtwahl (wie es üblicherweise und etwas technisch-steif in der deutschen Übertragung heißt) im Ergebnis dazu, dass die Beweise, die das Wirken eines Selektionsmechanismus auf ein veränderliches Artsystem belegen könnten, auf Grund eben dieses Mechanismus größtenteils nicht mehr verfügbar, weil wegen mangelnder Anpassung ausgestorben sind – im schlechtesten Fall, ohne dabei fossile Spuren und damit wenigstens die Möglichkeit eines Belegfundes zu hinterlassen. Das sich aus diesem Sachverhalt ergebende epistemologische Dilemma ist offenkundig: Ist der von Darwin beschriebene Auswahlmechanismus funktionsfähig vorhanden, erschwert er zugleich die eigene Beweisbarkeit. Darwins Theorie reduziert sich damit selbst auf eine im Grunde nie vollständig belegbare Hypothese. Zum anderen waltet die Selektion, so betont es Darwin und so hat es auch Beer noch einmal hervorgehoben, eben nicht sinnhaft, nicht nach wiederhol- oder reproduzierbaren Mechanismen, sondern als singuläres, von seinen jeweiligen Rahmenbedingungen abhängiges, nicht zielgerichtetes und auch nicht progno471 Beer 22000, 83. 472 Vgl. im Anschluss auch Levine 2011.
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stizierbares Ereignis. Die Darwinsche Selektion ist weder metaphysische oder teleologische Bestimmung noch materialistische Mechanik, sondern Zufall, eine sich jeder naturwissenschaftlichen Berechenbarkeit entziehende Kontingenz. Folgerichtig verzichtet Darwin, wiewohl seine Argumentation in hohem Maß empirisch grundiert ist, weitgehend auf die Auswertung statistischen Materials, auf eine Mathematisierbarkeit seiner Angaben und Ergebnisse, auf eine konsistente Nomenklatur.473 Ihren inneren Zusammenhang und ihre Evidenz gewinnt Darwins Darstellung evolutionärer Prozesse nicht aus einer gesetzmäßigen Kalkulierbarkeit des Selektionsmechanismus, sondern aus »narrativ präsentierten genealogischen Reihen«474, mit anderen Worten: als Erzählung. Dieses Vorgehen ist indes nicht einfach als unvermeidliche Startschwierigkeit zu verstehen, der die Evolutionstheorie zusammen mit ihren akademischen Kinderschuhen zwischenzeitlich entwachsen wäre. Auch heute noch kommen im Rahmen der mittlerweile interdisziplinär aufgestellten evolutionsbiologischen Deszendenzforschung Modelle zur Anwendung, die ihr Erklären unverhohlen auf Basis eines Erzählens leisten. Dazu gehört beispielsweise das auf den Paläontologen Marc Norell zurückgehende Konzept der ›ghost lineage‹.475 Die Bildung einer ›ghost lineage‹ wird in der Regel dann notwendig, wenn eine Abstammungslinie über einen bestimmten Zeitraum hinweg keine fossilen Spuren hinterlassen hat, sie im Fossilbericht also nicht über ihre gesamte Länge mit Belegfunden repräsentiert ist. Die entstehenden Lücken werden mittels Hypothesenbildung geschlossen, indem sie über eine angenommene Deszendenzlinie miteinander verbunden werden. Bei der so entstehenden ›ghost lineage‹ handelt es sich also um einen nicht bewiesenen, sondern lediglich erschlossenen Abstammungszusammenhang, um eine Heuristik, die angesichts der immens langen erdgeschichtlichen Zeiträume, die das evolutionsbiologische Interesse überspannt, mitnichten Seltenheitswert besitzt.476 Wie es ihre Bezeichnung bereits andeutet stellt die ›ghost lineage‹ als gespensterhafte, als fiktive Abstammungslinie einen bewusst vorläufigen und im Kern fiktionalen Erzählzusammenhang dar, der sich im Lichte eventueller neuer Funde als faktennah oder
473 Vgl. Sarasin 2009, 133–51. 474 Ebd, 148. 475 Vgl. Norell, Mark A. (1992): Taxic Origin and Temporal Diversity. The Effect of Phylogeny. In: Novacek, Michael J. / Wheeler, Quentin D. (Hg.): Extinction and Phylogeny. New York, 89–118. 476 Dabei ist es genau dieses auf maximale Ausdehnung angelegte Zeitfenster, das die Vorstellung eines sich über Jahrmillionen erstreckenden evolutionären Prozesses auf der einen Seite überhaupt erst ermöglicht, während es auf der anderen Seite die vollständige Beweisbarkeit dieses Prozesses aber zugleich auch verhindert. Es ist damit, ähnlich wie auch schon der Selektionsmechanismus, Voraussetzung wie Crux des evolutionstheoretischen Denkens.
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faktenfern erweisen kann oder aber ohne entsprechende Nachweise auf unbestimmte Zeit im erkenntnistheoretischen Limbo der Heuristik verbleibt. Gerade bei den frühen Vertretern der Evolutionstheorie ist freilich eine Tendenz erkennbar, solche auf ein Erzählen hinauslaufenden, solche narrativ geprägten Theorieanteile, wohl im Bemühen um die wissenschaftliche wie öffentliche Anerkennung ihrer Überlegungen, möglichst unscheinbar zu halten. Ernst Haeckels 1868 in zwei Bänden veröffentlichte Schrift Natürliche SchöpfungsGeschichte. Gemeinverständliche wissenschaftliche Vorträge über die Entwickelungs-Lehre ist hierfür ein instruktives Beispiel. Haeckels populärwissenschaftlichen Zwecken dienende Darstellung beruht dort, wo sie sich mit der Entstehung der Evolutionstheorie Darwinscher Prägung auseinandersetzt, auf dem bereits aus dem Titel ablesbaren Gegensatz von ›Schöpfungs-Geschichten‹ und ›Entwickelungs-Theorien‹. Unter erstere fasst Haeckel die teleologischen und vitalistischen Entwickungsvorstellungen der Naturgeschichte, zu letzteren zählt er die mit biologischen Kausalmechanismen operierenden Entwicklungskonzepte im unmittelbaren Vor- und Umfeld Darwins sowie natürlich Darwins Evolutionsmodell selbst. Ob die Opposition zwischen Naturgeschichte und Biologie, Teleologie und Kausalität, Konstruktion und Rekonstruktion, Geschichte und Theorie, Erzählen und Erklären dabei tatsächlich als so deutlich gelten kann, wie Haeckel sie zeichnet, ist – nicht nur im Lichte der voranstehenden Beobachtungen zur Narrativität der Evolutionstheorie – durchaus fraglich. Denn zwar schreibt Haeckel Darwin das große wissenschaftliche Verdienst zu, im Gegensatz zu seinen direkten Vorläufern wie Lamarck oder Goethe nicht nur wahrheitsfähige Hypothesen zur Entwicklung und Abstammung der Lebewesen formuliert zu haben, sondern zugleich auch den »Nachweis dieser Ursachen«477 erbracht zu haben. Dieser Nachweis aber, und hier vollzieht die Argumentation des Textes eine Art dekonstruktive Wende, erfolgt laut Haeckel durch die »umfassende Verbindung einer Menge bisher vereinzelt dagestandener Erscheinungen« zum Mechanismus der Selektion als »causale[m] Fundament«478 eben dieser Erscheinungen. Darwins wissenschaftliche Leistung besteht also nicht im Aufspüren grundsätzlich neuer, bisher unentdeckter oder unbeachteter Belege, sondern im Herstellen eines kausallogischen Zusammenhangs, in der Kohärenzbildung. Anders formuliert steht die Etablierung funktionierender Erzählstrukturen im Vordergrund, das Überführen des bereits vorhandenen Materials in ein überzeugendes Erzählganzes. Auch wenn Haeckel also den Begriff der Geschichte bewusst und mit einer beinahe peniblen Verwendungspraxis für ein überwunden geglaubtes und dem wissenschaftlichen Fortschritt zum Opfer ge477 Haeckel 101902, 26. 478 Ebd, 27 und 116.
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fallenes Entwicklungsmodell reservieren möchte, legt seine eigene Darstellung unbeabsichtigt doch auch den prinzipiellen Erzählcharakter des evolutionstheoretischen Denkens offen. Das Narrative, das Literarische der Darwinschen Texte wie auch des evolutionären Denkens an sich, wie es unter anderem Gillian Beer herausgearbeitet hat, ist dabei nur eine Seite der Beziehungsmedaille zwischen Literatur und evolutionstheoretischer Wissenschaft. In direktem ergänzenden Anschluss an Beer hat beispielsweise George Levine die Auseinandersetzung viktorianischer Schriftsteller mit Darwinschen Konzepten untersucht, wobei Levine diese Einflussnahme bei weitem nicht für einwegig hält.479 Dieses Zusammenspiel von wissenschaftlicher und literarischer Bearbeitung bezieht sich auf evolutionstheoretische Grundannahmen wie Zufall und Kontinuität, die Absage an die Teleologie, Überbevölkerung und Varietät (›abundance‹), Hybridbildung (›blurring of boundaries‹) oder Wandel und Historizität, die Levine jeweils auch als Bauformen literarischer Texte des 19. Jahrhunderts von Charles Dickens bis Joseph Conrad herausarbeitet. Dass die Detektiverzählung im Rahmen dieser Überlegungen als Gattung meist keine Rolle spielt, ist ein nicht nur auf Levines Arbeit beschränkter Befund.480 Dabei sind die Verbindungslinien augenscheinlich. Zum einen nämlich basiert das evolutionstheoretische Denken, darin die (wörtliche oder übertragene) Leiche als auslösendes Moment des detektivischen Erzählens spiegelnd, auf einer systematischen Einbeziehung des Todes in die Wissenschaft vom Leben. Der für den evolutionären Prozess zentrale Mechanismus der Selektion (›struggle for existence‹) belohnt zwar den besser angepassten Organismus mit der Weitergabe seines Erbmaterials durch Fortpflanzung, also mit dem generationenüberschreitenden Überleben (›survival of the fittest‹481). Er bedingt aber eben auch das in letzter Konsequenz letale Scheitern des schlechter angepassten Konkurrenten, sein Aussterben (›extinction‹). Selektion und Artentod sind auf diese Weisen zwei evolutionstheoretisch untrennbar miteinander verbundene Prozesse. Sie bilden eine Vorstellung von Entwicklung, die im wörtlichen Sinne ›über Leichen geht‹, für die das Fossil, das Rudiment482 zentraler Erkenntnisgegenstand ist. 479 Vgl. Levine 1988. 480 Für eine wichtige Ausnahme vgl. Frank 1989 und 2003. 481 Die Wendung stammt nicht von Darwin selbst. In direktem Bezug auf Darwins Evolutionstheorie geprägt hat sie der Philosoph Herbert Spencer 1864 im zweiten Band (The Principles of Biology Vol.1) seiner insgesamt zwölfbändigen Reihe A System of Synthetic Philosophy. 482 Der Begriff ›Rudiment‹ meint hier selbstverständlich nicht nur ein, so die allgemeine Wortbedeutung, unspezifisches Überbleibsel, sondern im Sinne seines evolutionsbiologi-
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Zum anderen ist die Evolutionstheorie zweifelsohne aitiologisch ausgerichtet. Das betrifft beispielsweise ihr bereits beschriebenes Selektionsnarrativ: Um einen zunächst erratisch erscheinenden aktuellen Zustand (das Abweichen bestehender Arten von entsprechenden fossilen Funden) in einen funktionierenden epistemischen Zusammenhang einzubetten, geht die Evolutionstheorie an dessen Ursprung zurück (das von den Fossilien nahegelegte Artensystem) und entwirft von dort aus eine kontinuierliche Brückenerzählung (den Mechanismus der Selektion), die wieder in den ihr als Ausgangspunkt dienenden Ist-Zustand mündet und diesen damit im Rahmen ihres narrativen Anschlussverfahrens zugleich erklärend auflöst. Die Nähe dieses Vorgehens zum seinen eigenen Erzählanfang einholenden detektivischen Narrativ ist unverkennbar. Noch deutlicher sichtbar wird das aitiologische Grundinteresse der Evolutionstheorie vielleicht in ihrer (bis heute in dieser Form stattfindenden) Auseinandersetzung mit Deszendenzzusammenhängen. Denn auch bei der Rekonstruktion vollständiger Artabstammungslinien und bei deren mono- oder polyphyletischer Rückführung auf eine oder mehrere Urarten steht eine sich in der Zeit rückwärts bewegende Suche nach den Anfängen im Zentrum des wissenschaftlichen Bemühens. Interessant ist dabei übrigens, dass die der Abstammungsforschung zu Grunde liegenden fossilen Funde natürlich über stratigrafisches Arbeiten gewonnen, datiert und ausgewertet werden. Der evolutionsbiologische Fossilbericht entspricht damit methodisch der archäologischen Grabungsdokumentation – und beider Vorgehen wiederum dem für die Detektiverzählung charakteristischen Erzählen in die zeitliche Tiefe. Dass Ernst Haeckel überwiegend den Begriff ›Entwickelungs-Lehre‹ für die Darwinsche Theorie verwendet, erhält vor diesem Hintergrund ebenfalls eine zusätzliche Deutungsnuance. Vordergründig markiert der Begriff den Übergang von einem statischen zu einem prozessualen Konzept der Genese von Lebewesen, indem er das ursprünglich aus dem Präformismus stammende Modell des ›emboîtement‹, der auf spätere Entfaltung angelegten Einschachtelung des Gesamtorganismus, begrifflich aktuell hält und dabei doch in der Sache einen dynamischen Vorgang beschreibt. Gleichzeitig ist die Ent-Wickelung aber auch, zumal und besonders deutlich in der von Haeckel verwendeten Schreibweise, eine an das Entwirren eines Knäuels angelehnte Textilmetapher.483 Als solche öffnet sie die evolutionstheoretische Argumentation für das Erzählmuster der schen Gebrauchs vor allem auch ein rückgebildetes bzw. funktionslos gewordenes Organ (Blinddarm, Weisheitszähne, Steißbein) oder Verhalten (Greifreflex), das gemeinhin als Evolutionsbeleg gilt. 483 Vgl. zur Etymologie von ›entwickeln‹ etwa das gleichnamige Lemma in Kluge. Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache (242002, 249) oder etwas ausführlicher den entsprechenden Eintrag im von Wolfgang Pfeifer verantworteten Etymologischen Wörterbuch des Deutschen (21993, 289).
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Detektiverzählung, das ja ebenfalls an textile Auflösungskontexte wie etwa das Zurückverfolgen des Ariadnefadens anschließbar ist. Auch Darwin selbst verwendet übrigens den Terminus ›evolution‹ in seinen Texten nur selten und bevorzugt stattdessen, so etwa in der berühmten Formel vom ›descent with modification‹, den Begriff der Abstammung.484 Obwohl der Grund hierfür wahrscheinlich in der Mitte des 19. Jahrhunderts noch immer präsenten Besetzung des Begriffs Evolution mit einem entgegengesetzten, nämlich präformistischen Inhalt besteht, hebt Darwins Entscheidung gegen den Evolutions- und für den Deszendenzbegriff doch auch die retrograde Orientierung seiner Argumentation hervor. Die so entstehende terminologische Sichtachse lenkt den Blick weniger, wie es die mit dem Evolutionsbegriff verbundene Progressionsvorstellung nahelegen würde, nach vorn als im Sinne des Abstammungsgedankens zurück. Darauf verweist auch die schon ihrem Titel nach ursächliche Ausrichtung der Darwinschen Schriften. Sowohl On the Origin of Species als auch The Descent of Man, um die zwei bekanntesten und einflussreichsten zu nennen, weisen sich unmittelbar als Texte aus, in denen das Einholen und Auseinandersetzen der Anfänge (›origin‹, ›descent‹) wesentliches Anliegen der vorgestellten Untersuchung ist. George Levine hat in diesem Zusammenhang von Darwins Evolutionstheorie auch als »his great myth of origins«485 gesprochen, Gillian Beer nennt sie »a backward story told laterally«486 und auch Philipp Sarasin begreift Darwin (in »eine[r] Art Wahlverwandtschaft«487 zu Foucault) als genealogischen Denker über die »Herkunft der Dinge«, der die »dunkeln Pfade des geschichtlichen Herkommens«488 erforscht habe. Ob man Darwin die Einlösung dieses aitiologischen Anspruchs auch tatsächlich zugestehen mag, ist dabei im Grunde eine semantische Frage, deren Beantwortung entscheidend vom zentralen Begriff des ›origin‹ abhängt. Versteht man diesen nämlich prozessual als ›Entstehung‹, legt Darwin mit seiner Darstellung des evolutionären Selektionsmechanismus durchaus ein zweckentsprechendes aitiologisches Narrativ vor. Begreift man ›origin‹ hingegen als ›Ursprung‹, muss man Darwin eine mindestens unzulängliche Umsetzung, wenn nicht gar ein Scheitern attestieren. Denn so wie der beständig umkreiste Art- bzw. Speziesbegriff für Darwin letztlich leere Ab484 Vgl. Lefèvre 1984, 259ff. Im Sinne der heutigen terminologischen Praxis soll aber weiterhin und auch in Bezug auf Darwins Thesen von ›Evolutionstheorie‹ die Rede sein, zumal auch Darwins On the Origin of Species (1859), wiewohl der Terminus ›evolution‹ hier nicht auftaucht, doch mit dem entsprechenden Verb schließt: »There is grandeur in this view of life, with its several powers, having been originally breathed by the Creator into a few forms or into one; and that […] from so simple a beginning endless forms most beautiful and most wonderful have been, and are being, evolved« (Darwin 2008, 360). 485 Levine 1988, 4. 486 Beer 22000, xix. 487 Sarasin 2009, 76. 488 Beide: Ebd, 9.
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straktion, eine nominalistische Notwendigkeit bleibt, spart er eben auch den Artursprung kategorisch aus, deutet ihn als Fluchtpunkt seiner Überlegungen lediglich an. Ob aber gelingend oder nicht: Ziel dieser Bewegung auf den Ursprung, auf den Anfang hin ist die vollständige und kontinuierliche Erzählbarkeit eines Selektions- oder Abstammungszusammenhangs, über dessen Lücken, siehe das Konzept der ›ghost lineage‹, im Zweifel hinwegerzählt werden muss. Auch die Detektiverzählung, der ja eine nicht nur vergleichbare, sondern beinahe identische Erzählbewegung zu Grunde liegt, inszeniert gewissermaßen die Suche nach solchen ›missing links‹, nach den fehlenden Verbindungsgliedern der ihren eigenen Erzählanfang (›origin‹) bildenden Verbrechenserzählung. Dabei sind auch direkte terminologische Anleihen keine Seltenheit. Bereits bei Wilkie Collins (The Law and the Lady, 1875) tauchen das Motiv und der Begriff des ›missing link‹ in entsprechender Bedeutung auf 489, in Anna Katherine Greens The Leavenworth Case. A Lawyer’s Story (1878) sogar gleich mehrfach490; in The Sign of Four (1890) lässt Arthur Conan Doyle seinen Detektiv behaupten: »I only require a few more missing links to have an entirely connected case«491. Die mühelose Migration der Denkfigur des ›missing link‹ zwischen wissenschaftlicher Disziplin und literarischer Gattung macht es noch einmal deutlich: Die evolutionstheoretische Suche nach einer in fossilen Fragmenten vorliegenden Erzählung vom Anfang der Arten entspricht dem aitiologischen Narrativ der Detektiverzählung.
2.3.3 (Bakteriologische) Medizin Wie viele andere Disziplinen erlebt auch die Medizin an der Wende vom 18. ins 19. Jahrhundert einen epistemischen Umbruch, der im Kern mit einer Professionalisierung und Verwissenschaftlichung des Faches verbunden ist. Die Etablierung einer klinischen Anatomie, die in Obduktionen systematisch Organläsionen mit Krankheitsbildern verknüpft, statistische Forschungen und die standardisierte körperliche Untersuchung von Patienten mit neuen Mitteln und Methoden der Diagnostik wie dem Stethoskop gehören zu den Kennzeichen dieser auf modernen, wissenschaftlichen Prinzipien basierenden Medizin, wie sie sich ab 1794 im nachrevolutionären Frankreich unter der Leitung von Persön489 Collins 2008, 171. 490 So etwa: Green 1981, 198. Übrigens lässt sich Greens Roman, insofern er zeitlich in der kanonischen Lücke zwischen Edgar Allan Poe und Arthur Conan Doyle angesiedelt ist, selbst als eine Art ›missing link‹ der Gattungsgeschichte verstehen, der darüber hinaus auch in eine nachgetragene Genealogie weiblicher Verfasser detektivischer Texte gehört. 491 Doyle 2009, 109.
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lichkeiten wie Philippe Pinel und Marie François Bichat in Paris zu entwickeln beginnt.492 Ihr wichtigster Schauplatz ist die Klinik als neu entstehender Mittelpunkt medizinischer Praxis, Forschung und Ausbildung. Der Weg der Medizin in die Klinik, so hat es der Medizinhistoriker Erwin Heinz Ackerknecht dargestellt, beginnt in der Bibliothek des Mittelalters (›library medicine‹) und setzt sich ab der Neuzeit am Krankenbett (›bedside medicine‹) fort.493 Ihr Ende findet Ackerknechts idealisierte Entwicklungslinie im Labor, das ab der Mitte des 19. Jahrhunderts in zunehmende Konkurrenz zur Klinik als Zentrum medizinischer (Grundlagen-)Forschung tritt: Die klinischanatomische Medizin (›hospital medicine‹, ›médécin clinique‹) wird zur Labormedizin (›laboratory medicine‹). Dabei ist der Schritt ins Labor mit einer grundsätzlichen Verlagerung des Gegenstandes medizinischer Forschungsarbeit verbunden. Nicht mehr der individuelle Kranke, sondern die abstrakte Krankheit stehen im Zentrum des Interesses, die Arbeit am Patienten wird ersetzt durch die Arbeit an der Probe, die Arbeit am menschlichen Körper durch die Arbeit am Mikroskop, am technischen Gerät. Zentrale Figuren dieser nicht ausschließlich, aber vor allem in Deutschland stattfindenden Entwicklung sind unter anderem Joseph Lister, Louis Pasteur, Ferdinand Cohn, Paul Ehrlich und Robert Koch. Sie alle sind zugleich aufs Engste mit der sich zur selben Zeit formierenden medizinischen Bakteriologie verbunden. Die Bakteriologie bewegt sich, insofern sie Kleinstorganismen mit pathogener Wirkung untersucht, an der disziplinären Schnittstelle von (Mikro-)Biologie und Medizin und wird entsprechend von Vertretern beider Fachrichtungen betrieben. Dabei ist es insbesondere der Mediziner Robert Koch, der mit der Entdeckung und Beschreibung des Milzbranderregers 1876 und der des Tuberkelbazillus 1882 auch die öffentliche Wahrnehmung der Bakteriologie im 19. Jahrhundert entscheidend prägt. Als »geradezu theorieabstinenter Autor«494 initiiert Koch mit einem mehr praktischen als theoretischen Gegenstandsbezug in der Labormedizin das, was Christoph Gradmann den »bakteriologischen Denkstil«495 genannt hat. Die bakteriologischen Forschungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts sind dabei Ergebnis wie auch Anstoß entscheidender Verschiebungen im Krankheitskonzept der Medizin.
492 Zur ›Paris School‹ vgl. Foucault 2008 (zuerst: 1963), Ackerknecht 1967, Hannaway / La Berge 1998 (mit einem kritischen Überblick zum Forschungsstand und zur Konstruktion der Pariser Schule im 19. und 20. Jahrhundert) sowie Sauter / Weiner 2003. Für die Zusammenstellung der genannten Kriterien vgl. Hannaway / La Berge 1998, 4 (»Paris Medicine. Perspectives Past and Present«). 493 Vgl. Ackerknecht 1967. 494 Gradmann 2005, 10. 495 Ebd, 11.
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Bis in das 18. Jahrhundert hinein stehen medizinische Praxis und Forschung weitgehend auf dem Fundament eines Krankheitsmodells, das Krankheit als Symptomtableau, als einen »Raum der Koinzidenzen ohne zeitlichen Ablauf«496 begreift. Diese im Rückblick als vorklinisch zu bezeichnende Medizin arbeitet nach den Vorgaben einer Krankheitssystematik, deren zentrales Ordnungskriterium die Häufung, nicht aber die Abfolge bestimmter Symptome ist. Zudem beruht sie auf einer invasiven, auf einer parasitären Vorstellung von Krankheit. Dabei befällt die Krankheit den Menschen von außen, sie dringt als körperfremde Entität, beispielsweise in Form eines Miasmas, in ihn ein. Um eine Heilung zu erzielen, muss die Krankheit entsprechend wieder ausgetrieben werden. Selbst die immens wirkmächtige Humoralpathologie, die mit dem Ungleichgewicht der Körpersäfte eigentlich ein körpereigenes Krankheitsgeschehen zu Grunde legt, bleibt dieser Vorstellung verbunden. Denn auch hier ist der Körper lediglich Gefäß, lediglich Schauplatz der Krankheit, von der er durch das Ausleiten schädlicher oder überflüssiger Säfte befreit werden kann. Direkt am Krankheitsgeschehen beteiligt, etwa in Form je typischer Versehrungen, ist der Körper auch in der Säftelehre nicht. Im Verlauf des 18. Jahrhunderts, vor allem aber im 19. Jahrhundert beginnt sich aus dieser statischen Vorstellung der Krankheit im Körper das prozessuale Modell einer Krankheit des Körpers zu entwickeln. Insbesondere zwei Verschiebungen sind hier von Bedeutung. Zum einen verlagert sich das gesamte Krankheitsgeschehen von außen nach innen: Krankheit wird nicht mehr als exogener Fremdkörper, sondern als endogenes Phänomen, als pathologisches Leben des Körpers konzipiert. Zum anderen manifestiert sie sich nicht mehr als chronologisch undifferenziertes Symptomcluster, sondern als »eine sich in der Zeit entwickelnde Veränderung der Lebensfunktionen«497, als pathologischer Prozess. Ludwik Fleck, selbst Bakteriologe, berücksichtigt diese Zeitgebundenheit des klinischen Krankheitskonzepts in seinem kurzen Artikel Über einige spezifische Merkmale des ärztlichen Denkens von 1927 ausdrücklich: »Soweit jedoch in der Medizin eine das Ganze umfassende Idee […] unmöglich ist, tritt trotzdem immer deutlicher als dominierender Standpunkt eine gewisse methodische Idee hervor, ein gewisser leitender Gedanke, ärztliche Phänomene zu fassen. Das ist eine spezifisch temporäre und dynamische Fassung der Krankheitsphänomene. Der Gegenstand ärztlichen Denkens, die Krankheit, ist kein dauerhafter Zustand, sondern ein sich unablässig verändernder Prozeß, der seine eigene zeitliche Genese, seinen Verlauf und Hingang hat. Diese wissenschaftliche Fiktion, dieses Individuum, geschaffen durch Abstraktion, gestützt auf Statistik und Intuition, das Individuum genannt Krankheit, das bei statistischer Auffassung rundweg irrational ist, unfaßbar und sich nicht ein496 Foucault 2008, 22. Vgl. für die nachstehend geschilderte Entwicklung auch Gradmann 2005, 124ff. 497 Fleck 2011, 47.
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deutig definieren läßt, wird erst in temporärer Fassung zur konkreten Einheit. Niemals ein status praesens, sondern erst die historia morbi schafft die Krankheitseinheit. […] Diese Historizität, die Zeitlichkeit des Krankheitsbegriffs, ist einzig in ihrer Art.«498
Dass das klinische Bild einer Krankheit in der für sie spezifischen Symptomchronologie besteht, markiert zugleich auch den Übergang von einem klassifizierenden hin zu einem narrativen Krankheitsverständnis. Insofern sie, wie es Fleck formuliert, »erst in temporärer Fassung zur konkreten Einheit« wird, insofern sie sich also erst und ausschließlich in ihrem Verlauf als identifizierbare Entität zu erkennen gibt, beruht die Krankheit, wie sie sich im 19. Jahrhundert als konzeptuelle Basis medizinischen Arbeitens herausbildet, wesentlich auf ihrer Narratibilität. Damit stellt nicht mehr das (Ein-)Ordnen die grundlegende Operation bei der Beschreibung und Erfassung einer Krankheit dar, sondern das Erzählen.499 In praktischer Konsequenz bedeutet das, dass die tabellarische, quantifizierbar-statistische Form der Registrierung von Patientendaten, wie sie etwa seit der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts vorgenommen wird, im klinischen Alltag weitgehend durch die medizinische Fallgeschichte ersetzt wird.500 Die Besonderheit dieser ärztlichen Fallschilderungen besteht darin, dass sie, wiewohl es sich formal jeweils um Einzelfall-Narrative handelt, dennoch epistemischen Wert für die generelle Erfassung des betreffenden Krankheitsbildes besitzen. Sie bieten eben nicht in erster Linie eine Krankengeschichte, sondern vielmehr eine Krankheitsgeschichte. In ihnen wird der individuelle Kranke zum exemplarischen Fall. Noch vor der Etablierung einer vom direkten Patientenkontakt gelösten Labormedizin bedingt auch schon bereits die klinische Fallerzählung das zumindest teilweise Verschwinden des Patienten aus dem mitunter als Kampf stilisierten Verhältnis zwischen Arzt und Krankheit. Wichtige Impulse erhält die klinische Medizin des frühen 19. Jahrhunderts aus der neu entstehenden Disziplin der Pathologie. Unter ihrem Einfluss wird die Chronologie der sich am erkrankten Körper zeigenden Symptome mit einer Topologie der Läsionen im Körper, seit Rudolf Virchows zellularpathologischen Arbeiten in den 1850er Jahren genauer: an der Zelle, verknüpft. Es ist genau diese systematische Verbindung von Symptom und Läsion, von Wirkung und Ursache, die eine pathogenetische, eine auf die Entstehung und Entwicklung krankhafter Zustände ausgerichtete Neuakzentuierung des klinischen Krankheitskonzepts bedingt. Krankheit rückt nicht mehr nur als ein sich in der Zeit entfaltendes Symptomgeschehen in den Blick, sondern vor allem auch als Kausalzusam498 Ebd (meine Hervorhebungen). 499 Vgl. Wübben 2009, 390ff. 500 Epstein 1995, 27–55 (»Story, History, and Diagnosis«). Epstein verbindet ihre Darstellung der historischen Entwicklung der medizinischen Fallgeschichte und deren narratologische Untersuchung dabei auch mit entsprechenden Entwicklungen in der Historiografie, namentlich dem Übergang von der annalistischen zur erzählenden Form.
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menhang. Zunehmend relevant werden bei der Beschreibung einer Krankheit damit die äußeren Umstände, unter denen sie entsteht, sowie zunehmend und insbesondere ihre Ursachen. Das kausal-ursächliche Denken, die an der Suche nach Kausalketten, nach Ursache-Wirkungs-Verhältnissen orientierte Grundierung ihres Forschens und Arbeitens, nimmt in der Medizin des 19. Jahrhunderts eine zentrale Stellung ein.501 Dabei beginnt sich das Kausalverständnis der Medizin, so hat es Thomas Schlich herausgearbeitet, in den beiden letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts dergestalt zu verändern, dass das Konzept einer notwendigen Krankheitsursache, eines isolierbaren und unumgehbaren Punktes in der Entstehung einer Krankheit verstärkt an Bedeutung gewinnt.502 Es ersetzt eine an der klinischen Symptomatik und am pathologischen Befund ausgerichtete Definition von Krankheit und wird damit auch zum Kern der medizinischen Diagnostik. Um eine Erkrankung richtig erkennen und, in einem zweiten Schritt, therapieren zu können, ist nicht mehr ihr klinisches Bild entscheidend, sondern der Nachweis ihrer Ursache. Es ist genau dieses ätiologische Modell einer auf den Körper einwirkenden und an ihm nachvollziehbaren Krankheitsursache, auf dessen Basis auch die Bakteriologie arbeitet. Dabei handelt es sich bei der bakteriologischen Jagd auf den Krankheitserreger nur scheinbar um die Wiederbelebung eines bereits überwundenen, parasitären Krankheitskonzepts. Denn was von außen in den Körper gelangt, ist eben nicht mehr wie im vorklinischen Denken die Krankheit selbst, die sich ja erst als eine spezifische Abfolge organischer Läsionen, als ein sich in Symptomen äußernder pathologischer Prozess im und am Körper entfaltet, sondern lediglich deren Auslöser, beispielsweise in Form eines Traumas oder eben eines Erregers. Eine gewisse konzeptionelle Verwandtschaft der beiden Modelle ist indes nicht zu leugnen, ein Umschlagen des bakteriologischen Krankheitskonzepts in ein rein invasives Modell damit bei weitem nicht ausgeschlossen. Entsprechendes hat Christoph Gradmann mit Blick auf die folgenreiche Migration bakteriologischer Motive in die politische Rhetorik – die Diffamierung des politischen Gegners als bedingungslos zu bekämpfender Krankheitserreger, als Parasit am Volkskörper – beispielsweise für Robert Koch und dessen »bakteriologischen Reduktionismus«503 gezeigt. Thomas Schlich hat auch darauf hingewiesen, dass es sich bei der Orientierung der Medizin an diesem bis heute gültigen Verbundkonzept aus notwendiger Krankheitsursache und der Kausalbeziehung zwischen (Infektions-)Krankheit und Erreger, obwohl der Zusammenhang naheliegend ist, nicht allein um eine 501 Vgl. hierzu Foucault 1973, 191 und ausführlich den Sammelband von Gradmann / Schlich 2 2004. 502 Vgl. Schlich 22004. 503 Gradmann 2005, 124–70, hier: 164f.
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Begleiterscheinung bakteriologischer Forschungserfolge handelt. Die Bakteriologie sei vielmehr selbst lediglich ein »Ausschnitt des gesamten Umorientierungsprozesses der damaligen Medizin«504. Sie begünstigt die Verschiebung eines am Symptomverlauf ausgerichteten Krankheitsverständnisses hin zu einem kausal-ätiologischen, basiert zugleich aber auch selbst erst auf dieser Entwicklung. Es liegt hier insgesamt freilich keine einfache lineare Ablösungsbewegung, sondern ein vielschichtiger und facettenreicher Aushandlungsprozess vor, der das gesamte 19. Jahrhundert andauert.505 Als mit therapeutischen Konsequenzen verbundenes Krankheitskonzept ist die vorklinische Humoralpathologie beispielsweise bis weit in das 19. Jahrhundert hinein valent, bevor sie von Virchows Zellularpathologie abgelöst wird. Und auch die Miasmentheorie steht in Form einer Theorie der schädlichen Umwelteinflüsse praktisch noch bis zum Ende des Jahrhunderts in ernstzunehmender Konkurrenz zu bakteriologischen Erklärungsansätzen zur Entstehung epidemischer Krankheiten. Eine der eindrücklichsten Episoden dieser zum Teil erbittert ausgetragenen Rivalität findet noch 1892 statt, als der Chemiker und Epidemiologe Max von Pettenkofer, um Robert Kochs Thesen zur Entstehung der Cholera als falsch zu entlarven, öffentlich ein Glas von Koch kultivierter Cholerabakterien zu sich nimmt.506 Festzuhalten bleibt trotz aller Kontroversen im Ergebnis allerdings, dass die Ätiologie in der Bedeutung einer notwendigen Krankheitsursache »zu einem Zentralbegriff der Medizin im ausgehenden 19. Jahrhundert«507 wird. Nicht nur die Bakteriologie macht ihn in durchaus rigoroser Auslegung zu ihrer Grundlage, etwa wenn Robert Koch in seinen Untersuchungen über die Ätiologie der Wundinfektionskrankheiten von 1878 fordert, man brauche für einen gültigen Erregernachweis »zwingende Gewißheit darüber, daß dieser oder jener bestimmte und unter veränderten Verhältnissen an gewissen Kennzeichen immer wieder zu erkennende Mikrokokkus die einzige Ursache der gegebenen Krankheit ist«508. Auch Sigmund Freuds einige Jahre später veröffentlichte psychoanalytische Thesen zur Entstehung der Hysterie und der Neurosen insgesamt beruhen ausdrücklich auf dem ätiologischen Paradigma der notwendigen Krankheitsursache. In Die Sexualität in der Ätiologie der Neurosen (1898) nimmt beispielsweise eine nicht abgeführte oder übermäßig vorhandene Sexualenergie 504 Schlich 22004, 5. 505 Für eine entsprechende Darstellung dieses Prozesses vgl. noch einmal Gradmann 2005, insbesondere: 31–103. 506 Für das – im Übrigen glücklich ausgegangene – Eigenexperiment Max von Pettenkofers vgl. Breyer, Harald (1980): Max von Pettenkofer. Arzt im Vorfeld der Krankheit. Leipzig, 207f. sowie Wieninger, Karl (1987); Max von Pettenkofer. Das Leben eines Wohltäters. München, 176ff. 507 Gradmann 2005, 126. 508 Koch 1912, 75 (meine Hervorhebungen).
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den Platz des ›Erregers‹ ein. Freud geht dabei sogar so weit, in Analogie zum bakteriologischen Erregernachweis den Nachweis eines sexuellen Ursächlichkeitsverhältnisses zum notwendigen, wenn auch nicht immer hinreichenden Kriterium für das Vorliegen einer Neurose zu machen. Neurotiker werden im Sinne einer solchen Ätiologie zu »Sexualitätskrüppeln«509. Dass die Medizin in einem durchaus konstitutiven Verhältnis zu narrativen Verfahren und Formen steht, ist bereits mit Blick auf ihr sich im 19. Jahrhundert entwickelndes verlaufsorientiertes Krankheitsverständnis und die medizinische Fallgeschichte kurz zur Sprache gekommen. Auch ohne eine solche Bindung an spezifische und veränderliche epistemische Grundlagen gerät das Erzählen aber bereits von ganz allein in den medizinischen Diskurs. Das ergibt sich daraus, dass es sich in der medizinischen Praxis im Kern stets um ein kommunikatives Handeln zwischen Patient und Arzt oder auch zwischen mehreren Ärzten handelt. Das Umsetzen der initialen Beschwerde-Erzählung des Patienten in angemessene therapeutische Maßnahmen, das Erstellen einer »medical version of the patient’s story«510 bildet dabei den diskursiven Basisprozess, um den herum sich vor allem im (modernen) klinischen Alltag weitere narrative Kleinformen wie die Patientenvorstellung, das Konsil oder der Entlassbrief gruppieren.511 Die beschriebenen Entwicklungen, die die Medizin im 19. Jahrhundert durchläuft, verändern diese narrative Grundkonstellation nicht grundsätzlich, ergänzen und erweitern sie aber beträchtlich. Zur Krankheitserzählung des Patienten, zur subjektiven Schilderung der Symptome in der Anamnese tritt dabei zunächst die im Rahmen einer körperlichen Untersuchung gewonnene Narration der objektiv erkennbaren Krankheitszeichen, später dann die der Laborergebnisse, der Befunde. Es sind dies freilich Narrationen, die von der Patientenerzählung in einem entscheidenden Punkt abweichen: Sie liegen eben nicht in tatsächlicher (mündlicher oder schriftlicher) Erzählform vor. Sie sind keine Erzählungen im Sinne eines diskursiven Ereignisses, sondern Ergebnis und Ausdruck einer 509 Freud 2006a, 98. 510 Hunter 1991, 24. 511 Vgl. Hunter 1991, die sich ausführlich den Formen (u. a. Anekdote, Fallgeschichte, ›syndrome letter‹) und Praktiken (die den Klinikalltag organisierenden »storytelling events« (5) wie ›morning report‹ oder ›professor’s rounds‹) dieser vielgestaltigen medizinischen Narrative widmet. Im Übrigen wendet Hunter ihre Erkenntnisse über das in unterschiedlichen Erzählungen vorliegende medizinische Wissen verhaltensethisch, insofern eine Neubewertung des Verhältnisses von Patienten-, Diagnose- und Heilungserzählung den Blick auf wichtige Inkongruenzen richten könne. So läge das Ende seiner Krankheitserzählung für den Patienten eben nicht wie für den Arzt in der angemessenen Diagnose, sondern in der Heilung. Hier müsse ein neuartiges Verhältnis von Arzt und Patient ansetzen, das einer Reifizierung des Patienten durch eine als System operierende Medizin entgegenwirken könne.
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spezifischen epistemischen Grundhaltung, die das medizinische Denken, Wissen und Handeln strukturiert: das Konzipieren ihres Gegenstandes als eines grundsätzlich narrativen Phänomens, das sich in seiner Gesamtheit, in Entstehung, Verlauf, Symptomatik, Pathologie und Therapie, als Kausalnexus und damit im Modus der Erzählung entfaltet – und auch als und in Form einer solchen kommuniziert wird. Ärzte in diesem Sinn als »story-teller«512 zu apostrophieren, wie Julia Epstein das beispielsweise getan hat, ist daher durchaus nicht abwegig. Noch einen Schritt weiter geht Epstein, wenn sie den Arzt mit dem Historiker ineinanderdenkt, ihn als Chronisten körperlicher Ereignisse versteht, dessen Ziel die Differentialdiagnose als umfassende Interpretation dieser Ereignisse in Form einer konsistenten und kohärenten Krankheitserzählung ist. Die ärztliche Diagnose ist damit nicht einfach das Konstatieren eines pathogenetischen Sachverhaltes. Als aus den Erzählungen des Patienten, der Symptome, der Körperzeichen und der Befunde kompilierte und diese Einzelnarrative zugleich sinnstiftend integrierende medizinische Meta-Erzählung ist sie selbst stets als in explizierender Verlaufsform vorliegend, eben narrativ zu denken. Es entbehrt angesichts dieser evidenten Häufung narrativer Momente nicht einer gewissen Hintergründigkeit, dass sich der diagnostische Prozess der Medizin seit Virchows Zellularpathologie ab Mitte des 19. Jahrhunderts gerade am Gewebe, am ›textum‹ des menschlichen Körpers vollzieht. Vor allem für die Bakteriologie ist darüber hinaus auch der Einfluss spezifisch literarischer Verfahren auf das medizinische Denken und Erzählen kenntlich gemacht worden.513 Das betrifft insbesondere die konstitutive Rolle der Metapher bei der begrifflichen Verortung neuer epistemischer Inhalte. Bezogen auf die Bakteriologie geht es hier etwa um das Umschreiben der unter dem Mikroskop erstmals sichtbar gemachten Mikroorganismen als Stäbchen, Fäden, Wolken oder Perlschnüren, das eben nicht nur ein einfaches Benennen, sondern zugleich ein Konzipieren mit epistemischer Grundsatzwirkung ist. Die Beziehung zwischen dem uneigentlichen und bewusst doppeldeutigen Sprechen der Metapher 512 Epstein 1995, 25. Diese Zuschreibung ist, wie auch schon bei Hunter 1991, durchaus kritisch zu verstehen: Epstein begreift, darin Foucault folgend, diese sich im medizinischen Krankheitsnarrativ manifestierende Deutungshoheit des Arztes als einen diskursiven Exklusions- und Disziplinarmechanismus, der der Generierung von Machtverhältnissen dient. Vgl. kontrastiv Wöbkemeier 1990, die die »These der im Laufe des 19. Jahrhunderts vollzogenen Kompetenzverteilung zwischen Medizin und Literatur in der Rede über die Krankheit« (14) zum Ausgangspunkt ihrer Arbeit macht. Dabei habe sich die Medizin narrativer Strukturen zu Gunsten naturwissenschaftlicher Glaubwürdigleit weitgehend entledigt und die erzählte Krankheit dem Bereich der Literatur überantwortet. Allerdings verwendet Wöbkemeier den Begriff der erzählten Krankheit nicht im Sinne einer grundsätzlichen Beteiligung narrativer Formen an medizinischen Prozessen, sondern eher qualitativ im Sinne verstehender, sinnproduzierender Strukturen. Ihre scheinbare Gegenposition ergibt sich daher wohl eher aus einer grundsätzlichen terminologischen Differenz. 513 Vgl. Hänseler 2009.
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und der Bakteriologie lässt sich aber durchaus noch weiterverfolgen. Denn die Metapher ist ja selbst im Grunde ein Übertragungsgeschehen, eine Ansteckung, eine auf Ähnlichkeit basierende Infizierung zweier sprachlicher Kontexte miteinander. Insofern liegt das bakteriologische Infektionsmodell insgesamt in gewisser Weise in der Funktionsweise der Metapher vor. Von solchen Beobachtungen zu einer (literarischen) Narrativität der (bakteriologischen) Medizin aus ist der Weg zu ihrer Verknüpfung mit der Detektiverzählung nicht mehr weit. Entsprechende Zusammenhänge werden dabei, wohl auf Grund der für die Gattungsentwicklung zentralen Rolle des Mediziners und praktizierenden Arztes Arthur Conan Doyle, bereits überraschend früh hergestellt. Sie erfolgen zunächst überwiegend thematisch im Sinne einer allgemeinen medizinischen Kenntnisbasis, einer medizinischen Informiertheit detektivischer Texte.514 Auch der meist vor dem Hintergrund des Indizienparadigmas vorgenommene Figurenvergleich, der Arzt und Detektiv als verwandte Professionen einander gegenüberstellt, kann eine ähnlich lange Tradition vorweisen.515 Schon Siegfried Kracauer bedient ihn in seinem, so der Untertitel, philosophischen Traktat Der Detektiv-Roman von 1925: »Der Beruf des Arztes nämlich […] ist dem des Detektivs ähnlich genug, um zu ihm hinzuleiten, und zugleich so unterschieden von ihm, daß er vor Verwechslungen schützt. Auch der Arzt, der die Diagnose stellt, entwirrt aus Indizien das ihm aufgegebene Geheimnis mit den Mitteln des Intellekts, dem die scheinbar irrationale Intuition nur die Wege bereitet, und so wird seine Tätigkeit mit jener anderen vergleichbar, die aus dem kriminellen Befund den Verbrecher erschließt. Gerade der Übereinstimmung der Schlußmethoden wegen tritt aber der Sinn, in dem der Detektiv sie anwendet, nur um so schärfer hervor. Denn nicht wie der Arzt folgert er in der Absicht des Heilens, sondern die Krankheit am Gesellschaftsleib ist ihm nur ein Anlaß zur Deduktion.«516
Am ausführlichsten und gründlichsten entwickelt vielleicht Kathryn Montgomery Hunter die professionellen Parallelen zwischen Arzt und Detektiv. Sie bezieht sich dabei ausdrücklich und vor allem auf den literarischen Detektiv, namentlich auf Sherlock Holmes. Hunter, die jedem Kapitel ihrer Arbeit ein Zitat aus einer Holmes-Erzählung voranstellt, begreift die medizinische Praxis als ein Zusammenspiel aus »interpretive activity« und »narrative activity«517, Ziel des diagnostischen Prozesses sei es »to construct a coherent and parsimonious retrospective chronological account of a malady«518. Eben diese von der Krankheitswirkung auf die Krankheitsursache zurückführende Bewegung der ärztli514 Vgl. Lichtenstein 1908. 515 Vgl. Kracauer 1925, 62ff.; Accardo 1987; Hunter 1991 (besonders: 21ff.); Worthington 2005, 46–102; Robert 2013. 516 Kracauer 1925, 62f. 517 Hunter 1991, xvii und xxi. 518 Ebd, xx.
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chen Tätigkeit, »the necessary retrospection of medicine’s knowledge«519 macht Hunter als entscheidendes tertium comparationis ihres Vergleichs aus. So wie der Arzt sich um ein »narrative embodiment of a diagnostic hypothesis«, um eine »reconstruction of what has gone wrong«520 bemühe, arbeite auch Doyles Detektiv an einer in diesem Sinn diagnostischen Erzählung: »Holmes’s story is diagnostic, a narrative reconstruction that aims to recapture lost time and unobserved deeds, and it closes Doyle’s story (and the mystery within this narrative) with a restoration of clarity to the events that occasioned its opening.«521
Ihre unter den Auspizien einer rekonstruierenden Narrativität hergestellte Verbindung zwischen Arzt und Detektiv kontextualisiert Hunter, wiewohl sie dabei nicht explizit gattungsgenetisch argumentiert, vor dem wissenskulturellen Hintergrund des 19. Jahrhunderts. Dieses »most narrative of centuries«522 habe in seiner profunden Verbindung von Epistemologie und ›story-telling‹ das Herstellen von Wissen im Modus der Erzählung legitim gemacht und so auch die parallele Entwicklung der medizinischen Fallgeschichte als zentraler ärztlicher Erzählform auf der einen und der (für Hunter mit Edgar Allan Poe einsetzenden) Detektiverzählung auf der anderen Seite ermöglicht. Drei Punkte sind zum Verhältnis von Medizin und Detektiverzählung zu ergänzen. Zum einen – und das ist hier weit naheliegender als bei den bisher besprochenen Disziplinen, möglicherweise auch zu naheliegend, um eigens einer Erwähnung für wert gehalten zu werden – nimmt die medizinische in Übereinstimmung mit der detektivischen Arbeit ihren Ausgang ebenfalls in einem Kontext der Versehrung, der Läsion, der (körperlichen) Beeinträchtigung, der Verletzung, potenziell auch immer: des Todes. Zwar arbeitet der Arzt an einem durch Krankheit mindestens beschädigten, vielleicht sogar letal betroffenen Körper gegen den Tod, während der Detektiv ihn als Faktum oft bereits hinzunehmen hat. Die gestörten oder fehlenden Zusammenhänge des Körper- (Gewebe) bzw. Ereignis-›textum‹ (Verbrechen) wiederherzustellen ist aber Aufgabe des einen wie des anderen. Zum zweiten ist gerade mit Blick auf die Bakteriologie auch dem Konzept der notwendigen Krankheitsursache noch einmal gesondert Beachtung zu schenken. Wenn Kathryn Montgomery Hunter von der diagnostischen Erzählung des Arztes (wie des Detektivs) spricht, ist damit, der voranstehenden Schilderung entsprechend, seit dem Ende des 19. Jahrhunderts das Abbilden eines ätiologisch-pathogenetischen Zusammenhangs in Form der Benennung des für die Symptome verantwortlichen Krankheitsbildes gemeint. Das auf Ursache und 519 520 521 522
Ebd, xix. Beide: Ebd, 24. Ebd. Ebd, 21.
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Verlauf einer Krankheit konzentrierte Interesse der Medizin des ausgehenden 19. Jahrhunderts macht aus der diagnostischen Krankheitserzählung ein Erzählen von den Anfängen, eine Suche nach den Ursprüngen pathologischer Prozesse, im Falle einer Infektionskrankheit: nach dem Erreger. Die medizinische Diagnose wird damit zu einem eben solchen »etiological narrative«523 wie auch die Detektiverzählung eines ist. All das bezieht sich zum dritten freilich auf mehr als die konkrete Diagnose-Erzählung des Arztes oder die Auflösungserzählung des literarischen Detektivs im Text. Denn Medizin und Detektiverzählung entsprechen einander nicht nur in den jeweiligen Einzelerzählungen, die in ihren Kontexten als diskursive Ereignisse entstehen. Sie bilden einander darüber hinaus auch in ihrer konzeptuellen Gesamtverfasstheit ab: So wie die Detektiverzählung als Aition den versehrten Zustand ihres eigenen Erzählgewebes löst, indem sie ihm seinen verlorenen Anfang zurückgibt, therapiert auch die Medizin im Sinne der Ätiologie den versehrten Zustand des Körpergewebes, indem sie durch das diagnostische Einholen des ursächlichen Beginns der pathologischen Veränderungen deren angemessene Behandlung ermöglicht. Das aitiologische Narrativ der Detektiverzählung und das ätiologische Denken und Handeln der Medizin des 19. Jahrhundert fallen in ihrer Suche nach den Ursachen, nach den Anfängen ihrer jeweiligen Erzählungen ineinander.
2.3.4 Psychoanalyse In seinem 1974 erschienenen Holmes-Pastiche The Seven-Per-Cent Solution, das im Jahr 1891 und damit unmittelbar vor Holmes’ temporärem Verschwinden in den Reichenbachfällen spielt, lässt Nicholas Meyer den Detektiv in einem desolaten Zustand auftreten. Geplagt von rauschmittelinduzierten Wahnepisoden gerät ihm die Wirklichkeit zur Einbildung: James Moriarty als seinen vermeintlichen Erzfeind und dessen finstere Pläne, so teilt es Watson als Erzähler des Textes mit, halluziniert Holmes lediglich. Der echte Moriarty, ein früherer Mathematiklehrer der Brüder Holmes aus deren Kindheit, kündigt bereits rechtliche Schritte an, sollte Holmes seine Verleumdungen gegen ihn fortsetzen. In großer Sorge manövrieren Watson und Holmes’ Bruder Mycroft den Detektiv nach Wien, um dessen Kokainsucht (und das sich nach Informationen von Moriarty in den Halluzinationen ausdrückende Kindheitstrauma) von einem jungen Arzt therapieren zu lassen. Als kurz darauf eine prominente Patientin dieses Arztes, der niemand anderes als Sigmund Freud ist, entführt wird, kombinieren der durch Hypnose wiederhergestellte Detektiv und der Psychoanaly523 Epstein 1995, 26.
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tiker ihre Fähigkeiten, um einen Fall zu lösen, der umfängliche Konsequenzen für den Frieden in ganz Europa haben könnte. Dass Psychoanalyse und Detektiverzählung in Meyers (1976 gleichnamig verfilmtem) Roman derart zwanglos zusammenfinden, ist nicht allein Meyers schriftstellerischen Fähigkeiten zu verdanken. Die scheinbar organische Verbindung der wissenschaftlichen Disziplin mit der literarischen Gattung ergibt sich auch schon als Resultat einer engen methodischen Verknüpfung zwischen dem Vorgehen des Psychoanalytikers und des Detektivs, deren Tradition bereits und vor allem auf Sigmund Freud selbst zurückgeht. Denn Freud gefällt sich als Wissenschaftler wie als Praktiker durchaus in einer explizit dem Protagonisten der Doyleschen Erzählungen entlehnten detektivischen Pose.524 Sein psychoanalytisches Vorgehen vergleicht er mit Giovanni Morellis kunsthistorischer Indizienmethode oder wie in Tatbestandsdiagnostik und Psychoanalyse (1906) als »Aufdeckungsverfahren«525 mit kriminalistischen Methoden der Befragung. Sowohl der Untersuchungsrichter als auch der Therapeut bedienten sich einer »Reihe von Detektivkünsten«526, um den Verbrecher respektive den Hysteriker zur Aufgabe ihres Geheimnisses zu zwingen. Insofern aber der hierbei vom Verbrecher geleistete Widerstand ein willentlicher, eine bloße »Simulation des Nichtwissens«, der des Hysterikers hingegen ein unbewusster, eben »echtes Nichtwissen« sei, liege in der Arbeit des Therapeuten »ein einfacherer, ein Spezialfall«527 der Aufgabe des Kriminalisten vor. Auch unabhängig von solchen absichtsvoll inszenierten Beziehungsrealien werden entsprechende Bezüge zwischen Psychoanalyse und Detektiverzählung in der Forschung immer wieder hergestellt. Meist geschieht das über die von Freud für die Präsentation und Veröffentlichung seiner Ergebnisse bevorzugte Form der Fallgeschichte, die als Schreibweise von vornherein zwischen Wissenschaft und Literatur angesiedelt ist. Dabei ist es besonders ihr erzählendes Verfahren, das die Fallgeschichte für die Psychoanalyse zugleich methodisch wertvoll wie auch epistemologisch problematisch macht. Zwar ist Freud nicht der erste neurologisch tätige Arzt, der sich der Fallgeschichte bedient – die Etablierung der klinischen Fallgeschichte an der Wende ins 19. Jahrhundert betrifft auch die psychiatrische Medizin –, doch entwickelt erst er sie zu einem gleichermaßen diagnostisch wie therapeutisch relevanten Instrument. Ausgehend von den ersten Fallgeschichten Philippe Pinels habe es, so arbeitet es Stephanie Kiceluk heraus, im Wesentlichen zwei Diskursformen der medizinisch-psychiatrischen Fallgeschichte gegeben: eine semiologische, die sich 524 Rohrwasser 2005, 17–86 (»Freud und Sherlock Holmes«). Vgl. auch Sheperd 1985 und für eine sehr kritische Aufarbeitung des Zusammenhangs Crews 2017, 380ff. (»Sherlockieren«). 525 Freud 1947, 8. 526 Ebd, 9. 527 Alle: Ebd, 12.
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»Krankheiten des Körpers als Zeichenkonfiguration«528, als pathologisches Bildcluster gewidmet habe, und eine narratologische, für die die Krankengeschichte, die Erzähllinie pathologischer Vorgänge zentral gewesen sei. Erst Sigmund Freud sei es gelungen, (Krankheits-)Bild und (Patienten-)Geschichte pathologisch sinnfällig miteinander zu verknüpfen: »Freud war es, der Meister der Rätsel, der Pinels Vexierfrage löste und die Semiotik des Körpers mit den Erzählungen des Geistes in Einklang brachte«529. Dabei gilt als psychoanalytische Faustregel: Wo der Patient seine Geschichte auf Grund pathogener Mechanismen wie Verdrängung, Widerstandsbildung und Trauma nicht mehr selbst kohärent erzählen kann, tritt für jedes verlorengegangene Stück seiner Narration ein körperliches Symptom oder eine Symptomhandlung ein, das die Lücke stellvertretend und hinweisend füllt. Die Aufgabe der Therapie ist es entsprechend, diese diagnostisch bedeutsamen Lücken zu schließen, mithin also die vollständige Patientenerzählung mittels der therapeutischen Konversion körperlicher Symptome in narrative Bausteine wiederherzustellen. Die für die Psychoanalyse spezifische Therapieform der ›talking cure‹ leistet damit nicht nur eine Heilung durch (frei assoziierendes) Erzählen, dessen erleichternden Effekt Josef Breuers Patientin Bertha Pappenheim unter dem Behandlungspseudonym ›Anna O.‹ als »chimney-sweeping«530 umschrieben hat. Sie basiert vor allem auf einer Heilung der Erzählung, auf einer Heilung qua wieder vervollständigter Erzählung. Breuer schildert die Entdeckung und erstmalige Anwendung dieses (später von Freud noch weiterentwickelten) Mechanismus in den Studien über Hysterie (1895): »Jedes einzelne Symptom dieses verwickelten Krankheitsbildes wurde für sich vorgenommen; die sämtlichen Anlässe, bei denen es aufgetreten war, in umgekehrter Reihenfolge erzählt, […] nach rückwärts bis zu der Veranlassung des erstmaligen Auftretens. War dieses erzählt, so war das Symptom damit für immer behoben.«531
Wiewohl also die Fallgeschichte als erzählende Form der psychoanalytischen ›talking cure‹ als einem in mehrfacher Hinsicht um die Erzählung gruppierten Prozess diagnostisch wie therapeutisch angemessen ist, hat sie aus streng wis528 Kiceluk 1993, 817. Vgl. zu Freuds psychoanalytischer Anverwandlung der ursprünglich medizinischen Fallgeschichte auch Wegener 2014. Für einen Überblick zur psychiatrischen Fallgeschichte insgesamt am Beispiel von Richard von Krafft-Ebings Psychopathia sexualis (1886) vgl. Bachmann 2016, 197ff. 529 Ebd, 835. Diese Leistung verdankt sich auch einem (dem medizinischen durchaus vergleichbaren) Paradigmenwechsel in der Psychiatrie, innerhalb dessen das zunächst vorherrschende Modell einer Vererbung psychischer Krankheiten durch eines der individuellen Psycho-Historie abgelöst wird, die im Rahmen der Therapie aufgeklärt werden muss. Vgl. hierzu Steinlechner 1995, 142ff. 530 Freud 2007, 50 (»Frl. Anna O.«). 531 Ebd, 55.
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senschaftlicher Sicht doch zwei Defizite, die ihre Validität für die Forschung, ihre Wissenschaftsfähigkeit zumindest beeinträchtigen. Zum einen findet ihre Evidenzerzeugung überwiegend im Modus der Stimmigkeit, der erzählerischen Kohärenz der dargestellten Zusammenhänge statt.532 Dieser Mechanismus kann durch ein Bemühen um außernarrative Objektivierung, wie es Ingrid KerzRühling beispielsweise auch Sigmund Freud attestiert533, abgemildert werden, grundsätzlich außer Kraft gesetzt werden kann er allerdings nicht. Die Fallgeschichte bleibt auch unter diesen Umständen eine epistemologische Melange aus narrativ und empirisch hergestelltem Wissen. Was sie dabei leistet, ist »Narration im Dienste der Aufklärung« – ein Konzept, das Gisela Steinlechner mit Blick auf die Detektion als Aufdeckung eines Geheimnisses und einem koketten Fragezeichen versehen als »detektivisches Modell«534 bezeichnet hat. Zum anderen ist die Fallgeschichte als diskursübergreifende Schreibweise von vornherein einer gewissen Nähe, ja einem gewissen Hang zum Literarischen verpflichtet. Gerade Freuds psychoanalytische Fallerzählungen, über die er in den Studien über Hysterie selbst bemerkt, sie seien »wie Novellen zu lesen«535, bieten sich als Gegenstand literarischer Lesarten an, wie sie etwa Steven Marcus für die Geschichte der ›Dora‹ aus Bruchstück einer Hysterie-Analyse (1905) vorgelegt hat.536 Naheliegend ist es auch, Freuds Fallerzählungen zu bestimmten literarischen Gattungen in Beziehung zu setzen, sie mit deren je eigenen Schreibweisen und Narrativen zusammenzudenken. Uwe Pörksen etwa deutet die sich mit dem ›Kleinen Hans‹ auseinandersetzende Falldarstellung (Analyse der Phobie eines fünfjährigen Knaben, 1909) als »linguistische Kriminalnovelle«537, während Peter-André Alt Freuds Fallgeschichten als »Familienromane und detective stories«538 tituliert. Horst Thomé wiederum macht im Bruchstück einer Hysterie-Analyse »drei prominente Romanformen des 19. Jahrhunderts, nämlich die Detektivgeschichte, den sozialen Roman und die fiktive Biographie« aus und 532 Zum Konzept der Stimmigkeit in der Psychoanalyse vgl. List 2009, 20 (meine Hervorhebung): »Auf einer allgemeineren Ebene könnte man sagen, die Psychoanalyse sei ein Vermittlungsprozess vom Unsagbaren zum Gedanken, und die Wahrheit des Gedankens liege in der Stimmigkeit, mit der zwischen einer nicht bewussten Gefühlsregung bzw. Erinnerungsspur und der konkreten Situation eine Verbindung hergestellt werden kann«. 533 Vgl. Kerz-Rühling 2003. Zur Theoriefähigkeit der Freudschen Fallgeschichte vgl. auch King 1998. 534 Beide: Steinlechner 1995, 143. Mit einem über die psychoanalytische Fallgeschichte hinausgehenden Bezug auf Freuds letzte Studie Der Mann Moses und die monotheistische Religion (1939) spricht auch Wolfang Müller-Funk von »Freud’s method of detective rereading«. Vgl. Müller-Funk 2012, 104. 535 Freud 2007, 180 (»Frl. Elisabeth v. R.«). 536 Vgl. Marcus 1974. Vgl. zur psychoanalytischen Fallgeschichte als sich der Poetik der Novelle bedienende Schreibweise auch Rau 2006. 537 Pörksen 1994 (das Zitat ist dem Titel des Aufsatzes entnommen). 538 Alt 2008, 6.
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attestiert dem Text damit eine »Nähe zu realistischen Erzählmodellen«539. Auch Achim Geisenhanslüke spricht von »Freuds detektivischen Novellen«540, Die Traumdeutung (1899/1900) liest er als Autobiografie. In den Studien über Hysterie, so Geisenhanslüke weiter, signalisierten schon die (zusätzlich noch verkürzten) Pseudonyme der Patientinnen eine Fiktionalisierung der Darstellung, mit Freuds Rekurs auf das Aristotelische Konzept der Katharsis, der Affektreinigung sei zudem die Sphäre der Tragödie und des Theatralischen berührt. Einen weiteren Gattungsbezug macht Silke Arnold-de Simine aus: Sie spricht, insofern die »Enträtselung verborgener Familiengeheimnisse, die bis in die Kindheit zurückreichen und den Protagonisten unbekannt sind«, in beider Zentrum stehe, von einer strukturellen Verwandtschaft, einer »Strukturhomologie«541 zwischen psychoanalytischer Fallgeschichte und Schauererzählung. Dass es allerdings häufig gerade die Detektiverzählung ist, die als Referenzmodell der psychoanalytischen Fallgeschichte auftritt, ist durchaus auffällig. Ihr Verhältnis zueinander wird dabei in der Regel vor dem (von Freud selbst eröffneten) Hintergrund des Indizienparadigmas verhandelt.542 Dass die überaus vielgestaltige Beziehung der Psychoanalyse zu literarischen Kontexten indes weit über die Fallgeschichte hinausreicht, ist zweifelsohne Forschungskonsens. In den Blick gekommen sind dabei bislang: Freuds Deutung und Bearbeitung literarischer Quellen und Texte und deren Nutzung als Konzept- und Bildspender (Ödipuskomplex, Narzissmus)543; sein eigener literarischer Stil und die Konstitution seiner Texte über die Adaption literarischer Muster544; der psychoanalytische Fokus auf Sprache als potenziell pathologi539 Beide: Thomé 1998, 483. 540 Geisenhanslüke 2008, 25 (»Fünf Frauen. Studien über Hysterie«), zur Traumdeutung: 31–44 (»Das Buch der Wünsche. Die Traumdeutung«). 541 Beide: Arnold-de Simine 2000, 170. 542 So denkt Pörksen 1994 beispielsweise, wenn er von der Fallgeschichte als Kriminalnovelle spricht, vor allem in typischen Plot-Kategorien wie Geheimnis, Aufklärung und Urteil. Auch Thomé 1998 stellt bei seinem Bezug auf die Detektiverzählung das Rätselhafte, das detektivische Erschließen des Verborgenen in den Vordergrund. Vgl. hierzu auch Sheperd 1985, 11–16; Kiceluk 1993, 844f.; List 2009. Sheperd schließt bei seinem Vergleich zwischen Sherlock Holmes und Sigmund Freud mit Verweis auf Giovanni Morelli und die Methoden einer »conjectural science« (13) explizit an Ginzburg an. Kiceluk begreift die Tatsache, dass Psychoanalytiker wie Detektiv in ihrem Bemühen um Aufklärung die zusammenhanglosen Fakten, die Indizien der Patientenerzählung zu einer zusammenhängenden Krankheitserzählung ordnen müssten, als tertium comparationis der Verwandtschaft von psychoanalytischer Fallgeschichte und Detektiverzählung. List wiederum bezeichnet die Psychoanalyse als eine »Methode des Spurenlesens« (17), als »Indizienwissenschaft« (18), als Hermeneutik, die auf einer spezifischen Aufmerksamkeit des Analysanden für Vernachlässigtes und Unwichtiges beruhe. Diese Fähigkeit zur »ungerichtete[n] Offenheit« (21) bringt List unter direktem Bezug auf Ginzburgs Indizienparadigma mit der Kriminalistik in Verbindung. 543 Vgl. Rohrwasser 2005. 544 Vgl. Alt / Anz 2008, Rohrwasser 2005.
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schem Medium, das sich ähnlich wie das literarische Sprechen jenseits reiner Bedeutung gerade durch Uneindeutigkeit, Widersprüche, Referenzlosigkeiten und Doppelbödigkeit auszeichnet545; die literaturanalogen Mechanismen der Freudschen Traumarbeit, namentlich Verdichtung und Verschiebung als Metapher und Metonymie; Freuds auch literarischen Vorbildern entlehnte Wissenschaftsposen, so die bereits erwähnte detektivische oder auch die archäologische546; die grundsätzliche Wissen(schaft)s- und Wahrheitsfähigkeit, die Freud der Literatur unterstellt, indem er sie als Beleg seiner Theorien, ihre Zitate gar »als funktionale Äquivalente von empirischen Daten«547 nutzt; das psychoanalytische Konzept von Therapie als Hermeneutik, das auf dem deutenden Umgang mit einer Vielzahl von Erzählungen wie etwa Traum-, Kindheits- und Assoziationserzählungen beruht und Silke Arnold-de Simine zu der Behauptung veranlasst, die Psychoanalyse sei im Grunde »auf derselben methodologischen Ebene wie die Literaturwissenschaft anzusiedeln«548. Im Ergebnis lässt sich formulieren, dass Wissenschafts- wie Therapieform der Psychoanalyse im gleichen Maß wie ihre Texte dem Narrativen, ja dem Literarischen verpflichtet sind, dass also, wie es Michael Rohrwasser formuliert hat, »die Psychoanalyse sich immer schon im Feld der Literatur bewegt«549. Die Rolle der Detektiverzählung innerhalb dieses einzigartig engen Verbunds aus wissenschaftlicher Disziplin und (literarischem) Erzählen ist mit dem ubiquitären Verweis auf das Indizienparadigma allerdings nur unzureichend erfasst. Das wird bereits bei der psychoanalytischen Fallgeschichte evident. Diese folgt einer argumentativen Ordnung, die Horst Thomé treffend als »Krebsgang«550 beschrieben hat: Die Darstellung setzt zunächst mit dem pathologischen Zustand 545 Vgl. Hörisch 2008. 546 Vgl. Rohrwasser 2005, 17–86 (»Freud und Sherlock Holmes«) und 163–228 (»Freud liest Jensens Phantasiestück Gradiva«). 547 Hörisch 2008, 21. 548 Arnold-de Simine 2000, 170. 549 Rohrwasser 2005, 16. Freud selbst war dem in wissenschaftlich pejorativer Absicht geäußerten Vorwurf der Literarizität seiner Arbeiten übrigens bereits von Beginn seiner Publikationstätigkeit an ausgesetzt. Im Vorwort zu seinem Bruchstück einer Hysterie-Analyse geht er mit dieser Tatsache überaus offensiv um: »Ich weiß, daß es […] viele Ärzte gibt, die […] eine solche Krankengeschichte nicht als einen Beitrag zur Psychopathologie der Neurose, sondern als einen zu ihrer Belustigung bestimmten Schlüsselroman lesen wollen« (Freud 1993, 11). Wenn allerdings, so dreht Freud die Richtung des Vorwurfs anschließend um, ein eigentlich professioneller Leser die erzählende, die literarisierende Form der Darstellung als Vorwand benutze, um aus einer seriösen, sich den »Pflichten […] gegen die Wissenschaft« (10) verdankenden Veröffentlichung intimer und eigentlich der ärztlichen Diskretion unterliegender Informationen über die betreffende Patientin und aus dem im Sinne der Behandlung notwendigen freimütigen Umgang mit (weiblicher) Sexualität und diesbezüglich expliziter Sprache ein billiges Vergnügen zu ziehen, dann sei das »ekelhaft genug« (11) und »Anzeichen einer perversen und fremdartigen Lüsternheit« (ebd). 550 Thomé 1998, 484.
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des Patienten zu Beginn der Behandlung ein und teilt dann die therapeutische Sequenz mit, die sich als schrittweises Aufarbeiten der diesem Zustand zu Grunde liegenden Erlebnisse entfaltet. Die psychoanalytische Fallgeschichte gewinnt diese Struktur zunächst einmal freilich aus der das gesamte medizinische Handeln prägenden Grundkonstellation des Patienten, der bei einem Arzt um Heilung nachsucht. Auch die psychoanalytische Arbeit setzt in diesem Sinn bei der bereits aus den anderen besprochenen Disziplinen bekannten Figur der ›Leiche‹, in diesem Fall: des Nervenkranken ein.551 Allerdings bezieht sich das nur scheinbar auf den funktionsbeeinträchtigten Körper oder die beschädigte Psyche des betreffenden Patienten. Wie in der Detektiverzählung geht es auch in der Psychoanalyse im Kern um einen versehrten Erzählzusammenhang. Denn die am Anfang der Behandlung stehende Anamneseerzählung des Patienten besteht nur vordergründig aus einer Reihe nervöser körperbezogener Symptome, typischerweise etwa Ohnmacht, Erbrechen, temporäre Aphasien und Lähmungen oder auch Angstzustände. Vielmehr muss diese Erzählung für den Psychoanalytiker selbst bereits als Bestandteil des zu therapierenden Krankheitsbildes gelten. Nie ist sie nämlich vollständig, stets weist sie Lücken und Rätsel, Verformungen, Auslassungen und zerrissene Zusammenhänge auf, ist sie durch absichtsvolle, vor allem aber »unbewußte[…] Unaufrichtigkeit«552 in Form von Erinnerungstäuschungen und Amnesien verzerrt. Freud beschreibt dieses Phänomen im Bruchstück einer Hysterie-Analyse als »die Unfähigkeit der Kranken zur geordneten Darstellung ihrer Lebensgeschichte, soweit sie mit der Krankengeschichte zusammenfällt«553. Die Krankheitserzählung, die den psychoanalytischen Prozess und damit auch die diesen darstellende Fallgeschichte initiiert, ist eben kein sicheres anamnestisches Wissen, sondern in ihrer Fragmentiertheit selbst ein, wenn nicht sogar das psychoanalytisch relevante Symptom, das es in der Analyse zu therapieren gilt.
551 Vgl. hierzu auch Hörisch 2008, der mit einer Friedrich Kittler entlehnten Formulierung bemerkt, Psychoanalyse habe mit ›Abfällen in jedem Wortsinn‹ zu tun: »mit dem Schmutz der Sexualität, der Perversionen, der infantilen Fixierungen, der polymorphen Begierden, der Krankheiten, der Symptome, der zum Himmel stinkenden Verfehlungen, der Versprecher und der unanständigen Witze«, aber auch »mit dem häretischen Abfall von Illusionen, vom rechten Glauben, von erhabenen Rhetoriken und eben auch vom Ideal einer reinen Wissenschaft« (21f.). Dieses ›Abfällige‹ der Psychoanalyse lässt sich durchaus in Beziehung zum Versehrungskontext der Detektiverzählung wie auch zur Abfallarchäologie setzen. Zur Herkunft des Kittler-Diktums vgl. Kittler, Friedrich A. (1980) (Hg.): Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften. Programme des Poststrukturalismus. Paderborn u. a., 9 (»Einleitung«). 552 Freud 1993, 19. 553 Ebd, 18.
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Das analytische Vorgehen orientiert sich dabei im Wesentlichen an zwei Grundannahmen, die Wesen und Wirkmechanismus einer seelischen Störung, wie die Psychoanalyse sie theoretisch konzipiert, bestimmen. Das ist zum einen die Annahme einer prinzipiellen Valenz (früh)kindlicher Erfahrungen bei der Entstehung krankhafter Zustände der Psyche. Deren pathogener Kern liegt in der Regel in der persönlichen Vergangenheit des Patienten, sie sind als Erinnerungsspuren, als Erlebnisreste zu verstehen, als durchaus auch evolutionstheoretisch grundierte Rudimente eines überwunden geglaubten Entwicklungsstadiums. Diese Rudimente, und hier tritt neben die grundsätzlich zeitliche Verfasstheit psychischer Prozesse als zweite Annahme deren Tiefenstruktur, lagern sich im Rahmen der Pathogenese in einer dem Analysanden, aber auch dem Patienten selbst nicht ohne weiteres zugänglichen Ebene der Psyche an. In Zur Psychopathologie des Alltagslebens (1901) macht Freud diesen »Aufbau aus einander überlagernden Instanzen« als »das architektonische Prinzip des seelischen Apparates«554 an den kleinen pathologischen Ereignissen des Alltags sinnfällig. Versprechen, Vergreifen, Fehlerinnern, Vergessen, Verlesen und Verschreiben seien, so Freud, keine kontingenten, keine regellosen Fehlfunktionen, vielmehr folgten sie einem nachvollziehbaren Mechanismus. Dabei legen sich verschiedene Assoziationsebenen, Bedeutungsschichten und Deckerinnerungen übereinander, sie verschütten den eigentlich gemeinten oder gesuchten Inhalt für den Moment, können ihn aber ebenso schnell auch wieder unversehrt freigeben. Dieser Vorgang, der sich funktionsgleich auf eine psychopathologische Makroebene übertragen lässt, ist dem archäologisch-geologischen Prinzip der Schichtenbildung durchaus analog zu begreifen. Bereits Freud selbst kleidet die psychoanalytische Freilegung der historisch codierten Tiefendimensionen der Psyche, ihrer biografischen Strata bevorzugt in entsprechende Bilder: In Zur Ätiologie der Hysterie (1896) vergleicht Freud sein analytisches Vorgehen im Rahmen eines großangelegten archäologischen »Gleichnisse[s]«555 mit »der Aufgrabung eines geschichteten Trümmerfeldes«556; im Vorwort zu seinem Bruchstück einer Hysterie-Analyse gibt er an, er folge »dem Beispiel jener Forscher […], welche so glücklich sind, die unschätzbaren wenn auch verstümmelten Reste des Altertums aus langer Begrabenheit an den Tag zu bringen« und betont dabei auch das dabei notwendige Extrapolieren, das Unvollständiges durch Hypothetisches ergänzt: »Ich habe […] ebensowenig wie ein gewissenhafter Archäologe anzugeben versäumt, wo meine Konstruktion an das Authentische ansetzt«557. In der Folge ist die Verbindung von Psychoanalyse und 554 555 556 557
Beide: Freud 2006b, 208f. Freud 2006, 56. Ebd, 62. Beide: Freud 1993, 14.
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Archäologie unter den methodischen Vorzeichen der Aufdeckung des Verschütteten auch in der Forschung durchaus ein Topos.558 Die praktische Konsequenz einer solchen Konzeption pathologischer psychischer Prozesse für das analytische Vorgehen benennt Freud im Fall der Lucy R. aus den Studien über Hysterie: »Interessant ist es, daß das zu zweit entstandene Symptom das erste deckt, so daß letzteres nicht eher klar empfunden wird, als bis das erstere weggeschafft ist. Bemerkenswert erscheint mir auch die Umkehrung der Reihenfolge, der sich auch die Analyse fügen muß. In einer ganzen Reihe von Fällen ist es mir ähnlich ergangen, die später entstandenen Symptome deckten die ersten, und erst das letzte, zu dem die Analyse vordrang, enthielt den Schlüssel zum Ganzen.«559
Ausgehend von der fragmentierten Erzählung des Anfangs, die Krankheitsanamnese und -symptom zugleich ist, arbeitet sich die Analyse (und mit ihr die Fallgeschichte) in umgekehrter Chronologie durch aufeinanderfolgende und einander überlagernde Erinnerungsschichten und Träume. Über das Aufarbeiten vergangener und zwischenzeitlich verdrängter, vergessener und verschobener Szenen, (Ab-)Neigungen, Eindrücke und Gefühlsregungen tritt Schritt für Schritt die nicht mehr durch pathologische Mechanismen verstellte Krankheitsgeschichte des Patienten hervor, die sich in der Rekonstruktion zur Lebensgeschichte, zur wieder vollständig zugänglichen Biografie auflöst. Mit der so erzielten narrativen Heilung der initialen Symptomerzählung ist dann in der Regel, so legt es Freud im Bruchstück einer Hysterie-Analyse dar, auch das Ende der körperlichen Symptome verbunden: »Im Verlaufe der Behandlung tra¨ gt dann der Kranke nach, was er zuru¨ ckgehalten oder was ihm nicht eingefallen ist, obwohl er es immer gewußt hat. Die Erinnerungsta¨ uschungen erweisen sich als unhaltbar, die Lu¨ cken der Erinnerung werden ausgefu¨ llt. Gegen Ende der Behandlung erst kann man eine in sich konsequente, versta¨ ndliche und lu¨ ckenlose Krankengeschichte u¨ berblicken. Wenn das praktische Ziel der Behandlung dahin geht, alle mo¨ glichen Symptome aufzuheben und durch bewußte Gedanken zu ersetzen, so kann man als ein anderes, theoretisches Ziel die Aufgabe aufstellen, alle Geda¨ chtnisscha¨den des Kranken zu heilen. Die beiden Ziele fallen zusammen; wenn das eine erreicht ist, ist auch das andere gewonnen; der na¨ mliche Weg fu¨ hrt zu beiden.«560 558 Vgl. Bernd Urban, der in seiner Einleitung zur Fischer-Ausgabe von Freuds Der Wahn und die Träume in W. Jensens ›Gradiva‹ die Psychoanalyse mit einer von Walter Schönau entlehnten Wendung als eine »Archäologie der Seele« (14) umreißt. Vgl. auch Geisenhanslüke 2008, der von der Psychoanalyse als einer »archäologischen Tiefenwissenschaft« spricht, die sich »in die abgelagerten Tiefenschichten einer Unterwelt« (9) begibt, und List 2009, die konstatiert, für die Psychoanalyse sei »das Erscheinungsbild der Welt nicht mehr als eine Oberfläche, die freilich der aufmerksamen Wahrnehmung immer Hinweise auf tiefere, unbewusste Sinngehalte gibt« (17). 559 Freud 2007, 142f. (meine Hervorhebung). 560 Freud 1993, 20.
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Es ist genau dieses Ineinanderfallen von vollständiger Anamnese, Diagnose und Therapie in Form der zu Anfang der Behandlung fragmentiert vorliegenden und an ihrem Ende rekonstruierten Erzählung, das das psychoanalytische Denken, sei es als therapeutische Praxis oder als Fallgeschichte, in besonderer Weise an die Detektiverzählung bindet. Um in der Behandlung einen Heilungserfolg, um für ihre Darstellung einen evidenzerzeugenden Erzählerfolg zu erzielen, muss die Analyse, muss die Fallgeschichte die sie auslösenden pathogenen Vorgänge rückgängig machen, muss sie ihre jeweiligen Anfänge einholen: »Die Störung schwindet dann, während sie auf ihren Ursprung zurückgeführt wird; die Analyse bringt auch gleichzeitig die Heilung«561, wie es Freud auch außerhalb seiner im engeren Sinn psychoanalytischen Arbeiten, in diesem Fall anlässlich der Lektüre einer Novelle von Wilhelm Jensen, formuliert. In diesem spezifischen Arrangement das in seinen eigenen Erzählanfang zurückkehrende Narrativ der Detektiverzählung auszumachen, ist nicht schwer. Dabei eröffnet die Psychoanalyse, wie es sich in ihrem offen archäologischen Gestus bereits andeutet, einen diskursiven Raum, in dem sich Archäologie, Evolutionstheorie und (bakteriologische) Medizin begegnen und darüber hinaus auch mit dem Detektivischen zusammenfinden. Als jüngste der vier besprochenen Disziplinen zehrt die Psychoanalyse von deren Bildfeldern, Denkmustern und Argumentationsweisen, setzt sie aber auch in ein epistemisch produktives Verhältnis zueinander. Das ist zunächst einmal in der Person Sigmund Freuds selbst gegeben: Denn Freud ist zum einen ausgebildeter und praktizierender Mediziner, zum anderen aber auch Archäologie-Enthusiast, der sich mit der Lektüre archäologischer Berichte unterhält und antike Kleinplastiken sammelt, sowie zum dritten ein entschiedener Anhänger der Darwinschen Evolutionstheorie, der sich eben nicht nur gern als ausgrabender Archäologe, sondern zum vierten, hierin den Liebhaber der Doyleschen Holmes-Erzählungen verratend, auch als spurenlesender Detektiv inszeniert.562 Dass vor allem Freuds ausgeprägtes archäologisches Interesse einen Weg in die methodische Konzeption seines analytischen Arbeitens und in seine Publikationen gefunden hat, ist dabei bereits zur Sprache gekommen. Dass sich aber auch alle anderen erwähnten Wissensfelder in seinen Texten niederschlagen, ist, wenn nicht überraschend, so doch zumindest bemerkenswert. 561 Freud 32003, 120 (»Der Wahn und die Träume in W. Jensens Gradiva«). 562 Vgl. für Freuds Interesse an Archäologie die entsprechenden Kapitel bei Rohrwasser 2005 (hier auch das Kapitel zur Detektiverzählung) sowie noch einmal Bernd Urbans Einleitung zur 2003 in dritter Auflage erschienenen Fischer-Ausgabe von Freuds Der Wahn und die Träume in W. Jensens ›Gradiva‹ von 1907. Für den Bezug zur Evolutionstheorie vgl. Freud, Ernst u. a. (1985) (Hg.): Sigmund Freud. Sein Leben in Bildern und Texten. Frankfurt/Main, 78f. Für Freud und die Detektiverzählung vgl. die Angaben in Fußnote 524.
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Zwei Beispiele hierfür mögen genügen: In den Bemerkungen über einen Fall von Zwangsneurose (1909), bekannt als der Fall vom ›Rattenmann‹, setzt Freud auf Nachfrage seines Patienten die Entstehung einer scheinbar wirren Deckerinnerung als Ersatz für die eigentliche traumatogene Erinnerung mit der Polizeiarbeit in Beziehung: »Wir sind aber nicht gewohnt, starke Affekte ohne Vorstellungsinhalt in uns zu verspu¨ ren, und nehmen daher bei fehlendem Inhalt einen irgendwie passenden anderen als Surrogat auf, etwa wie unsere Polizei, wenn sie den richtigen Mörder nicht erwischen kann, einen unrechten an seiner Stelle verhaftet.«563
Weil Freuds Patient, dem er ohnehin einen regen Intellekt bescheinigt, aber noch weitere Auskünfte über das Wesen psychopathologischer Mechanismen wünscht, ergänzt Freud diesen (ohnehin nicht ganz schmeichelhaften) Vergleich mit einem Verweis auf die archäologischen Antiquitäten, die sich in seinem Behandlungszimmer befinden. So wie diese »eigentlich nur Grabfunde«564 seien, die durch Verschüttung erhalten geblieben seien, könne auch der in der Neurose verborgene Vorwurf, an dem der Patient leide, nur durch seine Verdrängung überdauern. Einmal freigelegt, verschwinde er unweigerlich, wie auch »Pompeji [… ] erst jetzt zugrunde [gehe], seitdem es aufgedeckt ist«565. Im zweiten, theoretischen Teil des Textes expliziert Freud dann im Anschluss an die eigentliche Analyse die konzeptionellen Grundlagen der Neurose insgesamt, so wie sie sich ihm am Fall des Rattenmannes exemplarisch darstellen. Dabei greift er angesichts der »Rolle einer seit der Kindheit untergegangenen Riechlust in der Genese der Neurosen«566 auf ein explizit evolutionstheoretisches Erklärungsmuster, nämlich die Entfernung des Menschen von seinen tierischen Ursprüngen, zurück: »Ganz allgemein mo¨ chte ich die Frage aufwerfen, ob nicht die mit der Abkehrung des Menschen vom Erdboden unvermeidlich gewordene Verku¨ mmerung des Geruch[s]sinnes und die so hergestellte organische Verdra¨ ngung der Riechlust einen guten Anteil an seiner Befa¨ higung zu neurotischen Erkrankungen haben kann.«567
Noch umfassender gestaltet sich die Verbindung der verschiedenen Wissensfelder in dem Aufsatz Zur Ätiologie der Hysterie, der auf einen von Freud 1896 vor dem ›Verein für Psychiatrie und Neurologie‹ gehaltenen Vortrag zurückgeht. Da ist zunächst und gleich zu Beginn vom »Verhör«568 des Patienten durch den Therapeuten die Rede, dann kommt Freud, in einer Erweiterung des krimina563 564 565 566 567 568
Freud 2000, 72. Ebd. Ebd. Ebd, 129 (Klammer im Original). Ebd. Freud 2006, 55.
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listischen um den medizinischen Kontext, auf den »Gerichtsarzt« zu sprechen, der es »versteht […], die Verursachung einer Verletzung aufzuklären, selbst wenn er auf die Mitteilungen des Verletzten verzichten muss«569. Es folgt, eine Art tour de force der Wissensfelder, das bereits angesprochene »Gleichnisse«, das, so kündigt es Freud seinem Publikum an, »einen auf anderem Arbeitsgebiete tatsächlich erfolgten Fortschritt zum Inhalt hat«570. So wie nämlich Archäologen, statt sich wie einst mit den offen zu Tage liegenden Fundfragmenten zu begnügen, Trümmer und Mauerreste dergestalt untersuchten, dass sie »das Trümmerfeld in Angriff nehmen, den Schutt wegschaffen und von den sichtbaren Resten aus das Vergrabene aufdecken«571, behandele auch der Therapeut »die Symptome einer Hysterie als Zeugen [!] für die Entstehungsgeschichte einer Krankheit«, die er dann zum Sprechen bringen müsse: »Saxa loquuntur!«572. Vollständig wird das Ensemble aus allen vier wissenschaftlichen Disziplinen und detektivischem Kontext mit dem ( je gleich zweifachen) Auftreten des evolutionstheoretisch belegten Stammbaums und des Kochschen (Tuberkel-)Bazillus. So seien die Erinnerungs- und Assoziationsketten, die der Therapeut im Verlauf der Analyse zurückzuverfolgen habe, als komplexe Gebilde aus mehrfach miteinander »verzweigt[en]« Haupt- und Nebenketten durchaus »mit dem Stammbaum einer Familie, deren Mitglieder auch untereinander geheiratet haben«573 vergleichbar. An anderer Stelle betont Freud noch einmal, dass diese Ketten »nicht etwa einfache, perlschnurartige Reihen, sondern verzweigte, stammbaumartige Zusammenhänge«574 bildeten. Dass Freud hier das ungewöhnliche und poetisch anmutende Attribut ›perlschnurartig‹ verwendet, mag auf den ersten Blick dem wissenschaftlichen Vortrags- und Publikationskontext nicht ganz angemessen, weil semantisch geradezu extravagant erscheinen. Tatsächlich markiert Freuds Wortwahl aber das erste Erscheinen eines Bazillus, namentlich das des Milzbranderregers, dessen unter dem Mikroskop erkennbare Form Robert Koch eben mit den besagten Perlschnüren verglichen hat.575 Möglicherweise ist es den medizinisch ausgebildeten Erstadressaten des Textes geschuldet, dass Freud, um sein der gängigen Lehrmeinung widersprechendes Konzept einer »Pseudoheredität«576 neurotischer Erkrankungen plausibel zu machen, zusätzlich noch einmal ausdrücklich auf die bereits etablierte bakte569 570 571 572 573 574 575 576
Beide: Ebd, 55 und 56. Beide: Ebd, 56. Ebd. Beide: Ebd (Hervorhebung im Text). Der lateinische Ausruf lautet übersetzt: »Die Steine sprechen!« Beide: Ebd, 62. Ebd, 60. Hänseler 2009, 51ff. Freud 2006, 72.
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riologische Ätiologie der Tuberkuloseerkrankung zurückgreift. Denn ihr familiäres Auftreten sei nicht, wie bislang angenommen, Ergebnis einer »erblichen Disposition« zur Neurose, sondern gehe auf ein traumabedingtes Übertragungsgeschehen innerhalb der Familie, auf eine »Infektion in der Kindheit«577 zurück. Gegen den möglichen Einwand, dass offenbar nicht jedes infantile Sexualerlebnis zwangsläufig eine Hysterie hervorrufe, bemüht Freud erneut die aus wissenschaftlicher Sicht zwingende, weil bewiesene Logik des Infektionsmodells der Bakteriologie: »Dagegen sagen wir zunächst, daß die übergroße Häufigkeit eines ätiologischen Moments unmöglich zum Vorwurf gegen dessen ätiologische Bedeutung verwendet werden kann. Ist der Tuberkelbazillus nicht allgegenwärtig und wird von weit mehr Menschen eingeatmet, als sich an Tuberkulose erkrankt zeigen? Und wird seine ätiologische Bedeutung durch die Tatsache geschädigt, daß er offenbar der Mitwirkung anderer Faktoren bedarf, um die Tuberkulose, seinen spezifischen Effekt, hervorzurufen? Es reicht für seine Würdigung als spezifische Ätiologie aus, daß Tuberkulose nicht möglich ist ohne seine Mitwirkung. Das gleiche gilt wohl auch für unser Problem.«578
Sowohl in der Fallgeschichte vom ›Rattenmann‹ als auch in Freuds eher einführend angelegtem Aufsatz über die Ätiologie der Hysterie treten, das hat bereits ein lediglich an der Textoberfläche verweilender Blick gezeigt, die jeweiligen Disziplinen zusammen, um einen epistemischen Argumentationsraum zu bilden. Dieser soll der Beglaubigung einer neuen therapeutischen Praxis, einer neuen Wissensformation, nämlich der psychoanalytischen, dienen, die ihrerseits mit dem Narrativ der Detektiverzählung aufs Engste verbunden ist. Beide nehmen sie ihren Ausgang bei einer fragmentierten Erzählung, beide kehren sie vermittels eines narrativen Wiederherstellungsprozesses an eben diesen Anfang zurück.
2.4
Zwischenfazit: Auf der Suche nach der verlorenen Erzählung579
Die Nähe von Disziplinen wie Archäologie, Medizin und Psychoanalyse, aber auch Historiografie und Kriminalistik zueinander ist bislang genauso wie die diskursübergreifende Verbindung dieser Wissensfelder zur Gattung der Detek577 Ebd. Aus genau dieser These resultiert übrigens die psychoanalytische Annahme einer grundsätzlichen Therapierbarkeit psychischer Störungen. Waren sie im Rahmen des zuvor gültigen hereditär-degenerativen Paradigmas, wie es prominent etwa von Bénédict Morel vertreten wurde, lediglich hinnehmbar, werden sie jetzt heilbar. 578 Ebd, 72f. 579 Der an Marcel Proust erinnernde Titel ist nicht ganz von ungefähr gewählt. Denn Prousts zwischen 1913 und 1927 in sieben Bänden (teilweise posthum) erschienenes Romanprojekt
Zwischenfazit: Auf der Suche nach der verlorenen Erzählung
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tiverzählung vor allem unter dem Stichwort des Spurenlesens und damit im Rahmen des von Carlo Ginzburg herausgearbeiteten Indizienparadigmas verhandelt worden. Akzentuiert man das detektivische Erzählen allerdings, wie im ersten Teil der vorliegenden Arbeit geschehen, als ein aitiologisches Erzählen vom Anfang, das sich auf die Suche nach einer verlorenen Erzählung begibt, können, das hat der nun abgeschlossene zweite Teil gezeigt, auch darüber hinausgehende Zusammenhänge zwischen wissenschaftlicher Disziplin und literarischer Schreibweise geltend und bisher nicht oder nur wenig untersuchte Bereiche dieses Beziehungsgefüges, wie etwa das zur Darwinschen EvolutionsÀ la recherche du temps perdu, das schon Gérard Genette als eine Art Feuerprobe der Narratologie galt, an dem sich sein Figures-Projekt (ab 1972, zu dt. meist als Diskurs der Erzählung. Ein methodologischer Versuch) messen musste, lässt sich als eine in ihrer Ausdehnung und Komplexität wahrscheinlich einzigartige Anverwandlung detektivischer Erzählmuster verstehen. Assoziativ schält sich, ausgehend von der berühmten MadeleineEpisode im ersten Band (Du Côté de chez Swann, 1913), die zu Anfang nur unvollständig zugängliche Erinnerung des Protagonisten Marcel an Vergangenes aus den Schichten des scheinbar Vergessenen heraus. Dabei dient unter anderem die Archäologie als Bildspender, etwa wenn Marcel im dritten Band (Le Côté de Guermantes, 1920) feststellt: »[…] man muß in die Tiefe steigen, um ihn [d.i. den Garten unserer Kindheit] wiederzufinden. Was die Erde trug, ist nicht mehr auf ihr, sondern unter ihr; ein Ausflug genügt nicht, um die tote Stadt zu besichtigen, man muß Ausgrabungen vornehmen« (123). Am Ende des letzten Bandes (Le Temps Retrouvé, 1927) beschließt Marcel dann, ein sein ganzes Leben begleitendes Projekt nun tatsächlich in Angriff zu nehmen. Es ist das Projekt, einen großen Erinnerungsroman seines Lebens zu schreiben, der freilich nichts anderes ist als der vorliegende Text. So kehrt auch Prousts Recherche am Ende in einem sehr konkreten Sinn an den eigenen Erzählanfang zurück. Die zwischen Anfang und Ende stattfindende Textbewegung ist dabei vielleicht am treffendsten mit einer Formulierung beschrieben, die Marcel in Bezug auf einen seiner zahlreichen Träume verwendet, in dem er »rückläufig dem Fluss der Zeiten folgte« (Band 3, 201). Gespiegelt wird diese Figur des den eigenen Erzählanfang in einer rückwärtigen Bewegung einholenden Narrativs in der makrostrukturellen Klammer, die der erste Band, der ursprünglich Le temps perdu hätte heißen sollen, mit dem letzten Band Le temps retrouvé (1927) um den gesamten Textkörper bildet. Auch entstehungsgeschichtlich liegen der spätere erste und der letzte Band der Recherche sehr nah beieinander. Vgl. hierzu das Nachwort des ersten Bandes, 626ff. sowie die Fußnote zum Titel des letzten Bandes (543), in der Prousts Romanprojekt noch einmal in seiner ursprünglichen Konzeption umrissen wird: Unter dem Titel Les Intermittences du Coeur hätte es zwei Bände mit den Titeln Le temps perdu und Le temps retrouvé umfassen sollen, die das typische Arrangement der Detektiverzählung zwischen verlorener und wiedergefundener Erzählung in größtmöglicher Deutlichkeit angezeigt hätten. In diesen Zusammenhang gehört auch Prousts narrative Technik, die Luzius Keller im Nachwort zum ersten Band der Recherche im Sinne des Indizienparadigmas als »Entziffern der Zeichen der Welt« (633) begreift und aus textgenetischer Perspektive wie folgt umreißt: »Während in den bisherigen Entwürfen […] die Erfahrungen des Romanhelden oft durch das Einfügen späterer Ereignisse (das heißt durch Prolepsen) ergänzt und durch Kommentare des Erzählers erklärt wurden, verschiebt nun Proust alle erklärenden, eine jugendliche Illusion korrigierenden, ein aufgegebenes Rätsel lösenden Stellen an das Ende des Romans. Damit öffnet sich nun auch für den Leser jener unendlich weite Raum, den Marcel auf der Suche nach der Wahrheit zu durchmessen hat« (ebd). Es ist dies, so möchte man ergänzen, auch der Raum des detektivischen Erzählens.
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theorie, sichtbar gemacht werden. Neu in den Blick kommt dann zum einen, dass jede der Disziplinen in Analogie zur Leiche, mit der das detektivische Erzählen gelegentlich im wörtlichen, immer aber im übertragenen Sinn einsetzt, ihre (in je unterschiedlichen Graden der Buchstäblichkeit zu verstehenden) eigenen ›Leichen‹ besitzt, von denen ihr wissenschaftliches Denken und Handeln seinen Ausgang nimmt. Das Trümmerfeld der Archäologie, das (fossile) Rudiment der Evolutionstheorie, die organische Läsion der Medizin, die seelische Beeinträchtigung der Psychoanalyse – sie alle gehören in denselben Kontext des Versehrten und Fragmentierten, der auch der Detektiverzählung zu Grunde liegt. Zum anderen hat es die über die Geschichtswissenschaft und ihren ›narrative turn‹ in den 1970er Jahren hergestellte Kontaktfläche zwischen einer Verzeitlichung des Wissens, wie sie im 19. Jahrhundert stattfindet, und einem an epistemischer Relevanz gewinnenden Paradigma der Narration ermöglicht, die genannten Disziplinen im Kontext der detektivischen Suche nach einer verlorenen Erzählung zu verorten. Dabei löst ein jeweils nur in Bruchstücken vorliegender epistemischer Zusammenhang eine wissenschaftliche Rekonstruktionsbewegung aus, die darauf abzielt, das in diesen Fragmenten verborgene Erkenntnisganze wiederherzustellen. Entscheidend ist, dass dieser epistemische Zusammenhang im 19. Jahrhundert einen narrativen Akzent erhält, insofern er stets in Form einer lückenhaften, einer versehrten Erzählung vorliegt, die es zu vervollständigen gilt: Der Archäologe arbeitet an der kulturgeschichtlichen Erzählung der von ihm zu Tage geförderten Relikte, die Medizin an der ärztlichen Diagnose als einer in Symptomen und Befunden verborgenen Krankheitserzählung, die Evolutionstheorie versucht aus Fossilien und Rudimenten eine kontinuierliche Artenerzählung zu extrapolieren, der Psychoanalytiker heilt die defiziente Symptomerzählung seines Patienten. In eben diesem Sinn hat Lawrence Frank das wissenschaftliche Projekt der historischen Disziplinen des 19. Jahrhunderts als eines der »narratological reconstructions«580 charakterisiert und als solches auch zur Detektiverzählung in Beziehung gesetzt. Die über ihre Epistemologie hergestellte Verwandtschaft der wissenschaftlichen Disziplinen zueinander und zur Detektiverzählung führt bei aller Unterschiedlichkeit ihrer Gegenstandsbereiche zu unübersehbaren Überblendungserscheinungen. Teils referieren die Wissenschaften zu Beglaubigungszwecken aufeinander, teils entlehnen sie der literarischen Gattung oder einander Bildfelder und Argumentationsmuster, etwa wenn Robert Koch von seinen »Ermittlungsarbeiten« spricht oder wenn Sigmund Freud seine Analysearbeit als »Aufklärung« versteht.581 Insbesondere die Psychoanalyse als jüngste der vier 580 Frank 2003, 4. 581 Vgl. Koch 1912, 428 (»Die Ätiologie der Tuberkulose«, 1882) sowie Freud 32003, 120 (»Der Wahn und die Träume in W. Jensens Gradiva«, 1907).
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besprochenen Disziplinen wirkt hier synthetisch. Augenfälliger noch als in den wissenschaftlichen Texten wird diese grundsätzliche Verwandtschaft an ihren Bildern. Für jede der genannten Disziplinen lässt sich nämlich eine Tendenz nachweisen, ihr Denken in Formen zu verbildlichen, die der epistemischen Figur des Stammbaums entlehnt sind. Namentlich betrifft das: das archäologische Schichtendiagramm, wie es beispielsweise schon Heinrich Schliemann seiner trojanischen Grabungspublikation Ilios (1881) voranstellt (Abb. 3); die in unterschiedlich elaborierter und illustrierter Form vorliegenden evolutionstheoretischen Abstammungsbäume, beginnend mit Darwins berühmter, mit den Worten ›I think‹ überschriebenen Skizze (Abb. 4 und 5); die Schaubilder, in denen Robert Koch seine experimentellen Reihen festhält (Abb. 6); Sigmund Freuds Versuch, die in der Analyse zu leistende Freilegung immer tiefer gelegener verdrängter Inhalte in einem Schema zu visualisieren (Abb. 7).582 Die diskursübergreifenden Verweisbewegungen und die Ubiquität stammbaumartiger Strukturen machen es noch einmal deutlich: In ihrer je eigenen Suche nach dem verlorenen Erzählganzen etablieren Archäologie, Evolutionstheorie, bakteriologische Medizin, Psychoanalyse und Detektiverzählung, etablieren wissenschaftliche Disziplinen und literarische Gattung einen auf die eigenen Erzählanfänge zurückführenden, einen aitiologischen, einen gemeinsamen Erzählraum.583 Dass ein solches aitiologisches Erzählen ursprünglich und im Kern an mythische Inhalte gebunden ist, ist ein Umstand, dem sich auch die sich im Rahmen dieses Narrativs entfaltenden Wissensfelder nicht ohne Weiteres entziehen
582 Die erwähnten Abbildungen befinden sich im dritten Teil der vorliegenden Arbeit. 583 Ähnliche Tendenzen sind, wiewohl sie im Zusammenhang dieser Arbeit weitgehend ausgespart geblieben ist, auch in der für das Thema naheliegenden Kriminologie beobachtbar. Ausgehend vor allem von den kriminalanthropologischen Arbeiten Cesare Lombrosos verbreitet sie sich als Wissenschaft mit empirischem Anspruch ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Form verschiedener Schulen: theoretisch ausgerichtet in Frankreich (Alexandre Lacassagne, Gabriel Tarde), Italien (Enrico Ferri, Raffaele Garofaro) und Deutschland, eher praktisch orientiert in England (Havelock Ellis). Dabei basiert insbesondere die von Lombroso vertretene Atavismustheorie auf genuin zeitlichen Prämissen, insofern sie den Verbrecher als eine Art »Unfall der Ontogenese« (Becker 2002, 305), einen Rückfall in eine überwundene Phase der Menschheitsentwicklung versteht. Als Konzept hängt der Atavismus damit entscheidend von »evolutionistischen Deutungsmustern« (ebd, 262) ab: Er setzt die Vorstellung einer in der Tiefenzeit stattfindenden Entwicklung voraus, die, so führt es Lombroso in seinem Aufsatz Atavism and Evolution (1895) aus, gelegentlich auch invers verlaufen könne. Auch die Kriminologie leistet damit ein Erzählen vom Anfang, eben dem des Verbrechers. Zur Geschichte der Kriminologie insgesamt vgl. Becker 2002. Zur Kriminologie in England vgl. Davie 2005, zur britischen Auseinandersetzung mit Lombroso insbesondere: 125–227. Zur Rezeption von Lombrosos Theorien in Deutschland vgl. Gadebusch 1995. Zur inhärenten Historizität der Theorien Lombrosos vgl. Thomas 1991, 246ff.
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Wissen: Das 19. Jahrhundert
können.584 So teilt Georg Gaffky in seiner am 11. Dezember 1910 anlässlich des Todes von Robert Koch gehaltenen Gedächtnisrede mit, die Verkörperung einer Krankheit in einem auch optisch darstellbaren Erreger habe noch Kochs skeptische Zeitgenossen an die mythische Gewohnheit der Personifizierung bestimmter Entitäten erinnert und sei damit dem Vorwurf unwissenschaftlicher Spekulation und fantastischer Naivität ausgesetzt gewesen.585 Sigmund Freud wiederum berichtet in einem Brief an seinen Freund Wilhelm Fließ, seinen Vortrag Zur Ätiologie der Hysterie habe der dem Publikum vorsitzende Psychiater Richard von Krafft-Ebing mit den Worten »Es klingt wie ein wissenschaftliches Märchen« kommentiert.586 Auch Darwins evolutionstheoretische Überlegungen zu einer grundsätzlichen Variabilität der Arten galten anfangs als hochspekulativ und nur eingeschränkt wissenschaftsfähig. Dass schließlich Heinrich Schliemanns methodischer Neuentwurf der Archäologie als Spatenwissenschaft als Beitrag eines Autodidakten und Laienforschers in Fachkreisen 584 Vgl. zu mythischen Strukturen in der Wissenschaft des 19. Jahrhunderts auch die von Lombroso entworfene Gründungserzählung der Kriminalanthropologie, demzufolge sich ihm die Idee einer atavistischen Natur des Verbrechers bei einer Autopsie am Schädel des verstorbenen Delinquenten Villella erschlossen habe. Lombroso flicht diese Erzählung immer wieder in seine Arbeiten ein, so bereits in L’Uomo delinquente (1887) sowie in den Aufsätzen Criminal Anthropology. Its Origin and Application (1895) und The Criminal (1910). Die Faktentreue, vielleicht sogar die Authentizität dieser Schilderungen lässt sich allerdings durchaus anzweifeln, vgl. Gibson 2006, 139: »It thus appears that Lombroso fabricated, or at least embellished, the story of Villella’s skull in order to fashion a dramatic founding event for his new discipline of criminal anthropology«. Gibson spricht etwas ausdrücklicher auch von »Lombroso’s perpetuation of the myth that criminal anthropology sprang fully formed from the skull of Villella« (ebd, meine Hervorhebung). Zu dieser Apostrophierung der Villella-Episode als Mythos passt, dass Lombroso die entsprechende Erzählung in Criminal Anthropology. Its Origin and Application selbst als aitiologische einführt, nämlich als Antwort auf die Frage »How did I reach this conclusion [to study the criminal instead of the crime]? How did I succeed in establishing it?« (Lombroso 2004, 65), woraufhin Lombroso die mit ›The History of the Discovery‹ übertitelte Erzählung einer Epiphanie anschließt. Für eine auch bis heute andauernde Übernahme dieses Mythologems vgl. Gadebusch 1995, die in ihrer Aufarbeitung der Biografie Lombrosos eben diese Episode als Geburtsstunde der Atavismustheorie wählt: »Die Biographen sind sich einig bei der Wiedergabe eines Ereignisses, das enorme Bedeutung für Lombroso bezüglich der Entstehung der Theorie des geborenen Verbrechers gehabt haben muß [es folgt die entsprechende Erzählung von Villellas Schädel]« (37). Die genannten Aufsätze sind in einer von David Horton und Katherine Rich besorgten Edition der Kurzpublikationen Lombrosos zugänglich. Vgl. Horton, David M. / Rich, Katherine E. (2004) (Hg.): The Criminal Anthropological Writings of Cesare Lombroso in the English Language Periodical Literature During the Late 19th and Early 20th Century. Lewiston u. a. (für Criminal Anthropology. Its Origin and Application vgl. 63–82). 585 Gaffky, Georg (1910/1912): Gedächtnisrede auf Robert Koch. In: Robert Koch. Gesammelte Werke. Hrsg. v. Julius Schwalbe. Leipzig, vii–xiv, hier: x. 586 Vgl. den Brief vom 26. April 1896. Zugänglich in: Masson, Jeffrey Moussaieff (1986) (Hg.): Sigmund Freud. Briefe an Wilhelm Fließ, 1887–1904. Frankfurt /Main, 193f., für das Zitat: 193.
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zunächst keinen leichten Stand hatte, ist ebenfalls bekannt. Freilich begleiten solche Vorwürfe der Unwissenschaftlichkeit, der Unprofessionalität oder der schlichten Fantasterei jede wissenschaftliche Entdeckung und Neuerung größeren Umfangs. Sie sind in gewisser Weise generisch. Im Fall der genannten Wissenschaften lassen sie sich allerdings, wenn auch nicht unbedingt im Sinne der gerade genannten Beispiele, so doch grundsätzlich nicht ganz von der Hand weisen. Deren Apostrophierung als szientifische Mythen ist, verzichtet man auf den pejorativen Grundtenor dieser Bezeichnung, nicht völlig unberechtigt. Denn immerhin eröffnet jede dieser Disziplinen Untersuchungshorizonte, in denen die Narration, in denen das Erzählen nicht nur als Präsentationsform (Fallgeschichte) oder als kommunikativ-diskursives Ereignis (die Kleinnarrative des medizinischen Alltags) auftritt, in denen es also nicht allein ein vielleicht mit Vorsicht einzusetzender, im Grunde aber akzeptierter Bestandteil des wissenschaftlichen Erkenntnisinstrumentariums ist.587 Vielmehr geht es hier zum einen um epistemische Kontexte, in denen Glaubwürdigkeit und Evidenz weniger durch beweisbare Fakten als durch erzählerische Kohärenz verbürgt werden. Es sind Kontexte, in denen die Narration zumindest gelegentlich für die Empirie eintritt, ja eintreten muss, weil ihre Gegenstände, wie es etwa für die immensen Zeiträume gilt, die Disziplinen wie die Archäologie oder die Evolutionsbiologie mit mehr oder minder fragmentarischem Material zu überspannen haben, empirisch schlicht nicht zu bewältigen sind. Zum anderen handelt es sich um Fälle, in denen nicht das erzählerische Glätten empirischer Lücken, sondern das Herstellen der Narration selbst erklärtes (Teil-)Ziel des wissenschaftlichen Denkens und Handelns ist. Das trifft beispielsweise auf die Psychoanalyse und ihr therapeutisches Erzählen zu, aber eben auch auf die Medizin, in der erst die vollständige diagnostische Erzählung eine aussichtsreiche Behandlung ermöglicht, oder auf die Bakteriologie und ihre den Erreger zweifelsfrei als solchen bestimmende ätiologische Krankheitserzählung. Nicht selten ist die vermeintliche Rückkehr an den gesuchten Anfang dabei lediglich ein Postulat, sie wird entweder völlig ausgespart oder ist Gegenstand stetiger Verschiebungen. Dem Vorbehalt einer jederzeit möglichen Falsifizierbarkeit unterliegt sie ohnehin.
587 Auch hier lässt sich mit Gibson 2005 noch einmal auf ein entsprechendes Phänomen in der Kriminologie verweisen. Gerade in den Arbeiten der italienischen Kriminalanthropologen sei, so Gibson, eine heterogene Form wissenschaftlichen Publizierens zu beobachten, die sich sowohl auf Fakten und Tabellen wie auch auf exemplarische Erzählungen stütze. Letztere träten immer dann als evidenzerzeugend ein, wenn Empirie und Statistik versagten, um eine Theorie hinreichend zu belegen. Damit bediene sich die Kriminalanthropologie einerseits eines szientifischen (›statistics‹) und andererseits eines populären (›stories‹) Beweismusters. Gibsons Fazit: »While failing as science, the texts of Italian criminal anthropology merit further study as narratives« (47).
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Wissen: Das 19. Jahrhundert
Was hier entsteht, sind die großen wissenschaftlichen Meta-Erzählungen, die ›grands récits‹, die Jean-François Lyotard in La Condition Postmoderne. Rapport sur le Savoir (1979) als Kennzeichen der Moderne ausgemacht hat. Lyotard unterscheidet dabei zwei Formen des Wissens: ein vormodernes narratives Wissen (›savoir narratif‹), das keiner Legitimation außer der inneren Schlüssigkeit, dem Befolgen der eigenen (Sprach-)Regeln, der erzählerischen Kohärenz bedarf, und ein modernes szientifisches Wissen (›savoir scientifique‹), das einen über sich selbst hinausgehenden, objektiven und universellen Wahrheitsanspruch formuliert. Um die eigene Legitimität zu gewährleisten, greift allerdings auch das szientifische Wissen, sosehr es sich sonst von seinem vormodernen Vorgänger abzusetzen bemüht ist, auf einen narrativen Mechanismus zurück, indem es sich auf Meta-Erzählungen als umfassende und auf Totalität und Sinngebung zielende Narrative bezieht. Es sind eben diese beglaubigenden Rahmenerzählungen, deren postmodernes Scheitern Lyotard postuliert und zugleich begrüßt. In der postindustriellen und von technischem Fortschritt geprägten Welt des 20. Jahrhunderts verlieren die großen Meta-Erzählungen, denen Lyotard eine Neigung zu repressivem Symmetriezwang und exkludierendem Totalitarismus vorwirft, an Macht und Gültigkeit: Lyotard spricht von einem wachsenden »Zerfall der großen Erzählungen«588. Ersetzt werden sie durch in ihrem Wirkradius, ihrer Dauer und ihrem Geltungsanspruch begrenzte kleine (Wissens-)Erzählungen, die keinen gemeinsamen Autoritätsraum bilden und untereinander weder kompatibel sind noch es sein müssen. Ihre Validität gewinnen diese postmodernen Mikronarrative aus ihrer Funktionalität, Anwendbarkeit und Effizienz für die Lösung eines je spezifischen Problems, kurz: durch Performativität. Legitimation wird damit erneut selbstreferentiell, sie wird situativ, pluralistisch, fragmentiert, ist stets neu auszuhandeln. Dass die Detektiverzählung über ihre Textstrategie, über ihr Erzählen also den großen wissenschaftlichen Meta-Erzählungen des 19. Jahrhunderts nahesteht, erklärt möglicherweise auch, warum sie trotz aller ihr nachgesagten Formelhaftigkeit eine bevorzugt eingesetzte literarische Gattung der Postmoderne, vielleicht sogar eines der postmodernen Genres par excellence ist. Denn der postmoderne Autor kann, indem er die narrativen Gefüge der Detektiverzählung in Frage stellt, sie kritisch wendet oder ganz auflöst, zugleich auch die Auflösung der mit ihr verbundenen Meta-Narrative erproben.589 Es lässt sich abschließend festhalten: Insofern die Wissenschaften des 19. Jahrhunderts, insofern Archäologie, Evolutionsbiologie, (bakteriologische) Medizin und Psychoanalyse eigene Ursprungsmythen, eigene Aitiologien, ein eigenes 588 Lyotard 2005, 54. 589 Vgl. Scaggs 2005, 139ff. (»Postmodernism and the Anti-Detective Novel«).
Zwischenfazit: Auf der Suche nach der verlorenen Erzählung
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Erzählen vom Anfang vorlegen, stehen sie in überaus enger Verbindung zur aitiologischen Erzählbewegung der Detektiverzählung. Bei ihrem auf diese Weise von zwei Seiten bearbeiteten Narrativ handelt es sich entsprechend um eine diskursübergreifende Schreibweise, die sowohl literarische als auch epistemische Valenz entfaltet. Dabei gelten für diese Schreibweise abhängig von ihrem diskursiven Ort je eigene Bedingungen: Einmal steht sie unter dem Fiktionsvorbehalt der Literatur, einmal unter dem Diktat der wissenschaftlichen Wahrheitsfähigkeit. Den so entstehenden detektivischen Erzählraum zwischen Literatur und Wissen(schaft) zumindest kursorisch zu durchmessen, ihn sich als Reihe ausgewählter Einzellektüren anzueignen, ist Aufgabe des dritten und letzten Teils der Arbeit, in dem sich nicht nur die literarische Gattung, sondern auch die Wissenschaften als Text präsentieren.
III. Texte
3
Texte: Der aitiologische Erzählraum
Einen Erzählraum anzunehmen, den Wissenschaften und literarische Gattung gleichermaßen etablieren und bespielen, bedeutet zunächst, dass Literarizität und Epistemizität Eigenschaften sind, die grundsätzlich jedem der sich in diesem Raum bewegenden Texte zukommen können. Ganz bewusst lässt daher die formale Anordnung der für eine Lektüre ausgewählten Texte die erwartbaren Diskursgrenzen außer Acht. Die Texte sind chronologisch nach den von ihnen bearbeiteten Wissensfeldern organisiert, nicht aber nach den diskursiven Regeln, denen sie jeweils folgen. Das ist allerdings mitnichten gleichbedeutend mit einer vollständigen Einebnung bestehender Unterschiede – und soll es auch nicht sein. Wissenschaftlicher und literarischer Text bleiben, auch wenn sie unter den Prämissen einer gleichermaßen epistemischen wie literarischen Valenz auf Augenhöhe konzipiert sind, ihrer diskursiven Herkunft nach unterscheidbare Erzählkörper: Die Fragen, die sich bei ihrer Lektüre stellen, sind komplementär, nicht aber identisch. Für einen Text wissenschaftlicher Provenienz kann es im Rahmen des detektivischen Narrativs beispielsweise darum gehen, inwiefern er auch jenseits populärwissenschaftlicher Kontexte einer Schreibweise zu folgen imstande ist, die zugleich eine literarische ist, bis zu welchem Grad er sich also als Detektiverzählung lesen lässt. Das beinhaltet dann etwa auch die Frage, welche Form die detektivische Schreibweise unter den ihre narrativen Möglichkeiten begrenzenden Anforderungen der wissenschaftlichen Wahrheitsfähigkeit annimmt. Entsprechend wäre für einen literarischen Text zu beobachten, wie Wissensinhalte unter den epistemologisch erschwerten Bedingungen des literarischen Fiktionsvorbehaltes hergestellt werden können. Es steht zu vermuten, dass die Literatur diese empfindliche Einschränkung ihrer Wissen(schaft)sfähigkeit in ganz eigener Weise zu kompensieren vermag. Denn gerade weil dem literarischen Text keine unbedingt wahrheitsfähigen Aussagen, keine unbestreitbare Evidenz erzeugenden argumentativen Muster abverlangt werden können, steht es ihm auch frei, die ihn konstituierende Schreibweise in ihren Widersprüchen und bis hin zu ihrem Scheitern auszuloten, sein eigenes Erzählen kritisch zu wenden, sich
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Texte: Der aitiologische Erzählraum
in letzter Konsequenz selbst aporetisch zu machen. Solche und ähnliche Wendungen vollziehen kann er, ohne seine grundsätzliche Funktionsfähigkeit in Frage zu stellen, eben nur als literarischer Text. Es ist dies eine Eigentümlichkeit, die Jürgen Barkhoff als »die widerhaarigte Natur des Poetisch-Literarischen« bezeichnet hat, als »seine Fähigkeit, Diskurse aufzurauhen und zu öffnen, ihre Widerhaken freizulegen, ihre Konstitutionsformen und Verfahren sichtbar zu machen«590. Die den nachfolgenden Gang durch den detektivischen Erzählraum begleitende Frage nach einer Literarizität des Wissens auf der einen und einer Epistemizität der Literatur auf der anderen Seite ist deshalb stets in zwei Richtungen zu denken: Wie reagieren epistemische Inhalte und die sie erzeugenden archäologischen, evolutionstheoretischen, bakteriologischen und psychoanalytischen Fachtexte auf die literarische Potenz ihrer aitiologischen Schreibweise? Und wie stellt die Detektiverzählung mit ihren Mitteln und auf Grundlage derselben Schreibweise die epistemische Valenz ihres literarischen Textkörpers her?
3.1
Schichten-Geschichten: Detektiverzählung und Archäologie
3.1.1 Wilkie Collins: The Law and the Lady (1875) Um das Geschehen in Wilkie Collins’ Roman The Law and the Lady zu umreißen, bedarf es nur weniger Worte: Als die junge Valeria Woodville kurz nach ihrem Hochzeitstag herausfindet, dass ihr Mann Eustace sie unter falschem Namen geheiratet hat und zudem eine drei Jahre zurückliegende Anklage wegen Mordes an seiner ersten Ehefrau Sara vor ihr verheimlicht, beschließt sie, fest von der Unschuld ihres Mannes überzeugt, dem ihre Ehe überschattenden Geheimnis dieses tragischen Todesfalls nachzugehen. Bei aller Kürze ist diese knappe Zusammenfassung durchaus instruktiv. Sie zeigt, dass sich Collins’ Roman einer sich im Raum des intimen Familienzirkels entfaltenden thematischen Melange aus Liebe, Geheimnis und Verbrechen bedient, die typisch für die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts überaus erfolgreiche ›sensation novel‹ ist. Das romanhaft Geheimnisvolle in das realistisch erzählte Alltägliche transponierend dominiert diese Gattung ab den 1860er Jahren den britischen Buchmarkt in der Grauzone zwischen Populär- und Hochliteratur geradezu. Ihre Publikation folgt in der Regel einem den Lektüregewohnheiten des 19. Jahrhunderts angepassten Muster: Zunächst werden die Texte als Fortsetzungserzählung in einer Zeitschrift veröffentlicht, im Anschluss erfolgt die Verlagspublikation als ›three-volume 590 Barkhoff 2004, 122. Vgl. auch Frank 2003, der eben diese Fähigkeit der Literatur zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen zur ›Victorian Detective Fiction‹ macht.
Schichten-Geschichten: Detektiverzählung und Archäologie
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novel‹ oder ›three-decker‹, der dann über kommerzielle Leihbibliotheken in Umlauf gebracht wird. Auch Collins’ Roman fügt sich diesem durchaus rigiden und mit zahlreichen Sachzwängen verbundenen Publikationsmodell, das eine gelegentlich bis auf die erwartete Seitenzahl festgelegte Textform und -struktur bedingt: 1875 erscheint The Law and the Lady als Erzählserie in der illustrierten Wochenschrift The Graphic und wird noch im selben Jahr als dreiteiliger Roman verlegt. Dabei gelingt es Collins allerdings, der starren und konventionsanfälligen Form des ›three-deckers‹ literarisch leichtfüßig zu begegnen, indem er dessen den Textkörper der Erzählung notwendig fragmentierende Form in ein absichtsvolles und kluges Spiel mit verschiedenen Gattungszugehörigkeiten überführt. So ist der erste Teil des Textes unübersehbar um klassische Gattungssignale der ›gothic novel‹ herum gruppiert. Die junge Heldin, die einem dunklen und potenziell bedrohlichen Familiengeheimnis gegenübersteht, trifft hier auf ein detailreich ausgeführtes Blaubart-Motiv, dessen zentrale Elemente – der sich beunruhigend betragende Ehemann mit dunkler Vergangenheit, der weiblich besetzte Neugierdiskurs und die daraus erwachsende Ungehorsamkeit der Ehefrau, die zu einer erschütternden Enthüllung führt – den gesamten Text in unterschiedlichen Modulationen durchziehen.591 Noch kurz bevor das von ihm gehütete Geheimnis in Form eines Prozessberichts ans Licht kommt, warnt Eustace seine Frau in schauerromanhaft drastischer Manier: »Valeria! if you ever discover what I am now keeping from your knowledge – from that moment you live a life of torture, your tranquillity is gone. Your days will be days of terror; your nights will be full of horrid dreams.«592
Tatsächlich lässt der anschließende Fund des fraglichen Dokuments und die damit verbundene Erkenntnis, dass ihr Ehemann des Mordes an seiner ersten Frau angeklagt war, Valeria zunächst die Sinne schwinden. Dieser heftige Schock hindert sie allerdings nicht daran, den Prozessbericht dennoch zu lesen und ihn, mit eigenen Anmerkungen versehen, auch an den Leser weiterzugeben. Der so als kommentiertes Transkript ausgeführte zweite Teil des Textes bewegt sich damit zum einen im Gattungsumfeld der etwa bis in die 1840er Jahre populären ›Newgate novels‹, meist melodramatisch aufbereiteter Kriminalfallgeschichten
591 Das gilt insbesondere für das Motiv der Neugier, das den Fortgang des Romans durch den systematisch herbeigeführten Fund des Trials und die anschließenden Ermittlungen Valerias ja überhaupt erst ermöglicht und insofern als eine Art erzählerischer Motor des Textes, gerade auch im Hinblick auf sein glückliches Ende, gelten kann. Eustaces als dringliche Bitte vorgetragene Annahme »If you could control your curiosity, […] we might live happily enough« erweist sich insofern als irrig. Zum Zitat: Collins 2008, 54. 592 Ebd.
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Texte: Der aitiologische Erzählraum
und Verbrecherbiografien.593 Zum anderen nimmt er Bezug auf die generische Tradition des Trials, indem er das von Valeria aufgespürte »plainly-bound volume«594 mit dem Titel »A Complete Report of the Trial of Eustace Macallan […] for the Alleged Poisoning of His Wife«595 ausdrücklich als einen solchen für die interessierte Öffentlichkeit bestimmten Gerichtsreport bezeichnet. In Eustaces Fall, so offenbart es die Lektüre seines Prozesses, waren die Geschworenen nun weder zu einem Schuld- noch zu einem Freispruch gelangt, sondern hatten sich für eine dem (für das Verfahren maßgeblichen) schottischen Rechtssystem zur Verfügung stehende dritte Urteilsmöglichkeit, namentlich das eine offene Schuldfrage implizierende ›Not Proven‹ entschieden. Der Öffentlichkeit gilt Eustace auf Grund dieses über ihn gesprochenen ›Scotch Verdicts‹ wenn auch nicht als verurteilter Mörder, so eben auch nicht als freigesprochener Unschuldiger. Aus diesem uneindeutigen juristischen Sachverhalt, der für ihren Mann und in der Folge auch für sie selbst sozial stigmatisierende Auswirkungen hat, ergibt sich für die unverzagte Valeria eine deutliche Handlungsanweisung: »clearing up the mystery of her [d.i. Sara’s] death«596. Dieses bemerkenswerte Vorhaben führt unmittelbar in den dritten Textteil, in dem sich Valeria, um ihre Ehe zu retten und den guten Namen ihres Mannes wiederherzustellen, auf das Terrain der Detektiverzählung begibt. Hier wird die immer wieder hervorgehobene Neugier der Protagonistin vom schauerliterarischen Risikofaktor zum genuin detektivischen Impuls, der schließlich zu einer überraschenden Lösung des Falls und zum wiederhergestellten Eheglück führt. Die augenfällige Komposition des Textes aus den aufeinanderfolgenden Gattungsschichten von ›gothic novel‹, ›Newgate‹- bzw. Trial-Literatur und Detektiverzählung597 – die jeweils übrigens auch je einem Band des Romans in seiner ursprünglichen Form als ›three-decker‹ recht genau entsprechen – birgt den Schlüssel zu einer erzählerischen Gesamtformation, die sich ohne Weiteres als archäologische verstehen lässt. Denn Collins’ The Law and the Lady ist in mehr als nur einer Hinsicht als Schichtentext adressierbar. Dabei geht es auf einer inhaltlichen Ebene zunächst um das dem Roman zu Grunde liegende Prinzip der Überlagerung von Gegenwart und Vergangenheit. 593 Zur ›Newgate novel‹ und ihrem Verhältnis zur ›sensation fiction‹ vgl. etwa Pykett 2003, Gillingham 2010 und Worthington 2010, 19f. 594 Collins 2008, 93. 595 Ebd, 94. 596 Ebd, 235. 597 Dabei ist die in The Law and the Lady angebotene Gattungsreihe zugleich eine genetische. Denn die ›sensation novel‹ bezieht wichtige Motive und Erzählstrategien aus der älteren Schauer- und ›Newgate‹-Literatur und dient ihrerseits wiederum als wichtiger Bezugspunkt für die etwas jüngere Detektiverzählung.
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Schon bevor Eustaces Geheimnis offenbar wird oder sich in seinen Umrissen auch nur andeutet, ist Valerias Beziehung zu ihrem Mann mit »disappointments and disenchantments of the past« und »[b]itter remembrances of the years that had gone«598 verschattet. Der Text erhält damit von Beginn an eine (dem Erzählprinzip der ›gothic novel‹ entlehnte) zeitliche Tiefenstruktur, die mit einer Atmosphäre des Bedrohlichen, des Unheilvollen verknüpft ist. Das gilt natürlich insbesondere für die beiden Ehen Eustaces, die vergangene mit Sara und die gegenwärtige mit Valeria, die sich mit der Offenlegung des Geheimnisses zunehmend übereinanderzulegen beginnen. Tatsächlich sorgt sich Eustace nach dem Fund des Trials nicht eigentlich um mögliche soziale Konsequenzen. Vielmehr fürchtet er sich vor einer ehelichen Gegenwart, die sich von der Vergangenheit nicht lösen kann, die in den trivialen Momenten des gemeinsamen Alltags nur Wiedergänger der fatalen Ereignisse von einst zu sehen vermag. Das Bild, das Eustace von seiner zukünftigen Ehe mit Valeria zeichnet, ist das einer zwischenmenschlichen Beziehung, die mit dem Glauben an ihre der Zeit enthobene Gültigkeit auch ihre Unschuld verloren hat, die in einem zersetzenden Sinn geschichtlich geworden ist. Biete er Valeria nach einem kleinen Streit eine Tasse Tee an, so imaginiert es Eustace mitleidslos, müsse diese nun unweigerlich daran denken, dass er auch seiner Frau Sara vor deren Tod eine mit Arsen versetzte Tasse Tee gereicht haben soll. Eine solche Durchdringung seines Ehelebens mit Verdachtsmomenten, die aus einer weder beeinfluss- noch zurücknehmbaren Vergangenheit in die über ihr liegende Gegenwart hineinwachsen und sie korrumpieren, hält zumindest Eustace für ein unausweichliches und durch eine sofortige Trennung zu vermeidendes Schicksal. Auf der formalen Ebene des Textes lässt sich zudem auch das bereits besprochene Prinzip der Gattungsschichtung weiter verfolgen. Als Valeria auf der Suche nach Beweisen für Eustaces Unschuld einem damaligen Freund ihres Mannes namens Miserrimus Dexter einen Besuch abstattet, überrascht dieser sie mit einer eigenen Täter-Theorie, als deren Beweis er eine Erzählung im zweifachen Gattungsgewand präsentiert: Sie beginnt als »dramatic narrative«, um dann – eine Binnenspiegelung der generischen Verfasstheit des Romans – im »autobiographical style«599 fortgesetzt zu werden. Bemerkenswert sind in diesem Zusammenhang auch die drei im Roman enthaltenen Fußnoten. Zwei dieser Fußnoten bilden dabei eine Art textkritischen Apparat, der die von Valerias Freunden unternommene philologische Arbeit an einem von Sara verfassten, aber nur in zerrissenem Zustand vorliegenden Brief transparent macht, der letztlich die Lösung des Falls bedeutet. Während diese beiden Fußnoten in ihrem unvermittelten Auftreten zwar widerständige Textelemente sind, das narrative Gefüge 598 Beide: Collins 2008, 22. 599 Ebd, 253 und 255.
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aber nicht grundsätzlich aussetzen, bricht die dritte Fußnote die Erzählfiktion des Textes. Eingeführt wird sie als »Note by the writer of the narrative«600 und das meint, einen anderen Schluss lässt ihr Inhalt nicht zu, nicht Valeria als eigentliche Erzählerin des Textes, sondern Collins als deren Autor. Gemein ist diesen drei Fußnoten, dass sie abrupt und ohne eigentliche Not in den Roman eingefügt sind. Weder enthalten sie entscheidende Informationen noch fügen sie sich als Bestandteile einer bestimmten Textinszenierung organisch in dessen bestehende Optik ein. Stattdessen fallen sie als Fremdkörper ins Auge, ihr Inhalt ist trivial, wäre ohne große Mühe in den Haupttext einzubinden oder auch völlig verzichtbar gewesen. Gerade in ihrer Verweigerung einer sich unmittelbar erschließenden Funktion, gerade in ihrer Widerständigkeit nehmen diese Fußnoten dem Textkörper aber seine innere Geschlossenheit und öffnen ihn auf in ihm verborgene Erzählebenen hin, ziehen zusätzliche narrative Schichten in ihn ein. Ergänzt wird diese stratigrafische Anlage des Romans durch seine (ebenfalls inhaltlich wie formal ausgeführte) Ausarbeitung als Fragmenttext. Das meint zum einen noch einmal die bruchstückhafte Zusammensetzung des Textes aus verschiedenen Gattungsbestandteilen, die ihr innertextliches Gegenstück in der bereits erwähnten Rekonstruktion von Saras Brief aus mühevoll wieder zusammengefügten Einzelteilen findet. Dieses Arrangement ist durchaus poetologisch zu verstehen, insofern der Text des Romans und der Brief als Text im Roman einander offensichtlich korrespondierend gearbeitet sind: Beide Schriftstücke bestehen aus Fragmenten, beide formen bei aller Disparatheit ihrer einzelnen Bestandteile einen kohärenten und schlüssigen Textkörper, beide sind sie von Frauen angefertigt. Denn Valeria ist, folgt man der im ersten Kapitel signalisierten und in regelmäßigen Abständen erneut hervorgehobenen Memoirenfiktion des Romans601, nicht nur die Erzählerin des vorliegenden Textes, sondern auch seine Verfasserin. Eben diese Erzählsituation legt der Text zum anderen aber erst mit einiger Verspätung offen. Weder gibt es eine einführende Wendung Valerias an den angenommenen Leser ihrer Aufzeichnungen noch eine vergleichbare Notiz eines möglichen fiktiven Herausgebers, es gibt keine Schreibszene, keine entsprechende Gestaltung des Textes etwa in der Form eines Tagebuchs, keinen eigentlichen Beginn der ›papers‹, an deren Niederschrift Valeria arbeitet. Stattdessen setzt der Text überaus unvermittelt ein, nämlich mitten in Valerias Trauzeremonie, ja eigentlich beinahe schon mitten im Satz, denn die ersten 600 Ebd, 403. Der Fußnotentext, der alle Figuren, Valeria nicht ausgenommen, in der dritten Person benennt, lautet: »Note by the writer of the narrative: – Look back for a further illustration of this point of view to the scene at Benjamin’s house (Chapter XXXV), where Dexter, in a moment of ungovernable agitation, betrays his own secret to Valeria«. 601 Vgl. für diese kurzen, aber regelmäßigen Verweise u. a. ebd, 100, 109, 123, 124 und 156.
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Worte des Romans sind die letzten Worte des »Marriage Service of the Church of England«602, die Valeria zu ehelichem Gehorsam gegenüber ihrem Ehemann anhalten. Erst ganz am Ende des ersten Kapitels tritt die Verfasstheit des Textes als aus der Feder der Ich-Erzählerin stammende Erinnerungsniederschrift hervor, wenn Valeria mitteilt »Oh, what recollections of that journey rise in me as I write! Let me dry my eyes, and shut up my paper for the day«603. Das im Modus der Nachträglichkeit ausgeführte narrative Setting von The Law and the Lady lässt den Eindruck entstehen, als habe der Leser, der ob des abrupten Einstiegs in das Textgeschehen ohnehin bereits das Gefühl haben muss, den eigentlichen Erzählanfang verpasst zu haben, Valerias Aufzeichnungen wahllos an einer beliebigen Stelle aufgeschlagen oder als seien diese in der vorliegenden Form gar nicht vollständig, sondern eben selbst lediglich bruchstückhaft, ein Fragment. Entscheidender noch als diese Beobachtung ist allerdings, dass ausnahmslos alle zentralen Szenen des Romans, darunter auch die mit einem Wechsel der Gattungstonalität verknüpften, buchstäblich mit Fragmenten markiert sind: So dienen »[s]ome fallen fragments of chalk«604 als Sitzgelegenheit, als Valeria bei einem Strandspaziergang unverhofft auf ihre Schwiegermutter trifft, und sind damit der Schauplatz, an dem sich zusammen mit dem sich hier bereits andeutenden Familiengeheimnis auch der Abgrund der ›gothic novel‹ zu öffnen beginnt; der spätere Fund des Trials steht in unmittelbarer Verbindung zu den »fragments of a broken vase«605; die letzte Erzählung Dexters, die den entscheidenden Hinweis zur Lösung des Falls enthält, ist Ausdruck seiner »faint and fragmentary recollections of a past time«606; Saras Brief als unumstößlicher Beweis für Eustaces Unschuld oder vielmehr die »fragments of the letter«607 befinden sich in einem Abfallhaufen, der, lange bevor er zum Zentrum der Ermittlungsarbeiten wird, für den aufmerksamen Leser durch seine hohe Fragmentdichte bereits als relevant gekennzeichnet ist: »I stopped, and looked at the dust and ashes, at the broken crockery and the old iron. Here, there was a torn hat; and there, some fragments of rotten old boots; and, scattered around, a small attendant litter of waste paper and frowsy rags.«608
Nun sind die Schicht und das Fragment, aus denen The Law and the Lady zentrale Elemente seines Erzählgefüges bezieht, ohne Frage und offensichtlich genuin archäologische Strukturen. Indem Collins die notwendig fragmentierte Publi602 603 604 605 606 607 608
Ebd, 7. Ebd, 12. Ebd, 27 (meine Hervorhebung). Ebd, 78 (meine Hervorhebung). Ebd, 344 (meine Hervorhebung). Ebd, 354 (meine Hervorhebung). Ebd, 288 (meine Hervorhebung).
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kationsform der ›sensation novel‹ in einen prinzipiell bruchstückhaften Gattungscharakter seines Textes überführt, codiert er den sich aus der dreibändigen Form ergebenden Spannungsbogen der Erzählung zugleich archäologisch um. Der Text wird zu einem Palimpsest, der mit Gattungserwartungen spielt, zu einem literararchäologischen Schichtenmodell, in dem sich Gattungsstrata und Erzählschichten übereinanderlegen und vom Leser nacheinander abgetragen werden müssen. Facettenreich archäologisch grundiert ist Collins’ Roman auch über sein als Schicht- und Fragmenttext gewonnenes Erzählmodell hinaus. Das beginnt bereits bei seinen Figuren, die beinahe ausnahmslos einem antiken Kontext eingeschrieben sind. Dabei folgt der Roman einer unübersehbaren Tendenz, seine Protagonisten mit (zuweilen sehr laut) sprechenden Namen auszustatten.609 So ist der Name der Erzählerin, Valeria, vom lateinischen ›valere‹ in der Bedeutung ›kräftig sein, gesund sein‹ abgeleitet und signalisiert die ihr eigene Unbeugsamkeit und Entschlossenheit. Miserrimus Dexters ebenfalls aus dem Lateinischen stammender Vorname (›ein äußerst Unglücklicher‹) bezieht sich, so teilt es Dexter selbst mit, auf »the deformity with which it was my misfortune to be born«610, nämlich auf seine von Geburt an fehlenden Beine. Der zu Unrecht des Mordes angeklagte und sich (vor wie nach ihrem Tod611) für den Ruf seiner ersten Ehefrau opfernde Eustace trägt den Namen des Märtyrers Eustachius, für den gleich zwei mögliche Etymologien zur Verfügung stehen: ›der Standfeste‹ (von griech. ›Eustathios‹) oder ›der Fruchtbare‹ (von griech. ›Eustachys‹).612 Auch 609 Darüber hinaus nimmt der Text die etymologische Öffnung bestimmter Namen auf ihre ursprüngliche Bedeutung hin ausdrücklich selbst vor. In seiner Zeugenaussage vor Gericht etwa verweist Miserrimus Dexter an Hand einiger Beispiele auf das Phänomen der Bedeutung von Namen insgesamt und ergänzt anschließend den Wortsinn seines eigenen ungewöhnlichen Vornamens: »I may inform the good people here that many names, still common among us, have their significations, and that mine is one of them. ›Alexander‹, for instance, means, in the Greek, ›a helper of men‹. ›David‹ means, in Hebrew, ›well-beloved‹. ›Francis‹ means, in German, ›free‹. My name, ›Miserrimus‹, means, in Latin, ›most unhappy‹« (173f). Wo der Text die Bedeutung eines Namens nicht direkt angibt, sorgt er zumindest für dessen deutliche Markierung. Über Helena Beaulys Zofe heißt es: »she has but one defect, a name I hate – Phoebe« (266); zu Valerias Namen bemerkt Dexter: »A Roman name […]. I like it. My own name has a Roman ring in it« (211). 610 Ebd, 174. 611 Eustace heiratet die hoffnungslos in ihn verliebte Sara nur, um einen ihren Ruf dauerhaft beschädigenden Skandal abzuwenden, denn Sara hatte sich ohne Eustaces Wissen in dessen Wohnung geschlichen und war dabei entdeckt worden. Nach der Aufklärung des Falls durch den von Sara kurz vor ihrem Tod verfassten Brief beschließt Eustace, das ihn zweifelsfrei entlastende Dokument dennoch unter Verschluss zu halten, um »mercifully and tenderly towards the memory of my wife« (412) zu handeln. 612 Ob man Eustace Macallan trotz seines schwachen Charakters für standhaft halten mag oder auf Grund seiner späteren Vaterschaft als fruchtbar (wörtlich: ›ährenreich‹) bezeichnen möchte, sei jedem Leser selbst überlassen. Unstrittig ist allerdings seine Zeichnung und Apostrophierung als Märtyrer: Miserrimus Dexter charakterisiert ihn so (»by the man – and
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Eustaces erste Liebe Helena Beauly, Gegenstand von Saras und später auch Valerias glühender Eifersucht, ähnelt in ihrem ansprechenden Äußeren wie in ihrer fatalen Wirkung auf Männer eben der mythischen Gestalt, deren Namen sie trägt. Dass die Zofe dieser neuen Schönen (Beauly!) Helena auf den ebenfalls der griechischen Mythologie entlehnten Namen Phoebe hört, erscheint nur folgerichtig. So unmittelbar wie Helena Beauly ist zwar nicht jede der genannten Figuren der griechisch-römischen Antike entwachsen. Eine mehr oder minder offensichtliche Verbindung besteht aber immer. Miserrimus Dexter etwa behauptet, sein Name habe »a Roman ring in it« und sein Körperbau »would have been Roman, if I had been born with legs«613. Eustaces historischer Namenspatron wiederum war vor seiner Taufe (vermutlich) ein im zweiten nachchristlichen Jahrhundert unter den Kaisern Titus, Trajan und Hadrian dienender ranghoher römischer Soldat mit dem Namen Placidus, dem seine spätere Rückkehr in den Dienst des Kaisers das Märtyrerschicksal einbrachte614. Am deutlichsten ist der antike Bezug freilich für Valeria als Protagonistin des Romans ausgearbeitet. Sie trägt nicht nur einen auf ihren Charakter hinweisenden Vornamen, sondern vor allem auch den Gentilnamen eines der ältesten und einflussreichsten Geschlechter des antiken Rom, der ›gens Valeria‹. Zudem ist sie auch über ihre äußere Erscheinung als der römischen Antike verbundene Figur markiert. Nach eigener Aussage entspricht Valeria nicht dem konventionellen englischen Schönheitsideal, hat weder blonde Haare noch einen rosigen Teint. Ein im ersten Kapitel erzählstrategisch klug platzierter Blick in den Spiegel zeigt sie als dunkelhaarig und dunkeläugig, mit einer leichten Adlernase und blassem Teint, unter anderem bekleidet mit einer »grey Cashmere tunic« und mit einer Frisur not by the martyr – who stands here«, 175), das Schlussplädoyer der Verteidigung stellt ihn ebenfalls als »the martyr in this case« (180) dar und auch Valeria spricht mitfühlend vom »martyrdom« (182 und 183) ihres Mannes. Johann Stadler deutet den Namen ›Eustachius‹ in den im zweiten Band seines Vollständigen Heiligen-Lexikons (Augsburg 1861) befindlichen zahlreichen Einträgen zu Heiligen und Märtyrern dieses Namens etymologisch als ›der Fruchtbare‹, führt aber für den verwandten Namen ›Eustasius‹ auch die zweite Etymologie an. Vgl. ebd, 128 und 130 – die Etymologie befindet sich jeweils im Lemma des ersten aufgeführten Namensträgers. 613 Collins 2008, 211. 614 Tatsächlich erscheint die Bedeutung des ursprünglichen Namens des Heiligen Eustachius (›der Sanfte‹) am ehesten geeignet, um als der Figur des Eustace entsprechende etymologische Grundlage zu dienen. Dabei ist Eustachius als christlicher Konvertit, der mit seinem Geburtsnamen in der Taufe auch sein altes Leben zwar hinter sich lassen will, es auf Dauer aber nicht kann, eine Schichtenfigur, die sowohl der zwischen Vergangenheit und Gegenwart gefangenen Existenz des Eustace Macallan als auch dem stratigrafischen Gesamtcharakter des Romans angemessen ist. Zur Biografie des als einer der 14 Nothelfer verehrten Eustachius vgl. ausführlich das zugehörige Lemma im zweiten Band des von Johann Stadler herausgegebenen Vollständigen Heiligen-Lexikons (Augsburg 1861, 128ff).
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»like the hair of the Venus de’ Medici«615. Die Verknüpfung Valerias mit der vermutlich auf ein griechisches Bronzeoriginal zurückgehenden römischen Marmorplastik der Venus Medici aus dem 2. Jahrhundert v. Chr. eröffnet gleich zu Anfang des Textes eine archäologische Dimension ihrer Figur, die in der Folge als eine Art epistemischer Subtext des gesamten Geschehens fungiert. Denn auch Eustaces Geheimnis wird, insofern es die Form einer verborgenen Tiefenstruktur annimmt, von Beginn an als archäologisches Problem codiert, dem Valeria auf den Grund kommen will und muss: »There is something under the surface in connexion with Mr. Woodville, or with his family […]«616 argwöhnt Valerias Onkel noch vor der Hochzeit, wobei sich das unter der Oberfläche lediglich Vermutete spätestens mit Valerias Entdeckung von Eustaces richtigem Namen zu einem »abyss in the shape of a family secret«617 öffnet. Auch Valeria selbst beweist eine solche eine Tiefendimension der Ereignisse annehmende archäologische Denkweise, wenn sie nach einem Besuch Eustaces bei einem Freund »some motive at the bottom of his visit to Major Fitz-David«618 unterstellt. Dabei erscheint das verborgene Geheimnis, und hier beginnt sich der archäologische Subtext des Romans detektivisch einzufärben, zunehmend als ein narratives Enigma. Es wird zu einer »untold story«619, einer unterdrückten Geschichte der Vergangenheit, die in ihrer Unerzähltheit die Gegenwart gefährdet. Als Valeria ihrerseits das Haus des Majors aufsucht, geschieht das folgerichtig, weil sie dort »some sort of clue to the mystery«620 vermutet. Auch der Major bestätigt, wenn auch im Modus des Distanz herstellenden Zitats, diesen terminologischen Einbruch des Detektivischen in die ›gothic novel‹, wenn er einräumt, »[t]he thing you mention, […] the clue (as you call it)«621 befinde sich in unmittelbarer Nähe – freilich nicht, ohne Valerias hartnäckige Erkundigungen nach dem ›clue‹ der Detektiverzählung noch ein letztes Mal schauerlitarisch zu verbrämen: »If you do by any chance suceed in laying your hand on the clue, remember this – the discovery which follows will be a terrible one«622. Mit dem sich an diese Warnung anschließenden Fund des Prozessberichts rückt die Suche nach einer verheimlichten, einer verborgenen Erzählung erneut und diesmal unmittelbar ins Zentrum des sich nun im generischen Raum der Trial-Literatur bewegenden Textinteresses. In der dem Leser vorliegenden, von Valeria bearbeiteten und kommentierten Version der Gerichtsverhandlung, die 615 616 617 618 619 620 621 622
Collins 2008, 11 und 10. Ebd, 20 (meine Hervorhebung). Ebd, 34 (meine Hervorhebung). Ebd, 49 (meine Hervorhebung). Ebd, 67. Ebd, 73. Ebd. Ebd, 75 (Hervorhebung im Text).
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sich um die Fragen ›Did the woman die poisoned?‹, ›Who poisoned her?‹ und ›What was his motive?‹ gruppiert, werden Zeugen gehört und befragt, ihre in Form von kleinen Erzählungen vorliegenden Aussagen wörtlich wiedergegeben, Briefe und Auszüge aus Eustaces Tagebuch verlesen. Dabei ist der Erfolg dieser hermeneutischen Arbeit, wiewohl Valeria die Ankläger ihres Mannes hier zwischenzeitlich für durchaus zuversichtlich hält (»The story for the prosecution was now a story told«623), im Ergebnis eher begrenzt. Denn die Geschichten, die im Lauf der Verhandlung als die gesuchte Erzählung angeboten werden, erweisen sich, auch so ist das den Prozess abschließende Urteil ›Not Proven‹ ja deutbar, als nicht vollständig überzeugungsfähig. Weder Anklage noch Verteidigung vermögen eine narrative Fassung der fraglichen Ereignisse vorzulegen, die die Beweisqualität des bloßen Indizienbeweises übersteigt. Es ist genau dieses Unvermögen, das die dritte und letzte Gattungsschicht des Textes, die detektivische Suche nach der auf Grund unstrittiger Beweise wahrheitsfähigen Erzählung des Todes von Sara Macallan, ermöglicht. Zwar dringt Valerias Fund des Trials also in die verborgene Tiefenschicht vor, die Eustaces Geheimnis bedeutet. Zugleich eröffnet der Prozess in seiner Unabgeschlossenheit, in seinem Scheitern aber selbst eine neue Erzähllücke: In ihm wird aus der absichtsvoll unerzählten, der verborgenen Geschichte der ›gothic novel‹ die verlorene Geschichte der Detektiverzählung. Damit liegt auch dem Trial als zweiter Gattungsschicht des Romans ein im Kern archäologisches Muster zu Grunde. Insofern das vermeintliche Lüften des einen Geheimnisses, der von Eustace verheimlichten Mordanklage, lediglich ein neues, das detektivische Geheimnis um die tatsächlichen Ereignisse der Vergangenheit, freilegt, ist der Text auch hier stratigrafisch und in der Art eines Palimpsests gearbeitet. Ein solches Arrangement aus detektivischen und archäologischen Motiven und Erzählmustern, wie es im ersten und zweiten Teil des Romans im Rahmen der dort jeweils eingesetzten Gattungskontexte nachweisbar ist, gilt insbesondere auch für die letzte generische Schicht des Textes. Sie ist zum einen selbst bereits dem detektivischen Erzählen verpflichtet, zum anderen tritt ihre archäologische Codierung besonders offen hervor. Dabei kommt es zunächst zu einer Art Fortschreibung des Trials aus Valerias Feder. In deren Verlauf operiert sie ganz im Stile eines Anklägers oder Verteidigers mit den im Prozess angebotenen Erzählungen der Zeugen und Dokumente, um die Indizienbeweise auf Helena Beauly zu münzen, die sie – auf Grund ihrer Eifersucht freilich nicht besonders unvoreingenommen – für die tatsächliche Giftmöderin hält: »It was, to my mind, the inevitable result of reading the evidence«624. Auch Miserrimus Dexter, den Valeria im Anschluss aufsucht, ist von der Richtigkeit ihres Verdachts überzeugt 623 Ebd, 167. 624 Ebd, 185.
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und erhärtet ihn durch eigene Beobachtungen, die er zum Tatzeitpunkt gemacht, im Prozess aber verschwiegen hatte. Allerdings wird Dexters wortreich vorgetragene und durchaus überzeugende Anklageerzählung gleich im folgenden Kapitel von einer weiteren »story«625, diesmal einer Helena Beauly vollständig entlastenden Version der entsprechenden Ereignisse, annulliert und in Valerias Gespräch mit dem Anwalt Mr. Playmore sogar umgekehrt: Dexter, der laut Mr. Playmore seinerseits unerwidert in Sara Macallan verliebt und damit Eustaces Rivale und größter Feind gewesen sei, tritt jetzt nicht mehr als Valerias Verbündeter im Kampf um die Unschuld ihres Mannes auf, sondern selbst als Verdächtiger. Ausnahmslos alle Erzählungen von und über die Beteiligten des Falls, die Valeria im Verlauf ihrer detektivischen Suche zusammenträgt, erweisen sich so als lediglich vorläufig wahrheitsfähig. Sie sind brüchig und unzuverlässig, möglicherweise sogar bewusste Täuschung und Lüge. An ihre Stelle tritt, wie in der Archäologie auch, die verlässlichere Erkenntnisse versprechende Erzählung der mit der Vergangenheit verbundenen Objekte selbst. Anstatt dass diese allerdings in archäologischer Manier zum Sprechen gebracht werden müssten, bringen sie sich in Collins’ Roman vielmehr selbst zur Sprache. Als Valeria beispielsweise den Ort des Geschehens, den seit dem Todesfall verlassenen schottischen Landsitz ihres Mannes, aufsucht, meint sie sie Stimme des Hauses zu vernehmen: »Go where I might, the lonely horror of the house had its still and awful voice for me: – ›I keep the secret of the Poison! I hide the mystery of the death!‹«626. Ein hinweisendes Eigenleben scheint auch der bereits erwähnte Abfallhaufen des Hauses als späterer Fundort des Briefes zu führen, denn er fällt Valeria trotz seiner abseitigen Lage und seines gewöhnlichen Aussehens ins Auge: »In one lost corner of the ground, an object, common enough elsewhere, attracted my attention here. The object was a dust-heap«627. Es ist genau dieser unscheinbare Abfallhaufen, der in seiner Zentralität für die letztliche Lösung des Falls zum Ankerpunkt der verbleibenden Textbewegung wird und dabei zugleich Detektivisches und Archäologisches aufs Engste ineinanderblendet. Wiewohl der Abfallhaufen in der eben beschriebenen Szene nur für den sorgfältigen Leser, noch nicht aber für die Figuren selbst als bedeutsam markiert ist, äußert sich der Valeria begleitende Mr. Playmore bereits hier in durchaus vorausschauender Weise. Nach einigen Worten über die grundsätzlichen Differenzen zwischen der englischen und der schottischen Kultur des Abfallshaufens kommt der Anwalt auf den konkreten Fall zu sprechen: »Here, the place is deserted, and the rubbish in consequence has not been disturbed. 625 Ebd, 266. 626 Ebd, 287. 627 Ebd, 288.
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Everything at Gleninch, Mrs. Eustace (the big dust-heap included), is waiting for the new mistress to set it to rights«628. Diese Erklärung, so banal sie zunächst erscheint, erweist sich im Fortgang des Romans als erstaunlich vielschichtig. Sie weist zum einen auf die von Valeria veranlasste spätere Untersuchung des Abfallhaufens voraus, die Ordnung in ihn wie in die Vergangenheit bringt (›to set to rights‹) und damit zugleich auch Eustace wieder ins Recht setzt (›to set right‹). Zum anderen signalisiert Mr. Playmores Bemerkung die für die Suche nach dem Brief unentbehrliche Voraussetzung, dass es sich bei dem fraglichen Abfallhaufen um einen unversehrten und daher für die Rekonstruktion der vergangenen Ereignisse geeigneten Zeitzeugen des Todesfalls handelt. Dass die Aussage des Anwalts zur Intaktheit des Fundzusammenhangs neben der detektivischen zugleich genuin archäologische Interessenslagen bedient, ist dabei kein Zufall. Denn die bis nach Amerika reichenden Nachforschungen, die Valeria nach ihrem Besuch in Gleninch anstellen lässt, versehen sie mit einer ihr per Telegramm zugehenden und an (archäologischer) Deutlichkeit nicht zu übertreffenden Handlungsanweisung: »Open the dust-heap at Gleninch«629. Um zur Lösung des Todesfalls zu gelangen, muss die im Abfallhaufen ruhende Vergangenheit in Form von Saras letztem Brief sorgfältig geborgen und ans Licht gebracht werden. Anders formuliert: Auf dem Abfallhaufen von Gleninch wird Valerias detektivisches Problem zu einem archäologischen Grabungsprojekt, zu einer veritablen (abfall-)archäologischen Kampagne. Die Aufgabe des Abtragens verschiedener Schichten fällt also angesichts der stratigrafischen Gattungsformation des Romans nicht nur dem Leser zu, sondern auf einer sich innerhalb des Textes entfaltenden Ebene auch seiner Erzählerin selbst. Dabei gruppiert sich Valerias in diesem Sinn archäologisch-aufdeckende Tätigkeit insbesondere um vier Entbergungsszenen, die ihrerseits eng mit der generischen Struktur des Textes verknüpft sind. Der erste dieser Entbergungsprozesse findet bereits auf der Hochzeitsreise des frischvermählten Paares statt. Als Valeria eines Morgens entgegen ihrer Gewohnheit sehr früh erwacht, beginnt sie in einem halb gedankenverlorenen Zustand und unbemerkt von Eustace das auf dem Toilettentisch offenstehende Reise-Necessaire ihres Mannes auszuräumen: »I took out the bottles and pots and brushes and combs, the knives and scissors in one compartment, the writing materials in another. […] I busily cleaned and dusted the bottles with my handkerchief as I took them out. Little by little I completely emptied the dressing-case.«630 628 Ebd. 629 Ebd, 364 (Hervorhebung im Original). 630 Ebd, 24.
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Dabei stößt Valeria auf ein im Boden des Necessaires verborgenes Geheimfach, dessen Inhalt sie ebenfalls systematisch entleert, um »under all, a photograph, face downwards, with writing on the back of it«631 zu entdecken. Die Eustace gewidmete Fotografie zeigt seine (die eheliche Verbindung mit Valeria vehement ablehnende) Mutter, »a person possessing unusual attractions – a person whom it would be a pleasure and a privilege to know«632, wie Valeria überrascht feststellt. So harmlos diese frühe Szene des Romans insgesamt auch anmutet, nimmt sie doch bereits Valerias spätere Aufklärung des Falls geschickt vorweg und platziert sie in einem archäologischen Rahmen. Denn das Necessaire (»dressing-case«), dem Valeria – mit beinahe schon archäologischem Gestus jedes einzelne der schichtenweise geborgenen Fundstücke von Schmutz und Staub reinigend – buchstäblich auf den Grund geht, in dessen tiefstgelegene Schicht sie vordringt, ist als in Objektform vorliegende Analogie zum zweiten ›case‹ des Textes, dem Fall der verstorbenen Sara Macallan, angelegt: Beide sind sie in je eigenem Sinn als ›Eustace’s case‹ adressierbar und beider nimmt sich Valeria in aller gebotenen Gründlichkeit an; »a false bottom to the case«633 verbirgt das Geheimfach des Necessaires und einen eben solchen gibt es auch in Saras vermeintlichem Mordfall, der sich als Suizid entpuppt; die im ›dressing-case‹ enthaltenen Schreibuntensilien (»writing materials«) deuten die entscheidende Rolle an, die der von Sara verfasste Brief für die Lösung ihres Falles einnimmt. Die kleine, aber dicht gearbeitete Entbergungsszene erfüllt indes noch eine weitere Funktion: Erst sie ermöglicht die Verortung des ersten Romanteils im generischen Umfeld der ›gothic novel‹. Würde Valeria Eustaces Mutter bei ihrem zufälligen Treffen am Strand nämlich nicht erkennen, würde ihr deren indifferente Reaktion auf ihren Ehenamen auch nicht als überaus eigentümlich auffallen, Valerias misstrauische Nachforschungen fänden nicht statt. Die gesamte schauerliterarische Erzähldynamik um den falschen Namen, das düstere Familiengeheimnis und das Blaubart-Motiv käme ohne den an sich unverfänglichen Fund der Fotografie gar nicht erst zur Entfaltung. Ohne Valerias archäologische Arbeit am ›dressing-case‹ ihres Mannes bliebe auch der Gattungskontext der ›gothic novel‹ verschüttet. Auch in die nächste Gattungsschicht des Textes, den Trial, führt ein entsprechender Entbergungsprozess. Er findet in einem Zimmer des Hauses von Major Fitz-David statt, das nach dessen eigener Aussage den entscheidenden Hinweis auf Eustaces Geheimnis enthält. ›The Search‹, wie das entsprechende Kapitel betitelt ist, ist systematisch und extrem genau, sie lässt kein Detail aus: Valeria durchsucht nicht nur die beiden Kartentische, nicht nur jede einzelne ihrer Schubladen, nicht nur die darin befindlichen Spielkarten-Päckchen, son631 Ebd. 632 Ebd, 25. 633 Ebd, 24.
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dern auch »card by card«634 jede einzelne Karte des einzigen geöffneten Päckchens. Es ist eine Suche, die sich vom Kleinen ins Kleinste und von der Oberfläche in die Tiefe bewegt, wobei jede dieser Bewegungen exakt und detailreich geschildert wird. Auf diese Weise entsteht das minutiöse Protokoll einer ebenso minutiösen Suche, das nicht von ungefähr an einen Grabungsbericht erinnert. Denn Valerias »examination«635, so der vom Text bevorzugte Begriff für ihre Suche, gruppiert sich von vornherein auch um (potenzielle oder tatsächliche) archäologische Objekte: je eine »magnificent china bowl«636 über jedem Kartentisch, in die Valeria selbstverständlich auch einen Blick wirft; »two fine bronze reproductions (reduced in size) of the Venus Milo and the Venus Callipyge« auf zwei »antique upright cabinets«637, von denen eines beschriftete Fossilien enthält, die als Beifang einer früheren Beteiligung des Majors im Minen-, also Grabungsgeschäft ausgewiesen sind. Dem zweiten Kabinett ist mehr Untersuchungsund damit auch Textzeit gewidmet. In ihm befindet sich »a variety of objects«638, die allesamt (und oft auch ausdrücklich) Reliktcharakter haben. Die oberste Schublade etwa ist mit Miniaturwerkzeug gefüllt, »relics, probably, of the far distant time when the Major was a boy«639. Die zweite Schublade birgt Geschenke der verflossenen Liebschaften des Majors, in der dritten und vierten Schublade befinden sich Geschäftsbücher und Rechnungen als »relics of past pecuniary transactions«640. Die nächste Schublade offenbart ein offenbar unsortiertes Durcheinander verschiedenster Objekte, unter denen Valeria aber unter anderem ein den antiken Fragmentkontext ins Gedächtnis rufender »torn map of Rome«641 ins Auge fällt. Es ist schließlich die sechste und letzte Schublade als tiefstgelegene Schicht dieses streng stratigrafisch aufgearbeiteten Fundkontextes, deren ungewöhnlicher Inhalt sich, »at once a surprise and a disappointment«, als bedeutsam erweisen wird: »It literally contained nothing but the fragments of a broken vase«642. Diese (zum Kernbereich archäologischer Tätigkeit gehörenden) Fragmente werden durch einen verräterischen Auftritt des Majors ausdrücklich als »clue« markiert und dabei auch mit dem ebenfalls im Raum befindlichen Bücherschrank in Verbindung gebracht, auf dem sich, in einer Reihe aus »vases, candelabra, and statuettes, in pairs«643, das noch intakte Gegenstück der Vase be634 635 636 637 638 639 640 641 642 643
Ebd, 77. Ebd, 78 und 85. Ebd, 76. Beide: Ebd, 77 (meine Hervorhebung). Ebd, 78. Ebd (meine Hervorhebungen). Ebd (meine Hervorhebung). Ebd. Beide: Ebd. Ebd, 79 und 81.
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findet. Valerias eingehende Untersuchung der Vase(n) ist dabei dem Analyseprozess der Archäologie nachempfunden. Sie prüft die Vase Scherbe für Scherbe, bedenkt ihren Wert, ihr Alter, ihre Machart sowie ihren (offenbar teilweise antikisierenden) Bildinhalt, unter anderem »a nymph, or a goddess, or perhaps a portrait of some celebrated person« und »the head of a man, also treated in the classical style«644. Nun ist Valeria allerdings, so professionell ihr Vorgehen auch wirken mag, eben keine Archäologin. Ihren Bemühungen fehlt die fachliche Expertise, weswegen sie auch zu keinem nennenswerten Ergebnis führen: »The remains left those serious questions unanswered – the remains told me absolutely nothing«645. Obwohl Valeria also archäologisch scheitert und dieses Scheitern auch freimütig einräumt, bleibt sie dennoch davon überzeugt, dass der archäologische Tatbestand der zerbrochenen Vase für ihr Vorhaben bedeutsam ist: »And yet, if my own observation of the Major was to be trusted, the way to the clue of which I was in search, lay – directly or indirectly – through the broken vase«646. Zunächst einmal wird aber der bereits erwähnte Bücherschrank, »a handsome piece of furniture in ancient carved oak«647, zum Schauplatz der Suche. Auch hier wendet sich Valeria nach einiger strategischer Überlegung den unteren Bauteilen des Möbels, namentlich den »cupboards under the bookcase«648 zu. Und auch hier wird sie erst in der tiefsten Schicht, im oberen Abteil des untersten dieser Schränke, fündig: In einem »gorgeously-bound book«649, das eine Art materiale Dokumentation der Eroberungen des Majors in Form datierter und kommentierter Haarlocken enthält – darunter übrigens auch eine »lady […] descended from the ancient Romans«650 – ist, wie auch schon in der ersten Entbergungsszene, eine Fotografie verborgen, die den bevorstehenden Wechsel des Textes in den nächsten Gattungskontext vorbereitet. Sie zeigt Eustace mit seiner (Valeria noch unbekannten) ersten Frau und weist mittels ihrer Widmung die zwei Vasen als beider Geschenk an den Major aus. Bestätigt sich hier Valerias frühe Vermutung, dass Vase und Bücherschrank als »twin landmarks on the way that led to discovery«651 fungieren, löst sich dieses bislang nur angedeutete Fundgefüge aus (archäologisch markierten) Raumobjekten und dem gesuchten Geheimnis kurz darauf mit dem plötzlichen Auftritt der aktuellen Liebschaft des Majors, einer ambitionierten Prima Donna in spe. Sie hatte vor kurzem, so lässt sie Valeria 644 645 646 647 648 649 650 651
Ebd, 81. Ebd, 82. Ebd, 82. Ebd, 80 (meine Hervorhebung). Ebd, 84. Ebd, 86. Ebd, 87. Ebd, 82.
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ebenso arg- wie distanzlos wissen, in einem Anfall von Eifersucht mit einem Buch nach der Vase geworfen und sie so zerstört. Das fragliche Buch sei dabei »in the space between the bookcase and the wall«652 gefallen, von wo es nun in einer recht brachialen Nachbildung des archäologischen Bergungsprozesses, den entsprechend auch die in Gestalt wie Charakter wenig delikate Prima Donna selbst vornimmt, mit einer Kaminzange hervorgeholt wird. Das so geborgene Fundstück, der publizierte Prozessbericht, entpuppt sich zugleich als das gesuchte Familiengeheimnis und als die nächste Gattungsschicht des Textes. Im Trial selbst kommt es zunächst zu einer kriminalistischen Reprise der ersten beiden in unterschiedlicher Deutlichkeit als archäologische Grabungsprozesse figurierten Entbergungsszenen. So wird nach Saras Tod eine gerichtliche Durchsuchung ihres Zimmers in Gleninch angeordnet, für die der Text den bereits aus Valerias Suche nach dem Trial bekannten Terminus der ›examination‹ übernimmt.653 Die Überblendung von ermittelnder und ausgrabender Tätigkeit in den beiden analog gearbeiteten Durchsuchungsszenen ist dabei bereits im Haus des Majors erkennbar, denn Valerias Vorgehen firmiert hier seinerseits auch kriminalistisch als »investigations«654. In Gleninch beschlagnahmen die Beamten laut Prozessbericht, diesmal ein unverkennbarer Verweis auf die erste Entbergungsszene des Romans, bei ihrer Arbeit unter anderem »writing materials« und das »dressing case«655 des Opfers. Und wie schon im Fall von Eustaces ›dressing-case‹ befindet sich auch in Saras Necessaire (wenn auch nicht im Boden, sondern im Deckel) ein »private repository«656, das einen zunächst rätselhaften Gegenstand enthält: ein leeres Fläschchen, in dem sich mangels entsprechender Beweise das ursprüngliche Behältnis des für Saras Tod verantwortlichen Arsens lediglich vermuten lässt. An Valerias Lektüre und Wiedergabe des Trial schließt sich dann der dritte Entbergungsprozess des Romans an, der dem Text seine letzte, die detektivische Gattungswendung verleiht. Er vollzieht sich, hierin durchaus eine Ausnahmeerscheinung, nicht an einem oder mehreren Objekten, sondern an einer Person, namentlich an Miserrimus Dexter, dem Valeria sein mögliches Wissen um die Umstände des Todesfalls entlocken möchte: »As long as I lived, moved, and thought, my one purpose now was to make Miserrimus Dexter confide me to his ideas on the subject of Mrs. Eustace Macallan’s death«657. Erschwert wird Valerias 652 Ebd, 93. 653 Das gilt in Nominal- (›examination‹) wie in Verbalform (›examine‹). Vgl. hierzu u. a. ebd, 143f. Beide Begriffe werden im Prozess übrigens auch als Standardvokabular für die Zeugenbefragung verwendet. 654 Ebd, 77. 655 Beide: Ebd, 143. 656 Ebd, 177. 657 Ebd, 226.
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Vorhaben dabei durch den labilen geistigen Zustand Dexters, dessen offenkundige Unberechenbarkeit, vom Text mit dem in dieser Hinsicht klinisch nicht unbelasteten Begriff der »eccentricity«658 versehen, einen latenten Wahnsinn verbirgt. Und so bemüht sich Valeria um die Offenlegung des Innenlebens einer Figur, die im Rahmen des ihr zugehörigen Exzentrik- und Wahnsinnsdiskurses als hochkomplexe Schichtenexistenz angelegt ist. Hierzu gehört etwa Dexters körperlicher Defekt, der ihn, insofern er ihn an den Rollstuhl fesselt, bereits äußerlich zu einem Mischwesen, zu einem »new Centaur, half man, half chair«659 macht, und der ihm, insofern er ihm ohne dieses Hilfsmittel nur eine recht befremdliche Fortbewegungsart erlaubt, darüber hinaus ein ausgesprochen kreatürliches, ein geradezu atavistisches Gepräge verleiht: »For one moment we saw a head and body in the air, absolutely deprived of the lower limbs. The moment after, the terrible creature touched the floor as lightly as a monkey, on his hands. The grotesque horror of the scene culminated in his hopping away, on his hands, at a prodigious speed, until he reached the fireplace in the long room. There he crouched over the dying embers […].«660
Vor allem ist Dexter aber, die das spätere kriminalanthropologische Konzept des evolutionär rückschrittigen Verbrechers durchaus vorwegnehmende Szene deutet es ja bereits an, als ein in unterschiedlichen historischen Räumen beheimateter Geist ausgeführt. Das betrifft unter anderem: sein »long, low, and ancient house«, das er inmitten noch nicht vollständig erschlossenen Baulandes als trotzige Mahnung an das Vergangene, als »a standing monument of the picturesque and beautiful«661 konserviert; seine bewusst auf unterschiedlich weit zurückliegende Stufen der Vergangenheit rekurrierenden Kleidungsstücke (»A hundred years ago, a gentleman in pink silk was a gentleman properly dressed. Fifteen hundred years ago, the patricians of the classic times wore bracelets exactly like mine«662) und Requisiten, namentlich die »ancient harp of the pictured Muses and the legendary Welsh Bards«663, auf der Dexter Stegreifkompositionen entwirft; sein beinahe obsessives Verweilen im Historischen, im unwiederbringlich Einstigen, das sich in Dexters wahnhafter Verkörperung historischer Persönlichkeiten (»I re-animate in myself the spirits of the departed
658 Ebd, 281. Zur zeitgenössischen Verbindung der Exzentrik mit dem Konzept der psychischen Abnormität vgl. den von Jenny Bourne Taylor besorgten Anmerkungsapparat der zu Grunde liegenden Ausgabe von The Law and the Lady, hier: 419f. 659 Ebd, 206. 660 Ebd, 207. 661 Ebd, 202 und 203. 662 Ebd, 232. 663 Ebd, 219.
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great«664) ebenso äußert wie in der Tatsache, dass er Valeria für eine Art Wiedergängerin der toten Sara Macallan hält (ganz ähnlich formuliert: »You raised her from the dead, when you fetched the chair and the screen«665). Dass die auf stratigrafische Effekte zielende Figurenanlage des »many-sided Miserrimus Dexter«666, wie Valeria ihn einmal nennt, zum Pathologischen neigt, ist von Beginn an unverkennbar: Unmittelbar nach ihrer ersten Begegnung beschreibt Valeria den einstigen Freund ihres Mannes, den späteren Umschlag von kreativer Schaffenskraft in Wahnsinn bereits andeutend, als »poet, composer, and madman«667. Bei anderer Gelegenheit denkt sie ihr Gegenüber im Stile eines literarisch verfrühten Dr. Jekyll offen dissoziativ, nämlich als »Mr. Dexter of the morning« und »Mr. Dexter of the night«668. Entsprechend muss Valeria Miserrimus Dexter durch alle Schichten seiner erratischen Persönlichkeit und Verhaltensmuster folgen, muss unversehrt und selbst bei klarem Verstand bleibend durch sie hindurch navigieren, um das in ihm ruhende Wissen um die Vergangenheit, »looking under the surface«669 und damit durchaus archäologisch, freizulegen: »No! not until I had made one more effort to lay the conscience of Miserrimus Dexter bare to my view! not until I had once again renewed the struggle, and brought the truth that vindicated the husband and the father to the light of day.«670
Sie ähnelt hierin übrigens neben dem Archäologen, der sich einem komplexen stratigrafischen Fundkontext nur überaus vorsichtig und sorgsam nähert, durchaus auch ex ante dem psychoanalytischen Therapeuten. Insofern nämlich Collins’ Roman sein der Archäologie entlehntes Paradigma des Ausgrabens und Entbergens auch mit dem menschlichen Geist (und seiner Pathologie) verknüpft, nimmt er die schichtweise Offenlegung psychischer Prozesse und Strukturen in der Psychoanalyse vorweg, die ja vor allem Freud selbst ebenfalls als archäologische Tätigkeit figuriert. Die archäologisch-analytische Entbergung Miserrimus Dexters, um die sich Valeria auch gegen die Widerstände und Bedenken ihrer Sache wohlgesonnener Freunde bemüht, ist nach mehreren Gesprächen schließlich erfolgreich. Bei ihrem letzten Treffen mit Dexter, zu dem sich Valeria vorsorglich von einem heimlich stenografierenden Zeugen begleiten lässt, liefert dieser den entscheidenden Hinweis auf die tatsächlichen Ereignisse in Form einer von ihm erfun664 665 666 667 668 669 670
Ebd, 204. Ebd, 235. Ebd, 326. Ebd, 220. Beide: Ebd, 232. Ebd, 279. Ebd, 314 (meine Hervorhebungen).
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denen Geschichte »in dramatic form« mit dem Titel »The Story of a Mistress and a Maid«671. Hoffnungsvoll kommentiert Valeria: »The subject was full of snares for the narrator. At any moment, in the excitement of speaking, Dexters memory of the true events might show itself reflected in the circumstances of the fiction«672. Und tatsächlich scheint, als Dexters immer wirrer werdende Geschichte ihren Erzählzusammenhang gänzlich zu verlieren beginnt, in ihr eine andere Erzählung, die der bislang verborgenen Vergangenheit zu Tage zu treten: »Was he unconsciously pursuing his faint and fragmentary recollections of past times at Gleninch, under the delusion that he was going on with the story?«673. Es ist eine Art unfreiwillige ›talking cure‹ avant la lettre, die der Text hier im durch den freien Redefluss ausgelösten Heraufdrängen einer im Unbewussten (»unconsciously«) verschütteten Erinnerung an die Erzähloberfläche in Szene setzt. Freilich sind es aber keine therapeutischen Absichten, die Valeria mit ihrem Vorgehen verfolgt, sondern detektivische. Ihr Gespräch mit Dexter ist kein Heilungsversuch, sondern ein Verhör, das folgerichtig auch nicht seinem Sprecher nutzt, sondern seiner Zuhörerin: Während Miserrimus Dexter noch im Sprechen endgültig dem Wahnsinn verfällt, führt die ihm mit archäologischanalytischen Mitteln entrissene Spur Valeria zurück nach Gleninch, genauer: zurück zum sich bis dahin nur an der Erzählperipherie bewegenden Abfallhaufen des Landsitzes. An diesem entfaltet sich schließlich der vierte und letzte Entbergungsprozess des Textes, der das detektivische Rätsel um den Tod Sara Macallans in größtmöglicher Deutlichkeit als archäologische Kampagne akzentuiert. Ins Zentrum des Aufklärungsinteresses rückt der Abfallhaufen, weil in ihm die Überreste eines in Miserrimus Dexters verräterischer Erzählung auftauchenden Briefes vermutet werden, der, so Valerias Hoffnung, Licht in den Todesfall zu bringen vermag. Mr. Playmore, der die Arbeiten an Valerias Stelle ausführt und beaufsichtigt, liefert einen Umriss der Ausgangslage in Gleninch, der die Unumgänglichkeit einer archäologischen Herangehensweise an das Problem unmittelbar augenfällig macht: »If the telegram means anything […], it means that the fragments of the torn letter have been cast into the housemaid’s bucket (along with the dust, the ashes, and the rest of the litter in the room), and have been emptied on the dust-heap at Gleninch. Since this was done, the accumulated refuse collected from the periodical cleansings of the house, during a term of nearly three years – including, of course, the ashes from the fire kept burning, for the greater part of the year, in the library and picture gallery – have been
671 Ebd, 338 und 337f. 672 Ebd, 337. 673 Ebd, 344.
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poured on the heap, and have buried the precious morsels of paper deeper and deeper, day by day.«674
Um an die mögliche Lösung des Falls zu gelangen, muss der unter Abfällen begrabene (»buried«) Brief wieder freigelegt, muss er – das Kerngeschäft der Archäologie – ausgegraben werden. Den Zweifeln des Anwalts an den Erfolgssaussichten dieses diffizilen Grabungsvorhabens – »Even if we have a fair chance of finding these fragments, what hope can we feel, at this distance of time, of recovering them with the writing in a state of preservation?«675 – begegnet Valeria mit dem Verweis auf eine andere, für die Fachgeschichte der Archäologie geradezu ikonische Asche-Grabung. Auf einer Italienreise mit ihrem Vater hatte sie nämlich die in Neapel ausgestellten Fundstücke aus dem verschütteten Pompeji besichtigt, darunter auch ein Stück Papier. Dessen erstaunlicher Erhaltungszustand lässt Valeria nun auch in eigener Sache zuversichtlich sein: »If these discoveries had been made after a lapse of sixteen centuries, under a layer of dust and ashes on a large scale, surely we might hope to meet with similar cases of preservation, after a lapse of three or four years only, under a layer of dust and ashes on a small scale?«676
Die Entbergung des auf diese Weise zum Mikro-Pompeji erklärten Abfallhaufens, der die Lösung des Falls, die verlorene Erzählung des Todes von Sara Macallan auch ganz buchstäblich in Form des fraglichen Briefes enthält, wird denn auch hochprofessionell und methodisch streng nach archäologischen Prinzipien vorgenommen. Bei der Schicht für Schicht erfolgenden Abtragung der Ausgrabungsstätte wird mit Spaten und Sieb gearbeitet, ein eigens zu diesem Zweck aufgestelltes Zelt schützt die Fundstelle vor Wind und Regen. Als am vierten Tag der Arbeiten tatsächlich die ersten Papierreste gefunden werden, geht man, um keines der zu Tage tretenden Fragmente, die in Fundreihenfolge in »flat cardboard boxes prepared for the purpose«677 verstaut werden, zu übersehen oder zu beschädigen, zur mühevollen Handarbeit über. Bei ihrem weiteren stratigrafischen Vorgehen (»The next light layers of rubbish were carefully removed«) stoßen die Teilnehmer dieser »[p]rivate excavations«678, wie die Arbeiten in der Lokalpresse ausdrücklich genannt werden, schließlich auf »the grand discovery of the day«679: einen über seine Fundvergesellschaftung mit anderen Objekten aus der fraglichen Zeit eindeutig als Reste des Briefs identifizierbaren Klumpen aus Papierfragmenten. Nun wird ein für seinen fachkundigen Umgang mit Papier 674 675 676 677 678 679
Ebd, 364. Ebd, 365. Ebd, 366. Ebd, 379. Ebd, 397. Beide: Ebd.
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bekannter Chemiker hinzugezogen, der die einzelnen Fragmente säuberlich voneinander trennt, bevor Valerias Freunde sie unter einigen Schwierigkeiten wieder zu ihrer ursprünglichen Form zusammensetzen können. Dabei ist es übrigens gerade der letzte Teil des von Sara Macallan selbst verfassten und an ihren Ehemann Eustace adressierten Briefs, der – »accidentally«680, wie es im Text heißt – zuerst rekonstruiert werden kann. Zufällig ist an diesem Arrangement freilich nichts. Es reproduziert zum einen die dem detektivischen Erzählen gattungseigene Figur des verlorenen Erzählanfangs – und zwar in eben dem Dokument, das das vorliegende detektivische Rätsel, indem es als dessen Anfang eintritt, letztlich zur Auflösung bringt. Darüber hinaus bildet es zum anderen die Verfasstheit des Romans selbst nach, der ja ebenfalls als eine Erzählung ohne eigentlichen Anfang vorliegt. Denn so wie das aus der Hand der ersten Mrs. Macallan stammende Schriftstück zunächst keinen Anfang hat, fehlt er auch den abrupt einsetzenden Aufzeichnungen der zweiten Mrs. Macallan, mithin dem Text selbst. In dieser poetologischen Doppelfunktion des Briefs bilden Gattungsschichtung und detektivisches Erzählen eine auch gattungsgenetisch relevante Konstellation: Auf dem stratigrafischen Grund von Wilkie Collins’ eigentlich typischer ›sensation novel‹ liegt durch und in Form des Briefs nicht nur die überraschende Lösung des Todesfalls, sondern im zunächst anfangslosen Zustand dieses Dokuments auch der Keim einer narrativen Struktur, deren kanonische Ausformung zum Zeitpunkt der Veröffentlichung von The Law and the Lady noch bevorsteht und die, der Status des Briefs als archäologisches Artefakt macht es augenfällig, in der Rekonstruktion einer fragmentierten Geschichte archäologischen Schreibweisen folgt. Jede der für sich bereits mit archäologischen Motiven, Mustern und Strukturen durchsetzten Gattungsschichten des Romans, so lässt sich noch einmal zusammenfassen, wird der stratigrafischen Gesamtanlage des Textes entsprechend über erzählstrategisch platzierte Entbergungsprozesse erreicht, die je zur Entdeckung entscheidender Dokumente und Erzählungen führen. Dabei geben sich diese Entbergungsprozesse, je tiefer im Text sie stattfinden, zunehmend als ausdrücklich archäologische Mechanismen zu erkennen. Vom gedankenverlorenen Ausräumen des Reise-Necessaires über die absichtsvoll und sorgfältig als Grabungsprozess figurierte Durchsuchung (»examination«) des Zimmers bis zur methodisch professionellen Ausgrabung (»excavation«) in Gleninch tritt zusammen mit dem detektivischen Gattungskern des Romans auch seine archäologische Codierung vollumfänglich hervor. Wiewohl Wilkie Collins’ The Law and the Lady seine Textgestalt also auf verschiedenen Ebenen entlang archäologischer Muster konstituiert und damit die 680 Ebd, 385.
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Archäologie als potenziell poetogene Struktur ausweist, nimmt der Roman zugleich auch eine relativierende Haltung zu seiner eigenen literarischen Poetik des archäologischen Entbergens ein. So ist bereits Valeria, obschon als von ihrem Mann Getäuschte zweifelsohne die zentrale Figur aller im Text gezeigten Entbergungsbemühungen, in dieser Hinsicht mehrdimensional gezeichnet. Auch sie hat nämlich Geheimnisse, auch sie bedient sich mitunter einer Strategie des Verschweigens und Vorenthaltens, auch sie agiert im Verborgenen – oft übrigens gerade dann, wenn es um das Offenlegen nur andeutungsweise sichtbarer Zusammenhänge geht. Als Valeria gegen Eustaces ausdrücklichen Willen dessen Vergangenheit aufdeckt und später Nachforschungen zu seinem Fall anstellt, geschieht das als ein überwiegend im Geheimen stattfindender Akt des Ungehorsams und des Eigensinns. Auch sonst weiß Valeria durchaus zu täuschen: Einen Besuch bei ihrem langjährigen rechtlichen Berater Benjamin verbirgt sie vor Eustace hinter dem Vorwand, Einkäufe tätigen zu wollen; kurz darauf hintergeht sie auch ihren väterlichen Freund, indem sie gegen dessen Rat und eine entsprechende Vereinbarung Major FitzDavids Haus aufsucht. Dass sie sich für diesen Besuch, um einen vorteilhaften Eindruck zu hinterlassen, auch kosmetischer Hilfsmittel bedient, empfindet Valeria selbst als »odious deceit«681. Nichtsdestotrotz zieht sie es später in Betracht, »to carefully conceal my identity – and then to present myself, in the character of a harmless stranger, to Mrs. Beauly«682, um die von ihr gehasste Konkurrentin des vermeintlichen Mordes zu überführen. Dass das Verbergen ebenso zu Collins’ willensstarker Protagonistin gehört wie das Entbergen, dass Verdecken und Aufdecken, Begraben und Ausgraben auch über ihre Figur hinaus eng miteinander verbunden sind, lässt sich zudem an textstrukturell entscheidender Stelle, nämlich an den bereits besprochenen Entbergungsszenen ablesen. Hier wird die entsprechende Freilegung, die archäologische Aufbereitung des betreffenden Fundkontextes jeweils durch eine anschließende Umkehrung des Prozesses vollständig oder mindestens teilweise annulliert. Als Valeria beispielsweise beim heimlichen Erkunden des ›dressing-case‹ ihren Ehemann erwachen hört, macht sie ihr Ausräumen umgehend rückgängig, indem sie den ursprünglichen Zustand des Necessaires gewissenhaft und in der Fundreihenfolge rückwärts vorgehend wiederherstellt: »I carefully put back all the objects in the dressing-case (beginning with the photograph) exactly as I had found them«683. Ähnlich, wenn auch längst nicht so gesammelt, verfährt Valeria in der zweiten Entbergungsszene mit der Eustace und Sara zeigenden Fotografie, die bei ihrer Suche im Haus des Majors zu Tage tritt. Um ihrer sich regenden Eifersucht 681 Ebd, 57. 682 Ebd, 188. 683 Ebd, 25.
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Herr zu werden, begräbt sie das verdächtige Bild regelrecht unter einer ganzen Reihe von Hindernissen: »I picked up the detestable photograph from the floor, and put it back in the book. I hastily closed the cupboard door, fetched the library letter, and set it against the bookcase«684. Ob als Geheimhaltungsstrategie oder als Barrikade: Das erneute Verbergen, das Re-Arrangement bereits eröffneter Fundkontexte erfolgt in den entsprechenden Szenen nicht weniger sorgfältig, nicht weniger energisch, nicht weniger absichtsvoll als das ihm vorangehende Entbergen. Dass der Roman damit den archäologischen Vorgang des Entbergens ausgerechnet an den Schaltstellen seines stratigrafischen Erzählgefüges mit einem Fragezeichen versieht, ist Teil eines subtilen Gestus der (Selbst-)Destabilisierung, der performativen Widerständigkeit. Es ist das Hoheitsrecht des literarischen Textes, der auch und gerade das ihm selbst zu Grunde liegende poetologische Prinzip als defizitär markieren kann. Zum einen ist nämlich das, was als Ergebnis des Entbergungsprozesses ans Licht kommt, ist der jeweilige Fund bei weitem nicht immer erwünscht. Schon die von ihr zu Tage geförderte Fotografie bezeichnet Valeria, hierin nicht gerade im Rausch der Entdeckung, ja als »detestable«685, der Fund des Trial löst bei ihr gar eine schockhafte Ohnmacht aus. Und auch für den aus dem Abfallhaufen geborgenen Brief, über den schon seine Ausgräber zwischenzeitlich bemerken »The more we make out of the letter, the more inclined we are […] to throw it back into the dust-heap, in mercy to the memory of the unhappy writer«686, findet Collins’ Protagonistin überdeutliche Worte: »I cursed the day which had disinterred the fragments of it from their foul tomb«687. Zum zweiten, und auch hierüber lässt der Text keinen Zweifel, garantiert ein sauberes und hinsichtlich der Entbergungsmethodik einwandfreies Vorgehen noch längst nicht den gewünschten Funderfolg. An einer archäologisch informierten Beurteilung der Vasen-Fragmente im Haus des Majors etwa scheitert Valeria. Zudem sind es eben auch nicht ihre ausführlich geschilderten archäologischen Bemühungen, die zur tatsächlichen Entdeckung des Trial führen. Erst ein unerwarteter deus ex machina in Gestalt der resoluten und jeder methodischen Finesse entbehrenden Miss Hoighty sorgt hier letztlich für das gesuchte Grabungsergebnis. Selbst im Falle seines Erfolges aber ist das archäologische Vorgehen zum dritten als ein höchst prekäres Unternehmen ausgewiesen. Immerhin ist der geistige Zusammenbruch, den Miserrimus Dexter als Schauplatz des dritten Entbergungsprozesses nach der nicht ganz freiwilligen Preisgabe seines Wissens erleidet, auch als ein Einsturz zu verstehen, als ein, wie die behandelnden Ärzte versichern, unumkehrbares Ver684 685 686 687
Ebd, 90. Ebd. Ebd, 385. Ebd, 396.
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schütten des gesamten Grabungszusammenhangs, das drastische, weil letztlich letale Folgen hat. Und so hat in Collins’ Roman auch nicht, wie vielleicht erwartbar gewesen wäre, das Aufdecken das letzte Wort, sondern das bewusste Ruhen-Lassen. Statt den Brief seiner ersten Ehefrau der Öffentlichkeit zu übergeben und sich damit ein entlastendes Urteil zu sichern, entscheidet sich Eustace mit Valerias Zustimmung dafür, das Dokument ungeöffnet seinem Sohn zu übergeben: »With a heavy sigh, he lays the child’s hand back again on the sealed letter; and, by that one little action, says (as if in words) to his son: – ›I leave it to You!‹«688. Was Wilkie Collins’ archäologischen Entbergungsroman The Law and the Lady beschließt, ist damit gerade kein enthüllendes Ans-Licht-Bringen, sondern ein die archäologische Poetik des Romans aufhebendes und unter Siegel und Kinderhand auch ganz wörtlich zu nehmendes Begraben.
3.1.2 Heinrich Schliemann: Ilios (1881) Heinrich Schliemanns 1881 unter dem Titel Ilios. Stadt und Land der Trojaner erschienene Veröffentlichung seiner Grabungserlebnisse und -ergebnisse auf dem Hügel Hissarlik ist ein Text, der offenkundig nicht für sich allein stehen will. Denn wiewohl auf dem Titelblatt unübersehbar »Dr. Heinrich Schliemann« als Verfasser der Publikation angegeben ist, sichert diese sich doch im Stile eines Sammelbandes den (vor allem, aber nicht ausschließlich paratextuellen) Beistand zahlreicher anderer Texte und Autoren. Der eigentlichen Vorstellung und Interpretation der Grabungsfunde vorangestellt sind dabei: eine Widmung und ein knappes Vorwort von Schliemann selbst, eine von Rudolf Virchow stammende Vorrede, zwei schematische Abbildungen in Form eines Schichtdiagramms und einer Maßtabelle sowie eine gesondert hervorgehobene Einleitung, die ihrerseits noch einmal einen sich über mehrere Seiten erstreckenden Auszug aus einem Vortrag Virchows enthält. Den Abschluss der Publikation bildet ein umfänglicher Anhang mit trojabezogenen Beiträgen verschiedener Gastautoren. Unter diesen Paratexten, die die wissenschaftlich ambitionierte Publikation des Laienforschers Schliemann mit einem auf akademischen Autoritätseffekten basierenden epistemischen Sicherheitsnetz versehen, ist zunächst die Vorrede des auch prähistorisch versierten Mediziners Virchow von Interesse. Als erster das Maß einer einzelnen Druckseite übersteigender Textteil steht sie ganz im Zeichen der differenzierten Apologetik einer facharchäologisch überaus umstrittenen, wenn nicht gar als einfältig belächelten Konzeption archäologischen Arbeitens: der spezifisch Schliemannschen Verknüpfung von wissenschaftlicher 688 Ebd, 413.
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Grabung und antiker Literatur. Denn Schliemann, diesen Topos der Fundgeschichte Trojas setzt Virchow in seiner Darstellung als allgemein bekannt voraus, beginnt seine Grabungen auf dem Berg Hissarlik nicht einfach aufs Geratewohl, sondern sozusagen mit dem Homer in der Hand. Ausgehend von den topografischen Beschreibungen und den handlungslogisch sich ergebenden Lagevoraussetzungen des in der Ilias beschriebenen Troja verwirft Schliemann bei seiner ersten Reise auf die Troas die bis dahin gemeinhin als gültig angenommene Verortung der Stadt in der Nähe des türkischen Dorfes Bunarbaschi. Stattdessen vermutet er, folgt man Schliemanns eigener diesbezüglicher Schilderung in der Einleitung des Ilios-Bandes, in Übereinstimmung mit der bereits kursierenden »Troja-Hissarlik-Theorie«689 die Überreste Trojas sofort auf eben diesem Hügel, der »durch seine imposante Lage und seine natürlichen Befestigungen meine Aufmerksamkeit in Anspruch nahm«690. Zwei Dinge sind an dieser Darstellung, für wie faktentreu man sie insgesamt auch halten mag691, hervorzuheben. Zum einen zeigt sie die Entdeckung Trojas auf dem Hügel Hissarlik weder als einen glücklichen Zufallsfund noch als das Ergebnis einer ergebnisoffenen oder gar blinden Probegrabung, sondern als das Resultat einer gezielten und wohlüberlegten archäologischen Suche. Troja wird nicht einfach gefunden, es wird – so eine beliebte Formulierung Schliemanns, auf die noch zurückzukommen sein wird – aufgedeckt. Als planmäßige Freilegung eines im Vorhinein in seiner Bedeutung festgelegten und an eben dieser Stelle vermuteten Fundzusammenhangs gibt sich das Schliemannsche Grabungsvorhaben als archäologische Kampagne im ursprünglichen Wortsinn zu erkennen: als ein mitunter rücksichtslos (und durchaus auch in Erwartung des einen oder anderen materiell wertvollen Fundes) geführter Feldzug zur Eröffnung historischen oder zumindest als historisch angenommenen Wissens. Die Unterscheidung ist durchaus relevant. Denn zum anderen ist das so umrissene geschichtliche Interesse, das Schliemanns Grabungen zu Grunde liegt, angesichts der von ihm verwendeten Quellen ja auch ein literarisches. Schliemann gräbt nicht nur nach Geschichte, sondern eben auch nach und auf Basis einer bestimmten Geschichte, nicht nur nach dem historischen, sondern vor allem auch nach dem epischen Troja. Es ist genau diese vorausgesetzte strenge Identität der beiden Städte, der im literarischen Text und der in der Erde befindlichen, die Virchow in seiner Vorrede zu der resümierenden Bemerkung veranlasst, bei Schliemanns Grabungen habe »die Phantasie den Spaten geleitet«692.
689 Schliemann 1881, 24 (»Einleitung«). 690 Ebd. 691 Zu Schliemanns Stilisierung seiner Person wie auch seiner Grabungen vgl. u. a. Samida 2012, 17–29 (»Der Träumer«) mit entsprechenden Literaturhinweisen sowie Jung / Samida 2018. 692 Ebd, x (»Vorrede«).
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Dass Schliemann die literarische Topografie des Homerischen Epos für bare geschichtliche Münze nimmt, dass er der epischen Schilderung eine grundsätzliche Historizität unterstellt, dass er den literarischen Text in solchem Maß für realitätshaltig hält, dass er ihn beinahe wie eine Landkarte liest, dass sein archäologisches Vorgehen mithin also ausdrücklich epistemischen Vorannahmen folgt, die einem antiken epischen Text entlehnt und in diesem Sinne genuin literarisch sind, vermag denn auch der Wissenschaftler Virchow nur ex post, nämlich im Lichte des zu Tage geförderten Ergebnisses zu würdigen: »Es mag sein, dass seine Voraussetzungen zu kühn, ja willkürlich waren, dass das bezaubernde Gemälde der unsterblichen Dichtung seine Phantasie zu sehr bestrickte, aber dieser Fehler des Gemüths, wenn man ihn so nennen darf, enthielt doch auch das Geheimniss seines Erfolges.«693
Interessant ist dabei, dass Virchow auch die vorliegende Publikation, dass er auch Schliemanns Ilios-Band für eine solche, diesmal freilich in jeder Hinsicht gelungene und auch aus wissenschaftlicher Sicht nicht zu bemängelnde Verknüpfung von Epistemischem und Literarischem hält. Sie leiste einerseits »eine wahrheitsgetreue Schilderung der Funde«, knüpfe andererseits aber auch »überall die Fäden, die es der Phantasie gestatten, die handelnden Personen in bestimmte Beziehungen zu wirklichen Dingen zu setzen«694. Diese Einschätzung ist Teil der offenkundigen Bemühungen Virchows, die mehrjährigen Grabungen Schliemanns auf der Troas als einen professionalisierenden rite de passage zur Wissenschaftlichkeit kenntlich zu machen. Auf dem Hügel Hissarlik gelangt, so Virchows nicht unausgewogene Darstellung, Schliemanns zunächst unbedarfte Liebe zur altgriechischen Literatur zu wissenschaftlicher Reife, durchlaufen seine Methoden, seine Funde und deren Deutungen, sein gesamter Zugang zum archäologischen Arbeiten erfolgreich die Feuerprobe einer kritischen akademischen Öffentlichkeit. Dass insbesondere der Ilios-Band in seiner Konzeption und Anlage dieser Entwicklung Rechnung trägt, ihr gewissermaßen Textform verleiht, ist Virchow die abschließenden Worte seiner Vorrede wert: »Jetzt ist aus dem Schatzgräber ein gelehrter Mann geworden, der seine Erfahrungen in langem und ernstem Studium mit den Aufzeichnungen der Historiker und Geographen, mit den sagenhaften Ueberlieferungen der Dichter und Mythologen verglichen hat. Möge das Werk, das er vollendet hat, wie es ihm zu dauerndem Ruhme gereichen wird, so auch vielen Tausenden eine Quelle des Genusses und der Belehrung werden!«695
Es ist dies ein Befund, der sich auch literaturwissenschaftlich bestätigen lässt. Christiane Zintzen etwa, die sich den Schriften Heinrich Schliemanns im Rahmen 693 Ebd, ix. 694 Beide: Ebd, x. 695 Ebd, xix.
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ihrer Überlegungen zum Verhältnis von Literatur und Archäologie im 19. Jahrhundert ausdrücklich als literarischen Texten nähert, hat herausgearbeitet, dass die fachlichen Publikationen Schliemanns zwar »eine rein literarische Lektüre« zuließen, in der »die romaneske Selbstinszenierung eines Helden« mit einem gewissen »Arsenal rekurrenter narrativer Muster, stereotyper Sprachgesten und neuralgischer Topoi«696 erkennbar werde. Schliemann sei insofern ein Musterfall der »Verzahnung von archäologischer Wissenschaft und literarischen Darstellungsmodi«697. Zintzen stellt dabei allerdings auch heraus, dass Schliemann in seinen Publikationen mit fortgesetzter archäologischer Tätigkeit als Ausgräber zusehends hinter seine Funde zurücktrete. Statt seiner eigenen Person rückten die archäologischen Objekte in den Vordergrund des jeweiligen Textinteresses. Der Umschlagpunkt hin zu einer solchen Depersonalisierung und Verobjektivierung sei dabei eben mit dem 1881 erschienenen Ilios-Band erreicht, in dem die bis dahin von Schliemann bevorzugte Veröffentlichungsform des Reiseberichts (etwa Ithaka, der Peleponnes und Troja von 1869, Orchomenos und Reise in der Troas, beide 1881) oder des Forschungstagebuchs (u. a. Trojanische Altherthümer. Bericht über die Ausgrabungen in Troja von 1874 und das 1877 erschienene Mykenä) durch eine zunehmend um Wissenschaftlichkeit bemühte Schreibweise abgelöst werde. Die fachprofessionelle Objekt- und Methodenpräsentation erzeuge dabei, so Zintzen, eben die »Objektivitäts- und Wissenschaftseffekte«698, die Schliemann für eine auch akademische Akzeptanz seiner Ergebnisse benötige. Das Wissen(schaft)sverständnis, das Schliemann selbst als ihm eigene archäologische Forschungspose entwirft und das sich, von gewogenen Kollegen wie Rudolf Virchow in seiner epistemischen Qualität überwiegend als gültig und wissenschaftskonform akzeptiert, bis in Schliemanns Fachtexte hinein literaturwissenschaftlich nachweisen lässt, ist also, insofern es in verschiedenster Weise auf literarische Muster, Texte und Formen zurückgreift, epistemischen wie literarischen Mechanismen gleichermaßen verpflichtet.699 Anders formuliert: Der sich nach der hierin übereinstimmenden Einschätzung Virchows wie Zint-
696 Alle: Zintzen 1998, 258. Für das vollständige Schliemann gewidmete Kapitel vgl. ebd, 257– 340 (»Literatur und Archäologie, Archäologie und Literatur: Das Phänomen Heinrich Schliemann«). 697 Ebd, 259. 698 Ebd, 269 (für den gesamten Zusammenhang: 267–70). 699 Vor diesem Hintergrund erhält auch Virchows emphatische Würdigung der Schliemannschen Ausgrabungen auf der Troas durchaus einen Doppelsinn: »Mit dieser Ausgrabung ist für die Arbeiten der Archäologen ein ganz neuer Schauplatz eröffnet, gleichsam eine Welt für sich. Hier beginnt ein ganz neues Wissen«. Vgl. Schliemann 1881, xvi (»Vorrede«) (meine Hervorhebung).
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zens im Ilios-Band formierende Heinrich Schliemann der Wissenschaft ist ohne den frühen Heinrich Schliemann der Literatur nicht denkbar. Folgerichtig ist auch und gerade in diesem Text bei aller ihm attestierten (tatsächlichen oder lediglich inszenierten) Wissenschaftlichkeit das personale Element, ist das literarisch informierte Schreiben weder gänzlich abwesend noch marginalisiert. Freilich ist es von den mit den Funden und Grabungsergebnissen in aller akademischen Strenge verfahrenden Kapiteln des Bandes sorgfältig getrennt. Es entfaltet sich paratextuell gebunden in einem gesonderten, dennoch aber zentralen Textteil: der als ›Autobiographie des Verfassers und Geschichte seiner Arbeiten in Troja‹ eingeführten Einleitung des Bandes. Im Rahmen einer ausführlichen und konventionell angelegten Lebensbeschreibung, wie sie angesichts des Titels ja auch erwartbar ist, dient sie der Stilisierung der Troja-Kampagne als eines bis in die früheste Kindheit Schliemanns datierenden Lebensprojektes. Beinahe schicksalhaft vorgezeichnet erscheint dabei der spätere archäologische Erfolg des Knaben, dessen sich auf die Vergangenheit richtenden unbändigen Forscher- und Ausgräbergeist der Text als von Anfang an hochentwickelt zu zeigen bemüht ist. Hierfür schildert Schliemann sein Aufwachsen in einer als glücklich erinnerten Topografie der Kindheit, die von Überlieferungen und Spuren des Vergangenen durchzogen ist. Unterschiedslos geht es da um Historisches, Mythisches, Legendenhaftes, dem Aberglauben Entsprungenes und Pseudohistorisches, es geht um Gespenster- und Spuksagen, um Kirchenbücher und Ahnenporträts, um (Hünen-)Gräber, die der Knabe selbstverständlich bereits alle öffnen möchte, um Geheimgänge in mittelalterlichen Schlössern, die reiche Schätze verbergen, und natürlich die von Erzählungen des altertumsinteressierten Vaters ausgelöste Faszination für das Homerische Troja. Dabei ist diese kindliche Begeisterung für die (in der Regel unter der Erde verborgene) Vergangenheit trotz ihrer offenkundigen Funktion, die spätere Berufung zum Archäologen als geradezu unausweichlich zu zeigen, mitnichten im wissenschaftlichen Sinn interesselos. Sie ist, wiewohl Schliemann den Begriff ausdrücklich verwendet700, weder archäologisch noch historisch. Stets bezieht sie sich nämlich auf das Geheimnisvolle, das Übernatürliche, vor allem aber auf die damit verbundenen sagenhaften Schätze. Das Interesse des jungen Schliemann, wie er in der Einleitung entworfen wird, ist am Objekt selbst orientiert, nicht aber an einem über dessen Materialität hinausgehenden epistemischen Mehrwert. Was aus der autobiografischen Schilderung hervortritt, ist damit weniger der Ar-
700 Seine mit einer Freundin unternommenen Expeditionen und Nachforschungen bezeichnet Schliemann nicht ohne Ironie als »unsere wichtigen archäologischen Studien«. Vgl. ebd, 6 (»Einleitung«).
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chäologe Schliemann als der bereits von Virchow als solcher identifizierte »Schatzgräber«701.
Exkurs: Theodor Storms Aquis submersus (1876), Nathanael Hawthornes The Scarlet Letter (1850) An dieser Stelle lohnt ein kurzer Seitenblick auf zwei literarische Texte, die, auch wenn sie nicht über einen offenen intertextuellen Verweis mit Schliemanns IliosBand verbunden sind, dort anders als etwa die Ilias Homers weder erwähnt noch besprochen werden, dem wissenschaftlichen Text doch offenkundig und über den bloßen Zufall hinaus nahestehen. Einer dieser Texte ist Theodor Storms 1876 erschienene Chroniknovelle Aquis submersus. Bereits deren namenloser Ich-Erzähler, Freund eines Pfarrerssohns, in dessen Elternhaus, dem alten Pfarrhaus eines Ortes im »Holstenlande«702, er in seiner Kindheit wie ein zweiter Sohn ein- und ausgeht, erinnert an den in einem Pfarrhaus in »Mecklenburg-Schwerin«703 aufgewachsenen Pfarrerssohn Schliemann. Nicht nur den norddeutsch-klerikalen Abstammungskontext teilen die literarische Figur und der Archäologe indes. Auch im Wesen scheinen sie einander nachgebildet. Denn ganz wie der junge Schliemann unterliegt auch Storms Erzähler einer ähnlichen kindlichen Faszination für die morbiden Rätsel der Vergangenheit. Allerdings sind es nicht Spuk-Erscheinungen und Schätze, die sein Interesse erregen, sondern der Innenraum der »alten und ungewöhnlich stattlichen Dorfkirche«704, der ihn mit »manchen wunderbaren Dingen, aus denen eine längst vergangene Zeit […] aufblickte«705, lockt. Insbesondere das mit einer rätselhaften Inschrift (»C.P.A.S.«706) versehene Bild eines toten Knaben und seines Vaters, eines vormaligen Pfarrers des Ortes, regt den Erzähler zu Vermutungen über die damit verbundenen Ereignisse, namentlich die möglichen Todesumstände des Jungen, an. Nicht offensichtlich Legendenhaftes ist es also, das in Storms Novelle den auf das längst Vergangene gerichteten Forscherimpuls auslöst, sondern tatsächlich stattgefundene (Lokal-)Geschichte. Der Erzähler des literarischen Textes ist hierin, so ließe sich durchaus formulieren, viel mehr ernsthafter kindlicher Historiker als es der um wissenschaftliche Glaubwürdigkeit bemühte Schliemann für sein junges, auf verborgene Schätze ausgehendes Ich geltend machen kann. 701 702 703 704 705 706
Ebd, xix (»Vorrede«). Storm 2003, 11. Schliemann 1881, 1 (»Einleitung«). Storm 2003, 5. Ebd. Ebd, 8.
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Die lebensgeschichtliche Schilderung des Ich-Erzählers in Aquis submersus fungiert freilich, auch hierin Schliemanns wissenschaftlichem Text verwandt, lediglich als hinweisendes Erzählvorspiel einer späteren Entdeckung. Sie ist, wie die Einleitung des Ilios-Bandes auch, im Kern eine Fundgeschichte. Dabei stößt der mittlerweile erwachsene Ich-Erzähler in einer für die Erzählweise der Novelle typischen schicksalhaft-zufälligen Wendung auf »einige stark vergilbte Papierblätter mit sehr alten Schriftzügen«707. Sie enthalten das eigentliche Novellengeschehen um den unglücklichen Maler Johannes, das in Gestalt einer Chronik der bisherigen Handlung um mehr als ein Jahrhundert vorausgeht und die Ereignisse um das Bild des toten Knaben und die Auflösung der Inschrift als eine in den historischen Raum verlegte Geschichte mitteilt. Auch hier vermeint man ein zentrales Element der Schliemannschen Kindheitsdarstellung vorgezeichnet zu sehen: die späterhin unterbundene Freundschaft zur aus besseren Verhältnissen stammenden Kindheitsfreundin, deren ersehnte Heimführung als Braut zuerst an einer geradezu tragischen Verknüpfung ungünstiger Umstände scheitert und dann durch eine anderweitige Verheiratung der zwischenzeitlich aus den Augen verlorenen Freundin verunmöglicht wird. Sie, als junges Mädchen unzertrennlich mit Johannes verbunden, trägt bei Storm den Namen Katharina, bei Schliemann heißt sie Minna und teilt in bester kindlicher Kameradschaft dessen schatzgräberisch-archäologische Begeisterung (»[…] nichts schöneres konnten wir uns vorstellen, als so unser ganzes Leben mit dem Suchen nach den Resten der Vergangenheit zuzubringen«708). Weisen Erzähltonalität und -motivik der den Ilios-Band einleitenden Lebensgeschichte Schliemanns auf Theodor Storms Novelle Aquis submersus hin, ist mit dem für einen wissenschaftlichen Text recht ungewöhnlichen Arrangement aus autobiografischer Einleitung und archäologischem Hauptteil ein weiterer Text aufgerufen: Nathanael Hawthornes The Scarlet Letter von 1850. Während die Novelle dieses Erzählgefüge nämlich in einen zwar aus lebensgeschichtlicher Rahmen- und chronikhafter Binnenerzählung bestehenden, formal aber ununterbrochenen Textkörper umsetzt, ist Hawthornes Roman tatsächlich ein von der Romanhandlung weitgehend unabhängiges, im Untertitel (›Introductory to >The Scarlet LetterLeonhard HagebucherwegerzähltAbleitung der ErregungGradivapsychiatrische Studie< mißverstanden werden« (ebd, 366 – Hervorhebungen im Text). Es ist eben diese eine vermeintliche Epistemizität als »Rückseite des Erzählens« erzeugende detektivische Verrätselung, die Freud für eine emphatische Würdigung des Textes als psychiatrische »Kranken- und Heilungsgeschichte« (Freud 32003, 80) gewinnt – und derer er sich in seinen eigenen Fallgeschichten ebenfalls bedient. 1430 Chesterton 2005 [Band 12], 120 (»The Honour of Israel Gow«). 1431 Ebd.
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Wald erscheint »as black as numberless flocks of ravens«, als Zeuge von »pride and madness and mysterious sorrow« umgibt seine historischen Mauern der Eindruck »of a dreamy, almost a sleepy devilry«1432. Der Schlossherr, dem Vernehmen nach eine seinem Wohnsitz an atmosphärischer Dichte nicht nachstehende »mysterious person«1433, wird als letzter Vertreter eines alten Adelsgeschlechtes vorgestellt, dem »eccentricities« bis hin zur »insanity«1434 nicht fremd sind. Er führt auf Glengyle ein von einem vollständigen Verschwinden praktisch nicht zu unterscheidendes Einsiedlerdasein, unterstützt nur von »a solitary manservant«, dem schweigsamen Israel Gow, der wahlweise als »dumb« oder »halfwitted«1435 gilt. Noch im Tod rückt der zurückgezogene Earl von seiner Haltung nicht ab. Die herbeizitierten Amtsautoritäten, namentlich »the provost and the minister«, können nur noch feststellen, dass der auch hierfür zuständige Diener »had nailed up his noble master in a coffin«1436: Wie der Lebende entzieht sich auch der Tote konsequent ihren Blicken. Es ist dieser noch ununtersuchte Todesfall, der Father Brown auf Bitten seines Freundes Flambeau nach Glengyle führt. Gemeinsam mit einem von Scotland Yard entsendeten offiziellen Ermittler ist der als »amateur detective«1437 tätige Flambeau bereits vor Ort und weist den Priester nach dessen Ankunft in den Stand der noch an ihrem Anfang stehenden Ermittlungen ein. Eine besondere Rolle spielt dabei das von Flambeau als solches vorgestellte »psychological museum«1438, ein von ihm und Inspector Craven zusammengetragener Fundus überall im Schloss verteilter Gegenstände, die für Flambeau zweifelsfrei beweisen, dass es sich bei dem Verstorbenen um einen »maniac«1439 gehandelt haben müsse. Die im akkuraten Listenstil angelegte Präsentation großer Mengen losen Tabaks, halterloser Kerzen und ohne jede Fassung aufbewahrter Edelsteine als diagnostisches Material ist der Kulminationspunkt eines im weitesten Sinn psychiatrischen Subtextes, den Chestertons Erzählung mit bereits zitierten Begriffen wie »strange«, »madness«, »insanity«, »eccentricity« und »half-witted« bereits in ihren ersten Absätzen eröffnet. Für sich genommen ist diese Prominenz auf psychische Pathologien setzender Zuschreibungen nicht bemerkenswert, gehört doch auch der Wahnsinn in das erprobte Inventar schauerliterarischer (und auch detektivischer) Erzählele1432 Alle: Ebd. 1433 Ebd, 120. Beiden, Schloss wie Besitzer, wird übrigens auch tatsächlich dasselbe Attribut zugeordnet: »strange«. Vgl. ebd, 120 (»the strange castle of Glengyle«) und 121 (»the strange earl«). 1434 Alle: Ebd. 1435 Alle: Ebd, 121. 1436 Beide: Ebd. 1437 Ebd, 120. 1438 Ebd, 122. 1439 Ebd.
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mente. Interessant ist aber, dass die als gegenständlicher Ausdruck einer mentalen Störung gedeuteten Funde zumindest bei den (semi-)professionellen Ermittlern der Erzählung eine ernstzunehmende Irritation auslösen. Statt, wie das etwa in Doyles The Hound of the Baskervilles geschieht, als ein die Atmosphäre des Geheimnisvollen, des Mysteriösen verstärkendes Supplement des detektivischen Geschehens zu fungieren, treten sie, insofern sie das zu lösende Problem von einem ursprünglich mit dem behaupteten Ableben des Earl befassten Fall auf dessen Begleitumstände verschieben, als Störfaktor der Ermittlungen auf. Dabei behindern sie das detektivische Fortschreiten des Textes nicht einfach im Sinne einer zusätzlichen Verrätselung des Geschehens. Vielmehr repräsentieren sie einen Sachverhalt, der als »lunacy«1440 völlig außerhalb jeder Aufklärbarkeit zu liegen scheint: »But suppose the worst in all this«, bemerkt Inspektor Craven mit Blick auf den Todesfall, »the most lurid or melodramatic solution you like. Suppose the servant really killed the master, or suppose the master isn’t really dead, or suppose the master is dressed up as the servant, or suppose the servant is buried for the master; invent what Wilkie Collins tragedy you like, and you still have not explained a candle without a candlestick, or why an eldery gentleman of good family should habitually spill snuff on the piano. […] By no stretch of fancy can the human mind connect together snuff and diamonds and wax and loose clockwork.«1441
Das von Flambeau entschieden (»with decision«1442) pathologisierte »psychological museum« bildet ein in seiner offensichtlichen Irrationalität widerständiges Indiz, eine sich dem aufklärenden Zugriff entziehende Spur, einen blinden Fleck detektivischer Rekonstruktionsarbeit. Weil die als Werk eines Wahnsinnigen begriffenen Gegenstände von vornherein keine der menschlichen Logik, ja nicht einmal der Einbildungskraft (»[b]y no stretch of fancy«) zugängliche Erzählung konstituieren, scheint ein detektivisches Scheitern unausweichlich. Der Text begleitet diese Einschätzung mit einer sorgsam ausgearbeiteten Licht-Schatten-Inszenierung: Auf dem von schwarzem Wald umgebenen Schloss liegt verdunkelnd »one of those clouds of pride and madness and mysterious sorrow which lie more heavily on the noble houses of Scotland than on any other of the children of men«1443; Father Brown tritt bei seiner Ankunft »under the shadow of the château«1444; durch das aufziehende Unwetter wird es »too dark to read«1445, woraufhin Father Brown in dem »rapidly darkening room«1446 eine 1440 1441 1442 1443 1444 1445 1446
Ebd, 122. Ebd, 124. Beide: Ebd, 122. Ebd, 120. Ebd, 121. Ebd, 122. Ebd, 123.
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Kerze entzündet und sich nach diesem illuminierenden Präludium auch im übertragenen Sinne anschickt, Licht in die undurchschaubare Angelegenheit zu bringen. Denn für so »loose and unexplained«1447, wie sie Flambeau und Inspektor Craven erscheinen, hält Father Brown die mysteriösen Objekte offenkundig nicht. Immerhin bietet Chestertons findiger Ermittler nacheinander gleich drei verschiedene Szenarien an, die die disparaten Funde in intakten Erzählzusammenhängen zeigen. Der jeweiligen Nachfrage allerdings, ob er seine insgesamt recht fantasievollen Ad-hoc-Deduktionen – es geht wahlweise um eine persönliche Vorliebe des Earls für historisches Re-Enactment, um sein kriminelles Doppelleben oder einen vorgetäuschten Diamantenfund – tatsächlich als den zu Grunde liegenden Sachverhalt betrachte, begegnet er, seine eigenen Einlassungen umstandslos für nichtig erklärend, mit den Worten »I am perfectly sure it isn’t«1448, »I don’t think it the true explanation« oder einem schlichten »Oh, no«1449. Nicht um die Herstellung eines zutreffenden Zusammenhangs sei es ihm bei diesen narrativen Fingerübungen gegangen, betont Father Brown anschließend, sondern darum, der kategorischen Zurückweisung eines Zusammenhangs überhaupt entgegenzutreten: »I only suggested that because you said one could not plausibly connect snuff with clockwork or candles with bright stones. Ten false theories will fit the universe; ten false theories will fit Glengyle Castle«1450. Auch wenn er seinen Rekonstruktionen also eine über das rein Hypothetische hinausgehende Wahrheitsfähigkeit umgehend wieder abspricht, demonstriert Father Brown unmissverständlich: Hinter dem vermeintlichen Wahnsinn sind rationale Erklärungen grundsätzlich möglich. Konkurrenzlos sind sie freilich nicht. Als nämlich offenbar gezielt beschädigte Messbücher und Heiligenbilder unter den kuriosen Objekten auftauchen, beginnt auch Chestertons sonst nicht zu überstürzten Urteilen oder Handlungen neigender Priester plötzlich an satanistisch-häretische Vorgänge (»dark magic«1451) im Schloss des Earls zu glauben und drängt zur Klärung auf die sofortige Öffnung des Grabes. Dass sich dieser abermalige Umschlag in einen schauerliterarischen Erzählton ereignet, als der Sturm erneut für eine Verdunkelung der Szenerie sorgt (»The heady tempest without […] threw the long room into darkness«), dass Father Brown seine düsteren Vermutungen ausdrücklich äußert »before the drift of darkness had passed«1452, ist ebenso wenig Zufall wie
1447 1448 1449 1450 1451 1452
Ebd. Ebd, 124. Beide: Ebd, 125. Ebd. Ebd, 126. Beide: Ebd.
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die Tatsache, dass es sich bei den beobachteten Schäden ausgerechnet um die in Miteidschaft gezogenen »illuminations«1453 der religiösen Devotionalien handelt. Die über die Schatten- und Schauerelemente erreichte Besetzung des Geschehens als irrational, dunkel und undurchdringlich erreicht ihren Höhepunkt wenig überraschend im Moment des geöffneten Grabes. Bereits der Weg zum Friedhof erscheint den verunsicherten Ermittlern im nächtlichen Sturm als Gang durch eine heidnisch-entfremdete Welt am Rande der Begreifbarkeit: Der nicht enden wollende Wald, »that irrational forest«, zeigt sich als »some unpeopled and purposeless planet«, das Rascheln der Blätter (»the under world of unfathomable foliage«) als »cries of the lost and wandering pagan gods« und der Wind in den Bäumen kündet von »that ancient sorrow that is in the heart of all heathen things«1454. Erst der verstörende Anblick der unter dem aufgebrochenen Sargdeckel kopflos zum Vorschein kommenden Leiche des verstorbenen Earls ist es aber, der auch den während der Öffnung des Grabes noch gefasst wirkenden Father Brown zu der Einschätzung kommen lässt, er habe »the end of the ways«1455 erreicht. Angesichts des verstümmelten Toten scheinen rationale Erklärungsmechanismen zu versagen: »We have found the truth; and the truth makes no sense« muss Father Brown die vorausgesagte detektivische Niederlage vorerst eingestehen. Als ungeahnt zielführend erweist sich allerdings sein einigermaßen überraschender Vorschlag, der aussichtslosen Lage mit Schlaf zu begegnen. Denn in einer folgerichtigen Fortsetzung der vom Text gezeigten Beleuchtungs- und Verschattungsprozesse vollzieht sich die Aufklärung des Falls im Licht des heranbrechenden nächsten Tages beinahe von allein. »[A]s soon as I opened my eyes this morning«1456, so berichtet es der Priester, habe sich ihm der Sinn der im Schloss gefundenen Gegenstände erschlossen. Und auch die Bedeutung des im Kartoffelbeet zu Tage tretenden Schädels enthüllt sich den Ermittlern im Rhythmus der ihre volle Strahlkraft entfaltenden Sonne: »Friends, we have passed a night in hell; but now the sun is risen […]«1457 verkündet ein aufgeräumter Father Brown, bevor er, »a momentary disposition to dance on the now sunlit lawn«1458 unterdrückend, die Hintergründe der Ereignisse, wie er sie sich von Israel Gow hat bestätigen lassen, »in the strengthening sun«1459 offenlegt. Der Earl habe, über die Gier und die Habsucht seiner eigenen Vorfahren in Misanthropie verfallen, geschworen, sein gesamtes Gold demjenigen zu vermachen, der nie 1453 1454 1455 1456 1457 1458 1459
Ebd. Alle: Ebd, 127 (meine Hervorhebungen). Ebd, 130. Ebd, 131. Ebd, 132. Ebd (meine Hervorhebung). Ebd, 133.
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mehr als das ihm Zustehende an sich nehme – und habe diesen Menschen in dem sich durch eine Art zwanghafte Ehrlichkeit auszeichnenden Israel Gow tatsächlich gefunden. Als testamentarisch eingesetzter Erbe habe der Diener nun begonnen, seinen legitimen Anspruch einzulösen, indem er das ihm zustehende Erbe gewissenhaft vom goldenen Kerzenhalter über die vergoldeten Elemente der Heiligenbilder bis auf das Zahngold seines verstorbenen Herrn an sich nehme. Der einem herkömmlichen Erklärungsmustern verpflichteten Verständnis vermeintlich unzugängliche Wahnsinn des »psychological museum«1460 hat, das zeigt die ungewöhnliche Lösung des Falls, also doch Methode, eine in ihrer Logik strenge und in ihrem rechtlichen Fundament unangreifbare noch dazu. Chestertons The Honour of Israel Gow zitiert, so lässt sich festhalten, im zum Veröffentlichungszeitpunkt der Erzählung bereits längst überholten Gattungsgewand der klassischen Schauerliteratur ein gerade im Bereich der Gesetzgebung und der Rechtssprechung zur selben Zeit begrifflich noch überaus präsentes Modell psychischer Aberration (»lunacy«1461) und überführt es in ein detektiv1460 Ebd, 122. 1461 Ebd. Zu denken wäre hier an die im Vereinigten Königreich bis Anfang des 20. Jahrhunderts unter dem Kurztitel ›Lunacy Acts‹ versammelte Gesetzgebung zum Umgang mit psychisch Erkrankten. Zu einem der terminologischen Nachfolger dieser ›Lunacy Acts‹, dem 1912 als Gesetzesentwurf in das Unterhaus eingebrachten ›Feeble-Minded Control Bill‹, das, noch im selben Jahr zurückgezogen, 1913 als ›Mental Deficiency Act‹ die legislatorische Schwelle passiert, hat sich Chesterton in seiner zur selben Zeit entstandenen, aber erst 1922 veröffentlichten Streitschrift Eugenics and Other Evils überaus kritisch positioniert. The Honour of Israel Gow, 1911 erschienen, flankiert damit eine über den literarischen Text hinausreichende Debatte, in der es auch um die begriffliche Aushandlung eines immer weiter ausgreifenden und dabei repressives Potenzial entwickelnden Konzepts psychischer Erkrankung geht. Dabei ist es Chesterton in Eugenics and Other Evils ein ausgesprochenes Anliegen, einer fortschreitenden Pathologisierung des Normalen, wie er sie etwa im Modell der Eugenik beobachtet, entgegenzuwirken. Wo wie im Begriff der ›feeble-mindedness‹ eine klare Unterscheidung zwischen Norm und Abweichung nicht mehr möglich ist, wo außerhalb eindeutiger diagnostischer Kategorien – Chesterton nennt als solche »mania« und »idiotcy« (Chesterton 1987, 335) – operiert wird, sind Fehl- und missbräuchliche Entscheidungen, so Chestertons Befürchtung, vorprogrammiert: »Every tramp who is sulky, every labourer who is shy, every rustic who is eccentric, can quite easily be brought under such conditions as were designed for homicidal maniacs« (ebd, 308). Dass The Honour of Israel Gow das Bemühen zeigt, nosologisch unbestimmte Zuschreibungen durch psychiatrische Diagnosen zu ersetzen, ist auch vor diesem Hintergrund zu begreifen. Zugleich, und auch diese Positionierung bearbeitet der literarische Text auf seine Weise, fordert Chesteron einen Umgang auf Augenhöhe mit dem psychiatrisch segregierten Individuum und in diesem Sinn auch eine (psychoanalytischen Konzepten entsprechende) Normalisierung des Pathologischen. Denn zwar, das zeichnet für Chesterton die zu Recht als solche begriffene psychische Störung aus, handele es sich bei dem Betroffenen um eine »incomprehensible creature« (ebd, 319), deren Bewusstsein einem anderen Wirklichkeitsverständnis verpflichtet sei. Allerdings leite sich daraus kein grund-
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literarisch umgesetztes Konzept der menschlichen Psyche, in dem auch und gerade gestörten psychischen Prozessen rational begreifbare Mechanismen zu Grunde liegen. Insofern der zunächst für schwachsinnig (»half-witted«1462) gehaltene Israel Gow in der Falllösung als »man with a peculiar conscience«, als »mad moralist«1463 und »just miser«1464 auftritt, insofern der Text ihm eine »strange and crooked honesty« zuschreibt und in seiner Handlungsweise »wild exactitude«1465 erkennt, macht er ihn zum Exponenten einer pathologisch versetzten Normalität. Der Diener, »who is neither so deaf nor so stupid as he pretends«1466, wie Father Brown nach seinem Austausch mit ihm einräumt, besitzt kein grundsätzlich eingeschränktes oder gänzlich unentwickeltes Begriffsvermögen. Vielmehr unterliegt sein Denken und Handeln einer spezifischen, beschreib- und vorhersagbaren Psychodynamik, wie sie auch die Psychoanalyse für ihre Patienten geltend macht. Gleiches gilt für den anfangs mit dem vagen Konzept der »lunacy« in Verbindung gebrachten und von einem seelenkundlich recht unbedarften Flambeau (»Psychology means being off your chump«) als »maniac«1467 apostrophierten Earl. Die Lösung des Falls rehabilitiert ihn als »the nearest approach to a good man ever born at Glengyle«1468, der statt an einer unbestimmten Form geistig-moralischer Absonderlichkeit an »fixed ideas«1469, an Zwangsgedanken leidet. Es sind eben diese diagnostischen Verschiebungen, auf die auch die Psychoanalyse angewiesen ist, will sie therapeutische Erfolge generieren: Schwach- und Wahnsinn sind keiner Behandlung zugänglich, zwanghaftes Verhalten hingegen schon. Als psychoanalytisch informiertes Projekt tritt ohnedies das gesamte detektivische Geschehen des Textes auf. Denn insofern die stattfindenden Ermittlungen nur mittelbar um das Ableben des Earl, vor allem aber um das rätselhafte Inventar seines Schlosses gruppiert sind und sich damit im Marginalisierten, im
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sätzlicher Überlegenheitsanspruch des psychisch Gesunden ab: »That which can condemn the abnormally foolish is not the abnormally clever […]. That which can condemn the abnormally foolish is the normally foolish. It is when he begins to say and do things that even stupid people do not say or do, that we have a right to treat him as the exception and not the rule. It is only because we none of us profess to be anything more than man that we have authority to treat him as something less« (ebd). Vgl. Chesterton, G.K. (1922/1987): Eugenics and Other Evils. In: The Collected Works of G.K. Chesterton (Band 4). San Francisco, 291–407. Chesterton 2005 [Band 12], 121 (»The Honour of Israel Gow«). Beide: Ebd, 133. Ebd, 134. Ebd, 132 und 133. Ebd, 131. Alle: Ebd, 122. Ebd, 133. Ebd, 134.
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Randständigen entfalten – »The core of the tale we could imagine; it is the fringes that are mysterious«1470 bemerkt Inspektor Craven geich zu Beginn der Erzählung –, folgen auch sie einem psychoanalytisch besetzten Muster. Im Fall von The Honour of Israel Gow lässt dieses Muster denn auch mit Father Brown einen Detektiv entstehen, der Licht in das Dunkel eines Todesfalls bringen soll und stattdessen nach Art eines Psychoanalytikers Licht auf das Dunkel zweier komplexer Psychen wirft. Allerdings, und das ist durchaus als ein erster epistemologischer Kommentar des literarischen Textes zu werten, zeigt Chestertons Erzählung dabei keinen einzigen der angeblich Verrückten oder Schwachsinnigen, von denen sie spricht: Der Earl ist bereits tot und tritt nur kurz als kopfloser Leichnam in Erscheinung; Israel Gow wiederum, immerhin die titelgebende Figur der Erzählung, nimmt nahezu keinen Raum im Text ein. Zweimal streift er die Handlung als mit Spaten und Zylinder ausgestattete »black human silhouette«1471, einmal wird er, identisch ausgerüstet, von Father Brown bei der Gartenarbeit beobachtet, wobei es mutmaßlich sogar zu einer freilich nicht gezeigten Interaktion mit dem Diener kommt (»The gardener seemed even to have been conversing«1472), den Chesterton in der ganzen Erzählung kein einziges Wort sprechen lässt. Mehr eine unverändert auftretende Kulisse als eine Figur des Textes zeigt dieser Israel Gow stets nur an der Peripherie des Geschehens in sehr anständiger Kleidung bei der wenig verrückt wirkenden Tätigkeit des Kartoffelausgrabens. Grotesk variiert wird dieses Motiv lediglich in der Schlussszene der Erzählung, in der ein seinen Spaten ebenso stoisch nutzender Gow den um das ihm zustehende Gold erleichterten Schädel seines Herrn erneut vergräbt: »And, indeed, when Flambeau crossed the hill that morning, he saw that strange being, the just miser, digging at the desecrated grave, the plaid around his throat thrashing out in the mountain wind; the sober top hat on his head«1473. Zwei Details sind hier hervorzuheben. Das ist zum einen die auch eine subtile Schlussbemerkung über Gows Geisteszustand enthaltende nüchterne (»sober«) Kopf(!)bedeckung des Dieners und zum anderen der Verweis auf das entweihte Grab seines Herrn. Genau diese Entweihung geht nämlich nicht etwa auf Gow zurück, sondern auf die drei Ermittler, die bei ihrem nächtlichen Gang auf den Friedhof eine in jeder Hinsicht intakte Grabstelle vorfinden. Die Öffnung von Grab und Sarg mit Spaten und Axt (»Then he […] hacked and wrenched […] till 1470 Ebd, 124. 1471 Ebd, 121 (»Against the last stripe of the green-gold sunset he saw a black human silhouette; a man in a chimney-pot hat, with a big spade over his shoulder«) und 122 (»The black silhouette of Gow with his top hat and spade passed the window, dimly outlined against the darkening sky«). 1472 Ebd, 130. 1473 Ebd, 134.
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the lid was torn off«, 128f.) geht dabei ebensowenig pietätvoll vonstatten wie die spätere Bergung des von Gow selbst beim Umgraben sorgfältig gemiedenen Schädels. Flambeau befördert ihn mit einem ungehalten-heftigen (»impetuously«) Spatenstich »like a monstrous, over-domed mushroom«1474 aus der Erde, bevor ihn Father Brown ähnlich unsanft wieder im Kartoffelbeet verschwinden lässt: »Then […] he plucked the spade from Flambeau, and, saying, ›We must hide it again,‹ clamped the skull down in the earth«1475. Während die in The Honour of Israel Gow als psychiatrisch auffällig markierten Figuren also nur am Rande auftauchen und ihre zunächst umfassende Pathologie in der Falllösung einer relativierenden Revision unterzogen wird, zeichnet der detektivische Text seine psychoanalytisch vorgehenden Ermittler, die das für die Ereignisse alleinverantwortliche Personal der Erzählung bilden, diesbezüglich durchaus ambivalent. Das betrifft beispielsweise Flambeaus im Brustton der Überzeugung vorgetragene und dabei eine Irritation der Rollenverhältnisse bereits andeutende Begriffserklärung »Psychology means being off your chump«1476. Ebenso kommt hier der Anblick der kopflosen Leiche in Anbetracht, bei dem der Wahnsinn den Ermittlern näher ist als ihnen lieb sein kann – Flambeau flucht »in the name of madness« und macht den der monotonen Landschaft anhaftenden »ancient horror of unconsciousness« für seinen nervösen Zustand verantwortlich, »[h]alf-witted visions« suchen die Ermittler heim, bis Father Brown eingestehen muss: »There are three headless men […] standing around this open grave«1477. Gerade der Moment der detektivischen Falllösung ist es dann, der – sich psychiatrisch relevanter Begriffe bedienend, diese aber auf den Detektiv anwendend – eine zuverlässige Unterscheidung zwischen Krankem und Gesundem, Patient und Therapeut besonders pointiert als unsicheres Unterfangen ausweist. Er lässt Father Brown nicht nur wie »the exact picture of an idiot« aussehen, sondern sich auch entsprechend äußern: Mit dem emphatischen Ausruf »[…] the radiant form of the dentist consoles the world«1478 kündet er die bevorstehende Aufklärung an. Daraufhin von einem ob der scheinbaren Unsinnigkeit dieser Aussage verzweifelten Flambeau zur Räson gerufen entgegnet der Priester ungerührt »Oh, let me be silly a little. […] Only a little lunacy perhaps – and who minds that?«1479. Zu dieser Konstellation sich verschiebender Zuweisungen gehört auch ein gleich zu Beginn der Erzählung eingeführter »old local rhyme about
1474 1475 1476 1477 1478 1479
Beide: Ebd, 130. Ebd, 131. Ebd, 122. Alle: Ebd, 129. Beide: Ebd, 132. Ebd.
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the House of Glengyle«1480, den Father Brown im Rahmen seiner Auflösungserzählung noch einmal aufgreift: »As green sap to the simmer trees / Is red gold to the Ogilvies – »1481. Attestiert der Vers zunächst noch die moralische Fragwürdigkeit der Familie des Earls, ihre als Quelle eines insgesamt verwerflichen Verhaltens gezeigte Gier nach Reichtum, sorgt er nun für eine psychopathologische Fundierung des rätselhaften Geschehens und in der Konsequenz für dessen rationale Durchdringbarkeit. Die Glengyles, so schildert es der zu detektivisch-therapeutischer »gravity«1482 zurückgekehrte Father Brown in einer diesmal wörtlichen Auslegung des Spruchs, seien manische Sammler goldener Gegenstände gewesen, die Israel Gow nach dem Tod des Earls zu Recht der ihm vermachten Erbmasse zugeschlagen und entsprechend bearbeitet habe. Das Rätsel der ohne erkennbare Logik versehrten Gegenstände löst sich damit in einer Weise, die der Text nicht allein ihrer Eigentümlichkeit wegen als »the crazy truth«1483 vorstellt. Wahnsinn und Wahrheit, zu Anfang der Erzählung noch kategorial unvereinbar, treten hier in einer psychische Pathologie und detektivische Kohärenzbildung überspannenden Wendung zusammen, die zugleich den aitiologischen Schlusspunkt der Erzählung bildet. Nur so erhalten am Ende alle Figuren ihre Köpfe, derer sie zwischenzeitlich enteignet waren, zurück: der enthauptete Earl im Grab, die kopflosen Ermittler, die ihre Deutungshoheit wiedererlangend über ein rationalisiertes (psychisches) Geschehen verfügen und der für seines eigenen Verstandes nicht mächtig erklärte Israel Gow, der im Zugeständnis einer grundsätzlichen Zurechnungsfähigkeit zu seiner titelgebenden Ehre kommt. Chestertons The Honour of Israel Gow, so lässt sich zusammenfassen, betreibt Wissensgeschichte als Gattungsspiel. Aus der auch unter Beteiligung der Psychoanalyse stattfindenden epistemischen Wende, die psychische Störungen ätiologisch normalisiert, die mikropathologische Prozesse wie vorübergehende Verdrängungsereignisse und Fehlleistungen – man denke an Arbeiten wie Freuds Die Traumdeutung (1899/1900) oder Zur Psychopathologie des Alltagslebens (1901) – als konstitutive Mechanismen auch der gesunden Psyche ausweist, formt die Erzählung einen generisch dichotomen Textkörper: Der psychopathologisch unbestimmte Wahnsinn liegt als verdunkelte Schauererzählung vor, die unter anderem psychoanalytisch informierte Auseinandersetzung psychischer Prozesse findet im aitiologischen Modus des detektivischen Erzählens statt. Allerdings, und auch das hat der Blick auf den Text gezeigt, sind die Autoren und 1480 1481 1482 1483
Ebd. Ebd, 120 und 132. Ebd, 132. Ebd, 133.
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Protagonisten der beiden epistemisch angereicherten Schreibweisen identisch. Dämonisches Schloss, Friedhof und geöffnetes Grab sind die schauerliterarischen »Angstlandschaften«1484 nicht der in der Erzählung ohnehin marginalisierten vermeintlich verrückten, sondern ihrer detektivisch tätigen Figuren. Sie sind es, die sich im Rahmen der ihre Ermittlungsfortschritte und -rückschläge choreografierenden Licht-Schatten-Inszenierung bewegen. Sie sind es, die dem vorwissenschaftlichen »ancient horror of unconsciousness«1485 erst erliegen, bevor sie ihn psychoanalytisch bändigen. Die als pathologisch und als gesund vorgestellte Psyche trennt so kein prinzipieller, sondern lediglich ein gradueller Unterschied. Nicht dass sie ein der Erzählrealität angemessenes Wirklichkeitsverhältnis nie verlieren, weist die drei Ermittler als auf der behandelnden Seite des psychoanalytischen Verhältnisses stehend aus, sondern dass sie es trotz zeitweiliger Irritation wiedererlangen. Father Browns die Falllösung einleitender Ausruf »Only a little lunacy perhaps – and who minds that?«1486 ist auch in diesem Sinn zu verstehen. Indem sie die in Flambeaus »psychological museum« materialisierte psychopathologische Symptomatik der titelgebenden Figur in eine diagnostische Erzählung überführt, die als Teilrehabilitation ihres Protagonisten auch therapeutisch wirkt, nimmt Chestertons The Honour of Israel Gow darüber hinaus die Form einer psychoanalytisch-psychiatrischen Fallgeschichte an. Dass sie Israel Gow als ihren ›Patienten‹ dabei nahezu unsichtbar hält, ihn nur am Rand und buchstäblich als detaillosen Schattenriss (»black silhouette«) wahrnimmt, dass sie ausschließlich über ihn spricht, ihn selbst aber nie zu Wort kommen lässt, bildet einen schonungslosen epistemologischen Kommentar auf die entsprechende wissenschaftliche Praxis. Denn so wie Freud seine Fallgeschichten stets im Sinne seines Wachstums als Wissenschaftler schildert, mit Blick auf den Wert der jeweiligen Analyse für die psychoanalytische Theorie und Therapie nämlich, ist auch Chestertons Erzählung eigentlich als Selbstanalyse ihrer TherapeutenDetektive angelegt, die das zu behandelnde Gegenüber vor allem als Resonanzraum der eigenen Kompetenzversicherung nutzt. Epistemologisch ausdrücklich wird der literarische Text auch in einer weiteren Hinsicht. In seiner den Wahnsinn detektivisch zur rational durchdringbaren Psyche bändigenden Falllösung vollzieht er nämlich eine auffällige Bewegung von der übertragenen zur wörtlichen Bedeutung. Das betrifft beispielsweise: die in der Erzählung stattfindende Restitution verlorener Köpfe, die sich erst sprachbildlich auf die ihre Handlungs- respektive Zurechnungsfähigkeit zu1484 Arnold-de Simine 2000, 279. Zu den Schauplätzen der Schauerliteratur als Seelentopografien insgesamt vgl. ebd, 278ff. 1485 Chesterton 2005 [Band 12], 129 (»The Honour of Israel Gow«) (meine Hervorhebung). 1486 Ebd, 132.
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rückgewinnenden Figuren bezieht, in der Schlussszene des Textes aber in schauriger Tatsächlichkeit aktualisiert wird; den über die Familie des Earls kursierenden Spruchvers, den die Ermittler zunächst als figurative (»metaphorical«) Zuschreibung begreifen, bevor Father Brown ihn im Rahmen seiner Aufklärungserzählung buchstäblich (»literal«1487) deutet; die von Chestertons Detektiv vorgestellte diagnostische Durchdringung der Ereignisse, deren Zentrum die unbedingte Buchstabentreue des in diesem Sinn als »literal youth«1488 apostrophierten Israel Gow bildet. Die Psychoanalyse Freudschen Zuschnitts geht hingegen genau umgekehrt vor. Auch sie lotet das pathologische wie therapeutische Potenzial der Sprache und des Sprechens aus, zielt dabei aber vor allem auf figurative Mechanismen wie Entstellung, Verschiebung oder Verdichtung. Eine Epistemizität entfaltende Begreifbarkeit des psychischen Leidens stellt sich hier nicht in der Ein-, sondern in der Mehrdeutigkeit, in der Annahme seiner Literarizität ein. Insofern Chestertons als psychoanalytische Fallgeschichte auftretender Text dieses Muster in dem von ihm vollzogenen diagnostischen Prozess konterkariert, setzt er als literarische Detektiverzählung der fiktionalisierenden Literarisierungsbewegung des sich derselben Schreibweise bedienenden wissenschaftlichen Textes eine rationalisierende Literalisierungsbewegung entgegen.
3.4.3 Ricarda Huch: Der Fall Deruga (1917) Ricarda Huchs 1917 erschienener Roman Der Fall Deruga ist, wiewohl unstrittig ein als Detektiverzählung anzusprechender Text, doch kein typischer Vertreter der Gattung. Statt sein detektivisches Erzählmuster in einem sich für den Leser unmittelbar ereignenden Ermittlungsgeschehen anzusiedeln, entfaltet er es als Aufklärungssituation zweiter Ordnung, sprich: im Rahmen einer literarischen Gerichtsverhandlung. Unter Anklage steht der in Prag ansässige Italiener Sigismondo Enea Deruga, der seine vor Jahren von ihm geschiedene Frau Mingo Swieter umgebracht haben soll. Da die zarte und ängstliche Mingo an einer schweren Krebserkrankung litt, war ihr Tod zunächst als traurige, aber natürliche Krankheitsfolge erschienen. Erst eine Exhumierung der Toten, vorgenommen unter dem Eindruck eines ihren einstigen Ehemann als Alleinerben einsetzenden Testaments, hatte gezeigt, dass sie nicht an ihrer Erkrankung, sondern in Folge einer Vergiftung mit Curare verstorben war. Dass der sich notorisch in Geldnöten befindende Deruga für eine mit dem Todeszeitpunkt zusammenfallende mehrtägige Abwesenheit aus seiner Wohnung und für eine zur gleichen Zeit von ihm 1487 Beide: Ebd. 1488 Ebd, 134.
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gelöste Fahrkarte nach München, dem Wohnort der Verstorbenen, ein nur dürftiges und zudem unbewiesenes Alibi vorzuweisen hat, macht ihn als Täter umso wahrscheinlicher. Das dem detektivischen Geschehen seinen Ereignisrahmen verleihende Setting des Mordprozesses mag nicht ganz gewöhnlich sein. Es ist hier aber durchaus absichtsvoll gewählt, verweist es als institutionalisierte Gesprächssituation, die eine verlorene Geschichte ans Licht bringen soll, doch zugleich auf den epistemischen Subtext von Huchs Roman. Denn die über den titelgebenden Fall Deruga entscheidende Gerichtsverhandlung ist unverkennbar weniger als juristische denn als psychoanalytische Sitzung figuriert. Immerhin scheinen, dieser Eindruck stellt sich bei der Lektüre recht schnell ein, mehr tatsächliche und behauptete Psychologen, psychiatrisch interessierte Neurologen und (Laien-)Psychoanalytiker als Juristen an ihr beteiligt zu sein. Schon dem hauptsächlich ermittelnden Anwalt Dr. Bernburger bescheinigt der Text ein »Interesse für Psychologie, und was damit zusammenhängt« und lässt ihn in den Verhandlungspausen mit seinem Begleiter, dem »jungen Nervenarzt […]«1489 Dr. von Wydenbruck, professionelle psychiatrische Diagnosen über die Prozessteilnehmer austauschen. Dieser wiederum möchte, den an »nervösen Depressionen« leidenden Anwalt selbst bereits »nach einer eigenen Methode«1490 behandelnd, bei der Beobachtung des angeklagten Deruga »Einblick in eine komplizierte Psyche« gewinnen und so sein »Studium machen«1491. Dass er hierzu jede Gelegenheit erhält, ist auch dem Gerichtsvorsitzenden Dr. Zeunemann zu verdanken, der von sich behauptet, er sei »zu sehr Psychologe […], um nicht einen gewissen Anteil an problematischen Charakteren zu nehmen«1492. In seiner Verhandlungsführung folgt er denn auch einer bewusst eingesetzten Strategie der freien Assoziation – »Ich pflege meine Fragen so zu stellen […], daß alles auf den Fall Bezügliche an äußeren und inneren Tatsachen von selbst hervorkommt. Nicht mit Hebeln und Schrauben, wissen Sie, sondern unwillkürlich, wie sich ein Blatt entrollt«1493 –, was Dr. von Wydenbruck wiederum »entzückt« als Zurückhaltung des psychoanalytischen Therapeuten lobt: »Ja, ich habe das bemerkt […], es ist wundervoll. Sie schaffen gewissermaßen nur die geeignete Atmosphäre, und das Spiel des Lebens entfaltet sich«1494. Der seelenkundlichen Neigung ihrer Figuren zur Ausforschung der (Täter-) Psyche entsprechend wird in Huchs Roman innerhalb wie abseits des Verhandlungsgeschehens offen psychiatrisch-psychoanalytisch argumentiert und spekuliert. Das geschieht beispielsweise, wenn der selbst als Arzt praktizierende 1489 1490 1491 1492 1493 1494
Beide: Huch 1967, 53. Beide: Ebd. Beide: Ebd, 59. Ebd, 68. Ebd, 59. Beide: Ebd.
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Angeklagte auf die Frage, warum er, um nach eigener Aussage einen kompromittierenden Besuch bei einer »hochanständige[n] Dame«1495 unter dem Vorwand einer Reise zu verbergen, ausgerechnet eine Fahrkarte zum Wohnort seiner geschiedenen Frau erstanden habe, mit feinem Spott antwortet: »Das ist eine schwierige Frage, […] hätte ich eine Karte nach Frankfurt oder Wien genommen, könnten Sie sie ebensogut stellen. Vielleicht ist ein Psychoanalytiker anwesend und könnte uns interessante Aufschlüsse über die Gedankenassoziation geben, und ob sie gefühlsbetont war oder nicht. Meine Spezialität sind Nasen-, Hals- und Rachenkrankheiten.«1496
Auch ein als Zeuge geladener ärztlicher Kollege Derugas sieht sich außerstande, eine entsprechende Qualifikation für sich in Anspruch zu nehmen. Wiewohl für nicht näher spezifizierte weibliche »Unterleibsleiden« zuständig und von Deruga missbiligend als vor allem pekuniär motivierter »Arzt für Kommerzienrätinnen und fürstliche Kokotten«1497 tituliert – und damit ein recht unverhohlenes literarisches Echo des in den Studien über Hysterie (1893/95) als Behandler gutsituierter Patientinnen auftretenden Freud –, möchte er sich über die ihm nicht hinreichend vertraute »Psyche Derugas« nicht »in Phantasien ergehen«1498. Weniger zurückhaltend ist hingegen der Staatsanwalt. Er dilettiert des Öfteren in psychoanalytisch informierten Analysen, in denen er Deruga anklageunterstützend als gewaltbereiten und impulsiven Charakter zeichnet: »Auch geht es nicht an, besonders bei Menschen, die krankhaft veranlagt sind, oder richtiger ausgedrückt, die sich nicht im Gleichgewicht befinden, das reifere und höhere Alter der Kindheit und Jugend gleichzustellen. Wir sehen bei dem Vater des Angeklagten, wie seine verhängnisvollen Anlagen mit dem Alter mehr hervortreten, und wie verderblich ihm das Wegfallen der Hemmung wurde, die die Gegenwart seiner frommen Frau für ihn bedeutete. Etwas Ähnliches liegt bei dem Angeklagten vor: Mit der Trennung von seiner durchaus anständigen, guten Frau beginnt sein Fall.«1499
Auch jenseits des Gerichtssaales bleibt der so als Folge einer ungünstigen Psychodynamik entworfene Fall Deruga eine entsprechenden epistemischen Kontexten verpflichtete Angelegenheit, etwa wenn der Deruga vor Gericht vertretende Justizrat Fein erwägt, seinen Mandanten »als geisteskrank hinzustellen«1500, um auf einen Freispruch hinzuwirken. Vor allem aber entwickelt sich namentlich in den die Gerichtspausen füllenden Gesprächen Bernburgers und Dr. von Wydenbrucks ein ausgedehnter diagnostischer Nebentext, der das Ver1495 1496 1497 1498 1499 1500
Ebd, 17. Ebd, 19. Beide: Ebd, 26. Beide: Ebd, 28. Ebd, 124, Ebd, 55.
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handlungsgeschehen psychoanalytisch begleitet und kommentiert – und den literarischen Text, indem er dessen detektivischen Sachverhalt in psychoanalytisches Vokabular übersetzt, epistemisch auflädt. Da werden, das Ergebnis der Prozessbeobachtung als psychiatrischen Befund vorstellend (»Ich halte ihn und nicht minder seine Frau für moralisch zurechnungsfähig, aber für hysterisch«1501), sowohl dem Angeklagten als auch dem Opfer deviierende Psychen attestiert. Ihre Beziehung zueinander wird als pathologisch interdependent gedeutet, als Beispiel dafür, »wie Mordlust und Furchtsamkeit aufeinander eingestellt sind […], wie solche Naturen magnetisch zueinander hingezogen werden, um ihre Wesenseigentümlichkeiten durcheinander aufs höchste zu steigern und ihr Los zu erfüllen«1502. Das vermeintliche Verbrechen erscheint wahlweise als Folge »einer hysterischen Mordlust […], die nichts als verdrängter Liebestrieb ist«1503 oder als »eine Art Lustmord«, bei dem der Täter sein Opfer »mit dem Erinnerungsbild seiner Mutter« verbunden haben könnte, »wodurch der aus Leidenschaft und Vernichtungslust zusammengesetzte Hang verhängnisvoll verstärkt wurde«1504. Zudem wird hier kriminalistisch relevante Traumdeutung betrieben. Nachdem Mingo Swieters Haushälterin im Zeugenstand einen Traum ihrer Dienstherrin geschildert hat, in dem diese Besuch von der aus ihrer Ehe mit Deruga hervorgegangenen, aber bereits im Kindesalter verstorbenen Tochter erhält, merkt Dr. von Wydenbruck an: »Das Kind […], das sie besuchte, war natürlich ein Bild für den Vater, das Schaukeln deutet auf sinnliche Regungen. Es ist zweifellos, daß sie ihn erwartete«1505. Diese psychoanalytisch gewonnene Einsicht in das zur Untersuchung stehende Geschehen wird von Bernburger umgehend aus Sicht des Ermittlers weiterentwickelt: »Er hatte sie um Geld gebeten, das hatte ihre Erinnerungen belebt. Sie erwartete ihn in einer verliebten oder sentimentalen Stimmung. Er kam in der Verkleidung eines Hausierers, der hölzerne Löffel verkauft«1506. Im Wechselspiel von kriminalistischer und psychoanalytischer Rekonstruktionsarbeit, deren Ergebnisse sich, so ein von Bernburger entworfenes Bild, als »Schlüsse von zwei entgegengesetzten Richtungen […] wie die Bohrer in einem
1501 Ebd, 54. Vgl. auch ebd, 54 (»Auf Hysterie deutet bei Deruga schon seine höchst merkwürdige Fähigkeit, sich auszuschalten, wann es ihm paßt. Er ist überaus reizbar, leicht bis zu Tränen ergriffen, und im nächsten Augenblick ist er von Stein. Er ist dann gewissermaßen nicht mehr da. Wenn er sich darauf legte, könnte er es vielleicht dahin bringen, sich tatsächlich zu spalten, und wir hätten dann die Erscheinung der Doppelgängerei«) und 55 (»Ihre [d.i. Mingo Swieters] Furchtsamkeit ist ein hinreichendes Symptom«). 1502 Ebd, 55. 1503 Ebd, 54. 1504 Alle: Ebd, 104. 1505 Ebd, 102. 1506 Ebd.
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Tunnel [treffen]«1507, entsteht der Fall Deruga im doppelten Sinn, als detektivischer und als psychiatrischer Fall, als Verbrechen und als Pathologie: »›Sie glauben also‹, fragte Dr. von Wydenbruck, ›daß der Wunsch des Wiedersehens von Deruga ausging und seinen Grund in der Geldsorge hatte?‹ ›Das halte ich für wahrscheinlich‹, sagte Dr. Bernburger. ›Jedenfalls hat der Slowak sie getötet, und der Slowak war Deruga.‹ ›Meiner Ansicht nach‹, sagte Dr. von Wydenbruck, ›lag die magnetische Anziehungskraft zugrunde, die Hysterische verhängnisvoll zueinander zieht. Wie sie auch der Wunsch eingekleidet haben mag, dies muß der Kern gewesen sein.‹ ›Ob es möglich wäre, daß die weggeworfene Zigarette noch in dem Gebüsch läge?‹ sagte Dr. Bernburger, seine Gedanken verfolgend.«1508
Was im professionellen Zwiegespräch zwischen Ermittler und Nervenarzt zu belastbar wirkenden Resultaten führt, entwickelt vor Gericht allerdings eine offenkundig eher unerwünschte Eigendynamik. Immerhin sieht sich der doch selbst seelenkundlich affine Dr. Zeunemann nach einiger Zeit gezwungen darauf hinzuweisen, dass das Erstellen eines möglichst genauen Psychogramms des Angeklagten allein zur Lösung des Falls nicht beitragen werde. Die Ermahnung des Gerichtsvorsitzenden, es »handele sich hier nicht darum, die Geschichte seiner [d.i. Derugas] Seele zu erforschen, sondern die Geschichte seines Lebens vom 1. bis zum 3. Oktober festzustellen«1509, liest sich auch wie eine generische Selbstdisziplinierung des Textes, der als Detektiverzählung über weite Strecken im Modus einer psychoanalytischen Fallgeschichte vorliegt. Tatsächlich vollzieht sich die schlussendliche Lösung des Falls auch gerade nicht im Rahmen des Prozesses, nicht im Zentrum der gezeigten Aufklärungsbemühungen, sondern an ihrem Rand. Zwar gelingt es nämlich im Lauf der Verhandlung, an Hand der Zeugenaussagen einen sich als zutreffend erweisenden Umriss der fraglichen Ereignisse zu erarbeiten. Zum für die Bewertung des Falls entscheidenden Motiv der Tat stößt sie indes nicht vor. Dieses offenzulegen ist dem nicht offiziell am Prozess beteiligten Bernburger vorenthalten, der damit die von Justizrat Fein vor Prozessbeginn geäußerte Einschätzung, eigentlich sei er Derugas »gefährlichster Feind«, der die Anklage vertretende Staatsanwalt hingegen »nur ein Popanz«1510, bestätigt – und sie doch zugleich auch widerlegt. Denn das unanfechtbare Beweisstück, das aufzuspüren ihm schließlich gelingt, sorgt nicht etwa für Derugas Verurteilung, sondern für seinen Freispruch. Die todkranke Mingo Swieter, so offenbart es ein aus ihrer Feder stammender Brief, hatte Deruga darum gebeten, ihrem Leiden schnellstmöglich ein Ende zu setzen, 1507 1508 1509 1510
Ebd. Ebd, 103. Ebd, 150 (meine Erläuterung). Beide: Ebd, 12.
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wozu sich der Arzt, um die Angst seiner Frau vor Schmerzen wissend, auch sofort entschloss: das vermeintliche Verbrechen als Sterbehilfe. Dass sich der vermeintlich kaltblütige und aus Geldgier verübte Mord in Huchs Der Fall Deruga erst und nur in der Nebenhandlung, an der Peripherie des Geschehens als aus Zuneigung und Menschlichkeit gewährte Tötung auf Verlangen zu erkennen gibt, ist Teil einer sich psychoanalytischer Muster bedienenden Erzählstrategie, die den Text selbst als psychischen Strukturen und Prozessen unterliegendes System modelliert. So hält die Erzählung ihren gattungstypisch verlorenen Anfang, indem sie den gesuchten Ereigniszusammenhang immer wieder an ihre Textoberfläche hebt, ohne ihn aber je ausdrücklich werden zu lassen, im Bereich eines literarisch hergestellten Vorbewussten. Das gilt für den Auftritt eines Deruga gewogenen Zeugen, der seine Aussage mit der im Licht der Falllösung überaus allusiven Bemerkung »und wenn er seine Frau getötet hätte, […] hätte er auch recht gehabt«1511 beendet, ebenso wie auch für die an eine Freundin adressierte Bitte Mingo Swieters, »ihr Gift zu geben, das sie von ihrem Leiden erlöste«1512, die der Gerichtsvorsitzende erst wieder aufgreift, als der tatsächliche Tathergang bereits zweifelsfrei feststeht. Nicht zuletzt ist es das nicht absichtslos bereits zu Anfang der Erzählung namentlich eingeführte Gift Curare, das darauf hindeutet, dass es sich bei dem in Frage stehenden Verbrechen eigentlich um eine radikaltherapeutische Form der Heilung handelt – dieselbe ›Heilung‹ übrigens, die auch Deruga, den psychoanalytischen Selbstvernichtungstrieb noch einmal neu aktualisierend, nach dem Ende des Prozesses für sich selbst wählen wird. Die Schwelle zur (Erzähl-)Bewusstheit überschreitet dieses psychoanalytisch subkutane Textwissen seinerseits als eine Wiederkehr des Verdrängten: Denn der über Umwege in Bernburgers Hände gelangte Brief, in dem Mingo ihren einstigen Ehemann um den Tod bittet, befindet sich in der »zugeknöpfte[n] Seitentasche«1513 eines mit Bindfäden umwickelten und ursprünglich in Papier eingepackten Mantels, den Deruga nach der Tat in einem Kanal versenkt hatte, ohne an das noch darin befindliche Schriftstück zu denken. Dort war der Mantel, der »sich an der Wurzel eines Baumes festgehängt hatte«1514, zufällig gefunden und letztlich an den seine Ermittlungen auch während des Prozesses fortsetzenden Bernburger verkauft worden. Unvermutet und plötzlich taucht die Lösung des Falls, taucht die auch von Deruga selbst für unwiederbringlich gehaltene Erzählung (»Den einzigen Beweis, den ich beibringen konnte, […] hatte ich 1511 1512 1513 1514
Ebd, 33. Ebd, 81. Ebd, 156. Ebd, 165.
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verloren, und ich dachte nicht an die Möglichkeit, ihn wiederzufinden«1515) hier entgegen aller Wahrscheinlichkeit unversehrt auf, wird sie ohne gezieltes Zutun der Figuren buchstäblich an die Oberfläche gespült. Dass sich die sich ihrem Verlust widersetzenden Ereignisse auf diese Weise wieder geltend machen, kommt allerdings, und auch das entspricht ihrer psychoanalytischen Anlage als eigentlich unerwünschtes Textmaterial, nicht einmal dem doch an ihrer Aufklärung arbeitenden Bernburger entgegen, dessen mit großer Überzeugung vorgetragene Schuldvermutung der Fund im entscheidenden Punkt des Tatmotivs revidiert. Tatsächlich erwägt Bernburger sogar, die Wahrheit in einer diesmal absichtsvollen Wiederholung des Verdrängungsprozesses erneut zu unterdrücken, den Brief diesmal endgültig zu vernichten oder ihn einfach zu verschweigen. Nur weil er seinem Abwehrimpuls nicht nachgibt, weil er den neu hervorgetretenen Beweis stattdessen vor Gericht offenlegt, kann sich der Fall detektivisch in das aitiologisch wirksame Geständnis Derugas und juristisch in ein Urteil, den Freispruch des Angeklagten, auflösen. Man kann die Schlusswendung, die Ricarda Huchs Der Fall Deruga nimmt, nun mit Blick auf das in der Regel sorgfältig vorbereitete Dénouement der Detektiverzählung für handwerklich schwach halten, für eine Auflösung des detektivischen Rätsels, die nur unter Zuhilfenahme einer Reihe unwahrscheinlicher Zufälle erreicht wird. Gerade in ihrer unwillkürlichen Anlage hat sie aber zweifelsohne epistemologisches Gewicht. Dass die ihre Wahrheitsfindung mit psychoanalytischen Mitteln betreibende Gerichtsverhandlung, dass selbst die gründlichen Ermittlungen des als »Jäger vor dem Herrn«1516 apostrophierten und in kriminalistischer wie psychologisch-psychiatrischer Hinsicht versierten Bernburger nur unter den besonderen Bedingungen eines unvorhergesehenen Beweisfundes ein greifbares Ergebnis zeitigen, lässt deutlich hervortreten, wie sehr auch die Psychoanalyse als therapeutische Praxis darauf angewiesen ist, dass die von ihr symptombezogen bearbeiteten Erinnerungsinhalte von allein an die Oberfläche drängen, dass sie sich selbsttätig aussprechen. Wie der literarische Prozess vermag sie der verborgenen oder verlorenen Wahrheit einen diskursiven Rahmen zu geben, sicher herbeiführen kann sie sie nicht. Dass der psychoanalytische Subtext des Geschehens so oft ironisierend bis offen kritisch umgesetzt ist, ist auch ein Verweis auf seine begrenzte Wirksamkeit. In diesem Sinn ist es auch zu verstehen, dass der Gerichtsvorsitzende das überschwängliche Lob Dr. von Wydenbrucks für seine psychoanalytisch informierte Verhandlungsführung mit epistemologischem Nachdruck einschränkt. Es handele sich, so setzt er dem Nervenarzt auseinander, bei dem von ihm »mit Absicht« unter dem obsoleten Begriff der »Seelenkunde« vorgestellten Vorgehen 1515 Ebd, 183. 1516 Ebd, 12.
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»um keine eigentliche Wissenschaft […], sondern um ein angeborenes Gefühl, man könnte es Genialität nennen«1517. Wiewohl positiv gewendet ist das Eingeständnis einer bestenfalls bedingten Wissenschaftsfähigkeit der Psychoanalyse hier überraschend deutlich. Ihr therapeutisches Handeln erscheint als Kalkulation mit vielen Variablen, in deren Zentrum die Person des Psychoanalytikers selbst steht. Von seinen Qualitäten als Therapeut, seinem stets neu zu etablierenden und im Übertragungsgleichgewicht zu haltenden Verhältnis zum Patienten ist der Erfolg der Behandlung ebenso abhängig wie von den äußeren Umständen jeder einzelnen Sitzung. Im strengen Sinn wissenschaftlich verlässliche und das heißt: unter den gleichen Umständen reproduzierbare Ergebnisse vermag die Psychoanalyse so nicht zu liefern. Treten die erschwerten Bedingungen einer anhaltend ausgesetzten Kooperation des Patienten hinzu wie sie in der Verteidigungsstrategie von Justizrat Fein vorliegen, der seinem Mandanten zum therapeutischen Widerstand rät (»Ich denke also, wenn Sie konsequent leugnen, bringe ich Sie durch«1518), bleibt die psychoanalytische Methode, das zeigt der literarische Text in aller Deutlichkeit, ein der Figur des Staatsanwaltes vergleichbarer epistemischer Popanz. Ablesbar ist die mangelnde Objektivierbarkeit psychoanalytisch gewonnener Einsichten in einen pathologischen Prozess, ihre nur multifaktoriell konzipierbare Verlässlichkeit auch an den von Dr. von Wydenbruck gestellten Diagnosen. Sie alle unterliegen, insofern sie die gesuchte Wahrheit zwar benennen, ohne sie dabei aber tatsächlich zu treffen, einer eigentümlichen epistemischen Unschärfe. So macht der von dem Nervenarzt als psychoanalytische Basis des pathologischen Beziehungsgeschehens zwischen Deruga und seiner Frau geltend gemachte »Selbstvernichtungstrieb«1519 den Text begrifflich schon sehr früh unbeabsichtigt für Mingo Swieters assistierten Suizid transparent. Auch das behauptete Motiv der Tat, ein »verdrängter Liebestrieb«1520, besitzt offenkundigen Verweischarakter: Mingo Swieter fasst ihre briefliche Bitte in die Worte »Du bist der einzige, der mich lieb genug hat, um mich zu töten« und auch Deruga gibt in seinem Geständnis an, aus »Mitleid und Liebe«1521 gehandelt zu haben. Selbst die kurze Traumdeutungssequenz liefert mit ihrer selbstbewusst vorgetragenen Identifizierung des zu Grunde liegenden latenten Trauminhalts (»Es ist zweifellos, daß sie ihn erwartete«1522) ein in der Sache, nicht aber in der Deutung korrektes Ergebnis.
1517 1518 1519 1520 1521 1522
Alle: Ebd, 60. Ebd, 58. Ebd, 55. Ebd, 54. Ebd, 156 und 177. Ebd, 102.
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Texte: Der aitiologische Erzählraum
Epistemologisch resonant ist zudem das nicht ganz gattungstypische Setting der Erzählung. Das therapeutische Handeln der Psychoanalyse tritt im Umkehrschluss eines Textes, der die detektivische Wahrheitsermittlung vor Gericht als psychoanalytische Situation anlegt, als aitiologische Praxis in der juristischen Wortbedeutung, als Mechanismus der Zuweisung von Schuld auf. Im Spiegel des literarischen Textes wird die vorgeblich auf freie Assoziation setzende ›talking cure‹ zum Verhör, dessen als analytisches Material fungierende Aussagen unter Eid und beileibe nicht immer freiwillig entstehen. Mehr noch: Wenn der Staatsanwalt die Ansicht vertritt, angesichts eines noch immer fehlenden Geständnisses des angeklagten Deruga bleibe nichts übrig, »als den Grund zu untersuchen, aus dem die Handlungen wachsen, nämlich das menschliche Gemüt«1523, richtet sich die psychoanalytische Methode, insofern sie zur Sprache bringen soll, was dieser verweigert, unmittelbar gegen den ihr anvertrauten Patienten. Sie zeigt sich als repressiv-invasive Technik, deren Notwendigkeit im Umgang mit einem widerständigen Gegenüber die mit ihr befassten Figuren in Ricarda Huchs Der Fall Deruga ausdrücklich zu rechtfertigen bemüht sind: »Ginge der Verbrecher nicht dunkle Wege, […] brauchte man ihm nicht auf dunklen Wegen nachzuschleichen. Die Methode des Verbrechers bestimmt die Methode dessen, der ihn entlarven soll«1524.
1523 Ebd, 150. 1524 Ebd, 142.
Zusammenfassung und Ausblick
Es sind vor allem zwei methodische Grundannahmen, die es der vorliegenden Arbeit erlaubt haben, das detektivische Erzählen als eine sich zwischen Literatur und Wissenschaft bewegende Schreibweise zu konturieren. Das ist zum einen das weitreichende Beziehungslinien sichtbar machende Modell eines geöffneten Verhältnisses beider Diskurse, das sich den ursprünglich aus dem angloamerikanischen Raum stammenden, seit mittlerweile mehr als zwei Jahrzehnten aber auch in der deutschen Forschung sehr virulenten ›Literature and Science Studies‹ verdankt, und zum anderen ein über den literarischen Text hinausgreifendes Verständnis des Gattungsbegriffs, wie es in der jüngeren literaturwissenschaftlichen Gattungstheorie vorgeschlagen und entwickelt worden ist. Einen literarischen Text als ein genuin epistemisches Arrangement, als eine spezifische Schreibweise von Wissen, als grundsätzlich mit epistemogenem Potenzial ausgestattet zu verstehen, ist dabei lediglich das jüngste Ergebnis eines auf der erkenntnistheoretischen Basis der Historischen Epistemologie stehenden Öffnungsprozesses, der seitens einer postmodern beeinflussten Literaturwissenschaft zunächst vor allem wissenspoetologisch, mithin also im Sinne einer grundsätzlichen Literarizität von Wissen begleitet worden ist. Die (durchaus kontroverse) Diskussion einer hierzu komplementären Epistemizität der Literatur, die Annahme auch koevolutiver Zusammenhänge zwischen Literatur und Wissenschaft sind dabei ebenso erst in den letzten Jahren verstärkt in den Forschungsvordergrund getreten wie ein die Arbeit mit Einzeltexten ersetzendes Interesse an der epistemischen Valenz zusammengehöriger literarischer Textkollektive, sprich: Gattungen. Dass Gattungen in diesem Zusammenhang überhaupt berücksichtigt werden können, wird auch durch einen neu und umfassender akzentuierten Gattungsbegriff ermöglicht. Eine solche Konzeption der literarischen Gattung, wie sie etwa von Marion Gymnich und Birgit Neumann im Sinne eines ›Kompaktbegriffs Gattung‹ entwickelt worden ist, begreift diese nicht mehr im engeren Sinn als literaturwissenschaftliche Ordnungs- und Verständigungskategorie, sondern als eine die Grenzen des literarischen Textes verlassende Verstehensstruktur, als ein
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kognitives Denkschema, ein kulturell-historisches Deutungsmuster, das entsprechend sowohl im literarischen als auch im wissenschaftlichen Bereich als Modellnarrativ aktualisiert und bearbeitet werden kann. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen hat die vorliegende Arbeit versucht, die von der zugehörigen Forschung bislang weitgehend unberücksichtigte Detektiverzählung als eine Schreibweise sichtbar zu machen, die in geradezu paradigmatischer Weise diskursübergreifend auftritt. Zu erfüllen hatte sie damit vor allem zwei Aufgaben: 1. In einer auch als Forschungsüberblick gestalteten Diskussion von Terminologie, Definition und Genese der literarischen Gattung zunächst deren charakteristische Schreibweise freizulegen, um dann unter den Vorzeichen genau derselben Schreibweise ausgewählte Wissensbereiche in den Blick zu nehmen, die sich zeitgleich auf wissenschaftlich-akademischer Basis formieren und 2. in ausgewählten Einzellektüren die hermeneutischen Konsequenzen einer solchen diskursübergreifende Valenz entfaltenden Schreibweise zu erproben, mit anderen Worten: zu zeigen, was das literarisch-epistemische Flottieren des detektivischen Erzählens für den Umgang mit dem konkreten Text, sei er literarisch oder wissenschaftlich, bedeutet. Die gattungstheoretische Frage nach dem Detektivischen der Detektiverzählung, das verrät bereits eine nur überblickshafte Sichtung der umfangreichen Forschungsliteratur, ist, wiewohl die hierfür gemachten Angebote überaus zahlreich und vielfältig sind, bislang noch nicht konsensbildend beantwortet worden. Das ist durchaus bemerkenswert, handelt es sich bei der Detektiverzählung doch um eine Gattung, die man auch aus eigener Lektüreerfahrung für nachgerade intuitiv erkenn- und beschreibbar halten könnte. Eine (literatur-)wissenschaftliche Umsicht und Geschick demonstrierende Fingerübung war die zuerst im Zentrum der Untersuchung stehende Frage danach, wovon und in Form welchen Narrativs die Detektiverzählung eigentlich erzählt, also mitnichten. Ihrer Beantwortung hat sich die Arbeit über eine sich von bisherigen Deutungsmustern weitgehend freimachende Betrachtung derjenigen Texte genähert, die üblicherweise als Ursprungstexte der Gattung diskutiert werden. Im Einzelnen sind das: Arthur Conan Doyles Sherlock-HolmesErstling A Study in Scarlet von 1887, die in den 1840er Jahren erschienenen Dupin-Erzählungen Edgar Allan Poes, E.T.A. Hoffmanns Das Fräulein von Scuderi von 1819 und – in gelegentlichen Seitenblicken – die um den Ermittler Monsieur Lecoq gruppierten Erzählungen von Émile Gaboriau aus den 1860er Jahren, die für die französische Gattungstradition stehen. An diesen gattungshistorisch prominenten Texten also ließ sich herausarbeiten, dass der detektivische Fall grundsätzlich als eine erzählerische Herausforderung auftritt, als dysfunktionale Geschichte, als ein zunächst verweigertes Erzählganzes, das in
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eine vollständige Erzählung zu überführen die eigentliche Aufgabe des Detektivs ist. Detektivische Texte entfalten sich – mehr oder weniger offensichtlich ausgeführt – im Rahmen eines Arrangements aus einer zunächst nicht zur Verfügung stehenden Erzählung, die den jeweiligen Fall, das zentrale Rätsel bildet, und einer aus ihr am Schluss wiederhergestellten Erzählung, die entsprechend als Falllösung, als Aufklärung fungiert. Detektivische Texte erzählen damit von der Suche nach einer verlorenen Erzählung, in der Regel, aber nicht ausschließlich der eines vermeintlichen oder tatsächlichen Verbrechens. Diese gesuchte Erzählung, und hier eröffnet sich der Blick auf das gattungstypische Narrativ, ist nun aber keine beliebige Erzählung, sondern gleichzeitig der eigentliche Erzählanfang der Detektiverzählung. Denn die Detektiverzählung beginnt ja streng genommen als Ende einer Geschichte, nämlich der des bereits stattgefundenen Verbrechens. Ihr Anfang liegt also zu Beginn bereits »im Rücken der Geschichte«, wie es Ernst Bloch formuliert hat. Die Detektiverzählung erzählt sich so, indem sie sich forterzählt, eigentlich an ihren Anfang zurück, ihre Erzählzukunft liegt in ihrer handlungslogischen Vergangenheit, sie bildet eine Art narratologisches Futur II. Dieses Erzählen im Modus eines »what will have happened« (Champigny) habe ich als ein Erzählen, das in der erzählenden Vorwärtsbewegung seinen eigenen Anfang herstellt, in Beziehung zum funktionsgleichen antiken Ursprungsmythos, dem Aition, gesetzt und das detektivische Erzählen insofern als ein aitiologisches Erzählen, als ein Erzählen vom Anfang definiert. Eben diese aitiologische Orientierung, dieses Erzählen vom Anfang lässt sich nun aber auch als konzeptionelle Signatur einer Reihe von wissenschaftlichen Disziplinen bestimmen, die sich etwa ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und damit eben zur gleichen Zeit wie die literarische Detektiverzählung formieren. Ausgangspunkt der Überlegungen war hier die von Michel Foucault und Wolf Lepenies entwickelte und auch weitgehend akzeptierte These einer Verzeitlichung des Wissens als epistemischer Grundsignatur des 19. Jahrhunderts. Die Rede von der Verzeitlichung des Wissens beschreibt dabei eine mit Grundsatzwirkung ausgestattete Verschiebung in der Wissens- und Wissenschaftskultur des 19. Jahrhunderts, die nahezu alle nicht-naturwissenschaftlichen und, betrachtet man beispielsweise die Geologie, auch manche naturwissenschaftliche Disziplin erfasst. Sie beruht auf wissenschaftlichen Interessenslagen, die erstmals im Wesentlichen und vor allem historisch informiert sind, die also auf der Annahme einer epistemisch relevanten zeitlichen Tiefendimension der jeweiligen Untersuchungsgegenstände fußen. Als Zentralbild dieser Verschiebung kann zweifelsohne der Stammbaum gelten, der in vielen wissenschaftlichen Disziplinen auch als Modell präsent ist. Hervorgegangen aus der ursprünglich statisch organisierten ›Scala Naturae‹, der hierarchischen Stufenleiter aller Lebewesen,
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wird er im 19. Jahrhundert, am prominentesten wahrscheinlich in evolutionstheoretischen Kontexten, im Sinne einer diachronen Aussagedimension dynamisiert. Der Stammbaum wird damit zur exemplarischen Wissensfigur eines im Kern historisch orientierten epistemischen Denkmusters. Als Leitwissenschaft dieses »l’âge de l’histoire«, wie Foucault es genannt hat, gilt in der Regel die Geschichtswissenschaft – und damit ausgerechnet eine wissenschaftliche Disziplin, die spätestens seit ihrem ›narrative turn‹ in den 1970er Jahren ein hochreflektiertes und differenziertes Verhältnis zur epistemogenen Rolle entwickelt hat, die Strukturen und Mechanismen auch des literarischen Erzählens für ihr wissenschaftliches Agieren spielen. Geht man von dieser Debatte aus, die Geschichte als Historie und Narration zugleich aktualisiert, und berücksichtigt dabei die Signifikanz, die das Konzept der Temporalität, des Sich-Entfaltens-in-der-Zeit für eine narratologische Basisdefinition dessen besitzt, was Erzählung überhaupt ist, lässt sich die wissenschaftliche Entdeckung von Geschichtlichkeit, wie sie sich im 19. Jahrhundert vollzieht, auch im Sinne einer narrativen Wende, einer Wende zur Erzählung deuten. Die von dieser Wende erfassten Disziplinen leisten ihre epistemische Arbeit nicht allein auf der Basis eines empirischen Erklärens und Beweisens, sondern auch auf der Basis eines ihre epistemischen Inhalte bedingenden und erzeugenden Erzählens, eines Erzählens also, das als solches eine wissenskonstitutive Wirkung entfaltet – und das dabei mit der aitiologischen Schreibweise der literarischen Detektiverzählung in überaus enger Verbindung steht. Foucaults »l’âge de l’histoire« ist ein Zeitalter der Geschichte wie auch eines der Geschichten, genauer: der detektivisch erzählten Geschichten. Gezeigt hat die vorliegende Arbeit das am Beispiel von vier für die akademische und epistemische Signatur des 19. Jahrhunderts maßgeblichen Disziplinen, die sich in ihren Gegenständen, ihren Methoden und ihrem Erkenntnisinteresse als dem detektivischen Erzählen verpflichtet bestimmen lassen. Das betrifft: 1. die Archäologie mit ihrer stratigrafisch, also chronologisch invers vorgehenden Rekonstruktion eines kulturhistorischen Zusammenhangs, der aber, weil er nur in Form fragmentarischer Relikte vorliegt, im Sinne des gesuchten Fundganzen vor allem auch erzählend herzustellen ist, 2. die Evolutionsbiologie als aitiologische Suche nach einer in fossilen Fragmenten vorliegenden Erzählung vom Anfang der Arten, die immense und damit rein empirisch gar nicht mehr zu bewältigende Zeiträume überspannt und sie auch überspannen muss, um überhaupt Gültigkeit zu entfalten, 3. die bakteriologische Medizin, deren diagnostische Erzählung erstmals vor allem als Suche nach den Ursachen einer Krankheit, im Fall der Bakteriologie also als Suche nach ihrem mikrobiologischen Erreger angelegt ist und damit ausdrücklich als ein krankheitsätiologisches Narrativ fungiert, das den ver-
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sehrten Zustand des Körpergewebes ebenso heilt wie die aitiologische Erzählbewegung der Detektiverzählung ihr versehrtes Erzählgewebe heilt, nämlich indem sie ihm seinen Anfang zurückgibt und 4. die Freud’sche Psychoanalyse, bei der Anamnese, Diagnose und Therapie in der initialen Beschwerdeerzählung des Patienten zusammenfallen, die zu Beginn der Behandlung als Ergebnis eines sie fragmentierenden Traumas zunächst anfanglos vorliegt und entsprechend erzählaitiologisch wie störungsätiologisch aufgearbeitet werden muss, um den gewünschten therapeutischen Erfolg zu erzielen. Indem es so als erkenntnisleitendes Fundament der genannten Disziplinen hervortritt, wird das detektivische Erzählen als eine Schreibweise bestimmbar, die, indem sie literarische wie epistemische Valenz zugleich entfaltet, einen aitiologischen Erzählraum zwischen Literatur und Wissenschaft eröffnet. In diesem Raum sind Literarizität und Epistemizität Eigenschaften, die grundsätzlich jedem der sich in ihm bewegenden Texte zukommen können, der literarischen Detektiverzählung ebenso wie auch dem wissenschaftlichen Text. Entsprechend waren auch die für die anschließende Lektüre ausgewählten Texte chronologisch nach den Wissensfeldern angeordnet, die sie jeweils bearbeiten, nicht aber nach den diskursiven Regeln, denen sie folgen. Hier begegnen sich klassische Texte der Detektivliteratur wie Arthur Conan Doyles The Hound of the Baskervilles oder G.K. Chestertons The Honour of Israel Gow, in der Gattungsdiskussion bislang wenig berücksichtigte Texte wie Adalbert Stifters Turmalin, Theodor Fontanes Unterm Birnbaum oder Leo Perutz’ Der Meister des Jüngsten Tages und wissenschaftliche Grundlagentexte von Charles Darwin über Heinrich Schliemann bis Robert Koch und Sigmund Freud auf Augenhöhe – als Fallbeispiele eines detektivischen Erzählens nämlich, das, so das Ergebnis der vorliegenden Arbeit, als literarische wie wissenschaftliche Schreibweise zugleich fungiert. Von ihrer Balance zwischen bereits kanonischen und erst jetzt in den Blick geratenden Gattungsvertretern abgesehen folgt die Auswahl der besprochenen literarischen Texte dabei, das ist wichtig zu betonen, weder einer streng systematischen noch gar einer auf Vollständigkeit zielenden Absicht. Als Fallbeispiele sind sie genau das: exemplarische hermeneutische Durchgänge, Lektüreschlaglichter, Fundstücke, Koordinatenangebote eines weiter zu vermessenden detektivischen Raumes zwischen den Diskursen. Ähnliches gilt übrigens für die in den Blick genommenen Wissensfelder und Disziplinen. Auch hier sind Erweiterungen und Ergänzungen ohne Weiteres denkbar. Ob etwa der anthropologischen Religionskritik, wie sie Ludwig Feuerbach 1841 in Das Wesen des Christentums formuliert, ob der von Karl Marx ab 1867 in Das Kapital laut Untertitel entworfenen Kritik der politischen Ökonomie ein dem detektivischen Erzählen verpflichteter aitologischer Kern zu Grunde liegt, ob literarische Detektiverzäh-
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lungen ihrerseits ähnliche Wissensbestände entwickeln und bearbeiten, wäre möglicherweise Gegenstand einer aufschlussreichen Untersuchung. Dabei muss es übrigens, auch das ist zu vermerken, nicht zwangsläufig darum gehen, Hierarchien oder klare Einflussverhältnisse zwischen literarischem und wissenschaftlichem Text zu etablieren. Denn zum einen, das hat die Diskussion der ausgewählten Texte gezeigt, ist die Frage, ob es sich hierbei nun eher um ein genealogisches Verhältnis oder um eines der Analogie handelt, gar nicht allgemeingültig zu beantworten. Zum anderen ist sie für Argumentation wie Lektüre im Grunde weitgehend unerheblich. Im Einzelfall mag sie durchaus hermeneutische Relevanz entfalten, das Konzept eines von Literatur wie Wissenschaft gleichermaßen bespielten interdiskursiven Erzählraumes, wie es die vorliegende Arbeit zu entwerfen bemüht war, berührt sie aber höchstens am Rande. Noch drei weitere Beobachtungen möchte ich im Nachgang der Textlektüre ergebnishaft festhalten. So ist deutlich geworden, dass es sich bei der mit der literarischen Detektiverzählung identifizierten aitiologischen Schreibweise der wissenschaftlichen Texte nicht einfach um eine beliebig austauschbare äußere Form des Auftretens von Wissenschaftsprosa handelt. Nachweisbar bei so unterschiedlichen Autoren- und Wissenschaftlertypen wie dem akribisch beobachtenden Charles Darwin, dem auch in seinen Texten zuweilen extravagant auftretenden Heinrich Schliemann, dem größtmöglicher Genauigkeit und Sorgfalt verpflichteten Labormediziner Robert Koch und dem mit wissenschaftlichen Schreibgepflogenheiten recht unbekümmert umgehenden Freud bewegt sie sich eben nicht an der stilistischen Oberfläche der untersuchten wissenschaftlichen Texte, sondern bildet ihre erkenntnisleitende Tiefenstruktur, ihren epistemogenen und die Texte zugleich literarischen Unwägbarkeiten aussetzenden Kern. Allerdings, und das ist die zweite ebenso wichtige Beobachtung, ist das aitiologische Narrativ aber auch nicht alternativlos. Dass wissenschaftlichen Autoren durchaus andere diskursive Formen, andere Schreibweisen zur Verfügung stehen, hat sich beispielsweise in den nicht allein von Freud verantworteten Studien über Hysterie auf engstem Textraum gezeigt. Der Kontrast zwischen den betont zurückhaltend, beinahe spröde berichtenden Fallgeschichten Joseph Breuers und den einer unverkennbar detektivischen Erzähllust entspringenden aitiologischen Wissenschaftsnovellen seines Mitautors Freud ist hier so frappierend wie aufschlussreich. Ebenso aufschlussreich ist freilich auch die ungleiche Wirkmächtigkeit beider Wissenschaftler, die hier doch als in der Sache einiger Forscherverbund auftreten: Dass die von Freud mit den Mitteln und auf der Basis des aitiologischen Erzählens hergestellten Wissensinhalte eine gänzlich andere Rezeptionsgeschichte aufweisen als die seines Kollegen Breuer, lässt auf die Überzeugungskraft, auf die epistemische Valenz dieses Narrativs schließen. Entsprechende alternative Schreibweisen auch in den übrigen Wissensbereichen
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aufzusuchen und sie der hier in den Vordergrund gestellten aitiologischen Schreibweise produktiv entgegenzusetzen, bliebe einer weiterführenden Untersuchung vorbehalten. Und schließlich ist literaturseits zu beobachten, dass es neben den in der Frühphase der Gattungsbildung entstehenden und daher mit einer gewissen vorkanonischen Beweglichkeit ausgestatteten Erzählungen gerade auch ihr nicht eindeutig zugehörige Texte sind, die ein besonderes epistemogenes Potenzial entfalten. Die eng mit dem Konzept der ›sensation novel‹ verbundenen Romane Wilkie Collins’, die im Zentrum des Poetischen Realismus stehenden Texte Wilhelm Raabes und Theodor Fontanes, der mit Elementen der literarischen Fantastik versetzte Roman Leo Perutz’ – sie alle eröffnen mit ihrer gattungshybriden oder zumindest gattungsambigen Anlage einen epistemisch hochresonanten Textraum, wie ihn die spätere Detektiverzählung in ihrer von klaren Rezeptionserwartungen geprägten Form nicht immer ohne Weiteres bieten kann und will. Dass ihr das dennoch mitnichten unmöglich ist, zeigt ein Blick in die hier bislang lediglich berührte Gattungsgeschichte des 20. Jahrhunderts. Er dient gleichzeitig als einer von drei Impulsen, mit denen ich diese Arbeit beenden möchte: Neben dem angekündigten Ausblick über die Jahrhundertwende hinaus sind das ein Rückblick in das 18. Jahrhundert und eine Frage an das 19. Jahrhundert. Für das vergangene Jahrhundert gilt dabei, dass es an wissen(schaft)sgeschichtlichen Wendungen ebensowenig arm ist wie sein Vorgänger. Die mit der um 1900 einsetzenden Entwicklung der Quantenphysik einhergehende Auflösung bislang unumstritten gültiger Konzepte wissenschaftlicher Objektivität und Faktizität, die durch die vor allem auch mit wissenschaftlich-technischen Mitteln bewirkten Verheerungen des Ersten Weltkriegs ausgelöste Abkehr von einem nun als naiv empfundenen Fortschrittsoptimismus, die wissenschaftliches Denken und Handeln seit den 1970er Jahren beeinflussenden postmodernen Impulse – all diese Verschiebungen sorgen für ein stetes epistemologisches Kammerflimmern, das neben verschiedenen Disziplinen und Wissensfeldern auch die generisch zunehmend gefestigte Detektiverzählung erfasst. Denn weder wird diese als Schreibweise obsolet noch gerät sie zum literarischen Ausdruck eines im besten Fall nostalgischen Weltverhältnisses. Stattdessen lassen gattungsgeschichtliche Entwicklungen wie das der erkenntnistheoretischen Entthronung des objektiven Beobachters analoge Infragestellen auch von Erzählerfiguren, wie es Agatha Christie 1926 in The Murder of Roger Ackroyd erprobt, oder das spätere Einfügen der Gattung in postmoderne, in offen epistemologisierte (Stichwort: ›metaphysical detective story‹), hybridisierte und postkoloniale Erzählarrangements vermuten, dass die Gattung in ungebrochener literarischer wie epistemischer Vitalität an den interdiskursiven Bewegungen eines zwar Veränderungen unter-
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worfenen, im Kern aber noch immer intakten aitiologischen Erzählraumes partizipiert, sie begleitet, ihnen nach- und vorausspürt, sie sensibel registriert und befragt. In zeitlich entgegengesetzter Richtung wiederum wäre als zweiter Abschlussimpuls bedenkenswert, inwiefern und gegebenenfalls in welcher Form bereits vor dem Auftreten eines detektivischen Erzählens, wie es die vorliegende Arbeit entworfen hat, interdiskursive Konsonanzphänomene zwischen Literatur und Wissen(schaft) identifizierbar sind. In Frage käme hier vielleicht ein seine Wissensbestände panoptisch anordnendes und herstellendes enzyklopädisches Erzählen, wie es etwa dem sich Ende des 18. Jahrhunderts als Gattung verfestigenden Bildungsroman als Narrativ zu Grunde liegt. Ob es sich hierbei tatsächlich um ein der Detektiverzählung vergleichbares Phänomen, um eine für die epistemischen Verhältnisse des 18. Jahrhunderts ähnlich paradigmatische Schreibweise handelt, wäre zu untersuchen. Die überwiegend synchrone, eben enzyklopädische Verfasstheit etwa einer als Tableau angelegten Naturforschung oder einer vor allem nosologisch operierenden Medizin sprächen jedenfalls dafür. Und schließlich, um für den letzten Impuls noch einmal in das 19. Jahrhundert zurückzukehren, ließe sich die hierzu vorliegende Forschung auch aus einer Perspektive neu akzentuieren, die für die Arbeit selbst zwar nicht argumentationsentscheidend war, nichtsdestotrotz aber interessante Einsichten verspricht. Die Rede ist von den Autorinnen und Protagonistinnen der Gattung. Von E.T.A. Hoffmans Dichter-Detektivin und der namenlosen Ich-Erzählerin aus Adalbert Stifters Turmalin über Wilkie Collins’ Valeria Woodville, Agatha Christies Miss Marple und Dorothy Sayers’ Harriet Vane bis hin zu Kathy Reichs’ Temperance Brennan oder Patricia Highsmiths Kay Scarpetta reichen die Umrisse einer autoren- wie figurenseits erstaunlich früh einsetzenden weiblichen Gattungsgeschichte der Detektiverzählung, wie sie in der Forschung zwar nicht unbeachtet, aber lange doch eher randständig geblieben ist. Dabei scheint es vor allem der gemeinhin als intuitiv beschriebene Zugang besonders der frühen Protagonistinnen zu ihrer Tätigkeit zu sein, der, weil im Vergleich zur methodisch informierten Haltung ihrer männlichen Kollegen als weniger professionell verstanden, zu einer Marginalisierung weiblicher Figuren gerade auch im Rahmen wissens- und wissenschaftsbezogener Zugänge zur Gattung führt. Dass die auf Herz und Bauch vertrauende Detektivin sich nicht als literarisches Spiegelbild des positivistisch auftretenden Forschers eigne, wird vor dem Hintergrund der hier gemachten Beobachtungen freilich als einer Neubewertung zu unterziehender Fehlschluss sichtbar. Denn wo der Great Detective im Stile eines Auguste Dupin oder Sherlock Holmes mit der Lösung möglichst herausfordernder Fälle einen tiefsitzenden intellektuellen Ennui zu betäuben versucht, wo er wie in The Moonstone als Polizeibeamter finanzielle oder als verschmähter Liebhaber pri-
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vate Interessen im Blick hat, folgt sie, im Fall von The Law and The Lady oder Turmalin etwa in aller Ausdrücklichkeit, in der Regel einem Antrieb, der im Sinne der literatur- wie wissenschaftsseits unternommenen aitiologischen Ursprungssuche als so genuin detektivisch wie wissenschaftlich gelten muss: Neugier.
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Abbildungsverzeichnis
Abb. 6: Ein als Baum angelegtes Experimentalschema Robert Kochs S. 373 Die Abbildung stammt aus den Beständen des Robert-Koch-Archivs in Berlin und ist dort unter der Dokumentensigle ›as/w1/01‹ verzeichnet. Entnommen ist sie Gradmann, Christoph (2005): Krankheit im Labor. Robert Koch und die medizinische Bakteriologie. Göttingen, 95. Abb. 7: Psychoanalytisches Schema der Entstehung einer Neurose S. 403 Freud, Sigmund (1986): Brief vom 25. 05. 1897 an Wilhelm Fließ (Beilage). In: Sigmund Freud. Briefe an Wilhelm Fließ, 1887–1904. Hrsg. v. Jeffrey Moussaieff Masson. Frankfurt/Main, 263.