Ethos und Praxis: Der Charakterbegriff bei Aristoteles 9783495813560, 9783495488461


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Inhalt
Vorwort
Einleitung
Kapitel I
§ 1 Der Hintergrund des Charakters: Einleitende Betrachtungen zum ēthos
1.1 Eine kurze Geschichte des ēthos
1.2 Epische und elegische Dichter
1.3 Tragische und komische Dichter
1.4 Die Vorsokratiker
1.5 Die platonische Auffassung des ēthos
1.5.1 Die Semantik des platonischen ēthos und die Politeia
1.5.2 Das ēthos in den Nomoi
1.6 Die aristotelische Auffassung vom biologischen und natürlichen ēthos
1.6.1 Die Relevanz der zoologischen Schriften für die Erforschung des ēthos
1.6.2 Die aristotelische scala naturae
1.6.3 Das tierische ēthos: Eine anthropomorphe Redeweise?
1.6.4 Physiologischer Leitfaden der natürlichen Charakterologie
§ 2 Erste Annäherung an das ēthos im Raum der praktischen Philosophie
2.1 Die Ethik als praxisgerichtetes Wissen
2.1.1 Eine Disziplin für Erwachsene: das ēthos der Jugendlichen
2.1.2 Charakterliche Merkmale der Jugendlichen
2.1.3 Grundlegende Bedingungen für die sittliche Praxis
2.2 Wichtige Antezedenzien der aristotelischen Seelenlehre in Platons Politeia
2.3 Das menschliche ergon und die aristotelischen Seelenteile
2.4 Zwei Lesarten der aristotelischen Seelenlehre
Kapitel II
§ 3 Die Hauptbestimmungen des Habituations- und des Tugendbegriffes
3.1 Drei Ebenen in der Analyse des ēthos
3.2 Die Gattungsbestimmung der Tugend als hexis
3.3 Kognitivistische und nicht kognitivistische Lesarten
3.4 Die physikai aretai und die Mesoteslehre
3.4.1 Die physikai aretai als Prädispositionen für die ethische Tugend
3.4.2 Die edlere Herkunft
3.4.3 Die Naturbegabung
3.5 Die ethische Tugend als eine ›Mitte‹
3.6 Besondere Merkmale der ethischen Tugend
3.7 Die Einheit der Tugenden
3.7.1 Die Totalität der Tugenden als Bedingung für die gute Lebensführung
3.7.2 Die Tugenden im Kleinen und im Großen: eine Debatte
3.7.3 Die zwei Dimensionen der ethischen Tugend und die Erweiterung des Praxisspielraumes
Kapitel III
§ 4 Praktische Weisheit, Vorsatz und Charakter
4.1 Die phronēsis und die intellektuellen Tugenden
4.2 Die Figur des phronimos
4.3 Zwei Kontroversen über das Verhältnis zwischen Vernunft und Charakter
4.3.1 Eine humesche Lesart der aristotelischen phronēsis
4.3.2 Die phronēsis und die Great End-Theorie
4.4 Überlegen mit Hinblick auf Ziele
§ 5 Die prohairesis als Maßstab des Charakters
5.1 Vorsatz und ēthos
5.2 Die Bestandteile der prohairesis
5.2.1 Dianoia und ēthos
5.2.2 Die hexeis und die Motivation zum Handeln
5.2.3 Der Zusammenhang zwischen hexeis und orexeis
5.3 Die Beurteilung eines Handelnden aufgrund seiner prohairesis
Kapitel IV
§ 6 Die aristotelische Charakterologie
6.1 Einleitende Betrachtungen zur Typologie der Handelnden
6.2 Der tierische und der göttliche Charakter
6.3 Der tugendhafte und der lasterhafte Charakter
6.4 Der beherrschte und der unbeherrschte Charakter
§ 7 Charakterveränderung
7.1 Zur Frage nach der Möglichkeit der Verbesserung des Charakters
7.2 Optimistische und pessimistische Aussichten
7.3 Mittel und Grenzen der charakterlichen Verbesserung
Schlusswort
Abkürzungsverzeichnis der zitierten Werke des Aristoteles
Stellenverzeichnis
Literatur
Primärtexte und verwendete Übersetzungen
Aristoteles
Primärtexte
Übersetzungen
Platon
Sonstige Autoren
Hilfsmittel
Sekundärliteraur
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Ethos und Praxis: Der Charakterbegriff bei Aristoteles
 9783495813560, 9783495488461

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Eduardo Charpenel

Ethos und Praxis Der Charakterbegriff bei Aristoteles

BAND 91 PRAKTISCHE PHILOSOPHIE https://doi.org/10.5771/9783495813560

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B

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

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https://doi.org/10.5771/9783495813560 .

Der Charakter ist einer der wichtigsten Begriffe, anhand dessen wir Menschen versuchen, unsere psychische Verfasstheit zu verstehen. Bereits in der aristotelischen praktischen Philosophie finden wir eine detaillierte philosophische Behandlung, die die entscheidende Bedeutung des Charakters in der menschlichen Praxis offenbart. Die vorliegende Studie untersucht, wie dieses Thema in die aristotelische Psychologie und Handlungstheorie eingebettet ist.

Der Autor: Eduardo Charpenel hat mit dieser Arbeit in Bonn promoviert. Seit 2015 ist er an der Facultad de Filosofía der Universidad Panamericana (UP) in Mexiko-Stadt als Dozent festangestellt und lehrt darüber hinaus am Departamento de Estudios Generales am Instituto Tecnológico Autónomo de México (ITAM).

https://doi.org/10.5771/9783495813560 .

Eduardo Charpenel Ethos und Praxis

https://doi.org/10.5771/9783495813560 .

Alber-Reihe Praktische Philosophie Unter Mitarbeit von Jan P. Beckmann, Dieter Birnbacher, Sabine A. Döring, Andrea Esser, Heiner Hastedt, Konrad Liessmann, Guido Löhrer, Ekkehard Martens, Julian Nida-Rümelin, Peter Schaber, Oswald Schwemmer, Ludwig Siep, Dieter Sturma, Jean-Claude Wolf und Ursula Wolf herausgegeben von Christoph Horn, Axel Hutter und Karl-Heinz Nusser Band 91

https://doi.org/10.5771/9783495813560 .

Eduardo Charpenel

Ethos und Praxis Der Charakterbegriff bei Aristoteles

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495813560 .

Gedruckt mit Unterstützung des Deutschen Akademischen Austauschdienstes und der Universidad Panamericana

Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2017 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-48846-1 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-81356-0

https://doi.org/10.5771/9783495813560 .

Inhalt

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13

Kapitel I – Grundlagen für eine Rekonstruktion und Auslegung des aristotelischen ēthos-Begriffes . . . . . . . . . . . . . . . . .

27

§ 1 Der Hintergrund des Charakters: Einleitende Betrachtungen zum ēthos . . . . . . . . . 1.1 Eine kurze Geschichte des ēthos . . . . . . . . . . . 1.2 Epische und elegische Dichter . . . . . . . . . . . . 1.3 Tragische und komische Dichter . . . . . . . . . . . 1.4 Die Vorsokratiker . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5 Die platonische Auffassung des ēthos . . . . . . . . 1.5.1 Die Vielfältigkeit des platonischen ēthos und die Politeia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.2 Das ēthos in den Nomoi . . . . . . . . . . . . 1.6 Die aristotelische Auffassung vom biologischen und natürlichen ēthos . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.6.1 Die Relevanz der zoologischen Schriften für die Erforschung des ēthos . . . . . . . . . . . . . 1.6.2 Die aristotelische scala naturae . . . . . . . . 1.6.3 Das tierische ēthos: Eine anthropomorphe Redeweise? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.6.4 Physiologischer Leitfaden der natürlichen Charakterologie . . . . . . . . . . . . . . . . § 2 Erste Annäherung an das ēthos im Raum der praktischen Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Die Ethik als praxisgerichtetes Wissen . . . . . . . . 2.1.1 Eine Disziplin für Erwachsene: das ēthos der Jugendlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2 Charakterliche Merkmale der Jugendlichen . . .

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Ethos und Praxis

A https://doi.org/10.5771/9783495813560 .

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Inhalt

2.1.3 Grundlegende Bedingungen für die sittliche Praxis . 2.2 Wichtige Antezedenzien der aristotelischen Seelenlehre in Platons Politeia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Das menschliche ergon und die aristotelischen Seelenteile 2.4 Zwei Lesarten der aristotelischen Seelenlehre . . . . . .

Kapitel II – Das ēthos als eine Gesamtheit von Haltungen

86 92 100

. . . . . . . . . 105

§ 3 Die Hauptbestimmungen des Habituations- und des Tugendbegriffes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Drei Ebenen in der Analyse des ēthos . . . . . . . . 3.2 Die Gattungsbestimmung der Tugend als hexis . . . 3.3 Kognitivistische und nicht kognitivistische Lesarten . 3.4 Die physikai aretai und die Mesoteslehre . . . . . . 3.4.1 Die physikai aretai als Prädispositionen für die ethische Tugend . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.2 Die edlere Herkunft . . . . . . . . . . . . . . 3.4.3 Die Naturbegabung . . . . . . . . . . . . . . 3.5 Die ethische Tugend als eine ›Mitte‹ . . . . . . . . . 3.6 Besondere Merkmale der ethischen Tugend . . . . . 3.7 Die Einheit der Tugenden . . . . . . . . . . . . . . 3.7.1 Die Totalität der Tugenden als Bedingung für die gute Lebensführung . . . . . . . . . . . . . . 3.7.2 Die Tugenden im Kleinen und im Großen: eine Debatte . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.7.3 Die zwei Dimensionen der ethischen Tugend und die Erweiterung des Praxisspielraumes . . . . .

. . . . .

. . . . .

105 105 111 119 124

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. . . . . .

126 128 132 134 139 143

. . 144 . . 146 . . 154

Kapitel III – Vernunft und ēthos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . §4 4.1 4.2 4.3

Praktische Weisheit, Vorsatz und Charakter . . . . . . . Die phronēsis und die intellektuellen Tugenden . . . . Die Figur des phronimos . . . . . . . . . . . . . . . . Zwei Kontroversen über das Verhältnis zwischen Vernunft und Charakter . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1 Eine humesche Lesart der aristotelischen phronēsis 4.3.2 Die phronēsis und die Great End-Theorie . . . . 4.4 Überlegen mit Hinblick auf Ziele . . . . . . . . . . .

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PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

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. 161 . 161 . 167 . . . .

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Eduardo Charpenel

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Inhalt

§ 5 Die prohairesis als Maßstab des Charakters . . . . . . 5.1 Vorsatz und ēthos . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Die Bestandteile der prohairesis . . . . . . . . . . . 5.2.1 Dianoia und ēthos . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.2 Die hexeis und die Motivation zum Handeln . . 5.2.3 Der Zusammenhang zwischen hexeis und orexeis 5.3 Die Beurteilung eines Handelnden aufgrund seiner prohairesis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . .

. . . . . .

186 186 194 196 197 200

. . 202

Kapitel IV – Die Typologie der Handelnden und die Charakterveränderung .

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§6 6.1 6.2 6.3 6.4

209 209 211 217 228

Die aristotelische Charakterologie . . . . . . . . . . . . Einleitende Betrachtungen zur Typologie der Handelnden Der tierische und der göttliche Charakter . . . . . . . . Der tugendhafte und der lasterhafte Charakter . . . . . Der beherrschte und der unbeherrschte Charakter . . . .

§ 7 Charakterveränderung . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1 Zur Frage nach der Möglichkeit der Verbesserung des Charakters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2 Optimistische und pessimistische Aussichten . . . . 7.3 Mittel und Grenzen der charakterlichen Verbesserung

. . 238 . . 238 . . 240 . . 248

Schlusswort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abkürzungsverzeichnis

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258

Stellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur

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. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266

Ethos und Praxis

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Vorwort

Dieses Buch präsentiert die leicht überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die ich im Sommersemester 2015 bei der Philosophischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn eingereicht habe. Mein größter Dank gilt Herrn Prof. Dr. Christoph Horn für die engagierte und interessierte Betreuung. Jede Phase dieser Arbeit wurde von ihm intensiv, professionell und warmherzig begleitet. Darüber hinaus haben sein akademisches Vorbild und seine Leidenschaft für die Philosophie mich während meiner Zeit in Deutschland tiefgehend geprägt und wirken immer noch entscheidend auf meine eigene akademische Tätigkeit. Aus diesen Gründen bin ich ihm tief verschuldet. Herrn Prof. Dr. Theo Kobusch möchte ich für die Übernahme des Zweitgutachtens und für die hilfreichen Hinweise danken. Großer Dank gebührt Dr. Simon Weber und Dr. Anna Schriefl. Sie haben mich vom Anbeginn meines Aufenthaltes in Bonn akademisch und persönlich vielfach unterstützt. Durch ihre Hinweise war es für mich u. a. möglich, zentrale Punkte meiner Untersuchung sorgfältiger zu behandeln. Danken möchte ich auch Prof. Dr. César Casimiro, Prof. Dr. André Laks, Prof. Dr. Maria Liatsi, Prof. Dr. José Molina, Prof. Dr. Alberto Ross, Prof. Dr. Alejandro Vigo, Prof. Dr. Héctor Zagal und Dr. Elizabeth Mares, mit denen ich zu verschiedenen Gelegenheiten über die aristotelische praktische Philosophie diskutiert habe. Von ihren unterschiedlichen Anmerkungen und Ratschlägen habe ich sehr profitiert, um mehr Klarheit in meiner Argumentation und in der Ausführung meiner Gedanken zu gewinnen. Für die sprachliche und inhaltliche Verbesserung des Textes bin ich insbesondere Abida Malik, die die ganze Arbeit in ihrer letzten Fassung gründlich korrigiert und mit mir im Laufe der letzten drei Jahre verschiedene uns interessierende Themen diskutiert hat, sehr Ethos und Praxis

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Vorwort

zu Dank verpflichtet. Ihre philosophische Freundschaft ist von enormer Bedeutung für mich. Ein ganz besonderer Dank geht an meine Kollegen und Mitdoktoranden, die mir im Rahmen des von Prof. Dr. Christoph Horn geleiteten Oberseminars verschiedene Anregungen gegeben haben, bestimmten Fragen der aristotelischen Philosophie gründlicher nachzugehen. In dieser Hinsicht möchte ich mich bei Dr. des. Denis Walter, Rafael Moreno, Laura Summa und Martin Brecher besonders bedanken. Mein Dank geht ebenso an alle meine Freunde aus Mexiko, die mich im Laufe meiner Jahre in Deutschland ermutigt haben, dieses wichtige akademische Ziel zu erreichen. Insbesondere möchte ich Prof. Dr. Dulce María Granja erwähnen, deren Hilfe und Freundschaft keine Danksagung gerecht werden kann. Ohne ihre Unterstützung wäre diese Arbeit unmöglich gewesen. Ganz großer Dank geht an meine Eltern Carlos und Yolanda, die immer an mich geglaubt und mir all das gegeben haben, was ein Sohn sich zu wünschen vermag. Ihnen ist diese Arbeit gewidmet. Ferner danke ich dem Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) dafür, mein Studium in Deutschland durch ein großzügiges Stipendium gefördert und das Erscheinen dieser Arbeit mit einem Druckkostenzuschuss ermöglicht zu haben. Der Universidad Panamericana danke ich auch für die finanzielle Unterstützung für diese Veröffentlichung. Nicht zuletzt möchte ich dem Verlag Karl Alber und den Herausgebern der Reihe Praktische Philosophie für die Aufnahme meiner Arbeit in die Reihe meinen Dank zum Ausdruck bringen. Eduardo Charpenel, im September 2016

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PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Eduardo Charpenel

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Einleitung

Einer der wichtigsten Begriffe, anhand dessen wir Menschen versuchen, unsere psychische Verfasstheit zu verstehen, ist zweifelsohne der des Charakters. Der Charakter gilt als ein Begriff, der nicht nur im Rahmen einer philosophischen oder psychologischen Fachdiskussion relevant ist, sondern als einer, der auch im alltäglichen Leben häufig zum Tragen kommt, um verschiedene Aspekte der Identität, Persönlichkeit und Präferenzen von uns und unseren Mitmenschen zu bezeichnen. In unserem Sprachgebrauch verwenden wir diesen Terminus beispielsweise, um darauf hinzuweisen, durch welche Grundzüge sich jemand auszeichnet und welche Reaktionen bei ihm oder ihr in verschiedenen Handlungskontexten zu erwarten sind. Wir assoziieren mit ihm angeborene Merkmale, sittliche Haltungen, gewisse Fähigkeiten und Talente sowie die Grundlage des emotionalen seelischen Zustandes. Manchmal wird angenommen, dass es ganz konkrete Charaktertypen gibt, in welche sich alle Menschen einordnen lassen, und dass es sehr schwer – wenn überhaupt möglich – ist, den eigenen Charakter zu verändern. Dieser Aspekt unseres Selbst scheint in unserer Psyche so tief eingebettet zu sein, dass es für uns keineswegs leicht ist, zu bestimmen, worin genau er besteht und wie er von anderen seelischen Phänomenen und Vermögen abzugrenzen ist. Die umfassende Natur des Charakterbegriffes kann einerseits den Eindruck erwecken, dass er etwas Wesentliches ist, von dem wir Rechenschaft ablegen müssen, um überhaupt verstehen zu können, wer wir sind. Andererseits kann gerade die Vielschichtigkeit dieses Terminus uns leicht zur skeptischen Auffassung führen, dass es sich im Grunde um ein leeres Wort handelt, das so viel wie nichts bezeichnet, und dass es eigentlich nur darauf ankommt, die verschiedenen Elemente sorgfältig auszudifferenzieren, aus welchen dieses irreführende Ideenbündel besteht. Wie dem auch sei, es ist offensichtlich, dass die Frage um die Natur des Charakters nicht einfach beiseitegeschoben werden kann, Ethos und Praxis

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Einleitung

sondern vielmehr eine gründliche Analyse erfordert. In der vorliegenden Studie wird der Versuch unternommen, eine detaillierte Revision des Charakterbegriffes (ēthos) bei Aristoteles durchzuführen. Dieses Thema in der aristotelischen Philosophie anzugehen und ihm eine Untersuchung zu widmen, ist m. E. nicht nur durch die Behauptung zu rechtfertigen, dass Aristoteles eine der zentralen Figuren des abendländischen Denkens ist, der sich damit am ausführlichsten auseinandergesetzt hat – was klarerweise der Fall ist –, sondern dadurch, dass bezüglich der Frage nach der systematischen Rolle, die das ēthos innerhalb seiner praktischen Philosophie spielt, noch kein Konsens unter den Kommentatoren erreicht wurde, und dass es weitere Debatten in der Aristoteles-Forschung gibt, die eng mit der vorliegenden Thematik zusammenhängen und für welche neuere Aussichten eröffnet werden können, wenn erst einmal genau erforscht wird, was Aristoteles unter dem Charakter verstanden hat. Ein klares Muster, das darin besteht, dass sehr unterschiedliche – und sogar entgegengesetzte – Vorstellungen mit dem aristotelischen ēthos-Begriff in Verbindung gebracht werden, lässt sich anhand der folgenden Zitate von zwei prominenten Figuren wie Otfried Höffe und Hans-Georg Gadamer veranschaulichen: Das Grundwort ēthos bedeutet nämlich dreierlei: den gewohnten Ort des Lebens, die Gewohnheiten, die an diesem Ort gelebt werden, schließlich die Denkweise und Sinnesart, den Charakter. Wegen der ersten Bedeutung befasst sich Aristoteles auch mit den sozialen und politischen Institutionen; zu seiner Ethik im weiteren Verständnis gehört die Politik dazu. Wegen der zweiten Bedeutung nimmt seine Ethik Züge einer Ethologie an, einer Lehre jenes ethos (Gewohnheit, Sitte), das mit ēthos etymologisch verwandt ist (vgl. NE II 1, 1103a17 ff.). Aristoteles untersucht allerdings nicht die Üblichkeiten seiner Zeit. Im Unterschied zu einer empirischen Verhaltensforschung oder empirischen Soziologie befasst er sich primär mit den Grundlagen menschlichen Verhaltens überhaupt. Und gemäß der dritten Bedeutung von ēthos entwickelt er eine Normative Ethik, die sich für weit mehr als nur ein Moralprinzip interessiert (Höffe 2006, S. 188). Orientieren wir uns stattdessen lieber an Aristoteles, bei dem es keinen Wertbegriff gibt, sondern »Tugenden« und »Güter«, und der dadurch zum Begründer der philosophischen Ethik geworden ist, dass er die Einseitigkeit des sokratisch-platonischen »Intellektualismus« berichtigte, ohne seine wesentlichen Einsichten preiszugeben. Der Begriff des Ethos, wie er ihn zugrunde legt, drückt ja eben das aus, dass die »Tugend« nicht nur im Wissen besteht, dass die Möglichkeit des Wissens vielmehr von dem abhängt, wie einer ist, dieses Sein eines jeden aber wiederum durch Erziehung und

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PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Eduardo Charpenel

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Einleitung

Lebensweise seine vorgängige Prägung erfahren hat. Vielleicht ist der Blick des Aristoteles stärker auf die Bedingtheit unseres sittlichen Seins, auf die Abhängigkeit des einzelnen Entschlusses von seinen jeweiligen praktischen und gesellschaftlichen Determinanten gerichtet und weniger auf die Unbedingtheit, die dem ethischen Phänomen zukommt. […] Aber es gelingt Aristoteles, das Wesen des sittlichen Wissens so aufzuklären, dass es ebenso sehr die Subjektivität des moralischen Bewusstseins, das den Konfliktfall beurteilt, im Begriff der »Vorzugswahl« deckt, wie auch die tragende Substantialität von Recht und Sitte, die sein sittliches Wissen und sein jeweiliges Wählen bestimmt. Seine Analyse der Phronesis erkennt im sittlichen Wissen eine Weise des sittlichen Seins selbst, die entsprechend nicht ablösbar ist von der ganzen Konkretion dessen, was er Ethos nennt (Gadamer 1987, S. 182–183).

Gewiss muss gesagt werden, dass die Texte, aus denen die oben angeführten Zitate entstammen, keine erschöpfende Analyse des Themas ēthos bei Aristoteles beanspruchen und sehr unterschiedliche Ziele verfolgen. Es ist nichtsdestoweniger erstaunlich, dass sie fast diametral gegensätzliche Auffassungen bezüglich unseres Themas zum Ausdruck bringen. Während Höffe auf die verschiedenen Bedeutungsebenen dieses Terminus, die in den aristotelischen Schriften auftauchen, hinweist, vertritt Gadamer im Anschluss an Aristoteles ein engeres Verständnis von ēthos, und zwar als Summe der Gewohnheiten und Verhaltensweisen, die unsere Faktizität prägen. Das Auffälligste ist aber, dass Höffe die Existenz einer Dimension des ēthos ausdrücklich behauptet, die prinzipiell mit diversen Prinzipien und Grundsätzen der Ethik qua philosophische Disziplin zu tun hat – und welche ihm zufolge als der eigentümliche philosophische Bereich gilt –, während Gadamer hingegen die These verteidigt, dass die Aktualität von objektiv guten Praxisformen einen deutlichen Vorrang gegenüber abstrakten Regeln und Normen habe und die ersteren unter dem ēthos als eine Art von Oberbegriff subsumiert bzw. verstanden werden können. Der bloße Kontrast zwischen diesen interpretatorischen Ansätzen beantwortet selbstverständlich nicht die Frage, wie Aristoteles in Bezug auf das ēthos am besten zu interpretieren ist – eine solche Unternehmung kann nicht erfolgen, ohne die aristotelischen Texte selbst einer sorgfältigen Untersuchung zu unterziehen. Allerdings drückt diese Gegenüberstellung klarerweise aus, dass die Interpretationslage bezüglich dieses Themas weit davon entfernt ist, uniform zu sein. Dass eine Meinungsverschiedenheit in Bezug auf unser Thema herrscht, wie sich erahnen lässt, ist natürlich etwas, das nur durch Ethos und Praxis

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Einleitung

unterschiedliche Faktoren zu erklären ist. Eine entscheidende Ursache besteht aber m. E. darin, dass bisher nur wenige Monographien entstanden sind, deren Hauptziel es war, den ēthos-Begriff bei Aristoteles im Rahmen der gesamten Architektonik seiner praktischen Philosophie zu erforschen. 1 Die Monographie The Fabric of Character: Aristotle’s Theory of Virtue von Nancy Sherman (1991) gilt seit langem in der Forschungsliteratur als die Monographie, die dieses Thema am gründlichsten behandelt. Eine kritische Lektüre dieser Studie zeigt allerdings, dass Sherman unter Charakter im Allgemeinen die Verfasstheit eines guten ethischen Akteurs versteht. Man findet in ihrer Arbeit keine eigenständige Diskussion über die Natur des ēthos qua Seelenteil, in dem die verschiedenen durch die Praxis anzueignenden Haltungen angesiedelt sind. Sherman geht in ihrer Studie überhaupt nicht der Frage nach, ob die Haltungen eine spezifische psychische Einheit ausmachen, was meiner Ansicht nach zu einer nicht gelungenen Darstellung des Zusammenhanges zwischen den charakterlichen Tugenden und der phronēsis führt. Ihre Analyse ist zwar vor allem darauf gerichtet, die Grundzüge der Habituationslehre und der Theorie der praktischen Rationalität bei Aristoteles zu analysieren, aber es fällt dem aufmerksamen Leser auf, dass sie in wichtigen Teilen ihrer Diskussion die Grundlagen dieser Problematiken in der aristotelischen Seelenlehre nicht genügend berücksichtigt. Ferner lässt sich behaupten, dass ein Hauptziel von Shermans Studie darin besteht, für eine partikularistische Position im Rahmen der Generalismus-Partikularismus-Debatte bei Aristoteles zu plädieren (siehe Hoffmann 2010, S. 153–156), was natürlich zur Konsequenz führt, dass verschiedene Argumente, die von ihr angeführt werden, eher als ein Beitrag zu dieser metaethischen Diskussion zu verstehen sind. Dies steht in deutlichem Kontrast zu der Forschungslage anderer aristotelischer Werke. Ausgezeichnete Monographien wie diejenigen von Schütrumpf (1970) und Wörner (1990) zielten beispielsweise hauptsächlich darauf ab, den ēthos-Begriff in der Poetik und in der Rhetorik jeweils zu untersuchen, wobei sie zwar wichtige theoretische Brücken zu seiner praktischen Philosophie geschlagen haben, ohne aber auf dieses Problem in diesem besonderen Kontext weiter einzugehen. Zwei andere Monographien, die das Thema ēthos in der Rhetorik untersucht haben, sind diejenigen von Wisse (1989) und Uscatescu (1998), wobei anzumerken ist, dass Wisse mit seiner Studie beabsichtigt, eine vergleichende Analyse zwischen Aristoteles und Cicero durchzuführen, im Rahmen derer er besonders Wert darauf legt, zu bestimmen, wie Cicero Aristoteles rezipiert hat, während es sich Uscatescu hingegen primär zur Aufgabe macht, die Natur der Emotionen und Affekte bei dem Redner und seinem Publikum zu erörtern.

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PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Eduardo Charpenel

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Einleitung

Zwei andere Studien hingegen, die unserer Ansicht nach den ēthos-Begriff erfolgreicher angehen, sind diejenigen von Solange Vergnières (1995) und Kevin L. Flannery (2013). In ihrer Studie namens Éthique et politique chez Aristote: φύσις, ἦθος, νόμος unternimmt Vergnières den Versuch, eine sehr umfassende Darstellung des ēthos bei Aristoteles zur Verfügung zu stellen, indem sie den philosophischen, politischen und historischen Hintergrund, vor welchem der aristotelische Ansatz zu interpretieren ist, auf eine detaillierte Weise rekonstruiert, wobei es ihr gelingt, die große Bedeutung der faktischen Praxiswelt, in welcher ein Handelnder sich sittlich entfalten muss, hervorzuheben und somit verschiedene Aspekte der aristotelischen Position überzeugend darzustellen. Flannery macht es sich seinerseits zur Aufgabe in Action and Character According to Aristotle: The Logic of the Moral Life, auf eine sehr durchdachte und systematische Weise die aristotelische Handlungstheorie zu rekonstruieren, und zwar mit dem Ziel, Rechenschaft von dem Zusammenhang abzulegen, den es zwischen den von Aristoteles erkannten Handlungstypen und den verschiedenen Handlungsakteuren gibt. Trotz der unleugbaren Verdienste dieser Monographien – von denen ich übrigens maßgeblich profitiert habe, um einige Aspekte meiner eigenen Lesart besser zu formulieren und gewisse Interpretationsfehler zu vermeiden – bin ich der Ansicht, dass beiden Studien bestimmte methodologische Voraussetzungen zugrunde liegen, die letztlich verhindern, die Reichweite der aristotelischen Auffassung des ēthos in vollem Ausmaß zur Geltung zu bringen. In Bezug auf die Analyse von Vergnières kann gesagt werden, dass ihr Versuch, die Bedeutung der guten Charakterbildung der Bürger für die optimale Teilnahme am politischen Leben und die Konsolidierung des Gemeinwesens in den Vordergrund zu stellen, nicht der Komplexität des aristotelischen Tugendbegriffes gerecht wird. Verschiedene Aspekte, die in der heutigen Diskussion als umstritten gelten – wie etwa der kognitive Inhalt der Tugenden und ihre sogenannte Einheit –, werden von ihr vernachlässigt oder einfach nicht problematisiert. Ihre Akzentsetzung auf die besondere Rolle, die Aristoteles dem ēthos im Rahmen der politischen Philosophie zukommen lässt, führt in ihrer Arbeit dazu, dass die innere Verfasstheit des konkreten handelnden Akteurs in den Hintergrund gedrängt wird, wobei die verschiedenen Charakterebenen, die im zweiten Kapitel ihrer Arbeit trefflich erkannt werden, im weiteren Verlauf ihrer Diskussion kaum mehr beachtet werden. Dahingegen kann man bezüglich Flannerys Ansatz konstatieren, dass er Ethos und Praxis

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zwar versucht, die besonderen Handlungsakteure nicht außer Acht zu lassen, wie sich aus den letzten drei Kapiteln seines Buches, in denen er die Typologie der Handelnden bei Aristoteles diskutiert, ersehen lässt. Allerdings kann man feststellen, dass die spezialisierte Diskussion, auf welche im ersten Teil seiner Studie eingegangen wird, um u. a. verschiedene Fehldeutungen der aristotelischen Handlungstheorie zu widerlegen, ihm in den folgenden Abschnitten wenig Spielraum lässt, um zu erklären, wie er die Natur der Habituationsprozesse versteht und anhand welcher Kriterien man am angemessensten die verschiedenen von Aristoteles beschriebenen Charaktertypen unterscheiden kann. In Anbetracht der vorherigen Ausführungen über die Forschungslage könnte man schlussfolgern, dass das von uns zu behandelnde Thema im Grunde bisher wenig erforscht worden ist. Das ist allerdings in einer bestimmten Hinsicht klarerweise nicht der Fall. Da es sich um eine so zentrale Thematik bei Aristoteles handelt, ist es offensichtlich, dass sie mehr oder weniger immer angesprochen werden muss, wenn man sich vornimmt, die aristotelische praktische Philosophie zu untersuchen, da man im Grunde mit der Aufgabe konfrontiert ist, das von ihm konzipierte Menschenbild zu verstehen. Außerdem ist darauf hinzuweisen, dass Aristoteles in Anlehnung an Platon eine direkte Verbindung zwischen der Gewöhnung und dem Charakter etabliert (siehe NE II 1, 1103a17 ff.; EE II 2, 1220a38– 1220b3; Nomoi VII 792e), wobei klar ist, dass jede Untersuchung über die aretai unvermeidlich zu gewissen Betrachtungen über die Natur des ēthos führen muss. So ist es zu erklären, dass ich in der vorliegenden Studie auf unterschiedliche gegenwärtige Debatten in der Aristoteles-Forschung eingehe, die in direktem Zusammenhang mit der Frage nach der Rolle der charakterlichen Tugend stehen. Ich bin der Überzeugung, dass man neue Einsichten in diese Diskussionen gewinnen kann, indem man die Tugenden nicht voneinander isoliert betrachtet, sondern als einen Teil einer umfassenderen seelischen Einheit. Diese Sichtweise eröffnet m. E. einen neuen Zugang, um unterschiedliche Fragen zu klären, wie etwa ob die charakterlichen Tugenden kognitiv geprägt sind, ob die These der Einheit der Tugenden konsistent ist, und ob die Handlungszwecke Deliberationsgegenstände werden können. Daher gilt diese Perspektive als ein wichtiger Leitfaden, anhand dessen unsere Untersuchung aufgebaut wird. Unser Argumentationsgang kann im Umriss folgendermaßen dargestellt werden. Im ersten Kapitel der vorliegenden Studie wird 18

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der philosophische und historische Kontext, in welchen sich der aristotelische Ansatz einbettet, dargestellt und diskutiert. Durch die sorgfältige – wenngleich keineswegs erschöpfende – Berücksichtigung der verschiedenen Gebrauchsweisen und Bedeutungen des Terminus ēthos vor Aristoteles wird versucht, einen Verstehenshorizont zu gewinnen, vor welchem beurteilt werden kann, inwiefern Aristoteles sich an die vorangehende Tradition anlehnt bzw. sich von ihr distanziert, um seinen eigenen Ansatz zu formulieren. Es wird auch in diesem ersten Teil unserer Studie untersucht, wie dieser Terminus von Aristoteles sowohl im Rahmen seiner biologischen Schriften als auch in Bezug auf junge Menschen verwendet wird. Dadurch wird festgestellt, welche Merkmale sowohl einem »tierischen« als auch einem noch nicht durch Habituation entwickelten menschlichen Charakter zukommen. Dass der Mensch durch seine physische bzw. biologische Natur in hohem Maße bestimmt wird, ist ein entscheidender Faktor, der nicht außer Acht gelassen werden kann, selbst wenn es sich bei Aristoteles nicht bezweifeln lässt, dass die Menschen gemäß Vorsätzen und Zielen agieren können und eben als zurechnungsfähig gelten. Demzufolge wird unser Augenmerk auf die biologische Theorie des ēthos gerichtet, um gewisse Naturbedingtheiten und -gegebenheiten zu thematisieren, die für ein angemessenes Verständnis des Menschen qua Lebewesen zu berücksichtigen sind. Anschließend werden verschiedene Betrachtungen mit Hinblick auf die Adressaten der Ethik ins Feld geführt, um den Weg in den Bereich der praktischen Philosophie zu bahnen. Unterschiedliche Textstellen werden beleuchtet und im Detail analysiert, an denen Aristoteles wichtige anthropologische Merkmale der jungen Menschen behandelt, die entscheidend sind für das Wirken des philosophischen praktischen Wissens auf ihre Lebensführung. Dies wird als ein fruchtbares Beispiel thematisiert, anhand dessen man eine angemessene Vorstellung des Charakters gewinnen kann. Weitere Argumentationen werden in Bezug auf die aristotelische Seelenlehre angeführt, um die Beziehung zwischen dem vernünftigen und dem an Vernunft teilhabenden Seelenteil zu erörtern. Anhand der bisher gewonnenen Erkenntnisse wird im zweiten Kapitel eine Einteilung eingeführt, um die verschiedenen Bedeutungen und systematischen Implikationen des ēthos auszudifferenzieren. Man assoziiert das ēthos zwar hauptsächlich mit dem zu habitualisierenden Seelenteil, in dem die verschiedenen Arten von Haltungen, die man durch die Praxis erwirbt, ihren Sitz haben. Die Habituation Ethos und Praxis

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ist zweifellos eine Bedingung, die unter allen Umständen zu berücksichtigen ist, wenn man versucht, die innere Verfasstheit eines Handelnden zu analysieren. Ich widme mich allerdings der Aufgabe, zu erklären, warum es am angebrachtesten ist, die aristotelische Auffassung des ēthos als eine Theorie zu interpretieren, die nicht nur aus dieser, sondern auch aus anderen Beschreibungsebenen besteht, nämlich der des faktischen biologischen ēthos und der des konkreten Zusammenhanges zwischen den ethischen Dispositionen und der phronēsis. Aufgrund der Tatsache, dass das ēthos von Aristoteles aus verschiedenen Gesichtswinkeln untersucht wird, könnte man vielleicht zur Einsicht gelangen, dass er ganz unterschiedliche Auffassungen gehabt habe, was das ēthos sei, die nicht notwendigerweise etwas miteinander zu tun haben. Ich vertrete allerdings die These, dass all diese Aspekte im Grunde ein einziges ēthos ausmachen. Die Unterscheidung zwischen unterschiedlichen Charakterebenen wird nur für die Zwecke der philosophischen Theorie eingeführt und damit wird keinesfalls beansprucht, dass dies eine scharfe ontologische Demarkation in der Realität nach sich zieht. Es wird gezeigt, dass, selbst wenn Aristoteles sich auf eine dieser Ebenen konzentriert, er nicht das umfangreichere theoretische Gebilde außer Sicht lässt, in welches sich seine verschiedenen Betrachtungen einbetten lassen. Die schwierigen Fragen, die hinsichtlich dieser Ebenen entstehen können und mit denen ich mich großenteils in den weiteren Schritten meiner Untersuchung beschäftige, beziehen sich eher auf konkrete Aspekte der Verhältnisse, in denen diese Stufen zueinander stehen. Deswegen setze ich mich in den anderen Teilen dieses Kapitels mit Fragen bezüglich der Gattungsbestimmung der Tugend als eine Haltung (hexis), der Kontinuität zwischen den natürlichen und ethischen Tugenden und der Einheit der verschiedenen Charaktertugenden auseinander. Im Rahmen meiner Behandlung dieser Themen gehe ich auf zwei Diskussionen ein, die in letzter Zeit innerhalb der Aristoteles-Forschung entstanden sind. Einerseits wird in der Literatur diskutiert, ob die charakterliche Tugend als kognitiv aufgeladen bzw. nicht kognitiv zu verstehen ist. Jessica Moss und Deborah Achtenberg vertreten beispielsweise eine Lesart, der zufolge die charakterliche Tugend auf eine nicht kognitive Weise aufzufassen ist, weil sie im alogon-Seelenteil verankert ist und als primäre Gegenstände Lust und Unlust hat. Nach einer Darstellung ihrer Argumente diskutiere ich in meiner Studie, warum ich diese Interpretationslinie nicht für überzeugend halte. Aufgrund der 20

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Tatsache, dass die hexeis teleologisch strukturiert sind und eine Bezogenheit auf die unterschiedlichen Praxiskontexte, in denen sie zustande gekommen sind, haben, versuche ich zu zeigen, dass man der aristotelischen Theorie nur gerecht wird, indem man die Tugenden als kognitive Zustände der Seele erfasst. Außerdem erhebe ich einen weiteren Einwand gegen diese Lesart, und zwar, dass sie nicht imstande ist, die charakterlichen Tugenden qua seelische Phänomene voneinander zu unterscheiden. Um das zu bewerkstelligen, muss man ihnen m. E. notwendigerweise einen bestimmten kognitiven Inhalt zuschreiben. Indem man auf die von mir suggerierte Weise die charakterliche Tugend interpretiert, ist es auch möglich, die begriffliche Verbindung zwischen der aretē und der prohairesis zu rekonstruieren – ein Thema, mit dem ich mich später im dritten Kapitel großenteils beschäftige. Andererseits wird zwischen verschiedenen Kommentatoren kontrovers diskutiert, ob die aristotelische These, der zufolge man alle charakterlichen Tugenden besitzen muss, um als tugendhafter Akteur gelten zu können, überhaupt plausibel ist. Ein prominenter Kommentator, der seine Zweifel diesbezüglich geäußert hat, ist Terence Irwin. Laut Irwin ist es kaum nachvollziehbar, dass der gesamte Tugendkatalog, den Aristoteles in seinen ethischen Schriften entwirft, auf einmal erworben werden kann, vor allem wenn man bedenkt, dass gewisse Tugenden wie die Großzügigkeit (megaloprepeia) und der Stolz (megalopsychia) nur von gewissen Menschen zu erreichen sind, denen verschiedene Güter zur Verfügung stehen bzw. die gewisse politische Ämter bekleiden oder eine prominente Stelle in der Gesellschaft haben. Der Erwerb dieser Tugenden ist deshalb nicht für alle Menschen zwingend erforderlich, was Anlass dazu geben kann, zu bezweifeln, ob die aristotelische These der Einheit der Tugenden eigentlich ernst zu nehmen sei. Gegen diese Position vertrete ich im letzten Teil dieses Kapitels die Ansicht, dass die These der Einheit der Tugenden durchaus von großer Bedeutung für die aristotelische praktische Philosophie ist, aber um sie zu verstehen, muss man zwei Aspekte der charakterlichen Tugend voneinander unterscheiden, nämlich ihre Dimension als Tätigkeit (energeia) von ihrer Dimension als Haltung (hexis). Die Interpretation, die ich diesbezüglich vertrete, ist die folgende: Die Tugenden qua Tätigkeiten erfordern oftmals von den Akteuren besondere Kenntnisse, die ihnen häufig nicht zur Verfügung stehen, weil sie mit der fraglichen Angelegenheit nicht genügend vertraut sind, um das angestrebte Ziel erfolgreich zu erEthos und Praxis

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reichen – z. B. einen Sieg in einer Seeschlacht. Dies muss allerdings nicht unbedingt zur Schlussfolgerung führen, dass der Handelnde, der daran teilgenommen hat und sein Ziel nicht erreicht hat, sittlich nicht gut disponiert war bzw. nicht die Tugend der Tapferkeit besaß. Durch das Erziehungsmodell, das Aristoteles skizziert, ist es m. E. zu erwarten, dass ein Akteur mit Situationen des menschlichen Lebens konfrontiert wird, die es ihm ermöglichen, die grundlegenden Haltungen zu erwerben, um die eudaimonia anzustreben und das Gute zu treffen. Dabei bleibt aber immer ein Spielraum offen, in dem ein Handelnder sich weiter perfektionieren kann, indem er sich mit diversen Eventualitäten auseinandersetzt und mehrere Erfahrungen sammelt. Dies ist m. E. ein nicht zu vernachlässigendes Element der gesamten aristotelischen praktischen Philosophie als einer Strebenstheorie. Die Haltungen, kraft derer wir imstande sind, das Mittlere (meson) zu treffen, können immer ihr Wirkungsfeld erweitern, dadurch, dass wir eine größere Vertrautheit mit den unterschiedlichen Praxisformen und den diversen Handlungskontexten, in denen wir agieren müssen, gewinnen. Anhand dieser Unterscheidung zwischen diesen beiden Aspekten der charakterlichen Tugend – deren Basis ich auf die aristotelischen Texte zurückverfolge – kann man meiner Ansicht nach Irwins Einwand erfolgreicher als mit anderen Argumentationslinien wie denjenigen von Richard Kraut und Edward Halper entkräften. Im dritten Kapitel beschäftige ich mich im Detail mit der Natur der ethischen Tugenden und den Berührungspunkten mit den intellektuellen Tugenden – d. h., hier wird letztlich die oberste theoretische Ebene unserer Einteilung des ēthos behandelt. Die Wechselwirkung zwischen dem vernünftigen und dem unvernünftigen Seelenteil ist von großem Belang im aristotelischen Modell, um Rechnung davon abzulegen, wie verschiedene Handlungsakteure verfasst sind. Das Verhältnis der verschiedenen Seelenteile ist der Leitfaden, an dem Aristoteles sich orientiert, um im siebten Buch der NE eine Typologie der Handelnden zu entwerfen, von denen jeder ein eigentümliches ēthos besitzt. Mein Anliegen in diesem Teil der Studie besteht darin, die seelischen Phänomene zu thematisieren, in denen ein Zusammenwirken der intellektuellen und ethischen Tugenden auf das Handeln festgestellt werden kann. Angesichts dieses Ziels versuche ich eine Darstellung von der »Klugheit« (phronēsis) und der »überlegten Entscheidung« (prohairesis) zur Verfügung zu stellen, die dem komplexen Verhältnis zwischen den verschiedenen Seelen22

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teilen gerecht wird. Um das in Bezug auf die phronēsis durchführen zu können, gehe ich auf eine bekannte kritische Diskussion ein hinsichtlich der Frage, ob die Handlungszwecke Deliberationsgegenstände werden können, wobei ich mich von gewissen Interpreten, die diese Möglichkeit ablehnen und für eine humesche Lesart plädieren, einen kritischen Abstand nehme. Es wird dahingegen gezeigt, dass ein richtiger Gebrauch der phronēsis es manchmal erforderlich macht, mit Hinblick auf unsere Handlungsziele zu überlegen, und angesichts dieser Aufgabe ist die besondere Leistung, die ein gut habitualisiertes ēthos erbringt, von enormer Bedeutung. Das zweite seelische Phänomen, welche ich untersuche, um die Zusammenwirkung von Intellekt und Charakter zu erforschen, ist, wie oben gesagt wurde, die prohairesis: ein Thema, das m. E. in der Diskussion oft vernachlässigt wird, aber das von großer Tragweite ist, um zu verstehen, wie die guten Handlungen Aristoteles zufolge vollzogen werden und wie die Menschen aufgrund ihrer überlegten Entscheidungen bzw. des Mangels an denselben gelobt bzw. getadelt werden können. In der Tat stellt Aristoteles fest, dass »der Vorsatz als besonders eng mit der Tugend verbunden gilt und mehr noch als die Handlung Unterschiede im Charakter anzeigen soll« (NE III 4, 1111b5–6; siehe auch EE II 11, 1228a2–4), und ich mache es mir zur Aufgabe, die theoretischen Grundlagen dieser Behauptung darzustellen und zu analysieren. Ich versuche zu zeigen, dass die prohairesis als ein seelisches Produkt aufzufassen ist, das eine enge Zusammenarbeit der phronēsis und des ēthos voraussetzt, was der Grund dafür ist, dass Aristoteles in einer wichtigen Passage die prohairesis als »strebendes Denken oder denkendes Streben« (orektikos nous ē orexis dianoētikē) charakterisiert (NE VI 2, 1139b5). Einen Vorsatz von einem Akteur zur Kenntnis zu nehmen, ist meiner Lesart zufolge etwas, das viel über einen praktischen Akteur enthüllt, nämlich welche Ziele von ihm angestrebt werden und welche Mittel er für diese Aufgabe in Anspruch nehmen will. Der besondere Zusammenhang zwischen Mitteln und Zwecken, der durch die prohairesis zum Ausdruck kommt, erweist sich in meiner Rekonstruktion des aristotelischen Argumentationsgangs als ein ideales Kriterium, um einem Akteur Verantwortung für seine Taten zuzuschreiben und den Wert seiner Bestrebungen zu beurteilen. Es muss allerdings angemerkt werden, dass Aristoteles selbst erkannt hat, dass es nicht immer möglich ist, den Vorsatz eines Akteurs einwandfrei zu identifizieren, und dass uns

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manchmal nichts anderes übrig bleibt, als uns an den Handlungen des Akteurs selbst zu orientieren, um ein Urteil über ihn zu fällen. Das vierte und letzte Kapitel der vorliegenden Studie hat als Hauptziel, die verschiedenen Charaktertypen, die im siebten Buch der NE diskutiert werden, einer detaillierten Analyse zu unterziehen. Die Auffassung, die in Bezug auf diesen Teil des aristotelischen Traktats in der Forschung herrscht, besteht darin, dass Aristoteles dort das Anliegen habe, zu erklären, wie es überhaupt möglich sei, dass unbeherrschtes bzw. akratisches Handeln entstehen kann. Das siebte Buch wird hauptsächlich als eine Antwort auf die sokratische Position interpretiert, wonach Tugenden mit Wissen gleichzustellen sind. Demzufolge widmen sich viele Kommentatoren der Aufgabe, eine Untersuchung diesbezüglich vom Standpunkt der Handlungstheorie aus durchzuführen. Natürlich hat eine solche Annäherung an den Text viele bedeutsame Resultate ergeben, aber wichtige Kommentatoren wie Vergnières und Vigo weisen darauf hin, dass die eigentliche Absicht des Aristoteles hier darin bestehe, die verschiedenen ēthē darzustellen (NE VII 1, 1145a18), da der Akzent in seiner Herangehensweise nicht auf die Handlungen an sich, sondern auf die handelnden Personen gelegt wird. In Anlehnung an diese Forschungslinie gehe ich der Frage nach, welche Kriterien von Aristoteles angewendet werden, um verschiedene Charaktertypen voneinander zu unterscheiden. In diesem Zusammenhang weise ich nochmals auf die zentrale Rolle der prohairesis hin. Obwohl andere Kriterien auch in Betracht gezogen werden können, um verschiedene Charaktertypen voneinander abzugrenzen, erweist sich die prohairesis als das angebrachteste begriffliche Werkzeug, um diese Aufgabe in der Mehrheit der Fälle durchzuführen. Diese Diskussion führt letztlich zur Schlussfolgerung, dass der »ideale« Charaktertyp (d. h. der spoudaios) für Aristoteles derjenige ist, in dem die Diktate der Vernunft im Einklang mit den Affekten und Trieben und anderen derartigen sinnlichen Motivationen stehen, und dass die anderen Charaktertypen sich mehr oder weniger von dieser idealen Verfasstheit entfernen. Schließlich wird in diesem Kapitel auf eine Frage eingegangen, mit welcher sich viele Kommentatoren in letzter Zeit auseinandergesetzt haben, und zwar: Besteht die Möglichkeit für einen erwachsenen Menschen, sein ēthos positiv zu modifizieren? Kann man ein guter Handelnder werden, wenn man nicht die ethischen Dispositionen in einem früheren Alter habitualisiert hat? Die interpretatorischen Lösungen zu diesem Problem sind sehr unterschiedlich, und es besteht kein Konsens diesbe24

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züglich unter den Kommentatoren. Ich stelle wichtige Details dieser Diskussion dar und nehme eine Stellung dazu, nämlich: dass es Aristoteles zufolge keinen Charaktertyp gibt, der in der Theorie als unverbesserlich per se gilt. Nur in den Einzellfällen kann bestimmt werden, ob gewisse Menschen in sittlicher Hinsicht verbesserungsunfähig sind. Mein Anspruch mit dieser Studie besteht keineswegs darin, das letzte Wort über das Thema des Charakters bei Aristoteles gesagt zu haben. Die Studie zielt vielmehr darauf ab, die Tatsache ersichtlich zu machen, dass der ēthos-Begriff ein idealer Leitfaden ist, um die aristotelische praktische Philosophie als ein kohärentes und in vielerlei Hinsicht noch nicht überwundenes Modell der menschlichen Praxis zu verstehen. Mit dem Erreichen dieses Ziels wäre diese peripatetische Unternehmung für mich gelungen.

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Kapitel I Grundlagen für eine Rekonstruktion und Auslegung des aristotelischen ēthos-Begriffes

§ 1 Der Hintergrund des Charakters: Einleitende Betrachtungen zum ēthos 1.1 Eine kurze Geschichte des ēthos Dass »das Seiende in mehrfacher Bedeutung gebraucht wird«, 1 ist ein Gedanke, den Aristoteles in seiner Metaphysik besonders fruchtbar werden lässt. Dieser Gedanke diente ihm als ein Leitfaden, an dem er sich orientiert hat, um verschiedene ontologische Fragen anzugehen, die von seinen Vorgängern – insbesondere den Eleaten – einseitig begriffen wurden. Ihn nachahmend werde ich in den folgenden Ausführungen versuchen, eine ähnliche Methodologie anzuwenden, um die Bedeutungsmannigfaltigkeit des Terminus ēthos darzustellen, welcher m. E. von großer Tragweite für eine angemessene Interpretation seiner praktischen Philosophie ist. Das Wort ēthos, dessen übliche Übersetzung »Charakter« ist, 2 ist in der Tat ein in der aristotelischen Philosophie sehr oft gebrauchter Terminus. Obwohl er in seiner »reinen« Form in der NE – in dem Traktat nämlich, den wir zum Hauptgegenstand unserer Untersuchung machen werden – relativ wenig auftaucht, gibt es zahlreiche Wörter, die entweder eng mit ihm zusammenhängen oder sich von

τὸ δὲ ὂν λέγεται μὲν πολλαχῶς (Met. IV 2, 1003a33). Es ist allerdings nicht die einzige Übersetzung für dieses Wort: »Gesinnung«, »Gemüt«, »Gemütsart«, »Gemütsverfassung« »Gemütszustand«, »Denkweise«, »Aufenthaltsort« und »Art« sind weitere Termini, die auch verwendet worden sind, um die verschiedenen Bedeutungen und Nuancen dieses Wortes auf Deutsch auszudrücken. In unserer folgenden Diskussion soll gezeigt werden, dass die historische Entwicklung dieses Terminus und der Gebrauch desselben in unterschiedlichen Kontexten es manchmal erforderlich macht, für ein angemessenes Verständnis dieses Begriffes verschiedene Übersetzungsvarianten in Erwägung zu ziehen.

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ihm ableiten. 3 Das Erstaunliche ist aber, dass dieser Terminus von Aristoteles manchmal unterschiedlich verwendet wird und in seinem Werk in Kontexten vorkommt, in denen er weitere Konnotationen anzunehmen scheint, die im Vergleich zu anderen Schriftstellern bzw. Denkern als »innovativ« zu betrachten sind. Um das aber angemessen beurteilen zu können, müssen wir die Tradition näher berücksichtigen, an welche er sich anschließt bzw. von welcher er sich gegebenenfalls absetzt. Eine kurze Revision der Verwendungen dieses Terminus wird es uns ermöglichen, seine speziellen Konnotationen bei Aristoteles besser zu verstehen. Wenn das semantische Feld dieses Begriffes anschaulich gemacht und geklärt wird, wird die Aufgabe leichter sein, auf die besonderen philosophischen Fragen, die mit ihm zusammenhängen, einzugehen. Mit der Rekonstruktion dieser semantischen Konstellation – die keinesfalls beansprucht, erschöpfend zu sein und nur bedeutende Stationen dieser Geschichte in den Vordergrund stellen wird –, wird der Versuch unternommen, uns einen adäquaten Zugang zu der philosophischen Dimension dieses Themas zu verschaffen.

1.2 Epische und elegische Dichter Die ersten Verwendungen dieses Terminus enthüllen interessante Aspekte der Mentalität und der Vorstellungen der Griechen vom Menschen. Es ist merkwürdig, dass das Wort ēthos in der frühgriechischen Literatur ursprünglich den Wohnort und Lebensraum eines Wesens bezeichnete. In diesem Sinne spricht Homer in zwei Versen über den Lebensraum von Tieren wie Pferden und Schweinen. 4 Hesiod und Herodot beziehen sich mit diesem Terminus jeweils auf den gewohnten Aufenthaltsort von Halbgöttern und Völkern. 5 Das Die Trefferzahl für das Wort ēthos sowohl in der Rhet. als auch in der Poet. ist erheblich höher als in der NE. Die Hauptstellen, an denen das Wort ēthos als solches in der NE auftaucht, sind die folgenden: I 1095a7, III 1111b6, IV 1121b6, 1127b23, VI 1139a1, VII 1155b10, IX 1165b6, X 1172a22, 1172b15, 1178a16, 1178a17 (siehe Rese 2003, S. 68). Verwandte Termini aber, die mit ihm zusammenhängen und oft in der NE auftauchen, sind ethos, ethismos, ethisein, ethiston und ethein. 4 μετά τ’ ἤθεα καὶ νομὸν ἵππων (Ilias VI 511); (σύας) ἔρξαν κατὰ ἤθεα κοιμηθῆναι (Odyssee XIV 411). 5 τοῖς δὲ δίχ’ ἀνθρώπων βίοτον καὶ ἤθε’ ὀπάσσας Ζεὺς Κρονίδης κατένασσε πατὴρ ἐς πείρατα γαίης (Werke und Tage 167); Κιμμέριοι ἐξ ἠθέων ὑπὸ Σκυθέων τῶν νομάδων ἐξαναστάντες ἀπίκοντο ἐς τὴν Ἀσίην (Historien I 15, 157). 3

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Auftauchen dieses Begriffes sowohl in der epischen Dichtung als auch bei Herodot ist aber eher selten. Im Gegensatz dazu wird in den elegischen Gedichten des Theognis von Megara aus dem sechsten Jahrhundert v. Chr. dieser Terminus oft gebraucht. Bei ihm lassen sich eine Reihe interessanter Verwendungen dieses Wortes finden, deren Nachklänge manchmal in der Philosophie zu spüren sein werden. Theognis spricht beispielsweise von einem »sich wandelnden« ēthos, das verschiedene Verhaltensweisen hervorzubringen in der Lage ist, je nachdem, was für ein Verhalten wir unseren Freunden gegenüber annehmen müssen. 6 Andererseits hebt er hervor, dass man kein positives oder negatives Urteil über einen anderen Menschen fällen soll, ohne zuvor dessen wesentliche Merkmale zu kennen. Die Menschen, so meint er, können uns betrügen, denn es gibt welche, die ein »unehrliches« (kibdēlon) und »diebisches« (epiklopon) ēthos besitzen. 7 Theognis ist aber der Auffassung, dass das wahre ēthos jedes Menschen sich im Laufe der Zeit immer offenbaren wird. 8 Er wirft einem schlechten Freund vor, dass er einen trügerischen (dolion) Charakter habe, und aus diesem Grund befiehlt er ihm, sich andere Freunde, die dieselbe schlechte Natur haben, zu suchen. 9 In einem Vers wird ein Jugendlicher zum Gegenstand seines Spotts, indem er seine Ignoranz betont und sein ēthos mit einer Art Papierdrachen, der vom Wind in verschiedene Richtungen geführt wird, vergleicht. 10 Die Auffassung, die diesem Vers zugrunde liegt, ist eindeutig die, dass Jugendliche sich leicht von den Meinungen anderer Menschen bewegen und überzeugen lassen. In den Texten Pindars, des berühmten Dichters des 5. Jahrhunderts v. Chr., lassen sich ebenfalls relevante Konnotationen dieses TerΘυμέ, φίλους κατὰ πάντας ἐπίστρεφε ποικίλον ἦθος, ὀργὴν συμμίσγων ἥντιν’ ἕκαστος ἔχει (Elegien I 213). Ein sehr ähnlicher Gedanke wird auch im folgenden Fragment zum Ausdruck gebracht: Κύρνε, φίλους πρὸς πάντας ἐπίστρεφε ποικίλον ἦθος, συμμίσγων ὀργὴν οἷος ἕκαστος ἔφυ. νῦν μὲν τῶιδ’ ἐφέπου, τοτὲ δ’ ἀλλοῖος πέλευ ὀργήν. κρεῖσσόν τοι σοφίη καὶ μεγάλης ἀρετῆς (Elegien I 1071–1074). 7 πολλοί τοι κίβδηλον ἐπίκλοπον ἦθος ἔχοντες κρύπτουσ’ ἐνθέμενοι θυμὸν ἐφημέριον (Elegien I 965–966). Wenn ich mich auf die griechischen Originaltermini beziehe, werde ich sie in der Nominativform wiedergeben, obwohl sie in den Originaltexten nicht immer so erscheinen. 8 τούτων δ’ ἐκφαίνει πάντων χρόνος ἦθος ἑκάστου (Elegien I 967). 9 Δὴν δὴ καὶ φίλοι ὦμεν’. ἔπειτ’ ἄλλοισιν ὁμίλει, ἦθος ἔχων δόλιον, πίστεος ἀντίτυπον (Elegien II 1243–1244). 10 ἰκτίνου γὰρ ἔχεις ἀγχιστρόφου ἐν φρεσὶν ἦθος ἄλλων ἀνθρώπων ῥήμασι πειθόμενος (Elegien II 967; vgl. auch II 1302). 6

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minus beobachten, die für unsere Diskussion in Betracht zu ziehen sind. Wie Homer verwendet auch Pindar diesen Begriff in Hinsicht auf Tiere, aber er bezieht sich damit nicht auf ihren Aufenthaltsort, sondern auf ihre besondere Beschaffenheit. Er meint in einem Vers, dass weder ein Fuchs noch ein Löwe imstande seien, ihr ēthos zu verändern. 11 In ähnlicher Weise, aber mit Hinblick auf den Menschen, behauptet er in einer seiner Oden, »dass man nicht den angeborenen Charakter verbergen kann«. 12 Hiermit wird vielleicht zum ersten Mal in der griechischen Literatur explizit ausgedrückt, dass das ēthos ein angeborenes Merkmal des Menschen ist, das keinen oder nur einen sehr beschränkten Spielraum für Modifikationen zulässt. Diese Auffassung scheint auf den ersten Blick von der natürlichen Verfasstheit jedes Lebewesens abhängig zu sein. Es ist aber bemerkenswert, dass er in einer anderen Ode in Bezug auf die Menschen genau das Gegenteil suggeriert, und zwar, dass das Verhalten einen entscheidenden Einfluss auf die Verfasstheit des ēthos haben könne. Pindar bringt den Gedanken zum Ausdruck, dass das eigene ēthos sich verändern kann, vor allem, wenn man ein unfrommes Leben führt. Das lyrische Ich in dieser anderen Ode wendet sich an Zeus und bittet ihn darum, niemals zuzulassen, dass es ein schlechtes ēthos habe, damit seine Nachkommen Erben eines guten Namens würden. 13 Im Gegenteil zu Achilles oder Aias möchte dieses lyrische Ich ein einfaches Leben führen, das nicht auf große Güter gerichtet ist, denn nur auf diese Weise ist für die Menschen das Glück zu erreichen. Respekt vor den Mitbürgern zeigend und sich von schlechten Menschen abhebend, wird man dieser Weltanschauung zufolge niemals ein unwürdiges Verhalten an den Tag legen. 14 Es wird somit die Auffassung vertreten, dass es zwischen dem ēthos eines Menschen und seinen Handlungen einen engen Zusammenhang gibt. Es sieht so aus, als handle es sich um ein bidirektionales Verhältnis: Das ēthos kann die Auslösung gewisser Handlungen bestimmen, und die Handlungen können die Natur des ēthos mehr oder weniger verändern. Je nachdem, was für eine Le-

τὸ γὰρ ἐμφυὲς οὔτ’ αἴθων ἀλώπηξ οὔτ’ ἐρίβ’ ρομοι λέοντες διαλλάξαιντο ἦθος (Olympische Oden XI 19–20). 12 ἄμαχον δὲ κρύψαι τὸ συγγενὲς ἦθος (Olympische Oden XIII 13). 13 Γ’ εἴη μή ποτέ μοι τοιοῦτον ἦθος, Ζεῦ πάτερ, ἀλλὰ κελεύθοις ἁπλόαις ζωᾶς ἐφαπτοίμαν, θανὼν ὡς παισὶ κλέος μὴ τὸ δύσφαμον προσάψω (Nemëische Oden VIII 35–36). 14 Vgl. Nemëische Oden VIII 37. 11

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bensführung man wählt, werden beide Elemente anders zusammenwirken. Die Unveränderlichkeit bzw. Modifizierbarkeit des Charakters sind Motive, die in der altgriechischen Literatur in Bezug auf das ēthos ständig angesprochen und diskutiert werden. Diese Doppelseitigkeit des Charakters wird von den Dichtern und anderen Schriftstellern erkannt und fruchtbar gemacht. In dieser Hinsicht ist Pindar keine Ausnahme. Man könnte aber zu der Einsicht gelangen, dass diese wechselnden Vorstellungen, die in seinen Gedichten auftauchen, einen inneren Widerspruch in seiner Vorstellung vom Charakter offenlegen. Aber man sollte kein voreiliges Urteil fällen. Einerseits können wir nicht von einem Dichter verlangen, dass seine Gedichte miteinander die strenge innere begriffliche Konsistenz eines philosophischen Systems aufweisen. Es ist ihm nicht vorzuwerfen, dass wir einen scheinbaren Widerspruch in den oben angeführten Texten finden, denn er thematisiert diese Problematik aus verschiedenen Gesichtspunkten und möglicherweise mit unterschiedlichen dichterischen Interessen im Blick. Andererseits können wir diese Abweichungen als einen Ausdruck dessen interpretieren, was heutzutage immer noch in unserer Konzeption des Charakters verankert ist. Mit unserem heutigen Charakterbegriff bezeichnen wir auch einen wesentlichen Kern der Persönlichkeit des Menschen, der dazu beiträgt, dass man in einem bestimmten Kontext auf besondere Weise handelt. Wir gehen normalerweise davon aus, dass der Charakter eines Menschen eine äußerst bestimmende Rolle für seine Entscheidungen und Lebensweise spielt. Andererseits denken wir, dass für jeden die Möglichkeit besteht, seine Lebensführung und damit seinen Charakter teilweise zu verändern, wenngleich uns dies als eine äußerst schwierige Aufgabe vorkommt. Da es trotz unseres Charakters einen Spielraum gibt, um Verantwortung für unsere Handlungen zu übernehmen, wird es verständlich, dass in Bezug auf das ēthos eine evaluative Terminologie verwendet wird, wie wir das bei Theognis und Pindar beobachten können. Daher wird das ēthos für beide Dichter zum Gegenstand unterschiedlicher Bewertungen. 15 Man darf ebenfalls nicht außer Acht lassen, dass ihre Dichtungen auch pädagogische Ziele verfolgten und für ein aristokratisches Lebensideal plädierten. Demzufolge war es für ihre Adressaten möglich, die Aussagen dieser Dichter als Ratschläge zu interpretieren, an denen sie sich für ihre eigene Lebensführung orientieren konnten. Siehe dazu die Meinung Jaegers, der diesbezüglich eine deutliche Affinität zwischen Theognis und Pindar bemerkt: »Der mutterländische Adel ist durch diese bewusste

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1.3 Tragische und komische Dichter Die griechischen Tragiker und Komiker legen in ihren dramatischen Werken ebenfalls Zeugnis von der intrinsischen Komplexität des ēthos ab und erweitern somit den Umfang der Reflexion über dieses komplexe Thema. Bei Sophokles finden wir, dass er diesen Terminus in entscheidenden Momenten benutzt, in denen er die innere Verfasstheit eines Menschen zu beschreiben versucht. Das deutlichste Beispiel dafür ist möglicherweise die Szene in der Antigone, in welcher Haimon seinen Vater, den König Kreon von Theben, darum bittet, dass er Antigone verzeihen und ihr ihre Strafe erlassen möge. So sagt Haimon zu Kreon: »Nicht eine Denkweise (ēthos) allein trage in dir, dass nach deiner Meinung nur diese richtig sei und keine andere.« 16 Haimon setzt diesen Gedankengang fort und betont, dass niemand imstande sei, als allwissender Mensch zu gelten, denn ein solcher Anspruch offenbare nur die Leere, die der eigenen Seele innewohne. Die dramatische Wirkung der Szene ist noch größer, wenn man den griechischen kulturellen Hintergrund in Betracht zieht: Es war keinesfalls gestattet, dass ein Jugendlicher die Entscheidungen seiner Vorfahren kritisch beurteilte, zumal der Vater in diesem Fall einen hohen Rang als König von Theben besaß. 17 Für uns ist diese Textstelle unter semantischen und begrifflichen Gesichtspunkten interessant, denn es lässt sich feststellen, dass es an dieser Stelle nicht angemessen wäre, das Wort ēthos als Charakter zu übersetzen. Der Grund dafür ist eindeutig: Es kommt uns seltsam vor zu behaupten, dass man je nach Kontext auswähle, was für einen Charakter man hat. Daher scheinen hier Übersetzungsvarianten wie Denkweise, Gemütsmaßgebende Gestaltung seines höheren Menschenbildes dem Ioniertum und seiner ins Individuelle und Natürliche auseinanderstrebenden inneren Haltung an erzieherischer Wucht und Geschlossenheit ungeheuer überlegen. Denn wie für Hesiod, Tyrtaios und Solon ist auch für Pindar und Theognis im Gegensatz zu der naiven Natürlichkeit, mit der das Geistige in all seinen Formen in Ionien auftritt, dieses bewusste erzieherische Ethos charakteristisch« (Jaeger 1959b, S. 250). 16 Μή νυν ἓν ἦθος μοῦνον ἐν σαυτῷ φόρει, ὡς φῂς σύ, κοὐδὲν ἄλλο, τοῦτ’ ὀρθῶς ἔχειν (Antigone 705–706). 17 Dieser Punkt wird von Mary Whitlock Blundell in ihrer Interpretation dieser Passage besonders betont: »(Creon) reacts as though challenged in his status not only as a male, but as an adult, a father and a ruler. He shows not merely stubbornness but irrational wrath at every attempt to make him reconsider. With Haemon he responds angrily not just to the notion of learning, but to learning from a younger man« (Blundell 1989, S. 131).

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verfassung oder Sinneshaltung zutreffender zu sein. Es gibt keinen Grund zu glauben, dass die Griechen der Auffassung gewesen seien, man könne den eigenen Charakter willkürlich von jetzt auf gleich ändern. In diesem Fall haben wir es eher mit der Tatsache zu tun, dass die Semantik des Terminus ēthos weitere Aspekte der menschlichen Verhaltensweise umfasst, die manchmal über unser heutiges Verständnis des Charakters hinausgehen. Das ēthos erweist sich in diesem partikularen Zusammenhang eher als eine Gesinnung, die zwar tief in der eigenen Persönlichkeit verankert ist, sich aber nicht mit dem ganzen Individuum gleichsetzen lässt und Raum für andere Verhaltensweisen bietet. Ein wichtiger Aspekt dieses Terminus bei den dramatischen Dichtern ist sein evaluativer Gebrauch. Das ēthos ist für sie das kennzeichnende Merkmal des Menschen, auf welches wir uns beziehen müssen, wenn wir sein Verhalten tadeln. So sehen wir beispielsweise auch in der Antigone, dass Kreon ein abwertendes Urteil über seinen Sohn fällt: »Verrückte Gesinnung, eine Stufe tiefer als ein Weib«. 18 In der Tragödie, die seinen Name trägt, wird Aias von seiner Frau Tekmessa geraten, seine Gottlosigkeit aufzugeben. Seine Frau nimmt wahr, was für ein Risiko ihr Mann eingehen würde, wenn er auf dieser Position verharrte, denn er könnte auf diese Weise die Rache der Götter auslösen. Dagegen erwidert Aias, dass Tekmessa töricht denke, wenn sie plant, »seinen Charakter jetzt noch zu erziehen«, 19 und dabei wird er Gegenstand moralischer Missbilligung. In den Wespen von Aristophanes lesen wir, dass Bdelykleon sich an Apollo wendet und ein Opfer bringt, damit der Gott den »unbeugsamen Charakter« seines Vaters flexibler mache, 20 denn dieser besteht eigensinnig darauf, als Richter an einem Justizverfahren teilzunehmen, obwohl ihm davon abgeraten wird. Diese Aussagen deuten darauf hin, dass unsere Verfassungen auf das besondere ēthos, das wir besitzen, zurückgeführt werden können. Es ist eindeutig, dass man eine große Verantwortung für die Art von ēthos trägt, die man besitzt. Dies ist zumindest die Auffassung, die dieser bewertenden Praxis zugrunde zu liegen scheint. Aufgrund derselben wird von den dramatischen Dichtern eine breite und reiche Terminologie entwickelt und verwenὮ μιαρὸν ἦθος καὶ γυναικὸς ὕστερον (Antigone 746). Μῶρά μοι δοκεῖς φρονεῖν, εἰ τοὐμὸν ἦθος ἄρτι παιδεύειν νοεῖς (Aias 595). 20 παῦσόν τ’ αὐτοῦ τουτὶ τὸ λίαν στρυφνὸν καὶ πρίνινον ἦθος, ἀντὶ σιραίου μέλιτος σμικρὸν τῷ θυμιδίῳ παραμείξας (Die Wespen 877). 18 19

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det, um sich auf die verschiedenen Gestaltungen dieses Kerns unserer Identität zu beziehen. Auch im Fall von Euripides stellt das ēthos einen bedeutsamen Terminus dar, der geeignet ist, die Haltungen und die Lebensweisen des Menschen wiederzugeben. Ein sehr interessantes Beispiel in diesem Sinne findet sich in dem Dialog, in welchem eine Amme das Verhalten von Medea in der Tragödie desselben Namens beschreibt. Um ein besseres Verständnis zu erhalten, geben wir hier die gesamte Passage wieder: Das ist es wieder, liebe Kinder. Die Mutter reizt ihr Herz, und reizt ihren Ärger. Eilt schnell ins Haus hinein und kommt nicht ihrem Auge nahe und sprecht sie nicht an, sondern hütet euch vor dem wilden Charakter und der bösen Art ihres trotzigen Geistes. – Geht nun, eilt schnell hinein! – Offenbar wird, aus dem Anfang sich erhebend, die Wolke ihres Jammers sich schnell entzünden mit stärkerem Zorn. Was wird endlich tun die hochmütige, unversöhnliche Seele, die gequält ist von Übeln? 21

Es ist hier zunächst zu bemerken, dass das ēthos von Medea bewertet wird, und zwar wird es als wild (agrion) bezeichnet. Dies deutet in diesem Kontext darauf hin, dass sie nicht vernunftgemäß handeln kann und nicht imstande ist, ihre Leidenschaften zu steuern und sich ihren Instinkten zu widersetzen. Es lässt sich in diesem Sinne eine Kontinuität zwischen Euripides und den oben genannten Dichtern feststellen: Das ēthos wird Gegenstand einer Art moralischer Qualifizierung. Das Interessanteste an dieser Textstelle ist aber der weitere Zusammenhang, in welchem diese Beschreibung stattfindet, denn die anderen Elemente, die hier erwähnt werden, enthüllen interessante Aspekte der Psychologie, die der dramatischen Darstellung von Euripides zugrunde zu liegen scheint. Diese Charakterisierung zeigt uns, dass das ēthos mit der menschlichen Natur (physis) eng verbunden ist. Die Natur des Menschen kann aber von zwei Standpunkten aus erfasst werden: Einerseits kann sie in Bezug auf physiologische Elemente wie das Herz (kardia) und den Geist (phrēn) verstanden und beschrieben werden. 22 Andererseits steht sie im Zusammenhang mit τόδ’ ἐκεῖνο, φίλοι παῖδες· μήτηρ κινεῖ κραδίαν, κινεῖ δὲ χόλον. σπεύδετε θᾶσσον δώματος εἴσω καὶ μὴ πελάσητ’ ὄμματος ἐγγὺς μηδὲ προσέλθητ’, ἀλλὰ φυλάσσεσθ’ ἄγριον ἦθος στυγεράν τε φύσιν φρενὸς αὐθαδοῦς. ἴτε νυν, χωρεῖθ’ ὡς τάχος εἴσω. δῆλον ἀπ’ ἀρχῆς ἐξαιρόυμενον νέφος οἰμωγῆς ὡς τάχ’ ἀνάψει μείζονι θυμῶι· τί ποτ’ ἐργάσεται μεγαλόσπλαγχνος δυσκατάπαυστος ψυχὴ δηχθεῖσα κακοῖσιν; (Medea 98–109). 22 φρήν ist ein schwierig zu übersetzendes Wort: Je nach Kontext kann es als Ver21

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einer nicht rein materiellen Dimension des Menschen bzw. der Seele (psychē). Wir bemerken bei Euripides keine Vorbehalte, wenn es darum geht, in seiner Beschreibung der Menschen und ihrer Affekte von einer Ebene zur anderen überzugehen. Für ihn ist es nicht notwendig, beide Dimensionen voneinander zu unterscheiden, denn er fasst den Menschen als ein einheitliches Wesen auf. Selbstverständlich finden wir bei ihm nicht den philosophisch-systematischen Versuch, die Interaktion zwischen Geist, Seele und Körper grundlegend zu erklären. Hier sei nur zu betonen, dass das ēthos bei ihm als ein so zentraler Begriff zu verstehen ist, der es uns ermöglicht, sowohl auf materielle als auch auf immaterielle Aspekte unserer Verfasstheit Bezug zu nehmen. Andererseits ist klar, dass das ēthos in Zusammenhang mit den Leidenschaften und Emotionen gebracht wird. Euripides nähert sich Platon und Aristoteles an, indem er erkennt, dass das ēthos in Verbindung mit dem Teil unseres Selbst gesetzt wird, mit welchem wir die Emotionen, Instinkte, Begierden und Leidenschaften assoziieren. Ärger (cholos), Jammer (oimōgē) und Zorn (thymos) sind die starken Affekte, die Medea im Innersten bedrängen und ihren Sitz eindeutig in ihrem stürmischen Charakter haben. Euripides bringt komplexe und zugleich präzise Beschreibungen, um die inneren Spannungen darzustellen, die in der menschlichen Seele verankert sind. Bei ihm ist aber auch ein besonderer Lobesdiskurs zu finden, dessen Adressaten die Menschen sind, die in einem bestimmten Bereich eine Vortrefflichkeit entwickelt haben. Er führt verschiedene dramatische Figuren ein, die entweder aufgrund ihres ēthos gelobt werden oder auf dieses Bezug nehmen, um ein positives Verhalten in ihrer eigenen Person zu bezeichnen. Beispielsweise wird Kapaneus in den Hilfeflehenden als jemand beschrieben, »der ein nicht falsches (apseudes) ēthos hat, sich freundlich im Gespräch zeigt und den kein Bürger und kein Diener je umsonst bat«. 23 In derselben Tragödie wird über Tydeus gesagt, dass er einen reichen Charakter besitze, womit Euripides wieder eine enge Verbindung zwischen

mögen der Emotionen oder der Vernunft verwendet bzw. interpretiert werden. Liddell-Scott erklärt es als »the seat of thought, mental faculties, and perception« und auch als »the seat of the passions«, wobei es in diesem letzten Fall auch als »heart« übersetzt werden kann. In beiden Fällen sind aber klare physiologische Anklänge zu spüren. 23 ἀψευδὲς ἦθος, εὐπροσήγορον στόμα, ἄκρατον οὐδὲν οὔτ’ ἐς οἰκέτας ἔχων οὔτ’ ἐς πολίτας (Die Hilfeflehenden 869–871). Ethos und Praxis

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dem ēthos und dem Geist (phronēma) herstellt. 24 In der Elektra wird ein Bauer dargestellt, der seine Gastfreundlichkeit anbietet und über sich selbst Folgendes behauptet: »Obwohl ich arm bin, werde ich meinen Charakter nicht als geizig (dysgenes) erweisen.« 25 Diese Passagen legen Zeugnis von dem euripideischen Versuch ab, die positiven Eigenschaften der Menschen mit dem ēthos in Verbindung zu setzen. 26 Ohne Zweifel sind diese Beschreibungen äußerst wichtig für das breite Bild menschlicher Eigenschaften und Merkmale, das er in seinen Dramen zur Darstellung zu bringen beabsichtigt. In dieser Hinsicht aber sieht man, dass er sich deutlich an die Tradition seiner Vorgänger anschließt. Euripides’ Originalität liegt aber nicht speziell in diesem Sprachgebrauch. Seine originellste Seite besteht eher darin, diese breite psychologische Konstellation, in welche das ēthos tief eingebettet ist, im Rahmen der Tragödie thematisiert zu haben, wobei seine Sprache und Terminologie sich an die Philosophie anlehnt. Es ist kein Zufall, dass Euripides im Altertum als »Philosoph der Bühne« (skēnikos philosophos) bezeichnet wurde. 27 Es gibt verschiedene Gründe, warum er so benannt wurde. 28 Vom Standpunkt unserer Untersuchung aus lässt sich behaupten, dass ihm diese Bezeichnung gerecht wird, da er in seinen Dramen auf besondere Aspekte des Charakters eingeht, die bei Platon und insbesondere bei Aristoteles als Gegenstand verschiedener philosophischer Erörterungen und Betrachtungen gelten. Ein weiteres interessantes Beispiel, das seine Nähe zur Philosophie zeigt, finden wir in seiner Tragödie mit dem Titel Antiope, die uns in Fragmenten überliefert ist. In ihr finden wir die folgende Beschreibung: Alle diejenigen, deren Lebensweise darin besteht, nach einem schönen Körper zu streben, werden schlechte Bürger, wenn ihnen das Geld fehlt. Wenn der Mensch einen unbeherrschten Charakter aufgrund seines Bauchs entwickelt, bleibt er immer in einer derartigen Verfassung. 29 φιλότιμον ἦθος πλούσιον, φρόνημα δὲ ἐν τοῖσιν ἔργοις οὐχὶ τοῖς λόγοις ἴσον (Die Hilfeflehenden 907). 25 καὶ γὰρ εἰ πένης ἔφυν, οὔτοι τό γ’ ἦθος δυσγενὲς παρέξομαι (Elektra 363). 26 Ein anderer Autor, bei dem man eine ähnliche Verwendung dieses Terminus findet, ist Xenophon. Vgl. Memorabilien III 10, 3, IV 8, 11; Symposion VII 3, VIII 13. 27 Wright (2005, S. 226) hebt diese Bezeichnung bei folgenden antiken Autoren hervor: Athenaios, Dipnophistarum libri 4, 48, 158e, Sextus Empiricus, Adversus Mathematicos I 288 und Clemens von Alexandria, Stromata 5, 70, 1. 28 Vgl. Wright 2005, S. 226–260. 29 καὶ μὴν ὅσοι μὲν σαρκὸς εἰς εὐεξίαν ἀσκοῦσι βίοτον, ἢν σφαλῶσι χρημάτων, 24

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Hiermit ist gemeint, dass die Menschen keinesfalls so handeln sollen, als ob das Wichtigste im Leben die Pflege des Körpers wäre, denn sie würden Fähigkeiten wie den Gelderwerb vernachlässigen, die man als Bürger zu entfalten verpflichtet ist. Anders ausgedrückt: Ihre Tätigkeit ist nicht wirklich produktiv – weder für sie selbst noch für die polis. 30 Dies ist der offensichtlichste Sinn des Textes, aber man kann darin auch ein bestimmtes Motiv entdecken, dessen Bedeutung für die Philosophie kaum zu unterschätzen ist. In der Tat deutet die Passage darauf hin, dass die stete Wiederholung einer Handlungsweise einen wichtigen Einfluss auf das ēthos haben kann. Dies ist m. E. als eine große Leistung Euripides’ anzusehen, denn er bringt damit den Gedanken zum Ausdruck, dass die Habituation auch eine entscheidende Rolle bei der Gestaltung des ēthos spielt. Der Hinweis auf den Bauch ist in diesem Kontext als eine Kritik an den Athleten zu verstehen, da sie eine Diät halten, die sie zwingt, unaufhörlich große Essensmengen zu verzehren. Damit schließen sie aber die Praxis von Tugenden wie der Mäßigung (sōphrosynē) von vornherein aus, auf welche die Griechen bekanntlich sehr großen Wert gelegt haben. 31 Allein dies würde bereits ausreichen, um den engen Zusammenhang zwischen den euripideischen Tragödien und der Philosophie festκακοὶ πολῖται· δεῖ γὰρ ἄνδρ’ εἰθισμένον ἀκόλαστον ἦθος γαστρὸς ἐν ταὐτῷ μένειν. (Antiope 201, 1–4). 30 Ein anderes Fragment aus seiner Tragödie Autolykus, die uns ebenfalls in unvollständiger Form überliefert worden ist, enthält einen sehr ähnlichen Gedanken. Es heißt dort explizit, dass die Athleten die nutzlosesten Griechen seien, denn sie lernten nicht, wie der Haushalt zu führen sei. Dort wird ihnen vorgeworfen, dass sie nicht imstande seien, ein größeres Vermögen als das ihrer Eltern zu erwerben, da sie ihr ganzes Leben mit dem hemmungslosen Verzehr von Essen verbracht haben. Daher ist es für sie auch unmöglich, mit Armut oder mit Schicksalsschlägen zurechtzukommen, »da sie die schönen Gewohnheiten nicht entwickelt haben und ein Wechsel ihnen schwer fallen würde« (ἔθη γὰρ οὐκ ἐθισθέντες καλὰ σκληρῶς μεταλλάσσουσιν εἰς τἀμήχανον). Ferner werden sie als der Schmuck der Stadt bezeichnet, der nur einen vergänglichen Charme besitze (vgl. Autolykus 282, 1–9). Eine ähnliche Kritik an den Athleten findet sich schon in einer Elegie von Xenophanes (vgl. DK 21 B 2). 31 Vgl. North 1966. Dieser Autorin zufolge wäre die Auffassung der sōphrosynē bei Euripides folgende: »To Euripides, who saw in the triumph of the irrational over the rational the primary source of tragedy for the individual and society, sōphrosynē is one of several names for the rational element. It is that quality, intellectual in origin, but predominantly moral in its application and effect, which controls and moderates the passions, whether lust, anger, ambition, cruelty, or even something so trivial as gluttony or drunkenness« (North 1966, S. 69). Daraus erklärt sich, dass das ēthos für Euripides in direktem Zusammenhang mit dieser Tugend steht. Ethos und Praxis

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zustellen; jedoch bezieht er sich in dieser Passage außerdem auf den Charakter mit dem Terminus akolastos, welcher in der aristotelischen Ethik systematisch verwendet wird, um die schlechte Verfassung eines Menschen zu bezeichnen. Mit einer tiefen psychologischen Einsicht entdeckt Euripides, dass der Charakter nicht nur Sitz der Emotionen, sondern auch der Tugenden und Laster ist. Es ist eindeutig, dass alle diese Konnotationen des ēthos für die spätere Entwicklung der Philosophie von großer Bedeutung sein werden. Die antiken griechischen Dichter beanspruchten selbstverständlich nicht, ein kohärentes philosophisches System zu errichten, in welchem alle diese Seiten der menschlichen Psyche und Handlungsfähigkeit erklärt werden müssten. Unbestreitbar ist allerdings, dass sie Aspekte des menschlichen Charakters thematisierten, die die Philosophie später sehr fruchtbar gemacht hat. Es könnte wohl sein, dass weder Platon noch Aristoteles mit allen einzelnen Texten, die wir bisher diskutiert haben, vertraut waren, geschweige denn, dass sie diese immer berücksichtigt haben, als sie ihre eigenen Traktate verfassten. In Anbetracht der Tatsache, dass sie sich in ihren Schriften ständig auf diese und andere Dichter bezogen haben, ist es aber gerechtfertigt zu vermuten, dass sie ein klares Bewusstsein davon gehabt haben müssen, dass es vor ihnen eine intellektuelle Tradition gab, in welcher dieses Thema von verschiedenen Gesichtspunkten aus untersucht und betrachtet wurde. Diese Annahme wird noch plausibler, wenn man die inhaltlichen Ähnlichkeiten, die sowohl die poetischen als auch die philosophischen Texte in Bezug auf diese Thematik aufweisen, in Erwägung zieht.

1.4 Die Vorsokratiker Je weiter wir mit unserer Untersuchung vorankommen, desto deutlicher wird es für den Leser werden, dass viele spezielle Verwendungen dieses Terminus bei Platon und Aristoteles vor dem Hintergrund dieses dichterischen Erbes besser verstanden werden können. Bevor wir aber die Texte von Platon in Augenschein nehmen, sollen ein paar Bemerkungen über den Gebrauch dieses Terminus bei den Vorsokratikern angestellt werden. Im Vergleich zu den Dichtern taucht dieses Wort bei den Vorsokratikern in den von ihnen erhaltenen Fragmenten weniger häufig auf. Da sie sich nicht primär mit den menschlichen Angelegenheiten, sondern mit kosmologischen Fragen befasst haben, 38

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ist es klar, dass das ēthos bei ihnen kein dominantes Motiv gewesen sein kann. Allerdings ist es der Mühe wert, diese wenigen Textstellen kurz ins Auge zu fassen, da auch sie interessante Referenzpunkte sind, anhand deren wir weitere Kenntnisse über unser Thema gewinnen können. In einem bekannten Fragment von Heraklit, in welchem dieses Wort vorkommt, wird Folgendes behauptet: »Des Menschen Eigenart ist sein Schicksal.« 32 In der Meinung einiger Kommentatoren versuchte er mit diesem Aphorismus einen wichtigen Aspekt der conditio humana zum Ausdruck zu bringen, und zwar, dass der Mensch als für seine eigenen Handlungen verantwortlich zu betrachten ist und seine eigene Lebensführung bestimmen muss. 33 Mit einem Wort: Er soll nicht dem Schicksal die Verantwortung für sein eigenes Glück bzw. Unglück zuschreiben. Erstaunlich ist aber, dass wir eine solche Aussage bei einem Philosophen finden, der sich auch wie folgt ausgedrückt hat: »Man sollte wissen, dass der Krieg etwas Allgemeines und das Recht Streit ist und dass alles nach Maßgabe von Streit und Notwendigkeit geschieht«, 34 und »Krieg ist von allem der Vater und von allem der König, denn die einen erwiesen sich durch ihn als Götter, die anderen als Menschen, die einen machte er zu Sklaven, die anderen zu Freien.« 35 Auf den ersten Blick scheinen diese Textstellen einander zu widersprechen, denn wie könnte man seine eigene Lebensführung bestimmen, wenn das Prinzip dieses kosmischen Krieges das ganze Universum beherrscht? Die letzte Textstelle deutet ausdrücklich darauf hin, dass dieses Prinzip einen entscheidenden ἦθος ἀνθρώπωι δαίμων (DK 22 B 119). So erklären Kirk und Raven diese Stelle: »[Der Satz] ist eine Verneinung der Auffassung, die bei Homer gang und gäbe ist, dass das Individuum häufig nicht als verantwortlich für das angesehen werden kann, was es tut. δαίμων bedeutet an dieser Stelle einfach das persönliche Geschick eines Menschen; es wird festgelegt durch seinen eigenen Charakter, über den er eine gewisse Kontrolle hat, und nicht durch externe und oft launenhafte Kräfte, die vielleicht durch einen Genius wirken, der jedem Individuum durch Zufall oder durch das Schicksal zuerteilt ist. Helena rügte Aphrodite in traditioneller Art wegen ihrer eigenen Schwäche; aber für Heraklit (wie sogar schon für Solon, der bereits gegen die moralische Hilflosigkeit der heroischen Mentalität Stellung genommen hatte) hatte intelligentes und kluges Verhalten wirklich Bedeutung« (Kirk und Raven 2001, S. 232). 34 εἰδέναι δὲ χρὴ τὸν πόλεμον ἐόντα ξυνόν, καὶ δίκην ἔριν, καὶ γινόμενα πάντα κατ᾽ ἔριν καὶ χρεών (DK 22 B 80). 35 Πόλεμος πάντων μὲν πατήρ ἐστι, πάντων δὲ βασιλεύς, καὶ τοὺς μὲν θεοὺς ἔδειξε τοὺς δὲ ἀνθρώπους, τοὺς μὲν δούλους ἐποίησε τοὺς δὲ ἐλευθέρους (DK 22 B 53). 32 33

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Einfluss nicht nur auf die Naturwelt, sondern auch auf die menschlichen Handlungen hat. Verschiedene Interpretationsstrategien könnten eingeschlagen werden, um dieses Problem zu lösen. Einerseits könnte man behaupten, dass, wenn man ein bestimmtes ēthos besitzt, es Heraklit zufolge unmöglich ist, sich anders zu verhalten: Der Charakter wäre in diesem Fall eine natürliche Kraft, die denselben Grad von Notwendigkeit haben würde wie die Kräfte, die die anderen natürlichen Phänomene bestimmen. Demzufolge wäre der Charakter eine der vielen Erscheinungsformen des Prinzips des kosmischen Krieges. Andererseits könnte man versuchen, Heraklit als Kompatibilisten in Bezug auf die Freiheitsfrage zu interpretieren: Dieser Lesart zufolge wären der freie Wille und der Determinismus in seiner Philosophie miteinander vereinbar. Von welcher Art von Kompatibilismus die Rede ist, lässt sich mit den wenigen Texten, die von ihm erhalten sind, nur schwer feststellen. Allerdings ist es in Anbetracht verschiedener Fragmente eindeutig, dass Heraklit kein Vertreter des Quietismus war. Er gibt verschiedene konkrete Ratschläge, denen zufolge man doch nach einem bestimmten Lebensmodell streben und verschiedene Handlungskurse ablehnen bzw. bevorzugen soll. 36 Dies scheint für eine solche Interpretation zu sprechen. Möglicherweise war Heraklit der Auffassung, dass man als aufgeklärtes Individuum die richtige Einsicht habe, um die bessere Lebensweise bzw. die besseren Güter erkennen zu können. 37 Demzufolge wäre das ēthos als eine Art natürlicher Kraft zu verstehen, die zwar unsere Bestrebungen bestimmt, die Vgl. DK 22 B 2, 5, 18, 43, 44, 101, 117, 136. Vgl. DK 22 B 41. Darauf deutet die Interpretation von Chitwood hin: »For Heraclitus, the path to wisdom is at once obscure, mundane, and mystically, profoundly simple: true wisdom is the result of personal enlightenment, which alone can achieve illumination of mind and soul. Wisdom consists of knowledge not of the common or wide-ranging kind that Heraclitus condemns, but of a specific kind: understanding of the Logos. He cannot, however, explain it. Knowledge can come only from within« (Chitwood 2004, S. 80–81). Allerdings, wie es meistens bei Heraklit der Fall ist, findet man bei ihm auch Textstellen, die zu den Hauptinhalten anderer Aussagen von ihm in Spannung stehen. In einem anderen Fragment, in welchem merkwürdigerweise ebenfalls der Terminus ēthos auftaucht, lehnt er es ab, dass die Menschen tatsächlich dieses Wissen erwerben können: »Menschliches Wesen hat keine Einsichten, wohl aber das göttliche« (ἦθος γὰρ ἀνθρώπειον μὲν οὐκ ἔχει γνώμας, θεῖον δὲ ἔχει) (DK 22 B 78). Abgesehen davon, dass diese Aussage eine einheitliche Interpretation seiner Philosophie schwieriger macht, ist für uns bemerkenswert, dass er hiermit dem Gott ein ēthos zuschreibt. Was für eine Eigenschaft das ēthos bei Gott ist, wird hier allerdings nicht geklärt.

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aber ihren Ursprung in den verschiedenen Entscheidungen hätte, die wir im Laufe unseres Lebens getroffen haben. In dieser Interpretation seiner Kosmologie würde das ēthos sowohl mit der Faktizität als auch mit der Freiheit des Menschen eng zusammenhängen. Egal welche Interpretationsstrategie man bevorzugt und wie man dieses Problem in seiner Philosophie zu lösen versucht – eine Aufgabe, welcher wir uns in dieser Untersuchung nicht widmen können –, lässt sich doch behaupten, dass Heraklit einer der frühesten Denker in Griechenland war, der die Spannung zwischen menschlicher Freiheit und den natürlichen Kräften des Kosmos thematisiert hat. In dieses Spannungsfeld führte er das ēthos als eine vermittelnde Instanz ein. Dabei räumte er ihm einen entscheidenden Platz in seiner Weltvorstellung ein. Inwiefern der Charakter von den verschiedenen Einflüssen der Naturwelt affiziert werden kann, wird auch eine Frage sein, die in der späteren Entwicklung der Philosophie intensiv diskutiert wird. Eine andere Gestalt, die in unserer kurzen Geschichte des ēthos berücksichtigt werden muss, ist Pythagoras. Durch Berichte wissen wir über ihn, dass er sich weigerte, einen Mann namens Kyron als Schüler aufzunehmen. Kyron wird als »ein schwieriger Mensch mit gewalttätigem, unruhigem und tyrannischem Charakter« beschrieben, 38 der erfolglos versuchte, Mitglied der pythagoreischen Lebensgemeinschaft zu werden. Darüber hinaus finden wir bei Herodot einen Bericht über einen Sklaven des Pythagoras namens Salmoxis, über den es heißt, dass er »die ionische Lebensart kannte und mit einer tieferen Geisteshaltung vertraut war als der der Thraker, da er ja mit Griechen verkehrt hatte und unter den Griechen mit Pythagoras, keineswegs dem unbedeutendsten ihrer weisen Männer.« 39 Obwohl Pythagoras selbst diese Texte nicht verfasst hat, kann man anhand dieser Zeugnisse über sein Leben ein weiteres Verständnis des ēthos in der Antike gewinnen. Es gibt einen sehr interessanten Punkt, in welchem beide Textstellen übereinstimmen: Beide deuten darauf hin, dass man das ēthos eines Menschen tatsächlich kennen kann. Anders ausgedrückt: Es kann ein Wissensgegenstand werden. Dies ist m. E. nicht unwichtig, denn das ēthos wird nicht als etwas χαλεπός τις καὶ βίαιος καὶ θορυβώδης καὶ τυραννικὸς τὸ ἦθος (DK 14–16). τὸν Σάλμοξιν τοῦτον ἐπιστάμενον δίαιτάν τε Ἰάδα καὶ ἤθεα βαθύτερα ἢ κατὰ Θρήικας, οἷα Ἕλλησί τε ὁμιλήσαντα καὶ Ἑλλήνων οὐ τῶι ἀσθενεστάτωι σοφιστῆι Πυθαγόρηι, κατασκευάσασθαι ἀνδρεῶνα (DK 14 2).

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begriffen, das lediglich als ein konventionelles Prädikat zu verstehen ist, mit dessen Hilfe man verschiedene Arten von Menschen bezeichnet. Vielmehr geht es um eine wirkliche Eigenschaft der jeweiligen Person, welche ihr Wesen entscheidend prägt. Es wird suggeriert, dass der Umgang, den Pythagoras mit diesem Mann hatte, ihn zur festen Überzeugung geführt hat, dass Kyron nicht würdig sei, sich seiner Schule anzuschließen. Andererseits lesen wir in der anderen Textstelle, dass Salmoxis die Gelegenheit gehabt hatte, durch einen Aufenthalt mit den Sitten eines anderen Volkes vertraut zu werden, und dies hat es ihm ermöglicht, sich eine genaue Vorstellung dessen Charakters zu verschaffen. Wie und inwieweit man jemandes Charakter tatsächlich kennenlernen kann, ist eine Frage, mit der spätere Philosophen sich intensiv beschäftigen werden. Es wird aber bereits aus diesen Fragmenten klar, dass die Vorstellung, man könne den Charakter eines Menschen durch den Umgang kennenlernen, schon bei verschiedenen Autoren gegenwärtig war. Ein weiteres interessantes Motiv, das in beiden Texten zu berücksichtigen ist, ist das Folgende: Im ersten Text wird gesagt, dass dieser Mann namens Kyron einen »tyrannischen« Charakter besaß. Dies ist eine Beschreibung, die bei späteren Autoren mehrmals auftauchen wird. Beispielsweise werden wir bei Platon finden, dass es ein locus communis ist, den Charakter eines Menschen mit einer bestimmten politischen Verfassungsform gleichzusetzen, denn er beobachtet zwischen diesen Elementen einen klaren kausalen Zusammenhang: Man erwirbt den Charakter, der der Art von Verfassung in der eigenen polis entspricht. Deshalb wird die Gestaltung einer gerechten politischen Ordnung für Platon als etwas äußerst Wichtiges betrachtet. In dem hier angeführten Text von Herodot wird ein solches Verhältnis zwischen politischen Verfassungen und dem ēthos nicht festgestellt. Jedoch ist hier wichtig zu betonen, dass diese politische Analogie in der Beschreibung der Natur eines Menschen eine weitere Auffassung ermöglicht, der zufolge das ēthos nicht nur das eine Individuum, sondern eine ganze Gemeinschaft auszeichnet. Und gerade in diesem Sinne finden wir in dem anderen Text eine ähnliche Äußerung, denn dort heißt es, dass Pythagoras’ Sklave mit dem ionischen ēthos vertraut war. Hierbei hängt das ēthos nicht mit einer politischen Verfassung, sondern mit einem Volk zusammen. Jedoch deutet diese Passage wiederum darauf hin, dass das ēthos in gewissen Kontexten Gewohnheiten und Praktiken umfasst, die nicht nur die einzelnen Menschen betreffen. Es ist schwer zu bestimmen, ob es in 42

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der Vorstellung der Griechen einen gewissen Raum für Individualität gab, wenn man durch das ēthos der eigenen Gemeinschaft geprägt ist. Diese Konnotation ist ebenfalls in Erwägung zu ziehen, vor allem, wenn man beobachtet, dass die antiken Autoren bzw. Philosophen auch oft versuchen, sich dieser Kategorie zu bedienen, wenn sie auf die Beschaffenheit einer größeren Gruppe von Menschen Bezug nehmen wollen. Der letzte Vorsokratiker, den ich in unserer Analyse in Betracht ziehen möchte, ist Empedokles. In einem Fragment eines Gedichts von ihm lesen wir, dass er seinen erōmenos Pausanias anspricht und ihn ermuntert, sich der Philosophie zuzuwenden. Im Unterschied zu den anderen Texten, die uns von ihm überliefert worden sind, hat dieses Fragment einen freien und persönlichen Ton, der vermutlich dadurch zu erklären ist, dass ihn eine enge Beziehung mit seinem Adressaten verbunden hat. In einem Kontext, in welchem Empedokles vermutlich über den Wert der Gegenstände der Wissenschaft spricht, finden wir die folgende Ermahnung: Wenn du sie nämlich in deinem kräftigen Verstand verankerst und sie in reinen Übungen auf zuträgliche Weise betrachtest, werden diese gewiss alle dein ganzes Leben lang bei dir bleiben, und vieles andere wirst du aufgrund ihrer erwerben; denn von sich aus werden sie jeden einzelnen veranlassen, in seinen Charakter hineinzuwachsen, so wie es der Natur bei jedem einzelnen entspricht. 40

In diesen wenigen Zeilen finden wir ein sehr lebendiges Bild von der Tätigkeit des Naturforschers. Interessanterweise hebt Empedokles hervor, dass die Gegenstände, die man erforscht und analysiert, ein Interesse in uns erzeugen, das keinesfalls aus dem Gedächtnis schwindet. Vielmehr ist die ständige Ausübung der Wissenschaft die direkte Ursache dafür, dass man den Vorsatz fasst, das ganze Leben mit der Betrachtung dieser Objekte zu verbringen. Die Beschäftigung mit den Gegenständen der Wissenschaft löst in uns den Wunsch aus, unsere Bemühungen auf den Erwerb von Wissen auszurichten. Alle anderen Aktivitäten besitzen demzufolge nur einen Wert, insoweit sie sich diesem obersten Ziel unterordnen.

εἰ γάρ καὶ σφ’ ἀδινῆισιν ὑπὸ πραπίδεσσιν ἐρείσας εὐμενέως καθαρῆισιν ἐποπτεύσηις μελέτηισιν, ταῦτά τέ σοι μάλα πάντα δι’ αἰῶνος παρέσονται, ἄλλα τε πόλλ’ ἀπὸ τῶνδ’ ἐκτήσεαι· αὐτὰ γὰρ αὔξει ταῦτ’ εἰς ἦθος ἕκαστον, ὅπη φύσις ἐστὶν ἑκάστωι (DK 31 B 110).

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Grundlagen für eine Rekonstruktion des aristotelischen ēthos-Begriffes

Das Merkwürdigste an dieser Textstelle ist für uns, dass diese wissenschaftliche Tätigkeit als etwas dargestellt wird, was einen großen Beitrag zur Gestaltung des eigenen Charakters leistet. Vorher hatten wir betont, dass die ständige Ausführung einer Handlung als etwas betrachtet wurde, was konstitutiv für das ēthos eines jeden Menschen ist. Es wurde anhand verschiedener Autoren die Auffassung belegt, dass die Habituation die Form des Charakters bestimme. Dabei ging es aber hauptsächlich um Handlungen, die mit der Steuerung von Affekten und Emotionen zusammenhängen. Keinesfalls handelte es sich um Tätigkeiten, die in direkter Verbindung mit einem eher spekulativen bzw. theoretischen Gebrauch des Intellekts stehen. Empedokles ist aber der Ansicht, dass die Natur des Menschen sich doch im Innersten verwandelt, wenn man sich dieser theoretischen Aufgabe widmet. Gewiss könnte man eine solche Auffassung im Allgemeinen fast allen antiken Philosophen zuschreiben. Worin sie allerdings nicht unbedingt übereinstimmen würden, ist ihre Auffassung über das besondere Vermögen, das sich im Menschen mit der Praxis der Philosophie bzw. der Naturforschung verändert. Dies ist eine Frage, die in der Antike sozusagen kontrovers gewesen ist. Denn wir werden sehen, dass Philosophen wie Aristoteles der Überzeugung waren, dass die Ausübung der Wissenschaft keinen direkten Einfluss auf die Gestaltung des ēthos habe. Es gibt ihm zufolge andere Qualitäten, die sich mit dieser Praxis entfalten und ihre natürliche Vervollkommnung erreichen, aber das ēthos gehört für ihn zu einer anderen Sphäre der menschlichen Psyche. Dies ist ein entscheidender Aspekt der aristotelischen Philosophie, den wir erst werden entwickeln können, nachdem wir andere Hauptelemente seiner Philosophie analysiert haben. An diesem Punkt unserer Untersuchung, an dem wir lediglich versucht haben, im Umriss den historischen Hintergrund des aristotelischen Ansatzes darzustellen, soll nur behauptet werden, dass das ēthos bei anderen antiken Autoren je nach Kontext in Verbindung mit diskursiven bzw. nichtdiskursiven Fähigkeiten betrachtet wurde. Im Hintergrund dazu soll gerade die aristotelische Beschränkung des ēthos auf die nichtdiskursive – wenngleich nicht irrationale – Dimension des Menschen bzw. der Psyche als eine philosophische Bemühung angesehen werden, die verschiedenen Vermögen klar voneinander zu unterscheiden. Gewiss hätte er das aber nicht leisten können, ohne Vorgänger wie Empedokles gehabt zu haben, die diese Thematik zum ersten Mal angedacht haben. 44

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Bevor wir beginnen, dieses Thema bei Aristoteles zu erörtern, müssen wir einen anderen zentralen Vorgänger von ihm in unserer Untersuchung in Betracht ziehen, mit dem Aristoteles ständig in Dialog tritt. Im Folgenden werden wir wichtige Aspekte der platonischen Auffassung des ēthos analysieren, da uns dies zu einem späteren Zeitpunkt auch ermöglichen wird, den aristotelischen Ansatz besser begreifen zu können.

1.5 Die platonische Auffassung des ēthos Bekanntlich hat Platon sich in keinem Dialog die Aufgabe gemacht, das ēthos als Hauptgegenstand zu erörtern. Es ist allerdings ein Terminus, von welchem er ständig Gebrauch gemacht hat, und zwar in verschiedenen Untersuchungen und mit Hinblick auf unterschiedliche Problematiken. Demzufolge ist das semantische Spektrum desselben in seiner Philosophie ziemlich breit. Um Rechenschaft von den verschiedenen Verwendungen des Terminus ēthos bei ihm ablegen zu können, wäre es eigentlich nötig, dieser Frage eine eigene Studie zu widmen. 41 Eine solche Aufgabe kann angesichts unseres Hauptziels hier nicht vollzogen werden. Im Folgenden werden wir uns darauf beschränken, wichtige Verwendungen dieses Terminus in den Es sei hier nur angemerkt, dass manche Autoren, die sich mit dem Charakterbegriff bei Platon auseinandergesetzt haben, ihr Augenmerk sehr wenig auf die platonischen Verwendungen von ēthos gerichtet haben. Sie bemühten sich wenig darum, den Charakter bei Platon vor dem Hintergrund der von ihm verwendeten Terminologie näher zu erläutern. Unter Charakter verstehen Sie im Allgemeinen die Einheit der Psyche. Siehe beispielsweise die folgenden Aussagen von Gill: »The word ›character‹ and the closely related term ›personality‹ are not exact, technical terms, but they convey two general ideas. One is the idea that a person is not simply a collection of isolated psychological functions (such as perceptions, thoughts, intentions, feelings), but constitutes some kind of cohesive unity. The other is the idea that this psychological unit has, in each case, some distinctive individuality, making one person significantly different from another. An interest in the education of character signifies, then, an interest in the development of character, or personality, in one of these two senses. Plato, along with most ancient theorists, shows relatively little interest in the concept of psychological individuality. […] But Plato is extremely interested in the notion of psychological cohesion and in the best method of producing this« (Gill 1985, S. 1–2; ähnliche Positionen sind auch bei Patterson 1987 und Scott 2000 zu finden). Wie wir aber im Folgenden sehen werden, lassen sich bei Platon auch andere Auffassungen des ēthos finden, die konkreter und bestimmter sind und nicht angemessen durch die allgemeine Interpretationsthese von Gill verstanden werden können.

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platonischen Dialogen zu diskutieren, um eine übersichtliche Darstellung seiner Semantik vor Augen zu führen und die Kontinuität bzw. die Originalität Platons im Verhältnis zu den oben genannten Autoren zu veranschaulichen. Somit werden wir auch den historischen und philosophischen Hintergrund besser darstellen können, vor welchem die aristotelische Theorie zu interpretieren ist. 1.5.1 Die Semantik des platonischen ēthos und die Politeia Möglicherweise stützt sich Platon auf die epische Tradition, wenn er dieses Wort gebraucht, um sich auf das ēthos Gottes, der timokratischen Verfassung oder sogar der Tiere zu beziehen. 42 Die Mehrheit der Passagen deutet aber darauf hin, dass dieser Terminus hauptsächlich in Verbindung mit dem Menschen und seinen distinktiven Merkmalen gebraucht wird. So finden wir bei Platon die Entfaltung einer reichen Terminologie, anhand derer er die menschlichen Charaktere beschreibt. In der Politeia wird der Charakter des guten Menschen als »gesund« (hugies), »gerecht« (dikaion), und »mit Besonnenheit verbunden« (sōphrosynēn hepesthai) sittlich bewertet (VI 490c). Ein tugendhaftes ēthos kann ebenfalls »sanft« (praon) und »hocheifrig« (megalothumon) (II 375c), »wahrhaft gut« (alēthōs eu) und »schön« (kalon) (III 400e), »vernünftig« (phronimon) und »ruhig« (hēsuchion) sein (X 604e). In einem ähnlichen Ton beschreibt Sokrates das ēthos des Philosophen als »edles« (gennaion) und »wohlerzogen« (eu tethrammenon) (VI 496b). Dagegen tadelt Sokrates ein schlechtes ēthos, indem er es als »gereizt« (aganaktētikon) und »wechselhaft« (poikilon) bezeichnet (X 605a). Gewiss können wir diese und andere Motive auf die antiken Dichter bzw. vorsokratische Philosophen zurückführen. Es ist allerdings offensichtlich, dass Platon einerseits diesen Terminus in vielerlei Hinsicht auch innovativ gebraucht hat und dass er andererseits verschiedene Gedanken, die bei seinen Vorgängern nur in nuce zu finden waren, fruchtbarer macht. Beispielsweise sehen wir, dass er nicht nur eine Verbindung zwischen den Verfassungen und den Charakteren etabliert, sondern dass er eine detaillierte Typologie entfaltet, mittels welcher er mit tiefer philosophischer Einsicht erklärt, wie die verschiedenen Regierungsformen bzw. die verschiedenen Menschen konstituiert sind. Die Analogie zwischen dem Staat und dem Individuum dient ihm in der Politeia dazu, eine übergreifende Erklä42

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Politeia II 375e, VIII 549a; Nomoi X 901a.

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rung über die Ursachen, die die Beschaffenheit der kollektiven und einzelnen Akteure bestimmen, ablegen zu können. Diese Analogie ist ein Leitfaden in seiner philosophischen Untersuchung, an dem er sich orientiert, um die Natur der Regierungsformen und ihrer Bürger zur Darstellung zu bringen. In folgender Passage wird dieser platonische Kerngedanke zum Ausdruck gebracht: Weißt du nun, dass es ebensoviele Arten von menschlichen Charakteren wie Arten von Verfassungen gibt? Oder meinst du, die Verfassungen leiteten ihren Ursprung wer weiß woher, von Eiche oder Fels und nicht vielmehr von den im Staat herrschenden Charakteren, die wie das Gewicht in der Waagschale alles übrige mit sich ziehen? 43

Durch diese Fragen drückt Sokrates die Ansicht aus, dass es eine starke Korrelation zwischen den Verfassungs- und Menschentypen geben muss (vgl. auch VIII 544a). Die Natur kann für die Lebensführung der Individuen nicht als verantwortlich angesehen werden. Vielmehr hängt für Platon die Lebensführung der Individuen mit der Beschaffenheit des Staates, in welchem die Menschen wohnen, direkt zusammen. Dies ist der Grund für die Behauptung, dass jeder Verfassung ein besonderes ēthos zukomme (vgl. VIII 544d–e). Dadurch, dass die vier schlechten politischen Ordnungen jeweils timokratische, demokratische, oligarchische und tyrannische ēthē mit sich bringen (vgl. VIII 544c–d), ist es eine durchaus wichtige Aufgabe, die Grundlagen der guten Regierungsform, die die optimale Entfaltung der Bürger sicherstellen kann, philosophisch festzustellen. Die Dimensionen dieser Gefahr, die von den schlechten politischen Ordnungen ausgeht, dürfen bei Platon nicht unterschätzt werden, denn er behauptet, dass sogar die Menschen, die eine gute und philosophische Anlage haben, sich im Innersten verändern können, wenn sie ihr Leben unter einer schlechten Staatsordnung führen: Keine einzige, sondern eben das ist ja meine Klage, dass unter den Staaten in ihrer jetzigen Verfassung sich keiner findet, der den Forderungen einer philosophischen Natur entspräche. Daher auch die Wandlungen und Veränderungen dieser Natur: wie ein ausländischer Samen, in anderes Land gestreut, seine eigene Kraft verliert und sich den unwiderstehlichen Einwirkungen der neuen Heimatstätte anzupassen pflegt, so vermag auch die Οἶσθ’ οὖν, ἦν δ’ ἐγώ, ὅτι καὶ ἀνθρώπων εἴδη τοσαῦτα ἀνάγκη τρόπων εἶναι, ὅσαπερ καὶ πολιτειῶν; ἢ οἴει ἐκ δρυός ποθεν ἢ ἐκ πέτρας τὰς πολιτείας γίγνεσθαι, ἀλλ’ οὐχὶ ἐκ τῶν ἠθῶν τῶν ἐν ταῖς πόλεσιν, ἃ ἂν ὥσπερ ῥέψαντα τἆλλα ἐφελκύσηται; (Politeia VIII 544d–e).

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philosophische Natur jetzt wenigstens ihre eigene Kraft nicht zu bewahren, sondern schlägt in einen anderen Charakter um. Wenn sich aber dereinst einmal der vollkommenste Staat für sie finden wird, entsprechend ihrer eigenen Vollkommenheit, dann wird es sich zeigen, dass sie in Wahrheit das Göttliche ist, alles andere dagegen nur menschlich, sowohl die Naturanlagen wie auch die Bestrebungen. 44

Das Gutsein eines Staates lässt sich an seinem Erfolg bei der Bewahrung und Förderung des philosophischen ēthos bemessen. Die Staaten dagegen, die an dieser Aufgabe scheitern, zeigen sowohl ihre Defekte als auch ihre Unvollkommenheit. Daraus lässt sich ersehen, dass die politische Ordnung für Platon einen entscheidenden Einfluss auf die Verwirklichung des eigenen Charakters hat. Keineswegs wird der Charakter von ihm als eine geschlossene Entität verstanden, die unveränderlich und unwandelbar ist. Platon berücksichtigt zwar die Fälle von Menschen, die aufgrund ihrer Natur entweder eine feste Anlage zum Guten haben (vgl. Politeia III 409c–d; Nomoi X 908b), oder stets zu den Lastern neigen und so gut wie unverbesserlich sind (vgl. Politikos 309a); allerdings gelten sie für ihn keinesfalls als das Übliche. Er geht davon aus, dass man den dem gemeinschaftlichen Leben innewohnenden Kräften ausgesetzt ist und sie die Natur des Menschen tiefgreifend prägen. Deshalb ist das ēthos für ihn nicht lediglich eine Kategorie, mittels welcher man Bezug auf die Psychologie des Individuums nimmt, sondern auch eine, die von Belang für das politische Denken ist. Es gilt daher in der Philosophie zu erforschen, welche Faktoren eine Wirkung auf das menschliche ēthos ausüben können, da diese Kräfte sowohl zum Guten als auch zum Schlechten gebraucht werden können. Dieses Wissen muss dem gemeinschaftlichen Miteinander zugunsten fruchtbar gemacht werden. Den deutlichsten Beweis dafür, dass Platon das so gesehen hat, findet man in verschiedenen Textstellen, in denen er diesen Begriff verwendet hat, um die Natur der politischen Wissenschaft zu erläutern, wobei er auch eine innovative MeΟὐδ’ ἡντινοῦν, εἶπον, ἀλλὰ τοῦτο καὶ ἐπαιτιῶμαι, μηδεμίαν ἀξίαν εἶναι τῶν νῦν κατάστασιν πόλεως φιλοσόφου φύσεως· διὸ καὶ στρέφεσθαί τε καὶ ἀλλοιοῦσθαι αὐτήν, ὥσπερ ξενικὸν σπέρμα ἐν γῇ ἄλλῃ σπειρόμενον ἐξίτηλον εἰς τὸ ἐπιχώριον φιλεῖ κρατούμενον ἰέναι, οὕτω καὶ τοῦτο τὸ γένος νῦν μὲν οὐκ ἴσχειν τὴν αὑτοῦ δύναμιν, ἀλλ’ εἰς ἀλλότριον ἦθος ἐκπίπτειν· εἰ δὲ λήψεται τὴν ἀρίστην πολιτείαν, ὥσπερ καὶ αὐτὸ ἄριστόν ἐστιν, τότε δηλώσει ὅτι τοῦτο μὲν τῷ ὄντι θεῖον ἦν, τὰ δὲ ἄλλα ἀνθρώπινα, τά τε τῶν φύσεων καὶ τῶν ἐπιτηδευμάτων (Politeia VI 497b–c).

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taphorik entfaltet, um die Menschen zu beschreiben, die sich an der Politik beteiligen. Es wird beispielsweise von Sokrates behauptet, dass der Philosoph, der sich mit der Politik befasst, sowohl als ein »Maler der Staatsverfassungen« (zōgraphos politeiōn) (VI 501c) und auch als ein »Handwerker« (dēmiourgos) der Besonnenheit und der Gerechtigkeit betrachtet werden kann, der sich nicht nur darum kümmert, sein eigenes ēthos zu bilden, sondern auch diejenigen seiner Mitbürger (VI 500d). Für die Aufgabe der Erstellung einer gerechten Verfassung bedient er sich an einem »göttlichen Modell« (theion paradeigma) (VI 500e), und das Werk, das er hervorbringen wird, hat als Stoff die polis und die menschlichen ēthē, welche ihrerseits gereinigt werden müssen, sodass die gerechte Regierungsform tatsächlich umgesetzt werden kann (VI 501a). Die zentrale Rolle des ēthos-Begriffes liegt damit auf der Hand. Ständig greift Platon auf ihn zurück, wenn es darum geht, die Maßnahmen, die in einem Staat ergriffen werden müssen, zu bestimmen, um die sittliche Entwicklung der Bürger auf einen guten Weg zu bringen und die besonderen sozialen Praktiken und Verhaltensweisen, die eine gute Lebensführung in Gefahr bringen, abzuschaffen bzw. zu vermeiden. In der platonischen Diskussion über die Rolle der Kunst finden wir die bekannte These, dass nicht alle dichterischen Ausdrücke in der polis erlaubt sein sollten, denn nicht alle tragen dazu bei, die Menschen sittlich besser zu machen. In diesem Zusammenhang wird aber unter anderem behauptet, dass die besten Dichter eigentlich diejenigen sind, die sittlich gute Charaktere darstellen. Dadurch weisen sie eine höhere Kunstfertigkeit auf als die Dichter, die nur unbeständige und unbeherrschte Charaktere schildern können (vgl. X 604e–605a). Es ist deshalb nur den Ersteren erlaubt, in der polis tätig zu sein, sodass sie den Bürger sittlich gute Vorbilder zur Verfügung stellen (X 607a; vgl. auch Nomoi II 659c). Die Letzteren ahmen alle Arten von Gegenständen nach und werden deshalb aus der polis verbannt (vgl. III 398a–b). In der Tat sieht auch Platon eine direkte Verbindung zwischen der Charakterschilderung und anderen Kunstformen, da er eine sehr ähnliche Position in Bezug auf die Malerei (III 401a–c, X 597a–598b) und die Musik (III 401d–402d; Nomoi II 655d– 656a) vertritt. Diese Kunstformen rufen verschiedene Emotionen hervor, die eine starke Wirkung auf die Seele der Betrachter oder der Zuhörer ausüben können. Es ist aber klar, dass sie mit Hinblick auf die sittliche Erziehung betrieben werden sollen, denn nur dadurch erreichen sie ihre Legitimität innerhalb des Staates. Ethos und Praxis

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1.5.2 Das ēthos in den Nomoi Wichtige Betrachtungen über die Natur des Charakters stellt Platon auch in seinen Analysen der Natur der interpersonalen Beziehungen an. Interessanterweise finden wir in den Nomoi, dass er drei Formen von philia unterscheidet und sich wiederum des ēthos-Begriffes für diese Aufgabe bedient. Es gibt ihm zufolge Charaktere, die entweder ähnlich oder entgegengesetzt zueinander sind, und die Freundschaft zwischen ihnen bringt jeweils eine milde oder eine heftige Stimmung in den Personen zustande (Nomoi VIII 837b). Es wird auch eine dritte Variante in Betracht gezogen, nämlich eine Art von Mischung der zwei anderen Freundschafts- und Liebesformen, die ihrerseits gut oder schlecht sein kann, je nachdem, ob sie auf den Körper bzw. die Seele des Anderen gerichtet ist. Allein die philia aber, die aus einvernehmlichem Respekt vor der Besonnenheit und der Mannhaftigkeit, vor dem Edelsinn und der Einsicht entsteht und fortbesteht, findet einen Platz innerhalb von Magnesia (siehe Nomoi VIII 837c). Platon schlägt verschiedene Maßnahmen vor, die darauf abzielen, eine angebrachte physiologische und psychologische Basis für die Gestaltung guter ēthē sicherzustellen und die sich sogar auf den Bereich des privaten Lebens ausdehnen (siehe dazu Nomoi VII 788a–b). 45 Im Politikos wird in Bezug auf die Beziehung zwischen Mann und Frau behauptet, dass die Kompatibilität der Charaktere als wichtigster Faktor zu berücksichtigen ist, um eine Ehe zu schließen: Die Sittsamen und Bescheidenen suchen wiederum ihre Gemütsart, heiraten, soviel es sich tun lässt, nur solche und geben auch ihre Töchter wiederum nur an solche. Ebenso macht es auch das tapfere Geschlecht und geht seiner Natur nach, obwohl beide Arten hiervon ganz das Gegenteil tun sollten. 46

Es sind aber die Nomoi, wo diese Überlegungen am häufigsten angestellt werden, und zwar in einer radikaleren Form. Dort heißt es, dass die guten ēthē schon im Moment der Empfängnis geformt werden. Deswegen wird unter anderem festgestellt, dass der Geschlechtsverkehr im Alkoholrausch absolut zu vermeiden ist: Siehe Laks (2013) für eine interessante Diskussion über den Begriff des Privaten im antiken Griechenland und in den Nomoi. 46 Οἱ μέν που κόσμιοι τὸ σφέτερον αὐτῶν ἦθος ζητοῦσι, καὶ κατὰ δύναμιν γαμοῦσί τε παρὰ τούτων καὶ τὰς ἐκδιδομένας παρ’ αὑτῶν εἰς τούτους ἐκπέμπουσι πάλιν· ὡς δ’ αὕτως τὸ περὶ τὴν ἀνδρείαν γένος δρᾷ, τὴν αὑτοῦ μεταδιῶκον φύσιν, δέον ποιεῖν ἀμφότερα τὰ γένη τούτων τοὐναντίον ἅπαν (Politikos 310c–d). 45

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Ein Weinbeschwerter aber taumelt vielmehr selbst nach allen Seiten hin und her und bringt auch alles andere, worauf er stößt, ins Schwanken und ist an Leib und Seele verwirrt, und so ist der Trunkene denn auch zur Zeugung unbehilflich und schlecht befähigt, so dass er aller Wahrscheinlichkeit nach nur ungestalte und schwächliche Kinder mit verdorbenen Charakteren und nichts Gerades an Leib erzeugen wird. 47

Dass Charaktere, die miteinander kompatibel sind, zusammen sein sollen, wird von Platon als etwas so Entscheidendes für die soziale Ordnung und für das Gedeihen erachtet, dass er sogar in gewissen Fällen die Ehescheidung zulässt: Wenn aber die Gemüter der Ehegatten allzu heftig gegeneinander erregt sind, so sollen sie sich nach Kräften bemühen, für beide Teile andere Ehegefährten zu suchen, und da es wahrscheinlich ist, dass jene von keiner sanften Gemütsart sind, so müssen sie dabei darauf sehen, sie mit Personen von ruhigerem und sanfterem Charakter zu verbinden. 48

Diese Auffassung der interpersonalen Beziehungen, die im Kontext der griechischen Welt in mancherlei Hinsicht als äußerst innovativ betrachtet werden kann, 49 zeigt die große Wichtigkeit des ēthos-Begriffes im platonischen Menschenbild. Der ēthos-Begriff schafft uns einen Zugang, um uns an die innere Verfassung des Menschen anὁ δὲ διῳνωμένος αὐτός τε φέρεται πάντῃ καὶ φέρει, λυττῶν κατά τε σῶμα καὶ ψυχήν· σπείρειν οὖν παράφορος ἅμα καὶ κακὸς ὁ μεθύων, ὥστ’ ἀνώμαλα καὶ ἄπιστα καὶ οὐδὲν εὐθύπορον ἦθος οὐδὲ σῶμα ἐκ τῶν εἰκότων γεννῴη ποτ’ ἄν (Nomoi VI 775c–d). 48 ἐὰν δ’ αἱ ψυχαὶ κυμαίνωσιν μειζόνως αὐτῶν, ζητεῖν κατὰ δύναμιν οἵτινες ἑκατέρῳ συνοίσουσιν. εἰκὸς δὲ εἶναι τοὺς τοιούτους μὴ πρᾳέσιν ἤθεσιν κεχρημένους· βαθύτερα δὴ τούτοις καὶ πρᾳότερα τρόπων ἤθη σύννομα πειρᾶσθαι προσαρμόττειν (Nomoi XI 930a). 49 Vergleiche die Darstellung der Ehescheidung bei L. Adkins und R. A. Adkins: »Although married men could practice homosexuality, take mistresses and use prostitutes, in Greek law adultery (moikheia) was between a man and a wife, widowed mother, unmarried daughter, sister or niece, as it was an offense against the head of the household. If a man’s wife was involved (or had been raped), he had to divorce her, though such drastic action is disputed. He could deal with the adulterer (moikhos) as he wished (including killing or maiming him), or the adulterer could pay a financial penalty. It was also possible to take legal proceedings against an adulterer, and penalties were very harsh« (Adkins und Adkins 2005, S. 445). Dass die Griechen der Ansicht waren, dass die eheliche Untreue nicht notwendigerweise das Ende der Ehe bedeutete, da die Ehescheidung sogar in einem solchen Kontext als eine radikale und extreme Maßnahme galt, gibt uns notwendigen Anlass anzunehmen, dass die von Platon konzipierte Ehescheidung aufgrund von Charakterinkompatibilität keinesfalls zur Alltagsmoral und den üblichen sozialen Praktiken gehörte. 47

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zunähern und dessen verschiedene Verhaltensweisen richtig zu erkennen, und zwar mit Hinblick darauf, dieses Wissen für das glückliche Leben fruchtbar zu machen. Vor diesem Hintergrund ist es klar, dass das ēthos für Platon als der Bezugspunkt gilt, aufgrund dessen der Mensch gelobt oder getadelt wird (siehe Nomoi VII 798d). In Anlehnung an seine Vorgänger vertritt Platon die These, dass man den Charakter eines anderen Menschen tatsächlich erkennen kann. Das ēthos ist bei ihm auch keine konventionelle Kategorie, welcher wir uns einfach bedienen, um allgemeine Aussagen über die Natur des Menschen machen zu können. Vielmehr lässt sich bei ihm eine konkretere Position formulieren, und zwar dass man nur einen anderen Menschen wirklich kennt, wenn man sein ēthos kennt. In der Politeia finden wir eine Diskussion, in welcher das Thema der Kenntnis, die man über die Beschaffenheit anderer Menschen gewinnen kann, durchaus zentral ist: Ich halte es für recht, dass nur derjenige ein Urteil über sie abgibt, der mit seinem Verstand in den Charakter eines Mannes eindringen und ihn durchschauen kann und nicht wie ein Kind mit seinem Blick am Äußeren haften bleibt und sich blenden lässt durch das Gepränge des tyrannischen Hofstaates, das die Tyrannen nach außen hin entfalten, sondern mit seinem Blick bis ins Innerste dringt. 50

Dadurch, dass man sich durch äußere Merkmale und Talente eines anderen Menschen täuschen lassen kann, ist es Platon zufolge notwendig, Einsicht in die Psyche des Individuums zu gewinnen. Obwohl diese Diskussion im Rahmen einer politischen Untersuchung erfolgt und darauf abzielt, die Menschen, die die gesamte soziale Ordnung in Gefahr bringen können, zu identifizieren und sie von der politischen Macht fernzuhalten, ist es offensichtlich, dass diese Kenntnis sich im Alltag ebenfalls als äußerst relevant erweist, denn bestimmte Freundschaften und Assoziierungen sind als schädigend und lasterhaft zu betrachten. Es lässt sich an diesem Punkt unserer Darstellung feststellen, dass Platon die vor ihm existierende Semantik des ēthos bereichert hat, indem er dieser Kategorie einen entscheidenden Stellenwert in seinem eigenen Denken beigemessen und diese in psychologische, ἀξιῶν κρίνειν περὶ αὐτῶν ἐκεῖνον, ὃς δύναται τῇ διανοίᾳ εἰς ἀνδρὸς ἦθος ἐνδὺς διιδεῖν καὶ μὴ καθάπερ παῖς ἔξωθεν ὁρῶν ἐκπλήττεται ὑπὸ τῆς τῶν τυραννικῶν προστάσεως ἣν πρὸς τοὺς ἔξω σχηματίζονται, ἀλλ’ ἱκανῶς διορᾷ; (Politeia IX 577a).

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ethische und sogar politische Diskussionen von großem philosophischen Belang eingebettet hat. Die philosophische Erweiterung dieses Terminus lässt sich auch an verschiedenen Verwendungen desselben erkennen, die meiner Ansicht nach als direkte Antezedenzien der aristotelischen Konzeption des ēthos angesehen werden können. Vor allem denke ich, dass man in den Nomoi gewisse Textstellen finden kann, die deutliche begriffliche Ähnlichkeiten mit der aristotelischen Position zeigen. Die nächste Passage bringt einen wichtigen Berührungspunkt zwischen Platon und Aristoteles zum Ausdruck: Über etwas nicht Geringes ist jetzt zwischen uns Beiden die Rede, drum gib auch du Acht, Megillos, und sei dann unser Schiedsrichter. Meine Ansicht ist nämlich diese: dass man, um das rechte Leben zu führen, weder allen Genüssen nachjagen noch auch schlechterdings jeden Schmerz fliehen, sondern vielmehr jenem mittleren Gemütszustand nachtrachten müsse, welchen ich soeben als Heiterkeit bezeichnete, eine Gemütsverfassung, welche wir alle mit Recht, der Seherstimme unseres Inneren folgend, auch der Gottheit beilegen. 51

In ihrer Diskussion über die Art von Erziehung wenden sich der Athener und seine Gesprächspartner der Frage zu, was für einen Gemütszustand bei den Bürgern erzeugt werden muss, sodass diese sich an die Gesetze von Magnesia halten und folglich ein gelingendes Leben führen können. Es ist klar, dass die Menschen nicht darauf verzichten können, nach Lust zu streben, da ihre Kondition als sinnliche Lebewesen sie der unerbittlichen Notwendigkeit aussetzt, ihre körperlichen Bedürfnisse zu befriedigen, was oft den Genuss des Begehrten mit sich bringt. Das Menschenbild, das in den Nomoi vorgelegt wird, erweist sich in dieser Hinsicht als äußerst realistisch. Durch die Tatsache aber, dass wir auch vernunftbegabte Wesen sind, sollen wir anders nach den Lüsten trachten als andere Lebewesen. Die Suche nach der Lust soll durch die Vernunft geleitet werden, sodass wir einen angemessenen Umgang mit ihnen haben können. Ähnliches gilt für die Unlust, da wir beispielsweise verschiedene Tätigkeiten wie Gymnastik ausüben müssen, die zwar als unangenehm empfunden werden können, die aber für die Entwicklung des Körpers bei den Οὐ σμικροῦ πέρι νῦν εἶναι νῷν τὸν λόγον. ὅρα δὲ καὶ σύ, συνεπίκρινέ τε ἡμᾶς, ὦ Μέγιλλε. ὁ μὲν γὰρ ἐμὸς δὴ λόγος οὔθ’ ἡδονάς φησι δεῖν διώκειν τὸν ὀρθὸν βίον οὔτ’ αὖ τὸ παράπαν φεύγειν τὰς λύπας, ἀλλ’ αὐτὸ ἀσπάζεσθαι τὸ μέσον, ὃ νυνδὴ προσεῖπον ὡς ἵλεων ὀνομάσας, ἣν δὴ διάθεσιν καὶ θεοῦ κατά τινα μαντείας φήμην εὐστόχως πάντες προσαγορεύομεν (Nomoi VII 792c–d).

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Grundlagen für eine Rekonstruktion des aristotelischen ēthos-Begriffes

Jugendlichen und für die Bewahrung der Gesundheit notwendig sind (vgl. Nomoi VII 797e–798a). Es liegt auf der Hand, dass dieser mittlere Gemütszustand der aristotelischen Auffassung der Charaktertugend sehr ähnlich ist, vor allem, weil sie als eine Mitte zwischen zwei Extremen zu verstehen ist und sehr eng mit dem Umgang mit Lust und Unlust zusammenhängt. 52 Da ich mich mit diesen zwei Aspekten der Charaktertugend bei Aristoteles an einer anderen Stelle dieser Studie beschäftige, werde ich hier nicht darauf eingehen. Wichtig ist nun hervorzuheben, dass diese Gedanken schon eine erste und originale Formulierung bei Platon finden. Zwar wird dieser Gemütszustand bei Platon nicht immer mit der aretē explizit gleichgesetzt – wie das klarerweise der Fall bei Aristoteles ist –, aber er wird doch mit einer gewissen emotionalen Lage des Menschen assoziiert, die als äußerst notwendig für das »richtige Leben« (orthos bios) betrachtet wird. Dieser Gedankengang wird in den nächsten Zeilen derselben Passage fortgesetzt, indem er auch mit anderen interessanten Motiven in Verbindung gebracht wird: Ihr, behaupte ich, müsse daher auch jeder von uns nachgehen, welcher der Gottheit ähnlich werden will, und er darf daher weder für seine Person auf lauter Freuden erpicht sein, da er doch nicht einmal ein auch nur schmerzensfreies Leben führen wird, noch auch es ruhig mit ansehen, dass sich andere Leute, alt oder jung, Männer oder Weiber, eben diesem uns so gewöhnlichen Hange ergeben, am allerwenigsten aber, soweit er es nur irgend hindern kann, ein erst jüngst geborenes Kind. Denn am festesten wurzelt gerade in diesem Lebensalter bei allen Menschen eine jede Gemütsverfassung durch die Macht der Gewohnheit ein. Ja, ich möchte sogar, wenn ich nicht fürchten müsste, man werde es für bloßen Scherz halten, behaupten, man müsse auch die Schwangeren unter allen Frauen am meisten während des ganzen Jahres ihrer Schwangerschaft in Obhut nehmen, und dafür sorgen, dass sie während dieser Zeit weder viele und heftige Freuden noch auch Schmerzen empfinden, sondern dieselbe in dem steten Bestreben, sich einen heiteren, sanften und milden Sinn zu erhalten, verleben. 53 Bereits Werner Jaeger wies auf diesen Punkt hin: »Daher der große Wert, den Aristoteles der Erziehung in seiner ethischen Philosophie beimisst, denn sie ist auf Gewöhnung begründet und wird von ihm als ein Prozess der Formung verstanden. Ihr Erfolg hängt davon ab, ob eine Person von frühester Kindheit an sich an die richtigen Lust- und Unlustgefühle gewöhnt. Das ist das, was Plato in seinem letzten Werk, den Gesetzen, die wahre Paideia genannt hatte. Aristoteles’ Ethik macht den ausgedehntesten Gebrauch von diesem neuen Zugang zu dem Problem, dessen pädagogische Fruchtbarkeit nicht leicht überschätzt werden kann« (Jaeger 1959a, S. 522). 53 ταύτην τὴν ἕξιν διώκειν φημὶ δεῖν ἡμῶν καὶ τὸν μέλλοντα ἔσεσθαι θεῖον, μήτ’ οὖν αὐτὸν προπετῆ πρὸς τὰς ἡδονὰς γιγνόμενον ὅλως, ὡς οὐδ’ ἐκτὸς λυπῶν ἐσό52

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Viele relevante Thesen werden an dieser Textstelle ins Feld geführt. Um ihre Bedeutung angemessen verstehen zu können, muss man zunächst beachten, dass die Angleichung an Gott als die höchste Form der eudaimonia in den Nomoi und anderen platonischen Dialogen erklärt wird (siehe auch Theaitetos 176a und ff.). Dadurch, dass dieser Passage zufolge nur jemand mit einem gut disponierten philosophischen ēthos imstande ist, diese Lebensweise zu verfolgen, ist es offensichtlich, dass die Rolle dieses Begriffes in Platons Psychologie von enormer Bedeutung ist, denn der Erwerb eines guten Charakters gilt als eine Bedingung sine qua non für das gute Leben. Darüber hinaus wird hier behauptet, dass die wichtigste Phase in der Charakterformung eines Menschen die Kindheit ist, da wir in diesem Lebensalter die Dispositionen und Haltungen erwerben, die unser Verhalten als Erwachsene entscheidend prägen. Das Interessante daran ist, dass diese Haltungen nicht einfach von der Natur verliehen werden, sondern dass sie nur durch unsere Bemühungen anzueignen sind. Deshalb weist Platon auf diese enge Verbindung zwischen Habitus (ethos) und Charakter (ēthos) hin, die auch später von Aristoteles betont wird. Es wird allerdings gesagt, dass diese ausgewogene Verfassung auch durch biologische Faktoren beeinflusst werden kann, und zwar schon im Mutterleib. Deshalb wird empfohlen, dass schwangere Frauen sich zwar mit moderaten Genüssen vergnügen, aber auch teilweise mühsame Aufgaben ausüben, sodass ein ausgeglichener Gemütszustand im Fötus erzeugt werden kann. In Anbetracht des Gesagten kann man sich natürlich fragen, wie diese Mitte bei Platon überhaupt in der eigenen Lebensführung zu erreichen ist, denn obwohl viele dieser Thesen systematisch attraktiv sind, ist es nicht eindeutig, wie sie sich in konkreten Handlungsnormen manifestieren und in welchem Verhältnis sie genau zueinander stehen. In manchen Fällen wird mehr oder weniger deutlich, was getan werden muss, um einen richtigen Handlungskurs einzuschlagen. Beispielsweise wird in Bezug auf die optimale Erziehung Folgendes gesagt: μενον, μήτε ἄλλον, γέροντα ἢ νέον, ἐᾶν πάσχειν ταὐτὸν τοῦθ’ ἡμῖν, ἄρρενα ἢ θῆλυν, ἁπάντων δὲ ἥκιστα εἰς δύναμιν τὸν ἀρτίως νεογενῆ· κυριώτατον γὰρ οὖν ἐμφύεται πᾶσι τότε τὸ πᾶν ἦθος διὰ ἔθος. ἔτι δ’ ἔγωγ’, εἰ μὴ μέλλοιμι δόξειν παίζειν, φαίην ἂν δεῖν καὶ τὰς φερούσας ἐν γαστρὶ πασῶν τῶν γυναικῶν μάλιστα θεραπεύειν ἐκεῖνον τὸν ἐνιαυτόν, ὅπως μήτε ἡδοναῖς τισι πολλαῖς ἅμα καὶ μάργοις προσχρήσεται ἡ κύουσα μήτε αὖ λύπαις, τὸ δὲ ἵλεων καὶ εὐμενὲς πρᾷόν τε τιμῶσα διαζήσει τὸν τότε χρόνον (Nomoi VII 792d–e). Ethos und Praxis

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So spreche ich denn meine Ansicht dahin aus, dass Verzärtelung die Gemüter der Kinder unzufrieden, jähzornig und höchst empfindlich über Kleinigkeiten, und im Gegenteil wiederum eine harte und strenge Behandlung und sklavische Unterdrückung sie niedrigen und sklavischen Sinnes, menschenfeindlich und so zu jedem Verkehr und jeder Gemeinschaft untüchtig mache. 54

Diese Passage erweckt die Vorstellung, dass eine negative Wirkung auf die Seele des Kindes immer zu erwarten ist, wenn man es diesen Behandlungsarten unterzieht. Dass diese Aussage eine große Plausibilität hat, kann man kaum bestreiten. In anderen Fällen werden gewisse Praktiken wie der Gelderwerb als intrinsisch lasterhaft erklärt. Deshalb werden sie im Rahmen der Gesetze stark geregelt, sodass sie keinen schlechten Einfluss auf das ēthos der Bürger ausüben (siehe Nomoi XI 918c–922a). 55 Der Gelderwerb bringt Einstellungen bei den Individuen wie die Überschätzung von Reichtum und materiellem Überfluss hervor, die als lasterhafte Extreme in der Verfassung der menschlichen Seele zu verstehen sind. Das Einzige aber, was das Individuum tun muss, um zu vermeiden, in diese Extreme zu geraten, besteht darin, sich an die Gesetze von Magnesia zu halten. Ob diese institutionelle Lösung zu diesem und anderen Problemen, die mit der Vermeidung der für die Seele schadenden Extreme zusammenhängen, attraktiv ist, sei dahingestellt. Allerdings bin ich der Ansicht, dass man aus einem philosophischen Gesichtspunkt heraus eigentlich eine Erklärung für verschiedene Fragen fordert, die von dieser Art von Lösung nicht immer im Detail berücksichtigt werden. Erstens ist es aus einer systematischen Sicht her nicht eindeutig, ob die Extreme schlechthin als solche gelten oder ob sie mehr oder weniger als kontext- und subjektbezogen erfasst werden können. Ferner ist es nicht klar, ob die Extreme auf dieselbe Weise Schaden in der Seele anrichten oder ob es qualitative Unterschiede zwischen ihnen geben kann. Man kann sich auch fragen, ob der mittlere Gemütszustand, der durch eine gute Lebensführung erreicht wird, ein konstitutiver Bestandteil des glücklichen Lebens ist oder eher als eine Art

Λέγω δὴ τό γε παρ’ ἡμῖν δόγμα, ὡς ἡ μὲν τρυφὴ δύσκολα καὶ ἀκράχολα καὶ σφόδρα ἀπὸ σμικρῶν κινούμενα τὰ τῶν νέων ἤθη ἀπεργάζεται, τὸ δὲ τούτων ἐναντίον, ἥ τε σφοδρὰ καὶ ἀγρία δούλωσις, ταπεινοὺς καὶ ἀνελευθέρους καὶ μισανθρώπους ποιοῦσα, ἀνεπιτηδείους συνοίκους ἀποτελεῖ (Nomoi VII 791d). 55 Für eine tiefe Diskussion des Gelderwerbs und der ökonomischen Ansichten Platons siehe Schriefl (2013). 54

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von Vorbedingung dafür gilt, und ob alle praxisbezogenen Tugenden, die von Platon in Betracht gezogen werden, in demselben Teil der Seele verankert sind oder auch in einem anderen. Dieser letzte Punkt ist für uns von besonders großem Belang, denn nur durch die Antwort auf diese Frage kann man feststellen, ob das ēthos mit dem gesamten Seelenzustand oder eher mit einem konkreten Seelenteil zu identifizieren ist. Gewiss kann man behaupten, dass diese Fragen in den Nomoi oft nicht im Detail behandelt werden, weil Platon mit dieser philosophischen Untersuchung ein ganz anderes Ziel im Blick hatte, nämlich die Erforschung der Grundlagen einer gerechten politischen Ordnung. Das ist wohl wahr. Es ist aber auch kaum zu bestreiten, dass diese Fragen ohnehin von großer philosophischer Bedeutung sind. Gerade in Anbetracht ihrer Wichtigkeit denke ich, dass es plausibel ist zu glauben, dass Aristoteles eine gewisse Reihe von Problematiken bezüglich des ēthos in den Nomoi erkannt haben konnte, die er durch seinen eigenen philosophischen Ansatz zu lösen versuchte. Es ist oft schwierig, einen gewissen Einfluss von einem Autor auf den anderen zurückzuverfolgen, vor allem, wenn es darum geht zu bestimmen, ob ein Autor einen Teil seines philosophischen Projekts mit der Absicht konzipiert hat, eine Antwort zu einem von seinen Vorgängern nicht gelösten Problem zu liefern. Allerdings ist es bemerkenswert, dass viele Fragen, die bei Platon mehr oder weniger offen bleiben, einer systematischen Behandlung bei Aristoteles unterzogen werden. Deshalb bin ich der Ansicht, dass die aristotelische Theorie des ēthos, wenngleich nicht immer eine Herausforderung, doch zumindest einen bemerkenswerten Ausgangspunkt im Spätwerk seines Lehrers findet, ohne welchen seine eigene philosophische Unternehmung in mancherlei Hinsicht überhaupt nicht denkbar wäre. Die Erschaffung dieser reichen Semantik des ēthos ist ohne Zweifel als einer von Platons vielen Verdiensten anzusehen. Man muss aber zugleich zugeben, dass verschiedene Dimensionen dieses Begriffes von ihm lediglich erkannt wurden, ohne tiefer auf sie einzugehen. Ein klares Beispiel dafür ist ein Thema, mit dem Aristoteles sich in der Tat intensiv auseinandergesetzt hat und welchem wir unsere Aufmerksamkeit im nächsten Abschnitt zuwenden werden: der Zusammenhang zwischen dem ēthos und der biologischen Verfasstheit der Lebewesen.

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1.6 Die aristotelische Auffassung vom biologischen und natürlichen ēthos Bevor wir unser Augenmerk auf die aristotelische praktische Philosophie richten, im Rahmen derer wir das Verhältnis von Aristoteles zu seinen oben genannten Vorgängern besser beurteilen werden können, scheint es mir angebracht, zunächst eine kurze Revision des ēthos-Begriffes in seinen zoologischen Schriften durchzuführen. Viele Gründe sprechen meiner Ansicht nach für diese Herangehensweise. Bei der kritischen Durchsicht der Sekundärliteratur fällt auf, dass manche Kommentatoren, die sich mit diesem Thema beschäftigen, außer Acht gelassen haben, dass verschiedene Argumente, die Aristoteles in seiner Ethik ausarbeitet, sich auf zentrale Thesen seiner Biologie stützen oder darin zumindest ihren Ausgangspunkt finden. Beispielsweise beziehen sich Sherman (1988) und Rese (2003) in ihren Studien selten auf die zoologischen Schriften, und wenn sie das tun, ziehen sie die Theorie des tierischen ēthos nicht in Erwägung. Rese behauptet sogar Folgendes: »Für Aristoteles ist der Charakter dem Menschen nicht angeboren, sondern er ist erworben. Diesen Sachverhalt formuliert Aristoteles jedoch folgendermaßen: Ein Mensch hat nicht von Natur aus bestimmte Charakterzüge, sondern die Natur des Menschen ist, bestimmte Charakterzüge anzunehmen« (Rese 2003, S. 73). Abgesehen von dieser allgemeinen Aussage, die gewiss ein unleugbares Wahrheitsmoment in Bezug auf den Erwerb von ethischen Tugenden hat, die aber ohne gewisse Präzisierungen Missverständnisse erregt, geht sie nicht weiter auf die biologische Theorie des Charakters ein. 56

Andere Beispiele, die in dieser Hinsicht herangezogen werden können, sind die folgenden: Schütrumpf (1970) berücksichtigt zwar die zoologischen Texte in seiner Studie, allerdings nur in der Absicht, den Zusammenhang des ēthos mit nahverwandten Begriffen wie pathos und hexis zu erläutern – es ist in seinem Fall klar, dass sein Anliegen hauptsächlich darin besteht, den ēthos-Begriff im Rahmen der Poetik zu interpretieren; seine anderen Ausführungen tragen eigentlich nur zu diesem Ziel bei. Vergnières (1995) diskutiert zwar das tierische bzw. natürliche ēthos aber sie misst diesem Thema einen sehr sekundären Stellenwert in ihrer Interpretation bei. Die Autoren hingegen, die die Diskussion wirklich vorangebracht haben, um die Relevanz dieses Themas angesichts der Ethik zu berücksichtigen, sind Lennox (1999) und Leunissen (2012, 2013), welche sich in ihrer Forschung prinzipiell mit den naturwissenschaftlichen Texten des Aristoteles befassen.

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1.6.1 Die Relevanz der zoologischen Schriften für die Erforschung des ēthos In der Tat entwickelte Aristoteles eine sehr differenzierte Theorie, mit der er versuchte, die kausalen Faktoren, die die Hervorbringung verschiedener Charaktertypen im Tierreich bestimmen, zu erklären. Als ein lebendiges Naturwesen aber wird auch der Mensch von diesen biologischen Faktoren betroffen. Der Mensch wird von Aristoteles als ein Lebewesen erfasst, dessen Sein von physiologischen und biologischen Prozessen affiziert wird, wenngleich nicht immer auf dieselbe Weise wie das der Tiere. Der Charakter, den man durch die ethische Praxis erwirbt, hat ihre Basis in den natürlichen Anlagen und Fähigkeiten, die unserer physiologischen Verfassung innewohnen. Um nur ein Thema zu erwähnen, mit dem wir uns später in dieser Studie beschäftigen werden: Es ist eindeutig, dass, wenn Aristoteles sich auf die »natürlichen Tugenden« (physikai aretai) bezieht (vgl. NE VI 13, 1144b30), er sich in einem gewissen Maß auf seine eigene Biologie stützt, um Rechenschaft über die verschiedenen natürlichen Charakteristika, die mit unserer Spezies direkt zusammenhängen, ablegen zu können. Dies bedeutet selbstverständlich nicht, dass alle seine ethischen Argumente auf Grundprämissen seiner Biologie zurückgeführt werden müssen. 57 Allerdings würde man einen Fehler begehen, wenn man die Tatsache außer Acht lassen würde, dass die physiologische Verfassung des Menschen ständig von Aristoteles im Blick behalten wird, um den Übergang von seiner Unvollkommenheit zu seiner optimalen Entfaltung als ethischer Akteur zu explizieren. Die Relevanz der zoologischen Schriften ist angesichts der aristotelischen Anthropologie besonders groß, denn Aristoteles zieht in diesem Kontext häufig Vergleiche zwischen Tier und Mensch, um die Vermögen des ersteren vor der Kontrastfolie des letzteren darzustellen. Deshalb bin

Dieses andere Extrem soll ebenfalls in der Interpretation vermieden werden, da man auf diese Weise das Risiko eingeht, die Spezifität der praktischen Philosophie im aristotelischen Gebäude der Wissenschaften zu verkennen. Die Tatsache, dass die Aussagen der Ethik des Aristoteles im Allgemeinen mit wichtigen Prinzipien und Thesen seiner Biologie kompatibel sind, bedeutet nicht unbedingt, dass sie sich immer auf Letztere stützen. Die Extrapolation von Kallhof (2012) von der aristotelischen Biologie auf die praktische Philosophie, um sie als ein Projekt des ethischen Naturalismus im heutigen Sinn zu erklären, scheint mir aufgrund dieser Simplifikation verfehlt zu sein.

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ich der Überzeugung, dass man die aristotelische Auffassung des Charakters nicht in ihrer ganzen Reichweite versteht, wenn man diese Dimension seines Denkens nicht in die Auslegung miteinbezieht. Durch den folgenden Umweg, in welchem wir die wesentlichsten Aspekte seiner biologischen Theorie des ēthos diskutieren werden, werden wir versuchen, die Basis der aristotelischen Position bezüglich dieser und anderer nahverwandter Themen besser begreifen zu können. Vor diesem Hintergrund sollte es uns gelingen, verschiedene Thesen, die in seinen ethischen Traktaten auftauchen, besser interpretieren zu können. 1.6.2 Die aristotelische scala naturae In der Historia Animalium erhalten wir Aufschluss über seine Position bezüglich des Charakters im Tierreich. Das ēthos wird bei Aristoteles in diesem Werk als ein wichtiger Faktor verstanden, aufgrund dessen die Tiere sich voneinander unterscheiden. Ihre Lebensweisen, Tätigkeiten und Körperteile sind die anderen Kriterien, die ebenfalls von ihm verwendet werden, um die Tiere in größere taxonomische Gruppen einzuordnen (vgl. HA I 1, 487a11–14). Das Erstere erfährt bei ihm allerdings eine sehr merkwürdige Behandlung. Es wird als eine physikē dynamis beschrieben, die dazu beiträgt, die Emotionen, Instinkte und Verhaltensweisen der Tiere zu gestalten: Die Natur so wie die Entstehung und Entwicklung der Tiere ist im Vorhergehenden dargestellt. Ihre Verrichtungen und ihre Lebensweise sind verschieden je nach ihrem Charakter und ihrer Nahrung. Denn auch bei den meisten Tieren finden sich Spuren von den der Seele zukommenden Eigenschaften, wie sie sich am Menschen deutlicher und vollkommener unterscheiden lassen. Denn man findet bei vielen von ihnen Zahmheit und Wildheit, Sanftmut und Bösartigkeit, Mut und Feigheit, Furchtsamkeit und Dreistigkeit, Ungestüm und Verschlagenheit, so wie Andeutungen von Verstandestätigkeit. Denn wie wir bei der Erörterung der Theile bemerkt haben, liegt der Unterschied zwischen den Tieren und dem Menschen sowie des Menschen von vielen Tieren teils in einem Mehr oder Weniger – denn manche dergleichen Eigenschaften kommen dem Menschen in höherem Grade zu, manche dagegen den Tieren –, teils in einer Analogie. Denn so wie der Mensch Kunst, Erkenntnis und Verstand besitzt, ebenso haben manche Tiere eine andere derartige natürliche Anlage. Die in Rede stehende Sache leuchtet ein, wenn man das erste Alter der Kinder in Betracht zieht. Bei diesen kann man nämlich gewissermaßen die Spuren und Keime der zukünftigen Eigentümlichkeiten wahrnehmen und doch ist in diesem Alter ihre Seele kaum von der der Tiere verschieden. Daher ist es kein Wunder,

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wenn die Tiere zum Teil dieselben, zum Teil ähnliche, zum Teil analoge Eigenschaften besitzen, wie der Mensch. 58

In vielerlei Hinsicht gibt uns diese Passage Auskunft über die Merkmale und Fähigkeiten der Lebewesen. Hier wird ein enger Zusammenhang festgestellt zwischen dem ēthos und den verschiedenen Emotionen, die sich im Verhalten zeigen. Es fällt besonders auf, dass die Tiere Aristoteles zufolge ein breites Spektrum emotionaler Reaktionen erleben können. Diese emotionale und affektive Rezeptivität ist aber nur dank ihres jeweiligen Charakters zu erklären, denn in ihm sind diese Affekte verwurzelt. Die Seele wird von Aristoteles als der locus begriffen, in dem verschiedene Verhaltensweise und Anlagen, die wir normalerweise mit dem Charakter assoziieren, verortet sind. Demzufolge werden die Emotionen nicht nur auf eine materielle Ebene erklärt. Sie sind mit diesem Prinzip der Lebendigkeit, das die Seele darstellt, eng verbunden. Andererseits, wie oben gesagt, versucht Aristoteles ständig seine Position mittels verschiedener Vergleiche mit dem Menschen darzustellen. Dieser Vergleich zeigt sich in diesem Kontext als etwas besonders Merkwürdiges, denn es wird damit behauptet, dass die Vermögen, die wir mit den Tieren gemeinsam haben, entweder dieselben wie unsere oder nur analog zu unseren zu begreifen sind. Es ist Aristoteles vorzuwerfen, dass er nicht deutlicher spezifiziert, welche Eigenschaften bei den Tieren nur ihrem Grad nach von denen des Menschen abweichen – d. h., welche ihrem Wesen und der Art nach dieselben wie unsere sind – und welche Tieren nur analog zugeschrieΤὰ μὲν οὖν περὶ τὴν ἄλλην φύσιν τῶν ζῴων καὶ τὴν γένεσιν τοῦτον ἔχει τὸν τρόπον· αἱ δὲ πράξεις καὶ οἱ βίοι κατὰ τὰ ἤθη καὶ τὰς τροφὰς διαφέρουσιν. Ἔνεστι γὰρ ἐν τοῖς πλείστοις καὶ τῶν ἄλλων ζῴων ἴχνη τῶν περὶ τὴν ψυχὴν τρόπων, ἅπερ ἐπὶ τῶν ἀνθρώπων ἔχει φανερωτέρας τὰς διαφοράς· καὶ γὰρ ἡμερότης καὶ ἀγριότης, καὶ πραότης καὶ χαλεπότης, καὶ ἀνδρία καὶ δειλία, καὶ φόβοι καὶ θάρρη, καὶ θυμοὶ καὶ πανουργίαι καὶ τῆς περὶ τὴν διάνοιαν συνέσεως ἔνεισιν ἐν πολλοῖς αὐτῶν ὁμοιότητες, καθάπερ ἐπὶ τῶν μερῶν ἐλέγομεν. Τὰ μὲν γὰρ τῷ μᾶλλον καὶ ἧττον διαφέρει πρὸς τὸν ἄνθρωπον, καὶ ὁ ἄνθρωπος πρὸς πολλὰ τῶν ζῴων (ἔνια γὰρ τῶν τοιούτων ὑπάρχει μᾶλλον ἐν ἀνθρώπῳ, ἔνια δ’ ἐν τοῖς ἄλλοις ζῴοις μᾶλλον), τὰ δὲ τῷ ἀνάλογον διαφέρει· ὡς γὰρ ἐν ἀνθρώπῳ τέχνη καὶ σοφία καὶ σύνεσις, οὕτως ἐνίοις τῶν ζῴων ἐστί τις ἑτέρα τοιαύτη φυσικὴ δύναμις. Φανερώτατον δ’ ἐστὶ τὸ τοιοῦτον ἐπὶ τὴν τῶν παίδων ἡλικίαν βλέψασιν· ἐν τούτοις γὰρ τῶν μὲν ὕστερον ἕξεων ἐσομένων ἔστιν ἰδεῖν οἷον ἴχνη καὶ σπέρματα, διαφέρει δ’ οὐδὲν ὡς εἰπεῖν ἡ ψυχὴ τῆς τῶν θηρίων ψυχῆς κατὰ τὸν χρόνον τοῦτον, ὥστ’ οὐδὲν ἄλογον εἰ τὰ μὲν ταὐτὰ τὰ δὲ παραπλήσια τὰ δ’ ἀνάλογον ὑπάρχει τοῖς ἄλλοις ζῴοις (HA VIII 1, 588a16–b3).

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ben werden können. Ferner stellt er nicht explizit das Kriterium zur Verfügung, anhand dessen man identifizieren kann, wann ein bestimmtes Vermögen von einem Lebewesen strictu senso besessen wird. Diese Spezifikation wäre besonders hilfreich, um verstehen zu können, in welchem Sinn Aristoteles den Tieren in diesem Text technē, sophia und synesis zuschreibt. Ohne dass dies hier explizit als ein analoger Gebrauch dieser Termini beschrieben wird, kann man aber davon ausgehen, dass der Mensch für Aristoteles das Lebewesen ist, in Bezug auf welches diese Attribute prinzipiell prädiziert werden können. Die Verwendung dieser Termini in Bezug auf andere Lebewesen ist eher als eine heuristische Erweiterung anzusehen, um die Vermögen der Tiere verständlicher für uns zu machen. Das hängt auch mit der Tatsache zusammen, dass es oft schwierig ist, die Grenzen zwischen den verschiedenen Bereichen des Lebendigen zu präzisieren: »Die Natur schreitet aber so allmählich von den unbeseelten Dingen zu den belebten Wesen fort, dass man bei dem stetigen Zusammenhange nicht gewahr wird, wo die Grenze beider Abteilungen ist und zu welcher von beiden die in der Mitte stehenden Dinge gehören.« 59 Diese Beschreibung erweckt die Vorstellung, dass die Natur sich auf verschiedenen Ebenen bemüht, ihre Möglichkeiten zu realisieren, und dass es ihr nur im Fall der oberen Lebewesen bzw. des Menschen gelingt, ihr Ziel vollständig zu erreichen. Bei den anderen Stufen hingegen kann man vermuten, dass diese Möglichkeiten, wenngleich nicht vollständig, doch partiell entfaltet werden. 1.6.3 Das tierische ēthos: Eine anthropomorphe Redeweise? Einige Kritiker haben aus dieser und anderen ähnlichen Betrachtungen die Schlussfolgerung gezogen, dass der aristotelischen Philosophie ein anthropozentrisches Bild der Natur zugrunde liege. Die in dieser Linie gehenden Hauptvorwürfe, die gegen Aristoteles erhoben werden, können m. E. in zwei Gruppen eingeordnet werden. 60 Einerseits unterstellen die Kritiker Aristoteles einen methodologischen Anthropozentrismus: Pellegrin (1987) und Lloyd (1983, 1987) behaupten, dass der Mensch für Aristoteles der Referenzpunkt ist, in Οὕτω δ’ ἐκ τῶν ἀψύχων εἰς τὰ ζῷα μεταβαίνει κατὰ μικρὸν ἡ φύσις, ὥστε τῇ συνεχείᾳ λανθάνει τὸ μεθόριον αὐτῶν καὶ τὸ μέσον ποτέρων ἐστίν (HA VIII 1, 588b4–6). 60 Für die Darstellung dieser Debatte lehne ich mich stark an die ausgezeichnete Diskussion von García Peláez (2009) an. 59

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Bezug auf welchen alle anderen Tiere je nach ihrem größeren bzw. niedrigeren Ähnlichkeitsgrad klassifiziert werden. Nussbaum (2001) ist der Überzeugung, dass in den aristotelischen Schriften die Behandlung von Themen wie Lust, Wissen und Glück darauf hinweist, dass er nur bzw. hauptsächlich die menschlichen Vorstellungen über dieselben in Betracht zieht. Andererseits schreiben andere Kommentatoren Aristoteles einen kosmischen Anthropozentrismus zu. Sedley (1991) vergleicht die aristotelische mit der stoischen Kosmologie und hebt den folgenden Berührungspunkt hervor: Beide vertreten die These, dass nicht der Mensch, sondern die Götter bzw. Gott das Hauptwesen des Universums ist. Allerdings ist die ganze sublunarische Welt so strukturiert und geordnet, dass wir diejenigen Wesen sind, die am meisten Gebrauch von anderen Tierarten und Naturressourcen machen können. Und aufgrund dieser Gebrauchsmöglichkeit nehmen wir an, dass diese Ressourcen da sind, damit wir uns an ihnen bedienen. Auf eine ähnliche Weise hat Kosman (1987) argumentiert, dass, selbst ohne das Bild eines schöpferischen Gottes in sein System miteinbezogen zu haben, Aristoteles zu der Einsicht gelangt sei, dass die Naturwelt hauptsächlich als Szenario der Entfaltung und Vervollkommnung des Menschen begriffen werden müsse. Mittlerweile gibt es Autoren, die interessante Interpretationen entwickelt haben, um diese Vorwürfe gegen die aristotelische Philosophie zurückzuweisen (vgl. Kullman 1979, Balme 1987a, 1987b, Yack 1993). Hier können wir aber in diese Debatte in ihrem vollen Umfang nicht einsteigen. Es ist allerdings gegen den Vorwurf des methodologischen Anthropozentrismus anzumerken, dass man bei der aristotelischen Behandlung des tierischen ēthos nicht das Vorhaben findet, die Superiorität des Menschen zu unterstreichen. Es steht außer Frage, dass Aristoteles häufig Vergleiche mit den menschlichen Fähigkeiten und Talenten in seinen Analysen über die Tiere zieht, um Rechenschaft über die Beschaffenheit der letzteren ablegen zu können, aber er scheint ein genuines Interesse daran gehabt zu haben – insofern es uns Menschen möglich ist – zu verstehen, wie dieses ēthos konstituiert ist, abgesehen von irgendeinem weiteren Gebrauch dieses Wissens angesichts unserer unmittelbaren Interessen. Ein methodologischer Grundsatz seiner Untersuchung ist, dass das Wissen über das Tierreich an sich wertvoll sei (vgl. PA I 5, 644b5–645a15), und es gibt keine hinreichenden Argumente dafür, anzunehmen, er sei mit diesem Forschungsprinzip nicht konsequent gewesen. Die aristotelische Verwendung von Vergleichen mit den menschlichen Ethos und Praxis

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Vermögen soll m. E. als die mit unserer Kondition zusammenhängende Schwierigkeit bzw. Unmöglichkeit interpretiert werden, unsere menschlichen Kategorien und Verständnisweisen in der Deutung der Natur komplett loszuwerden und uns z. B. eine angemessene Vorstellung eines anderen Lebewesens zu verschaffen (vgl. Woods 1993). Trotz der Tatsache, dass Aristoteles anderen Lebewesen Vernunft bzw. mit der Vernunft zusammenhängende Vermögen zuschreibt, was oft den Verdacht erregt, dass er die Tiere vermenschliche bzw. dass er nur metaphorisch rede, lässt sich doch behaupten, dass es in Bezug auf das ēthos keine Gründe dafür gibt anzunehmen, dass dieser Terminus bei Aristoteles nur im metaphorischen Sinne auf Tiere Bezug nähme. 61 Dies lässt sich sehr deutlich daran feststellen, dass die Beschränkungen, die Aristoteles einführt, um Vernünftigkeit von anderen Lebewesen zu prädizieren, bei seiner Behandlung des ēthos keinesfalls zu finden sind. Ohne Bedenken entwirft er sogar eine ganze Typologie der Tiere und ihrer sie auszeichnenden Verhaltensweisen: Mit Hinsicht auf den Charakter der Tiere zeigen sich folgende Verschiedenheiten. Manche sind sanft, nicht leicht in Wut zu bringen, noch hartnäckig, wie das Rind, manche dagegen hartnäckig, wütig und ungelehrig, wie das wilde Schwein, andere klug und furchtsam, wie der Hirsch und der Hase, wieder andere heimtückisch und hinterlistig, wie die Schlangen, dagegen andere offen, tapfer und edel, wie der Löwe; manche sind kräftig, wild und

So auch Leunissen: »[…] I believe that Aristotle’s attribution of character traits to animals is serious and not merely metaphorical […]« (Leunissen 2012, S. 508). Sie folgt ihrerseits der Meinung von Lennox (1999, S. 16–18). Ein Kommentator hingegen, der Kritik an Aristoteles bezüglich dieses Punktes ausübt, ist Lloyd: »At the same time his work was anything but value-neutral – and not just in the way that no science can be ultimately value-neutral. In including animals’ characters in his investigations into their differentiae, he still thinks about animals in human terms, assuming a parallelism between the animal series and the moral one. The anthropocentricity of his system illustrates – if it needs illustration – how he uses taxonomy to convey value judgments about man’s place in nature and to express a strongly value-laden concept of nature itself« (Lloyd 1983, S. 55). Meiner Ansicht nach verkennt Lloyd einen wichtigen Punkt, und zwar, dass Aristoteles keinesfalls beabsichtigt, die Tiere aufgrund ihrer Charaktere zu loben bzw. zu tadeln, und auch nicht suggeriert, dass sie ihren jeweiligen Charakter verbessern sollen. Im Gegensatz zu den ethischen Traktaten erhebt Aristoteles hier keinen normativen Anspruch, wenn er die Typologie der Charaktere im Tierreich entwirft. Aristoteles bedient sich zwar der menschlichen Sprache, um die Verhaltensweisen der Tiere beschreiben zu können. Seine Aussagen sind in dieser Hinsicht zweifellos anthropozentrisch aufgeladen. Das bedeutet aber noch nicht, dass sie moralisch aufgeladen sein müssen und vor allem nicht in solchem gewichtigen Ausmaß.

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hinterlistig, wie der Wolf – edel heißt nämlich dasjenige, was aus einem tüchtigen Geschlechte stammt, kräftig aber, was nicht leicht ausartet. Ferner sind die einen verschlagen und bösartig, wie der Fuchs, andere sind leicht erregbar, anhänglich und schmeichlerisch, wie der Hund, andere sanft und leicht zu zähmen, wie der Elefant, andere schüchtern, und immer auf ihrer Hut, wie die Gans, andere neidisch und eitel, wie der Pfau. Der Mensch allein hat unter allen Tieren die Fähigkeit, mit Überlegung zu wollen. Gedächtnis und Gelehrigkeit ist vielen Tieren eigen, aber sich auf Vergangenes wieder besinnen kann nur der Mensch. 62

Die Typologie der Tiere, die hier vorgelegt wird, ähnelt sehr derjenigen, die Aristoteles’ Schüler Theophrast in seinem Traktat über die menschlichen Charaktere entwickelt hat. 63 Ebenso wie Aristoteles nimmt sich auch Theophrast vor, verschiedene Verhaltensweisen und psychologische Zustände zu erforschen. Die durch lebendige Details gefärbte Darstellung der Menschen bei Theophrast findet hier im Text seines Lehrers ein exemplarisches Muster. Wie Aristoteles im Fall der Tiere versucht auch Theophrast, seine Beobachtungen bereitzustellen, um uns die verschiedenen Charaktere der Natur vor Augen zu führen und unsere Erkenntnis zu erweitern. Ein weiterer Berührungspunkt zwischen beiden Autoren besteht darin, dass sie den Anschein erwecken, als wäre der Charakter der Tiere bzw. der

Διαφέρουσι δὲ καὶ ταῖς τοιαῖσδε διαφοραῖς κατὰ τὸ ἦθος. Τὰ μὲν γάρ ἐστι πρᾶα καὶ δύσθυμα καὶ οὐκ ἐνστατικά, οἷον βοῦς, τὰ δὲ θυμώδη καὶ ἐνστατικὰ καὶ ἀμαθῆ, οἷον ὗς ἄγριος, τὰ δὲ φρόνιμα καὶ δειλά, οἷον ἔλαφος, δασύπους, τὰ δ’ ἀνελεύθερα καὶ ἐπίβουλα, οἷον οἱ ὄφεις, τὰ δ’ ἐλευθέρια καὶ ἀνδρεῖα καὶ εὐγενῆ, οἷον λέων, τὰ δὲ γενναῖα καὶ ἄγρια καὶ ἐπίβουλα, οἷον λύκος· εὐγενὲς μὲν γάρ ἐστι τὸ ἐξ ἀγαθοῦ γένους, γενναῖον δὲ τὸ μὴ ἐξιστάμενον ἐκ τῆς αὑτοῦ φύσεως. Καὶ τὰ μὲν πανοῦργα καὶ κακοῦργα, οἷον ἀλώπηξ, τὰ δὲ θυμικὰ καὶ φιλητικὰ καὶ θωπευτικά, οἷον κύων, τὰ δὲ πρᾶα καὶ τιθασσευτικά, οἷον ἐλέφας, τὰ δ’ αἰσχυντηλὰ καὶ φυλακτικά, οἷον χήν, τὰ δὲ φθονερὰ καὶ φιλόκαλα, οἷον ταώς. Βουλευτικὸν δὲ μόνον ἄνθρωπός ἐστι τῶν ζῴων. Καὶ μνήμης μὲν καὶ διδαχῆς πολλὰ κοινωνεῖ, ἀναμιμνήσκεσθαι δ’ οὐδὲν ἄλλο δύναται πλὴν ἄνθρωπος. (HA I 1, 488b12–26). 63 Der griechische Titel des Traktates von Theophrast ist »ēthikoi charaktēres«, was sich wörtlich als »ethische Charaktere« übersetzen lässt. Es ist merkwürdig, dass er nicht das Wort ēthos verwendet, um sich auf diese Personen zu beziehen. Es ist plausibel zu glauben, dass Theophrast sich der technischen und philosophischen Implikationen dieses Terminus bei seinem Lehrer bewusst war, und dass er es vermieden hat, das Wort zu benutzen, um keine Missverständnisse im Kreis der peripatetischen Schule zu erregen. Aristoteles verwendet das griechische Wort charaktēr nur selten und es hat bei ihm die Bedeutung von »Stempel« oder »Marke« (vgl. Pol. I 9, 1257a40–41; GA V 2, 781a28). 62

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Menschen mit ihrer auffälligsten Verhaltensweise gleichzusetzen. Alle andere Eigenschaften und Merkmale wären demzufolge dem Charakter, dem wichtigsten Merkmal der Identität, zugeordnet bzw. von ihm abhängig. Für einen Laien ist es leichter, das Vorhaben von Theophrast zu verstehen, da man eben im stetigen Umgang mit den Menschentypen ist, die von ihm im Detail beschrieben bzw. analysiert werden, und es besteht sogar die Möglichkeit, dieses Wissen auf die eigene Lebensführung anzuwenden. 64 Diese Reflexionen über die Charaktertypen gehören zum Alltagsverständnis der menschlichen Beziehungen und erfordern auf dieser Ebene nicht die Richtschnur der Philosophie oder einer besonderen Wissenschaft. Die Beobachtung und Klassifizierung der Tiere hingegen, die Aristoteles sich vornimmt, verlangt eine methodische Forschung und Analyse, die weit über die Vorstellungen, die unsere konventionelle Interaktion mit den Tieren prägt, hinausgehen, denn er setzt sich als Ziel, die Gründe und Ursachen zu erklären, die diesen verhaltensbezogenen Unterschieden zugrunde liegen – kein derartiges Projekt ist in der Typologie Theophrasts zu finden. Aristoteles’ Ziel ist demzufolge prinzipiell wissenschaftlich und wird im Kontext eines größeren Forschungsprogramms über die Lebewesen verfolgt.

In dem Proömium zu den Charakteren, welches von vielen Interpreten als unecht betrachtet wird und nicht immer in den modernen Ausgaben enthalten ist, wird behauptet, dass eines der Ziele der Schrift darin besteht, die Kenntnis über die Menschenparadigmen zur Verfügung zu stellen, sodass die Söhne Theophrasts und seines Freundes Polykles »den Anstoß bekommen, mit anständigen Menschen ins Gespräch zu kommen und sich mit ihnen zu assoziieren, in der Hoffnung, dass sie nicht hinter ihnen bleiben« (χρώμενοι αἱρήσονται τοῖς εὐσχημονεστάτοις συνεῖναί τε καὶ ὁμιλεῖν, ὅπως μὴ καταδεέστεροι ὦσιν αὐτῶν) (Charaktere, Pröömium 15–17). Trotz der möglichen Unechtheit des Proömiums bin ich der Ansicht, dass Theophrast doch beansprucht, dieses Wissen als lebensnützlich darzustellen, wenngleich nicht (immer) in ethischer Hinsicht. Siehe dazu die Meinung von Diggle: »The work has been tailored, by more than one hand, to serve an ethical purpose. The prooemium introduces it as a work of moral guidance for the young. The epilogues advise or moralize. The definitions have links with ethical theorizing. When we are rid of these accretions, the work lacks all ethical dimension. Nothing is analyzed, no moral is drawn, no motive is sought« (Diggle 2004, S. 12). Es gibt aber andere Autoren, die eine ganz andere Position über die Natur dieser Schrift vertreten: »The difficulty is not that the descriptions are amusing, but that they are written as if their principal aim was to amuse« (Jebb 1909, S. 13, zitiert in Diggle 2004, S. 14).

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1.6.4 Physiologischer Leitfaden der natürlichen Charakterologie Dass dies sein Anliegen ist, offenbart sich deutlich an einer Stelle von De Partibus Animalium, wo er das Herz als den wichtigsten physiologischen Faktor erklärt, aufgrund dessen die verschiedenen Charaktertypen entstehen: Die Unterschiede des Herzens in Bezug auf Größe und Kleinheit, Härte und Weichheit erstrecken sich irgendwie auch auf die Charaktere. Die Unsensiblen haben ein hartes und dichtes Herz, die Sensiblen ein weicheres. Und die, die große Herzen haben, sind furchtsam, während die, die kleinere und mittelgroße haben, mutiger sind. Denn der Körperzustand, der sich infolge von Furcht einstellt, ist bei den ersteren schon im Voraus vorhanden, weil sie nicht Wärme entsprechend dem Herzen besitzen und weil die Wärme bei ihrem geringen Umfang in großen Herzen noch unscheinbarer wird und ihr Blut (dadurch) kälter ist. Größe Herzen besitzen Hase, Hirsch, Maus, Hyäne, Esel, Leopard, Wiesel und fast alle übrigen, die offensichtlich furchtsam oder aus Furcht bösartig sind. 65

Aristoteles betrachtet das Herz als das wichtigste Organ der Lebewesen. Daher ist es angemessen, seine Biologie als kardiozentrisch zu bezeichnen. Die Gestalt des Herzens wirkt für Aristoteles als eine entscheidende Ursache, die die Verfassung der Tiere bestimmt. An dieser Passage sehen wir auch erstaunlicherweise, dass bestimmte Verhaltensweise und Emotionen für Aristoteles direkt von diesem Organ abhängen. Aristoteles macht es sich hier nochmals zur Aufgabe, eine Typologie der Tiere zu entwerfen; diesmal gilt die Größe des Herzens aber als das leitende Organisationskriterium. In dieser Hinsicht spielt das Blut ebenfalls eine merkwürdige Rolle, denn es bestimmt Aristoteles zufolge die Wärme und die Feuchtigkeit im Organismus eines Lebewesens aufgrund der Elemente (Erde, Feuer, Luft und Wasser), aus denen es besteht (vgl. PA II 4, 651a12–17). 66 Eine »reinere Lebensquelle« haben die Tiere, die die folgenden CharakteΑἱ δὲ διαφοραὶ τῆς καρδίας κατὰ μέγεθός τε καὶ μικρότητα καὶ σκληρότητα καὶ μαλακότητα τείνουσί πῃ καὶ πρὸς τὰ ἤθη. Τὰ μὲν γὰρ ἀναίσθητα σκληρὰν ἔχει τὴν καρδίαν καὶ πυκνήν, τὰ δ’ αἰσθητικὰ μαλακωτέραν· καὶ τὰ μὲν μεγάλας ἔχοντα τὰς καρδίας δειλά, τὰ δὲ ἐλάσσους καὶ μέσας θαρραλεώτερα. Τὸ γὰρ συμβαῖνον πάθος ὑπὸ τοῦ φοβεῖσθαι προϋπάρχει τούτοις, διὰ τὸ μὴ ἀνάλογον ἔχειν τὸ θερμὸν τῇ καρδίᾳ, μικρὸν δ’ ὂν ἐν μεγάλοις ἀμαυροῦσθαι, καὶ τὸ αἷμα ψυχρότερον εἶναι. Μεγάλας δὲ τὰς καρδίας ἔχουσι, λαγώς, ἔλαφος, μῦς, ὕαινα, ὄνος, πάρδαλις, γαλῆ, καὶ τἆλλα σχεδὸν πάνθ’ ὅσα φανερῶς δειλὰ ἢ διὰ φόβον κακοῦργα (PA III 4, 667a11–22). 66 Siehe dazu Leunissen (2012): »In all animals, the material qualities of the blood are influenced materially by the kind of food they eat, (PA 650a35–b2), and formally by 65

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ristika aufweisen: »Vollkommener wieder (in ihrem Aufbau) sind die wärmeren Geschöpfe und die feuchteren und weniger erdhaften«. 67 Aristoteles führt auch die verschiedenen Reproduktionsformen auf die Bluttypen der Lebewesen zurück (vgl. GA II 1, 732a25–733b23). In der Hierarchie oder scala naturae, die aus dieser Klassifizierung entsteht (vgl. GA II 1, 733a32–33, 4, 737b25–27), befindet sich der Mensch an der Spitze, denn er besitzt einen Bluttyp, der ihm viele Fähigkeiten ermöglicht: »Am besten aber sind diejenigen, die warmes, dünnes und reines Blut haben, denn solche Lebewesen sind sowohl im Hinblick auf Tapferkeit als auch im Hinblick auf Verständigkeit in gutem Zustand.« 68 Dadurch, dass die Elemente im Blut in Balance sind und dass das Gehirn die Temperatur des Blutes steuert, hat unser Organismus das erforderliche Gleichgewicht, um höhere Leistungen wie das Denken zu erbringen: »Dies gute Mischungsverhältnis wird durch die Vernunft zum Ausdruck gebracht, sofern der Mensch das verständigste aller Geschöpfe ist.« 69 Durch seine Anatomie ist der Mensch besonders gut ausgestattet, um intellektuelle Fähigkeiten zu entfalten und komplexe Aktivitäten auszuführen, durch welche er sich gegenüber anderen Lebewesen auszeichnet. 70 An diesem Punkt unserer Diskussion sind wir imstande, die folgenden aristotelischen Annahmen in den Vordergrund zu stellen. Aristoteles ist der Auffassung, dass der Charakter eines Lebewesens the structure and functionality of the organs that operate on that food and concote it into blood« (Leunissen 2012, S. 518). 67 τελεώτερα δὲ τὰ θερμότερα τὴν φύσιν καὶ ὑγρότερα καὶ μὴ γεώδη (GA 732b30). 68 ἅμα γὰρ πρός τε ἀνδρείαν τὰ τοιαῦτα καὶ πρὸς φρόνησιν ἔχει καλῶς (PA II 2, 648a9–11). 69 δηλοῖ δὲ τὴν εὐκρασίαν ἡ διάνοια· φρονιμώτατον γάρ ἐστι τῶν ζῴων ἄνθρωπος (GA II 6, 744a30–31). 70 Das Blut ist nicht der einzige Vorzug des Menschen im Verhältnis zu anderen Tieren. Der aufrechte Gang wird beispielsweise auch von Aristoteles in dieser Hinsicht berücksichtigt: »Der Mensch hat jedoch anstelle von Vorderbeinen und Vorderfüßen Arme und die sogenannten Hände, denn als einziges Lebewesen steht er aufrecht, weil seine Beschaffenheit und sein Wesen göttlich sind. Und die Leistung des in besonderem Maße göttlichen Wesens ist das Denken und Verständigsein. Diese (Leistung) wäre aber nicht leicht zu erbringen, wenn viel Körpermasse von oben aufliegt. Denn das große Gewicht macht das Denken und den allgemeinen Sinn schwer beweglich« (PA IV 10, 686a24–32; vgl. auch PA II 7, 653a30–31, 10, 656a12–13, III 6, 669b3–6). Allerdings haben die Herzgröße und das Blut in der aristotelischen Biologie den Vorrang vor anderen, für den Menschen vorteilhafteren anatomischen Komponenten bzw. Strukturen.

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mit so unterschiedlichen Faktoren wie der Nahrung, der Herzgröße und des Blutes zusammenhängt. Dass diese Faktoren zusammenwirken, um in den Menschen und anderen Tieren bestimmte Verhaltensweise auszulösen, ist in Anbetracht der oben kommentierten Stellen eindeutig. Daraus darf man aber keineswegs die Schlussfolgerung ziehen, dass Aristoteles einen einseitigen bzw. reduktionistischen Ansatz vertrete. Der Charakter ist keinesfalls der einzige Faktor, auf welchen das gesamte Verhalten der Tiere zurückgeführt werden muss. Vielmehr berücksichtigt Aristoteles die Tiere von einem breiten kausalen Standpunkt aus, in welchem nicht nur der Charakter, sondern auch die Lebensweisen, Tätigkeiten und Körperteile eine fundamentale Rolle in der Beschreibung und Analyse der Lebewesen spielen. Es handelt sich um eine Auffassung, der zufolge all diese Faktoren das Verhalten eines Lebewesens bestimmen. All diese Ursachen in einem Lebewesen wirken zusammen und es ist keine leichte Aufgabe, die Interaktion dieser Elemente in den Einzelfällen genau festzustellen. Das aristotelische Kausalmodell findet im Bereich der Lebewesen einen sehr komplexen Anwendungsfall. Außerdem darf man nicht vergessen, wie wir oben in Bezug auf HA VII 1 diskutiert haben, dass der Charakter von Aristoteles in engem Zusammenhang mit der Seele verstanden wird. Gerade aufgrund dieser Verbindung zwischen Charakter und Seele ist es oft schwierig, genau zu begreifen, wie der Charakter von all diesen materiellen Ursachen, die Aristoteles in Erwägung zieht, affiziert bzw. beeinflusst werden kann. Diese Möglichkeit kommt dem Leser besonders befremdlich vor, der hauptsächlich mit der aristotelischen Metaphysik und der Lehre von dem Bestimmungsvorrang der Form gegenüber der Materie vertraut ist. In Anbetracht der zoologischen Schriften aber scheint es, dass der aristotelische Hylemorphismus eine flexiblere Theorie sein muss, die doch Rechnung einer bidirektionalen Wirkung zwischen Form und Materie tragen kann. 71 Die von mir komVerschiedene gegenwärtige Kommentatoren stimmen darin überein, dass Aristoteles je nach Untersuchungskontext sowohl top-down als auch bottom-up Argumente verwendet, um Rechnung vom komplexen Verhältnis zwischen Seele und Körper abzulegen. So erklärt beispielsweise André Laks den komplementären Charakter der Argumentationslinien von DA und MA: »It is true that the two characterizations – through psycho-physiology and through animal general kinetics – can easily be read as alternate descriptions of the same project: for given that animals are a hylomorphic entity endowed with body and soul, an inquiry into the common cause of animal movement coincides with the explanation of how their locomotion (as well as other

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mentierten Textstellen machen deutlich, dass die eigene materielle Verfassung tatsächlich eine Wirkung auf den Charakter des jeweiligen Lebewesens haben kann. Interessanterweise ist aber die eigene körperliche Beschaffenheit nicht der einzige materielle Faktor, der einen derartigen Effekt auf unseren Charakter haben kann. Auch externe materielle Kräfte werden von Aristoteles in Betracht gezogen. Ein klares Beispiel dafür ist seine Darstellung in der Politik über die verschiedenen Völker und ihre auffälligsten Merkmale. Dort wird diskutiert, wie sich die Völker aufgrund geographischer und wetterbezogener Umstände voneinander unterscheiden: Die Völkerschaften nämlich, die in den kalten Gegenden Europas wohnen, sind zwar voll Mut, aber weniger mit Denkvermögen und Kunstfertigkeit begabt. Daher behaupten sie zwar leichter ihre Freiheit, aber sie sind zur Bildung staatlicher Gemeinwesen untüchtig und die Herrschaft über Nachbarvölker zu gewinnen unvermögend. Die Völker Asiens dagegen sind mit Denkvermögen und Kunstfertigkeit begabt, aber ohne Mut. Daher leben sie in Unterwürfigkeit und Sklaverei. Das Geschlecht der Griechen endlich, wie es örtlich die Mitte zwischen beiden einnimmt, vereinigt auch die Vorzüge beider, denn es ist voll Mut und zugleich mit Denkvermögen begabt. Daher enthält es sich nicht bloß fortwährend frei, sondern auch am meisten in staatlicher Ordnung und würde die Herrschaft über alle anderen Völker zu gewinnen imstande sein, wenn es zu einem einzigen Staat verbunden wäre. Den nämlichen Unterschied zeigen aber auch die griechischen Völkerschaften selbst gegeneinander. Denn die einen haben eine einseitige Naturanlage, die anderen aber eine glückliche Mischung jener beiden Vermögen. Daraus erhellt den nun, dass Leute, die sich für den Gesetzgeber als lenksam zur Tugend erweisen sollen, von Natur zugleich mit Denkvermögen begabt und mutig sein müssen. 72 movements) depends on the joint working of their soul and of their organic (bodily) parts. This of course implies that psycho-physiological explanation also includes a psycho-physiological explanation« (Laks, unveröffentlicht). Für eine andere Diskussion über dieses Thema siehe auch Lennox (2001, S. 182–204). 72 τὰ μὲν γὰρ ἐν τοῖς ψυχροῖς τόποις ἔθνη καὶ τὰ περὶ τὴν Εὐρώπην θυμοῦ μέν ἐστι πλήρη, διανοίας δὲ ἐνδεέστερα καὶ τέχνης, διόπερ ἐλεύθερα μὲν διατελεῖ μᾶλλον, ἀπολίτευτα δὲ καὶ τῶν πλησίον ἄρχειν οὐ δυνάμενα· τὰ δὲ περὶ τὴν Ἀσίαν διανοητικὰ μὲν καὶ τεχνικὰ τὴν ψυχήν, ἄθυμα δέ, διόπερ ἀρχόμενα καὶ δουλεύοντα διατελεῖ· τὸ δὲ τῶν Ἑλλήνων γένος, ὥσπερ μεσεύει κατὰ τοὺς τόπους, οὕτως ἀμφοῖν μετέχει. καὶ γὰρ ἔνθυμον καὶ διανοητικόν ἐστιν· διόπερ ἐλεύθερόν τε διατελεῖ καὶ βέλτιστα πολιτευόμενον καὶ δυνάμενον ἄρχειν πάντων, μιᾶς τυγχάνον πολιτείας. τὴν αὐτὴν δ’ ἔχει διαφορὰν καὶ τὰ τῶν Ἑλλήνων ἔθνη πρὸς ἄλληλα· τὰ μὲν γὰρ ἔχει τὴν φύσιν μονόκωλον, τὰ δὲ εὖ κέκραται πρὸς ἀμφοτέρας τὰς δυνάμεις ταύτας. φανερὸν τοίνυν ὅτι δεῖ διανοητικούς τε εἶναι

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Abgesehen nun davon, dass diese ethnischen Betrachtungen dem gegenwärtigen Leser besonders anstößig vorkommen, lassen sich anhand dieser Textstelle besondere Thesen feststellen, mit denen wir Einsicht in unser Thema gewinnen können. Aristoteles wendet sich hier der Aufgabe zu, eine Klassifikation nicht der Individuen sondern der Völker darzulegen. Seine Absicht ist hier unter anderem zu erklären, warum die Griechen eigentlich diejenigen sind, denen es gelungen ist, politische Institutionen zu schaffen und vernunftgemäß ihr Zusammenleben zu gestalten. Der Richtwert, an welchem er sich orientiert, um die Kausalfaktoren dieser Unterschiede zu erklären, ist das Klima der von diesen Völkern bewohnten Regionen. Aristoteles glaubt nicht, dass die Völker aus Asien und Nordeuropa unter guten und gerechten politischen Institutionen leben können. Es ist aber nicht der Fall, dass diese Menschen einer anderen Spezies angehören und dass sie infolgedessen keinen Anteil an Vernunft bzw. Mut haben. Vielmehr werden ihre Vermögen dieser Darstellung zufolge beträchtlich affiziert wegen der schwierigen klimatischen Umstände, unter denen sie leben. Es ist sehr plausibel anzunehmen, dass der Hintergrund, vor welchem diese Aussagen gedeutet werden müssen, die oben diskutierte aristotelische Lehre über die Wärme und Feuchtigkeit des Blutes ist. Das »gute Mischungsverhältnis« (eukrasia) des Blutes, aufgrund dessen es für den Menschen möglich ist, hochentwickelte intellektuelle Tätigkeiten zu vollziehen, wird von diesen äußeren Faktoren beeinträchtigt. 73 Dagegen sind die Griechen diejenigen, die unter den für die Ausübung der politischen Wissenschaft erforderlichen Umständen leben. Das mildere Klima, das Aristoteles zufolge Griechenland auszeichnet, erzeugt eine Mitte in der Verfassung der Hellenen, dank welcher sie einen optimalen Gebrauch von ihren Vermögen machen können. Diese geographischen Gegebenheiten eröffnen für die Griechen einen geeigneten Spielraum, um ihren καὶ θυμοειδεῖς τὴν φύσιν τοὺς μέλλοντας εὐαγώγους ἔσεσθαι τῷ νομοθέτῃ πρὸς τὴν ἀρετήν (Pol. VII 7, 1327b18–38). 73 So auch Leunissen: »Again, although humans as a species tend to have hot, moist, and pure blood (in which case Aristotle characterizes their blood as perfectly balanced or well mixed, conforming to the human ideal) and therefore tend to be born with the natural capacities for courage and intelligence, individual differences of the more and the less in the properties of this mixture – as received at birth or as produced by external factors such as climate or diet – can cause one to be naturally disposed towards rashness or cowardice, or towards natural stupidity or above-average perceptual intelligence« (Leunissen 2013, S. 125). Ethos und Praxis

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Intellekt angesichts des Zusammenlebens angemessen zu gebrauchen und somit ihre emotionalen Dispositionen optimal auszurichten. Dass diese Schlussfolgerungen für uns heutzutage inakzeptabel sind und als kulturelle Vorurteile der Zeit des Aristoteles interpretiert werden müssen, steht wie gesagt außer Frage. Im Rahmen eines breiteren Verständnisses der aristotelischen Charaktertheorie ist es jedoch wichtig, zwei Punkte zu bemerken. Einerseits ist klar, dass Aristoteles der Auffassung ist, dass einige Menschen natürliche angeborene Vorzüge haben, die es ihnen ermöglichen, ihre Talente besser zu entfalten. Das Bild, dem zufolge der Mensch für Aristoteles eine Art von tabula rasa angesichts seiner Entfaltung als Handelnder sei, erweist sich m. E. als unbegründet. Dank ihrer physiologischen Beschaffenheit und anderer Naturkräfte sind einige Menschen in einer besseren Lage, ein gelingendes Leben zu führen. 74 Andererseits ist aus diesen Betrachtungen klar, dass wir unsere Praxis besser auf vernunftgesetzte Ziele richten können, indem wir ein besseres Verständnis dieser natürlichen biologischen Faktoren gewinnen. Anders gesagt: Es handelt sich um ein Wissen, das wir auf die politische Wissenschaft anwenden können, um die eudaimonia anzustreben. Es ist deshalb kein Wunder, dass Aristoteles in Anlehnung an Platon die Politiker und die Gesetzgeber mit Webern und Schiffsbaumeistern vergleicht, für welche »das geeignete Material für seine Arbeit zu Gebote stehen muss, und je besser dasselbe beschaffen ist, desto schöner notwendig auch das Werk seiner Kunst geraten wird«. 75 Die Politiker und Gesetzgeber müssen die polis wie ein Produkt der technē angesichts des obersten Ziels der eudaimonia gestalten. Auf diese Weise werden sie dafür sorgen, dass die Bürger der polis einen guten Charakter haben. Es ist von Gesetzgebern zu erwarten, dass sie alle erforderlichen Mittel berücksichtigen, um das Endprodukt gut hervorbringen zu können. Dazu gehört unter anderem die Erzeugung der Bürger selbst je nach den natürlichen Qualitäten und Anlagen der Eltern (siehe Pol. VII 16, 1335a29–1336a6). Die natürliche Beschaffenheit der Menschen zeigt sich auch in diesem Kontext als ein ent-

Zwei konkrete Talente, die man Aristoteles zufolge durch Natur erwerben kann, sind z. B. eugeneia und euphyia. Darauf werde ich im nächsten Kapitel unserer Untersuchung kurz eingehen, wenn wir die physikai aretai diskutieren. 75 δεῖ τὴν ὕλην ὑπάρχειν ἐπιτηδείαν οὖσαν πρὸς τὴν ἐργασίαν (ὅσῳ γὰρ ἂν αὕτη τυγχάνῃ παρεσκευασμένη βέλτιον, ἀνάγκη καὶ τὸ γιγνόμενον ὑπὸ τῆς τέχνης εἶναι κάλλιον) (Pol. VII 4, 1325b40–1326a3). 74

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scheidender Ausgangspunkt, der für die optimale Entwicklung des Menschen berücksichtigt werden muss. Gewiss muss man sagen, dass die Natur nicht die Aufgabe der Ethik bzw. der politischen Wissenschaft erübrigt. Die Natur ist keineswegs dafür zuständig, dass der Mensch tugendhaft wird. Es ist eine Aufgabe für jeden Einzelnen, die verschiedenen Tugenden durch das eigene Streben zu erwerben und sich ständig zu bemühen, die eigenen Talente vernunftgemäß zu entfalten. Diese Aufgabe wird jedoch leichter, wenn man mit diesen Tatsachen über die natürliche Beschaffenheit des Menschen vertraut ist, denn dieses Wissen kann positiv sowohl auf die Gestaltung der polis als auch auf die individuelle Erziehung bzw. Lebensführung angewendet werden. Dass Aristoteles im Rahmen der Ethik die Vorteile dieser Betrachtungsweise gesehen hat, um die verschiedenen natürlichen Faktoren, die uns davon abhalten, ethische Akteure zu werden, zu überwinden, wird in meiner Diskussion über die Adressaten dieser praktischen Wissenschaft deutlicher, wobei wir auch ein erstes Verständnis über den Erwerb eines guten Charakters gewinnen werden. Anhand der aristotelischen Charakterisierung der Jugendlichen werden wir besser verstehen können, in welcher Ausgangslage wir uns als Naturwesen angesichts der Praxis befinden und welche Mittel uns zur Verfügung stehen, um sittlich gute Menschen zu werden.

§ 2 Erste Annäherung an das ēthos im Raum der praktischen Philosophie 2.1 Die Ethik als praxisgerichtetes Wissen Im ersten Buch der NE stellt Aristoteles fest, dass das Ziel der Ethik nicht Kenntnis, sondern Handeln ist (siehe NE I 1, 1095a6). Im Unterschied zu anderen Wissenschaften oder Künsten, bei denen es das Wichtigste sei, unser Verständnis der Naturwelt zu erweitern oder ein gewisses Produkt herzustellen (vgl. Phy. II 1, 193a12–193b9; NE VI 4, 1140a1–21), versucht die Ethik – verstanden im aristotelischen Sinne als ein Teil der »politischen Wissenschaft« (vgl. NE I 1, 1094b1) – es dem Menschen zu ermöglichen, ein gelingendes und bedeutungsvolles Leben dadurch zu führen, dass ihm bestimmte Richtlinien zur Verfügung gestellt werden, damit er sich in den verschiedenen Bereichen des Handelns an seiner Vernunft orientieren und seine eiEthos und Praxis

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gentümliche Leistung erfüllen kann. Sicherlich hätte der Ausdruck »angewandte Ethik« Aristoteles – so wie allen antiken Philosophen – als fremd und sogar irreführend erscheinen müssen, da die Ethik von ihrer Definition her keinesfalls auf der Ebene des bloßen Betrachtens bleiben sollte. Kurz gesagt: Im Kontext der Antike gibt es innerhalb der Wissenschaften keinen Spielraum für eine rein theoretische oder abstrakte Ethik. Eine Disziplin, die sich mit den besonderen menschlichen Angelegenheiten befasste, aber die nicht zuerst und vor allem die Praxis zum Gegenstand hätte, wäre für die Denker des Altertums unvorstellbar gewesen. Vielmehr bestand für sie die Aufgabe der Ethik darin, die vollkommensten Ziele unseres Strebens zu erkennen und das Wertvollste von ihnen zu verdeutlichen, um mit Genauigkeit zu wissen, worauf all unsere Bemühungen zielen sollten. 2.1.1 Eine Disziplin für Erwachsene: das ēthos der Jugendlichen Es ist aber auffällig, dass Aristoteles zufolge nicht alle Menschen in der Lage sind, gemäß den Grundlinien dieser Wissenschaft zu agieren. 76 An einer Stelle im ersten Buch der NE wird behauptet, dass die jungen Menschen schlechte Zuhörer für die politische Wissenschaft seien. Die von ihm erwähnten Gründe sind mannigfaltig. Zuerst behauptet er, dass die jungen Menschen wenige Erfahrungen gesamAngesichts des praktischen Erfolgs dieser Disziplin müssen schon gewisse Bedingungen bei den Adressaten vorhanden sein, damit sie die eudaimonia gemäß dieser philosophischen Lehre anstreben. Die Adressaten, auf die ich mich hier beziehe, sind selbstverständlich nicht die tatsächlichen, historischen Mitglieder der peripatetischen Schule, sondern alle möglichen Akteure, die den Vorsatz fassen können, ihre Lebensführung gemäß diesem philosophischen Ansatz zu bestimmen. Sarah Broadies Zusammenfassung der Voraussetzungen, die von den Adressaten erfüllt werden müssen, scheint mir besonders adäquat zu sein: »In addition to the already existent views and questions, which are like materials for a philosophical account, Aristotle begins his ethical inquiry with certain expectations of the kind of mentality his audience will bring to the subject. These expectations divide into two kinds, both educational. On the one hand (as Aristotle constantly shows, rather than says), the audience will be familiar with, and will accept, a range of technical logical and metaphysical distinctions and turns of argument that are the stock in-trade of Aristotelian philosophy. On the other hand (as he finds it necessary to declare), he expects the audience to be ›well brought up‹. This is because the study of ethics is practical philosophy, not merely in the sense of being about human practice, but above all in the sense of being intended to make a practical difference for the better. Aristotle evidently hopes to make a difference via his audience; but if they have not learned to live disciplined lives, then whatever they learn from his discourse will fail to be translated into consistent patterns of practical thought and action« (Broadie 2002, S. 12).

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melt haben, und dass es für sie sehr schwer sei, sich an der Politik zu beteiligen (vgl. NE I 1, 1095a7). Aus dieser und anderen Bemerkungen kann geschlossen werden, dass die Ethik sich bei ihm nicht als deduktive Wissenschaft verstehen lässt. Ganz im Gegenteil: Nur die Beobachtung der einzelnen Fälle und die Vertrautheit mit wesentlichen Aspekten des menschlichen Handelns befähigen uns, von dieser Lehre überhaupt zu profitieren (vgl. NE I 1, 1095a9; siehe auch Burnyeat 1980 und Riedenauer 2000). Erfahrungen sind der Ausgangspunkt bei dieser Art von Untersuchung, und ein Mangel an ihnen beeinträchtigt auf eine bedeutende Weise den Anspruch der Adressaten, die Grundlinien dieser Disziplin erfolgreich in ihr Leben miteinzubeziehen. Es verwundert nicht, dass Aristoteles auch an einer anderen Stelle einen Vergleich zwischen der Ethik und anderen Wissenschaften zieht, wobei er besonders betont, es sei für einen jungen Menschen möglich, ein guter Mathematiker zu sein, allerdings sei er nicht imstande, als ein sachverständiger Beurteiler im Feld der menschlichen Angelegenheiten angesehen zu werden (vgl. NE VI 9, 1142a11–20). Im Kontext seiner Diskussion über Klugheit (phronēsis) weist Aristoteles auf denselben Sachverhalt hin, wenn er sagt, dass nach verbreiteter Meinung junge Menschen zwar Geometer und Mathematiker werden und weise in solchen Dingen, nicht aber klug. Der Grund dafür ist, dass die Klugheit sich auf das Einzelne bezieht, womit man durch Erfahrung vertraut wird. Der junge Mensch aber ist nicht erfahren, denn die Länge der Zeit macht die Erfahrung. 77

Aristoteles betont gleich danach, dass die Wahrnehmung (aisthēsis) das Vermögen ist, mittels welchem wir lernen, die Prinzipien, nach denen die Handlungen sich richten sollen, anzuerkennen. Er bemerkt, dass es uns nur gelingen wird, ihnen gemäß zu handeln, wenn wir selbst versuchen, im Laufe der Zeit bessere Akteure zu werden und unsere Urteilskraft adäquat zu entwickeln. Die Ethik qua Disziplin scheint mehr der Naturforschung als der Mathematik zu ähneln, denn zum einen sind die Gegenstände beider Wissenschaften nicht abstrakt (di’ aphaireseōs), und zum anderen haben sie einen unmittelbaren Zusammenhang mit der Erfahrung. Abgesehen nun davon, σημεῖον δ’ ἐστὶ τοῦ εἰρημένου καὶ διότι γεωμετρικοὶ μὲν νέοι καὶ μαθηματικοὶ γίνονται καὶ σοφοὶ τὰ τοιαῦτα, φρόνιμος δ’ οὐ δοκεῖ γίνεσθαι. αἴτιον δ’ ὅτι καὶ τῶν καθ’ ἕκαστά ἐστιν ἡ φρόνησις, ἃ γίνεται γνώριμα ἐξ ἐμπειρίας, νέος δ’ ἔμπειρος οὐκ ἔστιν· πλῆθος γὰρ χρόνου ποιεῖ τὴν ἐμπειρίαν (NE VI 9, 1142a12– 16).

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wie die Wahrnehmung für Aristoteles konstituiert ist und was genau für Inhalte wir durch sie lernen können, scheint zumindest klar zu sein, dass die durch sie eröffneten Inhalte besser angeignet werden können, wenn unser Praxishorizont breiter ist und unsere unterschiedlichen Vermögen reifer werden. Es ist zwar keine hinreichende, aber doch eine notwendige Bedingung für unsere ethische Mündigkeit, dass man jede Lebensphase erfolgreich durchläuft und auf jeder dieser Stufen die Tätigkeiten ausübt, die für ein gelingendes Leben nötig sind. Daher überrascht es nicht, dass die Jugendlichen keine wirklich begründete Überzeugung von den Prinzipien des Handelns haben, denn diese Inhalte können von ihnen nicht angemessen internalisiert werden. Ein weiterer Grund, warum die jungen Menschen nicht viel von dieser Disziplin profitieren können und der vielleicht noch wichtiger für unsere Untersuchung ist, betrifft die Kraft ihrer Emotionen, Gefühle und Begierden. Nach Meinung des Aristoteles können die jungen Menschen nicht angemessen mit ihren Leidenschaften und Affekten umgehen; vielmehr werden sie von ihnen in hohem Maße beherrscht und gesteuert. Aristoteles nimmt an diesem Punkt eine bedeutsame Unterscheidung vor, denn er spricht über Leute, die entweder »an Jahren jung oder an Charakter unreif« sind. 78 Dies ist die erste Erwähnung des Wortes ēthos überhaupt in der NE, und gewiss geht es Aristoteles an diesem Punkt um keine detaillierte bzw. konzeptuelle Erörterung desselben. Der Terminus wird hier noch in einem eher allgemeinen und sogar umgangssprachlichen Sinn verwendet, bevor er die entscheidende Unterscheidung zwischen charakterlichen und intellektuellen Tugenden macht. Trotz dieser Tatsache ergibt sich an dieser Stelle eine zwar einfache, aber doch wichtige Frage: Wer kann an Charakter unreif sein? Eine solche Behauptung sowie der anschließende Vergleich mit den Unbeherrschten ergeben m. E. nur Sinn, wenn Aristoteles hier Leute in Betracht zieht, die sich trotz ihres erwachsenen Alters immer noch wie Jugendliche benehmen. Die bloße Bemerkung, dass junge Menschen einen unreifen Charakter besitzen, wäre in dieser Gegenüberstellung eher redundant und überflüssig. Es sieht so aus, als hätte der Philosoph mit diesem Ausdruck einen sehr normalen und gewöhnlichen sozialen Sachverhalt zur Sprache gebracht, und zwar: dass die Menschen sich manchmal nicht ihrem Alter entsprechend verhalten. Damit wird eine Intui78

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νέος τὴν ἡλικίαν ἢ τὸ ἦθος νεαρός (NE I 1, 1095a6).

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tion bezüglich der ethischen Praxis ins Feld geführt: Je älter man wird, desto bessere und vernünftigere Entscheidungen trifft man. Zumindest ist dies ein Prinzip, das von einer guten Lebensführung erwartet werden soll. Aber ein solches Prinzip weist auch Ausnahmen auf, und Aristoteles berücksichtigt sie insbesondere, wenn er die allgemeine Verfassung der Jugendlichen darstellt. Es erscheint in diesem Zusammenhang plausibel, dass der Ausdruck »unreif an Charakter« einen Mangel bedeutet. Man kann vermuten, dass es all denjenigen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht die entsprechenden Fähigkeiten oder Haltungen erworben haben, sehr schwer fallen wird, ihre Nachlässigkeiten in späteren Lebensphasen zu korrigieren, was sich besonders bei der Ausübung der Tugenden offenbart. 79 Anhand einer Textstelle, wo Aristoteles die Freundschaft zwischen Jugendlichen behandelt, lässt sich diese Position noch besser veranschaulichen. Die Passage erläutert den Zusammenhang zwischen der Freundschaft in jungem Alter und dem Streben nach Lust: Dagegen beruht, so nimmt man an, die Freundschaft der jungen Menschen auf der Lust. Denn diese leben affektgeleitet und suchen insbesondere das für sie Angenehme und das unmittelbar Vorhandene. Wenn sie aber in ein anderes Alter kommen, werden auch die Dinge, die sie angenehm finden, andere. Daher werden sie schnell Freunde und hören schnell auf, es zu sein. Denn die Freundschaft wechselt mit dem Angenehmen, und solche Lust ändert sich rasch. Junge Menschen haben aber auch erotische Neigungen; denn die erotische Freundschaft ist größtenteils affektiv und auf Lust bezogen. Daher verlieben sie sich schnell und hören schnell wieder auf, wobei sich das häufig am gleichen Tag ändert. 80

In Anbetracht dieser Textstelle kann man behaupten, dass eine Lebensführung, deren Ziel die Suche nach Lüsten ist, als wechselhaft In einem weiteren Schritt der vorliegenden Untersuchung werde ich das Thema ansprechen, ob bei Aristoteles die Möglichkeit besteht, sich als Erwachsener seine Laster abzugewöhnen und einen tugendhaften Charakter zu erwerben. Die vorliegenden aristotelischen Ausführungen deuten allerdings schon darauf hin, dass es eine äußerst schwierige Aufgabe für ein Handlungssubjekt wäre, seine Lebensweise und Haltungen radikal zu modifizieren, wenn man schon ein erwachsener Mensch ist. 80 ἡ δὲ τῶν νέων φιλία δι’ ἡδονὴν εἶναι δοκεῖ· κατὰ πάθος γὰρ οὗτοι ζῶσι, καὶ μάλιστα διώκουσι τὸ ἡδὺ αὑτοῖς καὶ τὸ παρόν· τῆς ἡλικίας δὲ μεταπιπτούσης καὶ τὰ ἡδέα γίνεται ἕτερα. διὸ ταχέως γίνονται φίλοι καὶ παύονται· ἅμα γὰρ τῷ ἡδεῖ ἡ φιλία μεταπίπτει, τῆς δὲ τοιαύτης ἡδονῆς ταχεῖα ἡ μεταβολή. καὶ ἐρωτικοὶ δ’ οἱ νέοι· κατὰ πάθος γὰρ καὶ δι’ ἡδονὴν τὸ πολὺ τῆς ἐρωτικῆς· διόπερ φιλοῦσι καὶ ταχέως παύονται, πολλάκις τῆς αὐτῆς ἡμέρας μεταπίπτοντες (NE VIII 3, 1156a31–1156b4). 79

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und unbeständig zu bezeichnen ist. Menschliche Beziehungen, die als ein Bestandteil des guten Lebens zu betrachten sind, müssen eine sicherere Basis haben, und die ist nur zu erreichen, indem die Menschen sich gemeinsame Ziele setzen, die keinesfalls mit der Befriedigung von unmittelbaren körperlichen und emotionalen Bedürfnissen gleichzusetzen sind. Für die Jugendlichen ist es durchaus nicht einfach, solchen wirklichen Gütern nachzugehen, und zwar aus zwei Gründen: Zum einen haben sie keine begründete und überlegte Konzeption dessen, was die eudaimonia eigentlich ist. Sie geben sich spontan verschiedenen Handlungsweisen und Projekten hin, die in den meisten Fällen nicht mit der Ausübung der menschlichen Tugenden übereinstimmen. Daher kann man feststellen, dass ihre Ignoranz bezüglich des guten Lebens sie daran hindert, im Zusammensein mit anderen Jugendlichen nach wirklichen Gütern zu streben. Zum anderen scheint es, dass Aristoteles der Meinung ist, dass die Jugendlichen durch ihre physiologische Verfassung in signifikanter Weise affiziert werden und dies eigentlich der Grund dafür sei, dass sie oft unmittelbar den Befehlen folgen, die ihnen von ihren instinktiven Neigungen vorgeschrieben werden. Es ist ihnen vielleicht aber kein starker Vorwurf daraus zu machen, dass sie sich so verhalten. Vielmehr ist es oft der Fall, dass ihr Teil an Verantwortung in gewissen Fällen wegen ihrer besonderen Kondition abgeschwächt wird. Allerdings kann man doch von ihnen erwarten, dass sie nach und nach diese Stufen der Unmündigkeit überwinden, sodass es ihnen in der Zukunft gelingt, dauerhafte Beziehungen zu unterhalten und ein gutes Leben zu führen. 2.1.2 Charakterliche Merkmale der Jugendlichen Im Einklang mit dem, was wir im vorigen Abschnitt über die biologischen Schriften gesagt haben, lässt sich behaupten, dass Aristoteles doch gewisse Umstände ins Auge gefasst hat, unter denen das natürliche ēthos das Verhalten eines Lebewesens nicht unmittelbar bestimmt. Es gibt auch gewisse externe Kräfte, wie in dem von uns diskutierten Beispiel der verschiedenen Völker und ihrer besonderen Merkmale in der Politik, die dazu beitragen können, das natürliche ēthos ab extra partiell zu modifizieren. Im Fall des einzelnen Menschen aber lässt sich das natürliche ēthos sogar auf umfassendere Weise verändern, wenn der betreffende Handelnde besondere Haltungen durch Gewöhnung erwirbt. Wenn eine solche Habituation erfolgt, dann kann der Handelnde als jemand gelten, der einen größeren 78

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Spielraum hat, über seine Motivationen zu reflektieren und sie selbst zu bestimmen. Er ist damit in der Lage, einen reflexiven Abstand von den Impulsen, die sich einer rationalen Lebensführung entgegensetzen, zu gewinnen. Das Erwachsenenalter, das über eine Reihe erfolgreicher Gewöhnungsprozesse erreicht wird, eröffnet uns einen Handlungsraum, der uns eine größere Freiheit verschafft, unsere Bemühungen auf die wahren Güter auszurichten, ohne dass wir ständig unsere natürlichen Impulse bekämpfen müssen. Die Rhetorik bietet weitere Anhaltspunkte, um die aristotelische Position bezüglich der Begierden der Jugendlichen darzustellen. In dieser Abhandlung ist sein Ziel natürlich ein anderes als in den Schriften zur Ethik, da es bei diesem Wissen hauptsächlich darum geht, andere Personen von der eigenen Position zu überzeugen, und nicht unbedingt darum, sie als Menschen zu verbessern. Im zweiten Buch dieser Schrift aber widmet Aristoteles seine Aufmerksamkeit dem Begriff des Charakters. Es ist ihm dort wichtig klarzumachen, wie die unterschiedlichen Altersgruppen bei einer öffentlichen Rede angesprochen werden sollen, um die gewünschte Wirkung auf sie ausüben zu können, und er spricht sofort über die Jugendlichen, als er an den Charakterbegriff herangeht, da er sie als eine mögliche Zuhörerschaft betrachtet. 81 Aristoteles behauptet auch hier, dass die Affekte das Verhalten der jungen Menschen stark negativ beeinflussen. Im Unterschied zu der NE erwähnt er hier explizit, was für Emotionen genau bei ihnen zu finden sind. Vor allem meint er, dass sie »vorzugsweise dem Liebesgenuß nachgehen und dass sie dabei unbeherrscht sind«. 82 Er hebt auch die Intensität ihrer Affekte hervor und bemerkt, dass sie in ihren Emotionen schwanken und dauerhafte Haltungen bei ihnen nur schwer zu finden seien. Hoffnung und Erwartung sind ihre bezeichnenden Merkmale, da sie jederzeit versuchen, von anderen anerkannt zu werden und etwas Dauerhaftes Dagegen sind Kinder kein angemessenes Publikum für einen Redner. Siehe dazu Wörner: »In der Abhandlung ēthē kata tas hēlikias lässt sich Aristoteles zunächst von der bis heute geläufigen Unterscheidung zwischen Lebensaltern nach Kindheit – Jugend – Reife – Alter bestimmen. Er greift sie auf, ohne die Kindheit zu berücksichtigen. Überlegungen zum Charakter in der Kindheit sind im Rahmen der Rhetorik überflüssig, weil Kinder für Reden unter politisch-praktischen Bedingungen der Polis weder als Zuhörer noch gar als Redner in Frage kommen; sie sind in Bezug auf ihren Charakter noch ungebildet« (Wörner 1990, S. 314–315). 82 μάλιστα ἀκολουθητικοί εἰσι τῇ περὶ τὰ ἀφροδίσια καὶ ἀκρατεῖς (Rhet. II 12, 1389a5–6). 81

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zu leisten, denn das Leben hat ihnen keine großen Enttäuschungen oder Widerwärtigkeiten bereitet. Aber sie zeigen in ihrem Verhalten auch Affekte wie Zorn, Ungeduld und Eifer, die einer vernünftigen Lebensführung deutlich entgegenstehen und sehr oft dem erfolgreichen Bemühen um ihre Ziele widersprechen. Anschließend trägt Aristoteles die Thesen vor, dass Jugendliche »mehr nach ihrem Charakter als nach Berechnung leben«, 83 und dass sie Fehler »in allem gar zu übermäßig und heftig« begehen, 84 »denn alles betreiben sie im Übermaß«. 85 Diese letzten Passagen könnten den Eindruck erwecken, dass seiner Theorie zufolge Jugendliche überhaupt nicht gut handeln können und sich in einer nicht optimalen Lage befinden, in der ihre Verhaltensweise sehr stark zu Lastern neigt – man muss sich nur in Erinnerung rufen, dass das Laster von Aristoteles eben als eine Art Übermaß bzw. Mangel aufgefasst wird (vgl. NE II 6, 1107a3). Obwohl diese Ansicht von den Textstellen zumindest suggeriert wird, kann sie dennoch Aristoteles nicht ohne Weiteres unterstellt werden, da eine sorgfältigere Lektüre zeigt, dass seine Einschätzung Jugendlicher nicht durchweg negativ ist. 86 Seine Beschreibung zielt tatsächlich nicht darauf ab, Jugendliche als solche zu kritisieren oder zu tadeln, und seine Einstellung zu den problematischen Seiten ihres Verhaltens impliziert nicht, dass sie etwa an der eigenen natürlichen Verfassung ihres Alters schuld seien. 87 Ferner gibt es keine Stellen, die uns zu der τῷ γὰρ ἤθει ζῶσι μᾶλλον ἢ τῷ λογισμῷ (Rhet. II 13, 1389a33–34). ἅπαντα ἐπὶ τὸ μᾶλλον καὶ σφοδρότερον ἁμαρτάνουσι (Rhet. II 12, 1389b2–3). 85 πάντα γὰρ ἄγαν πράττουσιν (Rhet. II 12, 1389b4). 86 Aristoteles gibt zu, dass es bei Jugendlichen verschiedene Fähigkeiten gibt, die entweder moralischen Wert besitzen oder zu guten Handlungen beitragen. Er bezeichnet die Jugendlichen an verschiedenen Punkten seiner Diskussion als »gutwillig« (euētheioi) und »gutgläubig« (eupistoi) (Rhet. II 12, 1389a15–16) und lobt ihr Talent, Freundschaften und Kameradschaften zu schließen (Rhet. II 2, 1389b2). 87 Diesbezüglich folge ich der Ansicht von Wörner: »Aristoteles verwendet den Ausdruck ἦθος nicht ausschließlich in einem positiv-normativen Sinne. Er setzt ein Verständnis des Ausdrucks voraus, welches Tugenden wie Fehlhaltungen gleichermaßen zu umfassen in der Lage ist. ›Charakter‹ wird also nicht im vorhinein als ›guter Charakter‹ gedeutet« (Wörner 1999, S. 313). Siehe auch Schütrumpf: »Aristoteles geht es in diesem Kapitel der Rhetorik um eine möglichst detaillierte und eingehende Beschreibung der Wesensart dieser verschiedenen Gruppen. Es werden dabei unter dem Oberbegriff ēthē Merkmale und Einzüge mannigfaltigster Art zusammengestellt, nach denen der Redner eine psychologisch wahrscheinliche Darstellung von Personen vornehmen kann. Die verschiedenen Personenkreise sind dabei, wie bemerkt wurde, nicht nur im Hinblick auf Eigenschaften charakterisiert, die ēthikai hexeis der Ethik 83 84

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Überzeugung führen würden, dass ihm zufolge diese starken Emotionen und Leidenschaften während der Adoleszenz unbedingt gemäßigt werden müssten. Ein Beleg dafür ist, dass er in anderen Fällen auf ähnliche Weise verfährt und z. B. auch die negativen Charaktereigenschaften hervorhebt, die etwa dem Lebensabend zugehörig sind (vgl. Rhet. II 13, 1389b13–1390a23). Sein Diskurs weist darauf hin, dass seine Aussagen über die Grundzüge des Charakters für die verschiedenen Altersstufen keine oder allenfalls sehr geringe Normativität beanspruchen. Wie oben gesagt, geht es Aristoteles hier primär darum, die verschiedenen Publikumsarten zu thematisieren, damit der Rhetoriker dieses Wissen für seine Argumentation berücksichtigen kann. In keinem Moment beansprucht Aristoteles apodiktische Gewissheit. Vielmehr scheint er sich im Bereich des Allgemeinen zu bewegen und diese Gedanken nur im Umriss darstellen zu wollen. Die Sammlung der von ihm skizzierten Eigenschaften soll nur dem Zweck dienen, dem Redner grundsätzliche, nicht immer exakte Kenntnisse über seine möglichen Zuhörer zur Verfügung zu stellen. Trotz der Tatsache, dass die Fragestellungen in der NE und der Rhetorik sehr unterschiedlich sind, habe ich die Textstellen der letztgenannten Schrift aus zwei Gründen diskutiert und verglichen. Einerseits erörtert Aristoteles in der Rhet. mit größter Ausführlichkeit die Affekte und Emotionen, die bei Jugendlichen normalerweise zu finden sind, und ihre Behandlung weicht in diesen Schriften im Grunde nicht voneinander ab. Ein Vergleich zwischen beiden Texten zeigt eine Kontinuität seines Denkens und verdeutlicht in hohem Ausmaß sein Verständnis dieses Themas. Andererseits setzen beide Schriften etwas sehr Wichtiges voraus, nämlich dass die Veranlagungen und die allgemeinen Eigenarten des angesprochenen Publikums bzw. der Zuhörer eine ausschlaggebende Rolle für die Wirkung einer derartigen Disziplin spielen. Im Fall der Rhetorik entspricht eine solch grundlegende Bedingung unseren gewöhnlichen Intuitionen. Man kann sich unschwer vorstellen, dass die Überzeugungskraft unserer rhetorischen Argumente größer ist, wenn wir uns mit den Temperamenten und Interessen unserer Adressaten vertraut gemacht und das dabei erworbene Wissen umgesetzt haben. sind. […] Hier ist ēthikos kaum im Sinne der Ethik zu verstehen, sondern es geht hier um die spezifischen Merkmale dieser Gruppen, und ēthikos bedeutet ›bezogen auf ihre besondere Eigenart‹, ›ihre besondere Eigenart darstellend‹« (Schütrumpf 1970, S. 31). Ethos und Praxis

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Es ist offensichtlich, dass Aristoteles bei den Personen, die von dieser Wissenschaft profitieren könnten, schon eine bedeutende Vertrautheit und Bekanntschaft mit ethischen Problemen und Situationen voraussetzt. Die angeführten Elemente bezüglich des Mangels an Erfahrungen und der Heftigkeit der Affekte bei Jugendlichen sprechen ausdrücklich für diese These. Darüber hinaus lassen sich am Ende der NE weitere Textbelege dafür finden. Nachdem Aristoteles die verschiedenen Aspekte des philosophischen Lebens und dessen entscheidenden Beitrag zur eudaimonia erörtert hat, fasst er die Ergebnisse seiner Bemühungen in einem Überblick zusammen und fragt sich, ob sein Unternehmen mit diesem Versuch zur Vollendung gebracht worden sei. Seine Schlussfolgerungen sind direkt und erlauben keine Ambivalenz: Es wird dort wiederholt, dass Theorie ohne Praxis vergeblich ist und nicht alle imstande sind, den ethischen Prinzipien gemäß zu handeln. Aristoteles stellt z. B. fest, dass »[Worte; E. C.] die Leute aus der Menge jedoch nicht zum Guten und Werthaften motivieren können«, 88 und dass sie »nicht der Scham, sondern der Furcht« gehorchen. 89 Die Wesensart dieser Personen mache es unmöglich, dass sie durch vernünftige Argumente zum guten Handeln bewogen werden. Vielmehr zeichneten sich ihre Bestrebungen durch die Suche nach Lüsten aus. Diese Veranlagung erlaube ihnen nicht einmal, »vom Werthaften und wahrhaft Lustvollen eine Vorstellung zu haben«. 90 Im Unterschied dazu widmet er den Jugendlichen lobende Worte, die als »freie Bürger« (eleutherioi) aufwachsen und von Kindheit an eine gute Erziehung erhalten. Die Belehrung soll nach Aristoteles darauf gerichtet sein, dass »die Seele des Auszubildenden sich auf richtige Weise freut und Abneigung empfindet«, 91 damit er »das Werthafte liebt und das Schimpfliche verabscheut«. 92 Eine notwendige Ergänzung der aufgewendeten Fürsorge ist, dass für die Erwachsenen in der polis gute Gesetze eingeführt und gepflegt werden, denn nur so lässt sich erwarten, dass die Bürger ein richtiges Verständnis von guten Handlungen weiterentwickeln. Es zeigt sich somit, dass für Aristoteles das gute Handeln nicht dem Zufall oder der Willkür jedes Einzelnen überlassen werden kann. τοὺς δὲ πολλοὺς ἀδυνατεῖν πρὸς καλοκαγαθίαν (NE X 10, 1179b10). οὐ […] αἰδοῖ πειθαρχεῖν ἀλλὰ φόβῳ (NE X 10, 1179b11). 90 τοῦ δὲ καλοῦ καὶ ὡς ἀληθῶς ἡδέος οὐδ’ ἔννοιαν ἔχουσιν (NE X 10, 1179b15). 91 προδιειργάσθαι τοῖς ἔθεσι τὴν τοῦ ἀκροατοῦ ψυχὴν πρὸς τὸ καλῶς χαίρειν καὶ μισεῖν (NE X 10, 1179b25–26). 92 στέργον τὸ καλὸν καὶ δυσχεραῖνον τὸ αἰσχρόν (NE X 10, 1179b30–31). 88 89

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Die zwingende Kraft der Gesetze gewährleistet, dass – selbst wenn dieser Versuch bei vielen von schlechterer Natur scheitern sollte – sie jedoch durch Züchtigungen und Strafen genötigt werden, die wichtigsten Prinzipien für das Zusammensein einzuhalten; in extremen Fällen könnte es sogar so weit kommen, dass die Unheilbaren aus dem Staat verwiesen werden müssten (vgl. NE X 10, 1180a10). Obwohl es natürlich besser wäre, wenn alle Glieder der polis den Anstoß bekämen, ein gutes Leben gemäß der Tugend zu führen, kann man nicht erwarten, dass der Gesetzgeber von dieser Basis ausgehen solle. Die Komplementarität von Fürsorge und Gesetzgebung erweist sich als ein Leitfaden, der maßgebend für die effektive Durchsetzung einer gemeinschaftlichen Ordnung ist. Diese und ähnliche Betrachtungen führen Aristoteles zu weiteren Überlegungen, wobei er bei der Praxis der Erziehung eine personenzentrierte und eine allgemeinere Herangehensweise gegenüberstellt und die Vorzüge der Erforschung der politischen Verfassungen skizziert, um damit den Übergang zur politischen Wissenschaft vorzubereiten (vgl. NE X 10, 1181b15). Die anschließenden Erörterungen sollen den Beitrag von Erfahrung und Wissen bei der Schaffung guter Gesetze und fachkundiger Staatsmänner ausmessen. Als junger Mensch unter guten Gesetzen gelebt zu haben erweist sich als Bedingung sine qua non, um als Erwachsener erfolgreich ein politisches Amt bekleiden zu können (vgl. Pol. III 4, 1277b10–15). 2.1.3 Grundlegende Bedingungen für die sittliche Praxis Mit den Thesen, die wir bisher zusammengetragen haben, lassen sich nun bestimmte Punkte festhalten, die entscheidend für das aristotelische Projekt einer praktischen Philosophie sind. Aristoteles geht davon aus, dass man über ein Vorverständnis des guten Lebens verfügt, wenn man eine gute Erziehung erhalten hat, und dass man sich immer schon in einer sozialen und politischen Welt befindet, in der eine Auffassung der eudaimonia durch die Staatsverfassung und ihre jeweiligen Institutionen artikuliert wird. In der Tat passt diese Idee gut mit den Grundlinien der aristotelischen politischen Philosophie zusammen. Eine wichtige Textstelle in der Politik zeigt beispielsweise, dass die Menschen sich dadurch auszeichnen, dass sie sich vermittels der Sprache auf Prädikate beziehen können, die über den bloßen Ausdruck von Vergnügen oder Schmerzen hinausgehen:

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Denn das ist eben dem Menschen im Gegensatz zu den Tieren eigentümlich, dass er allein fähig ist, sich vom Guten und Schlechten, von Recht und Unrecht Vorstellungen zu machen. Die Gemeinschaftlichkeit dieser Vorstellung ruft aber eben das Haus und den Staat ins Leben. 93

Diese und andere Passagen machen deutlich (vgl. auch Pol. III 4, 1276b26–30), dass unser Verständnis von Gut und Böse immer in den Rahmen der polis eingebettet ist und dass wir nicht in der Lage sind, uns solche Begriffe außerhalb eines sozialen Kontextes selbst zu bilden. Die Tatsache, dass der Staat von Natur aus ursprünglicher als der Mensch ist (vgl. Pol. I 2, 1253a19–29), impliziert auch, dass die Auffassungen über das Gute und die Gerechtigkeit auch den einzelnen Menschen vorhergehen. Aus diesem Grund wird der moralische Akteur von Aristoteles als jemand begriffen, dessen Streben nach Glück ein Bestandteil des gemeinschaftlichen Lebens ist. Aristoteles fordert keine methodologische Rechtfertigung, durch welche die Adressaten der politischen Wissenschaft zu der Überzeugung geführt werden müssen, dass es überhaupt sinnvoll ist, ethisch zu handeln oder nach der eudaimonia zu streben. Der erforderliche Ausgangspunkt für jeden Adressaten ist eine mehr oder weniger entwickelte Sensibilität, deren Unterweisung nicht unbedingt innerhalb der Befugnisse des Ethikers qua Ethiker liegt. Stattdessen wird diese Aufgabe den einzelnen Familien und Gesetzgebern anvertraut. Eine skeptische Herausforderung bezüglich der Vorteile der Ethik ist für Aristoteles etwas, dem wir keine besondere Aufmerksamkeit schenken müssen, um die Legitimität dieses Wissens zu vertreten. Es scheint mir, dass Aristoteles Bernard Williams’ Unterscheidung zwischen einem radikalen und einem milden Immoralisten teilen würde. 94 Einerseits kann ein radikaler Immoralist nicht mit Argumenten davon überzeugt werden, dass er moralisch handeln soll. Der τοῦτο γὰρ πρὸς τὰ ἄλλα ζῷα τοῖς ἀνθρώποις ἴδιον, τὸ μόνον ἀγαθοῦ καὶ κακοῦ καὶ δικαίου καὶ ἀδίκου καὶ τῶν ἄλλων αἴσθησιν ἔχειν· ἡ δὲ τούτων κοινωνία ποιεῖ οἰκίαν καὶ πόλιν (Pol. I 2, 1253a15–17). 94 »I do not see how it could be regarded as a defeat for reason or rationality that it had no power against this man’s state; his state is rather a defeat for humanity. But the man [der milde Immortalist; E. C.] who asks the question in the second spirit has been regarded by many moralists as providing a real challenge to moral reasoning. He, after all, acknowledges some reasons for doing things; he is, moreover, like most of us some of the time. If morality can be got off the ground rationally, then we ought to be able to get it off the ground in an argument against him; while, in his pure form – in which we can call him the amoralist – he may not be actually persuaded, it might seem a comfort to morality if there were reasons« (Williams 1993, S. 4). 93

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Immoralist befindet sich in einer extremen Situation, in der eine gute Argumentation ihm nicht helfen würde, seine Ansichten und seine Lebensweise zu verändern. Seine Unfähigkeit moralisch zu handeln soll allerdings nicht als etwas angesehen werden, das direkt gegen die Legitimität der Moral spricht. Vielmehr muss sie als ein spezifisches Scheitern des jeweiligen Individuums betrachtet werden. Andererseits gibt es Personen, die zwar die Absicht haben, moralische Akteure zu werden, aber im gegenwärtigen Augenblick den unmittelbaren Anspruch grundlegender Handlungsnormen verkennen. Über solche Personen – die ggf. Jugendliche oder Unbeherrschte sein könnten (NE I 1, 1095a10) – scheint Aristoteles zu sprechen, wenn er das Folgende behauptet: Man soll weder jedes Problem noch jede These untersuchen, sondern diejenigen, bei denen jemand Schwierigkeiten haben könnte, weil er Argumente benötigt und nicht Züchtigung oder Wahrnehmung. Denn wem es Schwierigkeiten bereitet zu sagen, ob man die Götter ehren und die Eltern lieben soll oder nicht, benötigt Züchtigung; wem es aber Schwierigkeiten bereitet zu sagen, ob Schnee weiß ist oder nicht, der benötigt Wahrnehmung. 95

Dies zeigt wiederum, dass Aristoteles doch bei einem zurechnungsfähigen Akteur gewisse grundlegende Bedingungen vorausgesetzt hat und dass nicht jeder in der Lage ist, sie zu erkennen und ihnen gemäß zu agieren. Moralische Gründe sollen von alleine motivieren und die Personen, die ihre Wichtigkeit verkennen, werden einfach keinen oder einen sehr geringen Anteil am Glück haben. Diesem Modell zufolge scheint es, dass die Skeptiker keine Ansprechpartner sind, mit denen wir uns für die Rechtfertigung einer Untersuchung dieser Art auseinandersetzen müssen. Bevor ich auf die Seelenlehre eingehe, die im ersten Buch der NE dargestellt wird und zentral für ein adäquates Verständnis des Charakterbegriffes bei Aristoteles ist, möchte ich kurz einige wichtige Aspekte der platonischen Psychologie darstellen, die als Hintergrund des aristotelischen Ansatzes berücksichtigt werden muss.

Οὐ δεῖ δὲ πᾶν πρόβλημα οὐδὲ πᾶσαν θέσιν ἐπισκοπεῖν, ἀλλ’ ἣν ἀπορήσειεν ἄν τις τῶν λόγου δεομένων καὶ μὴ κολάσεως ἢ αἰσθήσεως· οἱ μὲν γὰρ ἀποροῦντες »πότερον δεῖ τοὺς θεοὺς τιμᾶν καὶ τοὺς γονεῖς ἀγαπᾶν ἢ οὔ« κολάσεως δέονται, οἱ δὲ »πότερον ἡ χιὼν λευκὴ ἢ οὔ« αἰσθήσεως (Top. I 11, 105a1–6).

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2.2 Wichtige Antezedenzien der aristotelischen Seelenlehre in Platons Politeia Aristoteles greift offensichtlich manche philosophischen Problematiken in Bezug auf die Natur der Seele und ihre Funktionen auf, die auf die platonische Politeia zurückgehen. Deshalb werden wir uns im Folgenden an diesem Dialog orientieren, um Einsicht in die platonische Seelenlehre zu gewinnen. 96 Nachdem verschiedene Thesen über den Aufbau des idealen Staates und die Natur der Gerechtigkeit diskutiert worden sind, wenden sich Sokrates und die Gesprächsteilnehmer im vierten Buch des Dialogs dem Thema der individuellen Gerechtigkeit bzw. der inneren Verfassung der menschlichen Seele zu. Zunächst wird in diesem Zusammenhang die folgende Frage gestellt: Wieso kann der Mensch unterschiedliche bzw. entgegengesetzte Sachen gleichzeitig wollen? Anders ausgedrückt: Wie ist zu erklären, dass im Menschen ein innerer Konflikt entstehen kann, sodass er im selben Augenblick nach unterschiedlichen Zielen streben will? Die folgende Passage veranschaulicht diese Fragestellung: Das ist aber wohl sicher, ob wir mit demselben Teil alles verrichten oder von dreien mit jedem ein anderes: mit einem von dem, was in uns ist, lernen, mit einem anderen uns mutig erweisen, und mit einem dritten wiederum die mit der Ernährung und Erzeugung verbundene Lust begehren, und was dem verwandt ist, oder ob wir mit der ganzen Seele jedes von diesen verrichten, wenn wir auf eines gestellt sind? Dieses wird das sein, was nur schwierig auf zufriedenstellende Weise zu bestimmen ist. 97

Platons Gedankengang entspricht der logischen und ontologischen Notwendigkeit, dem Satz vom Widerspruch nicht zu widersprechen, Ich gehe natürlich davon aus, dass die Komplexität der platonischen Seelenlehre sich nicht auf die Darstellung der Politeia reduzieren lässt. Es ist sogar umstritten, ob Platon eine einheitliche und konsistente Seelenlehre vertreten hat. Angesichts der begrenzten Ziele meiner Diskussion konzentriere ich mich aber nur auf diesen Dialog, weil ich der Ansicht bin, dass die dort auftauchenden Fragestellungen und Problematiken diejenigen sind, mit welchen Aristoteles sich in seinem eigenen Ansatz hauptsächlich beschäftigt. Für eine Diskussion über die platonische Seelenlehre, die über die Darstellung der Politeia hinausgeht, sei hier auf den von Barney et al. herausgegebenen Sammelband (2012) verwiesen. 97 Τόδε δὲ ἤδη χαλεπόν, εἰ τῷ αὐτῷ τούτῳ ἕκαστα πράττομεν ἢ τρισὶν οὖσιν ἄλλο ἄλλῳ· μανθάνομεν μὲν ἑτέρῳ, θυμούμεθα δὲ ἄλλῳ τῶν ἐν ἡμῖν, ἐπιθυμοῦμεν δ’ αὖ τρίτῳ τινὶ τῶν περὶ τὴν τροφήν τε καὶ γέννησιν ἡδονῶν καὶ ὅσα τούτων ἀδελφά, ἢ ὅλῃ τῇ ψυχῇ καθ’ ἕκαστον αὐτῶν πράττομεν, ὅταν ὁρμήσωμεν. ταῦτ’ ἔσται τὰ χαλεπὰ διορίσασθαι ἀξίως λόγου (Politeia IV 436a–b). 96

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weil »dasselbe nie zu gleicher Zeit Entgegengesetztes tun und leiden wird, wenigstens nicht in demselben Sinne genommen und in Beziehung auf ein und dasselbe«. 98 Dies lässt sich auch als eine Antwort auf die bekannte und kontraintuitive These des Sokrates verstehen, dass es so etwas wie Willensschwäche nicht gebe (vgl. Protagoras 345d; NE VII 3, 1145b21–27). In Anbetracht dieser Problematiken nimmt Platon als Lösung eine wichtige Unterscheidung vor, nämlich dass die Seele aus einem begehrenden (to epithymetikon), einem mutigen (to thymoeides) und einem vernünftigen Teil (to logistikon) bestehe (vgl. auch Phaidros 245b–249b). Nur so lässt sich ihm zufolge die Möglichkeit erklären, dass diese entgegengesetzten Wünsche und Begierden bei einem Menschen gleichzeitig auftauchen können. Sie würden sich nicht von einem völlig homogenen Prinzip ableiten bzw. prädizieren lassen, ohne dass man dabei den oben genannten Fehlschluss beginge. 99 So wie Gerechtigkeit innerhalb des platonischen Staates nur dadurch entsteht, dass alle Mitglieder ihre eigentümliche Leistung erfüllen und in einer friedlichen Beziehung miteinander stehen, kommt die Gerechtigkeit beim Individuum durch die Eintracht der verschiedenen Seelenteile zustande (vgl. Politeia IV 443d–e). Ein tugendhaftes Individuum wäre infolgedessen dasjenige, dem es gelungen ist, diese Kernstücke seines inneren Wesens miteinander zu versöhnen und in Eintracht zu bringen. Diese für die innere Gerechtigkeit erforderliche Harmonie beΔῆλον ὅτι ταὐτὸν τἀναντία ποιεῖν ἢ πάσχειν κατὰ ταὐτόν γε καὶ πρὸς ταὐτὸν οὐκ ἐθελήσει ἅμα […] (Politeia IV 436b). 99 So auch Finck: »Die identische Sache, von der Platons Formulierung des Satzes vom zu vermeidenden Widerspruch handelt, gehört dem Bereich des Werdens an. Sonderbar ist die Formulierung, dass jenes Identische nicht Entgegengesetztes tut oder leidet. Aristoteles spricht in seiner klassischen Formulierung (Met. IV 3, 1005b19 ff.) von zukommen und nicht zukommen (ὑπάρχειν τε καὶ μὴ ὑπάρχειν). Einem Einzelding kann dieselbe Bestimmtheit nicht zugleich und in derselben Hinsicht zukommen und nicht zukommen, d. h., das Einzelding kann nicht zugleich so und nicht so bestimmt sein. Es kann nicht zugleich so und anders sein. In Aristoteles’ Formulierung des Satzes vom zu vermeidenden Widerspruch geht es also um die Bestimmtheiten eines Einzeldinges im Allgemeinen. In Platons Formulierung scheint dagegen speziell davon die Rede zu sein, was die identische Sache tut und leidet« (Finck 2007, S. 82). Im Endeffekt weist der Nachdruck Platons auf die Tatsache hin, dass die Seele vor allem ein Tätigkeitsprinzip ist; allerdings hat sie keine homogene oder einfache Natur, da wir oft nach entgegengesetzten Objekten streben wollen. Dadurch, dass es unmöglich ist, dass etwas aus einem homogenen Prinzip zugleich und in derselben Hinsicht gemacht und nicht gemacht wird, schreibt Platon der Seele verschiedene Teile bzw. Vermögen zu. 98

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deutet keinesfalls, dass es keine Hierarchie zwischen den Seelenteilen gäbe. Im Gegenteil: Die Leitung der Vernunft erweist sich als maßgebend für die friedliche Koexistenz der Seelenteile. Platon schreibt der Vernunft die Fähigkeit zu, die Triebe des begehrenden und mutigen Seelenteils so zu modellieren, dass sie die Befehle und Aufforderungen der Vernunft gehorsam befolgen können. Die Analogie zum Philosophenkönig, den Wächtern und den Bürgern des Staates ist in diesem Sinne unvermeidlich. Eine gute politische bzw. philosophische Herrschaft in der Politeia ist eben diejenige, die die Aufgaben zwischen den Wächtern und den Bürgern vernunftgemäß verteilt, sodass jeder nur die Aufgabe übernimmt, für die er von Natur aus geeignet ist. Nur so kann vermieden werden, dass jeder seine Energien und Bemühungen beim Vollzug anderer Tätigkeiten verschwendet, was nur Chaos innerhalb der polis bewirken und letztlich zu ihrer Auflösung führen würde (vgl. Politeia IV 422d–423c, V 462a–e). Analog lässt sich behaupten, dass die Leitung der Vernunft beim Individuum etwas ganz Wesentliches gewährleistet: Ohne sie würden der Seele Unordnung und Verwirrung innewohnen, und damit wäre die Möglichkeit einer gelingenden Lebensführung ausgeschlossen. Platon war bewusst, dass das Verhältnis der verschiedenen Seelenteile zueinander eine besondere Komplexität aufweist. Die Beziehung des vernünftigen mit den zwei anderen Seelenteilen ist nicht in jedem Fall dieselbe. Der mutige Seelenteil (thymos) kann die Befehle und Gebote der Vernunft verstehen, weil es eine besondere Affinität zwischen diesen beiden Seelenteilen gibt (vgl. Politeia IV 439e–441c, 442b–c); der thymos wird keinesfalls als eine blinde Kraft verstanden, die uns zu Situationen und Handlungsweisen führt, in denen unsere Tapferkeit auf die Probe gestellt werden muss. Vielmehr weist der Text darauf hin, dass die Vernunft ihre Gemeinsamkeiten mit dem thymos in Anspruch nehmen muss, um die Begierden steuern und lenken zu können. Allerdings sind damit nicht alle Schwierigkeiten überwunden. Meiner Auffassung nach gibt es verschiedene Probleme, deren Lösung nicht direkt im Dialog entwickelt wird. Es seien hier nur ein paar Beispiele angeführt. Einerseits ist im Text keine hinreichende Erklärung bezüglich der besonderen Beschaffenheit des thymos zu finden. Mit anderen Worten: Die vorher erwähnte Affinität zwischen den Seelenteilen wird zwar in der Rede des Sokrates eingeführt, aber sie wird nicht ausführlich erörtert. Es könnten viele Fragen über ihre Natur gestellt werden: Hat der mutige Teil eine besondere Art und Weise, die Befehle der Vernunft zu verstehen? Wenn 88

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das der Fall wäre, würde Platon ihm nicht im selben Augenblick die Fähigkeit zuschreiben, vernünftig zu sein? Worin würde dann der Unterschied zwischen dem Vernünftigsein des thymos und desjenigen bestehen, das den logos selbst charakterisiert? In einer zeitgemäßeren Redeweise ausgedrückt: Wäre der thymos imstande, über Begriffe zu verfügen und propositionales Wissen zu haben? Eine negative Antwort auf diese letzte Frage würde gravierende Konsequenzen nach sich ziehen, die auch problematisch für die Vermittlerrolle dieses Seelenteils wären. Darauf werde ich hier aber nicht eingehen. Ich möchte nur darauf aufmerksam machen, dass die Frage nach der Natur des vermittelnden Seelenteils nicht einfach bzw. eindeutig aufgrund des Textes zu beantworten ist. Man muss auf jeden Fall über die reine Textinterpretation des Dialogs hinausgehen, um eine befriedigende Antwort darauf geben zu können. Andererseits entsteht auch ein Problem dadurch, dass Platon nicht genügend erklärt, welche Wesensart die Handlungen eines Akteurs besitzen müssen, um die innere Harmonie bzw. Gerechtigkeit hervorzubringen. Gewiss entwickelt Platon ein komplexes Bildungssystem, dessen Ziel darin besteht, die Talente und Anlagen der Mitglieder der polis gut zu entwickeln, damit Gerechtigkeit und Ordnung innerhalb der Gesellschaft herrschen können. Die Mitglieder der polis müssen deshalb eine spezielle Erziehung bekommen, die ihrer Art von Seele entspricht und ihre Naturgaben angemessen für das Ziel der Gemeinschaft weiterentwickelt. Die Anwendung dieser seelischen Kräfte macht es möglich, dass sich eine Reihe wesentlicher Tugenden herausbilden kann, die sich ihrerseits in der Hierarchie des Staates widerspiegelt und ihre Vollendung dadurch erreicht, dass sie den sozialen Zusammenhalt des Staates bewahrt. Dabei geht es um die aretai, die später in der Tradition als die »Kardinaltugenden« bezeichnet werden, 100 und Platon schenkt ihnen offensichtlich beträchtliche Aufmerksamkeit (vgl. Politeia IV 441c–445e). Er geht daPlaton war nicht der Erste, der sich auf diese Gruppe von wesentlichen Tugenden bezogen hat. Aischylos verwies in einer seiner Tragödien schon darauf, indem er Amphiaraos als »einen verständigen, gerechten, tapferen und frommen Menschen« bezeichnete (σώφρων δίκαιος ἀγαθὸς εὐσεβὴς ἀνήρ) (Sieben gegen Theben, 610). Die Ersetzung von eusebeia durch phronēsis bzw. sophia in diesem Tugendkatalog geht aber auf Platon zurück, was sich in der Politeia als ein Versuch seinerseits lesen lässt, die Einheit der Tugenden durch die Leitung der vernünftigen Tätigkeit zu gewährleisten. Allerdings ist umstritten, ob diese Einheit sich in der individuellen Lebensführung innerhalb des platonischen Staats wirklich realisieren lässt.

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von aus, dass ein guter Mensch bzw. ein guter Staat als ein solcher gilt, sofern er sich durch verschiedene Vortrefflichkeiten auszeichnet. Allerdings kann argumentiert werden, dass Platon nur erlaubt, dass jedes Mitglied der Gesellschaft allein die Aufgabe erfüllt, die ihm aufgrund seiner Art von Seele zukommt; d. h., eine Person dürfte nur die Tätigkeit ausführen, für welche sie aufgrund ihrer Natur am geeignetsten ist. Die Verteilung von Aufgaben und Pflichten innerhalb des Staates würde aber darauf hinauslaufen, dass die Ausübung anderer Aktivitäten für ein Mitglied der Gesellschaft ganz und gar ausgeschlossen wäre, was als eindeutige Beschränkung der Freiheit jedes Einzelnen verstanden werden muss. Das wird explizit als ein Prinzip eingeführt, an welchem die Gesetzgeber sich zum Wohl der Gemeinschaft bei politischen Maßnahmen orientieren müssen (vgl. Politeia II 370a–c). Das ist natürlich ein fragwürdiges und umstrittenes Merkmal der platonischen politischen Philosophie, das schon mehrmals kritisiert wurde. 101 Aber wenn man sich diesen Sachverhalt nicht im Hinblick auf die polis, sondern auf das Individuum anschaut, ergeben sich ebenfalls wichtige Fragen: Wenn das menschliche Individuum aus einer dreigliedrigen Seele bestehen würde, wäre es dann nicht zu erwarten, dass diese drei Vermögen bedeutend für ein gelingendes Leben sind? Wenn der Vollzug einer Tugend nur die Tätigkeit eines einzelnen seelischen Vermögens voraussetzen und man alle eigenen Im letzten Jahrhundert war Karl Poppers Kritik (1964) an der politischen Philosophie Platons möglicherweise am einflussreichsten. In seinem berühmten Buch hat Popper Platon vorgeworfen, dass er in seinen Gesellschaftsutopien überhaupt keinen Raum für individuelle Freiheit erlaubt und infolgedessen die erste Konzeption eines totalitären Systems vertreten habe. Mehrere Kommentatoren haben darauf hingewiesen, dass die Deutung Poppers nicht den Grundlagen der platonischen Philosophie gerecht werde, und dass sie auf großen Missverständnissen beruhe (siehe dazu Frede 2005). Was die innere Struktur, die philosophischen Ziele und die entscheidenden Merkmale der platonischen Dialoge betrifft, teile ich ganz und gar das Urteil über die Unangemessenheit der Interpretation Poppers. Es ist aber klar, dass man sich andere Staatsmodelle vorstellen könnte, die den Individuen einen größeren Handlungsraum gewährleisteten als dasjenige Platons, und nach unserem gegenwärtigen Verständnis einer liberalen Gesellschaft wäre das zweifellos als eine positive Eigenschaft eines Staates zu betrachten. Diese Ansicht aber ist interessanterweise schon in Aristoteles’ Kritik an Platon zu finden, wenn er im zweiten Buch der Politik behauptet, dass eine Vielheit dem Staat als solchem innewohne und die Rollen innerhalb desselben dieser Vielheit gemäß verteilt werden müssten, wobei beispielsweise die Ämter abwechselnd von verschiedenen Bürgern bekleidet werden sollten, damit mehr Menschen die Möglichkeit hätten, sich an Politik zu beteiligen (vgl. Pol. II 2, 1261a10– 1261b15).

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geistigen Energien auf ihren Vollzug anwenden würde, bedeutete das nicht auch, dass die anderen seelischen Vermögen dabei nicht in Anspruch genommen würden? Es scheint beispielsweise, dass Platon zufolge die Wächter und Bürger des Staates sich in der Erfüllung ihrer Pflichten nicht unbedingt primär an ihrer Vernunft orientieren müssten, denn das ist nicht die Aufgabe, die ihnen in der Gesellschaft aufgrund ihrer Art von Seele zusteht. 102 Es ist nämlich ein Vermögen, das nicht von jeder Art von Erziehung im platonischen Staat entwickelt wird. Eins ist aber klar: Dass die Bürger und Beschützer aufgrund ihrer Seelenbeschaffenheit für bestimmte Tätigkeiten besser geeignet sind, ist nicht so zu verstehen, als ob sie über die anderen Seelenvermögen gar nicht verfügen würden; ansonsten würde es sich nicht erklären lassen, dass sie den oben genannten Konflikt mit Wünschen und Begierden erleben könnten, der als ein grundsätzliches und charakteristisches Phänomen des menschlichen Handelns zu betrachten ist. Es wäre logischer zu vermuten, dass aufgrund dieser drei Seelenteile alle Menschen einigermaßen die entsprechenden Tugenden ausüben und so die innere Gerechtigkeit wahren könnten. Andererseits ist es nicht eindeutig, dass die Art von Erziehung, die jedem zukommt, gewährleistet, dass diese Konflikte in der Seele Gill macht auf einen Punkt aufmerksam, aus dem sich meiner Ansicht nach sehr problematische Konsequenzen ableiten: »It is true that training the θυμοειδές helps to strengthen its natural propensity to work with reason in controlling the ἐπιθυμητίκὸν (389e1–2, cf. 440b–e, 442a–b). But Plato does not describe any program of training for the ἐπιθυμητίκὸν as such, perhaps because he believes […] that it cannot be trained but can only be more or less forcibly suppressed« (Gill 1985, S. 11). Wenn kein genaues Programm entworfen wird, um diesen Seelenteil zu erziehen, dann muss auch bei den einfachen Bürgern, die in Analogie mit dem Staatskörper zuvor mit dem begehrenden Seelenteil identifiziert wurden, die Vernunft das leitende Prinzip sein. Wilberding weist auf denselben Punkt hin: (Plato) »is giving the term ›virtue‹ a wider and more generous scope than has previously been thought. He is allowing for individuals who do not possess first-rate intellectual abilities to train and harmonize their souls in such a way that reason is in charge« (Wilberding 2009, S. 360). Die Frage aber, die daraus folgt, ist die: Wie können sie sich aber ihrer Vernunft angemessen bedienen, ohne dieselbe Erziehung wie die Philosophen bekommen zu haben? Dass sie überhaupt überzeugt werden können, sich anderen Aufgaben zu widmen, wenn ihre Lebensführung auch vernunftgemäß bestimmt wird, scheint eine Problematik zu sein, die im Dialog keinesfalls behandelt wird. Vielleicht ist dies der Grund, warum er in den späteren Dialogen sein Erziehungsmodell der Seelenteile verändert: »In the Laws, it is worth noting too, Plato does not make the distinction between θυμοειδές and ἐπιθυμητίκὸν that is so important in the Republic but treats the non-rational capacities of the ψυχή as a complex whole, all elements of which are susceptible of training« (Gill 1985, S. 12).

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des Individuums nicht auftauchen, vor allem, wenn man annimmt, wie Aristoteles es in seiner Kritik an seinem Lehrer tut, dass die Tugenden für Platon hauptsächlich auch Entitäten sind, die in jedem Fall einer gewissen Form der Ideenwelt entsprechen (Politeia VI 506d– 509b; NE I 2, 1095a26–28). In der Tat lassen sich wichtige Konsequenzen daraus ableiten. Wenn die Tugenden eine Art von Wissen wären, dann würde das besagen, dass man über Vernunft verfügen muss, um sie als solche zu erkennen und sich anzueignen. Aber das würde notwendigerweise schon einen vortrefflichen oder zumindest entwickelten Gebrauch des entsprechenden oberen rationalen Seelenvermögens voraussetzen; ansonsten wäre der Inhalt der jeweiligen Tugend nicht verstanden worden und es infolgedessen nicht möglich, dieses Wissen überhaupt anzuwenden. Weder die Erziehung noch die Wiederholung bestimmter Tätigkeiten würden für sich garantieren, dass man in den jeweiligen Handlungskontexten gut handelt, wenn dieses Handeln nicht in einem gewissen Zusammenhang mit begrifflicher Kenntnis stünde. Die bloße Wiederholung von Handlungen ist nicht mit dem Begriff von aretē gleichzusetzen, der von Platon entwickelt wird, aber manchmal sieht es so aus, als verträte er selbst diese paradoxe Auffassung, wenn er die Erziehung der Beschützer und der Bürger des Staates behandelt.

2.3 Das menschliche ergon und die aristotelischen Seelenteile Mit der obigen Darstellung beanspruche ich keineswegs, diese Thesen der platonischen Politeia umfassend erörtert zu haben. Meine Absicht war eher zu zeigen, dass einerseits die Konflikte zwischen gegensätzlichen Motivationen, die als eine besondere und wesentliche Erfahrung der menschlichen Praxis anzusehen sind, von Platon dadurch erklärt werden, dass er sie auf verschiedene Seelenteile zurückführt und dass er andererseits eine gewisse Lösung einführt, die sowohl auf individueller als auch auf politischer Ebene eine positive Wirkung bezweckt, um diese innere Spannung aufzulösen und damit eine gerechte Ordnung zu etablieren. Allerdings bringen diese theoretischen Ansätze bestimmte Schwierigkeiten mit sich. Zum einen bedarf das Problem der Herrschaft eines vernünftigen über einen nicht-vernünftigen bzw. partiell vernünftigen Seelenteil in seinem Modell des menschlichen Geistes weiterer Erläuterungen und Ergänzungen; zum anderen scheint es mir, dass ein besonderer Zusammenhang zwischen 92

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Wissen und Gewöhnung, der über die Natur der Tugenden Klarheit verschaffen müsste,von Platon zwar angedeutet wird; aber worin genau er besteht, ist etwas, worüber wir von ihm keine hinreichende Auskunft bekommen. Darüber hinaus scheinen viele Aporien zu entstehen, wenn man angesichts der Ideenlehre diese beiden Komponenten der Tugend zu versöhnen sucht. Ich bin der Ansicht, dass Aristoteles diese Schwierigkeiten gesehen und in Anbetracht derselben versucht hat, seinen eigenen Ansatz zu entwickeln. Es wird im ersten Buch der NE festgestellt, dass die eudaimonia für uns Menschen nur im Zusammenhang mit der Vernunft zu suchen und zu finden sei. Da der Mensch sich von anderen Lebewesen durch den Gebrauch der Vernunft unterscheidet, so meint Aristoteles, muss seine Entwicklung notwendigerweise in einer besonderen Verbindung zu diesem Vermögen stehen. Die Behandlung dieser besonderen Fähigkeit, die Aristoteles als ein ergon (Funktion, Leistung, Werk) bezeichnet, hat die Kommentatoren zu verschiedenen Kontroversen und Debatten geführt. In der Tat zählt diese Passage zu den bekanntesten, aber auch meistdiskutierten und umstrittensten Stellen der Aristoteles-Forschung. In Anbetracht der kontroversen Forschungslage werde ich mich nur darauf beschränken, ein paar Aspekte dieses Argumentes zu analysieren, die uns einerseits erlauben werden, die aristotelische Darstellung der Seelenteile mit Hinblick auf das Handeln zu verstehen, und die andererseits geeignet sind, auf unsere Diskussion über die Jugendlichen zurückzukommen und einige Punkte davon zu präzisieren. Außerdem wird diese Argumentation dem Ziel dienen, einen geeigneten Rahmen für die Rekonstruktion der Habituationslehre des Aristoteles im Hinblick auf das ēthos zu schaffen. Aristoteles bemüht sich im ersten Buch seines Traktats darum, die Vernunfttätigkeit als die Grundlage der menschlichen eudaimonia zu bestimmen. Er geht von der These aus, dass es äußerst seltsam wäre, wenn so viele Bereiche des menschlichen Tuns bei ihren Akteuren eine Funktion oder Fähigkeit voraussetzen würden, um bestimmte Ziele zu erreichen, ohne dass der Akteur selbst bzw. der Mensch eine charakteristische Funktion hätte, die ihm auch zur Erlangung eines Ziels dienen müsste. Es werden Künste und Fertigkeiten aufgelistet, bei denen eine Hauptleistung bzw. ein Hauptziel zu erkennen ist, um diese Annahme anhand verschiedener Beispiele plausibel zu machen. In diesem Kontext wird ein Vergleich zwischen den Körperteilen und Organen und dem Menschen als Ganzem gezogen: Wenn Ethos und Praxis

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jedes Organ eine besondere Aufgabe ausführt und erfüllt, so behauptet Aristoteles, ist es auch plausibel zu vermuten, dass der Mensch als solcher über etwas Ähnliches verfüge. D. h., der Mensch müsste eine Leistung vollziehen können, die ein bestimmtes Gut anstrebt, das für ihn charakteristisch und kennzeichnend ist. Die Struktur des Arguments macht deutlich, dass bei dem Philosophen die Teleologie, die in den verschiedenen Handlungsbereichen zu finden ist, eigentlich mit größerer Aufmerksamkeit bedacht wird als die Beschreibung der Körperteile eines Lebewesens. Die Wirkung seiner Beweisführung beruht hauptsächlich auf Analogien aus verschiedenen Bereichen des menschlichen Tuns, die uns Anlass zu einer besonderen Schlussfolgerung geben, nämlich dass es beim Menschen eine Fähigkeit geben muss, die wir uns exklusiv zuschreiben und die entscheidend für unsere gesamten Projekte und Ziele ist. Der ergon-Begriff wird in diesem Sinne als eine Leistung verstanden, die sich nicht auf das reduzieren lässt, was andere Lebewesen ebenfalls besitzen oder vollziehen können. Nur wenn eine solche Leistung bei einem Lebewesen oder einer bestimmten Tätigkeit festzustellen ist, kann überhaupt über ein eigentümliches (idion) ergon gesprochen werden, wie es sich laut Aristoteles auch im Fall von Pflanzen und Tieren offenbart (vgl. GA I 23, 731b8). Der ergon-Begriff drückt nicht Instrumentalität aus, sondern ein wesentliches Merkmal, das unsere Bemühungen und Tätigkeiten prägt und unser Wesen auf eine entscheidende Weise konstituiert. 103 In seiner Überprüfung der möglichen Kandidaten für das menschliche ergon schließt Aristoteles aus, dass diese Rolle von der Ernährung, dem Wachstum oder der Wahrnehmung erfüllt werden könne. Zwar können wir uns eigentlich nicht vorstellen, ein gelingendes Leben zu führen, ohne dass wir auch diese Tätigkeiten in unsere Existenz miteinbeziehen. Aber daraus folgt keineswegs, dass der Inhalt des menschlichen Glücks auf sie zurückzuführen ist. Diese besonderen Funktionen unseres Organismus bieten uns Menschen Damit möchte ich den folgenden Punkt betonen: Der ergon-Begriff impliziert keineswegs, dass Aristoteles etwa die Vorstellung hat, der Mensch sei »ein Werkzeug«, das irgendeiner extrinsischen Verwendung dienen müsse, wie W. F. R. Hardie Aristoteles in seinem bekannten Buch (1968) vorgeworfen hat. Aristoteles ist nicht der Ansicht, dass jede Leistung einem extrinsischen Ziel dienen soll. In Bezug auf Lebewesen bezeichnet dieser Begriff hauptsächlich eine Leistung, die ihre Wirkung auf das jeweilige Subjekt selbst hat und um ihrer selbst willen durchgeführt wird, weil sie naturgemäß bzw. wertvoll ist (vgl. Johnson 2005).

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einen Zugang zur Welt und werden von uns äußerst hoch geschätzt, da ein Verlust derselben ein Hemmnis für unser Gedeihen bedeuten muss (vgl. Lawrence 2001). Allerdings ist das Wesen der menschlichen eudaimonia nicht mit ihnen gleichzusetzen, denn diese Tätigkeiten sind uns nicht ausschließlich eigentümlich, sondern gehören auch zu Pflanzen bzw. Tieren. Demzufolge lässt sich das Wesen des menschlichen ergon mit diesen Funktionen nicht gleichsetzen, da wir damit etwas meinen, das unserer Spezies exklusiv zugehört und den Einsatz unserer eigentümlichen Talente und Anlagen umfasst. Der passende Kandidat für eine solche Aufgabe kann von daher nur die Vernunft sein. In der Tat ist dieses Vermögen der Teil unserer Seele, mit dem wir uns prinzipiell identifizieren. 104 Das ist nach aristotelischer Auffassung ein klares Zeichen dafür, dass eine adäquate Entfaltung unserer Vernunft notwendig ist, um uns als praktische Akteure begreifen zu können und die eudaimonia zu erreichen. Wie schon angekündigt, werde ich hier nicht versuchen, eine Rekonstruktion dieses Arguments zu unternehmen. Stattdessen möchte ich einige Besonderheiten der aristotelischen Seelenlehre thematisieren, die äußerst wichtig für das Verständnis seines Charakterbegriffes sind. Zunächst lässt sich aus den obigen Thesen ersehen, dass die Vernunft von Aristoteles als der wesentlichste Teil der menschlichen Seele begriffen wird. In Anlehnung an De Anima und die Metaphysik lässt sich feststellen (vgl. DA II 1, 412a20–22; Met. VII 6, 1029a1–6), dass ein solches Prinzip die Form (morphē) des Menschen Dass wir uns hauptsächlich mit der Vernunft identifizieren, ist ein Gedanke, den Aristoteles auf verschiedenen Ebenen fruchtbar macht. Es gibt Kontexte, in denen er sich auf die Vernunft als dasjenige bezieht, das unsere grundlegende Verfassung ausmacht: »dem denkenden Teil zuliebe, den man für dasjenige hält, was jeder Mensch seinem Wesen nach ist« (τοῦ γὰρ διανοητικοῦ χάριν, ὅπερ ἕκαστος εἶναι δοκεῖ) (NE IX 4, 1166a16). In anderen Fällen deutet diese Identifizierung darauf hin, dass der tugendhafte Mensch als ein zurechnungsfähiges Subjekt gilt, das gemäß seiner Vernunft mit Lust handelt. »Auch beherrscht und unbeherrscht heißt man danach, ob das Denken herrscht oder nicht, in der Annahme, dass ein jeder dies [der denkende Teil; E. C.] ist. Und man hält vor allem diejenigen Handlungen, die mit Überlegung verbunden sind, für solche, die man selbst und aus eigenem Wollen getan hat. Dass also ein jeder am meisten dies ist, ist klar, und dass der Gute dies am meisten liebt (καὶ ἐγκρατὴς δὲ καὶ ἀκρατὴς λέγεται τῷ κρατεῖν τὸν νοῦν ἢ μή, ὡς τούτου ἑκάστου ὄντος· καὶ πεπραγέναι δοκοῦσιν αὐτοὶ καὶ ἑκουσίως τὰ μετὰ λόγου μάλιστα. ὅτι μὲν οὖν τοῦθ’ ἕκαστός ἐστιν ἢ μάλιστα, οὐκ ἄδηλον, καὶ ὅτι ὁ ἐπιεικὴς μάλιστα τοῦτ’ ἀγαπᾷ.) (NE IX 8, 1168b34–1169a1). Zu guter Letzt führt diese Gleichsetzung ebenfalls zu der Diskussion in Buch X über das Wesen der menschlichen eudaimonia als bios theōrētikos.

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ist. Diese Form erfüllt auch die Leistungen, die Pflanzen und Tiere vollbringen, um lebendige Wesen zu sein. Es handelt sich um ein Prinzip, das uns erlaubt, eine Mannigfaltigkeit von Tätigkeiten auszuführen. Vom physiologischen Standpunkt aus betrachtet ist die Seele ein Prinzip der Bewegung, der Ernährung, der Wahrnehmung und des Wachstums. Andererseits ist sie ein Denkvermögen, das uns u. a. erlaubt, Vorstellungen von der Natur zu haben, Gegenstände zu begehren und unsere Handlungen planmäßig auf Ziele zu richten. Die menschliche Seele führt nach Aristoteles zwar alle diese verschiedenen Tätigkeiten aus, aber sie ist ihrer Natur nach eine. Man könnte allerdings in diesem Kontext eine wichtige Frage stellen: Wieso kann eine Vielfalt unterschiedlicher Aufgaben gleichzeitig erfüllt werden, wenn das Prinzip derselben im strengen Sinne des Wortes nur eines ist? Die aristotelische Antwort darauf wäre, dass, obwohl dieses Prinzip des Lebens nur eins ist, es doch aus verschiedenen Teilen besteht. 105 Ein durchaus homogenes Prinzip könnte die verschiedenen und sogar entgegengesetzten Begierden eines Menschen nicht erklären. Es handelt sich eigentlich um ein Problem, das Aristoteles von Platon übernimmt. Seine Herangehensweise an diese Frage ist in mancher Hinsicht die seines Lehrers. In der Tat nimmt man bei Aristoteles deutlich wahr, dass er diese Fragestellungen sehr ernst nimmt. Als Beleg hierfür seien die folgenden Textstellen zitiert: Übrig bleibt also ein tätiges Leben desjenigen Bestandteils in der menschlichen Seele, der Vernunft besitzt; von diesem hat ein Teil Vernunft in der Weise, dass er der Vernunft gehorcht, der andere so, dass er sie hat und denkt. Da aber auch von diesem letzteren Teil in zwei Bedeutungen gesprochen wird, müssen wir sagen, dass er im Sinn der Betätigung zu verstehen ist, da er so im eigentlicheren Sinn bezeichnet werden dürfte. 106

Vgl. auch Ursula Wolf: »Wie Aristoteles betont, braucht die Rede von Teilen nicht so verstanden zu werden, dass es sich um in der Wirklichkeit Trennbares handelt. Die Seele ist für die Griechen kein Ding mit Teilen, sondern das Ganze der Lebensfähigkeiten, das Lebensprinzip des Körpers (im einfachsten Fall der Pflanze z. B. der Stoffwechsel). Die Teile sind nur begrifflich trennbar; es handelt sich um verschiedene Aspekte des Lebensprinzips eines Lebewesens« (Wolf 2007, S. 45). Es handelt sich offensichtlich nur um eine Redeweise, sich auf die Funktionen eines einzelnen Prinzips zu beziehen. Allerdings können verschiedene Schwierigkeiten entstehen, wie dies insbesondere im Fall von Platon analysiert wurde, wenn man die Beziehung dieser »Teile« zueinander erklären möchte. 106 λείπεται δὴ πρακτική τις τοῦ λόγον ἔχοντος· τούτου δὲ τὸ μὲν ὡς ἐπιπειθὲς 105

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Es scheint aber noch ein anderer natürlicher Bestandteil der Seele vernunftlos zu sein, der allerdings auf gewisse Weise an der Vernunft Anteil hat. Beim Beherrschten und Unbeherrschten loben wir nämlich die Vernunft bzw. den vernünftigen Bestandteil ihrer Seele, da er auf richtige Weise und zum Besten antreibt. Anscheinend ist aber noch etwas anderes neben der Vernunft in ihrer [der Beherrschten und Unbeherrschten; E. C.] Natur vorhanden, das mit der Vernunft kämpft und ihr Widerstand leistet. 107

Aristoteles weist an der ersten Textstelle darauf hin, dass der logos von zweierlei Natur ist. Einerseits gibt es einen logos, dem die Vernunft gehorchen kann; andererseits gibt es einen weiteren, der im eigentümlicheren und grundsätzlicheren Sinn des Wortes als die denkende Vernunft zu begreifen ist: Dieser Seelenteil wird als to logon echon bezeichnet, oder das, was Vernunft kuriōs kai en hautō hat (NE I 13, 1103a2; vgl. auch Pol. VII 14, 1333a15–18). Im Unterschied zu Platon aber wird der Seelenteil, der den Anweisungen dieser »vorrangigen« Vernunft folgen kann, von Aristoteles nicht sensu stricto als thymos aufgefasst. 108 Die Fähigkeit der Vernunft zu gehorchen (epipeithomai), wird diesem Seelenteil eher als seine wichtigste Eigenschaft zugeschrieben. Die aristotelische Auffassung lässt sich einfacher verstehen, wenn man in Erwägung zieht, dass die vegetativen Vorgänge im Menschen nicht direkt von der Vernunft zu steuern bzw. zu modifizieren sind. Es gibt verschiedene Prozesse im Menschen wie Wachstum und Ernährung – um nur diejenigen zu erwähnen, die von Aristoteles im ergon-Argument berücksichtigt werλόγῳ, τὸ δ’ ὡς ἔχον καὶ διανοούμενον. διττῶς δὲ καὶ ταύτης λεγομένης τὴν κατ’ ἐνέργειαν θετέον· κυριώτερον γὰρ αὕτη δοκεῖ λέγεσθαι (NE I 6, 1098a2–6). 107 ἔοικε δὲ καὶ ἄλλη τις φύσις τῆς ψυχῆς ἄλογος εἶναι, μετέχουσα μέντοι πῃ λόγου. τοῦ γὰρ ἐγκρατοῦς καὶ ἀκρατοῦς τὸν λόγον καὶ τῆς ψυχῆς τὸ λόγον ἔχον ἐπαινοῦμεν· ὀρθῶς γὰρ καὶ ἐπὶ τὰ βέλτιστα παρακαλεῖ· φαίνεται δ’ ἐν αὐτοῖς καὶ ἄλλο τι παρὰ τὸν λόγον πεφυκός, ὃ μάχεται καὶ ἀντιτείνει τῷ λόγῳ (NE I 13, 1102b12–18). 108 Aristoteles gibt an verschiedenen Stellen zu, dass der thymos existiert und wir uns ihm gemäß verhalten können; allerdings begreift er ihn nicht als einen eigenständigen Seelenteil, sondern als eine bestimmte Art von orexis (vgl. MA 6, 700b19; DA II 3, 414b2; Rhet. I 10, 1369a1–4; EE II 7, 1223a26–27). Im Kontext des Handelns besteht für das Subjekt die Aufgabe, die verschiedenen orexeis vernunftgemäß zu beherrschen und von ihnen Gebrauch zu machen, wenn die Ausübung einer bestimmten Tugend es erfordert. In der Politik spricht Aristoteles zwar über thymos und epithymia in Bezug auf die Erziehung, die die Bürger erhalten sollen, um sich an die Gesetze zu halten und die Einheit der polis zu bewahren (vgl. Pol. III 16, 1287a30–32, VII 7, 1327b36–38), aber man findet auch in diesen Fällen keinen Beleg dafür, dass beide sensu stricto als Seelenteile von ihm begriffen wurden. Ethos und Praxis

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den –, die uns am Leben erhalten und die wir nicht mit unserem Willen bestimmen. 109 Das ist aber nicht der Fall mit anderen Geistes- und Seelenprozessen wie Emotionen, Begierden, Trieben, usw., weil wir von ihnen freiwillig einen gewissen Abstand nehmen können. Wir sind sozusagen imstande, unsere Affekte zu leiten und dabei das Gegenteil von dem machen zu können, was sie uns in erster Linie vorschreiben. Darüber hinaus besteht die Möglichkeit, dass diese Motivationskräfte produktiv für unsere Projekte und Handlungen in Anspruch genommen werden, wie es sich ständig in verschiedenen Handlungskontexten erweist. Dieser Seelenteil kann gewiss einen bestimmten Widerstand gegen die vernünftigen Anweisungen leisten, aber das bedeutet nicht a priori, dass dieser sich nicht überwinden lässt. Diese besonderen Praxisphänomene, die sich paradigmatisch beim Umgang mit den Affekten offenbaren, sind für Aristoteles ein wichtiges Indiz dafür, dass ein Seelenteil an Vernunft Anteil haben kann, ohne dass er zu einem an sich denkenden bzw. diskursiven Vermögen erklärt wird. Das Seelenmodell, so wie es im Prinzip dargestellt wird, besteht zwar aus drei Teilen: einem vegetativen, einem an Vernunft teilhabenden und einem vernünftigen Seelenteil; aber es wird angesichts der Praxis vereinfacht und als eine zweifache Natur verstanden, weil die vegetative Funktion in unsere Überlegungs-, Entscheidungs- und Handlungsprozesse gar nicht miteinbezogen werden kann. Aus der Perspektive der Ethik ist es nur relevant, das zu bestimmen, was in unserer Gewalt (eph’ hēmin) ist. In seiner Auffassung der Handlungen gibt Aristoteles offensichtlich demjenigen Teil unserer Seele den Vorrang, der sich prinzipiell als zur Betätigung fähig verstehen lässt. Dies ist eine grundlegende These, die das ergonArgument zur Konsequenz hat. Nur die vernünftige Betätigung der Seele im Sinne von energeia lässt sich als das eigentümliche und chaDies ist eine direkte Anspielung auf die Seelenlehre aus De Anima. Allerdings soll man, wie Fortenbaugh warnt, die Einteilung der Seele in beiden Traktaten nicht für dieselbe halten: »This use of the psychology of the De Anima could be misleading, so that a listener (or reader) might confuse bipartition with the biological psychology. I. e., he might believe that the divisions of the two psychologies coincide and that the obedient part of the bipartite soul is identical with the biological faculty of sensation. For that reason, Aristotle has added a note, making clear that the division of bipartition runs within the biological faculty of thought; that the obedient part of the bipartite soul and the biological faculty of sensation are not identical. This is intelligible, for bipartition is a contrast between emotions like fear and anger on the one hand and deliberation on the other. Emotions involve belief« (Fortenbaugh 2006, S. 62).

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rakteristische Merkmal des Menschen verstehen, und gerade deshalb muss die eudaimonia notwendigerweise im Zusammenhang mit ihr stehen. Solche vernünftige Tätigkeit macht im Wesentlichen das aus, was Aristoteles unter dem Begriff des menschlichen ergon versteht. Aristoteles führt in seine Seelenlehre in der NE kein vermittelndes Vermögen ein, um die oben genannten Motivationskonflikte des Handelns darzustellen. Die Erfahrungen der Motivationskonflikte und ihrer verschiedenen Lösungen sind schon aus der Sicht der praktischen Philosophie ein hinreichender Beleg, der uns glauben lässt, dass die Vernunft sich in der Tat durchsetzen und dabei die Affekte leiten kann. Darüber hinaus geht Aristoteles nicht von der Annahme aus, dass jeder Seelenteil für eine besondere charakterliche Tugend zuständig ist, was sich als problematisches Merkmal des platonischen Modells erwiesen hatte. Seine Seelenlehre in der NE ist in einem gewissen Sinne mit weniger metaphysischen Voraussetzungen verbunden als diejenige Platons; nicht weil er sich nicht auf Thesen anderer Bereiche seiner Philosophie stützen will, sondern weil er der Ansicht ist, dass die grundlegenden Praxisphänomene, welche durch die Ethik interpretiert und thematisiert werden, nicht durch zu einem anderen Bereich bzw. zu einer anderen Disziplin gehörende Thesen zu erklären sind. 110 Aristoteles vermeidet viele Schwierigkeiten, in die Platon gerät, indem er einerseits die Besonderheit des menschlichen HandWas Vigo zu einem eng verwandten Thema sagt, scheint mir auch in diesem Kontext besonders angemessen: »In der praktischen Philosophie und insbesondere in der Ethik beschäftigt sich Aristoteles jedenfalls nicht mit der Erklärung von Naturprozessen. Seine Aufmerksamkeit richtet sich hier unmittelbar auf das, was die Sphäre des menschlichen Handelns spezifisch charakterisiert. In diesem Zusammenhang handelt es sich nicht mehr darum, über diejenigen Phänomene Rechenschaft zu geben, die mit der Bewegung der Körper im Raum in Verbindung stehen. Es geht hier vielmehr um die Beschreibung und Erklärung von Phänomenen, die andere spezifische Strukturmerkmale aufweisen und deswegen auf die Grundstrukturen der Naturerscheinungen nicht ohne Verlust zurückgeführt werden können. Hier stehen die Naturphänomene als solche niemals im Mittelpunkt des Interesses. Sie bilden nur noch eine Art Hintergrund für dasjenige, das primär intendiert wird« (Vigo 1996, S. 27). Diese methodologische Flexibilität je nach Untersuchungsgegenstand ist m. E. nirgendwo so offensichtlich wie in der aristotelischen praktischen Philosophie. Es ist nicht so, dass Aristoteles den Menschen als ein Wesen begriffen hat, das seine Existenz getrennt von den Prozessen der Natur führt. Es geht vielmehr darum, dass die Begriffe und Kategorien, die wir für die Beschreibung der Natur und ihrer Gegenstände benutzen, der menschlichen Praxis nicht immer gerecht werden. Das ist einer der Gründe, warum Aristoteles für die Erklärung der menschlichen Angelegenheiten nicht denselben Genauigkeitsanspruch erhebt und eigentlich nur bereit ist, so tief auf ein Gebiet einer

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lungsraums anerkennt und andererseits über die spezifischen begrifflichen Werkzeuge verfügt, um diesen Handlungsraum thematisieren zu können.

2.4 Zwei Lesarten der aristotelischen Seelenlehre Gewiss gibt es in der Aristoteles-Forschung auch Diskussionen in Bezug auf die Beschaffenheit dieses an Vernunft teilhabenden Seelenteils. Es handelt sich dabei um dieselbe Frage, die wir in Bezug auf Platon gestellt haben: Worin genau besteht der Anteil an Vernunft, über den hier gesprochen wird? In zwei einflussreichen Aufsätzen hat John Cooper die Position verteidigt, dass dieser Seelenteil imstande sein muss, die Anweisungen der Vernunft zu begreifen und zu interpretieren (vgl. Cooper 1996, 1998). D. h., er muss irgendwie schon verstehen können, warum die Anweisungen der Vernunft sinnvoll sind, um eine bestimmte Handlungsweise statt einer anderen zu wählen. 111 Ansonsten wäre es Coopers Meinung nach nicht zu erklären, dass ein Seelenteil sich dem anderen unterwerfen könnte. Trotz der Tatsache, dass uns seine Interpretation Aufschluss über die verschiedenen Gegenstände der Begierde gibt, bemerkt man, dass sie letztlich die Unterscheidung von Seelenteilen überflüssig macht, denn es gibt keine Elemente, die uns erlauben würden, diese »Verstehensweisen«, anderen Disziplin einzugehen – z. B. in diesem Kontext auf die Seelenlehre –, wie es der jeweilige Untersuchungsgegenstand erfordert bzw. erlaubt. 111 Das folgende Zitat veranschaulicht Coopers Interpretation des Verhältnisses von Vernunft und Begierde: »Aristotle holds that reason controls them not just by getting them to follow its directions (somehow or other) but by persuading them: the ideal is to persuade the nonrational desires to obey. Now this persuasion is only possible because the very same terms in which reason thinks about the circumstances of action and about the relative values of things in the world in general, are also employed by each of the types of nonrational desire as well« (Cooper 1998, S. 245). Es ist auffällig, dass Cooper eine Sprache benutzt, die stark von der kognitiven Kategorie der »persuasion« geprägt ist. In der Tat spricht Aristoteles ab und zu von »überzeugen« (peithō) oder »überzeugt werden« (peithesthai), wenn er die Beziehung zwischen den Seelenteilen behandelt (vgl. NE I 13, 1102b26, 33). Ich bin aber der Ansicht, dass diese Ausdrücke von ihm eher metaphorisch bzw. bildlich gemeint sind. Cooper dagegen interpretiert sie wörtlich und schreibt infolgedessen diesen Seelenteilen eine zum Teil gemeinsame Struktur mit der Vernunft zu, verkennt aber dabei etwas Wichtiges: »Cooper overlooks the ambiguity of the notion of persuasion, and particularly the fact that we may be persuaded to do something without understanding why whatever we are persuaded about is to be done« (Grönroos 2007, S. 259).

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die jedem Seelenteil zukommen würden, voneinander zu unterscheiden. Es wäre äußerst seltsam zu behaupten, dass dieser Seelenteil die Anweisungen der Vernunft nicht versteht, oder dass er von ihnen nicht überzeugt wird, wenn wir den Vernunftanweisungen zuwider handeln. Das würde implizieren, dass der an Vernunft teilhabende Seelenteil die Fähigkeit haben würde, die Anweisungen zu beurteilen und sich selbst Meinungen zu bilden. Es sieht so aus, als wäre diesem Seelenteil eine Fähigkeit zugeschrieben worden, die ihm im strikten Sinne des Wortes nicht zusteht. Damit wird Cooper der unumstößlichen Tatsache nicht gerecht, dass Aristoteles diesen Seelenteil als alogos bezeichnet, was nicht bedeutet, dass er irrational ist, sondern lediglich, dass dieser Seelenteil keinesfalls diskursiv sein kann. Die Interpretationsstrategie von Grönroos (2007) scheint mir in dieser Hinsicht erfolgreicher zu sein, da er sich rigoros an die aristotelische Unterscheidung hält und infolgedessen versucht, die Beziehung der Seelenteile zueinander im Sinne von Autorität zu erklären, wobei er das Beispiel, das Aristoteles selbst in diesem Kontext gebraucht (siehe NE I 13, 1103a3–4), fruchtbarer macht als Cooper. Seiner Interpretation zufolge gehorcht dieser Seelenteil den Anweisungen der Vernunft nicht, weil er sie im strengen Sinn des Wortes beurteilen bzw. verstehen kann, sondern weil er gut trainiert und disponiert ist, um den Anweisungen zu folgen, wenn die Vernunft ins Spiel kommt und von ihr bestimmte Handlungsleitfäden zur Verfügung gestellt werden. So wie ein Kind nicht den Anweisungen seines Vaters folgt, weil es sie verstehen kann, sondern wegen dessen Autorität, kann dieser Seelenteil gehorchen, weil er direkt von der Autorität der Vernunft angesprochen wird. Man könnte dieser Interpretation möglicherweise vorwerfen, dass der Begriff von »Autorität« verstanden werden müsste, um sich der Vernunft unterwerfen zu können. Aber hier ist eher gemeint, dass die Anweisungen der Vernunft eine intrinsische motivationale Kraft besitzen und insofern von diesem Seelenteil nicht hinterfragt werden können. Wenn der begehrende Seelenteil für sich allein das Handeln bestimmt, verkennt er die Autorität der Vernunft, ohne dass er über Gründe verfügt, um sein Handeln rechtfertigen zu können, denn er ist, wie gesagt, kein diskursives Denkvermögen. Der begehrende Seelenteil kann entweder die erforderliche Sensibilität gegenüber den Anweisungen der Vernunft durch Gewöhnung entwickeln – d. h., er kann trainiert werden, damit er sich nicht zu einer gewissen Handlung beeilt, ohne dass die Vernunft vorab Ethos und Praxis

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überlegt und festgestellt hat, dass man in der Tat so handeln soll –, oder er kann die rationalen Gründe zum Handeln außer Acht lassen und sich unmittelbar andersgearteten bzw. instinktiven Motivationen hingeben. Die verschiedenen Begierden können mit der Vernunft in harmonische Übereinstimmung gebracht werden, aber das wird in jedem Fall davon abhängen, inwieweit es dem Akteur gelungen ist, die für eine gute Lebensführung notwendigen Gewohnheiten zu erwerben. Der Erfolg der Habituationsprozesse bei der Erziehung eines Menschen wäre folglich der Beweis dafür, dass die Affekte sich in der Tat von der Vernunft leiten lassen, insofern diese ihre Autorität durch ständige und wiederholte Tätigkeit durchsetzt. Nur bei einem tugendhaften Akteur, der sich diese Verhaltensweisen angeeignet hat, kann die Vernunft in jedem Fall als ein authentisches überlegendes Vermögen (to logistikon) (NE VI 2, 1139a14) oder als praktisches Denken angesehen werden (vgl. NE VI 2, 1139a27). Im Wesentlichen scheint mir diese Interpretation richtig zu sein. Mit ihrer Hilfe lassen sich besondere Probleme bewältigen, die durch andere Deutungen kaum oder nur schwer zu lösen sind. Darüber hinaus kann man m. E. mit dieser Interpretation einen gewissen methodologischen Pragmatismus in den Vordergrund stellen, den Aristoteles hier zu betreiben scheint. An verschiedenen Stellen sagt Aristoteles, dass man nur die Genauigkeit (akribeia) in der Argumentation fordern kann, die der Untersuchungsgegenstand erlaubt (vgl. NE I 1, 1094b25, 8, 1098b1–4), und gerade wenn er bei der Diskussion über den gegen die Vernunft resistenten Seelenteil behauptet, »in welchem Sinne es verschieden sei, spielt keine Rolle«, 112 führt er folgenden Gedanken ins Feld: Die Praxis selbst zeigt uns, dass es einen solchen Widerstand zwischen den Seelenteilen geben kann, und wir müssen sowohl mit dieser Tatsache als auch mit den von ihr abgeleiteten Problemen zurechtkommen, indem wir die Charakterzüge entfalten, die uns befähigen werden, diesen Widerstand zu überwinden. Nur dadurch lässt sich erwarten, dass wir gute Handelnde werden, die über geschulte Affekte verfügen und mit ihren Motivationen vernünftig umgehen können. Eine andere Stelle, die für diese »pragmatische« Rechtfertigung spricht, ist diejenige, an der Aristoteles das Folgende behauptet: »Dass das Vernunftlose auf gewisse Weise der Vernunft gehorcht, zeigt sich in unserer Praxis des Ermahnens und

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πῶς δ’ ἕτερον, οὐδὲν διαφέρει (NE I 13, 1102b25).

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in allen Arten des Tadelns und Ermutigens.« 113 D. h., diese Praktiken würden nicht sinnvoll bzw. erklärbar, wenn ihnen nicht diese seelischen Vorgänge zugrunde lägen. Diese kontraintuitive These ist etwas, was Aristoteles einfach nicht in Kauf nehmen kann. Keine weiteren theoretischen Bemühungen scheinen ihm notwendig, um seine Position weiter zu begründen. Die oben genannte Diskussion bringt uns zum Thema des Charakters zurück, denn Aristoteles bringt an dieser Stelle zum ersten Mal in der NE die Figuren des Beherrschten (enkratēs) und des Unbeherrschten (akratēs) explizit ins Spiel, die er im Buch VII behandeln wird. Ohne zuvor über ihre spezifische Beschaffenheit gesprochen zu haben, führt Aristoteles diese Charaktere ins Feld und bemerkt, wie die verschiedenen Seelenteile bei beiden Figuren agieren, um eine Handlung hervorzubringen. Er vergleicht die Seele des Unbeherrschten mit den Bewegungen der gelähmten Glieder eines Körpers (siehe NE I 13, 1102b18–20). So wie die Glieder eines Körpers bestimmte Bewegungen nicht durchführen können, weil sie durch Krankheit oder ähnliche Umstände verhindert sind, kann der Unbeherrschte keine guten Handlungen vollbringen, weil es zwischen seinen Seelenteilen eine Spannung gibt, die verursacht, dass er wider besseres Wissen agiert. Während sich diese Schwierigkeiten bei der Bewegung eines Körpers beobachten lassen, ist dies in Bezug auf unbeherrschtes Handeln nicht möglich, denn es handelt sich hier um seelische Vorgänge, die nur begrifflich zu erfassen und zu rekonstruieren sind. Es ist aber davon auszugehen, dass in diesem Fall etwas Ähnliches geschieht; sonst könnten wir uns nicht vorstellen, dass jemand wider sein besseres Wissen handeln würde. Im Unterschied dazu haben wir ein Bild vom Beherrschten, nach dem »er in allem mit der Vernunft übereinstimmt«. 114 Damit zeigt sich, dass die menschlichen Akteure nach einer solchen einheitlichen Seelenverfassung streben müssen, um so handeln zu können, wie es von einem ethischen und zurechnungsfähigen Subjekt erwartet bzw. gefordert wird. Aristoteles stellt eine enge Verbindung her zwischen der inneren seelischen Verfassung des Menschen und den unterschiedlichen Charaktertypen, die ein Individuum haben kann, je nachdem welche Haltungen er erworben hat. Er hat zu diesem Zeitpunkt noch nicht erὅτι δὲ πείθεταί πως ὑπὸ λόγου τὸ ἄλογον, μηνύει καὶ ἡ νουθέτησις καὶ πᾶσα ἐπιτίμησίς τε καὶ παράκλησις (NE I 13, 1102b34–35). 114 πάντα γὰρ ὁμοφωνεῖ τῷ λόγῳ (NE I 13, 1102b28). 113

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klärt, was genau diese Haltungen sind, die ein Mensch haben soll, um die Spannung der Motivationen zu vermeiden, die dem Wesen eines Unbeherrschten innewohnt. Der Übergang zu dieser besonderen Problematik, die er im zweiten Buch ausführlich diskutiert, wird mit diesen wichtigen Betrachtungen vorbereitet. An diesem Punkt lässt sich aber schon etwas Bedeutsames feststellen: Ein Mensch wird einen guten Charakter nur unter der Voraussetzung entwickeln können, dass es ihm gelungen ist, seine Affekte und Emotionen durch die Vernunft zu steuern. Unsere Bemühungen sollten nach Aristoteles auf die richtige Entfaltung unserer natürlichen Fähigkeiten und Talente ausgerichtet sein. Je nach dem besonderen Verhältnis, das die Seelenteile eines Menschen zueinander haben, werden wir ihm einen guten bzw. schlechten Charakter zuschreiben können. Gewiss sind noch andere wichtige Aspekte in Erwägung zu ziehen, um ein vollständiges Bild des komplexen Charakterbegriffes darstellen zu können. Aber m. E. lässt sich bereits an diesem frühen Punkt unserer Argumentation behaupten, dass die anderen Fähigkeiten, Anlagen und Tugenden, die mit dem ēthos direkt zusammenhängen, sich auf diesen grundwichtigen Aspekt der Seelenlehre stützen, denn nur so kann in dem aristotelischen Modell die Handlungsfähigkeit des Menschen verstanden werden. Die Handlungen, die jeder im Laufe seines Lebens vollziehen wird, werden nach Aristoteles eine besondere Wirkung auf die innere Struktur der eigenen Seele haben. Dies ist nämlich ein Kernstück unserer ethischen Identität als Handelnde, das all unsere Entscheidungen und Bemühungen maßgeblich prägt. Daher überrascht es nicht, dass Aristoteles gerade diese Betrachtungen anstellt, bevor er das Thema der Habituation ausführlich zu analysieren beginnt. Und diesem Thema werden wir im folgenden Kapitel großenteils unsere Aufmerksamkeit widmen.

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Kapitel II Das ēthos als eine Gesamtheit von Haltungen

§ 3 Die Hauptbestimmungen des Habituations- und des Tugendbegriffes 3.1 Drei Ebenen in der Analyse des ēthos Bisher haben wir verschiedene Punkte und Thesen diskutiert mit der Absicht, die geschichtlichen und philosophischen Grundlagen der aristotelischen Auffassung des ēthos in den Vordergrund zu stellen. Es liegt aber auf der Hand, dass der Kern des aristotelischen Charakteransatzes nur anhand des Habituationsbegriffes richtig zu behandeln und zu verstehen ist. Wie wir schon bemerkt haben, behaupten sowohl Platon als auch Aristoteles, dass es einen engen Zusammenhang zwischen Charakter und Gewöhnung gibt, der nicht nur in etymologischer, sondern vor allem in begrifflicher Hinsicht äußerst relevant ist. Unter Berücksichtigung dieses Zusammenhanges ist es beiden Philosophen gelungen, eine höchst interessante Theorie über die innere Konstitution des Menschen zu entwickeln. Gerade aus diesem Grund gilt die Habituation für sie – und insbesondere für Aristoteles – als ein zentraler Prozess in der Gestaltung unserer unterschiedlichen Vermögen, Dispositionen und Talente. Kurz gesagt: Die Rede über das ēthos bei Aristoteles kann nur mit Hinblick auf seinen Habituations- bzw. seinen Tugendbegriff erfolgen. Bevor wir aber auf dieses Thema tiefer eingehen, ist es angebracht, eine Einteilung einzuführen, anhand derer wir den folgenden Argumentationsgang aufbauen werden. Es handelt sich um eine Einteilung bezüglich der verschiedenen Charakterebenen, die m. E. von Aristoteles berücksichtigt werden, wenn er die innere Konstitution des Menschen in unterschiedlichen Kontexten behandelt. 1 In dieMeines Wissens war Mary Whitlock Blundell die erste Autorin, die diese drei Ebenen des ēthos bei Aristoteles ausdrücklich voneinander unterschieden hat (1992). Sie

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se Ebenen, die wir lediglich aus pragmatischen Gründen so benannt haben, lassen sich meiner Meinung nach die aristotelischen Thesen bezüglich des ēthos angemessen einordnen. Die drei Ebenen, die wir hervorheben wollen, sind die folgenden: 1) Das natürliche ēthos: Das ēthos wird von Aristoteles oft als die Veranlagungen und Dispositionen verstanden, die wir durch die Natur bzw. unsere physiologische Konstitution erworben haben. Daran schließen sich verschiedene Thesen und Grundgedanken aus den zoologischen Abhandlungen an. 2) Das ēthos als ein Komplex von Haltungen: 2 Von diesem Gesichtspunkt aus ist das ēthos als die Gesamtheit aller charakterlichen Tugenden zu erfassen, die wir durch verschiedene auf die Praxis bezogene Lernprozesse erworben haben und die ihren Sitz in dem der Vernunft gehorchenden bzw. dem zu habitualisierenden Seelenteil haben. Dies ist die Hauptebene der Habituation und der Mesoteslehre. 3) Das ēthos im Verhältnis zur dianoia: 3 Das ēthos wird durch seinen Zusammenhang mit unserem Deliberationsvermögen behat dies jedoch in einem Aufsatz gemacht, im Rahmen dessen sie sich der Frage gewidmet hat, wie der Zusammenhang zwischen ēthos und dianoia bei den tragischen Figuren, die von Aristoteles in der Poet. beschrieben und analysiert werden, zu verstehen ist. Für diese Aufgabe hat sie von verschiedenen Textstellen der NE Gebrauch gemacht, aber ihre Absicht war keinesfalls, eine solche Einteilung zu verwenden, um die Konstitution eines Akteurs in der aristotelischen praktischen Philosophie zu erläutern. Indem wir diese Einteilung für unsere Zwecke fruchtbar machen, denken wir, dass wir ihre systematische Bedeutung beträchtlich erweitern. Darüber hinaus sind wir durch den Umfang unserer Untersuchung in einer besseren Lage, mehrere Argumente anzuführen, um die Plausibilität dieser Position besser zu begründen und die verschiedenen Verhältnisse, in denen diese Ebenen zueinander stehen, näher zu bestimmen. 2 Ich übernehme diese Formulierung von Rese: »Der Charakter kann als ein Komplex von Haltungen betrachtet werden, da die verschiedenen ethischen Tugenden alle dem Charakter zugeordnet werden können und von Aristoteles formal als Haltungen bestimmt werden« (Rese 2002, S. 69). Siehe auch Vigo: »Der Charakter (ēthos) als Totalität der im Sein des Subjekts tief verwurzelten ethischen hexeis drückt diese Identifikation und Konnaturalität aus, welche die durch Gewöhnung verinnerlichten und konsolidierten Verhaltensmodelle und Wertstandards auszeichnet« (Vigo 1996, S. 190). 3 Blundell unterscheidet zwischen einem breiten und einem engen Verständnis des ēthos. In Bezug auf das Letztere, welches der dritten Ebene unserer Einteilung entspricht, behauptet sie Folgendes: »Correct prohairesis and complete (as opposed to ›natural‹) excellence of ēthos require the cooperation of phronēsis with excellence of ēthos (in the narrow sense). So in addition to the narrow usage most characteristic of

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stimmt. Je nachdem, ob das ēthos im Einklang mit dem vernünftigen Seelenteil ist, kann dem Akteur ein guter bzw. schlechter Charakter zugeschrieben werden. Von diesem Standpunkt aus erstellt Aristoteles die Typologie der verschiedenen Handlungsakteure (spoudaios, enkratēs, akratēs, usw.). Es muss zunächst etwas über diese Einteilung gesagt werden. Sie könnte vielleicht den Eindruck erwecken, dass Aristoteles ganz unterschiedliche Auffassungen gehabt habe, was das ēthos sei, die nicht notwendigerweise etwas miteinander zu tun haben, aber durch unsere Analyse wollen wir argumentieren, dass alle diese Aspekte im Grunde ein einziges ēthos ausmachen. Es wird in unserer Studie der Versuch unternommen zu zeigen, dass Aristoteles eine höchst einheitliche Konzeption des ēthos gehabt hat, die aber wegen ihrer intrinsischen Komplexität aus verschiedenen Gesichtspunkten heraus behandelt und bearbeitet wird. Selbst wenn er sich auf eine dieser Ebenen konzentriert, lässt Aristoteles nicht das umfangreichere theoretische Gebilde außer Sicht, in welches sich seine verschiedenen Betrachtungen einbetten lassen. Die schwierigen Fragen, die bezüglich dieser Ebenen entstehen können und mit denen wir uns großenteils in den weiteren Schritten unserer Untersuchung beschäftigen werden, beziehen sich eher auf konkrete Aspekte der Verhältnisse, in denen diese drei Stufen zueinander stehen. In unserem vorherigen Kapitel haben wir vor allem über die erste Ebene gesprochen, nämlich als wir das ēthos im Kontext der zoologischen Schriften behandelt haben. 4 Mehr oder weniger haben wir auch etwas über die anderen Ebenen gesagt, als wir die Antezedenzien der aristotelischen Position und eigene Aspekte des ersten Buches der NE untersucht haben. Aber erst im Kontext der Diskussion über die charakterlichen Tugenden kann man sich ein genaueres Bild von der Komplexität seines Ansatzes machen, da die aristotelische Auffassung des ēthos auf der Seelenlehre beruht, die in NE I 6 und 13 zu finden ist, auf welche wir im letzten Abschnitt eingegangen sind. Aus diesem und anderen methodologischen Gründen haben wir bis zu diesem Augenblick gewartet, um diese Einteilung einzuführen, da die interpretatorischen Vorteile, die wir durch sie gewinnen werthe Ethics, there is a broader sense of ēthos which involves the intellectual excellence of phronēsis« (Blundell 1992, S. 156). 4 Diese Stufe wird aber in diesem Kapitel nochmals relevant sein, wenn wir im nächsten Abschnitt dieses Kapitels auf die physikai aretai zu sprechen kommen. Ethos und Praxis

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den, an dieser Stelle noch fruchtbarer für unsere Lesart gemacht werden können. Es gibt einen weiteren Grund, der dafür spricht, mithilfe dieser Einteilung unser Thema anzugehen. Es gibt einige Textstellen, die zur Überzeugung führen könnten, Aristoteles habe ein eng begrenztes Verständnis des ēthos gehabt. Man denke vor allem an die Definition des ēthos, die in der EE zu finden ist. Sie lautet wie folgt: »Der Charakter ist eine Beschaffenheit des irrationalen Seelenteils, die in der Lage ist, nach Maßgabe des befehlenden Rationalen dem Rationalen zu folgen.« 5 Dies ist die einzige Passage im ganzen aristotelischen Korpus, in der wir ausdrücklich eine Definition des Charakters finden. Isoliert genommen könnte diese Definition so interpretiert werden, als ob die Rolle des Charakters nur darin bestünde, diese Leistung zu erbringen. Aber wir haben zumindest in Bezug auf das natürliche ēthos schon gesehen, dass Aristoteles auch andere Dinge unter diesem Terminus versteht. Die Verfassung, die ein Lebewesen von Natur aus besitzt, ist auch von Aristoteles als eine Art von ēthos erfasst, und es ist offensichtlich, dass diese Definition diesen wichtigen Aspekt zumindest nicht ausdrücklich miteinzuschließen scheint. Das gibt uns Anlass genug, unsere Lesart nicht nur darauf beruhen zu lassen. Aber wir werden sehen, dass auch eine sorgfältige Analyse der Natur der ethischen Tugend zum Ergebnis führt, dass das ēthos selbst, verstanden als ein Komplex von Haltungen, keinesfalls eine bloß passive Dimension unseres Selbst ausmacht. Es ist wohl wahr, διὸ ἔστω hτὸi ἦθος τοῦ [το] hἀλόγουi ψυχῆς, κατὰ ἐπιτακτικὸν λόγον δυναμένου [δ’] ἀκολουθεῖν τῷ λόγῳ ποιότης (EE II 2, 1220b5–7, nach der Lesart von Dirlmeier). Es muss aber angemerkt werden, dass Dirlmeier und andere Kommentatoren wie Ross und Arnim diese Textstelle für verdorben halten und sie als ein Anakoluth lesen (vgl. Dirlmeier 1984, S. 239–242). Andererseits bemerkt Dirlmeier in Bezug auf die vorherigen Zeilen (EE 1220a39–1220b5), dass das ēthos hier als ein passives Element unseres Selbst verstanden werden könnte: »Wenn das ēthos durch Gewöhnung entwickelt wird, dies aber so viel ist wie Bewegtwerden (nicht ›irgendwie‹ bewegt, sondern pōs, d. h. in einer qualifizierten Weise, nicht heute so und morgen anders, sondern immer in der gleichen Richtung), so scheint das ēthos zunächst etwas Passives zu sein, ein kinetēton kinoumenon« (Dirlmeier 1984, S. 240). Und später behauptet er in Bezug auf unsere Textstelle: »In der Tat erscheint das ēthos jetzt als kinoumenon, da ja das kinoun, nämlich der nicht angeborene befehlende Logos genannt ist, und das Energetische des ēthos steckt in dem Folgenkönnen. Aristoteles spricht nirgends ausdrücklich davon, dass dieses Folgen nicht ein passives Gezogenwerden ist, sondern eine aktive Leistung, aber es liegt der Gesamtauffassung von Tugend überall zugrunde; er hätte andernfalls das ēthos nicht zur Basis der energeia psychēs machen können« (Dirlmeier 1984, S. 241).

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dass ein gut habitualisiertes ēthos den Anweisungen der Vernunft folgt und eine spezifische Einheit mit ihr bildet, aber die verschiedenen Motivationen zum Handeln werden großenteils vom Charaktertyp bestimmt, den man jeweils hat. Die Entstehung einer Handlung im aristotelischen Modell ist nicht zu erklären, ohne Rücksicht auf die verschiedenen Ziele zu nehmen, die von unserem Charakter gesetzt werden. Deshalb ist es für eine angebrachte Rekonstruktion des aristotelischen ēthos wichtig, einen Interpretationsraum zu schaffen, in dem andere wichtige Implikationen seiner Theorie ihren Platz finden können, und ich bin der Ansicht, dass sich eine solche Aufgabe anhand der obigen Einteilung besser erfüllen lässt. Wie wir sehen werden, ergibt sich als eine natürliche Konsequenz der aristotelischen Grundthesen, dass man dem ēthos auch aktive Funktionen zuschreiben muss. Dass das tatsächlich so ist, ist m. E. schon auf der zweiten Ebene des ēthos zu spüren, und mit ihr werden wir uns hier hauptsächlich auseinandersetzen. Ein weiterer Punkt aber, auf den wir zunächst kurz hinweisen müssen, um einen möglichen Einwand gegen unsere Interpretation zu entkräften, betrifft den Zusammenhang zwischen der zweiten und der dritten Ebene des ēthos. Denn man könnte behaupten, Aristoteles sei der Ansicht, dass das ēthos und die dianoia sich unabhängig voneinander bestimmen ließen. In der Tat ist das Gegenteil der Fall: Durch die ständige wechselseitige Wirkung von Intellekt und Charakter werden diese Seelenteile entwickelt und geformt. Das ist eine These, die wir keinesfalls zu bestreiten versuchen und in unserer Studie als richtig annehmen. Beide Vermögen müssen als Teile einer einzigen Seele betrachtet und begriffen werden. Wie wir aber bemerkt haben, konzentriert sich Aristoteles in seiner Herangehensweise zunächst klar auf die Dimension des zu habitualisierenden Seelenteils, und nur in einem späteren Schritt, wenn er die verschiedenen intellektuellen Tugenden im sechsten Buch der NE behandelt, 6 wird von ihm auf eine noch sorgfältigere Weise das Verhältnis thematisiert, in dem diese Seelenteile zueinander stehen. Dies zeigt, dass Aristoteles selbst es für angebracht hielt, diese Analyse in zwei Momenten durchzuführen, ohne dabei die These zu vertreten, diese zwei Seelenteile existierten isoliert oder separat voneinander. Gerade aus Aus praktischen Gründen werden wir uns in unserer Studie auf die drei gemeinsamen Bücher, die die beiden aristotelischen ethischen Traktate enthalten (NE V–VII und EE IV–VI), als Teile der NE beziehen.

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diesem Grund ist es ihm besser gelungen, diverse Aspekte dieser Thematik gründlicher anzusprechen. Mit anderen Worten: Es handelt sich um eine Unterscheidung, die auf einer begrifflichen Ebene gemacht und für die Zwecke der philosophischen Theorie eingeführt wird, die aber keinesfalls beansprucht, eine scharfe ontologische Demarkation in der Realität nach sich zu ziehen. Deswegen ist es auch klar, dass, selbst wenn man sich auf diese zweite Ebene konzentriert, wie Aristoteles selbst es im zweiten Buch der NE tut, man nicht die Tatsache aus den Augen verlieren darf, dass das ēthos sich letztlich nur in seinem konkreten Zusammenhang mit der Vernunft vollkommen entfaltet und verstehen lässt. In enger Verbindung mit unserem Thema steht, wie gesagt, die aristotelische Auffassung der ethischen Tugend. Dies ist zweifellos eine der Thematiken in der Aristoteles-Forschung, die am meisten analysiert und untersucht worden ist, und es wäre eine unmögliche Aufgabe, allen Aspekten der aristotelischen Tugendtheorie gerecht zu werden. Daher werden wir unsere Rekonstruktion mit zwei besonderen Zielen im Blick durchführen. Einerseits wollen wir die Natur der ethischen Tugenden als Bestandteile des ēthos erörtern. Wenn das ēthos als ein Komplex von verschiedenen Haltungen verstanden werden muss, dann ist es eine notwendige Aufgabe, zu bestimmen, in welchem Zusammenhang diese Haltungen zueinander stehen und in welcher Hinsicht es möglich ist, sie als eine Art von psychischer Einheit zu begreifen, da sie zu demselben Seelenteil gehören und ihn auf eine entscheidende Weise gestalten. Wenn man außerdem die These in Betracht zieht, dass man keine charakterliche Tugend besitzen kann, ohne zugleich alle anderen zu haben (siehe NE VI 13, 1144b32–1145a2), ist es sogar noch deutlicher, dass die Erörterung dieser Frage von großer Bedeutung für ein adäquates Verständnis der aristotelischen Ethik ist. Die verschiedenen Voraussetzungen, die diesem aristotelischen Kerngedanken zugrunde liegen, sollen mit unserer Analyse in den Vordergrund gestellt werden. Andererseits wollen wir der in letzter Zeit kontrovers diskutierten Frage nachgehen, inwiefern die ethische Tugend kognitiv aufgeladen ist, sodass wir die Natur des ēthos als Träger der charakterlichen Tugenden verstehen können. Kommentatoren wie z. B. Jessica Moss, Deborah Achtenberg, Henrik Lorenz und Carlo Natali haben divergierende Ansichten darüber, inwiefern die ethische Tugend durch die Vernunft gestaltet und gebildet wird. Ich halte es für wichtig, Bezug auf diese Debatte zu nehmen, da die Frage nach der Natur des ēthos von dieser Frage maß110

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geblich abhängt. Außerdem denke ich, dass man in dieser Debatte oftmals einen Punkt nicht mitberücksichtigt hat, mit dem wir uns hier prinzipiell auseinandersetzen wollen, nämlich das Verhältnis der ethischen Haltungen zueinander als eine Gesamtheit. Indem man diesen Aspekt sorgfältiger betrachtet, ist es m. E. möglich, überzeugende Argumente anzuführen, um die Interpretationslinie zu verteidigen, laut der die ethische Tugend in einem wichtigen Maß kognitiv aufgeladen ist. Bevor wir uns damit beschäftigen, werden wir einige allgemeinere Bemerkungen über die Natur der Habituation machen, die den Weg für unsere spätere Diskussion bahnen sollen. Damit wollen wir aber schon bestimmte Thesen präsentieren und diskutieren, die sich für unsere Lesart als zentral erweisen werden.

3.2 Die Gattungsbestimmung der Tugend als hexis Aristoteles unterscheidet am Anfang des zweiten Buchs der NE zwischen den charakterlichen und den intellektuellen bzw. dianoetischen Tugenden. Dafür beruft er sich auf die Einteilung von den verschiedenen Seelenteilen, die im ersten Buch eingeführt wird. Diese zwei Tugendarten stehen im Mittelpunkt des Interesses und Aristoteles wendet sich der Aufgabe zu, im Laufe seiner Untersuchung beide ausführlich zu erörtern. Zunächst werden aber die charakterlichen Tugenden von ihm behandelt, und man kann annehmen, dass Aristoteles so verfährt, weil die Habituation die grundlegende Bedingung für die sittliche Entfaltung des Menschen ist. In der Tat ist eine der wichtigsten Charakteristika des Menschen seine Fähigkeit, durch seine Tätigkeiten verschiedene Dispositionen zu internalisieren, die ein wesentlicher Bestandteil seiner eigenen Natur werden können. Dies ist zweifelsohne ein entscheidender Faktor für die Möglichkeit einer praktischen Philosophie überhaupt. Der Kontrast, den Aristoteles macht, zeigt deutlich diesen Punkt. Naturgegenstände wie das Feuer oder der Stein sind nicht imstande, ihre Beschaffenheit zu verändern und sich anders zu bewegen (vgl. NE II 1, 1103a19–23). Nur durch äußere Gewalt kann eine Bewegung in diesen Gegenständen, die ihnen zuwider ist, bewirkt werden, was keinesfalls zu einer Modifizierung ihrer Natur führt. Beim Menschen ist es aber ganz anders: Es ist uns Menschen eigentümlich, Dispositionen durch das Handeln zu entwickeln. Dadurch, dass unsere Fähigkeiten und Talente in verschiedene Richtungen gelenkt werden können, müssen sie durch die Ethos und Praxis

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entsprechenden Betätigungen zu ihrer angemessenen Entfaltung und Reife gebracht werden. Aristoteles ist der Ansicht, dass die Art und Weise, durch welche dieses Ziel erreicht wird, im Fall des Menschen durch Habituationsprozesse bzw. Charakterformung erfolgt. Deshalb kann man vermuten, dass, wenn wir nicht habituationsfähig wären, es unmöglich wäre, sittlich zu handeln, geschweige denn eine Disziplin zu betreiben wie diejenige, die Aristoteles hier konzipiert. 7 Im zweiten Buch der NE unternimmt Aristoteles viele Bemühungen, um zu zeigen, worin diese Habituationsprozesse bestehen und was ihr Zusammenhang mit der Tugend ist. Bekanntlich erklärt er, »dass die Tugenden in uns weder von Natur aus noch gegen die Natur entstehen. Vielmehr sind wir von Natur aus fähig, sie aufzunehmen, und durch Gewöhnung werden sie vollständig gebildet.« 8 Aber einige Präzisierungen müssen von vornherein gemacht werden um diese These richtig zu begreifen, da sie oft Missverständnisse erregt. Es ist vor allem wichtig, die Interpretation zu vermeiden, dass Habituationsprozesse etwas Mechanisches sind und mit technischen Vorgängen, in denen ein Ziel allein durch die Durchführung festgestellter Schritte erreicht wird, gleichgesetzt werden können. 9 Für Der Autor der Magna Moralia hebt diesen Punkt so sehr hervor, dass er sogar behauptet, die Untersuchung des Charakters sei einer der wesentlichsten Teile der politischen Wissenschaft: »Da wir uns vorgenommen haben, über Dinge im Zusammenhang mit dem Charakter zu sprechen, müssen wir zuerst sehen, wovon der Charakter ein Teil ist. Um knapp zu reden, ist der Charakter wohl einfach ein Teil der Politik. Denn man kann in Staatsangelegenheiten nicht handeln, wenn man nicht auf bestimmte Art beschaffen ist, nämlich gut ist. Gut sein heißt aber, die Tugenden besitzen. Wenn man daher in Staatsangelegenheiten erfolgreich handeln will, muss man einen guten Charakter haben. Die Behandlung des Charakters ist daher, wie es scheint, ein Zweig und der Ausgangspunkt der Politik. Und insgesamt scheint mir, der Gegenstand sollte nicht Ethik, sondern richtiger Politik heißen« (Ἐπειδὴ προαιρούμεθα λέγειν ὑπὲρ ἠθικῶν, πρῶτον ἂν εἴη σκεπτέον τίνος ἐστὶ μέρος τὸ ἦθος. ὡς μὲν οὖν συντόμως εἰπεῖν, δόξειεν hἂνi οὐκ ἄλλης ἢ τῆς πολιτικῆς εἶναι μέρος. ἔστι γὰρ οὐθὲν ἐν τοῖς πολιτικοῖς δυνατὸν πρᾶξαι ἄνευ τοῦ ποῖόν τινα εἶναι, λέγω δ’ οἷον σπουδαῖον· τὸ δὲ σπουδαῖον εἶναί ἐστι τὸ τὰς ἀρετὰς ἔχειν· δεῖ ἄρα, εἴ τις μέλλει ἐν τοῖς πολιτικοῖς πρακτικὸς εἶναι, τὸ ἦθος εἶναι σπουδαῖος· μέρος ἐστὶν ἄρα, ὡς ἔοικε, καὶ ἀρχὴ ἡ περὶ τὰ ἤθη πραγματεία τῆς πολιτικῆς, τὸ δ’ ὅλον καὶ τὴν ἐπωνυμίαν δικαίως δοκεῖ ἄν μοι ἔχειν ἡ πραγματεία οὐκ ἠθικὴν ἀλλὰ πολιτικήν) (MM I 1, 1181a25–1182b28). 8 οὔτ’ ἄρα φύσει οὔτε παρὰ φύσιν ἐγγίνονται αἱ ἀρεταί, ἀλλὰ πεφυκόσι μὲν ἡμῖν δέξασθαι αὐτάς, τελειουμένοις δὲ διὰ τοῦ ἔθους (NE II 1, 1103a23–26). 9 Siehe beispielsweise die folgende Aussage über das zweite Buch der NE: »We need only compare the theory of virtue in this book with the discussions in the Meno of Plato, to see how immensely moral philosophy has gained in definiteness in the me7

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Aristoteles sind Habituationsprozesse nicht nur auf die Hervorbringung bestimmter Sachverhalte gerichtet, sondern vor allem auf eine gute Gestaltung der inneren Beschaffenheit des Handelnden. Sie betreffen sowohl die externe Natur der Handlungen als auch die psychische Lage des Akteurs. Deswegen unterscheidet Aristoteles die Tätigkeiten (energeiai), durch welche man auf eine gewisse Weise disponiert wird (ethos, ethismos), von den Haltungen bzw. Dispositionen (hexeis), die durch die Tätigkeiten in der menschlichen Seele zustande kommen (siehe NE III 5, 1112a21–b16, VI 2, 1139b5–11; EE II 10, 1226a21–32). Nur wenn die Handlung und der Handelnde selbst auf eine bestimmte Weise beschaffen sind, kann Aristoteles zufolge von einer wirklich gerechten Handlung die Rede sein. Deshalb erweist sich die innere Dimension der Habituationsprozesse als von großem Belang: Durch die Ausführung gewisser Tätigkeiten entstehen hexeis – ein abgeleitetes Wort von dem griechischen Verb echein –, die dem Handelnden den Weg dafür ebnen, in einer Pluralität von Szenarien angemessen zu agieren. Die Habituationsprozesse bestehen nicht aus einer bloßen Wiederholung von dem, was man mehrmals gemacht hat, sondern aus der adäquaten geistigen und emotionalen Vorbereitung für das erfolgreiche Streben nach diversen Gütern in vielfältigen Szenarien. Das Ergebnis der Gewöhnung ist keinesfalls eine einfache Umsetzung einseitiger Prozeduren, sondern die für ein gelingendes Leben optimale Befähigung, sittlich gute Ziele zu verfolgen, und zwar innerhalb von Kontexten, in denen man sich mit Zufälligkeiten, die die eigenen Projekte stets in Gefahr setzen können, auseinandersetzen muss. Es verwundert deshalb nicht, dass Aristoteles einen reichen Wortschatz entfaltet hat, um sich auf die unterschiedlichen Situationsvariablen zu beziehen, mit denen wir uns als praktische Akteure immer konfrontieren. Aspekte der Handlungen wie »wie« (hōs, pōs), »wann« (hote, pote), »womit« (hois, tini), »wie lange« (hoson, poson chronon), »wozu« (ou heneka, heneka tinos) werden von ihm ständig in Augenschein genommen (siehe NE II 2, 1104b21–23). 10 All diese Vaantime. While becoming definite and systematic, however, it had also to some extent become scholastic and mechanical […]. A mechanical theory is here given both of the intellect and the moral character, as if one could be acquired by teaching, the other by course of habits« (Grant 1885; zitiert in Sherman 1998, S. 231). 10 Andere Aspekte einer Handlung, die zu beachten sind, werden von Aristoteles im Buch III angesprochen, wenn er es sich zur Aufgabe macht, die zu berücksichtigenden Bedingungen zu bestimmen, um einem Handelnden Verantwortung zuzuschreiben. Ethos und Praxis

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riablen, die allgemein unter den griechischen Begriff der »Situation« (kairos) fallen (NE II 2, 1104a8), müssen immer von dem Akteur berücksichtigt werden, wenn er sich etwas vornimmt; und Aristoteles zufolge wird er nur imstande sein das zu tun, wenn er die entsprechenden guten Dispositionen dafür erworben hat. Die Wiederholung von gewissen Tätigkeitsarten bringt zwar bestimmte Dispositionen in uns hervor, aber sie beschränken sich ihrerseits nicht auf die ursprünglichen Kontexte, in denen sie erworben wurden. Eine Disposition kann auch eine Anwendung in Kontexten finden, die zwar Ähnlichkeiten mit den Kontexten haben, in denen die Disposition zustande gekommen ist, die aber auch beträchtliche Unterschiede aufweisen können. Die Szenarien, in denen wir agieren müssen, lassen oftmals einen Spielraum offen für Eventualitäten, die uns nötigen, anders als geplant zu handeln und neue Lösungen für unsere praktischen Probleme zu finden. Deshalb darf nicht davon ausgegangen werden, dass die Dispositionen eine beschränkte Bezogenheit auf den unmittelbaren Handlungsraum haben müssen, in dem sie erstmals entstanden sind. 11 In Ansehung dieser Gewöhnungsfähigkeit des Menschen charakterisiert Aristoteles die Gattung der Tugend als eine hexis. Er unterscheidet die hexeis von anderen seelischen Phänomenen wie den Vermögen (dynameis) und den Affekten (pathē), die zwar mit der Tugend zusammenhängen, die aber mit ihr keinesfalls zu identifizieren sind. Die Argumente, die er heranzieht um diese Gattungsbestimmung der Tugend zu begründen, sind mannigfaltig. In Bezug Dort werden die Person (tis), das, was getan wird (ti), der Bereich der Handlung (peri ti), die Realisierungsumstände (en tini), das Instrument (tini bzw. organon), das Handlungsergebnis (heneka tinos) und auch die Art und Weise der Handlung (hōs) als wichtige zu betrachtende Aspekte aufgelistet (siehe NE III 2, 1111a3–6). Diese Thematik wird von Vigo (1996, S. 84 ff.) gründlich behandelt. 11 In dieser Hinsicht stimmen wir mit der Deutung von Hardie überein: »We tend to label as habitual, or as merely habitual, activities which are performed without effort and also without attention and care. Actions which proceed from a hexis are effortless but careful and attentive. As in the case of an accomplished tennis player, the things which are done automatically are the basis of heedful performances at a higher level. Here virtue, as conceived by Aristotele, resembles the virtuosity of the accomplished games player or craftsman. Mere drill teaches a man to do the same thing in the same circumstances without attending to what he is doing; but virtuosity, like virtue, involves doing the appropriately different thing attentively in varying circumstances. The virtuous action is second nature and not against the grain; but it is not mechanical. The agent must have knowledge and must choose« (Hardie 1968, S. 104).

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auf die dynameis wird gesagt, dass wir nicht gelobt bzw. getadelt werden durch das, was uns die Natur gibt, sondern durch unsere eigenen Bemühungen und Strebungen. Die Praxis selbst zeigt uns, dass wir jemanden wegen seiner Verdienste und nicht wegen zufälliger Gaben der Natur hochschätzen und dass wir unter Tugend etwas verstehen müssen, was in unserer Macht steht. Ansonsten wären wir gezwungen, alle Menschen zu loben, egal ob sie etwas Verdienstliches gemacht haben bzw. ob sie ihre vermeintlichen Talente tatsächlich in Anspruch nehmen. Das Seh- und Hörvermögen z. B. sind durch unsere Natur vorhanden und es kommt dabei nur darauf an, sich ihrer zu bedienen, sodass sie ihre kennzeichnende Leistung erbringen können. Mit den Tugenden ist die Lage ganz anders, denn wir müssen durch unsere Handlungen erstmals nach ihnen streben, und nur nachdem wir sie erworben haben, können unsere Tätigkeiten als wirklich tugendhaft gelten. Die charakterlichen Tugenden erfordern eine gewisse Zeit für ihre Entfaltung, was eigentlich nicht zu denken wäre, wenn sie uns einfach als Naturgaben gegeben würden. Deswegen weigert Aristoteles sich, die Tugend unter die Gattung der dynameis fallen zu lassen. Um die Tugend von den Emotionen und Affekten zu unterscheiden, werden andere Argumente ins Feld geführt. Es ist oft der Fall, dass wir die Tugenden mit unseren Emotionen assoziieren, und zwar tun wir das mit gewissem Recht, da als seelische Phänomene beide sehr eng miteinander verbunden sind (vgl. NE II 2, 1104b13). 12 Aber Aristoteles stellt als solche keine Definition der pathē in seinem Werk bereit. An verschiedenen Stellen begnügt er sich damit, eine Liste von wichtigen Affekten, mit denen man im Prinzip immer schon vertraut ist, zu präsentieren: »Mit den Affekten meine ich Begierde, Zorn, Furcht, Mut, Neid, Freude, Liebe, Hass, Eifersucht, Mitleid, allgemeine Gefühle, die von Lust und Unlust begleitet werden« (λέγω δὲ πάθη μὲν ἐπιθυμίαν ὀργὴν φόβον θάρσος φθόνον χαρὰν φιλίαν μῖσος πόθον ζῆλον ἔλεον, ὅλως οἷς ἕπεται ἡδονὴ ἢ λύπη) (NE II 4, 1105b21–23; siehe auch DA I 1, 403a16–17). Allerdings ist es möglich, die Natur der Affekte anhand verschiedener Textstellen näher zu bestimmen. Es ist vor allem wichtig zu beachten, dass die Affekte keinesfalls als unvernünftig und willkürlich betrachtet werden sollen. Für Aristoteles haben sie klarerweise einen kognitiven Inhalt und eine konkrete Bezogenheit auf die verschiedenen Umstände und Situationen, mit denen wir uns jeweils konfrontieren. Sie enthüllen auch wichtige Aspekte der inneren Beschaffenheit des Subjekts, das sie empfindet: »Die Emotionen sind die Dinge, durch welche sich (die Menschen), indem sie sich verändern, hinsichtlich ihrer Urteile unterscheiden und welchen Lust oder Schmerz folgt, wie zum Beispiel Zorn, Mitleid, Furcht und was es sonst noch Derartiges gibt sowie die Gegenteile von diesen. Man muss aber bei jeder in dreierlei Hinsicht unterscheiden. Ich meine das wie zum Beispiel beim Zorn, in welchem Zu-

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sowohl schlechte als auch gute Menschen sind von Emotionen und Affekten betroffen, und Aristoteles ist nicht der Ansicht, dass wir es vermeiden sollten, gewisse Affekte zu empfinden, sodass wir von ihnen gar nicht bewegt werden und folglich gute Menschen werden können. Ausdrücklich betont er, dass die Tugenden nicht mit Affektlosigkeit (apatheia) oder Ruhe (ēremia) zu identifizieren sind (NE II 2, 1104b25–26). Gewiss dürfen wir uns nicht von den Affekten beherrschen lassen, aber das wahre Zeichen dafür, dass man tugendhaft ist, offenbart sich in dem besonderen Umgang, den wir mit den Affekten haben. Dieser Umgang wird seinerseits maßgeblich bestimmt von den Tätigkeiten, die wir im Laufe unseres Lebens ausgeführt und die unsere Seele auf eine gewisse Weise disponiert haben. Demzufolge wird über die Tugend gesagt, dass »sie […] einerseits durch die trefflichsten seelischen Bewegungen entsteht und andererseits von ihr her die trefflichsten Werke und Affektionen der Seele kommen.« 13 Daher zeigt sich, dass die Tugenden im Fall des guten Menschen einen Vorrang als seelische Phänomene haben, denn durch sie haben unsere Affekte eine gewisse Beschaffenheit. Durch die Tugenden werden die Affekte auf die richtige Weise, im richtigen Augenblick und aufgrund passender Dinge gefühlt. Mit anderen Worten:

stand sich die Zürnenden befinden, wem sie für gewöhnlich zürnen und aufgrund welcher Dinge. Wenn wir nämlich das eine oder zwei davon hätten, nicht aber alle, wäre es unmöglich, den Zorn hervorzubringen; ebenso aber auch bei den anderen (Emotionen)« (ἔστι δὲ τὰ πάθη δι’ ὅσα μεταβάλλοντες διαφέρουσι πρὸς τὰς κρίσεις οἷς ἕπεται λύπη καὶ ἡδονή, οἷον ὀργὴ ἔλεος φόβος καὶ ὅσα ἄλλα τοιαῦτα, καὶ τὰ τούτοις ἐναντία. δεῖ δὲ διαιρεῖν περὶ ἕκαστον εἰς τρία, λέγω δ’ οἷον περὶ ὀργῆς πῶς τε διακείμενοι ὀργίλοι εἰσί, καὶ τίσιν εἰώθασιν ὀργίζεσθαι, καὶ ἐπὶ ποίοις· εἰ γὰρ τὸ μὲν ἓν ἢ τὰ δύο ἔχοιμεν τούτων, ἅπαντα δὲ μή, ἀδύνατον ἂν εἴη τὴν ὀργὴν ἐμποιεῖν· ὁμοίως δὲ καὶ ἐπὶ τῶν ἄλλων) (Rhet. II 1, 1378a19–26). Andererseits haben sie sowohl eine psychische als auch eine körperliche Dimension. Folglich werden sie als »Begriffe in Materie« (logoi enhyloi) charakterisiert (DA I 1, 403a25). Aristoteles weist darauf hin, dass es irrig wäre, zu behaupten, dass nur die Seele zürne, weil eigentlich der Mensch als Ganzes die Emotionen empfindet (siehe DA I 4, 408b13 ff.). Aufgrund dieser Doppelnatur der pathē ist es möglich, sie aus zwei Standpunkten heraus zu analysieren, nämlich aus dem des Naturforschers und dem des Dialektikers (siehe DA I 1, 403a29 ff.), und es ist offensichtlich, dass man auf keinen dieser Aspekte verzichten kann, wenn man sie erforscht und Rechenschaft über sie ablegen will. Für detailliertere Diskussionen über die Affekte bei Aristoteles siehe Sherman (1994), Nussbaum (1996) und Krewet (2011). 13 καὶ ἡ ἀρετὴ ἄρα ἡ τοιαύτη διάθεσις ἐστίν, ἣ γίνεταί τε ὑπὸ τῶν ἀρίστων περὶ ψυχὴν κινήσεων καὶ ἀφ’ ἧς πράττεται τὰ ἄριστα τῆς ψυχῆς ἔργα καὶ πάθη (EE II 1, 1220a29–31).

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Durch die Tugenden werden die Affekte in Bezug auf die Situationsvariablen, die wir oben präsentiert haben, auf die richtige Weise empfunden. Da die Tugenden diese Bestimmungskraft auf die Empfindung und Wirkung der Affekte ausüben, ist es klar, dass die Gattung der Tugend nicht die pathē sein können. 14 Neben der grundlegenden Bestimmung der Tugenden, dass sie auf Extremen des Übermaßes (hyperbolē) und des Mangels (elleipsis) bezogen sind – ein Kernpunkt der Mesoteslehre, auf welche wir im nächsten Abschnitt zu sprechen kommen werden –, behauptet Aristoteles auch, dass die Tugenden in direktem Zusammenhang mit Lust (hēdonē) und Unlust (lypē) stehen. Lust wird von Aristoteles als etwas ganz Wesentliches erachtet, das nicht nur die Empfindung der Emotionen, sondern auch die Ausführung der Handlungen begleitet (siehe NE II 2, 1104b13–15). Deswegen behauptet er, dass wir aufgrund der Lust das Schlechte tun, aufgrund der Unlust aber das Gute unterlassen. Daher müssen wir, wie Platon sagt, sofort von klein auf in bestimmter Weise erzogen werden, so nämlich, dass wir bei denjenigen Dingen Lust und Unlust empfinden, bei denen man soll; das nämlich ist die richtige Erziehung. 15

Offensichtlich kann man die Bedeutsamkeit dieses Gedankens in der aristotelischen praktischen Philosophie kaum überschätzen. Nach dieser Textstelle sind Lust und Unlust die direkte Ursache davon, dass wir das Angebrachte in der Praxis nicht treffen können. Mit einer positiven Formulierung lässt sich behaupten, dass es nur dann, insofern der Akteur lernt, nach Lust und Unlust angemessen zu trachten, für ihn möglich sein wird, eine tugendhafte Lebensführung zu haben. Demzufolge wird in Anlehnung an Platon der richtige Umgang mit der Lust bzw. der Unlust mit der guten paideia gleichgesetzt. Ferner wird von Aristoteles behauptet, dass »die ganze Untersuchung sowohl der Tugend wie der Politik sich mit Lust und Unlust befasst«. 16 Dieser Punkt wird von Halper offensichtlich missverstanden, wenn er Folgendes bemerkt: »Here virtue is a state of the soul that is itself a mean because it is capable of finding and choosing the mean defined by reason. Since a »state« is the way we stand in relation to a passion (II 5, 1105b25–26), virtue is the tendency of the passions to accord with reason« (Halper 1999, S. 122). 15 διὰ μὲν γὰρ τὴν ἡδονὴν τὰ φαῦλα πράττομεν, διὰ δὲ τὴν λύπην τῶν καλῶν ἀπεχόμεθα. διὸ δεῖ ἦχθαί πως εὐθὺς ἐκ νέων, ὡς ὁ Πλάτων φησίν, ὥστε χαίρειν τε καὶ λυπεῖσθαι οἷς δεῖ· ἡ γὰρ ὀρθὴ παιδεία αὕτη ἐστίν (NE II 2, 1104b9–13). 16 ὥστε καὶ διὰ τοῦτο περὶ ἡδονὰς καὶ λύπας πᾶσα ἡ πραγματεία καὶ τῇ ἀρετῇ καὶ τῇ πολιτικῇ (NE II 2, 1105a10). 14

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Die Zentralität der Lust in der praktischen Philosophie ist so groß, dass es laut dieser Textstelle sogar möglich ist, zu sagen, diese ganze Disziplin setze sich primär mit diesen zwei Gegenständen auseinander. Die große Bedeutung von Lust und Unlust wird auch in Bezug auf die Tugend selbst hervorgehoben, wenn Aristoteles Folgendes schreibt: »So ist notwendigerweise die charakterliche Tugend auf die jeweilige Person bezogene Mitte und hat als Bereich jeweils ein bestimmtes Mittleres bei Lust und Unlust und bei Lust- und Unlustbringendem«. 17 Die wahren und richtigen Lüste werden mit der Mitte assoziiert, die die unterschiedlichen körperlichen und seelischen Zustände vervollständigen bzw. bewahren, während die schädigenden Lüste sich auf Extreme beziehen, die letztlich die Zerstörung unserer Dispositionen verursachen (vgl. NE II 2, 1104a10 ff.). 18 Es ist deshalb von einem Akteur zu erwarten, dass er die verschiedenen Lust- und Unlustarten zu unterscheiden lernt, sodass er sie in den konkreten Handlungskontexten identifizieren und entsprechend seinen Umgang mit ihnen vernunftgemäß orientieren kann. 19 ἀναγκαῖον ἂν εἴη τὴν ἠθικὴν ἀρετὴν καθ’ αὑτὸν ἕκαστον μεσότητα εἶναι καὶ περὶ μέσ’ ἄττα ἐν ἡδοναῖς καὶ λύπαις καὶ ἡδέσι καὶ λυπηροῖς (EE II 5, 1222a10–12). 18 Dieser Gedanke lässt sich auf den Bereich der antiken Medizin zurückverfolgen, wie Werner Jaeger bemerkt: »Wieder folgt Aristoteles den feinen Beobachtungen Platons, aber er geht mehr ins einzelne, um zu zeigen, wie denn die verschiedene Wirkung zustande kommt, entweder durch Übermaß oder durch Mangel an körperlicher Übung oder an Essen und Trinken, während das richtige Maß in diesen Dingen die Gesundheit des Menschen stärkt und erhält. Diese medizinische Parallele führt Aristoteles zu einer ähnlichen Beobachtung hinsichtlich des Wachstums der sittlichen Eigenschaften des Menschen: Auch sie unterliegen der schädlichen Wirkung von Übermaß und Mangel, aber sie werden entwickelt und erhalten durch das, was er μεσότης nennt« (Jaeger 1959a, S. 521). Und in derselben Linie behauptet BoudonMillot Folgendes: »It is certainly Aristotle’s merit to have contributed to the rehabilitation of stochasesthai by operating a subtle shift from right measure (to metron) to the right mean (to meson). Indeed, while in the Hippocratic Corpus the recourse to stochasesthai appears intrinsically linked with the search for the right measure (to metron), now, in the Nicomachean Ethics (1106a–b), it appears to be indissociable from the right mean (to meson)« (Boudon-Millot 2005, S. 96–97). Diese Autorin macht allerdings keine Unterscheidung zwischen dem meson und der mesotēs; eine solche Unterscheidung ist jedoch, wie wir sehen werden, von großer Bedeutung angesichts eines richtigen Verständnisses des aristotelischen Ansatzes. 19 Eine Passage aus dem Kontext der Diskussion über die sōphrosynē veranschaulicht trefflich diesen Punkt: »Was diejenigen Arten der Lust angeht, die den Individuen eigentümlich sind, gehen viele fehl, und auf viele Weisen. Denn wenn man Leute Liebhaber solcher Arten der Lust nennt, weil sie sich entweder an den falschen Dingen freuen oder mehr als die meisten Menschen oder auf die falsche Weise, dann gehen die 17

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3.3 Kognitivistische und nicht kognitivistische Lesarten Ausgehend von diesen Prämissen ist es keine Überraschung, dass Aristoteles sich oftmals in dem Traktat der Aufgabe widmet, die Natur der Lust zu erörtern. Diese Betrachtungen über die Rolle der Lust im menschlichen Leben prägen auf eine entscheidende Weise das aristotelische Verständnis der Tugend. Nur mit Verlust kann dieser Aspekt in der Diskussion über die charakterlichen Tugenden bei Aristoteles vernachlässigt werden. Seine große Bedeutung ist deshalb kaum in Zweifel zu ziehen. Aufgrund der Wichtigkeit dieses Aspekts in der aristotelischen Auffassung sind allerdings manche Kommentatoren zu der Einsicht gelangt, dass die charakterliche Tugend für Aristoteles hauptsächlich mit Lust und Unlust zu tun habe. Für sie ist der Umgang mit Lust und Unlust die Hauptbestimmung der charakterlichen Tugend. In letzter Zeit ist Jessica Moss (2011, 2012) die Hauptvertreterin einer Interpretation dieser Art, denn sie betont, dass das, was wir durch Habituation lernen, nur darin bestehe, begehrungswürdige Güter zu erkennen und nach ihnen angemessen zu trachten. Moss bezeichnet die Habituation allgemein als eine Art von »praktischer Induktion« und bringt sie in enge Verbindung mit der phantasia, unter welcher sie das nicht vernünftige Vermögen versteht, das uns unUnmäßigen in allen diesen Hinsichten über das richtige Maß hinaus. Sie freuen sich an manchen Dingen, an denen man sich nicht freuen soll, da sie hassenswert sind, und wenn es sich um Dinge handelt, an denen man sich freuen soll, dann freuen sie sich an diesen mehr, als man soll und als die meisten Menschen es tun« (περὶ δὲ τὰς ἰδίας τῶν ἡδονῶν πολλοὶ καὶ πολλαχῶς ἁμαρτάνουσιν. τῶν γὰρ φιλοτοιούτων λεγομένων ἢ τῷ χαίρειν οἷς μὴ δεῖ, ἢ τῷ μᾶλλον ἢ ὡς οἱ πολλοί, ἢ μὴ ὡς δεῖ, κατὰ πάντα δ’ οἱ ἀκόλαστοι ὑπερβάλλουσιν· καὶ γὰρ χαίρουσιν ἐνίοις οἷς οὐ δεῖ (μισητὰ γάρ), καὶ εἴ τισι δεῖ χαίρειν τῶν τοιούτων, μᾶλλον ἢ δεῖ καὶ ἢ ὡς οἱ πολλοὶ χαίρουσιν) (NE III 13, 1118b21–27). Es ist eindeutig, dass das Angemessene bezüglich der Lust schwer zu treffen ist, nicht nur deshalb, weil anscheinend die sittlich schlechten Lüste numerisch größer sind als die guten, sondern vor allem, weil immer die Gefahr besteht, die wahrhaft guten Lüste auf die falsche Art und Weise zu genießen, wobei sie nicht mehr als sittlich gut gelten können. Deshalb ist es auch in diesem Kontext wichtig zu betonen, dass die Situationsvariablen und die Handlungsmodi, die durch die in den Habituationsprozessen entstandenen Dispositionen immer beachtet werden sollen, in direktem Zusammenhang mit der sittlich gelingenden Praxis stehen. Es ist andererseits anzumerken, dass diese Betrachtungen von Aristoteles sich auf Platon zurückverfolgen lassen. Die Unterscheidung zwischen verschiedenen Lustund Unlustarten, die in sehr unterschiedlichen Verhältnissen zur eudaimonia stehen, ist ein ständiges Motiv in verschiedenen Dialogen wie dem Gorgias, der Politeia und dem Philebos. Siehe dazu Frede (1985) und Boeri (2007). Ethos und Praxis

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terschiedliche Gegenstände in der Wahrnehmung als lust- und unlustbringend präsentiert und letztlich zur Formung der orexeis beiträgt, welche uns wiederum den Anlass geben, so oder so zu handeln. Unter Berücksichtigung der phantasia hat Moss eine Rekonstruktion der charakterlichen Tugend entfaltet, die darauf abzielt, sowohl die vermeintlich nicht vernünftige Natur der Charaktertugend als auch ihre Bezogenheit auf mit Lust und Unlust verbundenen Phänomenen – die sich klarerweise nicht auf die körperliche Dimension des Menschen reduzieren lassen – in den Vordergrund zu stellen. Ein entscheidender Faktor, auf der ihre Interpretation beruht, ist nämlich, dass die charakterliche Tugend letztlich ihren Sitz im alogon-Teil der Seele hat. 20 Es ist unleugbar, dass man die charakterliche Tugend nicht von Moss behauptet über die Tugend, dass sie »a wholly non-rational state« sei, und beschreibt ihre Interpretationsthese wie folgt: »Character has the power to set our ends, on Aristotle’s view, because it is more than a purely conative force: it involves something that he thinks must precede and underlie all rational cognition – non-rational cognition, i. e. perception and quasi-perceptual ›imagination‹, phantasia« (Moss 2011, S. 204). Meiner Meinung nach ist dieser Interpretationsversuch unangebracht aus Gründen, die wir an verschiedenen Stellen unserer Untersuchung diskutieren werden. Aber einige problematische Aspekte derselben müssen hier bereits hervorgehoben werden. Im Gegensatz zu dem, was Moss behauptet, ist es gar nicht eindeutig, dass die phantasia im Fall des Menschen kein an Vernunft teilhabendes Vermögen ist, denn es gibt Passagen wie DA 434a5–10 und 433b29–30, an denen ein klarer Unterschied zwischen der phantasia aisthētikē der Tiere und der phantasia bouleutikē bzw. phantasia logistikē der Menschen gezogen wird, und sie verkennt diese Unterscheidung an entscheidenden Stellen ihrer Diskussion, wenn sie es sich zur Aufgabe macht, die phantasia des Menschen zu erörtern und zu erklären, wie sie in die praktische Deliberation miteinbezogen wird (siehe Moss 2012, S. 16–21 und 153– 163). Ferner beachtet sie oftmals nicht, dass Aristoteles zufolge die Phantasie »entweder durch das Denken oder durch die Wahrnehmung« (ἢ διὰ νοήσεως ἢ δι’ αἰσθήσεως) entstehe (MA 702a19). Dass die phantasia im Fall des Menschen durch das Denken zustande kommen kann, ist besonders wichtig, wenn es darauf ankommt, einen zukünftigen Handlungskurs zu erwägen. Wenn man über einen zukünftigen Plan nachdenkt, ist es oftmals der Fall, dass man sich vor allem auf das Erreichen eines gewissen Ziels und die dazu erforderlichen Mittel konzentriert, ohne in demselben Augenblick berücksichtigen zu müssen, ob das anzustrebende Ziel uns Lust bzw. Unlust bereiten wird – etwa wenn man plant, wie am besten die eigene polis zu verteidigen ist. Dass das Ziel mit Lust bzw. Unlust eng verbunden ist, bedeutet nicht – was in diesem Beispiel die Zufriedenheit, die eigene polis vor den Feinden geschützt zu haben, sein könnte –, dass diese Lust bzw. Unlust uns den Ansporn gegeben hat, darüber zu reflektieren, geschweige denn dieses Ziel anzustreben. In einer praktischen Überlegung dieser Art, in welcher die Tätigkeit der phantasia miteinbezogen ist, scheint es mir, dass die phantasia auf eine wichtige Weise kognitiv informiert ist und oftmals

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diesem wichtigen Aspekt trennen kann. Allerdings denke ich, dass diese Interpretation der aristotelischen Auffassung in keiner Weise gerecht wird. Zunächst ist nicht klar, wie gewisse Handlungen zu erklären wären, die oftmals von einem Akteur durchgeführt werden, ohne zu berücksichtigen, ob sie ihm eine gewisse Lust versprechen und trotzdem als tugendhaft gelten. Gewisse Tugenden wie sōphrosynē passen zwar gut zu diesem Interpretationsmodell, aber dasselbe lässt sich nicht ohne Schwierigkeiten über gewisse Formen der andreia oder der dikaiosynē behaupten, in denen es überhaupt nicht klar ist, dass der Hauptgegenstand unserer Motivation das Lust- und Unlustbringende sei. Gewiss kann man sagen, dass die Ausübung solcher Tugenden Lust in uns hervorbringen kann, aber es ist keineswegs immer so, dass die tugendhaften Handlungen qua lust- und unlustbringend primär intendiert werden. Die Gegenstände des Wählens und des Vermeidens, die Aristoteles präsentiert (siehe NE II 2, 1104b– 1105a1), sind m. E. nicht in jedem Handlungskontext kommensurabel und vor allem werden sie nicht alle auf dieselbe Art und Weise in Betracht gezogen, wenn man überlegt, wie man handeln soll; und es sieht so aus, als ob dieser Lesart zufolge alle diese Aspekte miteinander verschmolzen wären, und zwar schon im Augenblick selbst, in dem man lediglich anfängt, die Angemessenheit eines möglichen Handlungskurses zu erwägen. 21 eine gewisse Unabhängigkeit bezüglich Betrachtungen über Lust bzw. Unlust aufweist. Wir werden weitere Argumente hinsichtlich der Frage, ob die hexeis kognitive Zustände der Seele sind, in Betracht ziehen. In Bezug auf diese Diskussion muss aber hier gesagt werden, dass Moss nicht die erste Autorin ist, die eine derartige Interpretation vertreten hat. Sie führt ihre Interpretationslinie auf Burnet (1900) zurück und erkennt in den Studien von Fortenbaugh (1964) und Achtenberg (2002) verschiedene gemeinsame Punkte. Da Moss aber die wichtigste Interpretin dieser Forschungslinie in der Gegenwart ist, werde ich mich mit ihrer Position auseinandersetzen, wenn ich diese nicht kognitivistische Lesart anspreche. Andererseits ist es wichtig zu betonen, dass es andere Autoren gibt, die sich zwar nicht ausdrücklich dieser nicht kognitivistischen Interpretation der charakterlichen Tugenden anschließen, die sich aber manchmal trotzdem dieser Position annähern (siehe Coope 2012). 21 Die nachteiligen Konsequenzen davon, die Gegenstände des Wählens miteinander gleichzusetzen, wurden von Alexander von Aphrodisias in Anlehnung an Aristoteles trefflich identifiziert. Laut Alexander ist nicht alles, was nützlich ist, schon deshalb gut oder wählenswert. Eigentlich setzt die »Nützlichkeit« die Existenz von Sachen voraus, die um ihrer selbst willen erstrebenswert sind, sodass der Begriff des Guten überhaupt Sinn ergeben kann: ἀλλ’ εἰ τὸ δι’ αὑτὸ ἀγαθόν τε καὶ αἱρετὸν μᾶλλον ἀγαθὸν τοῦ παρ’ ἄλλου τὸ ἀγαθὸν ἔχοντος, ὁ τὸ χρήσιμον ἐν πᾶσιν ἀπαιτῶν Ethos und Praxis

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Es ist auch schwer nachvollziehbar, dass der alogon-Seelenteil so einen minimalen Anteil an Vernunft habe, wie Moss glaubt. Die Leistung, die Aristoteles der charakterlichen Tugend in der Hervorbringung der Handlungen zuschreibt, nämlich Ziele zu setzen (vgl. NE III 4, 1111b26–27 und 1113b2–5), ist meiner Ansicht nach nicht zu verstehen, ohne die These zu akzeptieren, dass die charakterliche Tugend kognitiv aufgeladen ist. Dies wird ersichtlich, wenn man die teleologische Struktur der hexeis betrachtet. Aristoteles betont oftmals, dass das Unterscheidungsmerkmal des Handelnden, der den verschiedenen sittlichen Habituationsprozessen ausgesetzt war, darin besteht, dass er feste Dispositionen zum Handeln besitzt, die auf Ziele gerichtet sind. In seiner Behandlung der andreia stellt Aristoteles diesen Punkt am deutlichsten dar: Ziel jeder Betätigung ist nämlich, was im Sinn der entsprechenden Disposition ist. Das gilt daher auch für den Tapferen. Nun ist die Tapferkeit etwas Werthaftes. Daher ist auch das Ziel werthaft, da jedes Ding durch sein Ziel bestimmt ist. Um des Werthaften willen also hält der Tapfere stand und tut, was im Sinn der Tapferkeit ist. 22

Dass das Ziel der Handlung zugleich das Ziel der Disposition ist, bedeutet, dass die Disposition eine intentionale Natur bzw. eine Bezogenheit auf die Welt hat. Dadurch, dass die hexeis nicht blind agieren, sondern kontextgemäß bewirken, dass wir ein Ziel qua Ziel erkennen und dass wir nach ihm auf eine gewisse Weise streben wollen, ist es kaum zu begreifen, dass die hexeis lediglich die mit den verschiedenen Handlungszwecken verbundenen Lüste enthalten. Mittels der Dispositionen setzen wir die psychische und die physische Dimension unserer Strebungen in Verbindung, und das kann nur geschehen, wenn die hexeis über die Natur der von uns intendierten Ziele auf eine wichtige Weise informiert sind. Die Tätigkeiten, die man ausübt, können als gut bezeichnet werden, weil die hexeis, durch die sie verrichtet werden, ihrerseits gut sind, und diese Qualität ist wiederum ἀναιρεῖ τὸ εἶναί τι ἀγαθὸν κυρίως τε καὶ καθ’ αὑτό (Problemata ethica XIX 140, 5–7). Da aber die charakterlichen Tugenden vorrangig mit unserem Begehrensvermögen zusammenhängen und den Inhalt unserer Ziele bestimmen, ist es schwer sich vorzustellen, wie es überhaupt zu erklären wäre, dass diese verschiedenen Gegenstände des Wählens durch die Tugenden selbst unterschieden werden können, ohne zuzugeben, dass die Tugenden selbst auf eine wichtige Weise kognitiv aufgeladen sind. 22 τέλος δὲ πάσης ἐνεργείας ἐστὶ τὸ κατὰ τὴν ἕξιν. καὶ τῷ ἀνδρείῳ δὲ ἡ ἀνδρεία καλόν. τοιοῦτον δὴ καὶ τὸ τέλος· ὁρίζεται γὰρ ἕκαστον τῷ τέλει. καλοῦ δὴ ἕνεκα ὁ ἀνδρεῖος ὑπομένει καὶ πράττει τὰ κατὰ τὴν ἀνδρείαν (NE III 10, 1115b20–24).

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nur durch die Tätigkeiten, die man während der Habituationsprozesse ausgeführt hat, zu erklären. 23 Aufgrund der Verbindung der hexeis mit den von uns in der Vergangenheit ausgeführten Handlungen und aufgrund ihrer teleologischen Bezogenheit auf zukünftige Ziele muss man m. E. feststellen, dass sie als kognitive Zustände der Seele zu erfassen sind. An der oben zitierten Stelle wird außerdem klar, dass man auch durch die Dispositionen einsehen kann, ob eine gewisse Situation angebracht ist, um das Werthafte (to kalon) zu erstreben, d. h., sie helfen uns etwas zu evaluieren. Dank der Dispositionen ist es möglich zu erkennen, ob etwas erstrebenswert ist, und einzusehen, ob verschiedene Dinge als gut oder schlecht einzuschätzen sind, ohne tatsächlich nach ihnen streben zu müssen. Diese wichtigen Bestimmungen der charakterlichen Tugend, die unabhängig vom Zusammenhang derselben mit der Lust bzw. der Unlust formuliert werden können und die den Wirkungsraum der Tugenden beträchtlich erweitern, zeigen wiederum, dass die Interpretation, die keinen Platz für den kognitiven Inhalt der charakterlichen Tugend schafft, der aristotelischen Position nicht gerecht wird. Es gibt weitere Argumente, die angeführt werden können, um die Unangemessenheit dieser Interpretation deutlicher zu machen, aber wir werden in späteren Schritten unserer Diskussion in einer besseren Lage sein sie anzusprechen. Vor allem denke ich, dass die Interpretationen, die nicht bereit sind, den Tugenden einen kognitiven Inhalt zuzuschreiben, in zwei große Probleme geraten. Einerseits können sie nicht überzeugend erklären, worin die vorsätzliche Natur der charakterlichen Tugenden besteht – ein Thema, mit dem wir uns im dritten Kapitel unserer Studie beschäftigen werden –, was jedoch ein Punkt von großem Belang ist, denn Aristoteles zufolge wird das ēthos eines Akteurs durch die prohairesis sittlich bewertet. Andererseits können sie nicht zufriedenstellend erklären, nach welchem Individuationsprinzip die charakterlichen Tugenden sich voneinander unterscheiden, denn es ist eine Tatsache, dass man als Akteur verschiedene hexeis besitzt, ohne sie in jedem Augenblick zu aktualisieren. Aristoteles vertritt nicht die These, dass ein Akteur nur eine einzelne hexis innehat, sondern geht von einer Menge von charakterlichen hexeis aus. Der Besitz einer hexis schließt nicht aus, einen anderen Typ von hexeis zu erwerben (siehe NE VI 4, 1140a5 ff.), und sie Siehe NE II 1, 1103b21–24. Auf diese Stelle werden wir im nächsten Abschnitt zurückkommen.

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sollten klarerweise voneinander unterscheidbar sein, was meiner Ansicht nach nur realisierbar ist, wenn man ihnen einen kognitiven Inhalt zuschreibt. Diese Pluralität der hexeis und ihr Verhältnis zueinander ist ein wesentlicher Teil ihrer eigenen Natur und dessen, was Aristoteles unter ēthos versteht. Diese Konstellation der hexeis ist in der Tat umfassender, als man denken würde. Die guten hexeis sind zwar als Bestimmungen der menschlichen Seele zu betrachten, die uns in verschiedenen Praxisfeldern befähigen, das Angebrachte oder das Angemesse zu vollziehen, aber die hexeis beschränken sich nicht nur auf den Bereich des sittlichen Handelns. Aristoteles spricht beispielsweise von einer hexis apodeiktikē (NE VI 3, 1139b31–32) und einer hexis poietikē (NE VI 4, 1140a20–21), wenn er es sich zur Aufgabe macht, die Natur der Wissenschaft und der Kunst jeweils zu explizieren. Der Besitz dieser hexeis ermöglicht es uns, Beweise anzuführen und Fertigkeiten auszuüben, und zwar auf die Weise, die das Tun der Experten in den entsprechenden Bereichen kennzeichnet. Allerdings sind die verschiedenen hexeis nicht miteinander gleichzusetzen, d. h., sie haben eine unterschiedliche Beschaffenheit je nachdem, durch welche Tätigkeiten sie erworben wurden und welcher Seelenteil für die Ausführung der entsprechenden Tätigkeiten zuständig ist. Und der locus, wo sie verankert sind, ist der für jede Tätigkeit bestimmende Seelenteil (siehe NE VI 2, 1138b35 ff.). So wie der vernünftige Seelenteil der Träger der intellektuellen hexeis ist, so ist auch der strebende Seelenteil der Träger der charakterlichen hexeis (siehe Pol. VII 15, 1334b18 ff., Cat. 8, 8b28 ff.). Demzufolge ist klar, dass man die breite Gruppe von Dispositionen, in welche jede einzelne hexis sich einbetten lässt, beachten muss, wenn man die Natur des ēthos bei Aristoteles verstehen will. Deshalb wird dies das Thema sein, mit dem wir uns in Kürze beschäftigen werden. Aber zuerst müssen wir über andere Dispositionen sprechen, die auch ein wichtiger Teil dieser psychischen Konstellation sind, nämlich die physikai aretai. Dabei werden wir auch auf die aristotelische Mesoteslehre und ihre zentrale Rolle zu sprechen kommen.

3.4 Die physikai aretai und die Mesoteslehre Im zweiten Buch der NE wird eine Theorie der charakterlichen Tugenden präsentiert, der zufolge alle sittlich relevanten Dispositionen 124

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durch das Handeln erworben werden. Im Gegensatz zu manchen in der griechischen Welt herrschenden Vorstellungen vertritt Aristoteles die Ansicht, dass nicht die Natur bzw. die Götter, sondern der Mensch verantwortlich für seine Tugenden ist, und zwar mittels seiner ständigen Perfektionierung durch verschiedene Tätigkeiten. Allerdings ist diese Erklärung über den Ursprung der charakterlichen Tugenden anscheinend nicht die einzige, denn im sechsten Buch erfahren wir, dass wir Menschen doch gewisse Veranlagungen haben, die wir durch unsere Natur bekommen und die uns den Weg bahnen, die vollständigen und wahrhaften Tugenden zu erwerben. Es wird in diesem Rahmen zunächst behauptet, dass die Geschicklichkeit (deinotēs) bei den Menschen als eine Vorstufe der Klugheit (phronēsis) gilt, bevor wir tatsächlich lernen, auf eine angebrachte Weise in Bezug auf die praxis zu überlegen. Danach führt Aristoteles ebenfalls die Existenz von verschiedenen Dispositionen ein, die als Vorstufen bzw. Ausgangspunkte der charakterlichen Tugenden gelten, und etabliert eine Kontinuität zwischen dem natürlichen und dem Habituationsbereich: Wie sich nämlich die Klugheit zur Geschicklichkeit verhält – sie ist nicht dasselbe, sondern etwas Ähnliches –, so verhält sich die natürliche Tugend zur Tugend im eigentlichen Sinn. Denn man nimmt allgemein an, dass uns die einzelnen Tugenden auf gewisse Weise von Natur aus zukommen, da wir gerecht, mäßig, tapfer, usw. sofort von Geburt an sind. Und dennoch suchen wir das Gute im eigentlichen Sinn als etwas anderes und wollen, dass diese Tugenden uns auf andere Weise zukommen. Denn die natürlichen Dispositionen kommen auch Kindern und Tieren zu, doch ohne Denken erweisen sie sich als schädlich. So viel scheint ersichtlich: Wie ein starker Körper, der sich ohne Sehvermögen bewegt, schwer stützen kann, weil ihm die Sicht fehlt, so verhält es sich auch hier. Wenn man aber das Denken erwirbt, bedeutet das einen Unterschied für das Handeln, und die Disposition, die bisher der Tugend nur ähnlich war, wird dann eine Tugend im eigentlichen Sinn. 24

καὶ γὰρ ἡ ἀρετὴ παραπλησίως ἔχει ὡς ἡ φρόνησις πρὸς τὴν δεινότητα – οὐ ταὐτὸ μέν, ὅμοιον δέ – οὕτω καὶ ἡ φυσικὴ ἀρετὴ πρὸς τὴν κυρίαν. πᾶσι γὰρ δοκεῖ ἕκαστα τῶν ἠθῶν ὑπάρχειν φύσει πως· καὶ γὰρ δίκαιοι καὶ σωφρονικοὶ καὶ ἀνδρεῖοι καὶ τἆλλα ἔχομεν εὐθὺς ἐκ γενετῆς· ἀλλ’ ὅμως ζητοῦμεν ἕτερόν τι τὸ κυρίως ἀγαθὸν καὶ τὰ τοιαῦτα ἄλλον τρόπον ὑπάρχειν. καὶ γὰρ παισὶ καὶ θηρίοις αἱ φυσικαὶ ὑπάρχουσιν ἕξεις, ἀλλ’ ἄνευ νοῦ βλαβεραὶ φαίνονται οὖσαι. πλὴν τοσοῦτον ἔοικεν ὁρᾶσθαι, ὅτι ὥσπερ σώματι ἰσχυρῷ ἄνευ ὄψεως κινουμένῳ συμβαίνει σφάλλεσθαι ἰσχυρῶς διὰ τὸ μὴ ἔχειν ὄψιν, οὕτω καὶ ἐνταῦθα· ἐὰν δὲ

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Aufgrund dieser unterschiedlichen Darstellungen im zweiten und sechsten Buch der NE sind einige Interpreten zur Einsicht gelangt, dass Aristoteles verschiedene Ansichten über die Natur der Tugend gehabt habe, die nicht miteinander kompatibel sind. 25 Verschiedene philologische Argumente sind angeführt worden, um diese Abweichungen zu erklären. 26 Von einem philosophischen Standpunkt aus aber scheint es mir, dass die sogenannte Inkompatibilität dieser Darstellungen kein unüberwindbares Problem für die aristotelische Theorie darstellt. Gewiss muss man zugeben, dass die Einführung der physikai aretai einige wichtige Fragen in der aristotelischen Theorie offen lässt, denn es ist z. B. nicht klar, warum sie als hexeis und nicht eher als dynameis zu charakterisieren sind – vor allem, wenn man in Betracht zieht, dass das natürliche ēthos als eine physikē dynamis in HA 588a30–31 bezeichnet wird (!) –, und ob jede einzelne charakterliche Tugend ein Korrelat in unseren unterschiedlichen Veranlagungen hat bzw. haben muss. Die knappen Ausführungen des Aristoteles diesbezüglich erlauben uns nicht, eine zufriedenstellende Antwort darauf zu geben. 3.4.1 Die physikai aretai als Prädispositionen für die ethische Tugend Ich bin der Ansicht, dass die Position, der zufolge wir bestimmte Talente und Dispositionen durch die Natur besitzen, ein Kerngedanke λάβῃ νοῦν, ἐν τῷ πράττειν διαφέρει· ἡ δ’ ἕξις ὁμοία οὖσα τότ’ ἔσται κυρίως ἀρετή (NE VI 13, 1144b1–14). 25 Ursula Wolf beschreibt diese Diskrepanz wie folgt: »Während es in Buch II so aussah, dass wir als natürliche Basis der aretē eine Anlage (dynamis) haben, in unseren Affekten und Strebungen in die eine oder andere Richtung (also zur aretē oder zu kakia) gewöhnt zu werden, nimmt Aristoteles jetzt an, man sei von Natur aus eher zur aretē geneigt« (Wolf 2007, S. 158–159), wobei sie behauptet, die zweite Auffassung sei eigentlich tiefer in der griechischen Welt verankert. David Bostock hebt den Punkt noch stärker hervor: »The distinction is surprising for II.1 has roundly insisted that no virtue is in this sense ›natural‹, and it has said that virtue is acquired not by thought but by training and habituation« (Bostock 2000, S. 86). 26 Man hat versucht zu argumentieren, dass die Bücher, aus denen die NE zusammengesetzt ist, in unterschiedlichen Momenten verfasst worden sind und dass das sechste Buch der NE ursprünglich zu der EE gehört haben sollte, wobei suggeriert wird, dass die unterschiedlichen Darstellungen auf einen Meinungswechsel von Aristoteles hindeuten. Bostock weist auch auf diese Interpretationsstrategie hin, betont aber die Schwierigkeiten derselben: »The contradiction is not removed by thinking of the EN VI as part of the EE rather than the EN. For EE 1220a38–b7 presents the same view as EN II.1 (though more briefly)« (Bostock 2000, S. 86). Siehe auch dazu Dirlmeier (1984, S. 470 ff.).

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der aristotelischen Philosophie ist, der eine solide textuelle bzw. begriffliche Basis in dem Korpus findet. In den zoologischen Schriften haben wir im ersten Kapitel gesehen, dass alle Spezies ein natürliches ēthos haben, welches durch unterschiedliche Faktoren wie Körperteile, Bewegungsform, Herzgröße und Bluttyp entsteht. Sowohl die physiologische Verfassung der Lebewesen als auch ihre Zugehörigkeit zu einer bestimmten Spezies sind Leitfäden, an denen sich Aristoteles in unterschiedlichen Untersuchungen orientiert, um Rechenschaft über ihre Verhaltensweise abzulegen. Aufgrund ihrer wichtigen erklärenden Kraft ist kaum davon auszugehen, dass Aristoteles ihnen keinen Wert im Rahmen der praktischen Philosophie beimisst. Dass er sich im zweiten Buch der NE auf den Erwerb der Tugenden durch die Praxis konzentriert, deutet meiner Ansicht nach auf eine bewusste methodologische Entscheidung hin, deren Ziel darin besteht, die Wichtigkeit der Habituationsprozesse angesichts einer gelingenden Lebensführung vor Augen zu führen, die kaum zu erreichen wäre, wenn man sich nur auf die spontane und nicht vernunftgesteuerte Wirkung der natürlichen Gaben verlassen würde. Die Verfahrensweise im Rahmen der Diskussion des Tugenderwerbs darf nicht zum Gedanken führen, dass der Mensch als Lebewesen eine tabula rasa sei und keine natürlichen Talente und Dispositionen habe. Sowohl die zoologischen Schriften als auch die verschiedenen Hinweise in anderen Traktaten sind der deutlichste Beweis dafür, dass man Aristoteles eine solche Ansicht nicht zuschreiben kann – vor allem, wenn man versucht, die Architektonik seines Denkens als ein Ganzes auszulegen. Obwohl die begrifflichen Grundlagen für die aristotelische Auffassung des natürlichen ēthos in den zoologischen Schriften entwickelt werden, wird in ihnen nicht so ausführlich erörtert, welche positiven Eigenschaften der Mensch von Natur aus hat, die als Vorstufen der charakterlichen Tugenden betrachtet werden könnten. In Bezug auf die Rhet. haben wir gesehen, dass die aristotelische Darstellung der Verhaltensweise der Jugendlichen sehr relevante Elemente in dieser Hinsicht präsentiert. Eine andere Schrift aber, in der die positiven Eigenschaften des natürlichen ēthos noch weiter charakterisiert werden, ist die Politik, denn Aristoteles knüpft dort seine Überlegungen über die angeborenen Dispositionen zum Handeln explizit an biologische Charakteristika des Menschen an. Im Kontext der Diskussion über die verschiedenen Aufgaben der Gesetzgeber wird gesagt, dass sie den Stoff, aus dem die politische Gemeinschaft Ethos und Praxis

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besteht, sorgfältig behandeln müssen. Die Bürger werden vom Standpunkt des Gesetzgebers aus als die Bausteine für den Aufbau der polis angesehen. Demzufolge macht es sich Aristoteles in Pol. VII 16 zur Aufgabe, eine Theorie für die Erzeugung von Kindern, die später Mitglieder der Gesellschaft sein werden, zu entfalten. Der Grundgedanke dieser eugenetischen Theorie ist, dass Männer und Frauen ihre Kinder zeugen sollen, wenn sie noch in der Blütezeit ihres Lebens sind, sodass die Konstitution ihrer Nachkommenschaft optimal sei (siehe Pol. VII 16, 1335a30–32). Das bedeutet unter anderem, dass sie zum angebrachten Zeitpunkt heiraten sollen (siehe Pol. VII 16, 1334b30– 38), dass der Altersunterschied zwischen Mann und Frau passend sein muss (siehe Pol. VII 16, 1335a3–6), und dass sowohl die Lebensweise und Tätigkeiten der Frau während der Schwangerschaft als auch später die Gymnastikbetreibung des Kindes reguliert werden, sodass es sich körperlich und geistig gut entfalten kann (siehe Pol. VII 17, VIII 3–4), 27 wobei Aristoteles sich für die Begründung dieser Aussagen an wichtige Theoriestücke seiner Biologie anlehnt. 3.4.2 Die edlere Herkunft Äußerst relevant angesichts unseres Interesses ist die Tatsache, dass dieser eugenetische Prozess zwei Dispositionen bei den Kindern hervorbringt, die ihnen eine gute sittliche Entfaltung ermöglichen. Die angeborenen Merkmale, die auf diese Weise zustande kommen, sind die eugeneia und die euphyia. Die eugeneia, die sich als ›Adel‹ oder ›edlere Herkunft‹ übersetzen lässt, wird in verschiedenen Kontexten Die Konsequenzen einer Missachtung dieser Vorschriften werden von Leunissen auf folgende Weise zusammengefasst: »Couples who reproduce before their bodies have reached their prime, and who therefore have not yet fully realized their own human form and are in that sense not ›perfect‹ or ›complete‹ themselves, produce imperfect – i. e. small, female – offspring. Similarly, couples who reproduce when their bodies and minds are already in decline also produce imperfect and weak offspring […]. Evidently Aristotle believes there to be a correspondence between the physiological conditions of the bodies and minds of the parents and the level of perfection of their offspring […]« (Leunissen 2013, S. 105–106). Dieser Artikel von Leunissen hat uns erlaubt, verschiedene Textstelle zu identifizieren, an denen von diesen natürlichen Tugenden die Rede ist. Wie aber zu sehen ist, verfolgen wir mit unseren Analysen sehr unterschiedliche Ziele. Während es für Leunissen vor allem darum geht zu erklären, wie es der aristotelischen genetischen Theorie zufolge möglich ist, dass verschiedene Charaktermerkale vererbt werden können, besteht unser Vorhaben eher darin zu zeigen, warum die natürlichen Tugenden sich als unzureichend angesichts einer gelingenden Lebensführung im aristotelischen Sinne erweisen und der Erwerb der charakterlichen Tugenden unerlässlich ist.

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mit zentralen Begriffen der praktischen Philosophie wie aretē und eudaimonia assoziiert. Über sie wird in der NE gesagt, dass sie zu den äußeren Gütern gehört, ohne welche es nicht möglich ist zu erwarten, dass man vollkommen glücklich werden kann (siehe NE I 9, 1099b3), und dass nur die Jugendlichen, die einen »adeligen Charakter« (ēthos eugenēs) haben, imstande sind, das Werthafte schätzen zu lernen und die Prinzipien der Ethik für ihre Lebensführung fruchtbar zu machen (siehe NE X 10, 1179b7–10). 28 Dieser Gedankengang wird in der Pol. fortgesetzt, indem behauptet wird, dass »die adeligen Menschen diejenigen zu sein scheinen, bei denen sich Tugend und Reichtum von den Vorfahren her findet«, 29 wobei betont wird, dass solche Menschen für unrecht halten, dass eine Gleichheit der Rechte durch die Verfassung in Kraft gesetzt wird. An einer anderen Textstelle im fünften Buch führt Aristoteles eine knappe Definition der eugeneia als »altvererbte Tugend und Reichtum« und deutet nochmals darauf hin, dass sie den Anspruch auf bestimmte Rechte gegen den Willen der Mehrheiten begründet. 30 In der Rhet. werden andere Aspekte dieser Disposition charakterisiert. Im Einklang mit der Passage der NE über die äußeren Güter betont Aristoteles auch in diesem Werk, dass die eugeneia zu den Gütern wie Freundschaften, Reichtum, Nachkommen, Vortrefflichkeiten des Körpers usw., die wir als Bestandteile der eudaimonia betrachten (siehe Rhet. I 5,1360b19–30), gehört. Aber es gibt dort zwei andere wichtige Passagen, in denen Aristoteles noch weitere Elemente ins Feld führt, die ein neues Licht auf die Natur der eugeneia werfen: Edle Herkunft also bedeutet für ein Volk oder eine Stadt, dass sie über eine Einwohnerschaft verfügt, die aus derselben Gegend stammt und alteingesessen ist, dass ihre ersten Anführer angesehene Persönlichkeiten waren und dass aus ihnen viele hervorgegangen sind, die für allgemein bewunderte Dinge angesehen waren. Die edle Herkunft für einen Einzelnen, welche Ein anderer Autor, der die Wichtigkeit dieser Tugend für eine gute Lebensfürung ebenfalls betont, ist Sophokles. Im Aias wird die eugeneia in Verbindung mit einer gewissen Form von Dankbarkeit gesetzt: »Doch denke an mich; für einen Mann ist es gewiss nötig, sich zu erinnern, wenn er Liebe irgendwo erfahren hat. Wer die Erinnerung verliert, wenn Gutes er erfahren hat, der könnt’ ein edler Mann wohl nicht mehr sein« (Ἀλλ’ ἴσχε κἀμοῦ μνῆστιν· ἀνδρί τοι χρεὼν μνήμην προσεῖναι, τερπνὸν εἴ τί που πάθῃ· χάρις χάριν γάρ ἐστιν ἡ τίκτουσ’ ἀεί· ὅτου δ’ ἀπορρεῖ μνῆστις εὖ πεπονθότος, οὐκ ἂν λέγοιτ’ ἔθ’ οὗτος εὐγενὴς ἀνήρ) (Aias 520–524). 29 εὐγενεῖς γὰρ εἶναι δοκοῦσιν οἷς ὑπάρχει προγόνων ἀρετὴ καὶ πλοῦτος (Pol. V 1, 1301b3–4). 30 ἡ γὰρ εὐγένειά ἐστιν ἀρχαῖος πλοῦτος καὶ ἀρετή (Pol. IV 8, 1294a20). 28

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von den männlichen oder den weiblichen Vorfahren herrühren kann, beinhaltet das volle Bürgerrecht für beide Linien und bedeutet wie bei der Stadt, dass die ersten berühmt waren für Tugend oder Reichtum oder etwas anderes Hochgeschätztes und dass aus dem Geschlecht viele Angesehene hervorgegangen sind, und zwar Männer und Frauen, junge und alte. 31 Von edler Herkunft zu sein bezieht sich auf die Tugendhaftigkeit des Geschlechts, von edlem Wesen zu sein bezieht sich darauf, die Natur (des Geschlechts) nicht zu verlassen; dies aber trifft für Menschen mit edler Herkunft in der Regel nicht zu, sondern die meisten sind ganz gewöhnlich; denn es gibt bei den Menschengeschlechtern eine bestimmte Ernte bei den auf dem Acker wachsenden Dingen, und manchmal, wenn das Geschlecht gut ist, gehen (aus dem Geschlecht) für eine gewisse Zeit außergewöhnliche Männer hervor und dann fallen sie wieder ab. Die begabten Geschlechter degenerieren zu eher wahnsinnigen Charakteren, wie zum Beispiel die Nachfahren des Alkibiades und des Dionysios des Älteren, die ruhigen Geschlechter zur Einfalt und zum Stumpfsinn, wie zum Beispiel die Nachfahren des Kimon, des Perikles und des Sokrates. 32

Diese Textstellen sind m. E. nicht nur aufschlussreich, weil sie mit größerer Ausführlichkeit als die vorherigen die eugeneia behandeln, sondern vor allem, weil sie uns mehr Auskunft darüber geben, warum sie zwar als eine aretē physikē zu betrachten ist, aber letztlich nicht mit der wahren Tugend identifiziert werden kann. Aus der ersten Textstelle kann man schließen, dass sich die eugeneia auf weitere Generationen von in derselben Region angesiedelten Vorfahren zurückverfolgen lassen muss, um als solche gelten zu können. 33 Das beεὐγένεια μὲν οὖν ἐστιν ἔθνει μὲν καὶ πόλει τὸ αὐτόχθονας ἢ ἀρχαίους εἶναι, καὶ ἡγεμόνας τοὺς πρώτους ἐπιφανεῖς, καὶ πολλοὺς ἐπιφανεῖς γεγονέναι ἐξ αὐτῶν ἐπὶ τοῖς ζηλουμένοις· ἰδίᾳ δὲ εὐγένεια ἢ ἀπ’ ἀνδρῶν ἢ ἀπὸ γυναικῶν, καὶ γνησιότης ἀπ’ ἀμφοῖν, καί, ὥσπερ ἐπὶ πόλεως, hτὸi τούς τε πρώτους γνωρίμους ἢ ἐπ’ ἀρετῇ ἢ πλούτῳ ἢ ἄλλῳ τῳ τῶν τιμωμένων εἶναι, καὶ πολλοὺς ἐπιφανεῖς ἐκ τοῦ γένους καὶ ἄνδρας καὶ γυναῖκας καὶ νέους καὶ πρεσβυτέρους (Rhet. I 5, 1360b31–38). 32 ἔστι δὲ εὐγενὲς μὲν κατὰ τὴν τοῦ γένους ἀρετήν, γενναῖον δὲ κατὰ τὸ μὴ ἐξίστασθαι τῆς φύσεως· ὅπερ ὡς ἐπὶ τὸ πολὺ οὐ συμβαίνει τοῖς εὐγενέσιν, ἀλλ’ εἰσὶν οἱ πολλοὶ εὐτελεῖς· φορὰ γὰρ τίς ἐστιν ἐν τοῖς γένεσιν ἀνδρῶν ὥσπερ ἐν τοῖς κατὰ τὰς χώρας γιγνομένοις, καὶ ἐνίοτε ἂν ᾖ ἀγαθὸν τὸ γένος, ἐγγίνονται διά τινος χρόνου ἄνδρες περιττοί, κἄπειτα πάλιν ἀναδίδωσιν. ἐξίσταται δὲ τὰ μὲν εὐφυᾶ γένη εἰς μανικώτερα ἤθη, οἷον οἱ ἀπ’ Ἀλκιβιάδου καὶ οἱ ἀπὸ Διονυσίου τοῦ προτέρου, τὰ δὲ στάσιμα εἰς ἀβελτερίαν καὶ νωθρότητα, οἷον οἱ ἀπὸ Κίμωνος καὶ Περικλέους καὶ Σωκράτους (Rhet. II 15, 1390b21–3). 33 Christof Rapp führt das Autochthoniemotiv auf Herodot (VII 161) und Thukydides (II 361) zurück und geht davon aus, dass sich Aristoteles auch in seiner uns nicht 31

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deutet, dass es für Aristoteles unzureichend ist, einige Verwandte gehabt zu haben, die sich durch ein besonderes Talent ausgezeichnet haben, um selbst als eugenēs angesehen zu werden. Nur durch kontinuierliche hervorragende Leistungen bei den Vorfahren väterlicherund mütterlicherseits kann die Nachkommenschaft eine edlere Herkunft beanspruchen, wobei die Exzellenz des Familienstamms mit Tugend und Reichtum in Verbindung gesetzt wird. Es ist nicht erstaunlich, dass die Tugend damit assoziiert wird, wenn man bedenkt, dass die Familienmitglieder, die zu einer solchen Tradition gehören, als Vorbilder für die neueren Generationen gelten können. Durch ihre adelige Verwandtschaft ist zu erwarten, dass sie die Taten und Leistungen ihrer Vorfahren nachahmen wollen und dass sie ganz früh im Leben mit Verhaltensweisen vertraut werden, die für diesen Zweck relevant sind. 34 Dass sie über Reichtum verfügen, ist möglicherweise ein Zeichen dafür, dass sie einerseits eine gute Stellung in der Gesellschaft haben, die es ihnen ermöglicht, sich edleren Tätigkeiten wie der Politik und den Wissenschaften zuzuwenden, ohne sich um unmittelbare materielle Bedürfnisse kümmern zu müssen. Anhand der zweiten Textstelle kann man allerdings feststellen, dass die eugeneia nicht von alleine bewirkt, dass man tugendhaft wird. Deshalb spricht Aristoteles vom edlen Wesen (gennaion), um darauf hinzuweisen, dass es tatsächlich eine Aufgabe der Nachkommenschaft ist, durch ihre Taten Erben dieses guten Namens zu werden. Adeliger Herkunft zu sein bedeutet keinesfalls, dass man zwangsläufig sittlich gut wird. Angesichts der sittlichen Praxis und des guten Lebens ist es zwar zielfördernd, dass man eine gute physische Konstitution und einen günstigen Familienkontext hat, aber diese positiven Faktoren nehmen den Menschen nicht die Verantwortung ab, durch die eigenen Bemühungen die Tugend anzustreben. Der klarste Beweis, dass das tatsächlich so ist, sind die von Aristoteles hier erwähnten Nachfahren, denen es trotz des Ansehens ihrer Eltern nicht gelungen ist, ihr Leben solchen hohen Standards entsprechend zu führen.

erhaltenen Schrift peri eugeneias damit auseinandergesetzt habe (siehe Rapp 2002b, S. 342). 34 So auch Rapp: »Wer über sie [edle Herkunft] verfügt, ist in höherem Maße ehrgeizig (philotimoteros). Der Grund ist, dass jeder das anzuhäufen versucht, worüber er schon verfügt. Wer von edler Herkunft ist, verfügt über eine Ehrenstellung, die von den Vorfahren herrührt« (Rapp 2002b, S. 707). Ethos und Praxis

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3.4.3 Die Naturbegabung Die andere natürliche Tugend, die bei Aristoteles von großem Belang ist, ist wie gesagt die euphyia, welche sich ins Deutsche als ›Naturtalent‹ bzw. ›Naturbegabung‹ übersetzen lässt. In seinen zoologischen Schriften wird dieser Terminus gebraucht, um verschiedene Anlagen und Verhaltensweisen unterschiedlicher Spezies zu charakterisieren. Trotz des Präfixes eu hat dieser Terminus im Kontext der Biologie allerdings nicht unbedingt eine positive Bedeutung, da er beispielsweise verwendet wird, um auf die Sterilität der Maulesel hinzuweisen (vgl. GA III 8, 748b7–17). Dahingegen hat er stets eine positive Konnotation in Bezug auf die Menschen, denn damit werden diejenigen bezeichnet, die durch ihre Natur die Fähigkeit haben, gute Entscheidungen zu treffen und bestimmte Güter auf die richtige Weise zu begehren. Verschiedene Beispiele dieser besonderen Verwendung sind hier zu erwähnen. In der Topik finden wir eine Diskussion, in welcher es darum geht, zu bestimmen, wie man auf eine korrekte Art und Weise Argumente in einem dialektischen Streit verwenden kann. Es wird dort die Ansicht vertreten, dass der Dialektiker verschiedene Fähigkeiten erwerben soll, um die geeigneten Gelegenheiten zu erkennen, in denen bestimmte Argumente angeführt werden sollen – wobei die euphyia eine sehr wichtige Rolle spielt, denn sie erweist sich als eine sehr hilfreiche Anlage, um ein Argument statt eines anderen zu wählen: Und für die Erkenntnis und die philosophische Klugheit ist es kein kleines Werkzeug, überblicken zu können und überblickt zu haben, was sich jeweils aus der Hypothese ergibt, denn es bleibt dann, eines von diesen beiden [entgegengesetzten Argumenten; E. C.] richtig auszuwählen. Zu Derartigem muss man sich aber von Natur aus eignen, und die wahrhafte Begabung besteht darin, dass man das Wahre richtig zu wählen und das Falsche zu meiden versteht, wie die von Natur aus Begabten es zu tun verstehen; weil sie nämlich auf die richtige Weise lieben und hassen, was sich ihnen zeigt, beurteilen sie richtig, was das Beste ist. 35

πρός τε γνῶσιν καὶ τὴν κατὰ φιλοσοφίαν φρόνησιν τὸ δύνασθαι συνορᾶν καὶ συνεωρακέναι τὰ ἀφ’ ἑκατέρας συμβαίνοντα τῆς ὑποθέσεως οὐ μικρὸν ὄργανον· λοιπὸν γὰρ τούτων ὀρθῶς ἑλέσθαι θάτερον. δεῖ δὲ πρὸς τὸ τοιοῦτον ὑπάρχειν εὐφυᾶ, καὶ τοῦτ’ ἔστιν ἡ κατ’ ἀλήθειαν εὐφυΰα, τὸ δύνασθαι καλῶς ἑλέσθαι τἀληθὲς καὶ φυγεῖν τὸ ψεῦδος· ὅπερ οἱ πεφυκότες εὖ δύνανται ποιεῖν· εὖ γὰρ φιλοῦντες καὶ μισοῦντες τὸ προσφερόμενον εὖ κρίνουσι τὸ βέλτιστον (Top. VIII 14, 163b9–16).

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Obwohl am Anfang dieser Passage die Rede über phronēsis ist, liegt es auf der Hand, dass sie hier nicht als sittliche Einsicht bzw. praktische Weisheit verstanden werden soll, so wie sie im sechsten Buch der NE dargestellt wird. Pierre Aubenque hat mit Recht darauf hingewiesen, dass die phronēsis in früheren Werken des Aristoteles noch nicht als die intellektuelle Tugend erfasst wird, die es uns ermöglicht, über die für die Erlangung unserer Zwecke erforderlichen Mittel und die Konstituenten eines guten Lebens nachzudenken (siehe Aubenque 2007, S. 15 ff.). Diese Konzeption der phronēsis findet nur in den ethischen Schriften ihren Ausdruck. Vielmehr sollen wir hier darunter ein philosophisches Wissen verstehen, das direkt mit der Ausübung der Dialektik und mit den von ihr behandelten Gegenständen zusammenhängt, unter denen die Welt der Praxis eine vorrangige Stellung einnimmt. Demzufolge ist es plausibel zu glauben, dass Aristoteles sich hier auf die euphyia bezieht – nicht nur weil er andeutet, dass die euphyia eine strukturelle Ähnlichkeit mit der Fähigkeit, gute Argumente zu wählen, aufweist, sondern vor allem, weil die Letztere in der Tat oftmals ihren Ausgangspunkt in der Ersteren findet und von ihr informiert wird. Es ist leicht einzusehen, warum hier über eine gewisse Zweckdienlichkeit dieser Naturgabe angesichts der Praxis der Dialektik gesprochen wird, denn die euphyia erlaubt gewissen Menschen, geeignete Argumente, deren Inhalt sich als trefflich angesichts der fraglichen dialektischen Diskussion erweist, zu erkennen und sich an ihnen zu bedienen. Entsprechend wird sie hier als eine günstige Basis präsentiert, auf welche die anderen Fähigkeiten und Talente eines Dialektikers aufgebaut werden sollten. 36 In den ethischen Schriften findet man andere interessante Bemerkungen bezüglich der Natur der euphyia. In der EE wird beispielsweise behauptet, dass verschiedene Menschen Glück (eutychia) haben, und zwar nicht weil gewisse Zufälligkeiten sich ereignen, die Siehe dazu die trefflichen Bemerkungen von Robin Smith: »The argument of the passage, then, is this. Aristotle wishes to show that the technique of becoming familiar with the arguments for and against any thesis is an important instrument for theoretical enquiry. Now the purpose of theoretical enquiry is to discover the truth; and this requires choosing the right alternative with respect to any problem. A natural talent for doing this will be a natural disposition to choose the true and flee from the false, analogous to the natural dispositions to hate and love possessed by those with natural virtue. Such a natural disposition would be a kind of epistemic health: a person so disposed would be inclined to regard that which is true and primary by nature as most convincing« (Smith 1997, S. 154–155).

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für sie als vorteilhaft gelten, sondern weil sie eine gute Natur haben (siehe EE VIII 1, 1246a36–38). Das Glück, von dem hier die Rede ist, soll selbstverständlich nicht mit der eudaimonia gleichgesetzt werden, sondern mit dem günstigen Verlauf der Dinge zugunsten eines bestimmten Akteurs. Die Leute, die in dieser Hinsicht als glücklich zu betrachten sind, sind imstande, »sich ohne rationale Steuerung im Sinne ihrer Naturanlage zu bewegen und ihr Begehren auf diesen bestimmten Gegenstand und zu dieser bestimmten Zeit zu richten«, 37 unabhängig davon, ob sie Verstand oder Überlegung besitzen (siehe EE VIII 1, 1247b25). Demzufolge werden sie mit Musikern verglichen, die zwar schöne Musikstücke spielen können, aber nicht in der Lage sind, anderen Menschen die Musik zu lehren (siehe EE VIII 1, 1247b25–26), woraus sich schließen lässt, dass es besser sei, eine Kunst so zu beherrschen, dass man sie den anderen beibringen und Rechenschaft davon ablegen kann, womit man sich jeweils beschäftigt. Es stimmt zwar, dass diese Naturgabe mit der Tugend im eigentlichen Sinne (kyria aretē) keineswegs identifiziert werden kann, aber sie ist klarerweise als ein Vorsprung für diejenigen anzusehen, die sie tatsächlich besitzen (siehe EE VII 2, 1237a3–7). In der NE wird dieser Gedanke im Kontext einer Diskussion über die Zurechenbarkeit unserer Handlungen zum Ausdruck gebracht: Aristoteles leugnet zwar, dass man nur verantwortlich bzw. zurechnungsfähig sein kann, wenn man »mit einem Auge geboren ist, mit dem man richtig urteilen und das wahrhafte Gut wählen kann«, 38 aber er bestreitet nicht, dass man dieses Talent in der Tat haben kann, und behauptet sogar, dass ein solcher Besitz bedeutete, eine »vollkommene und wahrhaft gute Natur« zu haben. 39

3.5 Die ethische Tugend als eine ›Mitte‹ Gewiss muss man sagen, dass sowohl die eugeneia als auch die euphyia als günstige Anlagen gelten, die es den Menschen leichter machen, nach dem sittlichen Gut zu trachten, aber man kann schon aus [εἰ δή τινές εἰσιν εὐφυεῖς] οὕτως εὖ πεφύκασι καὶ ἄνευ λόγου ὁρμῶσιν, ἡ hᾗi φύσις πέφυκε, καὶ ἐπιθυμοῦσι καὶ τούτου καὶ τότε καὶ οὕτως ὡς δεῖ καὶ οὗ δε καὶ ὅτε (EE VIII 1, 1247b23–25). 38 ἀλλὰ φῦναι δεῖ ὥσπερ ὄψιν ἔχοντα, ᾗ κρινεῖ καλῶς καὶ τὸ κατ’ ἀλήθειαν ἀγαθὸν αἱρήσεται (NE III 7, 1114b6–8). 39 ἡ τελεία καὶ ἀληθινὴ ἂν εἴη εὐφυΰα (NE III 7, 1114b11–12). 37

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der obigen Darstellung ersehen, warum Aristoteles sie nicht als unerlässliche Bedingungen für eine gute Lebensführung angesehen hat. Einerseits ist deutlich, dass unser Vernunftvermögen in unserem Leben gar nicht ins Spiel kommen würde, wenn wir uns nur auf diese Veranlagungen verlassen würden, um unsere Ziele anzustreben. Das, wodurch der Mensch sich gegenüber anderen Lebewesen auszeichnet, wäre nicht für die Mehrheit unserer Tätigkeiten in Anspruch zu nehmen, wenn unser Streben sich nach den spontanen Diktaten dieser Dispositionen richten würde. Andererseits muss man einsehen, dass es zahlreiche Situationen in der Praxis gibt, mit denen wir uns konfrontieren müssen und nicht erfolgreich umgehen könnten, ohne über die angemessene emotionale und geistige Vorbereitung zu verfügen und die wesentlichsten Kenntnisse erworben zu haben, die für eine angebrachte Beteiligung an verschiedenen Projekten erforderlich und für eine gelingende Auseinandersetzung mit diversen Problematiken vorteilhaft sind. 40 Darüber hinaus muss man sich nochmals in Erinnerung rufen, dass Aristoteles selbst behauptet, diese Talente können schädigend für ein Individuum sein, wenn diese nicht von der Vernunft geleitet werden (NE VI 13, 1144b1–14). In Anbetracht dessen bin ich der Ansicht, dass der aristotelische Versuch, eine Habituationstheorie zu entfalten und mit ihr die menschlichen Tugenden in direkte Verbindung zu setzen, besser nachvollziehbar ist. Die Gattungsbestimmung der Tugend als eine hexis wird unserer philosophischen Intuition gerecht, dass das gelingende menschliche Leben als vernunftgemäß zu verstehen ist, was In der EE wird kurz angemerkt, dass gewisse Emotionen fruchtbar für den Erwerb verschiedener Tugenden sein können. So wird in Bezug auf die Gerechtigkeit (dikaiosynē) und die Besonnenheit (sōphrosynē) gesagt, dass die Empörung (nemesis) und die Scham (aidōs) uns helfen können, uns im Sinne dieser Tugenden zu verhalten (EE III 7, 1234a28–32). Dennoch ist ersichtlich, dass die Anleitung, die wir Menschen durch unsere Emotionen ohne die Mitwirkung der Vernunft haben können, äußerst beschränkt ist. In einer Diskussion über die unterschiedlichen Rollen der Affekte bei Menschen und Tieren merkt Maria Liatsi Folgendes an: »Während nämlich der Natur der anderen Tiergattungen bestimmte charakterliche Merkmale so sehr eignen, dass man von ihnen nicht absehen kann, wenn man die betreffende Tiergattung im Auge hat, eignet der Spezies Mensch kein besonderes Verhaltensmerkmal an. Denn der Mensch hat potentiell, wie wir gesehen haben, eine natürliche Anlage für allerlei – positive und negative Eigenschaften des Charakters« (Liatsi 2006, S. 406–407). Man kann man schwerlich übersehen, dass die natürlichen Gaben sich ganz leicht in Schlechtigkeiten umwandeln können, vor allem, wenn unsere Lebensführung nicht vernunftgesteuert ist.

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unter anderem bedeutet, sich Ziele setzen zu können und mehr aus der eigenen Existenz zu machen, sodass sie über das von der Natur Gegebene hinausgeht. Die Tugenden, die sich gerade durch diese Eigenschaften charakterisieren lassen, sind diejenigen, die durch die Praxis angeeignet werden und eine gemeinsame Struktur aufweisen, nämlich diejenige der Mesoteslehre. Aufgrund der Zwecke unserer Studie ist es hier nicht möglich, eine ausführliche Rekonstruktion der Mesoteslehre zu liefern. 41 Mit folgender Diskussion beabsichtigen wir nur, gewisse grundlegende Merkmale der ethischen Tugenden in den Vordergrund zu stellen, die uns helfen werden, das Wesen des ēthos qua Sitz und Träger der charakterlichen Tugenden weiter zu erforschen. Nachdem Aristoteles die Gattung der Tugend als eine hexis erklärt und wesentliche Aspekte von ihr erläutert hat, präsentiert er in NE II 7 eine kurze Charakterisierung derselben als eine Zusammenfassung seiner vorherigen Bemühungen. Diese Passage lautet wie folgt: Die Tugend ist also eine Disposition, die sich in Vorsätzen äußert, wobei sie in einer Mitte liegt, und zwar der Mitte in Bezug auf uns, die bestimmt wird durch die Überlegung, das heißt so, wie der Kluge sie verstehen würde. Sie ist das Mittlere zwischen zwei Lastern, von denen das eine auf Übermaß, das andere auf Mangel beruht; sie ist aber auch noch insofern Mitte, als sie in den Affekten und Handlungen das Richtige findet und wählt, während die Fehler in dieser Beziehung darin bestehen, dass das rechte Maß nicht erreicht oder überschritten wird. 42

Trotz ihrer Kürze legt diese Textstelle zentrale Aspekte der Natur der Tugend vor. Aus demselben Grund ist es aber auch leicht, einige Punkte, die hier genannt werden, misszuverstehen. Zunächst muss man darauf hinweisen, dass zwei Termini hier und in anderen Kontexten verwendet werden, die sich zwar sehr ähneln, die aber nicht miteinander zu verwechseln sind – obwohl Aristoteles sie manchmal nicht vollkommen konsistent verwendet hat –, nämlich die mesotēs und das meson. Das Problem der Übersetzung dieser Termini in die Dafür siehe Wolf (2006b), Urmson (1980), Brown (1997, 2014), Rapp (2006), und Gottlieb (2009). 42 Ἔστιν ἄρα ἡ ἀρετὴ ἕξις προαιρετική, ἐν μεσότητι οὖσα τῇ πρὸς ἡμᾶς, ὡρισμένῃ λόγῳ καὶ ᾧ ἂν ὁ φρόνιμος ὁρίσειεν. μεσότης δὲ δύο κακιῶν, τῆς μὲν καθ’ ὑπερβολὴν τῆς δὲ κατ’ ἔλλειψιν· καὶ ἔτι τῷ τὰς μὲν ἐλλείπειν τὰς δ’ ὑπερβάλλειν τοῦ δέοντος ἔν τε τοῖς πάθεσι καὶ ἐν ταῖς πράξεσι, τὴν δ’ ἀρετὴν τὸ μέσον καὶ εὑρίσκειν καὶ αἱρεῖσθαι (NE II 6, 1106b36–1107a6). 41

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modernen Sprachen liegt darin, dass es aus einem rein philologischen Standpunkt heraus im Grunde korrekt ist, beide mit einem einzigen Wort wiederzugeben. 43 Allerdings darf man nicht außer Acht lassen, dass Aristoteles unterschiedliche Dinge mit ihnen meint. Die mesotēs deutet vor allem auf einen quantitativen Aspekt hin, nämlich das Dazwischen-Sein einer Haltung zwischen einem Zuviel und einem Zuwenig, und im Allgemeinen auch auf eine mittlere Stellung zwischen zwei unterschiedlichen Dinge. 44 Dahingegen drückt das meson etwas über die Natur unserer Tätigkeiten aus, nämlich ihre Richtigkeit. Das Angebrachte ist das Ziel einer tugendhaften Handlung, und nur insofern wir es tatsächlich erreicht haben, ist zu behaupten, dass wir das meson tatsächlich getroffen haben. In Anlehnung an Ursula Wolf werde ich mich im Folgenden auf diesen griechischen Terminus als »das Mittlere« beziehen, da dieser Ausdruck, wie sie richtig bemerkt, »weniger festgelegt ist und daher besser deutlich macht, dass eine Handlung, die das Mittlere realisiert, als eine Handlung zu verstehen ist, die das Richtige oder das Wahrhafte trifft« (Wolf 2006a, S. 356), während ich den Ausdruck »die Mitte« für die mesotēs verwenden werde. 45 So etwa Crisp (2000) in seiner Übersetzung. Hier sei ein Beispiel angeführt: »Virtue, then, is a kind of mean, at least in the sense that it is able to hit the mean« (μεσότης τις ἄρα ἐστὶν ἡ ἀρετή, στοχαστική γε οὖσα τοῦ μέσου) (NE II 6, 1106b27–28). Damit wird nicht zum Ausdruck gebracht, dass mit dem meson hier etwas Normatives statt etwas bloß Quantitatives bzw. Raumbezogenes gemeint ist. Im deutschsprachigen Raum wird diese Unterscheidung von Rolfes (1985) und Dirlmeier (1967) sehr wenig berücksichtigt, während Wolf (2006a) und Gigon (1991) sie zwar sorgfältiger beachten, aber beide sich weigern, diese zwei Termini auf eine einzige Art und Weise mechanisch zu übersetzen. Der Grund dafür liegt möglicherweise darin, dass, wie gesagt wurde, Aristoteles selbst sich nicht systematisch an diese Unterscheidung gehalten hat und dass es einige Textstellen gibt, in denen eine feste Übersetzungsform eher Missverständnisse erregen könnte. 44 So beispielsweise in der Physikvorlesung, wo behauptet wird, dass »das Jetzt eine bestimmte Mitte ist, die sowohl Anfang wie Ende hat« (τὸ δὲ νῦν ἐστι μεσότης τις, καὶ ἀρχὴν καὶ τελευτὴν ἔχον ἅμα) (Phy. 251b20; siehe auch Mirabilia 846a16 und Nomoi 746a). 45 Es sei denn, dass eine gewisse Passage nicht erlaubt, sich rigoros daran zu halten. Obwohl Aristoteles diese Termini in einer vollkommen technischen Hinsicht nicht gebraucht hat, stimme ich mit dem Ansatz von Lesley Brown überein, dem zufolge es wichtig ist, diese Termini soweit wie möglich zu unterscheiden, obwohl die Ergebnisse dieses Versuchs nicht immer völlig zufriedenstellend sein können. Die Schlussfolgerung, die Brown zieht, ist in dieser Hinsicht äußerst illustrativ: »I have come to the conclusion that, in English, at any rate, it is not possible to find fully suitable translations of the two terms« (Brown 2014, S. 66; meine Hervorhebung). Damit ist 43

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Dass diese sprachliche Unterscheidung sich auch als philosophisch bedeutungsvoll erweist, zeigt sich in der nächsten unmittelbaren Passage der NE II 6, in welcher es darum geht, zu präzisieren, warum verschiedene Praktiken bzw. Tätigkeiten wie z. B. der Ehebruch oder der Diebstahl überhaupt keine Mitte erlauben. Es ist darauf hinzuweisen, dass in dieser Passage von der mesotēs die Rede ist. Dieser Wortgebrauch steht im Einklang mit dem, was wir diskutiert haben, denn es ist klar, dass solche Tätigkeiten nicht tadelnswert sind, weil an ihnen etwas Mangelhaftes oder Überschüssiges festzustellen ist hinsichtlich einer Skala verschiedener Handlungstypen, der zufolge es eine richtige Art und Weise gäbe, Ehebruch bzw. Diebstahl zu begehen, sondern weil diese Tätigkeiten per se aus einem evaluativen Standpunkt heraus als schlecht zu bezeichnen sind. Durch sie entfernen wir uns vom Ideal eines guten Lebens und fügen unseren Mitmenschen – und sogar uns selbst – Schaden zu. Meiner Ansicht nach wäre es aber nicht unzutreffend zu sagen, dass wir, indem wir solche Tätigkeiten nicht ausüben und stattdessen sittlich angebrachte Güter begehren bzw. anstreben, das meson treffen. Man darf nicht annehmen, dass diese zwei Aspekte der charakterlichen Tugenden isoliert existieren. Vielmehr ist das Gegenteil wahr: Die sittlichen Dispositionen, die keinen Übermaß oder Mangel aufweisen, sind im Grunde diejenigen, kraft derer wir imstande sind, das Richtige zu realisieren – oder wie es Aristoteles auch sagt, die »praktische Wahrheit« (alētheia praktikē) zu treffen (NE VI 2, 1139a26–27). Diese Verbindung ist nicht akzidentell, sondern scheint ein kennzeichnendes Merkmal unserer charakterlichen Tugenden zu sein. Allerdings ist es angesichts der Ziele der philosophischen Theorie wichtig, in gewissen Kontexten diese Aspekte voneinander zu unterscheiden, um die Tatsache ersichtlich zu machen, dass die Dimension der Tugend als einer Haltung (hexis) nicht identisch mit ihrer Dimension als einer Tätigkeit (energeia) ist. gemeint, dass die Übersetzungsvarianten, die im Englischen und in anderen modernen Sprachen zur Verfügung stehen – denn Brown diskutiert auch die französische Übersetzung von Gauthier und Jolif –, nicht ohne Weiteres die spezielle Bedeutung, die ihnen Aristoteles beimisst, zum Ausdruck bringen können. Dies schließt allerdings nicht aus, die unterschiedliche Konnotation dieser Termini vor Augen zu haben und sie mit unterschiedlichen Ausdrücken – die vielleicht nur auf eine relativ künstliche Weise voneinander unterschieden werden können, wie es in unserer Studie der Fall mit »der Mitte« und »dem Mittleren« ist – zu übersetzen, um ihre unterschiedliche Konnotation so weit wie möglich auffällig zu kennzeichnen.

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3.6 Besondere Merkmale der ethischen Tugend Obwohl diese kurze Diskussion über die per se schlechten Handlungen in diesem Rahmen stattfindet, ist es offensichtlich, dass Aristoteles sich im zweiten Buch der NE hauptsächlich auf die Dimension der Tugend als Disposition des Charakters konzentriert, und gerade aus diesem Gesichtswinkel werden die Eigenschaften der Tugend in diesem Teil des aristotelischen Traktates erläutert. Verschiedene charakteristische Merkmale der Tugenden, die in der oben zitierten Passage vorgelegt werden, etwa ihre vorsätzliche Natur (prohairetikē) oder die Tatsache, dass das, was durch sie gewählt wird, im Einklang steht mit dem, was der Kluge (phronimos) selbst wählen würde – eine Figur, über welche wir erst im Buch VI etwas erfahren –, wurden vorher nicht ausdrücklich thematisiert. Ihre Behandlung vollzieht sich in späteren Schritten der aristotelischen Argumentation. Deshalb scheint es mir nicht völlig angebracht, diese Passage als eine »Definition« der Tugend zu bezeichnen, wenn damit eine Art von Schlussfolgerung gemeint ist, zu welcher Aristoteles etwa durch ein deduktives Verfahren im zweiten Buch gelangt. Es ist eine Definition in dem noch wichtigeren Sinne, dass sie ihr genus proximum (hexis) und ihre differentia specifica (prohairetikē) feststellt und damit auch zentrale Merkmale und Eigenschaften der Tugend in den Vordergrund stellt, von denen einige später eine sorgfältigere Behandlung erfahren und hier nur angekündigt werden. Anders gesagt: Die vollkommene Charakterisierung der ethischen Tugend erfolgt m. E. in einem progressiven und kumulativen Argument im Laufe der gesamten Untersuchung – ein Verfahren, das den methodologischen Grundlinien der Ethik als einer Wissenschaft, die nur einen bestimmten Anspruch auf Genauigkeit erheben kann, entspricht. Es ist allerdings auffällig, dass die Leistung des Aristoteles im zweiten Buch selbst enorm ist, denn in ihm werden schon wesentliche Elemente zur Verfügung gestellt, anhand deren man die Natur der aretai als Haltungen erklären kann, die in einem bestimmten Seelenteil, nämlich im zu habitualisierenden Seelenteil, ihren Sitz haben, und in einem konkreten Zusammenhang mit unseren Affekten und mit den Gegenständen unseres Wählens stehen, welche wiederum unter einer besonderen Berücksichtigung der Lust und der Unlust angestrebt werden. Ferner bestätigt sich die These in diesem Teil der aristotelischen Abhandlung, dass der Seelenteil, der als Träger der verschiedenen hexeis fungiert, zwar anders beschaffen sein muss als Ethos und Praxis

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der vernünftige Seelenteil, aber von ihm auf eine sehr bedeutungsvolle Weise informiert wird, da, wie wir im letzten Abschnitt gesehen haben, die hexeis eine besondere teleologische Struktur aufweisen. Dass sie mit einem gewissen kognitiven Inhalt aufgeladen sein müssen, um voneinander überhaupt unterscheidbar zu sein, ist eine wesentliche Voraussetzung, um Rechenschaft über die Tugenden qua seelische Phänomene überhaupt ablegen zu können – ein Aspekt, der von Moss und anderen Vertretern der nicht kognitivistischen Lesart übersehen wird. Es ist nicht nur anzumerken, dass die hexeis uns in unterschiedlichen Szenarien befähigen, so oder so zu handeln, sondern dass nur eine von ihnen ins Spiel kommt, wenn es darum geht, etwa im Sinne der Besonnenheit zu handeln, während die anderen in demselben Augenblick nur als sich in der Seele befindende Potenzialitäten zu erfassen sind, welche wiederum nur innerhalb der passenden Kontexte wirken. 46 Und zwar geschieht dies auf solche Weise, weil die hexeis sowohl in einer kausalen als auch in einer qualitativen Verbindung mit den Tätigkeiten stehen, aus denen sie entstanden sind. Diese Aspekte sind m. E. diejenigen, aufgrund deren die charakterlichen Tugenden sich voneinander unterscheiden. Die charakterlichen Tugenden teilen zwar eine strukturelle Ähnlichkeit in dem Sinne, dass sie durch wiederholtes Handeln entstehen, in demselben Seelenteil verankert sind und in der Mitte zwischen zwei Extremen liegen, aber die Ziele und Tätigkeiten, auf die sie bezogen sind, weisen beträchtliche Unterschiede auf. Die hexeis sind meiner Lesart zufolge seelische Phänomene, die sich dadurch voneinander unterscheiden, dass sie eine KausalDie Verlockung ist deshalb groß, zu versuchen, die Tugenden unter der Struktur von Akt und Potenz zu begreifen, wie es verschiedene Kommentatoren gemacht haben (siehe z. B. Schneider 2001, S. 76 ff.). Im Gegensatz dazu bin ich aber der Ansicht, dass man die hexeis noch genauer als eine »erste Aktualität« (entelecheia hē protē) der Seele im Sinne von De Anima (II 1, 412a22–27, 5, 417a1–b2, III 4, 429b5–9) zu betrachten sind. So wie die verschiedenen Wissenschaften, die ihren Sitz in der Seele haben, so sind auch die hexeis nicht vollkommen mit den im Sinne von ihnen ausgeführten Tätigkeiten zu identifizieren, denn sie bleiben in der Seele bewahrt, selbst wenn der Akteur keinen Gebrauch von ihnen macht. Sie unterscheiden sich auch von den Potenzialitäten eines bloßen Vermögens, welche ganz unbestimmt sind; die Potenzialität der hexeis ist dahingegen auf das Ziel der entsprechenden Aktivität gerichtet. Wenn man im Besitz einer hexis ist, verrichtet man nicht nur Dinge in Übereinstimmung mit der jeweiligen Haltung, sondern man wünscht der hexis gemäß, das Richtige oder das Angebrachte zu tun. Dazu siehe die ausführliche und ausgezeichnete Diskussion von Vigo (1996, S. 175 ff.).

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geschichte und einen kognitiven Inhalt haben, durch welchen es möglich ist zu beurteilen, ob wir uns in der entsprechenden Situation befinden, in der es angebracht ist, so oder so zu handeln, was selbstverständlich eine große Kontextsensibilität gegenüber verschiedenen Faktoren fordert. Es gibt keine theoretische Beschränkung, die Aristoteles zu der Position verpflichten würde, dass die hexeis, um sich auf die von mir suggerierte Weise voneinander unterscheiden zu können, jeweils ein einziges Grundmerkmal des Handelns erfassen sollten. Das ist allerdings die Interpretation, die Marguerite Deslauriers in einem Artikel zu diesem Thema annimmt, in dem sie Folgendes schreibt: »We can begin […] by asking how Aristotle individuates moral virtues. The simplest answer is: according to the actions and feelings produced by a virtue (this is what the discussion of the different moral virtues in EN II 7 suggests). But which aspect of an action or a feeling makes it one which manifests courage rather than justice?« (Deslauriers 2002, S. 114). Es wird damit die Frage aufgeworfen, ob es eine paradigmatische Eigenschaft einer Handlung bzw. eines Wunsches gibt, welche wir als »gerecht« bzw. »besonnen« charakterisieren und auf eine besondere Tugend in der Seele zurückverfolgen können. Das ist aber meiner Ansicht nach eine petitio principii, da, wenn es so etwas überhaupt gäbe – was natürlich nicht der Fall ist –, es immer noch unbeantwortet bliebe, warum diese Tugenden Anlass zu solchen Wünschen und Handlungen geben, und darin besteht genau ihre unterschiedliche Natur qua Tugenden. In der Tat zeigt Aristoteles, dass die Wünsche als Antworten auf die auszuführenden Handlungen entstehen, die wir als richtig oder gut erachten, was wiederum nur dadurch zu erklären ist, dass wir uns zuvor an diesen Tätigkeiten auf die richtige Art und Weise beteiligt und unsere Affekte vernunftgemäß geschult haben. 47 Dass die Tugenden im Zusammenhang mit den Tätigkeiten, mittels deren sie zustande gekommen sind, stehen, ist dadurch offenDahingegen scheint mir die textuelle Basis, anhand derer Deslauriers ihre Lesart untermauert, wonach sie behauptet, »the moral virtues are numerically one hexis […] although they are not the same in being« (Deslauriers 2002, S. 114), nicht überzeugend zu sein: Die Gleichsetzung der politischen Wissenschaft mit der Klugheit in NE VI 8, 1141b23–24 scheint mir nicht übertragbar auf die charakterlichen Tugenden. Darüber hinaus ist ihr Interpretationsvorschlag, dass die charakterliche Tugend eine Art von Entität wäre, welcher aus verschiedenen Standpunkten heraus verschiedene »Akzidenzien« (d. h., »gerecht«, »besonnen«, »tapfer«, usw.) zukommen würden (siehe Deslauriers 2002, S. 118 ff.), besonders problematisch.

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sichtlich, dass wir sie ohne die entsprechenden Bemühungen in den verschiedenen Praxiskontexten überhaupt nicht besitzen würden. Aber es ist ebenfalls wichtig hervorzuheben, dass sie eine besondere Beschaffenheit haben, die der jeweiligen Qualität der in den Habituationsprozessen ausgeführten Handlungen entspricht. 48 Dies wird von Aristoteles zum Ausdruck gebracht mittels des Beispiels eines Kithara- bzw. eines Flötenspiels (siehe NE I 6, 1098a11 ff.; Met. IX 5, 1047b31–35). Es ist nicht gleichgültig, ob die Prozesse, durch welche wir eine Kunst gelernt haben, schlecht waren, denn die Qualität derselben äußert sich in der Art und Weise, in der wir dieses oder jenes verrichten. Vielmehr ist genau die bestimmte Beschaffenheit der Tätigkeit das, was einerseits den Inhalt der hexeis so entscheidend prägt, dass wir gut im Sinne der Dispositionen handeln können, und was andererseits bewirkt, dass sie im Unterschied zu anderen seelischen Widerfahrnissen dauerhaft sein können. Denn wie Aristoteles in seiner Kategorienschrift betont, sind die hexeis fester verankert und schwerer zu verändern als andere Qualitäten, die ihren Sitz in der Seele haben (siehe Cat. 8, 8b30), und dieser besondere Aspekt macht das aus, was wir in Übereinstimmung mit der philosophischen Tradition als die Konnaturalität der Tugend nennen könnten, 49 denn die hexeis werden tatsächlich ein wesentlicher Bestandteil der praktischen Identität des Handelnden. Dass die Haltungen eine Stabilität hervorbringen, indem sie in den meisten Fällen bewirken, dass wir so oder so handeln, ist auf jeden Fall als ein Vorteil anzusehen, denn so ist der Mensch in der Lage, den innerlichen Zustand aufrechtzuerhalten, kraft dessen es für ihn möglich ist, seine geistigen Fähigkeiten zu entfalten und seine Ziele auf eine zuverlässige Weise anzustreben. Nun müssen wir aber ein nahverwandtes Thema in Augenschein »Die Dispositionen entstehen aus den entsprechenden Tätigkeiten. Aus diesem Grund müssen wir den Tätigkeiten, die wir ausüben, eine bestimmte Qualität geben, eben weil den Unterschieden zwischen diesen die Dispositionen entsprechen. Es kommt also nicht wenig darauf an, ob man schon von Kindheit an so oder so gewöhnt wird; es hängt viel davon ab, ja sogar alles« (ἐκ τῶν ὁμοίων ἐνεργειῶν αἱ ἕξεις γίνονται. διὸ δεῖ τὰς ἐνεργείας ποιὰς ἀποδιδόναι· κατὰ γὰρ τὰς τούτων διαφορὰς ἀκολουθοῦσιν αἱ ἕξεις. οὐ μικρὸν οὖν διαφέρει τὸ οὕτως ἢ οὕτως εὐθὺς ἐκ νέων ἐθίζεσθαι, ἀλλὰ πάμπολυ, μᾶλλον δὲ τὸ πᾶν) (NE II 2, 1103b21–25). 49 Es verwundert deshalb nicht, dass Aristoteles mehrmals auf die Ähnlichkeit der hexeis mit der Natur hingewiesen hat (siehe NE VII 11, 1152a29–33; Rhet. I 11, 1370a6–9; De memoria 2, 452a27–b4). Dass dieser Vergleich aber nicht zu einer Gleichsetzung beider Bereiche führen soll, ist ein Thema, mit dem wir uns in anderen Teilen unserer Studie beschäftigen werden. 48

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nehmen, um die Implikationen dieser psychischen Grundlage, die die Tugenden darstellen, für die aristotelische praktische Philosophie ersichtlich zu machen. Anhand einer Darstellung der berühmten aristotelischen These der Einheit der charakterlichen Tugenden und einer Diskussion über wichtige Einwände, die gegen sie erhoben worden sind, wird es für uns möglich sein, Rechenschaft über die Verhältnisse der charakterlichen Tugenden zueinander abzulegen.

3.7 Die Einheit der Tugenden Mit unseren vorherigen Erörterungen haben wir versucht zu zeigen, warum sich die charakterlichen Tugenden für Aristoteles wesentlich von denjenigen, die man bloß durch die Natur bekommt, unterscheiden. Die Bedeutung dieses Punktes kann nicht genug betont werden, denn die praktische Philosophie beruht maßgeblich auf der menschlichen Fähigkeit, sich durch das Handeln perfektionieren und nach dem Guten streben zu können. Der Erwerb der charakterlichen Tugenden ist von der gelingenden Lebensführung unabtrennbar, und es ist in der Tat von jedem praktischen Akteur zu erwarten, dass er sich all die Vortrefflichkeiten aneignet, die notwendig für das oberste Ziel des menschlichen Handelns bzw. die eudaimonia sind. Ein guter Akteur kann nicht darauf verzichten, diese oder jene Tugend zu erwerben. Er muss Aristoteles zufolge alle zugleich haben, um als sittlich vortrefflicher Akteur gelten zu können. Denn wenn das nicht der Fall wäre, wäre er folglich nicht imstande, mit gewissen praktischen Situationen erfolgreich umzugehen, was darauf hinauslaufen könnte, dass er sich durch die misslingende Konfrontation mit besonderen Eventualitäten vom Ideal eines guten Lebens entfernt. Diese These benötigt allerdings gewisse Präzisierungen. Es ist natürlich nicht der Fall, dass man, um etwa im Sinne der Tapferkeit handeln zu können, sich für diesen Zweck der Mäßigung oder irgendeiner anderen Tugend bedienen muss. Die Tugenden sollen keineswegs als eine Art Werkzeuge angesehen werden, die behilflich für die Ausübung anderer Tugenden sind. Was mit dieser These gemeint wird, ist etwas anderes, und zwar dass der zu habitualisierende Seelenteil in direktem Zusammenhang mit unseren Affekten steht; und wenn es beispielsweise eine latente Gefahr gäbe, dass der Akteur gewisse Affekte empfindet, und zwar nicht auf die korrekte Art und Weise wie diese Affekte empfunden werden sollen, dann könnten sie Ethos und Praxis

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die guten Dispositionen bzw. die Deliberationsprozesse in einem bestimmten Moment überwältigen und zur Ausführung sittlich verwerflicher Handlungen führen. 50 Der Kern des zu habitualisierenden Seelenteils ist das ēthos, welches als eine Gesamtheit von sittlich geschulten Dispositionen gilt, die als solche eine innerliche Stabilität gewährleistet, sodass die verschiedenen Seelenteile einheitlich wirken und auf ein gemeinsames Ziel gerichtet werden können. 3.7.1 Die Totalität der Tugenden als Bedingung für die gute Lebensführung Aufgrund der Tatsache, dass man alle Tugenden erwerben muss, um als phronimos gelten zu können, ist in der Aristoteles-Forschung die Rede von der »Einheit der Tugenden« üblich geworden. 51 In der Tat stellt Aristoteles explizit fest, dass man »weder im eigentlichen Sinn gut sein kann ohne die Klugheit noch klug ohne die Tugend des Charakters« (NE VI 13, 1144b30–32), wobei die Totalität der ethischen Dieses Problem wird von Gottlieb auf eine sehr treffliche Weise dargestellt: »Since ethical virtues are states of the non-rational part of the soul, and since one does not have them until one has fully incorporated the correct intellectual state, in order for the good person to have any ethical virtue he requires the intellectual state which will allow him to have the appropriate emotions, directed at the correct objects at the correct time and hence to act accordingly. But he will not have that intellectual state unless he has those ethical virtues which embody it, because an inappropriate emotion or motive in any sphere will undermine that intellectual state; indeed a vice in any one area may undermine virtuous activity in any other area. As Aristotle says, ›vice perverts us and causes us to be deceived about the origins of actions‹ (EN VI 13, 1144a34), and, as he explains, the origin in action is what one ought to do. Furthermore, an incorrect intellectual judgment in one area may undermine a correct judgment in another area. Someone who has merely learnt a list of rules to follow may act kata logon but will not reliably do the right thing« (Gottlieb 1994, S. 287). 51 Während Halper (1999), Pakaluk (2002) und Natali (2007) sich mit diesem Terminus auf das Thema beziehen, gibt es Interpreten wie Irwin (1988a, 1988b) und Deslauriers (2002), die stattdessen bevorzugen, über die »Reziprozität« der Tugenden bei Aristoteles zu sprechen. Der Grund dafür, dass die Letzteren so verfahren, liegt darin, dass sie nicht den Eindruck erwecken wollen, Aristoteles habe eine sokratische Position vertreten, wonach die Tugenden nur Teile oder Aspekte einer einzigen Tugend bzw. der phronēsis sind – welche letztlich eine Tugend intellektueller Natur ist –, zumal da er diese Position ausdrücklich kritisiert und sich von ihr distanziert hat (NE VI 13 1144b19–21; siehe auch MM 1182a20). Da die Grundlinien für diese Diskussion aber schon seit Langem in der Sekundärliteratur wohl etabliert sind, bin ich der Ansicht, dass keine Gefahr mehr besteht, Aristoteles eine derartig falsche These zuzuschreiben. Demzufolge werde ich zwischen diesen Termini gelegentlich wechseln je nachdem, ob ich es für wichtig erachte, einen gewissen Aspekt des Verhältnisses der Tugenden zueinander deutlicher zu betonen. 50

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Tugenden gemeint ist. Dies wird bestätigt, wenn kurz danach behauptet wird, dass man, im Unterschied zu den natürlichen Tugenden, keineswegs an einer der Tugenden mangeln soll, »aufgrund deren man gut überhaupt genannt wird« (NE VI 13, 1144b35). Daran wird sichtbar, dass die phronēsis und die aretai nicht separat voneinander zustande kommen können. Sie stehen zueinander in einem bidirektionalen bestimmenden Verhältnis, das zu ihrer jeweiligen Entwicklung und Perfektionierung führt. Der Erwerb der Tugenden setzt voraus, dass man die Fähigkeit, über praktische Angelegenheiten nachzudenken, ausübt, und diese Reflexion muss wiederum ihren Ausgangspunkt in den Dispositionen finden, die durch die Praxis angeeignet werden. Dieser Punkt ist von großem Belang um zu begreifen, warum Aristoteles nicht explizit sagt, welche dieser Tugenden »zuerst« zustande kommt, die Klugheit oder die charakterlichen Tugenden. Eine strikte chronologische Vorrangigkeit festzustellen wäre irreführend, weil sowohl die phronēsis als auch die aretai nicht als solche gelten können, ohne dass ihr »Gegenstück« jeweils auch dort vorhanden ist. Darüber hinaus muss man in Betracht ziehen, dass die phronēsis und die aretai in der deinotēs und in den physikai aretai jeweils ihre Grundlage finden. Die Entwicklung der Vermögen, die auf die Praxis bezogen sind, hat in diesen Naturgaben eine wichtige Basis. Daraus lässt sich schließen, dass die angemessene Entfaltung der Tugenden graduell erfolgt, und zwar auf der Basis der in der Seele verankerten Veranlagungen, welche allerdings nachteilig und sogar schädigend für den Akteur sein könnten, wenn sie nicht durch die richtige Anweisung bzw. eine gute ethische Erziehung korrekt ausgerichtet werden. In Anbetracht dessen bin ich der Ansicht, dass bei Aristoteles von zwei Reziprozitätsthesen gesprochen werden kann, nämlich der Reziprozität zwischen der phronēsis und den aretai und der der verschiedenen aretai zueinander. Es ist ersichtlich, dass der enge Zusammenhang zwischen der phronēsis und den aretai von enormem Belang für die praktische Philosophie ist, weil gerade auf ihrer Zusammenwirkung – welche darin besteht, dass die Tugend und die Klugheit jeweils das Ziel und die Mittel setzen – die Entstehung einer Handlung im aristotelischen Modell beruht. Der zweite Zusammenhang aber ist für uns an dieser Stelle unserer Studie am wichtigsten, denn er betrifft direkterweise die Beschaffenheit des ēthos und seine Bestandteile bzw. die einzelnen Tugenden. Wenn Aristoteles die These vertritt, dass man, um als guter Handelnder zu gelten, alle TugenEthos und Praxis

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den besitzen muss, dann scheint es, dass verschiedene Implikationen sich notwendigerweise daraus ableiten würden. Die Vermutung liegt nahe, dass alle Akteure sich an denselben Praktiken beteiligen müssen, sodass es ihnen gelingen kann, dieselben Dispositionen zu erwerben, denn nur die gesamte Konstellation der Tugenden gewährleistet, dass man ein sittlich gutes Leben führen kann. Ferner scheint es, dass die Betätigungen, die zum Erwerb der Tugenden führen, dieselbe Beschaffenheit haben müssen, denn die Praktiken, aufgrund deren man tugendhaft wird, müssen von einer gewissen hohen Qualität sein um tatsächlich gute Dispositionen in der Seele hervorbringen zu können. Außerdem ist anzunehmen, dass die gute Lebensführung bei allen Akteuren sich nur auf eine ganz konkrete Weise realisieren lässt und dass der Raum für Abweichungen – wenn es überhaupt welche gibt – in dieser Hinsicht minimal sein würde. 3.7.2 Die Tugenden im Kleinen und im Großen: eine Debatte Diese und andere ähnliche Betrachtungen haben zu einer weitgehenden Kontroverse zwischen den Kommentatoren geführt. Es ist hier vor allem die Diskussion zwischen Terence Irwin (1988a, 1988b) und Richard Kraut (1988) hervorzuheben, die die Grundlinien für diese Debatte maßgeblich bestimmt hat. In diesen beiden Beiträgen erhebt Irwin verschiedene Einwände, die seiner Ansicht nach darauf hinweisen, dass die Theorie der Einheit der Tugenden bei Aristoteles inkonsistent sei. Die Gründe, die er anführt um seine Position zu untermauern, sind viele, so wie die Anzahl der kritischen Ansätze, die in der Aristoteles-Forschung entstanden sind um Irwins Interpretation zu widerlegen. 52 Aufgrund der Grenzen unserer Studie ist es nicht möglich, auf alle Details dieser Debatte einzugehen. Mit der vorliegenden Diskussion beabsichtige ich keine erschöpfende Analyse dieser Problematik, sondern Folgendes: Einerseits werde ich einige wichtige Einwände Irwins darstellen und kritisieren, die m. E. noch nicht eine befriedigende Antwort gefunden haben. Andererseits werde ich die Interpretation der Einheit der Tugenden präsentieren, die meiner Ansicht nach Irwins Hauptkritik am besten entkräften kann, wobei ich mich zwar an die Ansätze Halpers und Gardiners anlehne, welche ich allerdings in Bezug auf ein paar zentrale Punkte einer wichtigen Einige wichtige Beiträge sind diejenigen von Telfer (1990), Gottlieb (1994), Halper (1999), Gardiner (2001) Deslauriers (2002), Pakaluk (2002), Drefcinski (2006) und Natali (2007).

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Revision unterziehe. Damit werde ich zu zeigen versuchen, dass die These der Einheit der Tugenden von großer Tragweite ist, um die Natur des ēthos als eine Gesamtheit von hexeis richtig interpretieren zu können. Eines der Hauptprobleme, das Irwin zufolge der aristotelischen Theorie zugrunde liegt, bezieht sich auf die verschiedenen Dinge, die ein Handelnder tun muss, um zwei besondere Tugenden zu erwerben, nämlich die megalopsychia und die megaloprepeia, welche wir jeweils als »Stolz« und »Großzügigkeit« übersetzen können. Diese Tugenden zeichnen sich dadurch aus, dass sie mit Ehre und Geldangelegenheiten »im Großen« zu tun haben. Dahingegen spricht Aristoteles über eleutheriotēs und eine namenlose Tugend, die zwar auch im Zusammenhang mit denselben Angelegenheiten stehen, sich aber auf einen kleineren Umfang beschränken, d. h., sie vollziehen sich »im Kleinen«. In seiner Behandlung dieser Tugenden stellt Aristoteles fest, dass die Akteure, die die Tugenden im Kleinen besitzen, nicht unbedingt ihre Gegenstücke im Großen haben (siehe NE IV 4, 1122a28–29, 7, 1123b5–6). Aufgrund solcher Behauptungen scheint es aber, dass sich nicht alle Akteure unbedingt diese Tugenden im Großen aneignen müssen, denn im Grunde sind diejenigen, die imstande sind sie zu erwerben, die Menschen, die politische Ämter bekleiden oder andere besondere Aufgaben in der Gesellschaft leisten. Wenn das tatsächlich so ist, dann liegt es aber nahe zu denken, dass man sich nicht zwangsläufig an den Angelegenheiten beteiligen muss, die mit dem Erwerb und der Ausübung dieser Tugenden zusammenhängen – vielmehr könnte sogar eine materielle Unmöglichkeit bestehen, diese Tugenden auszuüben, wenn nur eine begrenzte Anzahl von Individuen an den für ihre Aneignung erforderlichen Tätigkeiten teilnehmen können bzw. wenn nicht alle Akteure das Vermögen oder die Ressourcen dafür haben, Geld oder andere Güter in einem großen Maß freigiebig zu verteilen. Demzufolge müsste man behaupten, dass diese Tugenden entbehrlich für eine gute Lebensführung sind. Irwin zufolge würde das aber in direktem Widerspruch mit der oben zitierten Passage aus NE VI 13 stehen, in welcher gesagt wird, dass man, im Unterschied zu den natürlichen Tugenden, auf keine der ethischen Tugenden verzichten kann, um wirklich als phronimos gelten zu können. Wie man sehen kann, ist damit keine unbedeutende Sache im Spiel, denn die Antwort auf die Frage, ob alle Vortrefflichkeiten der Seele notwendig sind um ein gelingendes Leben zu führen, ist entEthos und Praxis

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scheidend für das ganze Projekt der aristotelischen praktischen Philosophie. Die große Bedeutung, die im aristotelischen Modell der Forderung zukommt, alle Tugenden zu besitzen, wird von Irwin noch stärker betont, indem er auf eine Charakteristik hinweist, die seiner Ansicht nach die aristotelische Ethik maßgeblich prägt, nämlich der Erfolg beim sittlichen Handeln. Irwin befürwortet die These, dass die ethischen Theorien der Antike – und insbesondere die aristotelische – voraussetzen, dass die tugendhaften Menschen, um als solche zu gelten, die von ihnen intendierten Ziele tatsächlich treffen müssen. Anders gesagt: Aus dem Standpunkt des Ethischen heraus ist es nicht hinreichend, dass man sich etwas vornimmt ohne es in die Tat umzusetzen, und zwar ungeachtet dessen, ob die Absichten des Handelnden gut waren. Ganz anders verhält sich die Sache in der kantischen Philosophie. Angesichts einer sittlichen Beurteilung ist die Gesinnung für Irwin das Allerwichtigste in der Moralphilosophie Kants und nicht etwa die Hervorbringung selbst einer guten bzw. einer gerechten Handlung. Im Rückgriff auf die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten und den bekannten kantischen Begriff des »guten Willens« behauptet Irwin Folgendes: On this view, the generous person who fails in his efforts to be magnificent is indeed inexperienced in the course of the world, and lacks penetrating acuteness; but he need not lack good will; and if good will implies virtue, he does not lack virtue. Aristotle sharply rejects any such attempt to separate virtue from the knowledge needed for success. In his statement of the doctrine of the mean he already implies that success is a test for virtue (Irwin 1988a, S. 65). 53

Ungeachtet der Tatsache, dass es verschiedene Interpreten gibt, die die Angemessenheit dieser Darstellung Kants infrage stellen und dafür plädieren würden, dass die Konsequenzen des Handelns niemals für einen Akteur indifferent sein können, 54 scheint es mir, dass Irwins Die Textstelle, auf die Irwin sich explizit beruft, um seine Interpretation Kants bereitzustellen, ist die folgende: »Was ich also zu thun habe, damit mein Wollen sittlich gut sei, dazu brauche ich gar keine weit ausholende Scharfsinnigkeit. Unerfahren in Ansehung des Weltlaufs, unfähig auf alle sich eräugnende Vorfälle desselben gefaßt zu sein, frage ich mich nur: Kannst du auch wollen, daß deine Maxime ein allgemeines Gesetz werde?« (Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Ak. Aus. IV: 403). 54 Siehe beispielsweise die Interpretation David Ross’: »Good will without action is commonly and properly judged to be ineffective and worthless; ›the road to hell is paved with good intentions‹. Kant is careful to point out that this is not what he means by good will. He means ›not a mere wish, but the summoning of all means in our 53

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These bezüglich des Erfolgs beim Handeln der aristotelischen Position nicht gerecht wird. Erstaunlicherweise aber wird dieser Aspekt seiner Lesart kaum in Zweifel gezogen, obwohl verschiedene Anhaltspunkte für diese Aufgabe schon durch andere Bemühungen in der Aristoteles-Forschung zur Verfügung gestellt worden sind. Es ist m. E. Howard Curzers Verdienst, in einem Artikel (2005) auf eine überzeugende Weise gezeigt zu haben, dass der spoudaios für Aristoteles auch in gewissen Fällen seine Ziele verfehlen kann, ohne dass dies unbedingt darauf hinausläuft, dass er nicht mehr als spoudaios angesehen wird. Curzer präsentiert seine Interpretation zwar nicht als eine direkte Antwort auf Irwin, aber es liegt auf der Hand, dass Irwins Ansatz an dem Fehler leidet, den Curzer bei verschiedenen Kommentatoren identifiziert, nämlich Aristoteles ein hoch idealisiertes Bild des tugendhaften Menschen zuzuschreiben. Um seine Position zu untermauern, analysiert Curzer einige interessante Passagen, die von den Interpreten oft vernachlässigt werden. Er weist beispielsweise auf eine Textstelle hin, an welcher Aristoteles behauptet, dass der Freigebige sich »mehr darüber ärgert, wenn er eine Aufwendung, die er hätte machen sollen, nicht gemacht hat, als es ihm Leid tut, wenn er eine Aufwendung gemacht hat, wo er nicht hätte sollen.« 55 Diese Behauptung ist offensichtlich schwer mit Irwins interpretatorischem Ansatz in Einklang zu bringen. Daran lässt sich erkennen, dass Aristoteles in einen Widerspruch geraten würde, wenn er einerseits behauptete, der spoudaios sei unfehlbar in Bezug auf das gerechte Handeln, und andererseits, dass es die Möglichkeit gebe, dass er bei bestimmten Gelegenheiten nicht richtig erkenne, ob und wie eine Aufwendung gemacht werden soll (siehe Curpower‹. That is, it is the element of good will in good action, the good motivation of action, that he values, and rightly values, above everything else« (Ross 1954, S. 12; siehe auch Cummiskey (1996), Timmermann (2005) und Wood (2008, S. 261 ff.). Es ist darüber hinaus anzumerken, dass verschiedene Beiträge in den letzten zwei Jahrzehnten erschienen sind, die darauf hinweisen, dass die praktische Philosophie Kants und Aristoteles’ verschiedene Berührungspunkte haben, die oft durch die pointierte Gegenüberstellung wie diejenige Irwins verkannt werden. Siehe dazu Höffe (2006), Korsgaard (2008) und den von Engstrom und Whiting herausgegebenen Sammelband (1996), wobei zu betonen ist, dass der Letztere einen Beitrag von Irwin enthält, in welchem er die Interpretation Kants verschiedener Glückstheorien der Antike im Allgemeinen kritisiert, ohne das Verhältnis zwischen Aristoteles und Kant näher zu erforschen. 55 καὶ μᾶλλον ἀχθόμενος εἴ τι δέον μὴ ἀνάλωσεν ἢ λυπούμενος εἰ μὴ δέον τι ἀνάλωσεν (NE IV 3, 1121a6–7). Ethos und Praxis

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zer 2005, S. 237). Der Entwurf einer theoretischen Inkonsistenz kann nur behoben werden, so Curzer, indem wir den spoudaios eher als jemanden betrachten, der zwar gut genug ist, um als tugendhaft zu gelten, der aber in gewissen Kontexten nicht im Sinne der Tugend agiert, ohne dass dabei seine innere Beschaffenheit schlecht wird. Dass dies nicht nur die beste Strategie ist, um Aristoteles zu verteidigen, sondern tatsächlich die Ansicht des Aristoteles darstellt, wird an zwei anderen Passagen bestätigt, an denen er überraschenderweise Folgendes behauptet: Denn es ist gleichgültig, ob ein guter Mensch einen schlechten betrogen hat oder ein schlechter Mensch einen guten, und ebenso, ob ein guter oder ein schlechter Mensch Ehebruch begangen hat. 56 Jemand könnte ja mit einer Frau schlafen im Wissen, wer sie ist, und doch so, dass der Ursprung der Handlung nicht ein Vorsatz, sondern ein Affekt ist. Dann tut er also Unrecht, ist aber deswegen nicht ungerecht, wie zum Beispiel jemand kein Dieb ist, obwohl er gestohlen hat, oder kein Ehebrecher, obwohl er die Frau verführt hat usw. 57

Beide Textstellen weisen auf Fälle hin, die aus dem Standpunkt der ethischen Beurteilung heraus noch problematischer sind. Denn es ist für uns naheliegend zu denken, dass ein Mensch, der eine Gelegenheit für das gute Handeln nicht wahrnimmt, immer noch als sittlich gut angesehen werden kann. Wir können uns leicht Szenarien vorstellen, in denen die richtige Vorgehensweise aufgrund eines bestimmten Wissensmangels oder der Schnelligkeit der Ereignisse schwer zu bestimmen ist. In den Fällen aber, die oben dargestellt werden, geht es um die wissentliche Ausführung verwerflicher Taten wie Diebstahl und Ehebruch. Der Kontext, dem das erste Zitat entstammt, ist eine Diskussion über die Anwendung der Gerechtigkeit. Dort heißt es, dass der Richter nicht darauf achten muss, ob der Angeklagte ein guter bzw. ein schlechter Mensch ist. Vielmehr müssen seine Bemühungen darauf gerichtet sein, dass die schlechten Taten vergolten werden und der Täter die entsprechende Strafe für seine Handlungen bekommt – wobei angenommen wird, dass der fragliche Akteur nicht zwangsläufig durch die Ausführung einer schlechten οὐδὲν γὰρ διαφέρει, εἰ ἐπιεικὴς φαῦλον ἀπεστέρησεν ἢ φαῦλος ἐπιεικῆ, οὐδ’ εἰ ἐμοίχευσεν ἐπιεικὴς ἢ φαῦλος (NE V 7, 1132a2–4). 57 καὶ γὰρ ἂν συγγένοιτο γυναικὶ εἰδὼς τὸ ᾗ, ἀλλ’ οὐ διὰ προαιρέσεως ἀρχὴν ἀλλὰ διὰ πάθος. ἀδικεῖ μὲν οὖν, ἄδικος δ’ οὐκ ἔστιν, οἷον οὐ κλέπτης, ἔκλεψε δέ, οὐδὲ μοιχός, ἐμοίχευσε δέ· ὁμοίως δὲ καὶ ἐπὶ τῶν ἄλλων (NE V 10, 1134a19–23). 56

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Handlung sittlich verdorben wird. Solche Betrachtungen sind nicht zur Sache des Rechtsspruchs gehörig. Die Antwort auf die Frage aber, wie so etwas überhaupt möglich ist, dass ein Mensch sich auf eine solche Weise verhält und trotzdem sittlich gut sein kann, kann dem zweiten Zitat entnommen werden. Aristoteles denkt, dass es für die guten Menschen nicht immer und unter allen Umständen möglich ist, gewissen starken Affekten zu widerstehen, die durch Situationen entstehen können, die etwa einen intensiven sexuellen Genuss oder einen großen materiellen Gewinn versprechen. Dies bedeutet natürlich nicht, dass Aristoteles dafür plädieren würde, dass so etwas zu machen richtig ist, geschweige denn, dass der spoudaios sich ab und zu so verhalten soll, etwa weil die Ansprüche einer sittlich guten Lebensführung manchmal so ermüdend sind. Solche Taten gelten immer als sittlich verwerflich. Es gibt allerdings einen großen Unterschied zwischen diesen Fällen überwältigender Affekte und jenen, bei denen der Akteur durch ein überlegtes Kalkül sich vornimmt, so oder so zu handeln. In dieser Hinsicht ist der ausschlaggebende Begriff die prohairesis, welche für Aristoteles, wie wir im nächsten Kapitel sehen werden, als das Hauptkriterium gilt, anhand dessen man beurteilen kann, was für einen Charakter ein Subjekt hat. Etwas kann allerdings bereits darüber gesagt werden. Die prohairesis ist das Ergebnis eines komplexen Deliberationsprozesses, in dem sowohl unser Begehrungs- als auch unser Urteilsvermögen miteinbezogen sind, und je nachdem, ob man gute sittliche Haltungen durch Gewöhnung erworben und seine Überlegungsvermögen mit Hinblick auf praktische Angelegenheiten richtig ausgeübt hat, wird es für den Akteur möglich sein, einen richtigen Entschluss zu fassen und ihm gemäß zu handeln. Gemäß dem überlegten Vorsatz zu handeln setzt für Aristoteles die Zusammenwirkung unserer unterschiedlichen auf die Praxis bezogenen Vermögen voraus, welche jeweils zuständig für die Setzung des Handlungszweckes und die Bestimmung der erforderlichen Mittel sind; und dies ist deshalb ein sehr erhellender Fall, da er uns darüber Auskunft gibt, wie ein Handelnder qua ethischer Akteur verfasst ist. Die prohairesis enthüllt, wie die unterschiedlichen Vermögen disponiert sind und was für ein Lebensentwurf den Handlungen zugrunde liegt. Demzufolge kann festgestellt werden, dass ein prohairetisches Verfahren, durch welches ein Akteur methodisch bestimmt, wie er am besten Diebstahl bzw. Ehebruch begehen kann, eindeutig offenbart, dass seine Haltungen lasterhaft sind und dass die Art und Weise, auf welche er sich seiner Ethos und Praxis

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praktischen Vernunft bedient, als schlecht zu bezeichnen ist. Für den Akteur, der so etwas macht, sind solche Taten keine einmalige Sache, sondern gehören in der Tat zum Kern seiner Lebensführung. Dahingegen lässt sich behaupten, dass die Menschen, die sich unter gewissen Umständen ihrer Leidenschaft hingeben und etwas Derartiges tun, zwar etwas Verwerfliches machen, was aber nicht unmittelbar zur Konsequenz führt, dass ihre ganzen Dispositionen schlecht werden und ihnen ein lasterhafter Charakter zugeschrieben werden kann. Die These Irwins, wonach der spoudaios niemals seine Ziele verfehlen kann, erweist sich in Ansehung der vorherigen Betrachtungen als falsch. Eine wichtige Folgerung davon ist aber, dass auch ein damit zusammenhängender Entwurf widerlegt wird, nämlich dass der spoudaios ein enzyklopädisches Wissen haben muss, um seine Ziele zu verfolgen. Der Argumentationsgang Irwins diesbezüglich lässt sich auf folgende Weise kurz rekonstruieren: Dadurch, dass der spoudaios seine Ziele immer erreichen muss, um als tugendhafter Mensch zu gelten, ist es erforderlich, dass er über eine sehr breite Kenntnis verfügt um seine Ziele und Projekte tatsächlich umsetzen zu können. 58 Die erste Prämisse hat sich aber schon durch unsere Analyse als unpassend gezeigt: Der tugendhafte Mensch ist nicht derjenige, der immer und unter allen Umständen gut handelt. Vielmehr ist er derjenige, dessen Haltungen und Lebensführung auf das oberste Ziel der eudaimonia gerichtet sind und all seine Bemühungen aufwendet um sie zu erreichen, wobei es sich auch unter gewissen Umständen zutragen kann, dass er sich durch sein Verhalten von diesem Ideal in einem bestimmten Maß entfernt. Offensichtlich gibt es Situationen, in denen die menschliche Fehlbarkeit sich offenbart und man nicht immer konsistent nach diesem Ziel trachtet. Indem man sich aber von diesem obersten Ziel nur wenig entfernt, ist es für den Akteur möglich, seine Disposition zum guten Handeln immer noch zu bewahren. 59 Diese Interpretation eröffnet gute Aussichten, um besser »The magnificent person has a range of experience and knowledge that allows him to get the right answer more often than a merely generous person would get it; but the same argument would make it reasonable for a completely virtuous person to be a doctor or a plumber or to acquire all sorts of empirical knowledge that might come in handy on some occasion. Aristotle seems to have no escape from an encyclopedic conception of virtue and wisdom« (Irwin 1988a, S. 75). 59 Siehe auch die folgende Passage: »Wer wenig vom guten Handelt abweicht, wird nicht getadelt, ob er nur in Richtung auf das Weniger oder in Richtung auf das Mehr 58

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verstehen zu können, warum Aristoteles ständig hervorhebt, dass die praktische Philosophie sich auf den Bereich dessen beschränkt, was meistens der Fall ist (siehe NE I 1, 1094b12–27, 7, 1098a25–34). Denn sie ist nicht eine These, die nicht nur den wissenschaftlichen Charakter dieser Disziplin betrifft, sondern auch das Wirkungsfeld unserer praktischen Vermögen und die Natur der durch die Praxis zu erwerbenden Dispositionen. Einerseits kann mit Hinblick auf die Klugheit behauptet werden, dass der phronimos nicht derjenige ist, der ein erschöpfendes Wissen über alle praktischen menschlichen Angelegenheiten besitzt – was im Grunde ein Ding der Unmöglichkeit wäre, denn die menschlichen Angelegenheiten sind wechselnd und dem Zufall ausgesetzt (siehe NE III 5, 1112a21–b16, VI 2, 1139b5–11; EE II 10, 1226a21–32) –, sondern derjenige, der sich eine richtige Vorstellung des guten Lebens verschafft und verschiedene wichtige Erfahrungen gesammelt hat, um diese Vorstellung in seinem Leben umzusetzen und mit unterschiedlichen Eventualitäten umzugehen, die sich bei der Verfolgung seiner Ziele präsentieren. Andererseits ist in Bezug auf die Haltungen zu bemerken, dass Aristoteles sie nicht unter dem Paradigma der himmlischen Notwendigkeit, sondern der sublunaren Regelmäßigkeit begriffen hat, welche nur die Rede über Häufigkeit erlaubt. Deswegen charakterisiert er folgendermaßen das Verhältnis zwischen Natur und Gewöhnung: »Die Gewohnheit ist nämlich etwas Ähnliches wie die Natur; denn auch das Oft steht dem Immer nahe. Es gehört nämlich auf der einen Seite die Natur zum Immer, auf der anderen Seite die Gewohnheit zum Oft.« 60 Der Habitus bewirkt Aristoteles zufolge, dass wir in der Mehrheit der Fälle so oder so handeln können, aber diese Wirkung kann durch unterschiedliche Faktoren behindert werden, was keineswegs bedeutet, dass der Habitus verloren wird, wenn etwas Derartiges geschieht. abweicht. Wer hingegen stark abweicht, wird getadelt; denn er bleibt nicht unbemerkt. Doch wie weit und wie viel man abweichen muss, um tadelnswert zu sein, lässt sich schwer durch Überlegung bestimmen, wie auch alles Übrige, was zum Bereich des Wahrnehmbaren gehört. Solches hängt von den einzelnen Umständen ab, und das Urteil liegt hier in der Wahrnehmung« (ἀλλ’ ὁ μὲν μικρὸν τοῦ εὖ παρεκβαίνων οὐ ψέγεται, οὔτ’ ἐπὶ τὸ μᾶλλον οὔτ’ ἐπὶ τὸ ἧττον, ὁ δὲ πλέον· οὗτος γὰρ οὐ λανθάνει. ὁ δὲ μέχρι τίνος καὶ ἐπὶ πόσον ψεκτὸς οὐ ῥᾴδιον τῷ λόγῳ ἀφορίσαι· οὐδὲ γὰρ ἄλλο οὐδὲν τῶν αἰσθητῶν· τὰ δὲ τοιαῦτα ἐν τοῖς καθ’ ἕκαστα, καὶ ἐν τῇ αἰσθήσει ἡ κρίσις) (NE II 9, 1109b14–23). 60 ὅμοιον γάρ τι τὸ ἔθος τῇ φύσει· ἐγγὺς γὰρ καὶ τὸ πολλάκις τῷ ἀεί, ἔστιν δ’ ἡ μὲν φύσις τοῦ ἀεί, τὸ δὲ ἔθος τοῦ πολλάκις (Rhet. I 11, 1370a7–9; siehe auch De memoria 2, 452a30 ff.). Ethos und Praxis

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Dieser besondere Aspekt der Natur der seelischen Dispositionen wird von Irwin verkannt, aber nur unter Berufung auf ihn kann man Rechenschaft davon ablegen, warum ein Akteur, der gut disponiert ist, nicht zwangsläufig das Richtige durch seine Handlungen trifft, ohne dass dies zu den oben genannten Konsequenzen führt. 3.7.3 Die zwei Dimensionen der ethischen Tugend und die Erweiterung des Praxisspielraumes Nachdem wir diese Einwände beseitigt haben, können wir nun erklären, was die These der Einheit der Tugenden besagt und wie das scheinbare Problem, dass es eine gewisse Unverträglichkeit zwischen den Tugenden im Kleinen und im Großen geben kann, zu lösen ist. Zunächst ist es wichtig, sich eine Unterscheidung in Erinnerung zu rufen, auf welche wir uns schon vorher bezogen haben, nämlich die hinsichtlich der Tugend qua Disposition (hexis) und der Tugend qua Tätigkeit (energeia bzw. praxis). Diese Unterscheidung wird zuerst in dem Kontext gemacht, in dem erklärt wird, wie die verschiedenen Haltungen anzueignen sind – nämlich durch die Verrichtung trefflicher Handlungen (siehe NE II 2, 1104a27–b3 und 1105a12–16; EE I 4, 1215a20–25, II 1, 1220a29–32) – aber ihre begriffliche Bedeutung erstreckt sich noch darüber hinaus. Denn Aristoteles weist darauf hin, dass es nicht genügt so oder so zu handeln, sodass die eigenen Bemühungen als tugendhaft angesehen werden können. Vielmehr ist zu behaupten, dass die Handlungen nur als solche gelten können, »insofern der Handelnde in einer bestimmten Verfassung handelt, und zwar erstens wissend, zweitens vorsätzlich – und zwar vorsätzlich um der Handlung selbst willen –, drittens aus einer festen und unveränderlichen Disposition heraus.« 61 Die Hervorhebung dieser Faktoren zielt u. a. darauf ab zu erklären, warum die bloße Durchführung einer Handlung uns nicht Auskunft darüber gibt, ob der Handelnde sittlich gut ist – zumindest ist sie kein hinreichendes Kriterium. Es könnte sich beispielsweise ergeben, dass jemand etwas im Sinne der Tugend durch Zwang bzw. Zufall macht und nicht um der Sache willen, und infolgedessen würden solche Handlungen anders beurteilt werden. Es lässt sich feststellen, dass die Haltungen eine motivationale Vorrangigkeit haben, wenn es darum geht zu explizieren, wie ἀλλὰ καὶ ἐὰν ὁ πράττων πῶς ἔχων πράττῃ, πρῶτον μὲν ἐὰν εἰδώς, ἔπειτ’ ἐὰν προαιρούμενος, καὶ προαιρούμενος δι’ αὐτά, τὸ δὲ τρίτον ἐὰν καὶ βεβαίως καὶ ἀμετακινήτως ἔχων πράττῃ (NE II 3, 1105a30–34).

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eine tugendhafte Handlung zustande kommen kann. 62 Bei einem zurechnungsfähigen Akteur kann behauptet werden, dass die motivationale Grundlage seiner Handlungen auf die von ihm erworbenen Dispositionen zurückzuführen ist. Aristoteles schreibt deshalb: »je wertvoller die Haltung, desto wertvoller das Werk. Und es darf weiterhin gelten: wie sich die Haltungen zueinander verhalten, so auch die aus ihnen stammenden Werke.« 63 Die Tatsache, dass hier von dem Verhältnis der Tugenden zueinander die Rede ist, ist keine unbedeutende Sache. Wie gesagt wurde, sollte man nicht in Bezug auf diese aristotelische These denken, dass die Tugenden eine Art von Instrumenten sind, die benötigt werden um andere Tugenden ausüben zu können. Vielmehr wird damit gemeint, dass die Tugenden als Gesamtheit eine innere psychische Balance für einen Akteur gewährleisten, die ihm eine gelingende Lebensführung ermöglicht. Diese psychische Balance, die aufgrund des Besitzes der verschiedenen ethischen Dispositionen entsteht, ist eine Bedingung sine qua non für die Übereinstimmung der Vernunft mit unseren Affekten und für das Treffen der praktischen Wahrheit. Nur unter der Bedingung einer psychischen Stabilität kann man in der Lage sein, sich eine treffliche Vorstellung dessen machen zu können, was ein gutes Leben ist und woraus es besteht. Und in dieser Hinsicht unterscheiden sich keineswegs die Handelnden, die die Tugenden im Diese Behauptung soll klarerweise nicht zur Schlussfolgerung führen, dass den Tätigkeiten eine geringere Bedeutung zukommt. Ganz im Gegenteil: In vielerlei Hinsichten haben die Tätigkeiten eine höhere Stellung in der Hierarchie. Das gilt beispielsweise in Bezug auf die sittliche Erziehung. In einem Habituationsprozess sind die Tätigkeiten das Auschlaggebende, denn ohne sie wäre es überhaupt nicht möglich, die sittlichen Dispositionen zu erwerben. Ferner ist Aristoteles der Ansicht, dass die Werke die echten Gegenstände des Lobens sind (siehe EE II 1, 1219b8–11). Und die Tätigkeiten sind ebenfalls aus einem anderen Gesichtspunkt das Wichtigste, nämlich weil sie als die Ziele des Handelns gelten. In diesem Sinne schreibt Aristoteles, dass »das Werk wertvoller ist als die Haltung, denn der Zweck ist als solcher höchstes Gut. Denn es ist Voraussetzung, dass der Zweck das oberste Gut ist und das Äußerste, um dessentwillen alles andere da ist« (φανερὸν τοίνυν ἐκ τούτων ὅτι βέλτιον τὸ ἔργον τῆς ἕξεως· τὸ γὰρ τέλος ἄριστον ὡς τέλος· ὑπόκειται γὰρ τέλος τὸ βέλτιστον καὶ τὸ ἔσχατον, οὗ ἕνεκα τἆλλα πάντα) (EE II 1, 1219a9–11). Der Sinn der hexeis erklärt sich nur durch ihre teleologische Bezogenheit auf verschiedene Praxisziele, denn gerade um ihretwillen werden die Haltungen erworben. Kurz gesagt: Die Dispositionen bzw. die Haltungen sind nicht Zwecke an sich. 63 καὶ τῆς βελτίονος δὴ ἕξεως ἔστω βέλτιον τὸ ἔργον· καὶ ὡς ἔχουσιν αἱ ἕξεις πρὸς ἀλλήλας, οὕτω καὶ τὰ ἔργα τὰ ἀπὸ τούτων πρὸς ἄλληλα ἐχέτω. (EE II 1, 1219a6–8). 62

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Das ēthos als eine Gesamtheit von Haltungen

Großen und im Kleinen besitzen. Sowohl die megalopsychia und die megaloprepeia als auch ihre kleineren Gegenstücke beziehen sich auf dieselben Objekte – Ehre und Geld – und haben mit derselben Art von Affekten zu tun. Aus der Tatsache, dass sie auf dieselben Gegenstände ausgerichtet sind und mit denselben seelischen Widerfahrnissen zusammenhängen, geht hervor, dass diese Tugenden sich voneinander nicht qualitativ, sondern nur quantitativ unterscheiden lassen, und zwar vor allem mit Hinblick auf ihre Umsetzung in sehr spezifischen Handlungskontexten. 64 Dies impliziert m. E., dass die Haltungen im Großen und im Kleinen sich nicht qua bloße Haltungen voneinander Dass der Erwerb dieser Tugenden nicht besonders schwer für diejenigen sein würde, die keine zu schlechten Dispositionen haben, wird von Aristoteles selbst betont. In Bezug auf den Verschwender schreibt Aristoteles beispielsweise Folgendes: »Ein Mensch der gedachten Art [der Verschwender; E. C.] scheint um nicht wenig besser zu sein als der Geizige. Er kann ja leicht durch das Alter und durch den Mangel gebessert werden und zur Mitte gelangen. Denn er besitzt die Eigenschaften des Freigebigen, indem er gibt und nicht nimmt, freilich beides nicht auf rechte und geziemende Weise. Gewöhnte er sich hieran oder würde er sonst wie zu einer Änderung seines Verhaltens gebracht, so wäre er freigebig. Er würde geben, wem er soll, und nicht nehmen, wem er nicht soll. Er scheint also keinen schlechten Charakter zu haben (ἐπεὶ ὅ γε τοιοῦτος δόξειεν ἂν οὐ μικρῷ βελτίων εἶναι τοῦ ἀνελευθέρου. εὐίατός τε γάρ ἐστι καὶ ὑπὸ τῆς ἡλικίας καὶ ὑπὸ τῆς ἀπορίας, καὶ ἐπὶ τὸ μέσον δύναται ἐλθεῖν. ἔχει γὰρ τὰ τοῦ ἐλευθερίου· καὶ γὰρ δίδωσι καὶ οὐ λαμβάνει, οὐδέτερον δ’ ὡς δεῖ οὐδ’ εὖ. εἰ δὴ τοῦτο ἐθισθείη ἤ πως ἄλλως μεταβάλοι, εἴη ἂν ἐλευθέριος· δώσει γὰρ οἷς δεῖ, καὶ οὐ λήψεται ὅθεν οὐ δεῖ. διὸ καὶ δοκεῖ οὐκ εἶναι φαῦλος τὸ ἦθος) (NE IV 3, 1121a19–26). Es ist anzunehmen, dass der Verschwender als jemand anzusehen ist, der über ein großes Vermögen verfügt, d. h. jemand, der in der materiellen Lage ist, die Großzügigkeit im Großen auszuüben. Obwohl er nicht weiß, wie genau er sein Vermögen mit anderen Menschen teilen soll, hat er eine nicht zu schlechte Einstellung gegenüber Geld, denn er klammert sich nicht daran fest. Ferner versteht er, dass es gewisse Situationen gibt, in denen er die Großzügigkeit der Anderen empfangen soll. In beiden Fällen aber verkennt er die treffende Weise, wie in solchen Situationen gehandelt werden soll, aber Aristoteles zufolge »bringen sie [solche Laster; E. C.] keine Schande, da sie weder für den Nächsten schädlich noch besonders unanständig sind« (οὐ μὴν ὀνείδη γ’ ἐπιφέρουσι διὰ τὸ μήτε βλαβεραὶ τῷ πέλας εἶναι μήτε λίαν ἀσχήμονες) (NE IV 6, 1123a32–33). Auf eine ähnliche Art schreibt er über die Extreme, zwischen denen die megalopsychia zu finden ist: »So ist also der Stolze beschaffen. Wer den Mangel aufweist, ist kleinmütig, wer das Übermaß, eitel. Auch diese gelten nicht als schlecht (denn sie fügen niemandem ein Übel zu), sondern als Menschen, die falsch handeln« (Τοιοῦτος μὲν οὖν ὁ μεγαλόψυχος· ὁ δ’ ἐλλείπων μικρόψυχος, ὁ δ’ ὑπερβάλλων χαῦνος. οὐ κακοὶ μὲν οὖν δοκοῦσιν εἶναι οὐδ’ οὗτοι (οὐ γὰρ κακοποιοί εἰσιν), ἡμαρτημένοι δέ) (NE IV 9, 1125a16–19). Diesen Aussagen lässt sich entnehmen, dass solche Verhaltensfehler durch die richtige Anweisung leicht zu korrigieren sind und dass es kein zu anstrengender Prozess wäre, im Sinne dieser Tugenden handeln zu lernen.

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PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

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unterscheiden – was Irwin irrtümlich voraussetzt –, sondern durch ihr besonderes Verhältnis zu der phronēsis, welche dafür zuständig ist, die erforderlichen Mittel für die Handlungsziele zu bestimmen. Der seelische Kern hingegen, welcher alle charakterlichen Tugenden bewahrt und als Träger der hexeis gilt, wird durch die Erweiterung des Praxisfeldes mittels der phronēsis nicht in seinem Wesen modifiziert. Die Konfrontation mit gewissen Situationen wenn man erwachsen ist – und man muss annehmen, dass die megalopsychia und die megaloprepeia nur im Erwachsenenalter ausgeübt werden können, denn weder einem Kind noch einem Jugendlichen ist es gestattet, in dem Handlungsraum zu agieren, in welchem diese Tugenden ihre Anwendung finden –, führt nicht zur Entstehung »neuer« hexeis, sondern bereichert die eigenen Fähigkeiten, in Bezug auf die Praxis trefflicher zu überlegen, was darauf hinausläuft, dass man erfolgreicher mit solchen Angelegenheiten umgehen kann. Dies ist m. E. ein nicht zu vernachlässigendes Element der gesamten aristotelischen praktischen Philosophie als einer Strebenstheorie. Die Haltungen, kraft deren wir imstande sind, das Mittlere (meson) zu treffen, können immer ihr Wirkungsfeld erweitern, nämlich dadurch, dass wir eine größere Vertrautheit mit den unterschiedlichen Praxisformen und den diversen Handlungskontexten, in denen wir agieren müssen, gewinnen. Angesichts dieser Aufgabe ist aber die Tätigkeit der phronēsis maßgeblich. Die Interpretationen, die diese wichtige Zusammenwirkung beider Seelenteile verkennen, können letztlich nicht angemessen erklären, was dieser Erweiterung des Praxisspielraumes zugrunde liegt. Die von mir suggerierte Lesart, um Irwins Einwände zu beheben und die Plausibilität der aristotelischen These bezüglich der Einheit der Tugenden zu verteidigen, stimmt in gewissen Aspekten mit der Interpretation von Autoren wie Halper und Gardiner überein, die ähnliche Versuche unternommen haben. Während sie verschiedene Termini eingeführt haben, um darauf hinzuweisen, dass Aristoteles in diesem Fall über Tugenden spricht, die sich nur quantitativ voneinander unterscheiden lassen, 65 habe ich entschieden, mich so weit wie möglich an die aristotelische Terminologie zu halten – mit der Halper spricht von »psychic« und »proper virtues« (1999, S. 121), während Gardiner sich auf »basic« und »non-basic virtues« bezieht (2001, S. 261). Die von Kraut gebrauchte Termini in seiner Polemik mit Irwin sind »small scale« und »large scale virtues« (1988, S. 79).

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Das ēthos als eine Gesamtheit von Haltungen

Ausnahme der Rede bezüglich der Tugenden »im Kleinen« und »im Großen« –, denn ich bin der Ansicht, dass man, indem man sich diese Doppelnatur der Tugenden als hexeis und energeiai ständig vor Augen führt, die Fehler von Irwin vermeiden und eine angemessenere Interpretation gewinnen kann. Dies ist ein Punkt, der vielleicht mehr die Form als den Inhalt betrifft. Wovon ich mich aber distanzieren möchte, ist eine Interpretation, die ich doch als eine Fehldeutung bei diesen Interpreten ansehe, die vor allem bei Halper zu finden ist. Aus der Tatsache, dass die hexeis qua seelische Zustände nicht verändert werden und die energeiai einen gewissen Spielraum, in dem die hexeis in der Praxis besser bzw. umfangreicher umgesetzt werden können, erlauben, schließt Halper, dass die Tugenden letztlich stark von der eigenen Individualität bzw. den eigenen Talenten geprägt sein müssen. In dieser Hinsicht behauptet er Folgendes über das berühmte Milon-Beispiel aus NE II 5: The mean of meat for Milo is a mean chosen, and the rider that it is ›relative to us‹ indicates that it depends on Milo’s character. But what about that character itself? What can it mean to say that it is ›relevant to us‹ ? By analogy, it should indicate that this character depends on Milo, that it is the best possible character he could have, the state neither excessive nor deficient. It is the condition of his faculties that is capable of the best possible action. This is what practical wisdom would choose for himself. This is still an ideal, it requires practical wisdom, and Milo might never attain it. But what the ideal is depends on one’s faculties. Hence, virtue differs for different people. Happy people do not just act differently; they may well be different because their characters differ (Halper 1999, S. 140).

Der Analyse Halpers liegen viele gravierende Fehler zugrunde, die Anlass zu einer sehr verzerrten Interpretation des aristotelischen Ansatzes geben können. Die aristotelische Tugendtheorie zielt nicht darauf ab, die Menschen zu ermutigen, dass sie gemäß den individuellen Fähigkeiten und Naturgaben nach dem Glück streben, sondern darauf zu erklären, dass die durch die Praxis erworbenen tugendhaften Haltungen einen objektiv guten Charakter haben und ihr Besitz unentbehrlich angesichts einer gelingenden Lebensführung ist. Bei Aristoteles ist niemals die Rede von den bestmöglichen Handlungen, die dieses oder jenes Individuum verrichten kann, sondern von den bestmöglichen Handlungen überhaupt, die zur Entstehung der besten seelischen Dispositionen führen (siehe NE II 1, 1103b21–25). In Bezug auf die Mesoteslehre gilt, dass sie nicht besagt, die Mitte sei je nach Individuum anders, wie Leslie Brown richtig bemerkt, sondern 158

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Die Hauptbestimmungen des Habituations- und des Tugendbegriffes

dass die Mitte mit Hinblick auf uns Menschen bzw. die menschliche Spezies zu bestimmen ist (Brown 1997, S. 78 ff.). 66 Demzufolge ist Halpers Behauptung, dass jeder nach dem ihm zur Verfügung stehenden besten Charakter streben muss, nicht nur fehlerhaft, sondern durchaus unaristotelisch. Aus unseren Erörterungen ergibt sich, dass die psychische Balance, die durch den Besitz der Tugenden entsteht, nicht je nach Individuum unterschiedlich ist. Vielmehr handelt es sich um einen objektiv ausgewogenen Zustand des an Vernunft teilhabenden Seelenteiles, kraft dessen es möglich ist, einen tugendhaften Lebensentwurf durch unsere Bemühungen umzusetzen und die eudaimonia anzustreben. In dieser Hinsicht unterscheidet sich unser modernes Verständnis des Charakters beträchtlich von der in den aristotelischen ethischen Schriften enthaltenen Auffassung über das ēthos. Während wir dazu neigen, unsere persönlichen Präferenzen und Talente mit dem Begriff Charakter in Verbindung zu setzen, versteht Aristoteles unter dem guten ēthos einen besonderen Zustand der Seele, der ziemlich uniform bei allen tugendhaften Akteuren ist. Die besonderen Vorlieben der Akteure, dieses oder jenes zu tun, sind deshalb nicht mit diesem aristotelischen Begriff zu assoziieren. 67 Halper bezieht sich explizit auf den Aufsatz Browns und behauptet über denselben Folgendes: »Why Aristotle calls a virtue ›relative to us‹ has been subject of some discussion, but the possibility that the mean of a single virtue might differ for two people because their other virtues differ has not yet, to my knowledge, been considered« (Halper 1999, S. 120). Seine Aussagen sind allerdings sehr rätselhaft und inkonsistent, denn es liegt auf der Hand, dass, wenn er über den Fall Milons spricht, er die körperlichen Merkmale des Athleten in Augenschein nimmt, um dafür zu plädieren, dass die Mitte je nach Individuum anders zu treffen ist. Aber in diesem Zitat redet Halper nicht von den körperlichen Merkmalen, sondern von den unterschiedlichen Tugenden, die die Akteure besitzen könnten, und ihm zufolge ist diese Verschiedenheit der Grund, warum je nach Akteur die Mitte anders zu bestimmen ist. Es ist allerdings nicht nachvollziehbar, warum die Akteure unterschiedliche Tugenden haben müssten bzw. warum die Mitte in der Ernährung von Milon von anderen ihm gehörenden Tugenden abhängen würde. 67 Wir stimmen mit der Interpretation Schütrumpfs überein, wenn er im Hinblick auf die Politik etwas sehr Naheverwandtes schreibt: »Aufs Ganze gesehen, bedeutet Glück bei Aristoteles nicht, dass der Einzelne aus einer Vielzahl von Möglichkeiten die ihm passende(n) auswählt, es ist nicht individuelle Verwirklichung dessen, was jedem Einzelnen für sich persönlich wertvoll scheint. Das Glück des Einzelnen ist vielmehr identisch mit dem aller anderen Bürger, das heißt mit dem der staatlichen Gemeinschaft. Die Vorstellung, dass jeder so leben soll oder kann, wie er will, kennt Aristoteles, aber nur als das eher bedenkliche Selbstverständnis der Demokratie. Er ist sich dessen bewusst, dass es unterschiedliche Vorstellungen von Glück gab, aber er bejaht 66

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Das ēthos als eine Gesamtheit von Haltungen

Wie wir aber am Anfang dieses Kapitels bemerkt haben, kann die Untersuchung der aristotelischen Auffassung des ēthos niemals vollständig sein, wenn man nicht versteht, wie dieser Seelenteil mit dem vernünftigen Seelenteil interagiert. Deshalb gilt es im nächsten Kapitel zu erforschen, wie dieses Verhältnis zwischen beiden Seelenteilen zu verstehen ist.

dies nicht aus der Perspektive individualistischer Selbstbestimmung. Für seinen besten Staat klärt er selber die richtige Vorstellung vom höchsten Ziel, der einen Form von Glück (VII 1, 1323a14 ff.), und darauf richtet sich jeder Bürger aus; in der Erziehung ist er vom Gesetzgeber dafür vorbereitet worden (VII 14, 1333a37 ff.). Unbestritten gibt es hier eine bestimmte Uniformität der Lebensweise der Bürger« (Schütrumpf 2006, S. 246–247). Eine sorgfältige Interpretation der aristotelischen Tugendtheorie deutet in dieselbe Richtung.

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Kapitel III Vernunft und ēthos

§ 4 Praktische Weisheit, Vorsatz und Charakter 4.1 Die phronēsis und die intellektuellen Tugenden Die Analyse der intellektuellen bzw. dianoetischen Tugenden, die Aristoteles im sechsten Buch der NE unternimmt, schließt sich direkt an die Seelenlehre an, die er in I 6 und 13 einführt und anhand derer er die verschiedenen menschlichen Vortrefflichkeiten behandelt. In inhaltlicher und methodologischer Hinsicht beruht die aristotelische Untersuchung auf der Einteilung in einen vernünftigen und einen an Vernunft teilhabenden Seelenteil, wie es ebenfalls am Anfang des zweiten Buchs behauptet und im sechsten Buch nochmals wiederholt wird. Dass Aristoteles die ethischen Tugenden mit dem an Vernunft teilhabenden Seelenteil assoziiert, besagt offensichtlich nicht, dass für ihn die durch die Praxis erworbenen Haltungen auf irgendeine Weise isoliert sind und von alleine ihre kennzeichnende Leistung erbringen. Vielmehr soll die These verteidigt werden, dass die von Aristoteles selbst manchmal überpointierte Unterscheidung zwischen beiden Seelenteilen im Grunde darauf abzielt, eine größere Klarheit über die Sache zu gewinnen und nicht, wie schon vorher angemerkt wurde, eine scharfe Trennung zwischen ihnen zu ziehen. Diese These wird durch die Tatsache bestätigt, dass Aristoteles in seiner Diskussion oft versucht zu erklären, wie die Seelenteile angesichts der Hervorbringung einer Handlung eng miteinander interagieren. Diese theoretische Bemühung ist möglicherweise nirgendwo so deutlich in der aristotelischen Abhandlung anzutreffen wie im sechsten Buch und deshalb gilt es im Folgenden zu untersuchen, wie Aristoteles diese Zusammenarbeit konzipiert hat und vor allem wie sie angesichts eines angebrachten Verständnisses des ēthos zu begreifen ist. Bevor wir uns mit diesem Thema auseinandersetzen, ist es nun angebracht, den weiteren Kontext zu rekonstruieren, in welchen dieEthos und Praxis

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se besondere Diskussion eingebettet ist. Denn die phronēsis bzw. die Klugheit, die bekanntlich als die dianoetische Tugend für Aristoteles gilt, um in Bezug auf die Praxis zu überlegen, ist zwar ein zentraler Gegenstand, den Aristoteles in diesem Teil seines Traktates erforscht, aber sie gilt keinesfalls als der einzige, auf den er seine Aufmerksamkeit richtet. Das sechste Buch gibt Aristoteles einen geeigneten Rahmen, um den Begriff von orthos logos zu untersuchen und somit die intellektuellen Tugenden einer sorgfältigen Betrachtung zu unterziehen. Aufgrund der Tatsache, dass der Begriff von orthos logos vieldeutig ist und seine unterschiedlichen Manifestationen nicht aufeinander reduzierbar sind, macht es sich Aristoteles zur Aufgabe, die diversen Formen der guten Überlegungen zu analysieren, wobei er oft Vergleiche zwischen ihnen zieht, um die Beschaffenheit der ihnen entsprechenden seelischen Vortrefflichkeiten näher zu erörtern. 1 DaEin klares Beispiel dieses vergleichenden Verfahrens ist die Unterscheidung zwischen den Tugenden, deren Gegenstände jeweils unveränderlich bzw. veränderlich sind. Die epistēmē bzw. die Wissenschaft hängt Aristoteles zufolge mit Dingen zusammen, die ihrer Natur nach notwendig sind. Die phronēsis und die technē hingegen sind Tugenden, deren Bereich die Dinge, die anders sein können, umschließt, wobei die erste ihre Anwendung auf die sittliche Praxis und die zweite auf die Hervorbringung eines Gegenstandes (z. B. den Bau eines Hauses) bzw. einen gewissen Sachverhalt (z. B. die Gesundheit eines Patienten) findet. Die aristotelische Behandlung legt allerdings deutlicherweise fest, dass die sophia den obersten Rang unter den dianoetischen Tugenden dadurch besitzt, dass sie sich mit den edleren Gegenständen befasst. Aristoteles thematisiert diesen Punkt ausdrücklich und in VI 13 widmet er sich der Aufgabe, die sophia und die phronēsis voneinander abzugrenzen, den Vorrang der Ersten gegenüber der Zweiten zu begründen – wie Aristoteles selbst bemerkt, könne man irrtümlich schlussfolgern, die phronēsis sei die oberste bzw. herrschende dianoetische Tugend –, und die Art und Weise, in der sie zusammenwirken, zu analysieren. Allerdings muss bemerkt werden, dass die Abgrenzung zwischen den diversen dianoetischen Tugenden hauptsächlich durch ihren Bezug auf unterschiedliche Kenntnis- und Handlungsbereiche erfolgt. Der Kontingenzgrad der Gegenstände, mit denen wir uns in theoretischer, technischer und praktischer Hinsicht befassen können, steht in einem engen Zusammenhang mit den unterschiedlichen Vortrefflichkeiten, die Aristoteles jedem Seelenteil zukommen lässt. Es ist andererseits zu erwähnen, dass einige Aspekte des aristotelischen Ansatzes auf bestimmte Weise problematisch sind. Einige Kommentatoren haben mit Recht darauf hingewiesen, dass die aristotelische Einteilung der Tugenden gewissen Kenntnis- und Wissenschaftsbereichen nicht in allen Hinsichten gerecht wird. David Bostock bemerkt beispielsweise, dass die veränderlichen Dinge auch der Gegenstand einer wissenschaftlichen Betrachtung sein können – etwas, von dem die aristotelische Philosophie übrigens selbst in mehrfacher Hinsicht Zeugnis ablegt – und dass Aristoteles nicht sorgfältig analytische, metaphysische und physische Notwendigkeit voneinander unterschieden habe – er habe Bostock zufolge all diese Bereiche unter das, was er

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durch, dass die phronēsis in der Psyche mit anderen seelischen Vermögen verbunden ist, bietet es sich in diesem Kontext an, ihre charakteristischen Eigenschaften durch den Vergleich mit den anderen intellektuellen Tugenden zu bestimmen. Darüber hinaus ist anzumerken, dass die Ausübung der anderen intellektuellen Tugenden eine unleugbare Wirkung auf die Lebensführung eines praktischen Akteurs hat. In diesem Sinne ist es zu verstehen, dass in einer Abhandlung über praktische Philosophie über Themen wie die Natur der Wissenschaft und der Kunstfertigkeiten gesprochen wird. Aristoteles ist der Ansicht, dass die dianoetischen Tugenden gewisse Modi darstellen, um die Wahrheit zu treffen bzw. in der Wahrheit zu sein: »Es sei angenommen, dass es fünf Dispositionen gibt, mit denen die Seele durch Bejahen und Verneinen die Wahrheit trifft: Herstellungswissen, Wissenschaft, Klugheit, Weisheit, intuitives Denken.« 2 Im Fall der Tugenden, die mit der theoretischen und wissenschaftlichen Betrachtung der Dinge zusammenhängen, stellt für uns diese Bestimmung im Grunde keine Überraschung dar, denn wir setzen auch die Ausübung der Wissenschaft mit einer korrekten und wahren Erkenntnis der Wirklichkeit in Verbindung. Diese Darstellung im Fall der Tugenden, die sich auf die Praxis beziehen, ist hingegen ungewöhnlich: Die Semantik, die wir dazu verwenden, um uns auf die treffliche Natur einer Handlung oder eines gewissen technischen Verfahrens zu beziehen, ist selten durch die Begriffe von Wahrheit bzw. Falschheit geprägt. Man neigt beispielsweise dazu, von einer guten bzw. einer schlechten Tat zu sprechen. Ähnliches gilt für die unterschiedlichen Produkte und Gegenstände der Kunstfertigkeiten. Ferner lässt sich behaupten, dass selbst innerhalb ihres historischen Kontextes diese aristotelische Terminologie in Bezug auf die Praxis eine Neuerung ist, denn das Üblichste in der klassischen theōria nennt, subsumiert. Ferner behauptet Bostock, dass wir auch eine theoretische Betrachtungsweise mit Hinblick auf unterschiedliche menschliche Angelegenheiten, die nicht in unserer Macht stehen, entwickeln können, und zwar mit der bloßen Absicht, unsere Kenntnisse der Wirklichkeit zu bereichern. Diese mögliche bzw. denkbare Annäherungsweise an die Welt der Praxis ist allerdings schwer zu erklären, wenn man wie Aristoteles hier davon ausgeht, dass die theōria sich nur auf Erkenntnis eines bestimmten ontologischen Bereiches beschränkt (siehe Bostock 2000, S. 75–76). Ähnliche Einwände gegen die aristotelische Einteilung der dianoetischen Tugenden und die mit ihnen zusammenhängenden Wissenschaften bzw. Disziplinen werden von Kenny (1979) und Urmson (1988) erhoben. 2 ἔστω δὴ οἷς ἀληθεύει ἡ ψυχὴ τῷ καταφάναι ἢ ἀποφάναι, πέντε τὸν ἀριθμόν· ταῦτα δ’ ἐστὶ τέχνη ἐπιστήμη φρόνησις σοφία νοῦς (NE VI 3, 1139b15–17). Ethos und Praxis

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Antike war, gute und schlechte Taten (energeiai) und Handlungen (praxeis) mit Termini wie kalai und kakai jeweils zu bezeichnen, die auch gewisse ästhetische Nachklänge enthalten. 3 Diese besondere Wendung, die von großer Tragweite für die praktische Philosophie ist, lässt sich m. E. dadurch erklären, dass Aristoteles damit die vernünftige Natur, die ein gutes Leben charakterisiert, in den Vordergrund stellen will. Die Habituationsprozesse, kraft deren ein Handelnder imstande ist, sich die unterschiedlichen Haltungen anzueignen, sind zweifelsohne unentbehrlich für eine gelingende Lebensführung; aber es erübrigen sich keinesfalls die unterschiedlichen Aufgaben der Vernunft mit Hinblick auf die Praxis, welche u. a. darin bestehen, ein kohärentes Gesamtbild des eigenen Lebens zu erstellen und diverse Handlungskurse zu erwägen und unter ihnen den besten angesichts der fraglichen Situation auszuwählen, und zwar vor allem dann, wenn wir mit komplexeren Szenarien konfrontiert sind und uns unterschiedliche Mittel zur Verfügung stehen, um unsere praktischen Zwecke zu erreichen. Die »praktische Wahrheit« (alētheia praktikē), wie sie Aristoteles nennt (NE VI 2, 1139a26–27), setzt eine spezifische Form der Rationalität voraus, die nicht mit anderen gleichgesetzt werden kann. Wenn man mit Hinblick auf das sittliche Handeln überlegt, ist die praktische Wahrheit zu treffen, insofern folgende wesentliche Bedingungen erfüllt werden: Der Handelnde muss die charakterlichen Tugenden bzw. die sich in Vorsätzen äußernden Dispositionen (hexeis prohairetikai) besitzen (NE VI 2, 1139a23), sein Streben muss richtig sein (orexis orthē) (NE VI 2, 1139a23) und seine Bemühungen müssen auf ein Ziel (telos) gerichtet sein, und zwar ein zukünftiges (NE VI 2, 1139a32, 1139b5–11), wobei darauf hingewiesen werden muss, dass Aristoteles damit an die von ihm vertretene Theorie in De Anima anknüpft, der zufolge praktisches Denken per definitionem dasjenige ist, das zweckbezogen ist. 4 Die Überlegung mit Hinblick auf die Dieser Sprachgebrauch ist auch bei Aristoteles selbst oft zu treffen. Siehe beispielsweise Rhet. 1359a2–5; NE 1110b11, 1120a23–24, 1168b25–30, 1169a18–25; EE 1248b17 ff. Zu diesem Thema im weiteren Kontext des Altertums siehe Wankel (1979) und Bourriot (1995). 4 Die folgende Passage ist in dieser Hinsicht sehr erleuchtend: »Es scheinen aber doch diese beiden die Bewegung zu bewirken: Streben oder Vernunft, wenn man die Vorstellung als eine Art Vernunfterkenntnis annehmen möchte; denn viele folgen neben der Wissenschaft den Vorstellungen, und in den anderen Lebewesen gibt es keine Vernunfterkenntnis und Überlegung, sondern (nur) Vorstellung. Diese beiden also 3

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Praxis, welcher die charakterlichen Tugenden nicht zugrunde liegen, hat Aristoteles zufolge keinen adäquaten Ausgangspunkt und verfehlt deswegen die eupraxia bzw. das gelingende Handeln. 5 Aus diesen Bestimmungen lässt sich deutlich ersehen, dass die praktische Rationalität, deren Vortrefflichkeit die phronēsis ist, sich wesentlich von der technē unterscheidet. Obwohl sich beide mit Dinsind dem Orte nach bewegende Vermögen, Vernunft und Streben, und zwar die zweckvoll denkende und praktische Vernunft. Sie unterscheidet sich von der theoretischen durch den Zweck. Auch jedes Streben ist um eines Zweckes willen. Worauf sich das Streben richtet, dies ist Prinzip der praktischen Vernunft. Der Endpunkt (des praktischen Denkens) ist der Anfang der Handlung. Daher erscheinen diese beiden mit gutem Grund die bewegenden Vermögen zu sein, Streben und praktisches Denken; denn das erstrebbare Objekt bewegt, und deshalb bewegt auch das Denken, weil ihr Prinzip das erstrebbare Objekt ist. Aber auch, wenn die Vorstellung bewegt, bewegt sie nicht ohne das Streben« (Φαίνεται δέ γε δύο ταῦτα κινοῦντα, ἢ ὄρεξις ἢ νοῦς, εἴ τις τὴν φαντασίαν τιθείη ὡς νόησίν τινα· πολλοὶ γὰρ παρὰ τὴν ἐπιστήμην ἀκολουθοῦσι ταῖς φαντασίαις, καὶ ἐν τοῖς ἄλλοις ζῴοις οὐ νόησις οὐδὲ λογισμὸς ἔστιν, ἀλλὰ φαντασία. ἄμφω ἄρα ταῦτα κινητικὰ κατὰ τόπον, νοῦς καὶ ὄρεξις, νοῦς δὲ ὁ ἕνεκά του λογιζόμενος καὶ ὁ πρακτικός· διαφέρει δὲ τοῦ θεωρητικοῦ τῷ τέλει. καὶ ἡ ὄρεξις hδ’i ἕνεκά του πᾶσα· οὗ γὰρ ἡ ὄρεξις, αὕτη ἀρχὴ τοῦ πρακτικοῦ νοῦ, τὸ δ’ ἔσχατον ἀρχὴ τῆς πράξεως. ὥστε εὐλόγως δύο ταῦτα φαίνεται τὰ κινοῦντα, ὄρεξις καὶ διάνοια πρακτική· τὸ ὀρεκτὸν γὰρ κινεῖ, καὶ διὰ τοῦτο ἡ διάνοια κινεῖ, ὅτι ἀρχὴ αὐτῆς ἐστι τὸ ὀρεκτόν. καὶ ἡ φαντασία δὲ ὅταν κινῇ, οὐ κινεῖ ἄνευ ὀρέξεως) (DA III 10, 433a9–17; siehe auch DA III 7, 431b8– 12). Praktisches Denken ist hier allerdings nicht als etwas nur den Menschen Zugehöriges zu verstehen. Man muss darauf achten, dass die Bewegungen und Tätigkeiten der Tiere in diesem Kontext mitgemeint sind. Aristoteles schreibt den Tieren die Fähigkeiten zu, aufgrund volitionalen und kognitiven Einstellungen körperliche Bewegungen in Gang zu setzen und nach unterschiedlichen Dingen zu trachten. Deshalb lässt sich für Aristoteles die Tierbewegung unter der Struktur des sogenannten praktischen Syllogismus rekonstruieren und erklären (siehe MA 7, 701a6 ff.). Daraus folgt, dass die bloße Zweckgerichtetheit kein angemessenes Kriterium ist, anhand dessen man die Tierbewegung von der sittlichen menschlichen Praxis auf eine befriedigende Weise unterscheiden kann. Nicht der Form, sondern dem Inhalt nach sind m. E. beide Handlungsweisen zu unterscheiden: Die besondere Natur der charakteristischen menschlichen Ziele, Einstellungen und Begierden sind die bestimmenden Faktoren, die das Zustandekommen der komplexeren Formen der menschlichen Praxis erklären, innerhalb welcher bestimmte Phänomene wie z. B. die akrasia auftreten, die sich im Tierreich nicht zutragen können. Siehe dazu die berühmte Monographie von Nussbaum (1978, S. 201 ff.), und auch Natali (2004), Corcilius (2008a) und Timmermann (2008). 5 Die aristotelische Untersuchung der phronēsis schließt sich nicht nur an die von ihr zuvor entworfene Seelenlehre, sondern auch an seine sorgfältige Analyse der Überlegung (bouleusis) in NE III 5 an. Dort werden u. a. die wesentlichen Bedingungen, die eine gute Überlegung charakterisieren, in Betracht gezogen. All diesen Bedingungen ist die Tatsache gemein, dass sie sich auf Dinge beziehen, die in unserer Macht stehen Ethos und Praxis

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gen befassen, die anders sein können, und die technē ebenfalls zweckgerichtet ist, ist es eindeutig, dass der sittlichen Praxis spezifische volitionale Elemente zugrunde liegen, die der technē fremd sind, und dass ihre jeweiligen Ziele von einer ganz anderen Natur sind. Im Fall der technē ist es beispielsweise gleichgültig, ob der Schiffbaumeister sich in einer guten affektiven Lage befindet um seine Kunst auszuüben, insofern sein Zustand ihn nicht daran hindert, dass er ein gutes funktionales Schiff bauen kann. Die Absichten, die er mit der Ausübung seiner Kunst verfolgt – z. B. einen Krieg zu führen oder Menschen von einer Insel zu retten –, sind angesichts der Schiffbautätigkeit selbst durchaus indifferent. Ein ganz anderes Verhältnis ist aber im Bereich des sittlichen Handelns anzutreffen: Ein Akteur, der hinsichtlich seiner Affekte schlecht disponiert ist, kann zwar Handlungen durchführen, deren Konsequenzen unter einer gewissen Perspektive als gut beschrieben werden können – sie können für andere Menschen nützlich sein oder ihm selbst Ruhm und Anerkennung verschaffen –, aber sie würden für Aristoteles nicht als schlechthin gut gelten: Aufgrund seiner schlechten emotionalen Verfasstheit ist ein derartig Handelnder nicht in der Lage, das Gute zuverlässig anzustreben und sich daran auf die richtige Weise zu erfreuen. Diese besonderen Qualitäten sind ein wesentlicher Bestandteil des richtigen sittlichen Handelns und können keineswegs als akzidentelle Elemente desselben angesehen werden. Das wirkliche Gute kann auf der Basis von schlechten Affekten und lasterhaften Motiven nicht getroffen werden, denn es betrifft seiner Natur nach nicht nur die Hervorbringung äußerlicher Umstände, sondern hat auch eine maßgebliche Wirkung auf den Handelnden selbst – was nur per accidens in Bezug auf die technē gesagt werden kann, wie wenn z. B. ein Arzt sich selbst heilt –, und zwar auf seine Seele. Daher behauptet Aristoteles, dass »das Ziel der Herstellung von dieser selbst verschieden ist, das der (ta eph’ hēmin). Unter den Dingen, die er dort als Gegenstand der Überlegung ausschließt, sind die Zwecke, die wir uns zu erreichen vornehmen können, denn sie gehen den Erwägungen und Urteilen eines Handelnden voraus und gelten als die notwendigen Ausgangspunkte jeder Überlegung (NE III 5, 1112b11 ff.). Dieser Punkt wird in der Aristoteles-Forschung sehr kontrovers diskutiert und in einem nächsten Schritt des vorliegenden Kapitels werden wir es uns zur Aufgabe machen, dieses Thema ausführlicher zu analysieren. An dieser Stelle ist es nun wichtig zu bemerken, dass die Präexistenz der Ziele im Fall des sittlichen Handelns durch den Besitz der charakterlichen Tugenden zu erklären ist. Keine praxisbezogene Überlegung könnte ohne ihre besondere zielsetzende Leistung zustande kommen.

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Handlung nicht. Denn das gute Handeln selbst ist Ziel.« 6 Seiner Auffassung nach gibt es eine enge Verbindung zwischen dem guten Antrieb zum Handeln und dem gelingenden Handeln selbst. Wie wir im letzten Kapitel gesehen haben, gibt Aristoteles zwar zu, dass ein guter Akteur unter gewissen Umständen sein Ziel verfehlen kann, aber er schließt vollkommen aus, dass das Gute im echten Sinn des Wortes erreicht werden kann, wenn die Affekte und die Absichten des Akteurs nicht die entsprechende tugendhafte Beschaffenheit haben. In dieser Hinsicht kann festgestellt werden, dass die alētheia praktikē ein normativer Begriff von großer Bedeutung ist, der gebraucht werden kann, um zu beurteilen, ob die Bedingungen bzw. die Kriterien für ein echtes gelingendes Handeln angemessen erfüllt werden.

4.2 Die Figur des phronimos Die aristotelische Konzeption der phronēsis erweist sich mithin als ein zentrales Element seiner praktischen Philosophie. Allerdings darf man nicht denken, dass Aristoteles zu dieser in vielerlei Hinsicht innovativen Auffassung durch ein abstraktes und rein spekulatives Verfahren gelangt, um etwa eine Tafel der in der menschlichen Seele angesiedelten Vermögen zu vervollständigen. Vielmehr ist das Gegenteil wahr: Wie Pierre Aubenque betont, ist Aristoteles der Überzeugung, dass es in der Tat Menschen gibt, die wir mit Recht als phronimoi bezeichnen bzw. denen wir diese Qualität zuschreiben, und infolgedessen versucht Aristoteles, Rechenschaft davon abzulegen, was dem Verhalten dieser Menschen zugrunde liegt und wie sie innerlich beschaffen sein müssen. 7 Der erste Satz, mit der er die Disτῆς μὲν γὰρ ποιήσεως ἕτερον τὸ τέλος, τῆς δὲ πράξεως οὐκ ἂν εἴη· ἔστι γὰρ αὐτὴ ἡ εὐπραξία τέλος (NE VI 5, 1140b6–7). 7 »Denn in der Wirklichkeit geht Aristoteles nicht von der Gattung aus, um über eine Reihe von Unterteilungen zum Definiendum hinabzusteigen. Sein Ausgangspunkt ist kein Wesen, dessen verschiedene Bestimmungen zu analysieren wären, sondern ein Wort – phronimos –, das einen bestimmten Menschentyp bezeichnet, den wir alle zu erkennen vermögen, den wir von verwandten und dennoch verschiedenen Figuren unterscheiden können und mit dessen Modell wir aus Geschichte, Legende und Literatur vertraut sind. Alle Welt kennt den phronimos, obgleich niemand die phronēsis zu definieren weiß. Indem der Philosoph die phronēsis von der Wissenschaft, der Kunst, der moralischen Tugend und der Weisheit unterscheidet, tut er nichts anderes, als auf wissenschaftliche Weise eine semantische Einheit abzugrenzen, welche ihm als Ausdruck der volkstümlichen moralischen Erfahrung von der Alltagssprache geliefert 6

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kussion über die phronēsis eröffnet, macht diesen Aspekt seiner Methodik besonders deutlich: »Was die Klugheit ist, können wir erfassen, indem wir schauen, welche Menschen wir klug nennen.« 8 Gewiss muss man sagen, dass die phronēsis durch ihre Einbettung in den ethischen Diskurs des Aristoteles eine ganz besondere Dimension erlangt, die in verschiedenen Aspekten revisionär ist, 9 wobei sie in Verbindung mit eigentümlichen Begriffen seiner Philosophie gebracht und manchmal sogar in einem eher technischen Sinne gebraucht wird. Aber immerhin bleibt die Figur des wirklichen phronimos als ein Maßstab bestehen, den er nicht aus dem Auge verliert, um den Ausgangspunkt seiner Überlegungen zu bestimmen und die Angemessenheit derselben zu bemessen. Dass er Perikles als jemanden präsentiert, der als klug betrachtet werden kann, ist ein klarer Beweis dafür, dass er dieses Ideal mit Menschen verknüpft, die sich in mehrfacher Hinsicht als herausragend erwiesen haben und die als Leitfiguren gelten können, an denen man sich orientieren kann, um seinem wird. […] Die Existenz des Klugen – so wie sie durch die Alltagssprache bezeugt wird – geht der Bestimmung des Wesens der Klugheit voraus« (Aubenque 2007, S. 42–43). 8 Περὶ δὲ φρονήσεως οὕτως ἂν λάβοιμεν, θεωρήσαντες τίνας λέγομεν τοὺς φρονίμους (NE VI 5, 1140a24–25). 9 Die Tatsache, dass die phronēsis als eine hexis, die im vernünftigen Seelenteil angesiedelt ist und deren Aufgabe darin besteht, in Bezug auf die menschlichen Güter zu überlegen, definiert wird, geht offensichtlich weit über die volkstümlichen Vorstellungen dieses Terminus hinaus und muss als eine Leistung der aristotelischen philosophischen Analyse angesehen werden. In diesem Sinne stimmen wir nicht vollkommen mit der Interpretation Aubenques überein, die manchmal den Eindruck erweckt, wie das oben angeführte Zitat belegt, dass der aristotelische Ansatz nicht so sehr von traditionelleren in der griechischen Welt verbreiteten Vorstellungen der phronēsis abweicht. Unserer Ansicht nach ist der wirkliche phronimos zwar der Ausgangspunkt der aristotelischen Betrachtungen – darin hat Aubenque Recht –, aber um die Tatsache erklären zu können, dass die Seele eines derartigen Handelnden so beschaffen ist und dass sie eine besondere Leistung angesichts der Ausübung der theōria – der höchsten Form der menschlichen eudaimonia – erbringen muss, muss sich Aristoteles philosophischer begrifflicher Werkzeuge bedienen und die Figur des phronimos in eine theoretische Konstellation einbetten, die den volkstümlichen Vorstellungen der Griechen zwangsläufig fremd sein muss. Es ist allerdings wichtig darauf hinzuweisen, dass diese besondere philosophische Charakterisierung der phronēsis etwas ist, wozu Aristoteles in den ethischen Schriften gelangt. An verschiedenen Textstellen anderer Schriften kann man beobachten, dass er unter phronēsis Wissen bzw. Weisheit in einem noch breiteren und umfassenderen Sinne verstanden hat (vgl. De caelo III 1, 298b23; Top. VIII 14, 163b9; Met. I 2, 982b4). Für eine ausführliche Diskussion über die phronēsis vor Aristoteles mit besonderer Berücksichtigung von Platon siehe Schaefer (1981).

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Vorbild gemäß gute Urteile hinsichtlich unterschiedlicher praxisbezogener Herausforderungen zu fällen. 10 Das in diesen Menschen verkörperte Ideal, gut in Bezug auf die menschlichen Angelegenheiten und ihre charakteristischen Problematiken zu überlegen, ist ein nicht zu vernachlässigendes Element seiner praktischen Philosophie, das für die Pädagogik des guten Handelns zum Tragen gebracht werden kann. 11 »Aus diesem Grund glauben wir, dass Perikles und Menschen seiner Art klug sind, weil sie nämlich erwägen können, was für sie selbst und die Menschen gut ist; auch diejenigen, die ein Haus oder einen Staat leiten, halten wir für so beschaffen« (διὰ τοῦτο Περικλέα καὶ τοὺς τοιούτους φρονίμους οἰόμεθα εἶναι, ὅτι τὰ αὑτοῖς ἀγαθὰ καὶ τὰ τοῖς ἀνθρώποις δύνανται θεωρεῖν· εἶναι δὲ τοιούτους ἡγούμεθα τοὺς οἰκονομικοὺς καὶ τοὺς πολιτικούς) (NE VI 3, 1140b8–10). Es ist darauf hinzuweisen, dass Aristoteles mit diesen Aussagen ein äußerst positives Bild von Perikles liefert, das in klarem Gegensatz zu dem steht, was Platon durch Sokrates über ihn im Gorgias behauptet: »Sondern sage mir das noch dazu, ob es heißt, die Athener seien durch Perikles besser geworden oder ganz im Gegenteil durch ihn verdorben worden. Das nämlich habe ich gehört, Perikles habe die Athener träge und feige, geschwätzig und geldgierig gemacht, weil er aus ihnen Lohnempfänger gemacht habe« (ἀλλὰ τόδε μοι εἰπὲ ἐπὶ τούτῳ, εἰ λέγονται Ἀθηναῖοι διὰ Περικλέα βελτίους γεγονέναι, ἢ πᾶν τοὐναντίον διαφθαρῆναι ὑπ’ ἐκείνου. ταυτὶ γὰρ ἔγωγε ἀκούω, Περικλέα πεποιηκέναι Ἀθηναίους ἀργοὺς καὶ δειλοὺς καὶ λάλους καὶ φιλαργύρους, εἰς μισθοφορίαν πρῶτον καταστήσαντα) (Gorgias 516e und ff.; siehe auch Menon 94a–c). 11 Siehe dazu diese wichtige Passage: »Der Gute beurteilt jedes Einzelne richtig, und in allen Einzelsituationen zeigt sich ihm, was wahr ist. Jede Disposition hat nämlich ihren eigenen Bereich des Werthaften und Angenehmen, und der Gute zeichnet sich vielleicht am meisten dadurch aus, dass er in allen Einzelfällen die Wahrheit sieht, indem er gewissermaßen Richtschnur und Maß dafür ist« (ὁ σπουδαῖος γὰρ ἕκαστα κρίνει ὀρθῶς, καὶ ἐν ἑκάστοις τἀληθὲς αὐτῷ φαίνεται. καθ’ ἑκάστην γὰρ ἕξιν ἴδιά ἐστι καλὰ καὶ ἡδέα, καὶ διαφέρει πλεῖστον ἴσως ὁ σπουδαῖος τῷ τἀληθὲς ἐν ἑκάστοις ὁρᾶν, ὥσπερ κανὼν καὶ μέτρον αὐτῶν ὤν) (NE III 6, 1113a29–33). Obwohl hier die Rede vom spoudaios ist, gehe ich in Anlehnung an Elm davon aus, dass der spoudaios und der phronimos keine unterschiedlichen bzw. gegensätzlichen Figuren sind, sondern ein und derselbe Mensch, der nur aufgrund unterschiedlicher Diskussionszwecke und gewisser von Aristoteles intendierten Betonungen je nach Kontext anders charakterisiert wird: »Die verschiedenen Bezeichnungen fassen lediglich jeweils eine der zwei Seiten der Einheit ins Auge. Beim phronimos ist die Seite der Erfassung, Überlegung und Anordnung des jeweiligen Worumwillens akzentuiert, beim spoudaios mehr das faktische Erstreben des Guten. Im Grunde aber sind der phronimos und spoudaios identisch, eine und dieselbe Person, deren Erfassen des Guten im Zustand der wechselseitigen Vollendung von phronēsis und Arete Hand in Hand gehen. Infolge dieser Einheit ist überall dort, wo Aristoteles von der Arete oder dem spoudaios spricht, stets die phronēsis inbegriffen bzw. der phronimos mitgemeint« (Elm 1996, S. 260; siehe auch Aubenque 2007, S. 55 ff.). Christoph Horn weist ebenfalls darauf hin, dass die Termini epieikēs, spoudaios und phronimos von Aristoteles austauschbar verwendet werden (Horn 2006, S. 142–143). Ein wichtiges 10

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Die besonderen Merkmale, die die phronēsis im aristotelischen Verständnis besitzt und ihre Natur als ein Bestandteil seiner Seelenlehre prägen, sind folgende: Die phronēsis ist ihrer Gattung nach auch eine hexis, aber im Unterschied zu der ethischen Tugend ist ihre differentia specifica weder prohairetikē noch stochastikē. Um es mit den Worten von Aristoteles zu sagen, ist sie eine »mit Überlegung verbundene wahre Disposition des Handelns« (meta logou alēthē hexis praktikē) (NE VI 5, 1140b5, b20–21). Dass sie mit dem logos verbunden ist, besagt nicht nur, dass sie zum vernünftigen Seelenteil gehört, sondern auch dass sie nicht durch charakterformende Habituationsprozesse entsteht. Am Anfang des zweiten Buches der NE wird behauptet, dass die Tugenden des Intellekts durch Anweisung und Unterrichtung zustande kommen, während die ethischen Tugenden erfordern, dass man sich an unterschiedlichen Tätigkeiten beteiligt, sodass man lernen kann, mit den unterschiedlichen Affekten umzugehen (siehe NE I 1, 1103a1–8). Der Akteur muss durch wiederholtes Handeln lernen, welche Güter er durch seine Bemühungen anstreben, in welchen Kontexten und auf welche Art und Weise er seine Talente und Fähigkeiten in Anspruch nehmen und wie er sich gegenüber Lust und Unlust verhalten soll, wobei die affektive Dimension seiner Seele durch all diese Habituationsprozesse gut disponiert wird. Der Bereich der intellektuellen Tugenden hingegen umfasst unterschiedliche Fähigkeiten, wie beispielsweise die Grundlagen der Wissenschaft zu erfassen und ihre Grundsätze auf die Wirklichkeit anzuwenden, Vergleiche zwischen unterschiedlichen Gegenständen und Sachverhalten zu ziehen, Kunstfertigkeiten zu entwickeln und auszuüben, Urteile über das Erstrebenswerte und das zu Vermeidende zu fällen, usw. Obwohl es wichtige Unterschiede zwischen den dianoetischen Tugenden selbst gibt, kann man im Allgemeinen von ihnen allen behaupten, dass sie mehr oder weniger Elemente spekulativer Natur haben – denn sie betreffen die Prinzipien und die Ursachen der Dinge –, dass sie die unterschiedlichen Modi des richtigen Überlegens sind, und dass sie im Unterschied zu den charakterlichen

Element, das die Plausibilität dieser Lesart bekräftigt, ist nämlich die aristotelische These der Einheit der Tugenden, der zufolge ein guter Handelnder, um als solcher zu gelten, sowohl die charakterlichen Tugenden als auch die phronēsis besitzen muss. Für eine ausführliche Diskussion über die Figur des phronimos als Maßstab des guten Handelns und ihre Relevanz angesichts der Partikularismus-Generalismus-Debatte, siehe die Monographie von Magdalena Hoffmann (2010).

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Tugenden nicht den Umgang mit den Affekten und Emotionen steuern bzw. bestimmen. In Anbetracht der unterschiedlichen Beschaffenheit der intellektuellen und der charakterlichen Tugenden lässt Aristoteles ihnen sehr spezifische Rollen in der Hervorbringung der Handlungen zukommen. Der von ihm konzipierten Aufgabenverteilung zufolge ist die charakterliche Tugend dafür zuständig, die Handlungsziele zu setzen, während die phronēsis die Mittel zur Erlangung der Ziele bestimmen soll. Die Wichtigkeit dieses Gedankens kann innerhalb seiner praktischen Philosophie nicht genug betont werden, denn er kommt häufig sowohl in der NE als auch in der EE in unterschiedlichen Diskussionskontexten zum Tragen. 12 Die Terminologie, die an diversen Textstellen gebraucht wird, um dieses Motiv zum Ausdruck zu bringen, ist manchmal abweichend, aber die ihm zugrundeliegende Idee ist dieselbe: Die charakterlichen Tugenden sind auf die anzustrebenden Gegenstände gerichtet, d. h., dass man dank ihnen den Wunsch verspürt, nach etwas Erstrebenswertem zu trachten. Dahingegen ist die primäre Aufgabe der praktischen Vernunft, zwischen den verschiedenen vorliegenden Mitteln die besten auszuwählen und entsprechend den einzuschlagenden Handlungskurs festzulegen. Demzufolge ist zu be-

Wichtige Passagen, die diesen Gedanken zum Ausdruck bringen, sind die folgenden: »Dass der Wunsch sich auf ein Ziel bezieht, haben wir bereits gesagt« (Ἡ δὲ βούλησις ὅτι μὲν τοῦ τέλους ἐστὶν εἴρηται) (NE III 6, 1113a15). »Da also Gegenstand des Wünschens das Ziel ist, Gegenstand der Überlegung und des Vorsatzes das, was zum Ziel führt, werden auch die Handlungen, die sich auf Letzteres beziehen, einem Vorsatz entsprechen und gewollte sein« (Ὄντος δὴ βουλητοῦ μὲν τοῦ τέλους, βουλευτῶν δὲ καὶ προαιρετῶν τῶν πρὸς τὸ τέλος, αἱ περὶ ταῦτα πράξεις κατὰ προαίρεσιν ἂν εἶεν καὶ ἑκούσιοι) (NE III 7, 1113b2–5). »Denn die Tugend (des Charakters) macht den Zielpunkt richtig, die Klugheit aber das, was zum Ziel führt« (ἡ μὲν γὰρ ἀρετὴ τὸν σκοπὸν ποιεῖ ὀρθόν, ἡ δὲ φρόνησις τὰ πρὸς τοῦτον.) (NE VI 13, 1144a8–9). »Der Vorsatz nun wird durch die Gutheit des Charakters richtig; was aber entsprechend der Natur der Dinge zu dessen Realisierung zu tun ist, ist nicht Sache der charakterlichen Tugend, sondern eines anderen Vermögens« (τὴν μὲν οὖν προαίρεσιν ὀρθὴν ποιεῖ ἡ ἀρετή, τὸ δ’ ὅσα ἐκείνης ἕνεκα πέφυκε πράττεσθαι οὐκ ἔστι τῆς ἀρετῆς ἀλλ’ ἑτέρας δυνάμεως) (NE VI 13, 1144a20–22). »Ist es nun aber das Ziel, das durch die Tugend im Grunde bestimmt wird oder sind es die auf das Ziel hinwirkenden Mittel? Wir antworten in der Tat: Es ist das Ziel, denn dieses erhält man nicht durch schlussfolgerndes und auch nicht durch beratendes Denken. Vielmehr hat das Ziel im Sinne einer Ausgangsposition festzuliegen« (πότερον δ’ ἡ ἀρετὴ ποιεῖ τὸν σκοπὸν ἢ τὰ πρὸς τὸν σκοπόν; τιθέμεθα δὴ ὅτι τὸν σκοπόν, διότι τούτου οὐκ ἔστι συλλογισμὸς οὐδὲ λόγος. ἀλλὰ δὴ ὥσπερ ἀρχὴ τοῦτο ὑποκείσθω) (EE II 11, 1227b22–25).

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haupten, dass beide Seelenteile an der Hervorbringung der Handlungen mitwirken, obwohl sie für diesen Zweck unterschiedliche Aufgaben je nach ihrer eigenen Natur übernehmen.

4.3 Zwei Kontroversen über das Verhältnis zwischen Vernunft und Charakter Der oben genannte Aspekt des aristotelischen Ansatzes scheint mit der Natur der verschiedenen Seelenteile in vollkommenem Einklang zu stehen: Dass es eine Zusammenarbeit zwischen den unterschiedlichen seelischen Vermögen geben muss, um die notwendigen Leistungen zu vollziehen, die zur Entstehung einer Handlung führen, erscheint uns als eine These, die unserer Erfahrung als handelnden Wesen gerecht wird. Die aristotelische Philosophie bietet uns in dieser Hinsicht ein Modell der Praxis an, in welchem der Mensch als ein Ganzes agiert und seine unterschiedlichen Fähigkeiten in die Durchführung seiner Projekte und die Erlangung seiner Ziele miteinbezogen werden. Dennoch ist in der Aristoteles-Forschung kontrovers diskutiert worden, wie genau diese Zusammenarbeit der Seelenteile zu verstehen ist. In der Literatur fallen vor allem zwei wichtige Diskussionen auf in Bezug auf die spezifische Leistung, die die Vernunft erbringt, wenn ein praktischer Akteur die Aufgabe vor sich hat, eine Überlegung mit Hinblick auf das Handeln durchzuführen. Einerseits wird von gewissen Kommentatoren die Interpretation vertreten, dass es Aristoteles zufolge gar nicht möglich ist, dass ein Akteur in Bezug auf seine Ziele überlegt, d. h., dass die Ziele im engen Sinn des Wortes nicht die Deliberationsgegenstände, auf welche die phronēsis gerichtet ist, sein können. Für diese Interpreten ist dies eine Aufgabe, die der praktischen Vernunft einfach nicht zusteht. Andererseits wird von Kommentatoren wie Sarah Broadie verneint, dass die Deliberationsprozesse eines Handelnden durch die Rücksicht auf einen obersten umfassenderen Zweck geleitet werden, wobei von ihr die These vertreten wird, dass eine allgemeine Vorstellung des guten Lebens kein notwendiger Leitfaden ist, um die phronēsis angemessen ausüben zu können. Beide Argumentationslinien sind m. E. verfehlt und werden der aristotelischen Position nicht gerecht, da das Bild, das sie von der praktischen Vernunft bei Aristoteles vermitteln, äußerst beschränkt ist und wichtige Elemente seiner ethischen Theorie unberücksichtigt 172

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lassen. Deshalb ist meine Absicht, im weiteren Verlauf meines Argumentationsganges eine Lesart zur Verfügung zu stellen, die nicht nur die phronēsis selbst, sondern auch ihre besondere Interaktion mit dem ēthos angemessener zu charakterisieren versucht. Aufgrund der Tatsache, dass den beiden Interpretationen viele gemeinsame Annahmen zugrunde liegen, bin ich der Ansicht, dass die Einwände, die ich gegen eine dieser Lesarten erhebe, auch die andere notwendigerweise betreffen werden. Deswegen verfahre ich folgendermaßen: Zunächst werde ich die oben genannten Interpretationen separat darstellen und in einem nächsten Schritt meine eigene Lesart präsentieren, wobei meine kritischen Argumente gegen beide Positionen ebenfalls angeführt werden sollen. 4.3.1 Eine humesche Lesart der aristotelischen phronēsis Bekanntlich hat David Hume die These vertreten, wonach die Vernunft der Sklave der Leidenschaften ist und sein soll. Diese These besagt bei Hume nicht nur, dass die Vernunft uns keinen motivationalen Anlass zum Handeln geben kann, sondern auch, dass der Vernunft nicht die Aufgabe zusteht, über die Zwecke unseres Strebens zu reflektieren. In dieser Hinsicht ist es vollkommen gleichgültig, welche Ziele von den Menschen angestrebt werden, da die moralische Qualität unserer Bestrebungen nicht durch einen Vernunftakt, sondern durch die unseren Entscheidungen zugrundeliegenden Affekte bestimmt wird. An einer Stelle seines berühmten Werkes A Treatise on Human Nature illustriert Hume die Neutralität der Vernunft in Bezug auf die unterschiedlichen Ziele, die man sich zu erreichen vornehmen könnte, mit höchst provozierenden Beispielen: ’Tis not contrary to reason to prefer the destruction of the whole world to the scratching of my finger. ’Tis not contrary to reason for me to chuse my total ruin, to prevent the least uneasiness of an Indian or person wholly unknown to me. ’Tis as little contrary to reason to prefer even my own acknowledge’d lesser good to my greater, and have a more ardent affection for the former than the latter (A Treatise on Human Nature, II 3, 3, 6).

Für Hume gibt es per se keinen Gegenstand unseres Strebens, der der Vernunft zuwider ist. Das, was der Vernunft zuwider sein kann, sind logische Widersprüche bzw. falsche Überzeugungen, aber keinesfalls fallen unter diese Kategorie die Ziele unseres Handelns. Infolgedessen zieht er die Schlussfolgerung, dass die Rolle der Vernunft angesichts der Praxis als instrumentell verstanden werden muss. Ethos und Praxis

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Es ist leicht sich vorzustellen, dass man durch Aristoteles’ Hinweis an unterschiedlichen Textstellen seiner ethischen Schriften, dass die phronēsis die Mittel für das Handeln bestimmt, zu der Idee gelangen könnte, seine Position müsse auf eine gewisse Weise derjenigen David Humes ähneln; und in der Tat gibt es Kommentatoren, die eine in diese Richtung gehende Interpretation entwickelt haben. In letzter Zeit ist Jessica Moss – die Autorin, auf die wir uns auch bezogen haben, als wir unsere Aufmerksamkeit auf die Debatte über den kognitiven Inhalt der charakterlichen Tugenden richteten – die prominenteste Kommentatorin, die eine derartige Lesart verteidigt. 13 Ihre Position kann allerdings in einer gewissen Hinsicht als moderat beschrieben werden, denn Moss gibt zu, dass sich der aristotelische Ansatz in wichtigen Aspekten von demjenigen Humes unterscheidet. Folgende Punkte werden von ihr explizit benannt: Sie weist darauf hin, dass für Aristoteles die Leidenschaften klarerweise der Vernunft untergeordnet sind und dass die Wünsche und Begierden, die ein tugendhafter Akteur hat, in einem wichtigen Sinne durch die Vernunft geprägt sind. Darüber hinaus merkt sie an, dass Aristoteles ausdrücklich die phronēsis von der deinotēs unterscheidet: Die bloße Geschicklichkeit kann keineswegs die höheren Ansprüche erfüllen, die die aristotelische Klugheit kennzeichnen, wobei hervorzuheben ist, dass für Hume eine solche Unterscheidung zwischen verschiedenen Arten praktischer Vernunft nicht bestand. Immerhin behauptet sie aber, dass Aristoteles und Hume in wesentlichen Fragen über die Natur der Handlungszwecke tatsächlich übereinstimmen. Demzufolge beMoss führt ihre Interpretation auf Die Lehre von der praktischen Vernunft in der griechischen Philosophie (1874) von Julius Walter zurück (vgl. Moss 2014, S. 230). Ein anderer Kommentator ist W. W. Fortenbaugh, der eine ähnliche Position vertritt und an welchen Moss sich anlehnt, wie sich aus dem folgenden Zitat entnehmen lässt: »But if Aristotle recognizes the importance of practical wisdom, he also takes note of moral virtue, for each has its own role to play. […] Good character, i. e. moral virtue guarantees proper values or principles, and like the maxims discussed in Rhetoric II 21, 1394a24, these principles are concerned with action. They determine the ends a man pursues, so that e. g., a man of courage strives to defend his country against enemy attack. But having defense as an end invites deliberation concerning means, and for Aristotle that is not the business of moral virtue but of practical wisdom. […] Moral virtue, i. e., a disposition of character, guarantees the end, while practical wisdom deals with means and generally with prudential considerations« (Fortenbaugh 1991, S. 104–105). Dass Fortenbaugh und Moss in zwei wichtigen Aspekten übereinstimmen – nämlich in ihrer Interpretation über die nicht vernünftige Natur der charakterlichen Tugend und die Rolle der praktischen Vernunft hinsichtlich der Handlungsmittel – spricht deutlich für die Affinität ihrer Positionen.

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zeichnet sie ihre Interpretation als eine »quasi-Humean« Lesart (Moss 2014, S. 239). Weil Moss in ihrer Diskussion die wichtigsten Argumente berücksichtigt, die von anderen die humesche Lesart vertretenden Kommentatoren ebenfalls verwendet werden, und weil ihre Darstellung derselben einen höheren Komplexitätsgrad aufweist, der sich den üblichsten Gegenargumenten entzieht, werde ich mich auf ihren Ansatz konzentrieren. Die Argumente, die Moss präsentiert, um die Interpretation zurückzuweisen, der zufolge die phronēsis auch in der Setzung des Handlungszweckes einen wichtigen Beitrag leistet, können folgendermaßen zusammengefasst werden. Moss behauptet, dass die Aufgaben, die der phronēsis und dem ēthos zustehen, nicht von einem anderen seelischen Vermögen übernommen bzw. durchgeführt werden können. Da Aristoteles sich an dieser Terminologie an so unterschiedlichen Textstellen festhält, sollen wir Moss zufolge nicht versuchen, ihm eine fremde Ansicht bezüglich der Natur der Handlungszwecke zuzuschreiben (siehe Moss 2014, S. 224). Man muss ihr zufolge sagen, dass die Ziele der menschlichen Tätigkeiten eine Präexistenz haben, d. h., dass sie nicht durch unsere Überlegungen so oder so beschaffen sind. Wie Aristoteles im Fall der Medizin erklärt, nimmt sich ein Arzt nicht vor zu bestimmen, was Gesundheit überhaupt sei, wenn er einen Patienten behandeln muss. Seine Tätigkeit als Arzt setzt die Existenz dieses Ziels voraus. Die ihm zukommende Aufgabe besteht im Grunde darin, die Mittel auszuwählen, die zur Erlangung bzw. zur Hervorbringung dieses Ziels führen. Wenn das Ziel in dieser Hinsicht nicht präexistent wäre, wenn also der Arzt zunächst präzisieren müsste, was Gesundheit sei, würde das zu der Konsequenz führen, dass er keinen angemessenen Ausgangspunkt für seine Erwägungen hinsichtlich der Behandlung seines Patienten hätte und dass seine Überlegungen sich im Endeffekt bis ins Unendliche erstrecken würden. Diese Konsequenz kann in der aristotelischen Theorie nur vermieden werden, so Moss, indem wir der phronēsis keine bestimmende Tätigkeit hinsichtlich der Ziele zuschreiben. Die verschiedenen menschlichen Tätigkeiten stehen schon immer in Verbindung mit präexistenten Zwecken. Deshalb kommt der praktischen Vernunft lediglich die Aufgabe zu, die Mittel zu entdecken, die zur Realisierung des fraglichen Zweckes führen. Moss zieht einen Vergleich mit dem theoretischen Denken, um ihre Argumentation zu bekräftigen: So wie man im Bereich der Wissenschaften gewisse Prinzipien (archai) braucht, die als Ausgangspunkt für die Beweisführung dienen und Ethos und Praxis

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keine weitere Begründung benötigen bzw. erlauben, so muss man gewisse praktische Prinzipien haben, aus denen ein phronetischer Deliberationsprozess in Gang gesetzt werden kann. Diese praktischen Prinzipien sind für Moss die Ziele, die in Verbindung mit den charakterlichen Tugenden stehen und nur durch Habituation ein Teil unseres motivationalen Sets werden können. 14 Um ihre These zu belegen beruft sie sich nicht nur auf die Textstellen, in denen der phronēsis und den aretai verschiedene Aufgaben bezüglich der Setzung der Mittel bzw. der Ziele zugeschrieben werden, sondern auch auf diejenigen, in denen Aristoteles behauptet, dass sich die wahren Handlungsprinzipien als solche nur den tugendhaften Menschen offenbaren (siehe NE III 7, 1114a31–b1, VI 13, 1144a31–36). Dies wird von ihr als ein weiteres Indiz dafür interpretiert, dass der Charakter und nicht die praktische Vernunft dafür zuständig ist, die Handlungsziele zu bestimmen. Wie oben gesagt, plädiert Moss nicht für eine radikale humesche Lesart, denn sie versucht der aristotelischen These gerecht zu werden, dass die Vernunft den Vorrang gegenüber den Affekten hat. Moss behauptet ausdrücklich, dass die phronēsis im Endeffekt die Ziele qua Ziele fassen kann – eine These, die im Begriffsapparat von Hume problematisch zu begründen wäre. Eine praktische Überlegung wäre ihr zufolge unmöglich, wenn die Vernunft überhaupt nicht das Ziel erkennen könnte, um dessentwillen gehandelt werden soll. Dies darf allerdings nicht zu der Einsicht führen, dass die phronēsis inhaltlich etwas Wesentliches zur Formung der Handlungsziele als solche beiträgt. Vielmehr muss laut Moss gesagt werden, dass die Klugheit die Art und Weise bestimmt (horizein), auf die ein Handlungsziel angestrebt werden soll, d. h. sie bestimmt die erforderlichen Mittel für die effektive Konkretion und Erlangung eines praktischen Zweckes (siehe Moss 2014, S. 236–237). Dadurch, dass im Fall eines tugendhaften Menschen die Affekte aber nicht instinktiv die Handlung bewirken, sondern dass er nur aufgrund von ihnen handelt, insofern die VerIn Anbetracht dieser Analogie zwischen dem theoretischen und dem praktischen Denken haben einige Kommentatoren wie J. M. Cooper und N. O. Dahl versucht, eine Interpretation aufzubauen, in welcher der nous die ersten Prinzipien erkennt bzw. setzt, auf deren Grundlage die phronēsis ihre Funktion ausübt. Anhand dieser Argumentationslinie könnte man versuchen, eine humesche Lesart in Frage zu stellen. Moss weist diese Interpretation allerdings mit überzeugenden Argumenten zurück (vgl. Moss 2014, S. 224–225). Da ich diesbezüglich mit ihrer Analyse übereinstimme, gehe ich nicht weiter auf diese Argumentationslinie ein.

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nunft es gestattet, muss man schließen, dass der Primat der Vernunft, von welchem hier die Rede ist, vor allem in Bezug auf den letzten Schritt vor der Umsetzung eines Handlungsplans zu verstehen ist. Anders ausgedrückt: Der Vorrang der phronēsis besteht letztlich in ihrer Befugnis, das entscheidende Moment der Handlungsausführung zu bestimmen und nicht etwa in einer ihr nicht zustehenden Fähigkeit, die Handlungsziele zu setzen. Die Tatsache, dass die praktische Vernunft chronologisch das letzte Wort hat, was die Entscheidung der konkreten Handlungsausführung anbelangt, ist für Moss das wichtigste zu berücksichtigende Kriterium um die Superiorität der praktischen Vernunft gegenüber den Affekten zu begründen. 4.3.2 Die phronēsis und die Great End-Theorie Ein anderer Interpretationsweg um die Fähigkeit der phronēsis mit Hinblick auf die Handlungsziele zu überlegen bzw. infrage zu stellen, ist von Sarah Broadie eingeschlagen worden. In ihrem bekannten Buch Ethics with Aristotle (1991) macht es sich Broadie u. a. zur Aufgabe zu erklären, warum sie es nicht für plausibel hält, dass das gute Leben als Hauptziel unserer Bemühungen und praktischer Projekte eine wichtige Rolle in der Ausübung der Klugheit spielt. Broadie zieht die These in Zweifel, dass die unterschiedlichen Überlegungen, die wir anstellen müssen, wenn wir mit diversen Angelegenheiten konfrontiert sind, unter der Berücksichtigung eines allumfassenden Zweckes geleitet werden müssen, um durchgeführt werden zu können. Die Lesart, der zufolge ein allgemeiner Zweck dieser Natur für die Ausübung der phronēsis notwendig ist, wird von Broadie als »Great End theory« bezeichnet (Broadie 1991, S. 198). Obwohl sie verschiedene Gründe in Betracht zieht, aufgrund deren prima facie eine derartige Theorie besonders kompatibel mit Aristoteles’ Charakterisierung der phronēsis zu sein scheint, weist sie sie letztlich zurück. Die Argumente, die sie heranzieht um diese Theorie abzulehnen, lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: Zunächst weist Broadie darauf hin, dass Aristoteles wenige Anstrengungen im sechsten Buch der NE unternimmt, um die Vorstellung des guten Lebens des phronimos, auf welche seine praktischen Überlegungen gerichtet sein sollten, zu charakterisieren. Diese »astonishing lacuna«, wie sie das benennt (Broadie 1991, S. 193), erweist sich als besonders problematisch für diejenigen, die für ein letztes Ziel des Handelns als unentbehrliche Grundlage des richtigen Gebrauchs der phronēsis plädieren. Ihrer Ansicht nach gibt es wenige Textbelege, Ethos und Praxis

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die für eine solche Lesart sprechen würden. Von einem systematischen Standpunkt aus ist außerdem anzumerken, dass ein solches Postulat so unbestimmt zu sein scheint, dass man sich kaum an ihm orientieren könnte, so Broadie, um gute Entscheidungen zu treffen. 15 Wenn uns beispielsweise ein Arzt sagen würde, dass wir im Sinne der Medizin bzw. der Gesundheit unser Leben führen sollen, um gesund zu sein, würden wir eine solche Aussage offensichtlich für undeutlich halten. Die Vagheit einer solchen Anweisung würde uns kaum helfen, eine gesunde Lebensführung zu erreichen. Dasselbe könnte ebenfalls in Bezug auf einen philosophischen Ratschlag gesagt werden, dem zufolge man im Sinne des besten Lebens handeln soll, um glücklich zu sein. Broadie zieht in Zweifel, dass sich ein abstraktes letztes Ziel, das all unsere Bemühungen umfassen soll, als nützlich für die Entscheidungen, die hic et nunc getroffen werden müssen, erweisen würde – etwas, das Aristoteles übrigens selbst erkannt hat, als er die abstrakte Natur der platonischen Idee des Guten in NE I 4 kritisierte. Des Weiteren lässt sich behaupten, dass eine Interpretation, der zufolge sowohl die tugendhaften als auch die lasterhaften Menschen zwar nach dem guten Leben streben, sich jedoch dadurch voneinander unterscheiden, dass nur die Ersteren in Bezug darauf gut zu überlegen vermögen, letztlich kaum imstande ist zu erklären, wie es möglich sei, dass jeder tugendhafte Mensch zu einer richtigen Vorstellung des guten Lebens gelangt. Broadie hebt den Punkt hervor, dass, wenn das allgemeine Ziel des guten Lebens ein wichtiges Element einer praktischen Überlegung sein würde, es eine größere anleitende Kraft haben müsste, um gute Entscheidungen treffen zu können. Das scheint allerdings nicht der Fall zu sein. Gewiss kann man eine allgemeine Vorstellung des guten Lebens haben: So wie ein Arzt weiß, dass seine Bestrebungen auf die Gesundheit seines Patienten gerichtet sind, so muss sich ein phronimos der Tatsache bewusst sein, dass das, um dessentwillen er überlegt, letztlich das eigene gelingende Leben ist. Aber dies ist Broadie zufolge ein Wissen, das sich angesichts der konkreten Delibe»The defining end of practice as such is the good or the best without restriction; but this is a formal concept which by itself cannot determine any particular rational choice. In deliberation, desire for the end functions as the leading premiss of an argument that issues in a practical conclusion via consideration of the particular circumstances and their causal relations to the end. Living well cannot, as such, figure as a starting point of deliberation in this sense; until it is specified, its causal relations are indeterminate« (Broadie 1991, S. 193).

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rationsprozesse als trivial erweist und, wie oben angemerkt wurde, uns keine Anweisung für die Bewältigung einer bestimmten Praxissituation gibt. Die Information, die in den Prämissen einer praktischen Überlegung aufgenommen wird, bezieht sich im Grunde auf die besonderen Problematiken und Angelegenheiten, mit denen wir jeweils konfrontiert sind. Keine allgemeineren Betrachtungen über das Endziel des guten Lebens scheinen eine wichtige Rolle zu spielen, um eine gute praktische Überlegung in Ansehung einer von uns zu bewältigenden Situation erstellen zu können. Darüber hinaus muss man sich in Erinnerung rufen, dass die Angelegenheiten, in Bezug auf welche man überlegt, dadurch charakterisiert sind, dass sie sich nicht immer auf dieselbe Art und Weise zutragen und kein Gegenstand der Wissenschaft sind (siehe NE III 5, 1112a30 ff.). Wenn die Berücksichtigung des Endziels des guten Lebens einen entscheidenden Beitrag leisten würde, um die mit der Praxis zusammenhängenden Probleme zu lösen, würde das darauf hinauslaufen, dass wir immer schon im Voraus eine Antwort auf sie hätten (siehe Broadie 1991, S. 199). Wir würden uns einer »bestimmenden Urteilskraft« – um eine kantische Redeweise zu verwenden – bedienen, um entscheiden zu können, was in jedem Fall getan werden soll. Aber diese Auffassung des praktischen Überlegens steht klarerweise im Widerspruch zu der Charakterisierung desselben, die Aristoteles in seinem Traktat zu präsentieren versucht. Ein weiteres Argument, das Broadie anführt, steht in Verbindung mit einer von Moss vertretenen These, und zwar dass die Ziele des Handelns durch die Tugenden gesetzt werden, welche wiederum durch Habituation angeeignet werden. Wenn es überhaupt so etwas wie ein umfassendes Endziel gäbe, unter Berücksichtigung dessen die sittlich guten Überlegungen durchgeführt werden sollten, dann müsste man annehmen, dass wir zu der Vorstellung desselben durch Gewöhnung nicht gelangen könnten. Vielmehr ist zu behaupten, dass eine solche komplexe Vorstellung die Ausübung der Philosophie voraussetzen würde. 16 Dies scheint ihr allerdings sehr kontraintuitiv zu »The person of practical wisdom would have (on such a theory) to be a philosopher or to have absorbed the teachings of philosophers. How else would he or she come by that comprehensive vision? Aristotle sees the activities of philosophy and theoretical science as perfecting the life of practical virtue so as to render it a life of complete (or perfect) human happiness (1177b24; cf. 1178b7–8). But in NE VI he shows no sign of holding that practical virtue itself, which includes practical wisdom, necessarily presupposes a command of philosophical ethics« (Broadie 1991, S. 199–200).

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sein. Broadie geht davon aus, dass die Welt der Praxis einen Vorrang gegenüber dem philosophischen Theoretisieren hat und dass ein praktischer Akteur durch Habituation durchaus verstehen kann, was Gerechtigkeit, Tapferkeit, Mäßigung usw. sind, bevor die Philosophie erklärt, was diese Tätigkeiten gemeinsam haben (siehe Broadie 1991, S. 200). Kurzum kann gesagt werden, dass die Ziele, in Bezug auf welche man in praktischer Hinsicht überlegt, unmissverständlich mit den Zielen der charakterlichen Tugenden zu identifizieren sind. Es ist deshalb anzunehmen, dass für Broadie das Endziel lediglich ein abstraktes Konstrukt ist, das für die richtige und konkrete Ausübung der phronēsis keinen großen Belang hat.

4.4 Überlegen mit Hinblick auf Ziele Die oben dargestellten Interpretationslinien scheinen, wie bereits erwähnt, dem aristotelischen Ansatz nicht gerecht zu werden. Gegen sie ist hervorzuheben, dass die aristotelische Unterscheidung, der zufolge die phronēsis und die aretai die Mittel bzw. das Ziel für das Handeln setzen, keinesfalls die Möglichkeit ausschließt, dass das Ziel, um dessentwillen man hic et nunc handelt, in einem anderen Kontext Gegenstand unserer praktischen Überlegungen werden kann (siehe Taylor 2008, Russell 2014). Aristoteles zielt mit seiner Beschreibung der Aufgabenverteilung bei den Seelenteilen u. a. darauf ab, die Tatsache in den Vordergrund zu stellen, dass sich unsere praktischen Überlegungen nicht bis ins Unendliche erstrecken können, d. h., sie müssen sich auf gewisse Prinzipien stützen, die nicht weiter begründet werden müssen, sodass wir die vorliegenden Herausforderungen, mit denen wir uns konfrontieren, mit Erfolg bewältigen können. Ein Akteur, der ein von der Vernunft geleitetes sittliches Leben führen will, kann allerdings nicht darauf verzichten, umfassendere Überlegungen anzustellen, die sich auf seine mittel- und langfristigen Projekte beziehen, – wobei angemerkt werden muss, dass solche Überlegungen unsere gegenwärtigen Pläne manchmal einer Revision in Ansehung verschiedener Faktoren unterziehen. Eine derartige reflektierende Evaluation kann dazu führen, dass wir eine tiefere Einsicht bezüglich der Art und Weise, auf welche wir unsere Ziele umsetzen wollen, gewinnen, und ich bin der Ansicht, dass Moss und Broadie kaum imstande sind, mit ihren Lesarten Rechenschaft von diesem wichtigen Gebrauch der phronēsis abzulegen. Ihrer Interpretation zu180

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folge ist der Gebrauch der phronēsis nur auf das Besondere gerichtet, aber das steht m. E. in direktem Widerspruch zu dem, was Aristoteles sagt, wenn er behauptet, dass »es als Kennzeichen eines klugen Menschen gilt, dass er gut zu überlegen vermag über das für ihn Gute und Zuträgliche, und zwar nicht in einer besonderen Hinsicht, zum Beispiel darüber, was seiner Gesundheit oder seiner Kraft zuträglich ist, sondern darüber, was überhaupt dem guten Leben zuträglich ist.« 17 Diese Aussage deutet klarerweise darauf hin, dass der phronēsis in der Tat die Aufgabe zusteht, Überlegungen mit Hinblick auf umfassendere Merkmale und Voraussetzungen eines guten Lebens zu erstellen. In Anbetracht dieser Textstelle könnte behauptet werden, dass ein vernünftiger Akteur zu einer einheitlichen Vorstellung seines eigenen Lebens als ein organisches Ganzes gelangt, indem er einen vortrefflichen Gebrauch der phronēsis macht. 18 δοκεῖ δὴ φρονίμου εἶναι τὸ δύνασθαι καλῶς βουλεύσασθαι περὶ τὰ αὑτῷ ἀγαθὰ καὶ συμφέροντα, οὐ κατὰ μέρος, οἷον ποῖα πρὸς ὑγίειαν, πρὸς ἰσχύν, ἀλλὰ ποῖα πρὸς τὸ εὖ ζῆν ὅλως (NE VI 5, 1140a25–28). 18 Christoph Horn hat meiner Meinung nach mit Recht die durch John Rawls verbreitete Vorstellung kritisiert, wonach die Lebensdauer für Aristoteles in unmittelbarem Zusammenhang mit der eudaimonia steht (siehe Horn 2013, S. 37–39). Rawls schreibt Aristoteles zu, dass ein umzusetzender Lebensplan, wonach alle biographischen Stationen mit Erfolg durchlaufen werden müssen, einen wesentlichen Teil der eudaimonia ausmacht. Dahingegen zeigt Horn, der eine nicht-inklusive Interpretation des menschlichen Glücks vertritt, dass die eudaimonia für Aristoteles »ausschließlich in der energeia der Seele gemäß ihrer besten Tugend bestehe […]; aber nicht die bloße Anzahl von theoretischen Aktivitäten macht das Glück aus, sondern die Tatsache, dass sich diese häufigen theoretischen Aktivitäten aus dem Besitz der Tugenden ergeben« (Horn 2013, S. 26). Was das Wesen der menschlichen eudaimonia anbelangt, schließe ich mich seiner Interpretation entschlossen an: Das Durchlaufen aller biographischen Stationen ist keine Voraussetzung, um die philosophische theōria auszuüben bzw. die eudaimonia zu erlangen. Eine wichtige Bemerkung, die ich angesichts unseres vorliegenden Themas machen würde, wäre allerdings folgende: Dass dieser Sachverhalt bezüglich des Inhalts der eudaimonia geltend ist, bedeutet nicht, dass es nicht möglich wäre, zukünftige Pläne zu entwerfen, um die verschiedenen Tugenden – einschließlich der sophia – auf die bestmögliche Weise ausüben zu können bzw. unterschiedliche Praxisherausforderungen erfolgreich zu bewältigen. Dadurch, dass der Mensch eines der wenigen Lebewesen ist, das eine »Wahrnehmung der Zeit« (aisthēsis chronou) hat (DA III 10, 433b6–7), nimmt er, wenn er vernünftig handelt, die Konsequenzen seines Tuns vorweg. Deshalb betont Aristoteles ausdrücklich, dass der Gegenstand der Überlegung etwas Zukünftiges sein muss: »Man überlegt ja nicht das Vergangene, sondern das Zukünftige und Mögliche« (οὐδὲ γὰρ βουλεύεται περὶ τοῦ γεγονότος ἀλλὰ περὶ τοῦ ἐσομένου καὶ ἐνδεχομένου) (NE VI 2, 1139b7–8). Und ferner behauptet er, dass der gute Mensch sich an seiner Zukunft erfreut: »Und er wünscht, dass er selbst lebt und erhalten bleibt, und insbesondere 17

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Eine andere wichtige Passage, die m. E. diese Lesart untermauert, ist die folgende: Da ein Leben ohne Hinordnung auf ein bestimmtes Ziel großen Unverstand verrät, so ergibt sich die Notwendigkeit, zuerst im eigenen Innern klar voneinander abzugrenzen, weder überstürzt noch gleichgültig, welcher Teil des uns eigenen Wesens die Grundlage für das glückliche Leben bildet, und welches die unerlässlichen Voraussetzungen sind, ohne die es ein solches für die Menschen nicht geben kann. Denn die unerlässlichen Voraussetzungen für das Gesundsein sind nicht identisch mit dem Gesundsein (selbst). Und entsprechend verhält es sich auch in vielen weiteren Fällen, so dass also auch das glückliche Leben nicht identisch ist mit den unerlässlichen Voraussetzungen für das glückliche Leben. 19

Wenngleich hier nicht explizit von der phronēsis die Rede ist, wird allerdings ersichtlich, dass Aristoteles an dieser Textstelle die große Bedeutung einer gründlichen Überlegung des guten Lebens als ein Ganzes betont. Diese Passage besagt nicht, dass nur Philosophen imstande sind, eine solche Überlegung durchzuführen. Es lässt sich aber daran ablesen, dass die Personen, die nicht über die grundlegenden Bedingungen für ein gutes Leben reflektieren können, nicht in der Lage sind, ein derartiges Leben zu führen. 20 Daraus folgt, dass ein allderjenige Teil in ihm, mit dem er denkt. Denn für den guten Menschen ist sein Sein etwas Gutes, und jeder wünscht das Gute sich selbst. […] Der Mensch, der so beschaffen ist, will Zeit mit sich verbringen. Dies nämlich tut er mit Lust, denn die Erinnerungen an das, was er getan hat, sind erfreulich, und die Hoffnungen auf künftige Handlungen sind gut« (καὶ ζῆν δὲ βούλεται ἑαυτὸν καὶ σῴζεσθαι, καὶ μάλιστα τοῦτο ᾧ φρονεῖ. ἀγαθὸν γὰρ τῷ σπουδαίῳ τὸ εἶναι, ἕκαστος δ’ ἑαυτῷ βούλεται τἀγαθά. […] συνδιάγειν τε ὁ τοιοῦτος ἑαυτῷ βούλεται· ἡδέως γὰρ αὐτὸ ποιεῖ· τῶν τε γὰρ πεπραγμένων ἐπιτερπεῖς αἱ μνῆμαι, καὶ τῶν μελλόντων ἐλπίδες ἀγαθαί, αἱ τοιαῦται δ’ ἡδεῖαι) (NE IX 4, 1166a18–26). 19 (ὡς τό γε μὴ συντετάχθαι τὸν βίον πρός τι τέλος ἀφροσύνης πολλῆς σημεῖον ἐστίν), μάλιστα δὴ δεῖ πρῶτον ἐν αὑτῷ διορίσασθαι μήτε προπετῶς μήτε ῥαθύμως, ἐν τίνι τῶν ἡμετέρων τὸ ζῆν εὖ, καὶ τίνων ἄνευ τοῖς ἀνθρώποις οὐκ ἐνδέχεται τοῦθ’ ὑπάρχειν. οὐ γὰρ ταὐτόν, ὧν τ’ ἄνευ οὐχ οἷόν τε ὑγιαίνειν, καὶ τὸ ὑγιαίνειν· ὁμοίως δ’ ἔχει τοῦτο καὶ ἐφ’ ἑτέρων πολλῶν, ὥστ’ οὐδὲ τὸ ζῆν καλῶς καὶ ὧν ἄνευ οὐ δυνατὸν ζῆν καλῶς (EE I 2, 1214b9–17). 20 In Anbetracht von Broadies kritischen Aussagen ist jedenfalls anzumerken, dass Aristoteles der Ansicht ist, dass die praktische Philosophie einen wichtigen Bezug zu unseren alltäglichen Erfahrungen und Vorstellungen als Handelnde hat. Das besagt allerdings nicht, dass die praktische Philosophie keine neuen Einsichten in diese für uns vertrauten Phänomene gewinnen kann, die sich letztlich als revisionär erweisen und unsere Auffassungen korrigieren bzw. wesentlich erweitern. Selbstverständlich kann ein Individuum durch eine gute sittliche Erziehung zu trefflichen Vorstellungen bezüglich der guten Lebensführung gelangen – eine Annahme, die Aristoteles auch zu

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gemeines Verständnis dessen, was ein gutes Leben ausmacht, unentbehrlich für das gelingende Handeln bzw. die angebrachte Umsetzung der charakterlichen Tugenden ist. Darüber hinaus ist anzumerken, dass die oben zitierte Passage ein komplexeres Bild des praktischen Überlegens suggeriert. Im Gegensatz zu Moss’ Position kann man nun konstatieren, dass nicht alle praktischen Überlegungen unter einem einfachen Schema »Mittel-Zwecke« zu verstehen sind. Laut Aristoteles ist es für die praktischen Akteure oft erforderlich, Überlegungen im Hinblick auf die unerlässlichen Voraussetzungen durchzuführen, die erfüllt werden müssen, um ihre Ziele zu erreichen – wobei darauf hinzuweisen ist, dass diese unerlässlichen Voraussetzungen nicht mit bloßen Mitteln zu verwechseln sind. Sie sind vielmehr integrale Bestandteile der Ziele, die wir jeweils anstreben. 21 Es kann beispielsweise gesagt werden, dass die gesunde Ernährung im Fall eines Hypertonikers kein bloßes Mittel für die Hervorbringung seiner Gesundheit ist. Aufgrund der besonderen Verfasstheit seines Organismus ist in seinem Fall die gute Ernährung mit seiner Gesundheit so eng verbunden, dass behauptet werden könnte, dass sie Hand in Hand miteinander gehen. Es wäre allerdings ein großer Irrtum zu denken, dass die bloße Erfüllung dieser Bedingung hinreichen würde, vertreten scheint, wenn er das Thema der Erziehung behandelt –, aber die Anweisung der Philosophie ist trotzdem von enormem Belang, um das Wesen der Praxis und der menschlichen eudaimonia zu erklären. Der Übergang von den verbreiteten zu den philosophischen Auffassungen wird von Aristoteles thematisiert, wenn er die Methode seiner Untersuchung erläutert: »Denn jeder Mensch trägt etwas in sich, was in Beziehung steht zur Wahrheit; dies muss man zum Ausgangspunkt nehmen und auf diese oder jene Weise überzeugende Argumente für unsere Probleme aufzeigen. Denn aus den Meinungen, die zwar zutreffend, aber nicht präzise (von den Menschen) vorgebracht werden, wird sich im weiteren Verlauf dann auch das Präzise einstellen, indem man jeweils für die üblichen ungeordneten Meinungen das klarere Wissen bekommt« (ἔχει γὰρ ἕκαστος οἰκεῖόν τι πρὸς τὴν ἀλήθειαν, ἐξ ὧν ἀναγκαῖον δεικνύναι πως περὶ αὐτῶν· ἐκ γὰρ τῶν ἀληθῶς μὲν λεγομένων οὐ σαφῶς δέ, προϊοῦσιν ἔσται καὶ τὸ σαφῶς, μεταλαμβάνουσιν ἀεὶ τὰ γνωριμώτερα τῶν εἰωθότων λέγεσθαι συγκεχυμένως) (EE I 6, 1216b30–35). 21 Eine Konsequenz, die sich daraus ableiten würde, wenn man diese Unterscheidung ablehnt, ist m. E., dass verschiedene praktische Unternehmungen, denen wir nachgehen, als instrumentell betrachtet werden müssten. D. h., sie würden nur gut sein, indem sie dem Ziel dienen, das wir letztlich anstreben. Aber diese Charakterisierung scheint der sittlichen Praxis, wie Aristoteles sie versteht, nicht gerecht zu werden, denn sie ist selbst ein Ziel (siehe NE VI 5, 1140b6–7). Vielmehr denke ich, dass, wenn ein spoudaios agiert, alle seine Bestrebungen wertvoll sind, insofern er im Sinne der Tapferkeit, der Gerechtigkeit, der Freigebigkeit usw. handelt, und dass auf diese Weise Aristoteles’ Aussage am besten zu verstehen ist. Ethos und Praxis

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sodass der Hypertoniker gesund sei, wenn er trotz seiner Krankheit raucht und keine Art von Sport treibt. Die Erfüllung einer unerlässlichen Voraussetzung führt nicht zu der unmittelbaren Konsequenz, dass das fragliche Ziel erreicht wird – wie es sich offensichtlich mit den Menschen zuträgt, die das gute Leben mit dem Lustgenuss bzw. mit dem Besitz äußerer Güter identifizieren. Der Hypertoniker muss sein Leben als ein organisches Ganzes betrachten, in dem seine verschiedenen Tätigkeiten in einem engen harmonischen Verhältnis zueinander stehen müssen, sodass er ein gesundes Leben führen kann. Dass wir Aristoteles zufolge genötigt sind, derartige Überlegungen über die Bestandteile eines Ganzen – d. i. das gute menschliche Leben als eine Totalität – durchzuführen, ist ein klarer Beweis dafür, dass die phronēsis eine derartige Tugend ist, die die Ziele des Handelns fassen und zu ihrer Bestimmung einen wichtigen Beitrag leisten muss, und dass eine umfassende Vorstellung des guten Lebens erforderlich ist, um unsere unterschiedlichen praktischen Projekte umsetzen zu können. Ein weiterer kritischer Einwand, der gegen die Lesart von Moss erhoben werden kann, besteht darin, dass sie unerklärt lässt, in welcher Hinsicht Aristoteles meint, dass der phronēsis auch eine leitende (architektonikē) Rolle zukommt (NE VI 8, 1141b25). Aristoteles erklärt ausdrücklich, dass die phronēsis Wissen des Allgemeinen und Erfahrung von Einzelnen miteinschließt und aufgrund ihrer besonderen Charakteristika setzt er sie mit der politischen Wissenschaft in Verbindung. Ihm zufolge »sind das politische Wissen und die Klugheit dieselbe Disposition, ihr Sein ist jedoch nicht dasselbe«, 22 was bedeutet, dass sie dieselbe Extension bzw. denselben Umfang, aber nicht dieselbe Intension bzw. denselben Sinn haben (siehe Wolf 2006a, S. 368). Die zwei Bereiche, in denen diese einzige hexis eine Anwendung findet, lassen sich deutlich voneinander unterscheiden: Einer betrifft die individuelle Lebensführung und der andere das gemeinsame bzw. soziale Leben. In den folgenden schwierigen Zeilen dieser Passage scheint Aristoteles allerdings noch eine weitere Unterscheidung zu machen, nämlich die zwischen dem politischen Wissen in Bezug auf die Gesetzgebung und dem politischen Wissen in Bezug auf die Staatsbeschlüsse – wobei er anmerkt, dass dieses zweite Verständnis mehr dem individuellen Gebrauch der phronēsis dadurch ähnelt, dass es besonders auf das Handeln gerichtet ist (siehe NE VI Ἔστι δὲ καὶ ἡ πολιτικὴ καὶ ἡ φρόνησις ἡ αὐτὴ μὲν ἕξις, τὸ μέντοι εἶναι οὐ ταὐτὸν αὐταῖς (NE VI 8, 1141b23–24).

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8, 1141b22–33). Es wird in der Tat nicht vollkommen deutlich, warum Aristoteles diese Analogie zwischen der phronēsis und der politischen Wissenschaft in diesem Teil seiner Abhandlung zieht und was er damit beabsichtigt. Jedenfalls ist eindeutig, dass er zwei Funktionen der phronēsis zukommen lässt, nämliche eine absteigende und eine aufsteigende. Aufgrund derselben intellektuellen Tugend sind wir imstande sowohl Entscheidungen, die das Einzelne anbelangen, zu treffen als auch Betrachtungen einer allgemeineren Natur anzustellen, die sich wiederum von einer enormen Tragweite für die Bestimmung der Grundlinien, die das Gemeinleben regeln sollen, erweisen. Gerade in Ansehung dieses besonderen Aspekts schreibt Aristoteles der phronēsis eine koordinierende bzw. architektonische Leistung zu: Sie befähigt uns, unsere unterschiedlichen Bestrebungen bzw. die Ausübung der besonderen Charaktertugenden auf ein oberstes Ziel bzw. das gute Leben zu richten. Da keine individuelle Charaktertugend imstande ist, diese besondere Leistung zu erbringen, ist es m. E. ersichtlich, dass die humesche Interpretation von Moss zurückzuweisen ist: Sie hat keine angebrachten Mittel zu erklären, wie dieser aufsteigende Gebrauch der phronēsis zustande kommen kann, ohne ihr zugleich die Fähigkeit zuzuschreiben, über die unterschiedlichen Handlungszwecke zu reflektieren und sie in Verhältnis zueinander zu setzen. Gegen die Interpretation von Broadie kann andererseits festgestellt werden, dass architektonikē keinesfalls dasselbe wie katholou bedeutet (siehe Natali 2014, S. 190). Die Tatsache, dass man sich der phronēsis bedienen kann, um zu einer allgemeinen Vorstellung des guten Lebens zu gelangen, läuft nicht darauf hinaus, dass sich die Aufgabe, in Bezug auf das Einzelne zu überlegen, dadurch aufhebt. Anders ausgedrückt: Daraus, dass der phronēsis eine umfassendere Aufgabe zusteht, folgt nicht, dass wir unter Berufung auf sie alle praktischen Probleme ohne weitere Überlegungen bewältigen können. Man kann vielmehr feststellen, dass wir bessere praktische Akteure werden, indem wir einerseits überlegen, in welchem Verhältnis unsere unterschiedlichen Ziele und Pläne zueinander stehen, und andererseits die durch unsere Deliberationsprozesse gewonnenen Einsichten in die Auseinandersetzung mit den unmittelbaren Praxisangelegenheiten miteinbeziehen. Beide Gebräuche der phronēsis sind m. E. ergänzend und keineswegs inkompatibel. Selbst wenn ein gut habitualisiertes ēthos die unerlässliche Grundlage ist, die solche Reflexionsbewegungen ermöglicht, kann es keine der Aufgaben übernehmen, die nur der phronēsis eigentümlich sind. Ethos und Praxis

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§ 5 Die prohairesis als Maßstab des Charakters 5.1 Vorsatz und ēthos Ein anderes seelisches Phänomen, das besonders bedeutend ist, um das Zusammenwirken zwischen den verschiedenen Seelenteilen bei Aristoteles näher zu erörtern, ist die prohairesis. 23 Die prohairesis ist einer der zentralen Begriffe anhand dessen Aristoteles versucht, Rechenschaft über das menschliche Handeln abzulegen. Historisch betrachtet hingegen ist dieser Begriff im Vergleich zu anderen relativ wenig in der Aristoteles-Forschung diskutiert worden. Erst seit kurzer Zeit hat er die Aufmerksamkeit verschiedener Kommentatoren erweckt, was sich in neueren Monographien und Artikeln zum Thema zeigt. 24 Allerdings gibt es m. E. einen weiteren wichtigen Aspekt zu diesem Begriff, der kaum in der Literatur angesprochen wird und dennoch fruchtbar gemacht werden kann, um die aristotelische Konzeption des Charakters besser zu verstehen. Der wichtige Zusammenhang nämlich, den Aristoteles zwischen prohairesis und ēthos explizit festlegt, ist meiner Auffassung nach etwas, das es näher zu unterIn Anlehnung an Liske bin ich der Auffassung, dass die beste Übersetzungsmöglichkeit für diesen Terminus im Deutschen »überlegter Vorsatz« bzw. »überlegte Entscheidung« wäre (siehe Liske 2009). Dahingegen scheint mir die von Gadamer vorgeschlagene Variante, diesen Terminus als »Vorzugswahl« zu übersetzen, dem Sinn desselben bei Aristoteles nicht immer gerecht zu werden (siehe Gadamer 1998). Da ich es nicht für angebracht halte, diesen Terminus in jedem einzelnen Kontext mechanisch zu übersetzen, werde ich ihn meistenteils in meiner Argumentation im Griechischen belassen, um Missverständnisse zu vermeiden. 24 Lange Zeit war die Dissertation von Kullmann (1943) die einzige Monographie, deren Hauptuntersuchungsgegenstand die prohairesis war. Trotz der verschiedenen Verdienste dieser Pionierarbeit ist zu bemerken, dass die Herangehensweise Kullmanns vor allem historisch-philologisch ist: Das zeigt sich an der Tatsache, dass die Hälfte seiner Studie darin besteht, den unterschiedlichen Verwendungen dieses Wortes bei voraristotelischen Autoren nachzuspüren (siehe Kullmann 1943, S. 1–51). Die systematische Bedeutung dieses Begriffes angesichts der aristotelischen Theorie der praktischen Rationalität wird von ihm außer Acht gelassen. Eine Autorin, die schon in den 60er-Jahren eine systematische Forschungslinie bezüglich dieses Themas eröffnet hat, war Elizabeth Anscombe (1965). Die von ihr eröffnete Interpretationsrichtung ist ein kennzeichnendes Merkmal neuerer Studien in der Forschung wie diejenigen von Nielsen (2006), Formichelli (2009), und Vigo (2012, 2013), die sich spezifisch mit diesem Thema auseinandersetzen. Andere Arbeiten, die sich zwar mit anderen Fragen beschäftigen, die aber den prohairesis-Begriff auf eine bedeutende Weise in ihre Argumentation miteinbeziehen, sind u. a. diejenigen von Charles (1984), Rese (2002) und Grandjean (2009). 23

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Die prohairesis als Maßstab des Charakters

suchen gilt, um eine tiefere Einsicht in seine praktische Philosophie zu gewinnen. Die folgenden Passagen sind in dieser Hinsicht sehr aufschlussreich: Nachdem wir das gewollte und das ungewollte Handeln definiert haben, ist die nächste Aufgabe, den Vorsatz zu erörtern; denn der Vorsatz gilt als besonders eng mit der Tugend verbunden und soll mehr noch als die Handlung Unterschiede im Charakter anzeigen. 25 Wir sind nämlich dadurch (Menschen) mit so oder so beschaffenen charakterlichen Dispositionen, dass wir uns das Gute oder Schlechte vornehmen, nicht aber dadurch, dass wir es meinen. 26 Und darum beurteilen wir die Qualität eines Menschen nach seiner Entscheidung, das heißt nach dem, um dessentwillen er es tut, nicht nach dem, was er tut. 27 Bei unserem Lob und Tadel schauen wir allgemein eher auf die Entscheidung als auf die Werke – obwohl die Aktivität der Tugend wertvoller ist –, weil die Menschen Schlechtes auch in einer Zwangslage tun, niemand aber (in einer solchen) die Entscheidung trifft. 28

Die offensichtlichste Implikation dieser Textstellen ist, dass wir Aristoteles zufolge imstande sind, uns eine angemessene Vorstellung des Charakters eines anderen Menschen zu bilden, und zwar können wir diese Vorstellung durch seine Handlungen oder seine prohairesis erwerben, wobei die Letztere uns beträchtlich mehr über ihn qua praktischer Akteur wissen lässt. In der Tat scheint es, dass wir nur durch die prohairesis eines Akteurs beurteilen können, ob er tugendhaft bzw. lasterhaft ist. Andere Aspekte, auf die man sich beziehen kann, um etwa Lob und Tadel zu erteilen, erweisen sich angesichts einer derartigen Aufgabe als ungenügend, da man letztlich wissen will, wie der Handelnde beschaffen ist und was ihm Anlass gibt so oder so zu agieren. Διωρισμένων δὲ τοῦ τε ἑκουσίου καὶ τοῦ ἀκουσίου, περὶ προαιρέσεως ἕπεται διελθεῖν· οἰκειότατον γὰρ εἶναι δοκεῖ τῇ ἀρετῇ καὶ μᾶλλον τὰ ἤθη κρίνειν τῶν πράξεων (NE III 4, 1111b5–6). 26 τῷ γὰρ προαιρεῖσθαι τἀγαθὰ ἢ τὰ κακὰ ποιοί τινές ἐσμεν, τῷ δὲ δοξάζειν οὔ (NE III 4, 1112a1–3). 27 καὶ διὰ τοῦτο ἐκ τῆς προαιρέσεως κρίνομεν ποῖός τις· τοῦτο δ’ ἐστὶ τὸ τίνος ἕνεκα πράττει, ἀλλ’ οὐ τί πράττει (EE II 11, 1228a2–4). 28 ἔτι πάντας ἐπαινοῦμεν καὶ ψέγομεν εἰς τὴν προαίρεσιν βλέποντες μᾶλλον ἢ εἰς τὰ ἔργα· καίτοι αἱρετώτερον ἡ ἐνέργεια τῆς ἀρετῆς, ὅτι πράττουσι μὲν φαῦλα καὶ ἀναγκαζόμενοι, προαιρεῖται δ’ οὐδείς (EE II 11, 1228a11–15). 25

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Dass es eine enge Verknüpfung zwischen unseren charakterlichen Haltungen und unseren Entscheidungen gibt, ist eine These, die nicht nur angesichts des sittlichen Handelns, sondern auch in anderen Bereichen des menschlichen Tuns entscheidend ist. In der Poetik und Rhetorik finden wir ebenfalls interessante Passagen, in denen es Aristoteles darum geht zu explizieren, was das Hauptmittel ist, über welches die Dichter und die Redner verfügen, um ein ēthos – sei es das einer dramatischen Figur oder das des Redners selbst – für ein Publikum anschaulich zu machen. Die prohairesis taucht ebenfalls in diesen Zusammenhängen als das kennzeichnendste und auffälligste Kennzeichen für das ēthos auf: Charakter aber zeigen die Aspekte (einer dramatischen Handlung), aus denen erkennbar wird, welche Entscheidungen jemand zu treffen pflegt. Deshalb zeigen die Reden, in denen überhaupt nichts vorkommt, über das, was der, der spricht, vorzieht oder meidet, keinen Charakter. 29 Was die Charaktere betrifft, so muss man vier (Forderungen) zu erfüllen suchen, eine davon – und die grundlegende – ist, dass die Charaktere gut sein sollen. Charakter hat jemand, wenn, wie gesagt, sein Reden oder Handeln irgendeine Tendenz, Bestimmtes vorzuziehen, erkennen lässt, und einen guten, wenn diese Tendenz gut ist. Das gibt es in jedem Geschlecht und gesellschaftlichem Rang: Es gibt auch die gute Frau und den guten Sklaven, wenn auch vielleicht der eine Stand von diesen weniger die Fähigkeit zur richtigen Wahl hat, der andere im allgemeinen von sich aus ganz unfähig dazu ist. 30 Die Erzählung muss fähig sein, den Charakter des Redners widerzuspiegeln. Das wird umgesetzt, wenn wir wissen, was den Charakter bewirkt. Zum einen ist es das Mittel, das der Vorsatz des Redners verdeutlicht, denn wie das eine (der Charakter) beschaffen ist, so auch das andere (der Vorsatz). Der Vorsatz entspricht dem Zweck der Rede. Daher haben mathematische Vorträge keinen Charakter, weil sie auch keinen bestimmten Vorsatz (sie haben nämlich kein »zu welchem Zweck«, wohl aber die sokratischen Reden) offenbaren; denn sie handeln von derartigen Dingen. 31 ἔστιν δὲ ἦθος μὲν τὸ τοιοῦτον ὃ δηλοῖ τὴν προαίρεσιν, ὁποία τις [ἐν οἷς οὐκ ἔστι δῆλον ἢ προαιρεῖται ἢ φεύγει] – διόπερ οὐκ ἔχουσιν ἦθος τῶν λόγων ἐν οἷς μηδ’ ὅλως ἔστιν ὅ τι προαιρεῖται ἢ φεύγει ὁ λέγων (Poet. 6, 1450b8–11). 30 Περὶ δὲ τὰ ἤθη τέτταρά ἐστιν ὧν δεῖ στοχάζεσθαι, ἓν μὲν καὶ πρῶτον, ὅπως χρηστὰ ᾖ. ἕξει δὲ ἦθος μὲν ἐὰν ὥσπερ ἐλέχθη ποιῇ φανερὸν ὁ λόγος ἢ ἡ πρᾶξις προαίρεσίν τινα hἥ τις ἂνi ᾖ, χρηστὸν δὲ ἐὰν χρηστήν. ἔστιν δὲ ἐν ἑκάστῳ γένει· καὶ γὰρ γυνή ἐστιν χρηστὴ καὶ δοῦλος, καίτοι γε ἴσως τούτων τὸ μὲν χεῖρον, τὸ δὲ ὅλως φαῦλόν ἐστιν (Poet. 15, 1454a16–22). 31 ἠθικὴν δὲ χρὴ τὴν διήγησιν εἶναι· ἔσται δὲ τοῦτο, ἂν εἰδῶμεν τί ἦθος ποιεῖ. ἓν 29

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Die prohairesis als Maßstab des Charakters

Obwohl diese Passagen aus unterschiedlichen Kontexten stammen, weisen sie eine interessante Affinität auf: Sie bringen die Idee zum Ausdruck, dass wir gar nicht über den Charakter von einem Akteur reden könnten, ohne seine Absichten auf irgendeine Weise zur Kenntnis zu nehmen. In der dramatischen Dichtung und in der Rhetorik müssen die Intentionen des Handelnden in den Vordergrund gestellt werden, sodass wir uns ein Urteil über die jeweilige Figur, die uns als Zuschauer oder Zuhörer entgegenkommt, bilden können. Die diesen Textstellen zugrundeliegende These lässt sich folgendermaßen formulieren: Komplexere Phänomene der Intentionalität können die innere Beschaffenheit eines Handelnden ausdrücken. Deshalb können diese Phänomene, je nach Kontext, eine rhetorische bzw. poetische Wirkung bei anderen Menschen auslösen. Nach der aristotelischen Auffassung muss man sich als Dichter und Redner bemühen, diese Absichten sprachlich zu vermitteln und somit die gewünschte Wirkung – d. i., den Charakter anschaulich zu machen – beim Publikum herbeizuführen. Die oben angeführte Textevidenz scheint mir deutlich darauf hinzuweisen, dass Aristoteles eine enge Korrelation zwischen prohairesis und ēthos in verschiedenen Bereichen seiner Philosophie etablieren wollte. Daran sollte es keine Zweifel geben. Es sind eher systematische Gründe, die dazu führen, dass uns diese These im Kontext der praktischen Philosophie besonders rätselhaft vorkommen könnte. Einerseits wird nicht deutlich, warum die prohairesis mit dem ēthos so eng zusammenhängen sollte; denn wir wissen durch Aristoteles selbst, dass Tugenden durch Habituation entstehen und nicht durch bloße Vernunfterkenntnis. Demzufolge könnte behauptet werden, dass die Tugenden primär eher mit Affekten, Begierden und Emotionen zu tun haben und nur nachrangig mit alldem, was mit unserem Entscheidungsvermögen zusammenhängt. In Anbetracht dessen könnte man sich fragen: Warum sollen die Akteure aufgrund dessen bewertet bzw. beurteilt werden, was die passive Dimension ihres Selbst ausmacht? Wäre es nicht objektiver und aus systematischen Gründen besser, dass die Beurteilung eines Akteurs eher als Hauptgegenstand das vernünftige bzw. aktive Prinzip des Handelns μὲν δὴ τὸ προαίρεσιν δηλοῦν, ποιὸν δὲ τὸ ἦθος τῷ ποιὰν ταύτην, ἡ δὲ προαίρεσις ποιὰ τῷ τέλει· διὰ τοῦτο hδ’i οὐκ ἔχουσιν οἱ μαθηματικοὶ λόγοι ἤθη, ὅτι οὐδὲ προαίρεσιν (τὸ γὰρ οὗ ἕνεκα οὐκ ἔχουσιν), ἀλλ’ οἱ Σωκρατικοί· περὶ τοιούτων γὰρ λέγουσιν (Rhet. III 16, 1417a16–21). Ethos und Praxis

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hätte? Diese prima facie kontraintuitive These des Aristoteles lässt sich sogar verstärken, wenn man bestimmte Passagen heranzieht, die den Eindruck vermitteln, dass das ēthos lediglich etwas Passives unserer Seele ist. Eine wichtige Textstelle, die klarerweise für eine solche Auffassung sprechen würde, ist die in der EE enthaltene knappe Definition des Charakters, auf die wir uns im zweiten Kapitel bezogen haben und der zufolge das ēthos eine Beschaffenheit des irrationalen Seelenteils ist, die in der Lage ist, nach Maßgabe des befehlenden Rationalen dem Rationalen zu folgen (siehe EE II 2, 1220b5–7). Dass die Bewertung eines Akteurs auf solch einem scheinbar rein gehorchenden und zum Teil versteckten Aspekt unseres Selbst beruhen muss, scheint zumindest problematisch zu sein. Zudem geht man in bestimmten Strömungen der Gegenwartsphilosophie oft davon aus, dass eine sittliche Beurteilung hauptsächlich auf die Handlungen selbst und die von ihnen abgeleiteten Konsequenzen gerichtet sein sollte. Dies geschieht meiner Meinung nach paradigmatisch im Rahmen der utilitaristisch-konsequentialistischen Tradition. So können wir beispielsweise bei Philip Pettit lesen: »Consequentialism is the theory that the way to tell whether a particular choice is the right choice for an agent to have made is to look at the relevant consequences of the decision; to look at the relevant effects of the decision in the world« (Pettit 1993, xiii; meine Hervorhebung). Bei einer derartigen Position können wir vermuten, dass die »Entscheidung« oder der »Entschluss« eines Akteurs für sich nicht besonders informativ angesichts einer sittlichen Beurteilung sein würde. Ebenfalls lässt sich annehmen, dass die Aufgabe, die Handelnden so zu erziehen, dass sie tugendhafte Entscheidungen treffen können, in diesem Ansatz nicht unbedingt eine zentrale Rolle spielen würde. Vorsätze und Entscheidungen ganz unterschiedlicher Art könnten dieselbe oder ähnliche Wirkungen bzw. Sachverhalte herbeiführen und nur diese zählen aus dem hier dargestellten Gesichtspunkt. Deshalb sind eher die Handlungen selbst, die jemand hervorgebracht hat, der entscheidende Maßstab, um über den Handelnden ein Urteil zu fällen. Die jeweiligen Absichten oder Handlungsgründe werden einer derartigen Beurteilung zufolge bestenfalls in Erwägung gezogen, um den Schuldanteil eines Akteurs zu mildern bzw. zu akzentuieren – oder ggf. um ihn zu loben. Angenommen aber, dass die Absichten des Akteurs doch in jedes sittliche Urteil miteinbezogen werden müssten, so wären sie ohnehin den tatsächlichen Konsequenzen seiner Handlungen untergeordnet. Laut dieser Position wäre es paradox, 190

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Die prohairesis als Maßstab des Charakters

dass die Vorsätze des Akteurs den Vorrang in einer Beurteilung eines Akteurs haben sollen, wie Aristoteles es in der NE als etwas fast Selbstverständliches zu vertreten scheint. 32 Deshalb ist es nicht auf Anhieb deutlich, warum die Handlungen selbst kein hinreichendes Kriterium für eine sittliche Beurteilung sein können. Ich bin der Überzeugung, dass die aristotelischen Texte genügend Material dafür bieten, diese möglichen Einwände zu beseitigen. Ferner denke ich, dass, wenn man diese Probleme behebt, die Position von Aristoteles beträchtlich attraktiver wird. Im Folgenden werde ich versuchen, diese Schwierigkeiten zu lösen. Vor diesem Hintergrund werde ich einerseits die aristotelische Position mit größerer Genauigkeit zu rekonstruieren versuchen und andererseits die begriffliche Bedeutsamkeit dieses oft verkannten Zusammenhanges zwischen prohairesis und ēthos zeigen. Zunächst muss etwas Wichtiges bemerkt werden: Dass das ēthos eng mit dem zu habitualisierenden alogon-Teil der Seele zusammenhängt, bedeutet nicht, wie wir schon gesehen haben, dass es ein rein passives bzw. affektives Vermögen ist, dessen Aufgabe lediglich darin besteht, den Befehlen der Vernunft zu folgen. Aufgrund der knappen Definition aus der EE ist es vielleicht nicht erstaunlich, dass man manchmal auf diese Idee in der Wirkungsgeschichte dieses Begriffes gekommen ist. Es gab schon Kommentatoren und Doxographen in der Tradition, bei denen man Äußerungen über das ēthos findet, denen diese Interpretation zugrunde liegt. Beispielsweise liegt bei StoEs ist natürlich nicht der Fall, dass diese philosophische Strömung sich direkt mit Aristoteles als ihrem Hauptgegner auseinandersetzt. Demzufolge ist es keinesfalls meine Absicht, mich der systematischen Aufgabe zu widmen, zu bestimmen, welche Moraltheorie konsistenter ist, geschweige denn, wie man anhand von Aristoteles Lehre den Konsequentialismus anfechten kann. Es scheint mir trotzdem eine interessante Herausforderung zu sein, im heutigen Kontext zu zeigen, dass die aristotelische Beurteilung des Charakters eines Akteurs aufgrund der Beschaffenheit seiner Entscheidungen immer noch auf verschiedenen Ebenen eine attraktive Position darstellt. Andererseits bin ich mir der Tatsache bewusst, dass man berechtigte Vorbehalte gegen diesen Vergleich haben kann. Im Anschluss an prominente Figuren wie Elizabeth Anscombe, Bernard Williams, Alasdair MacIntyre und Julia Annas könnte man behaupten, dass die Ziele der antiken praktischen Philosophie ganz andere als diejenigen der modernen Moralphilosophie sind und dass die Beurteilung eines Akteurs jedenfalls durch ganz verschiedene Interessen motiviert ist. Deshalb wäre es schwer oder gänzlich unmöglich, einen Vergleich der Auffassungen der sittlichen Beurteilung zwischen diesen zwei Positionen zu ziehen. Es ist auch keineswegs mein Anliegen, auf diese Debatte einzugehen. Nur um des Argumentes willen setze ich hier eine minimale Kommensurabilität der Beurteilungen in diesen Positionen voraus.

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baios eine Auffassung vor, der zufolge das ēthos lediglich der unvernünftige Seelenteil ist, der als Gegenstand der Habituation gilt und den Befehlen der Vernunft folgen muss. In einem Abschnitt seiner Anthologie gibt er das, was seiner Meinung nach die Grundmerkmale der aristotelischen praktischen Philosophie sind, wieder und bezeichnet das ēthos schlicht als den pathetischen Seelenteil (to pathētikon) – eine Bezeichnung des ēthos, die im aristotelischen Korpus nicht anzutreffen ist. 33 Man kann nicht feststellen, ob er sich auf die oben genannte Passage der EE stützt, wenn er sich über das ēthos äußert. Die Tatsache, dass er sich auf peripatetische Autoritäten beziehen könnte um diese Position wiederzugeben, deutet meiner Meinung nach darauf hin, dass es sich möglicherweise um ein Thema gehandelt hat, über welches kein absoluter Konsens in der aristotelischen Tradition herrschte. 34 Bei genauer Betrachtung der wesentlichsten Merkmale des ēthos zeigt sich allerdings, dass die These über die Passivität dieses Vermögens keineswegs haltbar ist. In Ansehung der Ergebnisse unserer Untersuchung kann man feststellen, dass Aristoteles dem ēthos verDie gesamte Passage, in der Stobaios die aristotelische Auffassung des ēthos zusammenfasst, ist folgende: »[Aristoteles; E. C.] sagt, dass »Charakter« seinen Namen dem Wort »Gewöhnung« verdankt, denn die Vervollkommnung bei den Sachen, deren Anfänge und Samen wir von der Natur bekommen, ist durch Gewöhnung und richtige Einübung zu erreichen. Aus diesem Grund beschäftigt sich [die Wissenschaft] des ēthos mit Gewöhnung und betrifft lediglich die Lebewesen und vor allem die Menschen. Denn die anderen [Lebewesen] entwickeln gewisse Charaktere nicht durch Vernunft, sondern durch Notwendigkeit; dagegen wird ein Mensch durch Vernunft als Ergebnis der Habituation gestaltet, wenn der irrationale Teil seiner Seele gemäß der Vernunft disponiert ist. Was hier als der irrationale Teil der Seele benannt wird, ist nicht etwas, was einfach unvernünftig ist, sondern etwas, was der Vernunft folgen kann. Das ist eben der pathetische Teil, nämlich das, was Tugend zuweisen kann« (Τὸ μὲν οὖν hἦθοςi τοὔνομα λαβεῖν φησιν ἀπὸ τοῦ hἔθους·i ὧν γὰρ ἐκ φύσεως ἀρχὰς ἔχομεν καὶ σπέρματα, τούτων τὰς τελειότητας περιποιεῖσθαι τοῖς ἔθεσι καὶ ταῖς ὀρθαῖς ἀγωγαῖς· δι’ ὃ καὶ τὴν ἠθικὴν ἐθικὴν εἶναι καὶ περὶ μόνα τὰ ζῷα γίνεσθαι καὶ μάλιστα περὶ ἄνθρωπον. Τὰ μὲν γὰρ λοιπὰ ἐθισθέντα οὐ λόγῳ ἀλλὰ τῇ ἀνάγκῃ γίνεσθαι ποιὰ ἄττα, τὸν δ’ ἄνθρωπον τῷ λόγῳ πλαττόμενον ἐκ τοῦ hἐθισμοῦ,i hτοῦ ἀλόγουi μέρους τῆς ψυχῆς διακειμένου κατὰ τὸν λόγον. Ἄλογον δὲ λέγεσθαι ψυχῆς μέρος οὐ τὸ καθάπαξ ἄλογον, ἀλλὰ τὸ οἷόν τε πείθεσθαι λόγῳ, ὁποῖόν ἐστι τὸ παθητικόν, τοῦτο hδὲi καὶ τῆς ἀρετῆς δεκτικόν (Anthologium II 7, 13). 34 Die Meinungsverschiedenheit über das ēthos zwischen den antiken aristotelischen Kommentatoren zeigt sich auch auf eine deutliche Weise in Alexander von Aphrodisias’ De fato. Darauf werden wir ausführlicher im letzten Kapitel unserer Studie eingehen. 33

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Die prohairesis als Maßstab des Charakters

schiedene aktive Leistungen zukommen lässt. Die charakterlichen Tugenden setzen die Ziele des Handelns und tragen entscheidend zur Formung vernunftgemäßer Wünsche bei, um die fraglichen Zwecke anzustreben. Ferner befähigen sie den Akteur, sein sittliches Feingefühl zu entwickeln, sodass er richtig erkennen kann, in welchem Praxiskontext er sich befindet und dementsprechend weiß, wie gehandelt werden muss. In Anbetracht unseres vorliegenden Themas gilt es außerdem hervorzuheben, dass wir dank der charakterlichen Tugenden imstande sind, gute sittliche Vorsätze zu fassen. Es muss in Erinnerung gerufen werden, dass die Tugend ihrer Gattung und ihrer Spezies nach als hexis prohairetikē definiert wird. 35 Diese Charakterisierung deutet klarerweise darauf hin, dass wir es hier mit Haltungen zu tun haben, durch welche wir imstande sind, richtige Entscheidungen im Bereich des sittlichen Handelns zu treffen. 36 Die guten hexeis sind Bestimmungen der menschlichen Seele, die uns in verschiedenen Praxisfeldern befähigen, das Angebrachte oder das Angemessene zu vollziehen. Die Entscheidungen, die ein praktischer Akteur trifft und gemäß denen er handelt, sind manchmal ein Produkt einer sorgfältigen Überlegung (bouleusis): Gewisse Praxissituationen erfordern von ihm, dass er verschiedene Möglichkeiten in Erwägung zieht, bevor er in der Lage ist, den besten Handlungskurs einzuschlagen. In anderen Szenarien ist eine sorgfältige Berücksichtigung unterschiedlicher Handlungsmöglichkeiten nicht notwendig, denn der gute Handelnde hat aufgrund seiner sittlichen Erziehung eine klare Vorstellung dessen, was gemacht werden muss, und er bestimmt ohne weitere Anstrengungen die angebrachteste Verhaltensweise für die bevorstehende Situation. 37 In beiden Fällen wird aber »Die Tugend ist also eine Disposition, die sich in Vorsätzen äußert, wobei sie in einer Mitte liegt, und zwar der Mitte in Bezug auf uns, die bestimmt wird durch die Überlegung, das heißt so, wie der Kluge sie bestimmen würde« (Ἔστιν ἄρα ἡ ἀρετὴ ἕξις προαιρετική, ἐν μεσότητι οὖσα τῇ πρὸς ἡμᾶς, ὡρισμένῃ λόγῳ καὶ ᾧ ἂν ὁ φρόνιμος ὁρίσειεν) (NE II 6, 1106b36–1107a2). 36 Die Adjektive auf Altgriechisch, die Endungen auf -ikos oder -tikos haben, drücken aus, dass jemand bzw. etwas, das so qualifiziert wird, imstande ist, eine Funktion bzw. Tätigkeit zu erbringen: »Die von Verben abgeleiteten Adj. mit diesem Suffix bezeichnen meistens eine Fähigkeit und Tauglichkeit in transitiver Bedeutung, als: graphikos, zum Malen geschickt« (Kühner und Blass 1892, II, S. 287; zitiert in Lorenz 2009, S. 196). 37 Wie Vigo betont, weist die Optativform des Verbs ὁρίζω in der Definition der Tugend darauf hin, dass die mesotēs, die durch das Handeln des phronimos angestrebt wird, von dessen Standpunkt aus erfasst werden kann, als ob sie durch einen bewuss35

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deutlich, dass die von ihm getroffenen Entscheidungen auf das sittlich Gute abzielen und den Maßstäben des guten Handelns entsprechen. Im Gegensatz zu den hexeis poetikai und den hexeis apodeiktikai, die auch in der menschlichen Seele angesiedelt sind, stehen die hexeis prohairetikai in einem direkten Verhältnis zum volitiven Kern des Akteurs. D. h., dass die Entscheidungen, die er aufgrund dieser Haltungen zu treffen pflegt, dank der richtigen Motivationen gefasst werden und auf die guten Ziele, die mit den diversen tugendhaften Praxisformen in Zusammenhang stehen, ausgerichtet sind. Diese Aspekte der charakterlichen Tugenden machen die Grundlage für die praktische Rationalität aus, welche sich klarerweise durch die ihr zugrundeliegenden Elemente von den technischen und wissenschaftlichen Rationalitätsformen unterscheidet. 38 Um diesen Punkt in Bezug auf die prohairesis angemessen zu erklären, müssen wir nun noch wichtige Textstellen einer Revision unterziehen, in denen Aristoteles es sich zur Aufgabe macht zu erforschen, wie dieses seelische Produkt zustande kommen kann.

5.2 Die Bestandteile der prohairesis Der Vorsatz ist ein so wichtiger Bestandteil des sittlichen Handelns, dass Aristoteles sogar so weit geht, zu sagen, dass »die Tugenden etwas Vorsätzliches sind, oder sie (jedenfalls) nicht ohne Vorsatz sind«. 39 Allerdings ist der Vorsatz selbst etwas Komplexes, denn er ten prohairetischen Prozess getroffen wäre. Anders gesagt: Durch die habituelle Natur der Tugenden wird uns die mühsame Aufgabe abgenommen, die überlegte Wahl der mesotēs und die zu ihr führenden Mittel in jedem einzelnen Handlungskontext durchzuführen (siehe Vigo 2012, S. 59). 38 Dies ist ein wichtiger Punkt, der mit Hinblick auf eine Kritik an den nicht kognitivistischen Lesarten der ethischen Tugenden in Betracht gezogen werden muss: Die Interpretationen, die die Tatsache missachten, dass die hexeis selbst ihrer Definition nach als kognitive Zustände der Seele erfasst werden, die es uns ermöglichen, Deliberationsprozesse durchzuführen und Entschlüsse zu fassen, scheitern letztlich an ihrem Versuch zu erklären, wie die menschliche Seele verschiedene Leistungen erbringen kann, die eine höchsteinheitliche Wirkung ihrer unterschiedlichen Teile voraussetzen. Dass die Tugenden uns befähigen Entscheidungen zu treffen, muss als eine unentbehrliche Bedingung angesehen werden, um überhaupt Gebrauch von der phronēsis machen zu können. 39 αἱ δ’ ἀρεταὶ προαιρέσεις τινὲς ἢ οὐκ ἄνευ προαιρέσεως (NE II 4, 1106a3–4). Es muss angemerkt werden, dass das Wort prohairesis vor Aristoteles kaum im Rahmen der Philosophie verwendet wurde. In den wenigen Textstellen der platonischen Dia-

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Die prohairesis als Maßstab des Charakters

setzt sich aus zwei unterschiedlichen Elementen zusammen. Die folgende Passage erörtert ausführlich seine Natur als Prinzip des Handelns: Ursprung einer Handlung – im Sinne des Ursprungs der Bewegung, nicht des Zweckes – ist ein Vorsatz, und der Ursprung des Vorsatzes ist das Streben und die Überlegung, die auf einen Zweck gerichtet ist. Deswegen kann es einen Vorsatz weder ohne intuitives und diskursives Denken geben noch ohne eine Charakterdisposition. Denn gutes Handeln und das Gegenteil davon gibt es nicht ohne Denken und Charakter. Das Denken als solches bewegt jedoch nichts, sondern nur dasjenige Denken, das auf einen Zweck bezogen, das heißt praktisch ist. Dieses leitet auch das herstellende Denken. Denn jeder, der etwas herstellt, stellt es zu einem Zweck her, wobei Ziel letztlich nicht der Gegenstand des Herstellens ist (dieser ist vielmehr Ziel nur in Bezug auf etwas und als Ziel eines bestimmten Herstellungswissens), sondern der Gegenstand des Handelns. Ziel ist das gute Handeln, und das Streben richtet sich auf dieses. Daher ist der Vorsatz entweder strebendes Denken oder denkendes Streben, und ein so gearteter Ursprung ist der Mensch. 40

Hier sind verschiedene Prämissen enthalten, die eine entscheidende Rolle im gesamten Projekt der aristotelischen praktischen Philosologe, in denen dieser Terminus auftaucht, misst Plato ihm keine besondere bzw. systematische Rolle bei. Er wird von Platon allerdings weder als Substantiv noch als Adjektiv, sondern als Verb (prohairesthai) benutzt. Siehe Theaitetos 147d; Sophistes 251e; Phaidros 245b. Eine interessante Ausnahme allerdings findet sich in der pseudoplatonischen Schrift Definitiones, in welcher eine Redewendung gebraucht wird, der dem aristotelischen Gebrauch erstaunlich ähnelt: kalokagathia hexis prohairetikē tōn beltistōn (Definitiones 412e8). Nielsen (2006) und Merker (2015) führen den aristotelischen Sprachgebrauch dieses Terminus auf Demosthenes zurück, der in seinen Reden oftmals über eine Lebenswahl (prohairesis tou biou) gesprochen hat (siehe In Aristocratem 127, 141; De Corona 192–193; In Midiam 43–44). Die Etymologie, die Aristoteles von diesem Terminus einführt, scheint jedenfalls eine Neuerung zu sein: »Auch der Name scheint anzudeuten, dass das, was man sich vornimmt, das ist, was man vor anderen Dingen nimmt« (ὑποσημαίνειν δ’ ἔοικε καὶ τοὔνομα ὡς ὂν πρὸ ἑτέρων αἱρετόν) (NE III 4, 1112a16–17). Klar und äußerst innovativ ist auch die Art und Weise, in welcher er diesen Terminus im Kontext seiner praktischen Philosophie systematisch verwendet. 40 πράξεως μὲν οὖν ἀρχὴ προαίρεσις – ὅθεν ἡ κίνησις ἀλλ’ οὐχ οὗ ἕνεκα – προαιρέσεως δὲ ὄρεξις καὶ λόγος ὁ ἕνεκά τινος. διὸ οὔτ’ ἄνευ νοῦ καὶ διανοίας οὔτ’ ἄνευ ἠθικῆς ἐστὶν ἕξεως ἡ προαίρεσις· εὐπραξία γὰρ καὶ τὸ ἐναντίον ἐν πράξει ἄνευ διανοίας καὶ ἤθους οὐκ ἔστιν. διάνοια δ’ αὐτὴ οὐθὲν κινεῖ, ἀλλ’ ἡ ἕνεκά του καὶ πρακτική· αὕτη γὰρ καὶ τῆς ποιητικῆς ἄρχει· ἕνεκα γάρ του ποιεῖ πᾶς ὁ ποιῶν, καὶ οὐ τέλος ἁπλῶς (ἀλλὰ πρός τι καὶ τινός) τὸ ποιητόν, ἀλλὰ τὸ πρακτόν· ἡ γὰρ εὐπραξία τέλος, ἡ δ’ ὄρεξις τούτου. διὸ ἢ ὀρεκτικὸς νοῦς ἡ προαίρεσις ἢ ὄρεξις διανοητική, καὶ ἡ τοιαύτη ἀρχὴ ἄνθρωπος (NE IV 2, 1139a3–1139b5). Ethos und Praxis

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phie spielen. Einerseits finden wir in dieser Passage, dass dianoia und ēthos als grundlegende Faktoren von Aristoteles angesehen werden, die zusammenwirken müssen, um die prohairesis zustande zu bringen. Die These, die am Anfang präsentiert wurde, wonach die prohairesis als Maßstab des ēthos zu verstehen ist, kann anhand dieser Passage untermauert werden, denn die überlegten Entscheidungen werden hier als Produkte unserer charakterlichen Dispositionen erfasst. Daher überrascht es nicht, dass uns die überlegten Entscheidungen eine angemessene Vorstellung dessen geben können, was die Beschaffenheit des ēthos eines anderen Menschen ist. Allerdings wäre es ein Fehler, das Überlegen nicht in unser Bild der prohairesis miteinzubeziehen, da Aristoteles eine Arbeitsaufteilung bei unseren unterschiedlichen Vermögen konzipiert, wonach die dianoia eine sehr wichtige Leistung angesichts der Erstellung einer prohairesis erfüllen muss. Anders gesagt: Die charakterlichen Tugenden befähigen uns, Entscheidungen zu treffen, aber sie führen den ganzen Prozess nicht von selbst aus. 5.2.1 Dianoia und ēthos Aristoteles gibt zwar zu, dass nicht alle Formen des Denkens uns zum Handeln führen, aber das, was er als dianoia praktikē charakterisiert, ist eine Art von Denken, das uns tatsächlich einen wichtigen motivationalen Anlass geben kann und eng mit unseren praktischen Zielen zusammenhängt. Die Zusammenarbeit von dianoia und ēthos bringt damit ein Produkt zustande, das entweder als ein nous orektikos oder als eine orexis dianoētikē zu charakterisieren ist. Demzufolge ist der seelische Zustand, der durch die Tätigkeit dieser Vermögen erreicht wird, äußerst einheitlich. Die Übereinstimmung dieser Elemente ist in der Tat die Eigenschaft, durch welche sich eine gute prohairesis auszeichnet: »Also muss […] eben deshalb die Überlegung wahr und das Streben richtig sein, wenn der Vorsatz gut sein soll, und was der denkende Teil bejaht und der strebende Teil verfolgt, muss dasselbe sein.« 41 Nur wenn diese Bedingungen erfüllt werden, ist es möglich, die praktische Wahrheit (alētheia praktikē) zu treffen, die wiederum als praktisches Denken definiert wird, das mit dem »richtigen Streben« (orexis orthē) übereinstimmt (siehe NE VI 2, 1139a30–31). ὥστ’ (..) δεῖ διὰ ταῦτα μὲν τόν τε λόγον ἀληθῆ εἶναι καὶ τὴν ὄρεξιν ὀρθήν, εἴπερ ἡ προαίρεσις σπουδαία, καὶ τὰ αὐτὰ τὸν μὲν φάναι τὴν δὲ διώκειν (NE VI 2, 1139a21–26).

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Die prohairesis als Maßstab des Charakters

Dadurch, dass die prohairesis durch Wunsch und Überlegung entsteht, ist es nun angebracht, diese zwei Elemente, aus denen sie besteht, näher zu betrachten. Der Hintergrund, vor welchem man üblicherweise diese Fähigkeiten bzw. Tätigkeiten der Seele behandelt, ist die sehr umstrittene Frage in der Forschung bezüglich des Zusammenhanges zwischen Mitteln und Zwecken in dem aristotelischen Bild der praktischen Rationalität bzw. des praktischen Handelns. Durch die Tatsache, dass wir dieser Frage bereits nachgegangen sind, müssen wir hier unsere bisher gewonnenen Forschungsergebnisse voraussetzen, und zwar dass die charakterlichen Tugenden für Aristoteles kognitiv geladen sein können und dass er dem Überlegen keine rein instrumentelle Rolle in der Bestimmung der Mittel für das Handeln zuschreibt. Nur unter Annahme dieser Prämissen ist es meiner Ansicht nach möglich, auf eine zufriedenstellende Weise zu erklären, wie der Wunsch und die Überlegung für die Erstellung einer prohairesis zusammenwirken und wie Aristoteles die Beurteilung eines Akteurs aufgrund seiner prohairesis konzipiert. 5.2.2 Die hexeis und die Motivation zum Handeln In Bezug auf den Wunsch – der von Aristoteles als orexis oder boulēsis abwechselnd charakterisiert wird, denn die letztere ist eine Form der ersten, und zwar die einzige, die auf eine vernünftige Weise auf ein Ziel ausgerichtet ist (siehe Rhet. I 10, 1368b36–1369a4, Top. IV 5, 126a12–14) – wird behauptet, dass er zwar der prohairesis sehr ähnelt, aber dennoch sind sie nicht miteinander gleichzustellen. Im Unterschied zu der prohairesis kann die orexis auf etwas Unmögliches wie die Unsterblichkeit gerichtet sein, was keinesfalls für die prohairesis gilt, denn sie hängt mit den Dingen zusammen, die in unserer Macht stehen (ta eph’ hēmin) (siehe NE III 4, 1111b19–31). Andererseits wird gesagt, dass »der Wunsch sich mehr auf das Ziel bezieht, der Vorsatz mehr auf das, was zum Ziel führt«. 42 Dies ist eine entscheidende Aussage, die, wie wir zuvor diskutiert haben, mehrmals sowohl in der NE als auch in der EE wiederholt wird. Durch Aristoteles’ Beharren auf diesem Punkt kann man wahrnehmen, dass es sich um ein wichtiges Prinzip handelt, dem er eine zentrale Rolle in seiner praktischen Philosophie beimisst. Doch was besagt diese These in dem vorliegenden Kontext? Um seinen Punkt zu illustrieren, apἔτι δ’ ἡ μὲν βούλησις τοῦ τέλους ἐστὶ μᾶλλον, ἡ δὲ προαίρεσις τῶν πρὸς τὸ τέλος (NE III 4, 1111b26–27).

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pelliert Aristoteles an die Intuition, dass niemand sich im echten Sinne des Wortes vornimmt, glücklich zu sein; das Glück sei vielmehr etwas, das wir uns wünschen (siehe NE III 4, 1111b28–29). Trotz der Tatsache, dass uns diese These sehr plausibel vorkommt, ist nicht auf den ersten Blick deutlich, wie das im konkreten Fall mit der Setzung des Zieles durch das Streben zu verstehen ist, vor allem weil er für die Erklärung dieses Gedankens auch von Beispielen Gebrauch macht, die zu einer technē statt zu der sittlichen praxis gehören (siehe EE II 11, 1227b25–28). Um eine Antwort darauf geben zu können, muss man sich die folgenden aristotelischen Thesen in Erinnerung rufen. Einerseits geht Aristoteles davon aus, dass die hexeis Zustände der Seele sind, die nicht veränderlich, sondern dauerhaft sind (vgl. Cat. 8, 8b27–28). Andererseits wissen wir durch die NE, dass die guten hexeis durch die Wiederholung ähnlicher Tätigkeiten entstehen und dass wir die guten Tätigkeiten aufgrund der von uns erworbenen hexeis ausführen können (vgl. NE II 1, 1103b21–25, III 10, 1115b20 ff.). Es handelt sich im Grunde genommen um ein bidirektionales Verhältnis zwischen Tätigkeiten und Dispositionen, dessen natürliche Konsequenz für den Akteur darin besteht, dass er sich durch sein Handeln perfektioniert. Die Natur einer charakterlichen hexis besteht eben darin, auf ein konkretes Ziel ausgerichtet zu sein. D. h., die hexeis sind teleologisch strukturiert und von den Tätigkeiten wesentlich geprägt, aus denen sie entstanden sind. Ihre dauerhafte Natur zeigt sich in der Tatsache, dass man durch ihren Besitz nicht beliebig agiert, sondern immer im Hinblick auf eine bestimmte Handlungsrichtung: »Von der Fähigkeit und der Wissenschaft gilt, dass sich ein und dieselbe auf beide Glieder eines Gegensatzes bezieht. Für eine Disposition dagegen, welche die eine Seite eines Gegensatzpaars ist, gilt dies nicht.« 43 Deshalb beschränkt der Akteur, der über gute und geschulte Dispositionen verfügt, seinen Handlungsraum in den praktischen Angelegenheiten auf das, was in jeder Tätigkeit mit dem sittlich Guten übereinstimmt. Diese Beschränkung muss demzufolge als etwas Vorteilhaftes angesehen werden, denn die Haltungen gewährleisten, dass er durch seine Taten vom guten sittlichen Handeln nicht abweicht. Die guten hexeis bzw. aretai dienen uns als Ausgangspunkte für unser ganzes praktisches Handeln. Sie gelten als Prinzipien, auf welδύναμις μὲν γὰρ καὶ ἐπιστήμη δοκεῖ τῶν ἐναντίων ἡ αὐτὴ εἶναι, ἕξις δ’ ἡ ἐναντία τῶν ἐναντίων οὔ (NE V 1, 1129a13–15).

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che wir den Ursprung unserer Motivationen zurückführen können und die uns im gegenwärtigen Augenblick den motivationalen Anlass geben, uns auf eine bestimmte Weise zu verhalten und nach bestimmten Zielen zu streben. Anders ausgedrückt: Die guten Menschen haben eine richtige orexis nach diesem oder jenem Ziel dadurch, dass sie die entsprechenden guten hexeis besitzen. Das Scheitern im Handeln lässt sich entsprechend bei den lasterhaften Akteuren dadurch erklären, dass sie nicht über die entsprechenden guten hexeis verfügen und keinen Antrieb haben, um nach guten Zwecken zu streben. Nur für den spoudaios wird deutlich, wonach er streben muss, da er die Ausgangspunkte und die Ziele des Handelns richtig erfassen kann. 44 Indem man z. B. Mäßiges getan hat und die entsprechende Haltung erworben hat, hat man nicht nur gelernt, worin die Mäßigkeit besteht, sondern auch wie man die Güter anstreben sollte, die mit der richtigen Ausübung dieser Tugend intrinsisch verbunden sind: »Die getanen Dinge werden dann also gerecht und mäßig genannt, wenn sie so beschaffen sind, wie sie der Gerechte und Mäßige tun würden. Gerecht und mäßig ist aber nicht (schon), wer solche Dinge tut, sondern wer sie außerdem so tut, wie es die gerechten und mäßigen Menschen tun.« 45 Die hexeis zeigen sich als Zustände der Seele, die höchst informativ hinsichtlich der verschiedenen menschlichen praxeis sind. Indem wir unser ēthos durch Handeln habitualisieren, erwerben wir einerseits die Kenntnis dessen, wie die verschiedenen Tätigkeiten auf die richtige Art und Weise zu vollziehen sind, und andererseits gestalten wir auf eine konkrete Vgl. auch: »Dieser Ausgangspunkt aber zeigt sich nur dem guten Menschen. Denn die Schlechtigkeit verdreht das Urteil und bewirkt, dass man sich über die Ausgangspunkte der Handlungen täuscht. Daher ist es offenkündig unmöglich, klug zu sein, wenn man nicht gut ist« (τοῦτο δ’ εἰ μὴ τῷ ἀγαθῷ, οὐ φαίνεται· διαστρέφει γὰρ ἡ μοχθηρία καὶ διαψεύδεσθαι ποιεῖ περὶ τὰς πρακτικὰς ἀρχάς. ὥστε φανερὸν ὅτι ἀδύνατον φρόνιμον εἶναι μὴ ὄντα ἀγαθόν) (NE VI 13, 1144a34–1144b1). »Denn die Ursprünge des Getanen liegen in ihrem Zweck und in ihrem Grund. Demjenigen aber, der durch Lust oder Unlust verdorben ist, zeigt sich sofort der Ursprung nicht mehr, und auch nicht, dass man zu diesem Zweck oder aus diesem Grund alles wählen und tun soll – denn die Schlechtigkeit verdirbt den Ursprung« (αἱ μὲν γὰρ ἀρχαὶ τῶν πρακτῶν τὸ οὗ ἕνεκα τὰ πρακτά· τῷ δὲ διεφθαρμένῳ δι’ ἡδονὴν ἢ λύπην εὐθὺς οὐ φαίνεται ἀρχή, οὐδὲ δεῖν τούτου ἕνεκεν οὐδὲ διὰ τοῦθ’ αἱρεῖσθαι πάντα καὶ πράττειν· ἔστι γὰρ ἡ κακία φθαρτικὴ ἀρχῆς (NE VI 5, 1140b16–20). 45 τὰ μὲν οὖν πράγματα δίκαια καὶ σώφρονα λέγεται, ὅταν ᾖ τοιαῦτα οἷα ἂν ὁ δίκαιος ἢ ὁ σώφρων πράξειεν· δίκαιος δὲ καὶ σώφρων ἐστὶν οὐχ ὁ ταῦτα πράττων, ἀλλὰ καὶ [ὁ] οὕτω πράττων ὡς οἱ δίκαιοι καὶ σώφρονες πράττουσιν (NE II 3, 1105b5–9). 44

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Weise unser Willensvermögen, um die wahren sittlichen Güter zu begehren. Am Anfang des Habituationsprozesses tut man zwar Gerechtes und Mäßiges, aber nicht in der Absicht und nicht mit der Motivation, die das Handeln der Menschen kennzeichnet, die die hexeis schon internalisiert haben, sondern lediglich durch Anweisung eines anderen Menschen bzw. durch bloße Nachahmung. Es ist deshalb anzumerken, dass sich die ethischen Tugenden als eine wichtige Komponente erweisen, die uns anleitet, die sittlichen Tätigkeiten auszuführen und sie auf wahre Zwecke zu richten. 5.2.3 Der Zusammenhang zwischen hexeis und orexeis Dadurch, dass die hexeis uns einen wichtigen motivationalen Input geben, ist es nicht erstaunlich, dass Aristoteles sie mit der orexis bzw. boulēsis eng in Verbindung setzt. In den Passagen, wo er über die Vermögen spricht, die die Mittel und die Ziele des Handelns setzen, schwankt er in seiner Verwendung dieser zwei Termini, wobei er den Eindruck vermittelt, dass sie eine wichtige Affinität haben. Die von ihnen geteilte Eigenschaft ist nämlich, dass ihnen die verschiedenen Gegenstände des Wählens und des Vermeidens gemeinsam sind: das Werthafte, das Nützliche und das Angenehme einerseits und das Niedrige, das Schädliche und das Unangenehme andererseits (siehe NE II 2, 1104b27–1105a1), wobei zu betonen ist, dass das Werthafte und das Nützliche als angenehm erscheinen, was im Grunde keine überraschende These ist, denn die charakterlichen Tugenden bestimmen für Aristoteles den angemessenen Umgang mit Lust und Unlust. Aristoteles ist der Auffassung, dass alle menschlichen praxeis mehr oder weniger mit Lust bzw. Unlust verbunden sind. Deshalb muss ein praktischer Akteur ein angebrachtes Verhältnis zu dem haben, was ihn erregt bzw. abstößt. Oder besser ausgedrückt: Er muss lernen, an welchen Dingen er sich erfreuen und welche Dinge er vermeiden soll, denn wir neigen von Natur aus dazu, uns den körperlichen Lüsten hinzugeben. Deshalb wird von Aristoteles behauptet, dass wir aufgrund der Lust das Schlechte tun und aufgrund der Unlust das Gute unterlassen (siehe NE II 2, 1104b3–11). Die sittlichen hexeis zeigen sich dann als die richtigen und wahren Modi, Güter zu begehren bzw. anzustreben. Deswegen kann eine hexis von einem gewissen Gesichtspunkt aus als richtiges Streben, das uns zum Handeln treibt, angesehen werden. Die Wichtigkeit des aristotelischen Gedankens, dass die orexeis uns zum Handeln treiben können, kann nicht genügend betont wer200

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den, da es sich um ein Prinzip handelt, das auch von großer Bedeutung für seine Psychologie bzw. seine Erklärung der Bewegung der Lebewesen ist (siehe DA III 10, 433a18–21). Den Vorrang in der Hervorbringung der Bewegung selbst hat klarerweise das Streben, denn das Denken selbst besitzt keine motivationale Kraft (siehe DA III 9, 432b19–433a1), und in Bezug auf diesen Punkt sind die aristotelischen Darstellungen sowohl in De Anima III 9–13 als auch in De Motu Animalium 6–7 ziemlich einheitlich. Es ist zu bemerken, dass das Streben keineswegs beliebig und durch die Wahrnehmung des gewollten Gegenstandes bestimmt ist. Es ist allerdings nicht der Fall, dass der Inhalt der orexis durch den praktischen Intellekt bestimmt wird. Anders gesagt: Die Rolle des Intellekts in der Hervorbringung der Bewegung besteht nicht etwa darin, dem Wunsch einen bestimmten Input zu geben. Das Objekt qua gewolltes Objekt wird schon durch die aisthēsis oder die phantasia so erfasst. Das zeigt sich an der Tatsache, dass sich Aristoteles zufolge das Streben auch gegen das begründete Denken bewegen kann (siehe DA III 9, 433a24–25). Die Aufgabe des Intellekts im Fall der Hervorbringung der Bewegung besteht grosso modo darin, zu bestimmen, wie das fragliche Ziel zu konkretisieren bzw. zu erreichen ist. Praktisches Denken ist per definitionem das Denken, das im Hinblick auf ein Ziel überlegt bzw. kalkuliert (siehe DA III 10, 433a14), sodass der Endpunkt des praktischen Denkens der Anfang der Handlung ist (siehe DA III 10, 433a15–17). Dies bedeutet allerdings nicht, dass die orexeis in diesen Kontexten keinen kognitiven bzw. propositionellen Inhalt haben. Der deutlichste Beleg dafür ist m. E. die Tatsache, dass die Hervorbringung einer Handlung bzw. jeder tierischen freiwilligen Bewegung durch einen praktischen Syllogismus rekonstruierbar ist, wobei die praemissa maior und die praemissa minor das Streben bzw. das Überlegen darstellen. Demzufolge behauptet Aristoteles, dass die praemissa maior »aus dem Guten« (dia tou agathou), während die praemissa minor »aus dem Möglichen« (dia tou dunatou) entstehe (vgl. MA 7, 701a25). Es wäre nicht zu verstehen, dass Aristoteles den orexeis diese Rolle zuschreiben würde, wenn er nicht der Auffassung wäre, dass sie kognitiv geladen bzw. in propositionelle Aussagen übersetzbar wären. 46 In diesem Punkt folge ich der Interpretation Taylors: »Aristotle shows a firm grasp of the insight that things are wanted under some description; hence desire can itself be

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Wenn das aber für die Erklärung der Bewegung der Lebewesen so ist, dann gilt dieses Prinzip umso mehr bei der Erklärung des menschlichen sittlichen Handelns. Während der Inhalt der orexeis in der tierischen Bewegung durch den wahrgenommenen Gegenstand und die dem Tier zugehörigen Neigungen bzw. Instinkte spezifiziert wird, wird der kognitive Inhalt der sittlichen orexeis, wie wir oben erklärt haben, durch die angemessene Betätigung an den verschiedenen menschlichen Tätigkeiten bestimmt. Der Verdacht, dass das ēthos ein rein passiver bzw. affektiver Aspekt unseres Selbst ist, sollte sich somit klarerweise als unbegründet erweisen.

5.3 Die Beurteilung eines Handelnden aufgrund seiner prohairesis Mit der vorherigen Argumentation wurde der Versuch unternommen zu erklären, warum die prohairesis ein solch entscheidendes Kriterium für Aristoteles ist, um das Handeln eines Akteurs zu beurteilen. Es lässt sich nun feststellen, dass es sich bei ihr um ein angebrachtes Mittel zu diesem Zweck handelt, weil es für die Erstellung der prohairesis notwendig ist, dass die dianoia und das ēthos zusammenwirken. Die Qualität der prohairesis wird in den Augen eines tugendhaften Menschen der Maßstab sein, um den Akteur entsprechend zu loben bzw. zu tadeln: »Außerdem wird der Vorsatz eher deswegen gelobt, weil er das zum Inhalt hat, was er soll, oder weil er richtig ist.« 47 Was ihren Inhalt angeht, ist die prohairesis ein seelischer Zustand, der sozusagen »gemischt« ist, weil sie etwas Gemeinsames »zwischen Denken und Streben« (koinon dianoias kai orexeōs) hat (MA 6, 700b23). Gerade diese gemischte Natur bringt unser Erfassen zwischen Mitteln und Zwecken angesichts des Handelns zum represented as having a propositional content, e. g. ›Such and such would be a good thing to have‹, or ›I must drink‹. If the agent is to reach a correct decision on any practical matter, two things must be the case: first his practical beliefs must be true, and second he must be motivated to act in accordance with those beliefs, i. e. in Aristotle’s terms his desires must say the same thing as his intelligence (NE VI. 2). […] Aristotle does not say that the desire for a given end lacks propositional content; the theory of desire expressed in VI. 2, MA 7 and De an. III. 9–10 requires that the desire for e. g. health is expressed in a thought such as ›Health is something good‹« (Taylor 2008, S. 206–207). 47 (καὶ ἡ μὲν προαίρεσις ἐπαινεῖται τῷ εἶναι οὗ δεῖ μᾶλλον ἢ τῷ ὀρθῶς) (NE III 4, 1112a6–7).

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Ausdruck. Wenn wir jemanden fragen, warum er so gehandelt hat, erwarten wir im Grunde von ihm – insbesondere wenn es um eine wichtige Angelegenheit geht –, dass er nicht antwortet, dass er seiner Laune zufolge eine Entscheidung getroffen und dass er beliebig festgestellt hat, wie dieses oder jenes gemacht werden musste. Bei einem zurechnungsfähigen Menschen haben solche Aussagen keine Rechtfertigungskraft. Von solch einem Menschen wird erwartet, dass er seine Pläne durchdenkt und sich nicht jeglicher willkürlichen Motivation hingibt, die ihm Anlass gibt so oder so zu agieren. Ein Beispiel davon, wie man seine prohairesis ausdrückt, finden wir in der Rhetorik, wenn Aristoteles es sich zur Aufgabe macht, zu erklären, wie der Redner sein ēthos vor seinen Zuhörern anschaulich machen kann: Ferner soll man nicht aus Berechnung, wie es heute viele tun, sondern gleichsam aus einem klaren Vorsatz heraus sprechen, z. B.: »Ich wollte es so, denn dafür habe ich mich entschieden. Hat es mir auch nichts eingebracht, so war es doch das Bessere.« Ersteres zeugt nämlich von Klugheit, das zweite von Edelmut, denn das Wesen des Klugen besteht darin, auf den Vorteil, das des Edelmuts, auf das Edle aus zu sein. 48

Angenommen, wir hätten Zugang zu dieser Information, die sehr viel über die Beschaffenheit des Akteurs erahnen lässt, wäre es selbstverständlich ein Irrtum, unser Urteil auf die bloße Handlung zu gründen. Die systematische Bedeutung der prohairesis in der aristotelischen praktischen Philosophie liegt darin, dass sie eine wichtige Intuition der menschlichen Praxis gründlich artikuliert und zur Geltung bringt: Die prohairesis drückt nicht aus, was wir bloß gewählt haben, sondern den Grund, weswegen wir uns etwas vorgenommen haben, und die Mittel, die wir für das Erreichen dieses Zieles für angebracht halten. 49 Die Akteure, die in der Lage sind, ihre Unternehκαὶ μὴ ὡς ἀπὸ διανοίας λέγειν, ὥσπερ οἱ νῦν, ἀλλ’ ὡς ἀπὸ προαιρέσεως· »ἐγὼ δὲ ἐβουλόμην· καὶ προειλόμην γὰρ τοῦτο· ἀλλ’ εἰ μὴ ὠνήμην, βέλτιον«· τὸ μὲν γὰρ φρονίμου τὸ δὲ ἀγαθοῦ· φρονίμου μὲν γὰρ ἐν τῷ τὸ ὠφέλιμον διώκειν, ἀγαθοῦ δ’ ἐν τῷ τὸ καλόν (Rhet. III 16, 1417a24–28). 49 Lorenz stellt diesen Punkt besonders deutlich dar: »As a result, one does not know fully what the decision is someone is acting on unless one knows both what the means is that he is trying to obtain or implement, and what the goal is for the sake of which he is trying to obtain or implement that means. If someone gives a homeless person two dollars in order to impress his friend with whom he is walking in the park, you do not fully know what the decision is on which he is acting unless you know both that the means decided on is to give two dollars to the homeless person and that the goal 48

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mungen sorgfältig zu planen und sie auf gute Ziele zu richten, handeln gemäß einer prohairesis spoudaia bzw. einer prohairesis epieikēs (NE VI 2, 1139a25, VII 11, 1152a17). Daraus folgt, dass die Menschen, die unfähig dazu sind, überlegte Vorsätze mit Hinblick auf tugendhafte Zwecke zu fassen, nicht die normativen Erwartungen der praktischen Rationalität erfüllen und das Gute durch ihre Bestrebungen nicht treffen können. Des Weiteren lässt sich feststellen, dass die Theorie der prohairesis auch weitere wichtige praktische Implikationen hat. Hier gilt es lediglich auf zwei von diesen hinzuweisen. Es muss zunächst in Erinnerung gerufen werden, dass Aristoteles behauptet, dass dieses Wissen über die zugrundeliegenden Elemente der menschlichen Handlungen für die Gesetzgeber nützlich sein kann für die Festsetzung von Ehrungen und Strafen (siehe NE III 1, 1109b34–35). Der Grund dafür ist u. a., dass es sich oft zuträgt, dass Akteure mit ganz unterschiedlicher sittlicher Beschaffenheit in Situationen geraten, die von einer äußerlichen Perspektive kaum voneinander unterschieden werden können. Aristoteles hebt diesen Punkt explizit hervor, wenn er die Unterschiede zwischen dem Beherrschten und Unbeherrschten thematisiert: Und so stellen wir den Unbeherrschten und den Zügellosen zusammen und den Beherrschten und Besonnenen, doch keinen von der anderen Art, weil nur sie es sozusagen mit denselben Arten von Lust und Schmerz zu tun haben. Sie beziehen sich auf dasselbe, allerdings nicht auf dieselbe Weise, sondern die einen wählen es, die anderen nicht. Darum würden wir eher denjenigen zügellos nennen, der ohne Begierde oder nur geringer Begierde dem Übermaß nachgeht und auch schon mäßige Schmerzen meidet, als den, der dies aus heftiger Begierde tut. 50

An dieser Textstelle wird ersichtlich, dass wir nicht dasselbe Urteil in Bezug auf diese unterschiedlichen Figuren fällen sollen. Obwohl die praktischen Konsequenzen ihrer Entscheidungen dieselben sind, kann man feststellen, dass ihre Absichten und Handlungsantriebe in for the sake of which he implements the means is to impress his friend« (Lorenz 2009, S. 185). 50 καὶ διὰ τοῦτ’ εἰς ταὐτὸ τὸν ἀκρατῆ καὶ τὸν ἀκόλαστον τίθεμεν καὶ ἐγκρατῆ καὶ σώφρονα, ἀλλ’ οὐκ ἐκείνων οὐδένα, διὰ τὸ περὶ τὰς αὐτάς πως ἡδονὰς καὶ λύπας εἶναι· οἳ δ’ εἰσὶ μὲν περὶ ταὐτά, ἀλλ’ οὐχ ὡσαύτως εἰσίν, ἀλλ’ οἳ μὲν προαιροῦνται οἳ δ’ οὐ προαιροῦνται. διὸ μᾶλλον ἀκόλαστον ἂν εἴποιμεν ὅστις μὴ ἐπιθυμῶν ἢ ἠρέμα διώκει τὰς ὑπερβολὰς καὶ φεύγει μετρίας λύπας, ἢ τοῦτον ὅστις διὰ τὸ ἐπιθυμεῖν σφόδρα (NE VII 6, 1148a11–20).

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einem wichtigen Sinne abweichen. Während der akolastos sich in der Tat vornimmt, so oder so zu handeln, und zwar mit der deutlichen Absicht, nach etwas Schlechtem zu trachten, leistet der akratēs einen Widerstand gegen seine Affekte, die ihn dazu bringen, dieses oder jenes zu tun, da er im Grunde weiß, was getan werden muss, obwohl er letztlich gegen sein besseres Wissen handelt. Die Art und Weise, in welcher die Menschen nach etwas streben, ist Aristoteles zufolge kein zu vernachlässigendes Element, um jemandem die Verantwortung für seine Taten zuzuschreiben. Es liegt deshalb auf der Hand, dass die Theorien, die sich nur nach den externen Konsequenzen richten, um die sittliche Qualität der menschlichen Handlungen zu beurteilen, letztlich einem wichtigen Aspekt unserer Psychologie als Handelnde gar nicht gerecht werden. Von der Sichtweise der individuellen Lebensführung aus muss man bemerken, dass der akratēs im Gegensatz zum akolastos Bedauern aufgrund seiner Taten empfindet, was erahnen lässt, dass seine sittliche Beschaffenheit nicht verdorben ist und dass für ihn noch gute Aussichten bestehen, um ein besserer Handelnder zu werden. 51 Dass dies für ihn noch möglich ist, ist vor allem dadurch zu erklären, dass er in der Tat nicht die prohairesis hat, mit Hinblick auf dieses oder jenes schlecht zu handeln. Ein anderer wichtiger Aspekt der prohairesis-Theorie mit Hinblick auf die Beurteilung der ēthē hängt mit einer besonderen Charakteristik der guten Freundschaften eng zusammen. Die folgende Passage bringt diese interessante Verbindung zum Ausdruck: Es gleicht nun aber das Lieben einem Affekt, die Freundschaft hingegen einer Disposition. Denn das Lieben kommt ebenso sehr gegenüber unbeseelten Dingen vor, erwidert hingegen wird die Liebe mit Vorsatz; der Vorsatz beruht auf einer Disposition. Auch wünscht man denen, die man liebt, um ihrer selbst willen Gutes, nicht aus einem Affekt, sondern aufgrund einer Disposition. 52

Der Unmäßige ist, wie gesagt, nicht geeignet, Bedauern zu empfinden; denn er bleibt bei seinem Vorsatz. Jeder Unbeherrschte hingegen empfindet Bedauern. […] Vielmehr ist der Unmäßige unheilbar und der Unbeherrschte heilbar (Ἔστι δ’ ὁ μὲν ἀκόλαστος, ὥσπερ ἐλέχθη, οὐ μεταμελητικός· ἐμμένει γὰρ τῇ προαιρέσει· ὁ δ’ ἀκρατὴς μετα μελητικὸς πᾶς. […] ἀλλ’ ὃ μὲν ἀνίατος ὃ δ’ ἰατός) (NE VII 9, 1150b29–32). 52 ἔοικε δ’ ἡ μὲν φίλησις πάθει, ἡ δὲ φιλία ἕξει· ἡ γὰρ φίλησις οὐχ ἧττον πρὸς τὰ ἄψυχά ἐστιν, ἀντιφιλοῦσι δὲ μετὰ προαιρέσεως, ἡ δὲ προαίρεσις ἀφ’ ἕξεως· καὶ τἀγαθὰ βούλονται τοῖς φιλουμένοις ἐκείνων ἕνεκα, οὐ κατὰ πάθος ἀλλὰ καθ’ ἕξιν (NE VIII 7, 1157b28–32). 51

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Dass wir uns wissentlich vornehmen, mit einer Person Freundschaft zu knüpfen, besagt für Aristoteles, dass wir uns der Tatsache bewusst sind, dass diese Person dieselben Ideale, Vorstellungen und Erwartungen hat, die ein gutes Leben charakterisieren, und demzufolge können wir einander helfen, nach unseren gemeinsamen sittlichen Zielen zu streben. Die bloßen Ansichten für Lust oder materiellen Nutzen sind dahingegen keineswegs hinreichend, um eine dauerhafte Freundschaft zu etablieren, und infolgedessen vermeidet der tugendhafte Mensch die enge Gesellschaft von Menschen, die derartige Dinge anstreben. Dadurch aber, dass der tugendhafte Mensch viel Zeit mit den Personen verbringt, die mit ihm im Sinne der Tugend befreundet sind (siehe NE IX 11, 1171b30 ff.), ist selbstverständlich zu erwarten, dass er eine große Vertrautheit mit den Projekten und Zielen gewinnt, nach denen seine Freunde streben – was darauf hinausläuft, dass er auch die Vorsätze identifizieren kann, aufgrund deren seine Freunde ihre Unternehmungen durchführen. Die Anwendung der aristotelischen Theorie in diesem Fall zielt nicht auf eine strikte Evaluation der Taten eines Akteurs ab, um etwa seinen Schuldanteil zu bestimmen, sondern auf die Identifizierung von den Menschen, die eine ähnliche gute sittliche Beschaffenheit haben. Die Gesellschaft solcher Individuen gibt dem Tugendhaften einen geeigneten Raum um sich weiter zu entfalten und die Güter zu erlangen, die nur durch die Interaktion mit anderen Menschen zu erreichen sind. Aufgrund der positiven Aussichten, die damit eröffnet werden, nehmen sich die guten Menschen vor, Zeit miteinander zu verbringen, und es ist diese gemeinsame prohairesis spoudaia, die ihre Freundschaft entscheidend prägt. Gewiss muss man sagen, dass die prohairesis eines Menschen zur Kenntnis zu nehmen keine unfehlbare Methode ist, um uns ein angemessenes Urteil über ihn zu bilden. Aristoteles weist z. B. darauf hin, dass man sich bei der Wahl der Freunde irren kann und dass es sich manchmal ergibt, dass die angeblichen guten Freunde in der Tat keinen guten Charakter haben und dass sie schlechte Ziele verfolgen. 53 Obwohl Aristoteles zugibt, dass etwas Derartiges geschehen Siehe dazu die folgende Passage: »Denn wie wir zu Anfang gesagt haben, entstehen die größten Differenzen zwischen Freunden, wenn sie in Wirklichkeit nicht auf die gleiche Weise Freunde sind, wie sie es zu sein meinen. Wenn also jemand fälschlich annimmt, er werde wegen seines Charakters geliebt, während der andere nichts dergleichen tut, dann wird er sich selbst die Schuld geben müssen. Wenn er dagegen durch die Verstellung des anderen getäuscht wurde, so ist er berechtigt, dem Täu-

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kann, macht er es sich nicht zur Aufgabe sorgfältig zu erklären, wie ein tugendhafter Mensch betrogen werden kann, wenn es darauf ankommt, die prohairesis eines Akteurs zur Kenntnis zu nehmen. Aristoteles scheint davon auszugehen, dass der Tugendhafte in der Regel richtig erkennen kann, was der Vorsatz eines Akteurs ist; dadurch, dass der Letztere gute Zwecke anstrebt und angebrachte Mittel gebraucht und dass beide Elemente bzw. Mittel und Zwecke in den von ihr gegebenen Erklärungen bzw. Rechtfertigungen seiner Handlungen in einem angemessenen Verhältnis zueinander stehen. Die gute Verhaltensweise solch eines Akteurs würde ein weiterer Beleg dafür sein, dass er in der Tat so ist, wie er zu behaupten pflegt. Dahingegen könnte man sagen, dass ein akolastos aufgrund seiner Beschaffenheit nur nach schlechten Zielen trachten und die dazu entsprechenden Mittel in Anspruch nehmen würde, und dass die Rechtfertigungen seiner Handlungen seine innere schlechte Beschaffenheit notwendigerweise enthüllen würden. Allerdings zieht Aristoteles die Möglichkeit eines machiavellischen Akteurs nicht in Betracht, der etwa imstande wäre, auf eine ziemlich konsistente Weise die Menschen sowohl durch seine Handlungen als auch durch seine Aussagen zu betrügen, um den Anschein zu erwecken, dass er tugendhaft bzw. ehrenwürdig ist. Angenommen, man hätte den Verdacht, dass man es mit solch einem Menschen zu tun habe, so denke ich, dass man in einem solchen Fall versuchen würde, sich mehr nach seinen Handlungen zu richten, um ein Urteil über ihn zu fällen bzw. um seine prohairesis hypothetisch zu rekonstruieren, da die Aussagen eines derartigen Akteurs keine Glaubwürdigkeit haben würden. Allerdings ist etwas klar: Trotz der Tatsache, dass es einen Fehlerspielraum gibt, wenn es darauf ankommt, die prohairesis von einem Akteur zu beurteilen, 54 gilt sie dennoch als eine paradigmatische Instanz, an welcher schenden Vorwürfe zu machen, noch mehr als einem Geldfälscher, da der Gegenstand der Übeltat höher geschätzt ist« (ὃ γὰρ ἐν ἀρχῇ εἴπομεν, πλεῖσται διαφοραὶ γίνονται τοῖς φίλοις, ὅταν μὴ ὁμοίως οἴωνται καὶ ὦσι φίλοι. ὅταν μὲν οὖν διαψευσθῇ τις καὶ ὑπολάβῃ φιλεῖσθαι διὰ τὸ ἦθος, μηδὲν τοιοῦτον ἐκείνου πράττοντος, ἑαυτὸν αἰτιῷτ’ ἄν· ὅταν δ’ ὑπὸ τῆς ἐκείνου προσποιήσεως ἀπατηθῇ, δίκαιον ἐγκαλεῖν τῷ ἀπατήσαντι, καὶ μᾶλλον ἢ τοῖς τὸ νόμισμα κιβδηλεύουσιν, ὅσῳ περὶ τιμιώτερον ἡ κακουργία) (NE IX 3, 1165b6–12). 54 Aristoteles ist sich bewusst, dass es die Handlungskontexte nicht immer erlauben, dass wir die Vorsätze des Handelnden auf diese explizite Weise zur Kenntnis nehmen: »Weil es nicht leicht ist, eine echte Entscheidung zu erkennen, sind wir gezwungen, die Qualität eines Menschen nach seinen Werken zu beurteilen. Wertvoller ist die Aktivität, lobenswerter aber die Entscheidung.« (ἔτι διὰ τὸ μὴ ῥᾴδιον εἶναι ἰδεῖν Ethos und Praxis

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wir uns orientieren können, um sowohl die innere Beschaffenheit eines Handelnden als auch die unterschiedlichen menschlichen Bestrebungen besser zu evaluieren. Dieser Punkt wird sich noch deutlicher in der Analyse zeigen, die wir im nächsten Kapitel in Bezug auf die von Aristoteles entworfene Typologie der Handelnden durchführen werden.

τὴν προαίρεσιν ὁποία τις, διὰ ταῦτα ἐκ τῶν ἔργων ἀναγκαζόμεθα κρίνειν ποῖός τις. αἱρετώτερον μὲν οὖν ἡ ἐνέργεια, ἐπαινετώτερον δ’ ἡ προαίρεσις) (EE II 11, 1228a15–18).

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Kapitel IV Die Typologie der Handelnden und die Charakterveränderung

§ 6 Die aristotelische Charakterologie 6.1 Einleitende Betrachtungen zur Typologie der Handelnden Aristoteles entwickelt im siebten Buch der NE eine interessante Typologie der Handelnden, die in vielerlei Hinsicht seine Habituationstheorie und seine Auffassung der menschlichen Praxis beleuchtet. Dadurch, dass man es hier nicht mit der von ihm entworfenen Seelenlehre in abstracto zu tun hat, sondern mit konkreten Menschentypen, die auf eine ganz besondere Art und Weise verfasst sind, ist dieser Teil des Traktates besonders aufschlussreich, um verschiedene Aspekte des aristotelischen Ansatzes gründlicher zu verstehen. In Anbetracht des Gegenstandes unserer Untersuchung ist hervorzuheben, dass dieser Text von großem Belang ist, denn dort werden die verschiedenen menschlichen Charaktere dargestellt und im Detail analysiert, insbesondere diejenigen, die sich vom tugendhaften Charakter des spoudaios unterscheiden. Deshalb kann unsere Studie über das ēthos nicht vollständig sein, ohne diesen wichtigen Teil der aristotelischen ethischen Lehre einer Revision zu unterziehen. Bei der kritischen Durchsicht der Sekundärliteratur fällt auf, dass das Hauptanliegen der Mehrheit der Kommentatoren, die sich mit dem siebten Buch der NE beschäftigt haben, darin bestand, das Phänomen der akrasia in der aristotelischen Philosophie zu erforschen bzw. zu erklären. 1 Diese ziemlich komplexe Handlungsproblematik hat nicht nur in der Antike, sondern auch in der Gegenwart die Verschiedene Beiträge in den Sammelbänden von Natali (2009) und Corcilius und Rapp (2008) zeichnen sich durch diese Herangehensweise an den Text aus. Ein ähnlicher Interpretationsweg wird in den Arbeiten von Charles (1984), Donini (2010) und Flannery (2013) eingeschlagen.

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Aufmerksamkeit der Philosophen stark auf sich gezogen, und da dieses besondere Phänomen eine paradigmatische Herausforderung für jede Handlungstheorie ist, ist es nachvollziehbar, dass die Kommentatoren in ihren Analysen viel Wert auf dieses Thema gelegt haben. Allerdings liegt es auf der Hand, dass es sich keineswegs um die einzige Art und Weise handelt, sich diesem Text anzunähern. In Anlehnung an Vergnières (1995) und Vigo (1999) bin ich der Ansicht, dass Aristoteles die akrasia nicht als isoliertes Handlungsphänomen untersucht hat, sondern immer mit Hinblick auf die Menschen, die die entsprechende Verfasstheit haben, die sie dazu bringt, akratisch zu handeln. Deshalb lässt sich seine Behandlung der akrasia vor dem Hintergrund seiner Charakterologie am besten interpretieren. Die Tatsache, dass Aristoteles nicht nur über den akratēs, sondern auch über fünf andere Charaktertypen spricht, deutet m. E. klarerweise darauf hin, dass die interpretatorischen Versuche, die diese besonderen Handlungsakteure nicht genügend berücksichtigen, der Reichweite des aristotelischen Ansatzes nicht gerecht werden können. Deshalb halte ich es für sinnvoll zu erforschen, ob diese Konstellation der Handlungsakteure, die von Aristoteles dargestellt wird, weitere Aufgaben in der Architektonik seiner praktischen Philosophie bzw. in seiner Analyse des Menschen qua Praxisakteur erfüllt. Die sechs Charaktertypen, die es im Folgenden zu diskutieren gilt, werden von Aristoteles in den ersten Zeilen des siebten Buches eingeführt: Nach diesen Darlegungen müssen wir einen neuen Anfang machen, indem wir feststellen, dass es im Zusammenhang mit dem Charakter drei Arten von Verfassungen gibt, die zu meiden sind: Schlechtigkeit, Unbeherrschtheit, tierische Rohheit. Die Gegensätze zu den beiden ersten sind klar: Den eigenen Gegensatz nennen wir charakterliche Gutheit, den anderen Beherrschtheit. Der tierischen Rohheit wäre am ehesten die übermenschliche Tugend entgegenzusetzen, eine heroische und göttliche Tugend, wie Homer den Priamos von Hektor sagen lässt, er sei überaus gut gewesen, »und nicht schien er eines sterblichen Mannes Sohn zu sein, sondern eines Gottes«. 2 Μετὰ δὲ ταῦτα λεκτέον, ἄλλην ποιησαμένους ἀρχήν, ὅτι τῶν περὶ τὰ ἤθη φευκτῶν τρία ἐστὶν εἴδη, κακία ἀκρασία θηριότης. τὰ δ’ ἐναντία τοῖς μὲν δυσὶ δῆλα· τὸ μὲν γὰρ ἀρετὴν τὸ δ’ ἐγκράτειαν καλοῦμεν· πρὸς δὲ τὴν θηριότητα μάλιστ’ ἂν ἁρμόττοι λέγειν τὴν ὑπὲρ ἡμᾶς ἀρετήν, ἡρωικήν τινα καὶ θείαν, ὥσπερ Ὅμηρος περὶ hτοῦi Ἕκτορος πεποίηκε λέγοντα τὸν Πρίαμον ὅτι σφόδρα ἦν ἀγαθός, »οὐδὲ ἐῴκει ἀνδρός γε θνητοῦ πάις ἔμμεναι ἀλλὰ θεοῖο.« (NE VII 1, 1145a15–22). Die Passage, die Aristoteles von Homer zitiert, ist Ilias XXIV 258 ff.

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Die aristotelische Charakterologie

Diese Textstelle dient nicht nur dem Zweck, die Charaktertypen zu präsentieren, sondern bringt die Methodik zum Ausdruck, anhand derer Aristoteles versuchen wird, diese Figuren zu analysieren: Er ist der Ansicht, dass jeder dieser Charaktertypen einen Gegensatz hat, und gerade durch ein vergleichendes Verfahren zwischen den gegensätzlichen Charakteren kann man zu einem angemessenen Verständnis derselben gelangen. Dadurch, dass Aristoteles selbst sich an diesem Prinzip orientiert, um seine Untersuchung durchzuführen, werde ich entsprechend die gegensätzlichen Charaktere zusammen behandeln. Durch diese Verfahrensweise denke ich, dass es mir besser gelingen kann, einerseits den aristotelischen Argumentationsgang systematischer zu rekonstruieren und andererseits die Merkmale ersichtlicher zu machen, die die verschiedenen Charaktertypen entscheidend prägen und ihnen eigentümlich sind.

6.2 Der tierische und der göttliche Charakter Der tierische (thērion) und der göttliche (theion) Charakter sind gewissermaßen diejenigen, die dem Leser der aristotelischen ethischen Traktate am fremdesten sind: In früheren Büchern der NE und der EE spricht er in unterschiedlichen Momenten über die anders gearteten Praxisakteure, aber nicht einmal nimmt er Bezug auf diese zwei besonderen Charaktere, und die Ausführungen, die man über sie hier findet, sind nicht detailreich, vor allem was den göttlichen bzw. heroischen Charakter betrifft. Allerdings soll die Knappheit dieser Betrachtungen nicht zur Einsicht führen, dass es sich dabei um ein unwichtiges Thema handelt, denn die Diskussion dieser zwei Charaktertypen gibt Aristoteles die Möglichkeit, wichtige Betrachtungen über die Grenzen der Habituation bzw. der praktischen Philosophie anzustellen. Bevor auf diese Betrachtungen eingegangen wird, ist es nun angemessen, die auffälligsten bzw. eigentümlichen Merkmale dieser Charaktere darzustellen. In Bezug auf den tierischen Charakter behauptet Aristoteles, dass die so gearteten Menschen unfähig sind, sich ihres Intellekts zu bedienen und ihr Leben vernunftgemäß zu führen. Die Verhaltensweisen, die bei ihnen anzutreffen sind, sind äußerst abstoßend und abscheuerregend: Über sie berichtet Aristoteles, dass sie schwangere Frauen aufgeschlitzt und ihre Kinder gegessen haben (siehe NE VII 6, 1148a19–21). Ferner merkt er an, dass sie rohes Fleisch oder MenEthos und Praxis

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schenfleisch essen, sich gegenseitig ihre Kinder zum Verspeisen geben, und dass sie das mit ihren Feinden tun, was über Phalaris erzählt wird, nämlich dass er sie im Bauch eines ehernen Stiers geröstet habe. Weitere abscheuliche bzw. anormale Gewohnheiten, durch welche sie sich auszeichnen, bestehen beispielsweise darin, sich die Haare auszureißen, die Nägel abzubeißen, Kohle und Erde zu essen und sich vor Mäusen und Katzen zu fürchten. Zuletzt schreibt Aristoteles einigen von ihnen eine Prädisposition zur Päderastie zu, was er auf die Ursache zurückführt, dass sie als Kinder missbraucht wurden (siehe NE VII 6, 1148a23–31). Dahingegen wird über die Menschen gesagt, die sich durch ihre äußerst vortreffliche Verfasstheit auszeichnen, dass sie durch ihr Übermaß an Gutheit den Göttern ähneln. Diese Gutheit scheint allerdings nicht durch die sittliche Erziehung erworben werden zu können, sondern angeboren zu sein, was Aristoteles dazu führt zu behaupten, dass es sehr schwierig – wenn nicht gänzlich unmöglich – ist, Menschen mit diesem Charaktertyp zu finden (siehe NE VII 1, 1145a29–30). 3 Die kurze Beschreibung, die Aristoteles von diesem göttlichen Charakter an dieser und anderen Stellen des siebten Buches gibt, steht im Einklang mit den Passagen aus der Politik, in denen von einem äußerst begabten Menschen die Rede ist, der die beste Kompetenz habe, um eine polis als König zu regieren: »Wenn jedoch im Staate ein einzelner von so ganz überragender Tugend ist oder mehrere – die aber doch von zu geringer Zahl sind, um einen vollen Staat für sich zu bilden –, dass die Tugend und politische Befähigung aller anderen zusammen sich mit denen jener mehreren oder jenes einen gar nicht vergleichen lässt, so kann man solche Leute eben nicht mehr als bloße Teile des Staates behandeln, denn es würde ihnen Unrecht geschehen, wenn sie gleiche Rechte mit anderen erhielten, während sie allen anderen so ungleich an Tugend und politischer Befähigung sind. Vielmehr würde ein solcher Mann ja wie ein Gott unter den Menschen anzusehen sein« (εἰ δέ τις ἔστιν εἷς τοσοῦτον διαφέρων κατ’ ἀρετῆς ὑπερβολήν, ἢ πλείους μὲν ἑνὸς μὴ μέντοι δυνατοὶ πλήρωμα παρασχέσθαι πόλεως, ὥστε μὴ συμβλητὴν εἶναι τὴν τῶν ἄλλων ἀρετὴν πάντων μηδὲ τὴν δύναμιν αὐτῶν τὴν πολιτικὴν πρὸς τὴν ἐκείνων, εἰ πλείους, εἰ δ’ εἷς, τὴν ἐκείνου μόνον, οὐκέτι θετέον τούτους μέρος πόλεως· ἀδικήσονται γὰρ ἀξιούμενοι τῶν ἴσων, ἄνισοι τοσοῦτον κατ’ ἀρετὴν ὄντες καὶ τὴν πολιτικὴν δύναμιν· ὥσπερ γὰρ θεὸν ἐν ἀνθρώποις εἰκὸς εἶναι τὸν τοιοῦτον) (Pol. III 13, 1284a3–11). Seine Gottähnlichkeit und außerordentliche Tüchtigkeit sind die zu berücksichtigenden Faktoren, die seine besondere Stellung bzw. Aufgabe als Monarch rechtfertigen: »Denn man wird doch wohl nicht behaupten wollen, dass man einen solchen Mann aus dem Staat vertreiben und verbannen müsse. Ebensowenig kann man verlangen, über ihn dadurch zu regieren, dass man die Staatsämter unter mehrere verteilt, denn das wäre beinahe so, als wenn wir über den Zeus zu regieren verlangten. Es bleibt mithin nichts anderes übrig, als was eben offenbar in der Natur der Sache liegt, dass alle einem solchen Mann freiwillig gehorchen, so dass also solche Leute die lebens-

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Der Hauptgrund, der Aristoteles Anlass gibt, die Meinung zu vertreten, diese Charaktere seien einander gegensätzlich, scheint eindeutig zu sein: Sie stellen das Niedrigste bzw. das Erhabenste des menschlichen Verhaltens dar. Sie sind die Extreme der Gutheit und der Schlechtigkeit, die bei den Menschen auftreten können. Kurzum kann gesagt werden, dass diese Charaktere die beste bzw. die schlechteste mögliche Lebensführung verkörpern, und gerade diesen diametralen Gegensatz versucht Aristoteles ersichtlich zu machen. Auf Anhieb nicht so auffällig zu sein scheint aber die Tatsache, dass sie zwei Merkmale teilen: Einerseits ist klar, dass diese Charaktertypen Ausnahmefälle sind. Diese Handelnden sind kaum in der Wirklichkeit anzutreffen und es ist unwahrscheinlich, dass man je mit ihnen zu tun haben wird. Andererseits ist festzustellen, dass diese Charaktertypen nicht durch die von Aristoteles behandelten Habituationsprozesse entstehen. Dass sie eher selten anzutreffen sind, ist in der Tat darauf zurückzuführen, dass Aristoteles zufolge nicht bewirkt werden kann, dass jemand ein göttliches bzw. ein tierisches ēthos entwickelt. Obwohl er in Bezug auf das tierische ēthos an gewissen Stellen behauptet, dass dieser Charakter durch gewisse Gewöhnungen zustande kommen könne (siehe z. B. NE VII 6, 1148b16, 34), deutet die Mehrheit seiner Erklärungen darauf hin, dass man es in diesen Fällen eher mit Verhaltenspathologien zu tun hat, die sich vor allem durch physiologische Faktoren bei den Menschen zutragen. Explizit behauptet Aristoteles, dass tierische Rohheit »am meisten unter den Barbaren vorkommt, doch entsteht sie manchmal aufgrund von Krankheiten und Behinderung.« 4 Selbstverständlich können einige traumatische Erlebnisse dazu beitragen, dass man solch ein ēthos entfaltet – der von ihm erwähnte Fall von Päderastie ist das deutlichste Beispiel in dieser Hinsicht –, aber die Hauptursachen, die bei den Menschen diese Dispositionen herbeiführen, scheinen Defekte länglichen Könige in den Staaten sind« (οὐ γὰρ δὴ φαῖεν ἂν δεῖν ἐκβάλλειν καὶ μεθιστάναι τὸν τοιοῦτον· ἀλλὰ μὴν οὐδ’ ἄρχειν γε τοῦ τοιούτου· παραπλήσιον γὰρ κἂν εἰ τοῦ Διὸς ἄρχειν ἀξιοῖεν, μερίζοντες τὰς ἀρχάς. Λείπεται τοίνυν, ὅπερ ἔοικε πεφυκέναι, πείθεσθαι τῷ τοιούτῳ πάντας ἀσμένως, ὥστε βασιλέας εἶναι τοὺς τοιούτους ἀιδίους ἐν ταῖς πόλεσιν) (Pol. III 13, 1284b28–34). In dieser Hinsicht folge ich der Interpretation Dorothea Fredes, wonach der göttliche Mensch, von welchem Aristoteles sowohl in der NE als auch in der Politik spricht, ein und dieselbe Person ist (siehe Frede 1998, S. 266). Keine Gründe scheinen gegen diese Annahme zu sprechen. 4 μάλιστα δ’ ἐν τοῖς βαρβάροις ἐστίν, γίνεται δ’ ἔνια καὶ διὰ νόσους καὶ πηρώσεις (NE VII 1, 1145a30–32). Ethos und Praxis

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(pērōseis) und schlechte Naturanlagen (mochthēras physeis) zu sein (siehe NE VII 6, 1148b17–18) – was kaum überraschend ist, wenn man bedenkt, dass Aristoteles in seinen zoologischen Schriften viele Bestrebungen unternimmt, um Rechenschaft von unterschiedlichen Phänomenen bei den Lebewesen einschließlich der Menschen abzulegen, die vom regulären Lauf der Natur stark abweichen. 5 Im Fall der Menschen mit einem göttlichen bzw. heroischen ēthos liegt es ebenfalls auf der Hand, dass sie außergewöhnliche Individuen sind, die nur gelegentlich in der Gesellschaft auftreten. Damit ist zu erklären, dass ihr Auftauchen als etwas so Dienliches und Vorteilhaftes angesehen wird, dass es als notwendig erscheint, diesen Menschen eine privilegierte Stellung als Monarchen zuzuweisen. 6 Ein klares Beispiel dafür befindet sich in der Schrift De Generatione Animalium, in welcher Aristoteles es sich zur Aufgabe macht, die Entstehung von Wundertieren bzw. Fehlbildungen zu erklären, wobei er feststellt, dass »der Grund [dieser Phänomene; E. C.] in dem Stoff und in den sich bildenden Keimen liegt« (ὅλως δὲ μᾶλλον τὴν αἰτίαν οἰητέον ἐν τῇ ὕλῃ καὶ τοῖς συνισταμένοις κυήμασιν εἶναι) (GA IV 4, 770a6–7), d. h., dass der Grund derselben nicht in der Form (morphē) der Lebewesen zu suchen ist. Aristoteles bemerkt allerdings, dass diese Naturabweichungen eher selten bei den Menschen zustande kommen: »Auch kommt dies mehr bei Tieren mit viel Nachkommenschaft vor, daher beim Menschen selten, der ja in der Regel nur ein voll entwickeltes Kind hat. Und auch hier kommt es nämlich in Gegenden, in denen die Frauen Mehrlinge haben, eher vor, z. B. in Ägypten« (καὶ γὰρ τῶν ἄλλων ἐν τοῖς πολυτόκοις μᾶλλον. διὸ ἐν ἀνθρώπῳ ἧττον· ὡς γὰρ ἐπὶ τὸ πολὺ μονοτόκον ἐστὶ καὶ τελειογόνον, ἐπεὶ καὶ τούτων ἐν οἷς τόποις πολύγονοι αἱ γυναῖκές εἰσι τοῦτο συμβαίνει μᾶλλον, οἷον περὶ Αἴγυπτον) (GA IV 4, 770a31–35). Dadurch, dass ein tierisches ēthos bei den Menschen ein seltenes Phänomen ist, kann man verstehen, dass Aristoteles es – in Analogie mit den körperlichen Deformitäten – auch auf gewisse Naturursachen zurückführen will. Für eine ausführliche Diskussion über die unterschiedlichen physiologischen Faktoren, die Aristoteles zufolge das menschliche sittliche Verhalten beeinträchtigen, siehe Van der Eijk (2005). 6 Es ist aber auch wichtig anzumerken, dass die Menschen das tun würden, nicht nur weil sie erkennen würden, dass solch ein Individuum zu ihrem Glück einen entscheidenden Beitrag leisten könnte, sondern auch weil sie einsehen würden, dass das Glück eines so gearteten Menschen darin besteht, seine Gaben zum Einsatz zu bringen. Deswegen muss ihm der notwendige Handlungsraum zugewiesen werden, um seine Talente auszuüben. Frede stellt diesen Punkt besonders deutlich dar: »In der entelecheia, der Aktualisierung der besten Fähigkeit, besteht der Zustand des wahren Glücks. Der Philosoph hat dabei den Vorteil, für seine besten Tätigkeiten auf andere Menschen nicht angewiesen zu sein, vielmehr kann er sein Talent ganz für sich allein im Nachdenken realisieren. Das politische Genie dagegen braucht die ›Praxis‹ der Politik zur Selbstverwirklichung. Wie alle Supermänner, einschließlich der Figuren in Comic-Büchern heutzutage, so muss auch der aristotelische Übermensch seine Tu5

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Die Tatsache, dass diese Charaktere nicht durch Habituation entstehen, führt zu interessanten Betrachtungen über die Reichweite der praktischen Philosophie und erweitert unser Verständnis anderer Charaktertypen. Für Aristoteles liegen der tierische und der göttliche Charakter in einer gewissen Hinsicht – um eine nietzscheanische Redewendung zu gebrauchen – jenseits von Gut und Böse. Was ich damit zum Ausdruck bringen will, ist, dass die praktische Philosophie für diese Charaktere nicht von Nutzen sein kann. Der Mensch mit einem göttlichen Charakter benötigt nicht die Anweisung der praktischen Philosophie, um die bestmögliche Lebensführung an den Tag zu legen, denn er neigt von Natur aus dazu tüchtig zu handeln. Demzufolge stellt sein Verhalten für die überwiegende Mehrheit der Menschen ein unerreichbares Paradigma des sittlichen Handelns dar. Da er aber von Natur aus mit solch außerordentlichen Gaben versehen ist, kann man nicht von den anderen Menschen verlangen, dass sie im Sinne derselben handeln. Das wäre eine contradictio in adiecto. Was von den Menschen tatsächlich erwartet werden kann, ist, dass sie sich bemühen, sich durch ihr Handeln zu perfektionieren und sich die Haltungen anzueignen, die für ein gutes Leben unentbehrlich sind – und angesichts dieser Aufgabe zeigt sich die praktische Philosophie als hilfreich und kann eine große Rolle spielen. Auf der anderen Seite kann man feststellen, dass alle philosophischen Bestrebungen, die darauf abzielen, das Verhalten der Menschen zu verändern, die einen tierischen Charakter haben, vergeblich sein würden, denn der Ursprung ihrer Verhaltensweise ist tief in der Natur dieser Menschen eingepflanzt. Solche Menschen sind vom Standpunkt der praktischen Philosophie aus Grenzfälle, die nur selten auf besseres Handeln gelenkt werden können. Nur für die Akteure, bei denen es möglich ist, ihre Lebensführung durch Habituation zu perfektionieren, kann diese Disziplin einen positiven Beitrag leisten. Die Erörterungen, die Aristoteles zu diesen Charaktertypen bereitstellt, sind auf eine indirekte Weise hilfreich, um zwei andere Charaktere, die einander gegensätzlich sind und mit denen wir uns in Kürze ausführlicher beschäftigen werden, besser verstehen zu können: Einerseits kann gesagt werden, dass der Kontrast zwischen den gend zur Anwendung bringen. Deshalb muss er regieren dürfen, denn darin besteht seine eudaimonia, nicht nur die seiner wohlregierten Bürger (VII 8; 13)« (Frede 1998, S. 267–268). Ethos und Praxis

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Menschen mit einem göttlichen und einem tugendhaften ēthos die Tatsache ersichtlich macht, dass der Tugendhafte derjenige ist, der unterschiedliche Habituationsprozesse durchlaufen hat, um die aretai zu erwerben. Solch ein Mensch besitzt den Charaktertyp, der durch eine gelingende sittliche Erziehung geformt wird. Das eigene ēthos so zu gestalten ist im Grunde das Ziel, das es zu erreichen gilt, wenn man das eigene Leben gemäß der Grundlinien der aristotelischen praktischen Philosophie führt. Es ist allerdings auffällig, dass dieser Charakter im Vergleich zum göttlichen ēthos weniger vollkommen ist, wie Aristoteles selbst bemerkt, wenn er schreibt, dass das letztere schätzenswerter (timios) als das erstere ist (NE VII 1, 1145a26). Im Einklang mit dem, was wir im Rahmen unserer Diskussion über die Einheit der Tugenden gesagt haben, scheint der Grund dafür zu sein, dass der Tugendhafte für Aristoteles kein unfehlbarer Mensch ist. Durch unterschiedliche Faktoren ist es möglich, dass ein tugendhafter Mensch in gewissen Szenarien vom guten Handeln abweicht, ohne dass dies aber auf die Konsequenz hinausläuft, dass er nicht mehr als tugendhaft gilt. Im Fall des göttlichen Charakters muss dahingegen behauptet werden, dass diese Möglichkeit ausgeschlossen zu sein scheint – zumindest gibt es keine Textevidenz, die das Gegenteil suggerieren würde. Die Tatsache, dass der Tugendhafte im Verhältnis zu den Akteuren mit einem göttlichen ēthos auf einer niedrigeren Stufe der aristotelischen Charakterologie steht, bekräftigt die von uns zuvor diskutierte These Howard Curzers, wonach der Tugendhafte – selbst wenn er als ein Modell gilt, welchem man sich durch das sittliche Handeln annähern soll – letztlich ein Mensch ist, der auch Fehler begehen kann. 7 Andererseits lässt sich feststellen, dass das Handeln der Menschen mit einem tierischen bzw. lasterhaften Charakter nicht mit demselben Maßstab beurteilt werden soll. Wie oben gesagt wurde, »The virtuous person is indeed the standard for what is good. But the standard is not the virtuous person qua parent or professor. Instead, the virtuous person qua virtuous constitutes the standard. That is, the virtuous person in so far as he or she acts and feels virtuously is the standard for what is good. This claim is compatible with several sorts of imperfection. […] Aristotle distinguishes the virtuous person from the heroically virtuous person (1145a18–20). Yet if the virtuous person is perfectly virtuous, how could the heroically virtuous person be better? The idealization interpretation says that the virtuous person is ideal, and of course ideal people perform ideally. In each situation they perform the best available acts. But that leaves no room for the heroically virtuous person to outperform the merely virtuous person« (Curzer 2005, S. 235).

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ist der Erstere aufgrund seiner fehlerhaften Naturverfasstheit dazu geneigt, abscheuliche Verhaltensweisen an den Tag zu legen, während der Letztere in der Tat die Möglichkeit hatte, gute bzw. schlechte Haltungen zu internalisieren. Dadurch, dass der Zügellose eine beträchtlich größere Verantwortung für das ēthos trägt, das er im Laufe seines Lebens entfaltet hat, muss er entsprechend als ein zurechnungsfähiges Subjekt angesehen und beurteilt werden. Akteure mit einem tierischen ēthos sind dahingegen geistesgestörte Individuen, die aus heutiger Sicht wahrscheinlich als von der Medizin bzw. der Psychiatrie zu behandelnde Menschen gelten würden (siehe Horn 2010, S. 11). Aufgrund dieses Mangels an Verantwortung ihrerseits legt Aristoteles fest, dass, wenn man sie als lasterhaft bezeichnet, man im Grunde eine Analogie bzw. eine metaphorische Redewendung benutzt (siehe NE VII 6, 1149a2–5 und 16–20). Daraus folgt, dass Laster für Aristoteles nicht mit außer unserer Macht stehenden Naturgegebenheiten, sondern eng mit dem menschlichen Willen des Individuums zusammenhängen und demzufolge Gegenstand des sittlichen Tadels sind. Vor dem Hintergrund dieser wichtigen These werden wir im Folgenden diese zwei anderen Charaktere der aristotelischen Typologie behandeln, nämlich den Tugendhaften und den Zügellosen.

6.3 Der tugendhafte und der lasterhafte Charakter Der tugendhafte Charakter wird im siebten Buch der NE im Vergleich zu den anderen Charaktertypen kaum erläutert. Weit davon entfernt dies als eine Vernachlässigung von Aristoteles aufzufassen, interpretiere ich diese scheinbare Nachlässigkeit als ein Zeichen dafür, dass er in früheren Teilen der Abhandlung die Natur des spoudaios genügend erörtert zu haben glaubt. Davon ausgehend kann gesagt werden, dass dieser Charaktertyp zweifellos derjenige ist, mit dem er sich am ausführlichsten beschäftigt. In der Tat ist es nicht übertrieben zu sagen, dass dieses Thema die ganzen ethischen Schriften des Aristoteles durchläuft. Selbst wenn es bei gewissen Fragen nicht explizit angesprochen wird, bleibt es immer ein wichtiges Motiv, das Aristoteles bei anderen Betrachtungen nicht aus den Augen verliert, und ich bin der Ansicht, dass die Behandlung der Charakterologie im siebten Buch die angesammelten Diskussionsergebnisse der früheren Bücher voraussetzt. Die von ihm gewonnen Einsichten in die Natur des tugendhaften Menschen bis zu diesem Punkt sind die begrifflichen Ethos und Praxis

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Grundlagen, um die Typologie der unterschiedlichen Handlungsakteure bereitzustellen. In Anbetracht der äußerst schwierigen Aufgabe, all die Merkmale des guten Menschen angemessen zur Darstellung zu bringen, ist es zu erklären, dass Aristoteles eine breite Terminologie in seinen ethischen Schriften verwendet hat, um sich auf die eigentümlichen Charakteristika eines solchen Menschen beziehen zu können, ohne aber jemals die These zu vertreten, dass diese Bezeichnungen unterschiedlichen bzw. anders gearteten Handelnden zukommen. In dieser Hinsicht ist sein Gebrauch unterschiedlicher Termini wie spoudaios, agathos, phronimos, sōphron, dikaios und epieikēs zu verstehen, wobei angemerkt werden muss, dass spoudaios der Standardausdruck ist, den er verwendet, wenn es darum geht, die ausgezeichnete Natur der durch die Habituation erworbenen guten ethischen Dispositionen eines tüchtigen Menschen zu charakterisieren. 8 So wie er sich beiSiehe dazu Aubenque: »Es ist kein Zufall, dass Aristoteles die Persönlichkeit, die als Maßstab dient, oft mit dem Ausdruck des spoudaios bezeichnet. Das Wort evoziert zunächst die Vorstellung von Tatendrang, von kriegerischer Leidenschaft, dann einfach nur die ernsthafte Tätigkeit: Der spoudaios ist ein Mensch, der mittels seiner Arbeit Vertrauen erweckt, in dessen Nähe man sich sicher fühlt, den man ernst nimmt. Wenn all diese Bestimmungen auch mehr und mehr verinnerlicht wurden und Aristoteles beim Beispiel des spoudaios weniger an seine Kraft als an die Güte seines Urteils denkt, so bemisst sich der Wert des spoudaios dennoch nicht an irgendeinem transzendentalen Wert, sondern er selbst ist das Maß des Wertes. In diesem Sinne schlage ich vor, ihn den Wertvollen zu nennen« (Aubenque 2007, S. 51). In einer ähnlichen Hinsicht bemerkt Schottlaender das Folgende: »Das griechische Adjektiv spoudaios ist abgeleitet vom Substantiv spoudē, das den Eifer, also das ernstliche Betreiben bezeichnet. Es sagt mehr als das Stammwort, denn es schließt das Ernstzunehmende, dem der Eifer gelten soll, mit ein. Ein spoudaios ist einer, der Ernstzunehmendes ernstlich betreibt. Das Begriffsmoment der persönlichen Energie und Leistung liegt von vornherein ebenso darin, wie die mehr oder weniger hohe Bedeutung des Gegenstandes. Ist dieser von schlechthin höchster Bedeutung, wird spoudaios zum Synonym für sittlich gut« (Schottlaender 1980, S. 385). Schottlaender ist der Ansicht, dass Aristoteles Termini wie esthlos, agathos, kaloskagathos und aristos eher selten zu gebrauchen pflegte, weil diese Wörter mit Vorstellungen des aristokratischen Standes bzw. heroischer Außerordentlichkeit verbunden waren. Indem Aristoteles den Terminus spoudaios verwendete, habe er zu betonen versucht, so Schottlaender, dass die Vorrechte der Geburt keine Grundvoraussetzung seien, um die Tugend zu erreichen (siehe Schottlaender 1980, S. 385). Obwohl es wahr ist, dass Aristoteles den Terminus spoudaios mit einer Gutheit in Verbindung setzt, die nur durch Streben bzw. Eifer erreicht werden kann, teile ich nicht Schottlaenders Schlussfolgerung, nämlich dass Aristoteles hiermit auch meine, dass die Tugend zugänglich sowohl für die Hoch- als auch für die Niedriggeborenen sei, d. h., dass sie in einem gewissen Sinne »isonom« bzw. »demokratisch« sei (siehe Schottlaender 1980, S. 385).

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spielsweise des Wortes phronimos im sechsten Buch bedient, um Bezug auf die Fähigkeit des guten Menschen nehmen zu können, mit Hinblick auf die Praxis gut zu überlegen, verwendet er das Wort spoudaios, um einen anderen Aspekt desselben Akteurs in den Vordergrund zu stellen, nämlich die edle Natur der Haltungen, die sein ēthos ausmachen. Obwohl Aristoteles im siebten Buch auch andere Termini gebraucht, hat er den besonderen Aspekt, der mit dem Wort spoudaios zum Ausdruck kommt, ständig vor Augen, wenn er den Tugendhaften mit anderen Charaktertypen vergleicht. 9 Im Unterschied zu der ausführlichen Behandlung, die diese Figur im Laufe der gesamten aristotelischen Untersuchung erfährt, muss gesagt werden, dass Aristoteles dem Zügellosen vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit schenkt. Es ist beispielsweise auffällig, dass er an keiner Stelle versucht, eine Definition des Lasters (kakia) vorzuführen. Man könnte annehmen, dass er unter Lastern einfach das verstanden hat, was der richtigen Mitte (mesotēs) nicht entspricht, Wie wir im Laufe unserer Untersuchung gesehen haben, misst Aristoteles allen günstigen sozialen Bedingungen bzw. Naturanlagen, die zum Erwerb der Tugenden führen, einen beträchtlichen Wert bei. Die Rede von den natürlichen Tugenden bzw. vom Politiker, dessen Aufgabe darin besteht, die polis auf die korrekte Art und Weise zu gestalten, um die Talente und Naturfähigkeiten der Bürger zu fördern (siehe NE VI 13, 1144b1 ff., Pol. VII 4, 1325b40 ff.), wäre m. E. mit dieser Interpretationsthese nicht zu vereinbaren. Des Weiteren ist auf eine wichtige Aussage von Aristoteles hinzuweisen: »Daher ist es auch schwer, tugendhaft zu sein. Denn in jedem Fall ist das Finden der Mitte eine schwierige Aufgabe. […] Gutes Handeln ist daher selten, lobenswert, und edel (διὸ καὶ ἔργον ἐστὶ σπουδαῖον εἶναι. ἐν ἑκάστῳ γὰρ τὸ μέσον λαβεῖν ἔργον […] διόπερ τὸ εὖ καὶ σπάνιον καὶ ἐπαινετὸν καὶ καλόν) (NE II 9, 1109a25– 30). Aristoteles ist keineswegs der Ansicht, dass jeder Mensch spoudaios werden kann. Tugendhaftes Handeln ist nicht von jedem zu erwarten, denn viele Voraussetzungen müssen erfüllt werden, damit man tatsächlich als tüchtig gelten kann. Deshalb ist die These, dass der aristotelische Tugendbegriff »demokratisch« sei, zurückzuweisen. 9 Tatsächlich verwendet Aristoteles den Terminus sōphrōn im siebten Buch am häufigsten (siehe NE 1145b16, 1146a16–17, 1148a6, 1151a19), wobei zu beachten ist, dass dieses Wort klarerweise auf die Tugend der Mäßigung (sōphrosynē) hindeutet. Allerdings bezeichnet er die enkrateia qua gute Disposition – wenngleich sie nicht die beste ist – als hexis spoudaia (NE 1151a29, 1151b28) und an einer Stelle verwendet er auch das Wort spoudaios (NE 1152a8). Ferner gebraucht er hier das Wort phronimos – und zwar im Einklang mit der Redeweise des sechsten Buchs –, um auf die intellektuelle Qualität des guten Menschen hinzuweisen (NE 1152a11). Der aristotelische Sprachgebrauch im siebten Buch bestätigt wiederum die These, dass diese Termini in Bezug auf den tugendhaften Menschen austauschbar verwendet werden, je nachdem, welcher Aspekt seiner Beschaffenheit in den unterschiedlichen Diskussionskontexten betont werden soll. Ethos und Praxis

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nämlich das Übermaß (hyperbolē) und der Mangel (elleipsis). Jedoch kann man sehen, dass diese Charakterisierung zweifelsohne nicht genügend erklärt, was das Wesen dieser Dispositionen ist. In der Tat erweist sich die theoretische Aufgabe, eine präzise bzw. allumfassende Definition derselben bereitzustellen, als äußerst schwierig, wie die folgende Passage auf indirekte Weise suggeriert: Außerdem gibt es viele Arten der Verfehlung – denn das Schlechte gehört auf die Seite des Unbegrenzten, wie die Pythagoreer vermuteten, das Gute auf die des Begrenzten –, während es nur eine Weise des richtigen Handelns gibt. Daher ist auch das eine leicht und das andere schwer. Leicht ist es, den Zielpunkt zu verfehlen, schwer aber, ihn zu treffen. Auch deshalb also gehören Übermaß und Mangel zum Laster, die Mitte dagegen zur Tugend: »Denn Menschen sind gut auf nur eine Art, schlecht aber auf viele«. 10

Dass lasterhaftes Handeln unterschiedliche Formen aufweist, hängt mit der Tatsache zusammen, dass die schlechten Dispositionen, die in der Seele eines so gearteten Akteurs verankert sind, in den diversen Praxiskontexten unterschiedlich wirken können. Während die guten hexeis gewährleisten, dass der Tugendhafte das Gute zuverlässig erkennt bzw. anstrebt (NE V 1, 1129a13–15), bewirken dahingegen die kakiai, dass der Zügellose schlechte Entscheidungen trifft und das sittlich Gute verfehlt, und zwar auf unterschiedliche Art und Weise. Obwohl die kakiai qua Dispositionen der Seele den akolastos »befähigen«, Entscheidungen mit Hinblick auf die Praxis zu treffen, sind die von ihm angestellten Überlegungen aus dem einen oder anderen Grund fehlerhaft und entsprechen den diversen Voraussetzungen nicht, die angesichts des gelingenden Handelns getroffen werden müssen, nämlich dem Wie, dem Wann, dem Womit, dem Wozu usw. (siehe NE II 2, 1104b21–23, III 2, 1111a3–6). 11 Die Erscheinungsmanἔτι τὸ μὲν ἁμαρτάνειν πολλαχῶς ἔστιν (τὸ γὰρ κακὸν τοῦ ἀπείρου, ὡς οἱ Πυθαγόρειοι εἴκαζον, τὸ δ’ ἀγαθὸν τοῦ πεπερασμένου), τὸ δὲ κατορθοῦν μοναχῶς (διὸ καὶ τὸ μὲν ῥᾴδιον τὸ δὲ χαλεπόν, ῥᾴδιον μὲν τὸ ἀποτυχεῖν τοῦ σκοποῦ, χαλεπὸν δὲ τὸ ἐπιτυχεῖν)· καὶ διὰ ταῦτ’ οὖν τῆς μὲν κακίας ἡ ὑπερβολὴ καὶ ἡ ἔλλειψις, τῆς δ’ ἀρετῆς ἡ μεσότης· ἐσθλοὶ μὲν γὰρ ἁπλῶς, παντοδαπῶς δὲ κακοί (NE II 5, 1106b29–35). Die Herkunft des von Aristoteles hier angeführten Zitats ist unbekannt. 11 Gewiss gibt es Fälle, in denen ein Akteur auf eine ziemlich uniforme Weise lasterhaftes Handeln an den Tag legen kann. Beispielsweise könnte sich jemand angewöhnen, täglich drei Flaschen Rotwein zu trinken und zwei Zigarettenschachteln zu rauchen, wobei festzustellen ist, dass diese Art von Verfehlung immer eine Art von Übermaß aufweist. Allerdings darf man nicht schlussfolgern, dass jede lasterhafte Disposition dieselbe Struktur aufzeigt. Es könnte sich z. B. zutragen, dass jemand 10

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nigfaltigkeit der Laster ist u. a. dadurch zu erklären, dass der akolastos verkennt, wie jedes dieser Handlungskriterien – die normative Aufforderungen der Handlungsrationalität darstellen – zu erfüllen ist. Dadurch, dass diese unterschiedlichen Handlungskriterien in jeder Praxissituation von dem akolastos anders verfehlt werden können, ist festzustellen, dass die Charakterisierung, die man von den Lastern anstellen kann, von einer allgemeinen Natur sein muss, da der Definitionsgegenstand keine präzisere Darstellung erlaubt. Diese theoretische Schwierigkeit wird außerdem noch verschärft, wenn man bedenkt, dass der Ursprung der Laster nicht einwandfrei zu identifizieren ist. Obwohl sich behaupten lässt, dass die wahren Tugenden auf gelingende Habituationsprozesse zurückzuführen sind, kann man nicht immer den Umkehrschluss in Bezug auf die Laster ziehen, denn wir wissen durch Aristoteles, dass der Mensch gewisse Naturanlagen hat, die in Laster münden können, wenn man sie nicht vernunftgemäß gestaltet (NE VI 13, 1144b1–14). Demzufolge kann gesagt werden, dass die Laster durch unterschiedliche Ursachen entstehen, die nicht zwangsläufig bei jedem Menschen anzutreffen sind. Während ein Handelnder sittlich schlecht werden kann, indem er etwa einer falschen sittlichen Erziehung unterzogen wurde, ist es wohl denkbar, dass ein anderer Handelnder verschiedene lasterhafte Dispositionen entwickelt, weil die elterliche Fürsorge in seinem Fall einfach unzureichend war und weil er z. B. schlechten Einflüssen aus seiner nicht wohlregierten polis ausgesetzt war, wobei die seine Verfasstheit prägenden Naturanlagen je nach den besonderen Umständen mehr oder weniger zum Schlechtigkeitsgrad seiner Dispositionen beigetragen haben können. Dies ist m. E. der Grund, warum es auch unmöglich ist, eine übergreifende Ursache zu identifizieren, die zur Entstehung der akrasia und der enkrateia führt – eine Aufgabe, die Aristoteles nicht unternimmt. Die allgemeinen Faktoren, die zu diesen Dispositionen führen können, lassen sich zwar in der philosophinicht als freigiebig gilt, weil er einerseits gegenüber den Mitgliedern seiner Familie geizig und andererseits gegenüber seinen Freunden und Bekannten verschwenderisch ist. Ein so gearteter Mensch würde Aristoteles zufolge nicht wissen, wie man mit Geld bzw. materiellen Gütern umgehen soll. Daraus ist aber nicht zu schließen, dass er zwei unterschiedliche bzw. entgegengesetzte schlechte Dispositionen hat. In dem Modell, das Aristoteles präsentiert, ist meiner Ansicht nach klar, dass solch ein Akteur daran gescheitert ist, die Tugend der Freigebigkeit zu internalisieren, und dass die schlechte Disposition, die er stattdessen erworben hat, ihn dazu bringt – sei es durch Übermaß oder durch Mangel –, sein Vermögen auf die falsche Art und Weise zu verwenden. Ethos und Praxis

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schen Theorie im Umriss feststellen, aber die besonderen Eventualitäten bzw. Zufälligkeiten, die in diesem oder jenem Fall dazu führen, dass die erworbenen Dispositionen dem Grad nach besser oder schlechter geworden sind, können nur mit Anstrengungen festgestellt werden. 12 Aus diesen Betrachtungen ergibt sich m. E., dass sich mehrere Erkenntnisse gewinnen lassen, wenn man die Aufmerksamkeit nicht auf eine mögliche allerklärende Definition des Lasters richtet, sondern auf die Menschen, die sich vom Ideal des guten Lebens entfernen, und dies ist meiner Ansicht nach das, was Aristoteles selbst in seiner Analyse tut. Ein lasterhaft Handelnder zeichnet sich dadurch aus, dass er das scheinbare Gute (phainomenon agathon) anstrebt. Diese Behauptung soll folgendermaßen verstanden werden: Der Zügellose ist nicht jemand, der sich willentlich vornimmt, etwas Schlechtes qua Schlechtes durch sein Handeln anzustreben, sondern jemand, der eine gewisse gute Qualität in dem findet, was er unternimmt. Während der Tugendhafte derjenige ist, der jede Handlungssituation richtig beurteilt und in allen Einzelfällen die praktische Wahrheit sieht, ist der Zügellose dahingegen ein Individuum, das die Wahrheit bzw. das Gute zu finden glaubt, ohne dass er es tatsächlich finden und treffen kann. Die folgende Passage bringt diesen Punkt trefflich zum Ausdruck: Dass der Wunsch sich auf ein Ziel bezieht, haben wir bereits gesagt. Dabei denken die einen, er beziehe sich auf ein Gut, die anderen, er beziehe sich auf das, was als Gut erscheint. Für diejenigen nun, die sagen, Gegenstand des Wünschens sei ein Gut, ergibt sich, dass das, was jemand aufgrund einer unrichtigen Wahl wünscht, nicht wirklich gewünscht ist. Denn wäre es gewünscht, so wäre es ja gut; es könnte aber sein, dass es im gegebenen Fall schlecht war. Für diejenigen andererseits, die sagen, Gegenstand des Wünschens sei, was als Gut erscheint, ergibt sich, dass es nichts von Natur aus Gewünschtes gibt, sondern nur das, was dem Einzelnen so scheint. Verschiedenen Menschen aber erscheinen verschiedene Dinge gut, unter Umständen sogar entgegengesetzte. 13 Dies ist allerdings keine begriffliche Schwierigkeit, die für die praktische Philosophie von großem Belang ist, da sie im Grunde darauf abzielt zu zeigen, wie man tugendhaft werden kann. Für ihre Zwecke ist hinreichend, eine allgemeine Erklärung dieser anderen Phänomene bereitzustellen, denn man strebt keineswegs danach, akolastos, akratēs oder enkratēs zu werden. 13 Ἡ δὲ βούλησις ὅτι μὲν τοῦ τέλους ἐστὶν εἴρηται, δοκεῖ δὲ τοῖς μὲν τἀγαθοῦ εἶναι, τοῖς δὲ τοῦ φαινομένου ἀγαθοῦ. συμβαίνει δὲ τοῖς μὲν [τὸ] βουλητὸν τἀγαθὸν λέγουσι μὴ εἶναι βουλητὸν ὃ βούλεται ὁ μὴ ὀρθῶς αἱρούμενος (εἰ γὰρ 12

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Die Phänomenologie des Wunsches, die Aristoteles hiermit vorlegt, hebt zwei besondere und miteinander zusammenhängende Aspekte hervor, bei denen es klar ist, dass das, was der Akteur begehrt bzw. erstrebt, nicht mit dem wahren sittlichen Gut übereinstimmt. Einerseits kann behauptet werden, dass manche Akteure sich nach ihren unmittelbaren Wünschen richten, ohne vorab überlegt zu haben, ob das, was von ihnen spontan angestrebt wird, tatsächlich gut ist. Sie verleihen ihren Volitionen die Richtschnur bezüglich der Frage, was hic et nunc gemacht werden muss, aber dabei gehen sie unbemerkt ein großes Risiko ein, nämlich sich in ihren Bestrebungen zu täuschen. Verschiedenen spontanen Wünschen, die bei einem unüberlegten Akteur anzutreffen sind, wären vom Standpunkt einer sorgfältigen Reflexion aus keineswegs nachzugehen, aber ein so gearteter Mensch kann aufgrund seiner schlechten Haltungen selbstverständlich nicht zu dieser Sichtweise gelangen. Mit Hinblick auf Akteure, die sich nach dem richten, was ihnen als gut erscheint – d. h. nach dem, was sie durch ihre eigenen fehlerhaften Maßstäbe als gut erklären –, kann andererseits gesagt werden, dass sie zwar reflexiver sind; allerdings bedienen sie sich ihrer praktischen Vernunft auf eine schlechte Art und Weise, denn sie verfügen nicht über die objektiven Wertstandards, um das Angebrachte in jeder Praxissituation zu bestimmen. Daher sind die Konzeptionen und Vorstellungen, die sie mit Hinblick auf ein gutes Lebens für wahr halten, durchaus falsch und führen letztlich zu einem verwerflichen Verhalten, dessen Ergebnis das schlechteste mögliche Leben bzw. die kakodaimonia ist. Die Kriterien, über die solche Menschen verfügen, um mit Hinblick auf die Praxis zu überlegen, sind die Gegenteile derjenigen eines spoudaios bzw. eines phronimos, dem sich das Wahre in allen Einzelfällen zeigt. Im Kontext dieser Bemerkungen im dritten Buch der NE zieht Aristoteles einen Vergleich, der diesen Kontrast besonders trefflich veranschaulicht: Für den guten Menschen wäre es dann das [das Gute; E. C.], was in Wahrheit Gegenstand des Wünschens ist, für den Schlechten etwas Beliebiges, ebenso wie im physischen Bereich für Körper in guter Verfassung diejeni-

ἔσται βουλητόν, καὶ ἀγαθόν· ἦν δ’, εἰ οὕτως ἔτυχε, κακόν), τοῖς δ’ αὖ τὸ φαινόμενον ἀγαθὸν βουλητὸν λέγουσι μὴ εἶναι φύσει βουλητόν, ἀλλ’ ἑκάστῳ τὸ δοκοῦν· ἄλλο δ’ ἄλλῳ φαίνεται, καὶ εἰ οὕτως ἔτυχε, τἀναντία (NE III 6, 1113a15–22). Ethos und Praxis

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gen Dinge gesund sind, die wahrhaft gesund sind, für die kranken Körper aber andere Dinge – und dasselbe gilt für bitter, süß, warm, schwer usw.« 14

Obwohl sich die Schlechten ihres Intellekts bedienen, um das zu tun, was sie für richtig halten, irren sie sich, denn die schlechten Haltungen, die sie erworben haben, hindern sie letztlich daran, Wert auf die wahren Güter zu legen und nach ihnen zu streben. Deshalb ähneln sie den Menschen, die aufgrund einer Krankheit die eigentliche Beschaffenheit unterschiedlicher physischer Gegenstände falsch beurteilen. Dahingegen ist der spoudaios derjenige, der der Analogie zufolge sittlich gesund ist und die wahren sittlichen Güter schlechthin (ta haplōs agatha) aufgrund seines vortrefflichen seelischen Zustandes richtig zu erkennen vermag (siehe NE III 6, 1113a29–1113b1; Pol. VII 13, 1332a19–25). Die persönliche Tragödie des Zügellosen besteht eben darin, dass sein innerlicher Zustand so verdorben ist, dass er nicht nachvollziehen kann, dass seine Lebensführung die schlechteste ist und seine sittlichen Vorstellungen durchaus falsch sind. Die folgende Passage, die auch einen medizinischen Vergleich einführt, bringt diesen Aspekt seiner Beschaffenheit zum Ausdruck: Es gleicht nämlich das Laster Krankheiten wie der Wassersucht oder der Schwindsucht, die Unbeherrschtheit dagegen epileptischen Anfällen. Denn die eine [die Unmäßigkeit; E. C.] ist eine ständige vorhandene Schlechtigkeit, die andere [die Unbeherrschtheit; E. C.] eine nicht ständig vorhandene. Überhaupt gehören Unbeherrschtheit und Schlechtigkeit zu verschiedenen Gattungen. Denn die Schlechtigkeit bleibt unbemerkt, die Unbeherrschtheit hingegen nicht. 15

Im Unterschied zum akratēs, der gegen sein besseres Wissen handelt und sich seiner sittlichen Kondition bewusst ist, hält sich der akolastos an seinen falschen Meinungen fest, ohne jemals zu der Einsicht gelangen zu können, dass seine Taten unvermeidlich zum unglücklichsten Leben führen. Die nicht ständig vorhandene Schlechtigkeit, τῷ μὲν οὖν σπουδαίῳ τὸ κατ’ ἀλήθειαν εἶναι, τῷ δὲ φαύλῳ τὸ τυχόν, ὥσπερ καὶ ἐπὶ τῶν σωμάτων τοῖς μὲν εὖ διακειμένοις ὑγιεινά ἐστι τὰ κατ’ ἀλήθειαν τοιαῦτα ὄντα, τοῖς δ’ ἐπινόσοις ἕτερα, ὁμοίως δὲ καὶ πικρὰ καὶ γλυκέα καὶ θερμὰ καὶ βαρέα καὶ τῶν ἄλλων ἕκαστα (NE III 6, 1113a25–29). 15 ἔοικε γὰρ ἡ μὲν μοχθηρία τῶν νοσημάτων οἷον ὑδέρῳ καὶ φθίσει, ἡ δ’ ἀκρασία τοῖς ἐπιληπτικοῖς· ἣ μὲν γὰρ συνεχὴς ἣ δ’ οὐ συνεχὴς πονηρία. καὶ ὅλως δ’ ἕτερον τὸ γένος ἀκρασίας καὶ κακίας· ἡ μὲν γὰρ κακία λανθάνει, ἡ δ’ ἀκρασία οὐ λανθάνει (NE VII 9, 1150b32–36). 14

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von welcher hier in Bezug auf den akratēs gesprochen wird, deutet darauf hin, dass ein so gearteter Mensch im Prinzip einsehen kann, was in diesem oder jenem Praxiskontext gemacht werden soll, obwohl er nicht seiner Urteile gemäß agieren kann, wenn es darauf ankommt, hic et nunc eine Handlung durchzuführen. In seinem Fall ist klar, dass ihm ein objektiver Standpunkt noch zugänglich ist, aus welchem er die Situationen des sittlichen Handelns richtig beurteilen kann, selbst wenn dieses Wissen nicht in die eupraxia mündet. Der akolastos bleibt in seinen Überzeugungen befangen, was natürlich dazu führt, dass er als ein verwerflicher Charakter angesehen werden muss. Die Position, die Aristoteles bezüglich lasterhaften Handelns vertritt, lässt sich klarerweise auf die sokratische Ethik zurückführen, und zwar auf das Prinzip, dass niemand freiwillig Schlechtes tut (siehe Protagoras 345d; Gorgias 509e). In Übereinstimmung mit Sokrates glaubt Aristoteles, dass das sittlich Böse sich nicht als solches den lasterhaften Menschen offenbart, sondern immer auf eine gewisse Weise in Ansehung des Guten – was später in der philosophischen Tradition als sub specie boni bzw. sub ratione boni bezeichnet wurde –, obwohl es ein scheinbares ist. 16 Dass dieses Motiv die sokratische Ethik entscheidend prägt, wird von verschiedenen Kommentatoren wie Stemmer (1985), Mele (1992) und Spitzley (1992) einstimmig anerkannt. Ein paradigmatischer Text, in welchem dies zum Tragen kommt, ist der Gorgias – ein Dialog, der zwar normalerweise nicht zu den sogenannten sokratischen Dialogen gezählt wird, der aber diesen wichtigen sokratischen Gedanken ebenfalls zum Ausdruck bringt –, in welchem Sokrates sich es u. a. zur Aufgabe macht, Polos und Kallikles zu zeigen, dass es etwas Gutes für einen Akteur ist, widerlegt zu werden, wenn er im Unrecht ist und falsche Überzeugungen vom guten Leben hat. Durch die Widerlegung in einem offenen Gespräch kann man zur Einsicht gelangen, dass man falsche Ideale angenommen hat und sein eigenes Leben anders führen soll, aber ein schlechter Mensch tut alles in seiner Macht, um zu verhindern, eine fremde sittliche Anweisung zu bekommen, wobei er weiter darauf beharrt, dass er die Wahrheit besitze. Einer der Hauptvorwürfe, der gegen die Sophisten von Sokrates und Platon erhoben wird, ist, dass sie mittels ihrer falschen Kunst bewirken, dass die Menschen die Gespräche als bloße Streitspiele begreifen, in denen es bloß darauf ankommt, die eigene Sichtweise geltend zu machen. Aber das, was objektiv betrachtet das Schlimmste für die Menschen wäre, die falscherweise die Wahrheit zu besitzen beanspruchen, wäre im Grunde, nicht widerlegt zu werden und in denselben falschen Vorstellungen befangen zu bleiben (siehe Gorgias 505e–506e). Dasselbe gilt es in Bezug auf den Tyrannen festzustellen, den Polos zu rechtfertigen versucht. Für Polos ist der Tyrann derjenige Mensch, der am glücklichsten ist, weil er imstande ist, seinen Willen gegen alle anderen zu behaupten. Dagegen erwidert jedoch Sokrates zu Recht, dass für solch einen Menschen eine große Gefahr bestehe, und zwar, dass er sich selbst einen großen Schaden zufüge, ohne dass er von jemandem dazu gebracht werden

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Der Tugendhafte und der Zügellose sind entgegengesetzte Charaktere, die sich durch ihre Haltungen, sittlichen Vorstellungen und ihre Lebensweise voneinander unterscheiden. Diese Verschiedenheit ihrer ēthē kommt auf eine prägnante Weise zum Ausdruck durch das seelische Phänomen, dem wir im letzten Kapitel unsere Aufmerksamkeit geschenkt haben, nämlich der prohairesis. Dass dem tugendhaften Handeln eine prohairesis zugrunde liegen muss, liegt durch unsere vorherigen Betrachtungen auf der Hand. Interessanterweise ist aber festzustellen, dass dem lasterhaften Handeln auch die prohairesis innewohnt, wie die folgende Textstelle belegt: Sie haben mit denselben Gegenständen zu tun, allerdings nicht auf dieselbe Weise; vielmehr haben die einen einen Vorsatz, die anderen nicht. Daher würden wir eher denjenigen unmäßig nennen, der ohne Begierde oder mit schwacher Begierde das Übermaß sucht und mäßige Unlust meidet, als einen, der dies aufgrund einer heftigen Begierde tut. Denn was würde jener erst tun, wenn er zusätzlich eine lebhafte Begierde und einen starken Schmerz über den Mangel an notwendigen Dingen hätte? 17 kann – sei es mittels eines vernünftigen Dialogs oder einer Strafe –, seine sittlichen Fehler zur Kenntnis zu nehmen (siehe Gorgias 466a–474b). Dass es etwas Positives ist, durch die Anweisung von anderen die eigenen Fehler zu erkennen, ist eine der wichtigsten Thesen, die Sokrates im Dialog vertritt, denn eine Strafe zu bekommen, wenn man lasterhaft ist, kann etwas äußerst Positives zur sittlichen Lebensführung des fraglichen Akteurs beitragen. Wie Kobusch bemerkt: »Denn was für den Körper Schwäche, Krankheit und Hässlichkeit, das ist für die Seele der Unverstand, die Feigheit und überhaupt der Mangel an jeglicher Tugend. Wie aber die Medizin als die von der Krankheit befreiende Kunst das für den Körper zwar nicht Angenehme, aber doch Nützliche ist, so befreit die Strafe von der Schlechtigkeit der Seele, die in der Unordnung ihrer Teile besteht. Der ordentliche Zustand der Seele macht aber zugleich das Glück des Menschen aus. Daher ist die Strafe, die vom moralischen Übel befreit, zugleich auch konstitutiv für das Glück des Menschen« (Kobusch 2011, S. 332). Die sokratische These bezüglich der selbst verbergenden Natur der Laster wird m. E. von Aristoteles als richtig aufgefasst und in seine praktische Philosophie aufgenommen, wie sich anhand seiner Charakterisierung der Laster und der von ihm vertretenen Auffassung hinsichtlich der Strafen, die für die Verbesserung der schlecht gearteten Bürger in die polis eingeführt werden müssen (siehe NE X 10, 1179b10 ff.; Pol. VII 13, 1332a10–18), sehen lässt. 17 οἳ δ’ εἰσὶ μὲν περὶ ταὐτά, ἀλλ’ οὐχ ὡσαύτως εἰσίν, ἀλλ’ οἳ μὲν προαιροῦνται οἳ δ’ οὐ προαιροῦνται. διὸ μᾶλλον ἀκόλαστον ἂν εἴποιμεν ὅστις μὴ ἐπιθυμῶν ἢ ἠρέμα διώκει τὰς ὑπερβολὰς καὶ φεύγει μετρίας λύπας, ἢ τοῦτον ὅστις διὰ τὸ ἐπιθυμεῖν σφόδρα· τί γὰρ ἂν ἐκεῖνος ποιήσειεν, εἰ προσγένοιτο ἐπιθυμία νεανικὴ καὶ περὶ τὰς τῶν ἀναγκαίων ἐνδείας λύπη ἰσχυρά; (NE VII 6, 1148a16–22). Siehe auch die folgende Passage: »Dass nun die Unbeherrschtheit kein Laster ist, ist offensichtlich (in gewissem Sinn allerdings ist sie es vielleicht). Denn das eine [das unbeherrschte Handeln; E. C.] ist gegen den Vorsatz, während das andere [die Hand-

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Diese Passage hebt hervor, dass sich der Zügellose schlechte Handlungen vornimmt, selbst wenn keine starken Affekte ihn dazu bringen, das zu tun. Im Gegensatz zu dem akratēs, der vergeblich Widerstand gegen starke Begierden leistet und letztlich durch sie dazu getrieben wird, schlechtes Handeln an den Tag zu legen, fasst der Zügellose willentlich den Vorsatz, dasselbe zu tun, unabhängig vom »Zwang« schlechter Leidenschaften. Dass er gemäß solch einer prohairesis handelt, ist dadurch zu erklären, dass seine sittlichen Dispositionen so verdorben sind, dass er in jeder Praxissituation das Richtige zu tun glaubt, und zwar ohne die Tatsache einzusehen, dass er in der Tat einen sittlichen Fehler begeht und das Angebrachte verfehlt. Es könnte sogar behauptet werden, dass es der Zügellose auf eine gewisse Weise genießt, lasterhaft zu handeln, was erklärt, dass er auch in anderen Handlungskontexten nach den scheinbaren Gütern strebt. Es ist allerdings klar, dass, wenn man sich an schlechten Dingen erfreuen kann, dies keineswegs rechtfertigt, nach diesen Dingen zu trachten. Obwohl die scheinbaren Güter nur einen transitorischen Genuss versprechen können, liegt es auf der Hand, dass diese Lüste in direktem Widerspruch mit den grundlegenden Merkmalen eines guten Lebens stehen. Deswegen ist es umso verwerflicher, dass diese Akteure gemäß einem überlegten Vorsatz handeln, denn das bedeutet kurzum, dass sowohl ihr Charakter als auch ihre praktische Vernunft verdorben sind. Die prohaireseis eines tugendhaften und eines lasterhaften Mensch stellen demzufolge entgegengesetzte Extreme dar, die die innere Beschaffenheit dieser radikal andersgearteten Menschen deutlich offenbaren; und gerade durch die angemessene Charakterisierung dieser Handlungsakteure versucht Aristoteles in seiner praktischen Philosophie, die vorbildliche Natur des ersteren und die verfehlte Lebensform des letzteren in den Vordergrund zu stellen. Diese zwei paradigmatischen Handlungsakteure veranschaulichen klarerweise durch ihr Verhalten das, was in jedem Fall angestrebt bzw. vermieden werden muss, und dieses Wissen erweist sich von großem Belang für all diejenigen, die ein sittliches Leben führen wollen.

lung des Lasters; E. C.] dem Vorsatz entspricht. Und doch sind sie de facto dem Handeln nach gleich« (ὅτι μὲν οὖν κακία ἡ ἀκρασία οὐκ ἔστι, φανερόν (ἀλλὰ πῇ ἴσως)· τὸ μὲν γὰρ παρὰ προαίρεσιν τὸ δὲ κατὰ τὴν προαίρεσίν ἐστιν· οὐ μὴν ἀλλ’ ὅμοιόν γε κατὰ τὰς πράξεις) (NE VII 9, 1151a5–8). Ethos und Praxis

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6.4 Der beherrschte und der unbeherrschte Charakter Der enkratēs und der akratēs sind ein anderes charakterliches Gegensatzpaar, das Aristoteles im siebten Buch untersucht. Sie sind die Charaktere, die er dort am ausführlichsten behandelt, was sich großenteils dadurch begreifen lässt, dass das Phänomen der Unbeherrschtheit ein höchst paradoxer Fall ist, der verschiedene theoretische Bemühungen erfordert, um aufgeklärt werden zu können, wobei es für diese Aufgabe oftmals notwendig ist, erklärende Vergleiche mit der gegensätzlichen Disposition zu ziehen, nämlich mit der Beherrschtheit. Aufgrund der Grenzen der vorliegenden Studie ist es nicht möglich, eine ausführliche Rekonstruktion der Unbeherrschtheit bzw. der Beherrschtheit zu unternehmen. 18 Stattdessen werden im Folgenden nur einige Betrachtungen bezüglich der eigentümlichen Merkmale der Charaktertypen angestellt, denen diese Dispositionen innewohnen, und zwar mit dem Ziel, einerseits die allgemeine Verfasstheit ihres inneren seelischen Zustandes darzustellen und andererseits den Weg für die Diskussion zu bahnen, mit welcher wir uns im nächsten Teil unserer Untersuchung beschäftigen werden; nämlich ob Aristoteles zufolge für einen erwachsenen Menschen die Möglichkeit besteht, seinen sittlichen Charakter zu verbessern. 19 Laut Aristoteles ist der Unbeherrschte, wie schon angemerkt wurde, jemand, der in sittlicher Hinsicht beträchtlich besser als der Zügellose ist. Im Gegensatz zum akolastos ist der akratēs imstande, treffliche sittliche Urteile zu fassen und den Handlungskurs zu bestimmen, der eingeschlagen werden soll. Sein Problem besteht allerdings darin, dass er bei der Handlungsausführung gegen sein besseres Wissen agiert und letztlich einen sittlichen Fehler begeht. Es handelt sich dabei um einen Fall praktischer Unvernünftigkeit, der von einem externen Standpunkt aus äußerst paradox zu sein scheint, denn wie kann es möglich sein, dass jemand genau das Gegenteil von dem tut, was er für richtig hält? Bekanntlich hat Sokrates die Möglichkeit abgelehnt, dass sich so etwas zutragen könnte. Im Umriss kann seine Position diesbezüglich in folgender Weise zusammengefasst werden: Für ausführlichere Behandlungen der akrasia siehe Wiggins (1980), Rorty (1980), Timmermann (2008) und Charles (2009). 19 Gewisse wichtige Charakteristika der Figuren des Beherrschten und des Unbeherrschten werden im Rahmen der Erörterung dieser Frage ausführlicher angesprochen werden; deshalb kann die nun anzuführende Darstellung dieser Charaktere teilweise auch als eine Einleitung in diese weitere Problemstellung angesehen werden. 18

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Für den Lehrer Platons waren die Fälle des sittlichen Verfehlens dadurch zu erklären, dass die Menschen, die solches Handeln aufweisen, ignorant hinsichtlich der Frage sind, was das Gute bzw. die Tugend sei. Obwohl sie meinen können, es zu wissen, sind sie im Grunde nicht imstande, Rechenschaft von ihren sittlichen Vorstellungen abzulegen, wie die frühen platonischen Dialoge in Anbetracht der Figuren, die durch Sokrates’ Befragungen in Aporien geraten, zeigen. Nur diejenigen, die über ein gründliches bzw. fundiertes Wissen über die menschliche Tugend verfügen, sind Sokrates zufolge als treffliche Akteure zu betrachten, die im Einklang mit ihren Überzeugungen ein gutes sittliches Verhalten an den Tag legen. 20 Es ist zweifelsohne klar, dass die sokratische Position von einem theoretischen Standpunkt aus konsistent wirkt. Allerdings ist genauso offensichtlich, dass sie äußerst kontraintuitiv ist und verschiedenen alltäglichen Erfahrungen nicht gerecht zu werden scheint. Trotz der Tatsache, dass jemand einen sittlichen Fehler bezüglich dieser oder jener Sache begehen kann, halten wir solch einen Menschen in der Regel nicht für einen Ignoranten, der aufgrund eines beträchtlichen Mangels an Wissen schlechte Handlungskurse einzuschlagen pflegt. Wenn es sich um einen Erwachsenen handelt, der solch ein Verhalten aufweist, nehmen wir an, dass er über ein gewisses Wissen darüber verfügen muss, was gemacht werden soll, selbst wenn er dieses Wissen im Augenblick des Handelns aus dem einen oder anderen Grund nicht berücksichtigt. Es ist gerade die besondere Art und Weise, wie sich so etwas zutragen kann, was Aristoteles sich zu erklären vornimmt; denn er ist der Ansicht, dass es Menschen gibt, die aufgrund einer besonderen seelischen Verfasstheit tatsächlich nicht in der Lage sind, in Übereinstimmung mit ihren richtigen Überzeugungen, Meinungen und Vorstellungen zu handeln. Mit Hinblick auf diesen konkreten Punkt muss demzufolge gesagt werden, dass Aristoteles explizit versucht, Abstand vom sokratischen Ansatz zu nehmen, selbst wenn er in anderer Hinsicht mit Sokrates übereinstimmt und Die folgende Passage fasst das Wesentliche der sokratischen Position zusammen: »Denn für meine Person bin ich so ziemlich davon überzeugt, dass von den Weisen niemand der Ansicht ist, irgend ein Mensch begehe freiwillig einen Fehler oder tue freiwillig Schimpfliches und Schlechtes, sondern sie wissen genau, dass alle, die das Schimpfliche und das Schlechte tun, es unfreiwillig tun« (ἐγὼ γὰρ σχεδόν τι οἶμαι τοῦτο, ὅτι οὐδεὶς τῶν σοφῶν ἀνδρῶν ἡγεῖται οὐδένα ἀνθρώπων ἑκόντα ἐξαμαρτάνειν οὐδὲ αἰσχρά τε καὶ κακὰ ἑκόντα ἐργάζεσθαι, ἀλλ’ εὖ ἴσασιν ὅτι πάντες οἱ τὰ αἰσχρὰ καὶ τὰ κακὰ ποιοῦντες ἄκοντες ποιοῦσιν) (Protagoras 345d–e).

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seine Thesen positiv aufnimmt, wie wir klarerweise in seiner Behandlung der selbst verbergenden Natur der Laster gesehen haben. Die aristotelische Strategie um dieses Phänomen zu erklären, besteht im Grunde darin, zu zeigen, dass der unbeherrschte Handelnde sein Wissen im Augenblick der Handlungsausführung nicht aktualisiert. 21 Beispielsweise kann es der Fall sein, dass er zwar über ein eher allgemeines Wissen verfügt hinsichtlich dessen, was gemacht werden muss bzw. was gut ist, aber dass er nicht in der Lage ist zu erkennen, dass er sein Wissen in der besonderen Praxissituation, mit welcher er konfrontiert ist, anwenden soll (siehe NE VII 5, 1147a1–3). Eine andere denkbare Situation wäre, dass die Allgemeinheit des ihm verfügbaren Wissens dazu führt, dass er nicht erkennen kann, dass sich dieses tatsächlich auf ihn bezieht (siehe NE VII 5, 1147a4–9), wie z. B. bei einer abstrakten Lebensmaxime, die er im Großen und Ganzen für richtig hält, aber von welcher er nicht angesprochen zu werden glaubt. Entsprechend verfehlt er in einem besonderen Zusammenhang, das zu tun, was er möglicherweise in Bezug auf andere Szenarien und andere Menschen für angebracht halten würde. In beiden Situationen ist aber offensichtlich, dass er das Allgemeine und das Besondere seines Wissens nicht adäquat in Verbindung setzen kann, sodass er im Sinne seiner Überzeugungen handeln kann. Es gelingt einem derartigen Akteur nicht, seine allgemeinen und besonderen Einstellungen so aufzufassen, dass das, was aus ihrer Zusammensetzung entsteht, zur Ausführung einer mit seinen Überzeugungen übereinstimmenden Handlung führt. Daher kann gesagt werden, dass seine Überzeugungen und Wünsche nicht in dem Verhältnis zueinander stehen, das erforderlich ist, um im Sinne derselben zu agieren. Der begriffliche Rekurs, den Aristoteles durchführt, um dieses Verhältnis zwischen Überzeugungen und Wünschen zu rekonstruieren bzw. das Phänomen der akrasia zu behandeln, ist der sogenannte praktische Syllogismus. Der praktische Syllogismus ist zweifelsohne eines der Themen, die in der Aristoteles-Forschung am umstrittensten sind – u. a. weil Aristoteles von diesem Syllogismus Gebrauch

Die Diskussion, die ich im Folgenden unternehmen werde, bezieht sich auf die akrasia in ihrer konventionellen Form. D. h., dass ich mich hier nicht mit der besonderen akrasia auseinandersetzen werde, die Aristoteles zufolge gewisse Handelnde nur in Bezug auf Zorn bzw. Ehre empfinden (siehe NE VII 6, 1148a23 ff.). Darüber werde ich im nächsten Teil des vorliegenden Kapitels noch sprechen.

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macht, um sowohl die menschliche Praxis als auch die Ortsbewegungen von Tieren zu erklären –, 22 aber folgende wesentliche Merkmale lassen sich m. E. an ihm festmachen. Er unterscheidet sich vom theoretischen Syllogismus dadurch, dass das, was in ihm von der Seele bejaht oder verneint wird, nicht die Wahrheit gewisser Aussagen ist, sondern das Tun oder das Unterlassen einer Handlung. Seine Prämissen beziehen sich nicht auf reine Aussagen der Wissenschaft bzw. theoretische Beschreibungen eines gewissen Sachverhalts, sondern auf kognitive und volitionale Einstellungen, welche Auswirkungen im eigenen Handeln haben können. Ein anderer beträchtlicher Unterschied, der für unsere Diskussion besonders relevant ist, besteht darin, dass im theoretischen Syllogismus nur dann aus zwei Prämissen keine Schlussfolgerung gezogen werden kann, wenn sie keinen Mittelbegriff (terminus medius) teilen und dies damit den einzigen Hinderungsgrund darstellt, wohingegen es im praktischen Syllogismus auch denkbar ist, dass eine Schlussfolgerung aus zwei einen Mittelbegriff teilenden Prämissen nicht gezogen wird, wenn der Handelnde sie nicht in einer eindeutigen Hinsicht für wahr hält oder nicht in der Lage ist, sie zueinander ins richtige Verhältnis zu bringen. Der Hauptgrund, warum ein Akteur nicht imstande ist, dies zu tun, besteht darin, dass Leidenschaften oder Lüste sein Urteil trüben und ihn dazu bringen, das Gegenteil von dem zu tun, was er für gut bzw. richtig hält. In diesem Sinne schreibt Aristoteles Folgendes: Denn falls wir Wissen haben und dennoch nicht anwenden, sehen wir, dass das Haben etwas ganz anderes wird, sodass man in solchen Fällen auf gewisse Weise Wissen hat und auch nicht hat, zum Beispiel beim Schlafenden, Wahnsinnigen oder Betrunkenen. Gerade in einer solchen Verfassung sind aber diejenigen, die sich in Affekten befinden. Denn Zornesausbrüche, sexuelle Begierden und manches dieser Art verändern offensichtlich auch die körperliche Verfassung, und in einigen Menschen bewirken sie sogar Schübe von Wahn. Man muss also offenbar sagen, dass sich die Unbeherrschten in einer ähnlichen Verfassung befinden wie diese. Dass sie Sätze sagen, die aus Wissen hervorgehen, beweist gar nichts. Denn auch diejenigen, die sich in den Affekten befinden, sagen mathematische Beweise oder Verse des Empedokles auf. 23

Wichtige neuere Beiträge zu diesem Thema, die jeweils ganz unterschiedliche Interpretationen vertreten, sind diejenigen von Crubellier (2004), Morel (2008), Corcilius (2008a, 2008b) und Grandjean (2009). 23 ἔτι τὸ ἔχειν τὴν ἐπιστήμην ἄλλον τρόπον τῶν νῦν ῥηθέντων ὑπάρχει τοῖς ἀνθρώποις· ἐν τῷ γὰρ ἔχειν μὲν μὴ χρῆσθαι δὲ διαφέρουσαν ὁρῶμεν τὴν ἕξιν, ὥστε 22

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Laut dieser Passage ist es möglich, die Unbeherrschten als Menschen aufzufassen, die in Zustände geraten können, in denen es für sie nicht mehr möglich ist, im echten Sinn des Wortes vernünftig zu sein. Es ist eindeutig nicht der Fall, dass sie in solchen Zuständen überhaupt keine Vernunft besitzen. Vielmehr kann man über diese Menschen sagen, dass der normale Gebrauch ihrer vernünftigen Vermögen durch den Einfluss eines starken Affektes bzw. einer starken Leidenschaft sehr beeinträchtigt wird. Deshalb kann man schlussfolgern, dass, selbst wenn sie in solch einem Zustand das zu wissen beanspruchen, was getan werden muss, diese Aussagen nicht das darstellen, was ihre Seele tatsächlich bejaht oder verneint in Bezug auf die fraglichen Dinge. Die aristotelische These, dass diese Menschen Wissen haben und nicht haben, wird verständlich, wenn man darauf achtet, dass das Wissen, von welchem hier die Rede ist, nicht aktualisiert wird und nur oberflächlich auftritt. Ein Mensch, der z. B. in Bezug auf Alkohol unbeherrscht ist, kann unter gewöhnlichen Umständen gründlich einsehen, dass der exzessive Alkoholkonsum schädliche Wirkungen auf die Gesundheit hat – der fragliche Mensch könnte sogar jemand sein, der die schädlichen Wirkungen des Alkohols wissenschaftlich erforscht –, aber gerade in dem Augenblick, in dem er die Gelegenheit hat, seinem Wunsch nachzugehen, Alkohol zu trinken, legt er einen größeren Wert auf den vorliegenden Genuss und lässt andere Betrachtungen unberücksichtigt, und zwar so, dass er letztlich viel mehr Alkohol zu sich nimmt, als er soll. Selbstverständlich kann es bei ihm der Fall sein – obwohl es wenig plausibel zu sein scheint –, dass sein Wissen über die Schädlichkeit des Alkohols so abstrakt ist, dass er nicht von ihm angesprochen zu werden glaubt, oder dass er hic et nunc unfähig ist zu erkennen, dass es sich um eine relevante Anwendungssituation handelt, in der sein Wissen zum Ausdruck kommen sollte. Aber etwas Komplexeres, das sich zutragen kann – was Aristoteles auch richtig erkannt hat –, besteht darin, dass er einen anderen Syllogismus fasst und ihm gemäß handelt, und zwar tut er das, weil der Antrieb καὶ ἔχειν πως καὶ μὴ ἔχειν, οἷον τὸν καθεύδοντα καὶ μαινόμενον καὶ οἰνωμένον. ἀλλὰ μὴν οὕτω διατίθενται οἵ γε ἐν τοῖς πάθεσιν ὄντες· θυμοὶ γὰρ καὶ ἐπιθυμίαι ἀφροδισίων καὶ ἔνια τῶν τοιούτων ἐπιδήλως καὶ τὸ σῶμα μεθιστᾶσιν, ἐνίοις δὲ καὶ μανίας ποιοῦσιν. δῆλον οὖν ὅτι ὁμοίως ἔχειν λεκτέον τοὺς ἀκρατεῖς τούτοις. τὸ δὲ λέγειν τοὺς λόγους τοὺς ἀπὸ τῆς ἐπιστήμης οὐδὲν σημεῖον· καὶ γὰρ οἱ ἐν τοῖς πάθεσι τούτοις ὄντες ἀποδείξεις καὶ ἔπη λέγουσιν Ἐμπεδοκλέους (NE VII 5, 1147a10–20).

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Alkohol zu trinken sowohl die allgemeine Prämisse als auch die besondere Prämisse bezüglich der Schädlichkeit des Alkohols außer Kraft setzt. 24 Selbst wenn der fragliche Mensch beide Prämissen bezüglich der Schädlichkeit des Alkohols fassen kann, behauptet seine Seele nicht, dass Alkohol im Übermaß vermieden werden muss, sondern das Gegenteil, d. i., dass er dieser Lust nachgehen soll, und zwar Siehe in dieser Hinsicht die folgende Passage: »Wenn also eine allgemeine Meinung in der Seele vorhanden ist, die das Genießen verbietet, und eine andere, dass alles Süße angenehm ist, dies hier aber süß ist (und diese Meinung in Betätigung ist), und wenn nun gerade eine Begierde in der Seele vorhanden ist, dann sagt die eine [Meinung; E. C.], man solle dies fliehen, die Begierde aber treibt an; denn sie kann jeden Körperteil bewegen. Daher ergibt sich, dass man auf gewisse Weise durch Überlegung und Meinung unbeherrscht sein kann, und zwar durch eine Meinung, die nicht als solche der richtigen Überlegung entgegengesetzt ist, sondern akzidentell – denn entgegengesetzt ist ihr die Begierde, nicht die Meinung« (ὅταν οὖν ἡ μὲν καθόλου ἐνῇ κωλύουσα γεύεσθαι, ἣ δέ, ὅτι πᾶν γλυκὺ ἡδύ, τουτὶ δὲ γλυκύ (αὕτη δὲ ἐνεργεῖ), τύχῃ δ’ ἐπιθυμία ἐνοῦσα, ἣ μὲν οὖν λέγει φεύγειν τοῦτο, ἡ δ’ ἐπιθυμία ἄγει· κινεῖν γὰρ ἕκαστον δύναται τῶν μορίων· ὥστε συμβαίνει ὑπὸ λόγου πως καὶ δόξης ἀκρατεύεσθαι, οὐκ ἐναντίας δὲ καθ’ αὑτήν, ἀλλὰ κατὰ συμβεβηκός – ἡ γὰρ ἐπιθυμία ἐναντία, ἀλλ’ οὐχ ἡ δόξα – τῷ ὀρθῷ λόγῳ) (NE VII 5, 1147a31– 1147b3). Die Begierde, von welcher hier die Rede ist, kann als eine propositionale Einstellung rekonstruiert werden, die als die praemissa maior in dem Syllogismus gilt, aufgrund derer der Handelnde tatsächlich zustimmt, das Süße zu kosten. Die Passage macht deutlich, dass diese praemissa maior nicht so aufzufassen ist, als ob sie in einem rein logischen Widerspruch zu der praemissa maior des anfänglichen Syllogismus stehen würde. Nur insofern die schlechte Begierde sich in die Form einer Prämisse auffassen lässt, aufgrund derer der Akteur seiner Überlegung zuwider handeln könnte, kann behauptet werden, dass sie der praemissa maior entgegengesetzt ist, die ein Bestandteil seiner anfänglichen Überlegung ist. Ursula Wolf zieht in Zweifel, dass ein zweiter Syllogismus vorausgesetzt wird. Dazu schreibt sie Folgendes: »Das kann aber nicht gemeint sein, denn dann wäre der Unbeherrschte jemand, der explizit zwischen der vernunftgemäßen und der von der Begierde gewünschten Handlung entscheidet und die letztere vorsätzlich tut. Wer vorsätzlich der Begierde folgt, also nach dem Prinzip der Lust handelt, ist jedoch nicht der Unbeherrschte, sondern der Unmäßige, der die kakia im Bereich der sinnlichen Lust hat« (Wolf 2007, S. 176). Ihre Kritik scheint mir allerdings nicht gerechtfertigt zu sein, denn sie setzt den Vorsatz bzw. die prohairesis eines Akteurs mit jeglicher Inferenz gleich, aufgrund derer er handeln könnte. D. h., dass die prohairesis letzendlich von Wolf mit dem, was bloß willentlich (hekousion) ist, identifiziert wird, aber das wäre ein Interpretationsfehler, wie Donini in Bezug auf eine verwandte Diskussion bemerkt: »It [diese Identifizierung; E. C.] ends up removing the entire category of merely voluntary actions from the behavior of the virtuous or vicious person, and by attributing to agents always and only actions they have decided upon. This seems absurd in itself, and nothing in NE suggests that Aristotle meant to say that agents endowed with fully developed characters do not sometimes act only voluntarily, but always and only on the basis of decisions: the final chapter of NE III makes it absolu-

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weil er auch der festen Überzeugung ist, dass Alkohol lustbringend ist. Anders ausgedrückt: Ein unbeherrschter Mensch ist aufgrund gewisser Begierden oder Leidenschaften nicht imstande, die volitionale und kognitive Einheit zu erreichen, die die Überzeugungen und Ansichten, die er alles in allem für wahr halten würde, zum Ausdruck bringen. Er gibt sich verschiedene Praktiken hin, die er im Grunde vermeiden würde, wenn er sich einmal vom Einfluss gewisser Dinge, die seine Seele so oder so bewegen, befreien könnte. Dass dieser Akteur anders handeln würde, wenn die schlechten Motivationen keinen Einfluss auf ihn hätten, macht deutlich, dass er nicht nach seiner prohairesis agiert und dass er bereut, gegen sein besseres Wissen gehandelt zu haben. In dieser Hinsicht erweist sich die prohairesis wiederum als ein angebrachtes Kriterium, um zwei tely clear, rather, that according to Aristotle the distinction between voluntariness and decision holds firmly even for those agents who have a fixed character and fully consolidated moral habits« (Donini 2010, S. 85–86). Dass der Handelnde überlegt, dass etwas gut sei und einen Augenblick danach nichtsdestoweniger bestimmt – nicht vorsätzlich, sondern nur willentlich –, anders zu handeln, kann Aristoteles zufolge nur erklärt werden, insofern der Handelnde nicht vollständig vernünftig ist, d. h., dass er nicht mehr das berücksichtigt, was er vorab alles in allem für richtig erklärt hat. Dies bedeutet aber keineswegs, dass der Handelnde die Fähigkeit verliert, in seine Wünsche einzuwilligen. Ansonsten müsste man sagen – und dies ist die Konsequenz, auf welche die Interpretation Wolfs hinausläuft –, dass seine Begierden eine unwiderstehliche Kraft besitzen, aufgrund derer er gezwungen wird, so oder so zu handeln, was natürlich nicht der Fall sein kann; denn so könnte er nicht mehr als zurechnungsfähig angesehen werden und sein Handeln würde nicht sittlich verwerflich sein. Die Tatsache, dass er seinen schlechten Begierden zustimmt, um so oder so zu agieren, setzt voraus, dass er tatsächlich schlussfolgert, ihnen gemäß zu handeln, obwohl die daraus entstehende Handlung seiner vorherigen Überlegung zuwider ist. Die Lesart, der zufolge die aristotelische Analyse zwei Syllogismen voraussetzt, wurde unter modernen Kommentatoren erst von Santas (1969) geltend gemacht, aber sie lässt sich sogar auf Thomas von Aquin zurückverfolgen, der in Bezug auf die aristotelische Behandlung der akrasia Folgendes geschrieben hat: »Die Leidenschaft behindert dies gerade, dass jener, der Wissen hat im Allgemeinen, nicht regelrecht herabsteige zum Besonderen und so zum Schluss gelange. Vielmehr wird dann ein anderer allgemeiner Satz genommen, den die Leidenschaft an die Hand gibt; und mit dessen Hilfe kommt man zum Schluss. […] Die Leidenschaft nun bindet die Vernunft, dass diese nicht aus dem ersten Satze regelrecht weiter schließe; und während dieser erste Satz noch da ist, nimmt sie den zweiten und gelangt zum Schlusse« ([…] quod ille qui habet scientiam in universali, propter passionem impeditur ne possit sub illa universali sumere, et ad conclusionem pervenire, sed assumit sub alia universali, quam suggerit inclinatio passionis, et sub ea concludit. […] Passio igitur ligat rationem ne assumat et concludat sub prima, unde, ea durante, assumit et concludit sub secunda) (Summa Theologiae Ia–IIae, q. 77, a. 2 ad 4).

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Charaktere voneinander zu unterscheiden, diesmal den akratēs vom akolastos. Aus der Tatsache, dass der akratēs nicht gemäß seinem besseren Wissen agiert, geht hervor, dass er Bedauern empfindet (metamelētikos); denn er wollte nicht tun, was er getan hat (siehe NE VII 9, 1150b29–32). Die Beschreibung, die Aristoteles vorlegt, zeigt, dass der Unbeherrschte Widerstand gegen diese Affekte zu leisten versucht, obwohl er letztlich daran scheitert. Diese tiefe innere Spannung zwischen seinen Seelenteilen ist ein wesentliches Merkmal seines ēthos. Ein akolastos ist jemand, wie wir gesehen haben, der sich nicht dessen bewusst ist, dass sein Handeln schlecht ist. Ohne innere motivationale Konflikte zu empfinden, entscheidet er, schlecht zu handeln. Und es liegt auf der Hand, dass, wenn der akratēs genau dasselbe machen würde, er nicht vom akolastos zu unterscheiden wäre. Demzufolge kann festgehalten werden, dass die motivationalen Konflikte in der Seele des akratēs darauf hindeuten, dass seine innere Beschaffenheit nicht verdorben ist und immerhin für ihn die Möglichkeit besteht, seinen Charakter zu verbessern. Die innere seelische Spannung, von welcher wir gesprochen haben, ist auch ein kennzeichnendes Merkmal des anderen Charaktertyps, den es hier zu berücksichtigen gilt, nämlich den enkratēs. Der enkratēs empfindet auch Leidenschaften und Begierden, die in direktem Widerspruch zu seinem besten Wissen stehen. Der Hauptunterschied zwischen dem enkratēs und dem akratēs besteht allerdings darin, dass der erstere imstande ist, diesen unvernünftigen Motivationen zu widerstehen und im Sinne seiner Überzeugungen zu agieren. Seine Leidenschaften und Begierden – welche auch ziemlich stark und schlecht sind gemäß der von Aristoteles vorgelegten Beschreibung (siehe NE VII 3, 1146a10–15) – führen bei ihm zu einem inneren motivationalen Konflikt, der bewältigt werden muss. Die Menschen mit einem beherrschten Charakter tun zwar Richtiges – was für sich schon ein Grund ist, zu behaupten, dass sie lobenswert sind –, aber darum müssen sie sich bemühen und diverse Antriebe überwinden, die ansonsten zu verwerflichen Handlungen führen würden. Solch eine Aufgabe muss hingegen von einem spoudaios nicht bewältigt werden, denn er hat aufgrund seiner vortrefflichen Dispositionen die spontane Motivation nach dem Guten zu streben, und zwar ohne Anstrengungen jeglicher Art. Von einem externen Standpunkt aus kann gesagt werden, dass die Handlungen, die der spoudaios und der enkratēs durchführen, identisch sind. Für einen Beobachter gibt es kaum einen Unterschied in dem, was diese Akteure Ethos und Praxis

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in jedem Fall unternehmen. Jedoch gilt dieses Urteil keineswegs für die Art und Weise, auf welche diese Handelnden ihre eigenen Bestrebungen auffassen und auf die Idee kommen so zu agieren. Während der spoudaios beispielsweise eine gewisse Situation als eine Gelegenheit begreift, etwa die Tugend der Mäßigung auszuüben und ein gewisses Gut anzustreben, betrachtet der enkratēs dieselbe Situation als eine solche, die eine Art von Herausforderung für ihn darstellt, die es zu überwinden gilt. Obwohl es für ihn in der Theorie nicht schwierig festzustellen ist, was in dieser oder jener Situation getan werden muss, erweist sich für ihn die besondere Aufgabe, im Augenblick des Handelns gemäß seiner Überzeugungen zu agieren, als äußerst mühsam, und zwar geht er letztlich dieser Aufgabe nach, weil er der Ansicht ist, dass dieses Verhalten trefflich ist und besondere gute Konsequenzen nach sich zieht, und nicht etwa, weil er es als eine unerlässliche Voraussetzung bzw. einen Bestandteil seiner eudaimonia begreift. Die starke Spannung, die seiner Seele innewohnt, hat als Konsequenz, dass es für ihn nicht möglich ist, sich an seinen guten Handlungen zu erfreuen. Daraus folgt, dass er auf eine gewisse Weise unzufrieden ist, weil er seinen Begierden nicht nachgegangen ist. In dieser Hinsicht schreibt Aristoteles, dass »der Beherrschte sich mit Zwang – so wird behauptet – seiner Begierde zum Trotz, sich vom Genuss losreißt, denn es ist ihm ein schmerzliches Sich-losreißen gegen die Widerspenstigkeit der Strebung.« 25 Und wenige Zeilen später schreibt er auch: Übrigens ist auch Lust und Unlust in beiden [im Beherrschten und im Unbeherrschten; E. C.] anwesend, denn wer beherrscht ist, empfindet Unlust, indem er ja soeben gegen die Begierde handelt; und (andererseits) freut er sich erwartungsvoll, dass er später Nutzen haben werde oder dass er ihn soeben schon hat, da ihm seine Gesundheit weiterhin erhalten bleibt. 26 ὥσθ’ ὅ τ’ ἐγκρατὴς βίᾳ, φασίν, ἀφέλκει αὑτὸν ἀπὸ τῶν ἡδέων ἐπιθυμιῶν (ἀλγεῖ γὰρ ἀφέλκων πρὸς ἀντιτείνουσαν τὴν ὄρεξιν) (EE II 8, 1224a33–36) 26 ἔτι καὶ ἡδονὴ καὶ λύπη ἐν ἀμφοτέροις ἔνεστι. καὶ γὰρ ὁ ἐγκρατευόμενος λυπεῖται παρὰ τὴν ἐπιθυμίαν πράττων ἤδη, καὶ χαίρει τὴν ἀπ’ ἐλπίδος ἡδονήν, ὅτι ὕστερον ὠφεληθήσεται, ἢ καὶ ἤδη ὠφελεῖται ὑγιαίνων (EE II 8, 1224b15–19). Siehe auch dazu die folgende Passage aus der NE: »Denn der Beherrschte ist wie der Mäßige in der Lage, nichts aufgrund der körperlichen Lust gegen die Überlegung zu tun; dabei hat der eine schlechte Begierden, der andere nicht, und der eine ist so beschaffen, dass er nicht Lust gegen die Überlegung empfindet, der andere so, dass er dies tut, aber nicht von der Lust geleitet wird« (ὅ τε γὰρ ἐγκρατὴς οἷος μηδὲν παρὰ τὸν λόγον διὰ τὰς σωματικὰς ἡδονὰς ποιεῖν καὶ ὁ σώφρων, ἀλλ’ ὃ μὲν ἔχων ὃ 25

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Anhand dieser Passagen lässt sich deutlich feststellen, dass gutes Handeln für den Beherrschten etwas ist, das ihm in einem gewissen Sinne unangenehm ist. Obwohl er einsehen kann, dass die Auswirkungen seines Handelns zu etwas Positivem führen, gelingt es ihm nicht, den angemessenen emotionalen Zustand zu erreichen, der seine Bestrebungen als etwas schlechthin Gutes qualifizieren würden; und dadurch, dass diese Bedingung bei ihm nicht erfüllt wird, ergibt sich, dass das Tun dieses Akteurs nicht als eupraxia im vollen Sinn des Wortes angesehen werden kann. Es ist allerdings ersichtlich, dass er auch im Wesentlichen ein guter Mensch ist und dass er verglichen

δ’ οὐκ ἔχων φαύλας ἐπιθυμίας, καὶ ὃ μὲν τοιοῦτος οἷος μὴ ἥδεσθαι παρὰ τὸν λόγον, ὃ δ’ οἷος ἥδεσθαι ἀλλὰ μὴ ἄγεσθαι) (NE VII 11, 1151b34–1152a4). Aufgrund dieser Passagen denke ich, dass die Charakterisierung des enkratēs, die von Flannery vorgelegt wird, eine wichtige Präzisierung erfordert. Flannery schreibt Folgendes: »The enkratēs does not experience remorse, since what he eventually does corresponds to his overall end and character, but he does not have his life and character entirely together« (Flannery 2013, S. 247). Gewiss empfindet der enkratēs Bedauern nicht in derselben Hinsicht wie der akratēs, der eine sittlich verwerfliche Tat ausführt und im Nachhinein bereut, so gehandelt zu haben. Aber die von uns angeführte Textevidenz zeigt, dass der enkratēs auch etwas bedauert, und zwar nicht im Sinne seiner Begierden zu handeln und demzufolge nicht gewisse schlechte Lüste genießen zu können. Ursula Coope hebt diesen Punkt hervor in Ansehung der oben zitierten Passagen der NE: »The point, I take it, is not simply that the self-controlled person has an appetite for some pleasure that reason forbids him to pursue. The point is, rather, that the self-controlled person’s appetitive desire is so strong that he would enjoy acting on it, even though he was aware that this was not the right thing to do. If he were to act on his appetite, he might feel some pain in anticipation of future bad health, and he might even feel some pain at the thought that his action was shameful, but none of this pain would be of a kind to mar the bodily pleasure he would obtain from the satisfaction of his appetite« (Coope 2012, S. 154). Ich teile allerdings Coopes Auffassung nicht, dass der Grund, warum der enkratēs sich nicht am guten Handeln erfreuen kann, lediglich auf ein »rational failure« zurückzuführen ist, das Schöne (to kalon) nicht richtig würdigen zu können (siehe Coope 2012, S. 154 ff.). Ich bin der Ansicht, dass die sittlichen Haltungen des enkratēs dafür auch eine maßgebliche Rolle spielen, da ihre unvollkommene Qualität bewirkt, dass er die schlechten Affekte bzw. die starken motivationalen Konflikte empfindet. Wenn es nur darauf ankommen würde, sich des Intellekts richtig zu bedienen, um keine motivationalen Konflikte zu empfinden, würde Aristoteles auch die sokratische These vertreten, dass Tugend mit Wissen gleichzusetzen ist. Gerade die Tatsache, dass der enkratēs es nicht selbständig bewerkstelligen kann, sich von schlechten Affekten zu befreien, erklärt, dass er sich Mühe geben muss, um ihnen widerstehen zu können, wobei er aufgrund dieser Anstrengung nicht mehr in der Lage ist, sich an seinem guten Handeln zu erfreuen. Ethos und Praxis

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mit dem akolastos und dem akratēs die besten Aussichten hat, um ein vollwertiges gutes Leben führen zu können. Die Analyse, die wir über die aristotelische Charakterologie durchgeführt haben, hat uns erlaubt, besser zu begreifen, welche Kriterien von Aristoteles verwendet werden, um diese Akteure voneinander zu unterscheiden und wie sich die durchlaufenen Habituationsprozesse in der konkreten Lebensführung der Handelnden offenbaren. Ferner hat uns diese Revision ermöglicht, auf eine bessere Weise zu erkennen, wie diese Handelnden ihre eigenen Bestrebungen beurteilen und welche Konzeptionen des Guten bei ihnen anzutreffen sind. Gerade anhand dieser Betrachtungen ist m. E. der in der Aristoteles-Forschung kontroversen Frage am besten nachzugehen, ob es für die Handelnden, die nicht gut im Sinne des spoudaios sind, noch möglich ist, ihr ēthos zu verbessern; und dies ist das Thema, mit welchem wir uns im Folgenden beschäftigen werden.

§ 7 Charakterveränderung 7.1 Zur Frage nach der Möglichkeit der Verbesserung des Charakters Anhand der durch unsere Studie gewonnenen Einblicke sind wir nun imstande, uns der Interpretationsfrage zu widmen, ob sich das ēthos Aristoteles zufolge zum Guten ändern kann. Es liegt nahe, dass diese Thematik von entscheidendem Belang ist, da man davon ausgeht, dass die praktische Philosophie einen wichtigen Beitrag dazu leisten kann, dass die Menschen ein besseres sittliches Leben führen und auf eine trefflichere Weise beurteilen können, welche Ziele von ihnen angestrebt werden sollen. Ferner denkt man, dass sich verschiedene Problematiken, mit denen wir ständig konfrontiert werden, besser bewältigen lassen, indem man mit den Einsichten und Prinzipien dieser Disziplin vertraut wird. Diese Annahmen prägen zweifelsohne die verbreitetsten Konzeptionen, die über die praktische Philosophie anzutreffen sind. Sie muss eben praktisch anwendbar sein. Das bedeutet, dass sie sich in etwas Konkretem im menschlichen Leben manifestieren muss, um ihrem eigenen Zweck gerecht zu werden. Allerdings gibt es verschiedene Gründe, die Anlass zum Zweifeln geben, ob die praktische Philosophie im aristotelischen Verständnis auf erwachsene Menschen, die nicht gemäß der Prinzipien seiner 238

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ethischen Lehre ihr Leben geführt haben, solch eine Wirkung überhaupt haben kann. Zum einen ist klar, dass Aristoteles nicht beabsichtigte, moralisch fragwürdigen erwachsenen Akteuren eine Anleitung zur Verfügung zu stellen, sodass sie ihr Leben verbessern könnten. Vielmehr ging er davon aus, dass es durchaus wichtig war, dass die Menschen sich schon von der Kindheit an die guten Haltungen anzueignen beginnen, sodass sie als Erwachsene gutes sittliches Handeln an den Tag legen und somit eine gelingende Existenz führen könnten. Die praktische Philosophie könnte dafür eine große Rolle spielen, allerdings nur, wenn man in einem frühen Alter anfängt, gute Dispositionen zu internalisieren. Wenn der Prozess der richtigen sittlichen Habituation aber erst in einer späteren Lebensphase beginnt, entsteht die Gefahr, dass ein gutes Leben für diese Menschen nicht mehr möglich ist. Zum anderen lässt sich bezweifeln, ob ein Handelnder die von ihm schon internalisierten schlechten hexeis loswerden kann, denn wir wissen durch Aristoteles, dass die hexeis dauerhafte Zustände der Seele sind, die unser Verhalten beträchtlich beeinflussen. Wenn das so ist, kann man sich natürlich fragen: Können die schlechten hexeis durch neue bzw. gute hexeis ersetzt werden? Ist eine solche Veränderung bei allen Menschen denkbar? Und wenn ja, kann man das eigene ēthos radikal verändern oder nur bis zu einem gewissen Grad? Ferner: Wie ist es möglich, dass jemand überhaupt die Motivation haben bzw. auf die Idee kommen kann, das sittlich wahre Gute anzustreben, wenn seine hexeis nicht die richtige Beschaffenheit haben? Mein Anliegen ist im Folgenden, diese wichtigen Fragen anhand der aristotelischen Texte zu beantworten. Zwecks dieser Aufgabe werde ich aber einen Interpretationsweg einschlagen, der sich von anderen in diese Linie gehenden Beiträge in der aristotelischen Forschung unterscheidet. Wie schon am Anfang des Kapitels erwähnt wurde, beschäftigt sich die Mehrheit der Interpreten, die dieses und andere nahverwandte Themen ansprechen, vorrangig mit Fragen der Handlungstheorie, die nebenbei die Möglichkeit bzw. die Unmöglichkeit der Charakterveränderung mit einschließen. 27 Dahingegen werde ich Vor allem wird diese Thematik von Interpreten indirekt angesprochen, die bei Aristoteles festzustellen versuchen, unter welchen Bedingungen ein Akteur als verantwortlich für seine Taten angesehen werden kann bzw. ob Aristoteles einen kompatibilistischen bzw. inkompatibilistischen Ansatz hinsichtlich der Frage des freien Willens vertreten hat. Für lange Zeit galt Aristoteles einstimmig unter den Kommentatoren als ein Inkompatibilist bzw. ein Libertärer, d. h., dass die Rede von der Willens-

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in meinem Ansatz nochmals versuchen, die aristotelische Charakterologie in den Vordergrund zu stellen, und zwar diesmal mit der Absicht festzustellen, ob für die von Aristoteles konzipierten unterschiedlichen Praxisakteure noch Chancen bestehen bleiben, im erwachsenen Alter ein gutes ēthos zu entfalten, wobei ich bei gewissen Punkten einen kritischen Abstand von zwei Interpreten nehmen werde, die sich auch mit dieser Frage auseinandergesetzt haben, nämlich Bondeson und Di Muzio.

7.2 Optimistische und pessimistische Aussichten In einer Passage der Kategorien legt Aristoteles eine Erklärung des sittlichen Fortschrittes vor, die als äußerst optimistisch bezeichnet werden kann:

freiheit bei ihm nur unter der Annahme denkbar sei, so die Kommentatoren, dass es für die Akteure die Möglichkeit gebe, zwischen mindestens zwei unterschiedlichen Handlungskursen einen davon auszuwählen (siehe dazu Joachim 1951 und Hardie 1968); in letzter Zeit gibt es aber auch wichtige Interpreten, die diese Lesart verteidigen wie Sorabji (1980), Broadie (1991), Natali (2004) und Destrée (2011). Erst in den letzten Jahrzenten ist zwischen den Kommentatoren die Ansicht verbreitet – vermutlich durch den maßgeblichen Einfluss der Arbeiten von P. F. Strawson und Harry Frankfurt aus der analytischen Philosophie –, dass Aristoteles ein Kompatibilist sei, der geglaubt hat, dass jemandem schon Verantwortung für seine Taten zugeschrieben werden kann, insofern er aufgrund seiner Überzeugungen und Wünsche handelt, unabhängig von der Anzahl der Handlungskurse, die ihm zugänglich sind (siehe Furley 1977 und 1978, Everson 1990, Donini 2010 und Meyer 2011). Im Rahmen dieser Diskussion wird die für uns wichtige Frage, ob jemand seinen Charakter verändern kann, nebenbei behandelt. Die Schlussfolgerung, die Donini in seinem Beitrag zu dieser Debatte zieht, illustriert auf eine deutliche Weise die allgemeinen Ergebnisse, die sich innerhalb der Diskussion hinsichtlich der Charakterveränderung gewinnen lassen: »In conclusion, Aristotle considers character and the possession of a moral habit relatively stable, but not definitively inalienable goods; and the fact that he never developed a description of the ways in which one habit and character can be substituted by a different habit and character suggests that he considered such transitions quite rare or difficult to achieve […]« (Donini 2010, S. 100). Trotz der unterschiedlichen Vorteile dieser interpretatorischen Verfahrensweise scheint mir allerdings, dass man in diesen Studien oftmals wenig darauf achtet, ob der Übergang zu einem besseren Charakter bei jedem Handlungsakteur anders aussieht. Und ich bin der Ansicht, dass es möglich ist, noch mehr Erkenntnisse bezüglich der besonderen charakterlichen Veränderungen zu gewinnen, als Donini denkt, insofern die Akteure aufgrund ihrer inneren Beschaffenheit sorgfältiger voneinander differenziert werden.

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Denn wenn der Schlechte zu besserer Beschäftigung und zu besserem Umgang angeleitet wird, so dürfte das wohl, wenn auch nur ein wenig, zu seinem Bessersein beitragen. Hat er aber einmal einen auch nur kleinen Fortschritt gemacht, so ist deutlich, dass er sich entweder vollständig ändern oder doch einen beträchtlichen Fortschritt machen könnte. Denn wie geringfügig auch der Fortschritt am Anfang sein mag, so wird er doch immer leichter empfänglich für die Tüchtigkeit, so dass er wahrscheinlich noch weiteren Fortschritt macht. Und wenn das immer so weitergeht, versetzt es ihn schließlich in den entgegengesetzten Zustand, falls genügend Zeit dazu bleibt. 28

Die Diskussion, in welche diese Textstelle eingebettet ist, betrifft eben die Frage, ob die hexeis bei den Menschen verändert werden können. Um zu erklären wie sich etwas Derartiges zutragen kann, bedient sich Aristoteles eines Beispiels, das zweifelsohne polemisch ist, und zwar das des sittlich verdorbenen Menschen. Der Schlechte (phaulos) wird hier als jemand dargestellt, der imstande ist, seine hexeis zu modifizieren, was offensichtlich keine Selbstverständlichkeit für eine griechische Hörerschaft war. Es ist anzunehmen, dass Aristoteles gerade dieses Beispiel verwendet, um einen prägnanten Fall anzusprechen, in welchem die hexeis tief in der Seele des Individuums verankert sind. Erstaunlicherweise behauptet er hier, dass es im Grunde eine Frage der Zeit ist, ob es dem Schlechten gelingen kann, seine Haltungen loszuwerden – angenommen er hat die entsprechende Motivation, das zu tun. Es wird zwar behauptet, dass der Schlechte die sittliche Anleitung jemandes anderen benötigt, um diesen Prozess in Gang zu setzen, aber der entscheidende Aspekt, der hier betont wird, ist, dass er über den Zeitraum verfüge, um sich schrittweise dem erwünschten Ziel anzunähern. Es liegt auf der Hand, dass es nicht bloß darauf ankommt, dazu geneigt zu sein, neue hexeis haben zu wollen, um sie tatsächlich erwerben zu können. Anhand dieser Textstelle lässt sich aber feststellen, dass man durch einen graduellen Fortschritt sittlich besser werden kann, was natürlich darauf hinweist, dass sich die Stufen der Tugend, die im Laufe dieses Prozesses erreicht werden,

ὁ γὰρ φαῦλος εἰς βελτίους διατριβὰς ἀγόμενος καὶ λόγους κἂν μικρόν γέ τι ἐπιδοίη εἰς τὸ βελτίω εἶναι· ἐὰν δὲ ἅπαξ κἂν μικρὰν ἐπίδοσιν λάβῃ, φανερὸν ὅτι ἢ τελείως ἂν μεταβάλοι ἢ πάνυ πολλὴν ἂν ἐπίδοσιν λάβοι· ἀεὶ γὰρ εὐκινητότερος πρὸς ἀρετὴν γίγνεται, κἂν ἡντινοῦν ἐπίδοσιν εἰληφὼς ἐξ ἀρχῆς ᾖ, ὥστε καὶ πλείω εἰκὸς ἐπίδοσιν λαμβάνειν· καὶ τοῦτο ἀεὶ γιγνόμενον τελείως εἰς τὴν ἐναντίαν ἕξιν ἀποκαθίστησιν, ἐάνπερ μὴ χρόνῳ ἐξείργηται (Cat. 10, 13a23–31).

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voneinander unterscheiden lassen und verschiedene Momente der sittlichen Entwicklung des Menschen darstellen. Der große Optimismus, der hier zum Ausdruck kommt, ist allerdings nirgendwo anders in den aristotelischen Schriften anzutreffen. Der Grund dafür scheint nicht nur darin zu liegen, dass die Kategorien eine frühe Schrift sind, in der er sich hauptsächlich mit anderen Themen und nur nebenbei mit ethischen Fragen auseinandersetzt. Bestimmte Passagen, in denen Aristoteles seine Theorie des Tugenderwerbs formuliert, scheinen darauf hinzudeuten, dass es ein Ding der Unmöglichkeit ist, die eigenen Dispositionen zu verändern, wenn man sie sich schon angeeignet hat. Die folgende Passage bringt diesen Punkt zum Ausdruck: Auch der Kranke ist ja nicht sofort gesund, wenn er es nur wünscht. Dabei könnte das Kranksein aus seinem eigenen Wollen hervorgehen, wenn er unbeherrscht lebt und nicht auf die Ärzte hört. Damals hatte er die Möglichkeit, nicht krank zu sein, nachdem er aber seine Gesundheit verschleudert hat, nicht mehr, so wie es auch für den, der einen Stein weggeschleudert hat, nicht mehr möglich ist, ihn zurückzuholen. Und dennoch lag es an ihm zu werfen, da der Ursprung der Bewegung in ihm war. So stand es auch dem Ungerechten und dem Unmäßigen zu Anfang offen, nicht so zu werden, und daher sind sie es aus eigenem Wollen; nachdem sie aber einmal so geworden sind, ist es ihnen nicht (mehr) möglich, nicht so zu sein. 29 οὐδὲ γὰρ ὁ νοσῶν ὑγιής. καὶ εἰ οὕτως ἔτυχεν, ἑκὼν νοσεῖ, ἀκρατῶς βιοτεύων καὶ ἀπειθῶν τοῖς ἰατροῖς. τότε μὲν οὖν ἐξῆν αὐτῷ μὴ νοσεῖν, προεμένῳ δ’ οὐκέτι, ὥσπερ οὐδ’ ἀφέντι λίθον ἔτ’ αὐτὸν δυνατὸν ἀναλαβεῖν· ἀλλ’ ὅμως ἐπ’ αὐτῷ τὸ βαλεῖν [καὶ ῥῖψαι]· ἡ γὰρ ἀρχὴ ἐν αὐτῷ. οὕτω δὲ καὶ τῷ ἀδίκῳ καὶ τῷ ἀκολάστῳ ἐξ ἀρχῆς μὲν ἐξῆν τοιούτοις μὴ γενέσθαι, διὸ ἑκόντες εἰσίν· γενομένοις δ’ οὐκέτι ἔστι μὴ εἶναι. (NE III 7, 1114a14–22). Alexander von Aphrodisias verwendet in seiner Schrift De fato – deren polemisches Ziel es war, anhand der aristotelischen Philosophie die stoische Vorstellung des Schicksals (heimarmenē) zu widerlegen – eine ähnliche Argumentationsstrategie um den Punkt anschaulich zu machen, dass es doch einen großen Freiheitsraum für ein Individuum gibt, sein ēthos zu gestalten, insofern er aber noch am Anfang des Habituationsprozesses ist: »Indem wir ihnen zugestehen, dass Tugenden und Laster nicht abzulegen sind, können wir die Sache begreiflicher machen, wenn wir sagen, dass Eigenschaften insofern in der Verfügungsgewalt derer stehen, die sie haben, als es, bevor sie sie annahmen, bei ihnen stand, sie auch nicht anzunehmen. Denn diejenigen, welche die Tugenden besitzen, haben, anstatt das Bessere zu vernachlässigen, das Bessere gewählt und sind sich so selbst zu Urhebern des Tugenderwerbs geworden, und diejenigen, welche Laster besitzen, entsprechend. Dasselbe gilt bei den Künsten. Denn auch jeder Künstler hatte, bevor er seine Kunst besaß, die Möglichkeit, auch nicht Künstler zu werden; nachdem er es aber geworden ist, wird er nicht mehr mächtig sein, nicht ein solcher geworden zu sein und zu sein.« (οἱ συγχωρήσαντες ἀναποβλήτους τὰς ἀρετάς τε καὶ τὰς

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Die Textstelle ist offensichtlich radikal anders als die der Kategorienschrift, da das ēthos ihr zufolge ab einem gewissen Zeitpunkt nicht mehr modifizierbar ist. Vor allem ist klar, dass die Analogie, die hier vorgelegt wird, den Eindruck erweckt, dass die Bestimmung des Charakters etwas ist, das ein für alle Mal in einem konkreten Moment stattfindet. So wie der Stein nicht mehr zurückzuholen ist, wenn er weggeschleudert wurde, so ist das Wesen des Charakters nicht mehr κακίας εἶναι, ἴσως προχειρότερον λαμβανόμενον λέγοιμεν ἂν κατὰ τοῦτο τὰς ἕξεις ἐπὶ τοῖς ἔχουσιν εἶναι, καθόσον πρὸ τοῦ λαβεῖν αὐτὰς ἐπ’ αὐτοῖς ἦν καὶ μὴ λαβεῖν. οἵ τε γὰρ τὰς ἀρετὰς ἔχοντες καὶ τοῦ τῶν βελτιόνων ἀμελεῖν ἑλόμενοι τὰ βελτίω αὑτοῖς αἴτιοι τῆς τῶν ἀρετῶν ἐγένοντο κτήσεως, οἵ τε τὰς κακίας ἔχοντες παραπλησίως. ὁ δ’ αὐτὸς καὶ ἐπὶ τῶν τεχνῶν λόγος· καὶ γὰρ τῶν τεχνιτῶν ἕκαστος πρὸ μὲν τοῦ τὴν τέχνην ἔχειν εἶχεν καὶ τοῦ μὴ γενέσθαι τὴν ἐξουσίαν, γενόμενος δὲ οὐκέτ’ ἔσται κύριος τοῦ μὴ γεγονέναι τε καὶ εἶναι τοιοῦτος) (De fato XXVII 197, 3–11). Obwohl Alexander von Aphrodisias sich eines Arguments bedient, das, wie das oben angeführte Zitat belegt, selbst von Aristoteles gebraucht wird, liegt es aber auf der Hand, dass er sich letztlich auch wie Stobaios von der ursprünglichen aristotelischen Position entfernt, insofern Alexander das ēthos als eine Art von Naturkraft begreift, die bewirkt, dass die Menschen in den meisten Fällen (hos epi to pleiston bzw. hos epi to polu) – d. h. nicht notwendigerweise – so oder so handeln: »Man kann nämlich sehen, dass ihre Handlungen, Lebensweisen und Todesarten meistens der natürlichen Verfassung und Anlage folgen. Denn der von Natur Wagemutige und Kühne wird in den meisten Fällen auch einen gewaltsamen Tod finden, dies ist nämlich das Schicksal seiner Natur; der von Natur Zügellose wird sein Leben in liederlichen Vergnügungen hinbringen und das Leben eines Unbeherrschten führen, wenn nicht etwas Schöneres in ihm ersteht und ihn aus dem Leben nach seiner Natur abstößt. […] Und man pflegt solchen Leuten, wenn sie sich in Umständen befinden, die aus ihrer Lebensweise folgen und dem Schicksale gemäß sind, zuzuschreiben, dass sie ihre gegenwärtigen Leiden selbst verursacht haben« (ὡς ἐπὶ τὸ πλεῖστον γὰρ ταῖς φυσικαῖς κατασκευαῖς τε καὶ διαθέσεσιν τάς τε πράξεις καὶ τοὺς βίους καὶ τὰς καταστροφὰς αὐτῶν ἀκολούθως ἰδεῖν ἔστι. τῷ μὲν γὰρ φιλοκινδύνῳ καὶ θρασεῖ φύσει βίαιός τις καὶ ὁ θάνατος ὡς ἐπὶ τὸ πλεῖστον (αὕτη γὰρ ἡ τῆς φύσεως εἱμαρμένη), τῷ δέ γε ἀκολάστῳ τὴν φύσιν τό τε ἐν ἡδοναῖς τοιαύταις καταζῆν καὶ ὁ τῶν ἀκρατῶν βίος, ἂν μή τι κάλλιον ἐν αὐτῷ γενόμενον ἐμποδίζῃ, […] καὶ ἐπιλέγειν εἰώθασιν τοῖς τοιούτοις, ὅταν ἐν ταῖς ἀκολούθοις τε τοῦ βίου hκαὶi καθ’ εἱμαρμένην περιστάσεσιν ὦσιν, ὡς ἑαυτοῖς γεγονόσιν αἰτίοις τῶν παρόντων αὐτοῖς κακῶν) (De fato VI 170,20–171,8). Diese Argumentationsweise wird der Komplexität des aristotelischen Ansatzes nicht gerecht, da Aristoteles die ethischen hexeis keineswegs als Naturanlagen begreift, die sich auf eine so unmittelbare Weise im Handeln offenbaren, sondern als Produkte der Habituation, die auf eine graduelle Weise die eigene Seele des Handelnden prägen, und selbst wenn die hexeis vorhanden sind, ist es immer notwendig, sich der praktischen Vernunft zu bedienen, um feststellen zu können, wie gehandelt werden muss. D. h., dass die hexeis nicht alleine bestimmen, was für ein Handlungskurs in jedem Einzelfall eingeschlagen werden muss (Siehe dazu Natali 2001, S. 32 ff.). Ethos und Praxis

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zum Besseren zu verändern, wenn ein bestimmter Lebensweg schon eingeschlagen wurde. Gewiss gab es vor dieser »Entscheidung« einen Spielraum, diesen oder jenen Charakter zu entfalten, aber danach ist zumindest dieser Textstelle zufolge die Möglichkeit ausgeschlossen, die Lebensführung zu modifizieren. Das drastische Bild, das hiermit zum Vorschein kommt, scheint allerdings nicht das letzte Wort von Aristoteles zum Thema zu sein, da es in Anbetracht seiner Habituationslehre klar ist, dass die Menschen nicht an einem Tag gut bzw. schlecht werden. Andere Passagen deuten zwar darauf hin, dass ein Handelnder darauf achten muss, sich gewissen Praktiken nicht hinzugeben, die sein ēthos schlecht machen könnten, aber die zeitlichen Voraussetzungen für die charakterlichen Veränderungen, die in ihnen beschrieben bzw. angedeutet werden, sind ganz anders: Denn die Tätigkeiten in den einzelnen Bereichen geben uns einen solchen Charakter. Das ist deutlich am Beispiel derer, die für irgendeine Art von Wettkampf oder Handlung üben; sie führen andauernd die entsprechende Tätigkeit aus. Nur ein völlig einsichtsloser Mensch kann also in Unkenntnis darüber sein, dass die Dispositionen durch Betätigungen in den entsprechenden Bereichen entstehen. 30

Das Risiko, so wie Aristoteles es hier darstellt, besteht nicht darin, eine Tat zu begehen, deren unmittelbare Konsequenz es ist, dass das ēthos des Akteurs verdorben wird. In Übereinstimmung mit der Kategorienschrift wird hier die These vertreten, dass die Prozesse der Charakterveränderung Zeit erfordern, sodass sie ihre Ziele erreichen können. Deswegen bin ich der Ansicht, dass die Analogie mit dem Stein auf eine Fehldeutung hinausläuft, wenn man sie wörtlich interpretiert. Aber so muss sie nicht zwangsläufig gelesen werden. Damit könnte Aristoteles lediglich beabsichtigt haben, die maßgebliche Bedeutung einer angebrachten sittlichen Erziehung angesichts des guten Lebens in den Vordergrund zu stellen. Die Behauptung, dass es keine bloße Sache der Willkür ist, diese oder jene charakterlichen Haltungen zu erwerben, könnte gelesen werden, als ob Aristoteles schlicht betonen wollte, dass es äußerst gefährlich für einen Praxisakteur sei, sich für eine schlechte Lebensführung zu entscheiden, weil αἱ γὰρ περὶ ἕκαστα ἐνέργειαι τοιούτους ποιοῦσιν. τοῦτο δὲ δῆλον ἐκ τῶν μελετώντων πρὸς ἡντινοῦν ἀγωνίαν ἢ πρᾶξιν· διατελοῦσι γὰρ ἐνεργοῦντες. τὸ μὲν οὖν ἀγνοεῖν ὅτι ἐκ τοῦ ἐνεργεῖν περὶ ἕκαστα αἱ ἕξεις γίνονται, κομιδῇ ἀναισθήτου (NE III 7, 1114a7–10).

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es sich in der Mehrheit der Fälle zuträgt, dass diese Entscheidung für den Charakter irreversibel ist. Die Rede von einer absoluten Irreversibilität könnte dann als ein argumentatives Mittel interpretiert werden, das darauf abzielt zu verhindern, dass die Akteure zur Meinung gelangen, sie können in späteren Lebensphasen ihre Schlechtigkeiten bzw. Vernachlässigungen ohne weitere Anstrengungen korrigieren, wenn sie im gegenwärtigen Augenblick nicht dazu geneigt sind, ihr Leben gemäß der Prinzipien und Normen der aristotelischen Lehre zu führen. Dass Aristoteles mit solchem Nachdruck diesen Punkt hervorheben wollte, ist nachvollziehbar, vor allem wenn man bedenkt, dass die Bedingungen, die erforderlich sind, sodass eine charakterliche Veränderung zustande kommt, nicht ganz und gar in der Macht der Menschen stehen werden. Dass sie eine richtige sittliche Anleitung bekommen bzw. dass sie für ihre schlechten Taten rechtzeitig bestraft werden – selbst wenn sie in einer gut regierten polis leben –, um ihre Lebensführung zu verändern, sind Bedingungen, die nicht als selbstverständlich vorausgesetzt werden können. 31 Daher ergibt sich die Aufgabe, so früh wie möglich die richtigen Tätigkeiten auszuüben, um ein gutes ēthos zu entfalten, weil die latente Gefahr besteht, dass es später nicht mehr möglich sein wird, die erforderlichen Maßnahmen für diesen Zweck zu ergreifen. Ein anderes Argument, das gegen eine absolute Irreversibilität des Charakters spricht, ist an einer Textstelle zu finden, in welcher Aristoteles die Notwendigkeit der Gesetze für die polis erklärt:

Dadurch, dass sogar in einem frühen Alter nicht all die Faktoren in unserer Macht stehen, die zur Formung unseres Charakters beitragen werden, scheint mir Susan Sauvé Meyers Vorschlag angebracht, über eine partielle statt einer absoluten Verantwortung für den eigenen Charakter zu sprechen, vor allem, weil verschiedene Redewendungen bei Aristoteles anzutreffen sind, die auf diese Auffassung hindeuten: »Each person is ›responsible in a way‹ (pōs aitios) for his state of character (1114b2), ›something also depends on him‹ (ti kai par auton estin, b17), and ›we are co-causes in a way‹ (sunaitioi pōs) of our states (b23). These locutions appear to attribute to the agent only a qualified kind of responsibility for character, and to acknowledge the operation of other, perhaps more important causal factors. Such qualifications would be problematic if Aristotle’s thesis about responsibility for character attributed to us fully responsibility for the moral quality of qualified responsibility for character – the thesis that, assuming that one’s upbringing and social context provide one with the information about which sorts of activities are good and bad, it is up to us whether we develop a disposition to perform the good ones rather than the bad ones« (Meyer 2011, S. 127).

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Denn mäßig und beherrscht zu leben, ist für die meisten Menschen nicht angenehm, insbesondere dann nicht, wenn sie jung sind. Daher muss das Aufziehen und die Beschäftigungen durch Gesetze geordnet werden; denn was zur Gewohnheit geworden ist, wird nicht mehr als unangenehm empfunden. Vielleicht genügt es aber nicht, in der Jugend die rechte Zucht und Sorge zu erfahren, sondern da man auch als Mann die guten Gewohnheiten und Bestrebungen beibehalten muss, so werden wir auch hierfür und somit überhaupt für das ganze Leben der Gesetze bedürfen. 32

Anhand dieser Passage lässt sich behaupten, dass die schon erworbenen Gewöhnungen und Dispositionen noch zur Reife gelangen müssen, indem die Bürger sich mit den Aktivitäten beschäftigen, für welche sie durch die früheren Phasen ihrer sittlichen Erziehung vorbereitet wurden. Dass noch weitere Stationen von den Menschen durchlaufen werden müssen, sodass sie voll entwickelte Handlungsakteure werden können, ist im Grunde keine Überraschung, da sie als Kinder und Jugendliche noch nicht in unterschiedlichen Praxisräumen agiert haben, in welchen die Anwendung besonderer Tugenden wie die Gerechtigkeit, die Tapferkeit oder die Freigebigkeit in ihrer vollkommenen Form erst möglich ist. Die Gesetze gewährleisten, dass sich die Menschen auf eine geeignete Weise in diesen für sie neuen Handlungskontexten entfalten können, indem sie einerseits die Grundvorstellungen und Werte zum Ausdruck bringen, die das Gemeinleben der Bürger bestimmen, und andererseits die unterschiedlichen Sanktionen und Strafen festlegen, die gegen die Menschen verhängt werden sollen, die durch ihr Verhalten die politische Ordnung gefährden. 33 τὸ γὰρ σωφρόνως καὶ καρτερικῶς ζῆν οὐχ ἡδὺ τοῖς πολλοῖς, ἄλλως τε καὶ νέοις. διὸ νόμοις δεῖ τετάχθαι τὴν τροφὴν καὶ τὰ ἐπιτηδεύματα· οὐκ ἔσται γὰρ λυπηρὰ συνήθη γενόμενα. οὐχ ἱκανὸν δ’ ἴσως νέους ὄντας τροφῆς καὶ ἐπιμελείας τυχεῖν ὀρθῆς, ἀλλ’ ἐπιεδὴ καὶ ἀνδρωθέντας δεῖ ἐπιτηδεύειν αὐτὰ καὶ ἐθίζεσθαι, καὶ περὶ ταῦτα δεοίμεθ’ ἂν νόμων, καὶ ὅλως δὴ περὶ πάντα τὸν βίον (NE X 10, 1179b32–1180a4). 33 Eine sehr nahverwandte Rolle, die die Gesetze spielen sollen, besteht eben darin, die Aufmerksamkeit der Bürger auf die Verhaltensweisen zu lenken, die zur Verhängung dieser Strafen führen (siehe NE III 7, 1113b21–30). Aristoteles ist der Ansicht, dass die Akteure zur Rechenschaft gezogen werden können, wenn sie aus einer Ignoranz hinsichtlich der Gesetze gehandelt haben, die von ihnen unter normalen Verhältnissen überwunden werden kann: »Man bestraft auch diejenigen, die etwas in den Gesetzen nicht kennen, das man kennen muss und das nicht schwierig ist. Und so bei allem anderen, bei dem man die Unwissenheit für eine Folge von Nachlässigkeit hält, sofern es bei den Betreffenden liege, nicht unwissend zu sein; denn sie hatten schließlich die Kontrolle darüber, Sorgfalt zu üben« (καὶ τοὺς ἀγνοοῦντάς τι τῶν ἐν 32

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Es liegt nahe, dass die Menschen im Erwachsenenalter ihre sittlichen Dispositionen durch die entsprechenden verstandesmäßigen Betätigungsformen des politischen Lebens noch behaupten müssen, sodass ihre Charaktere die durch die Habituationsprozesse erzielte tugendhafte Beschaffenheit erreichen. Und gerade deshalb ist ersichtlich, dass die bereits erworbenen Dispositionen nicht als hinreichende Ursachen betrachten werden dürfen, die den Charakter in ihrer letzten Form bestimmen. Ohne die aktive Beteiligung am Gemeinleben der polis lässt sich kaum erwarten, dass die von ihnen angeeigneten Haltungen in die Konstitution des Charakters münden, der als geeigneter psychischer Kern für die tugendhafte Lebensführung gilt. In τοῖς νόμοις, ἃ δεῖ ἐπίστασθαι καὶ μὴ χαλεπά ἐστι, κολάζουσιν, ὁμοίως δὲ καὶ ἐν τοῖς ἄλλοις, ὅσα δι’ ἀμέλειαν ἀγνοεῖν δοκοῦσιν, ὡς ἐπ’ αὐτοῖς ὂν τὸ μὴ ἀγνοεῖν· τοῦ γὰρ ἐπιμεληθῆναι κύριοι.) (NE III 7, 1113b33–1114a3). Deshalb ist m. E. festzustellen, dass das sittliche Wissen der Akteure zwei Grundquellen hat, nämlich die Erziehung und die Gesetzgebung. Durch beide Quellen sollen die Menschen mit den wesentlichen Prinzipien und Normen vertraut werden, an welchen sie sich angesichts des Handelns und des Gemeinlebens orientieren müssen. Die philosophische Reflexion über die Grundnormen des Handelns scheint mir hingegen etwas zu sein, zu dem die Mehrheit der Akteure keinen Zugang haben würde. In diese Richtung geht allerdings Bondesons Interpretation, wenn er suggeriert, dass das grundlegende sittliche Wissen der Praxisakteure, auf welches Aristoteles sich bezieht, auf endoxa beruhe: »I would suggest that this item could well fall within the class of endoxa, those widely held views of men about moral and other matters which Aristotle often uses in his philosophizing. […] [Ein endoxon; E. C.] must be something which is known and which is correct as it stands. Thus it must have the status of a self-evident item of common sense for most men and in Aristotle’s moral psychology it must have the status of a self-evident moral principle« (Bondeson 1974, S. 63– 64). Bondesons Interpretationsvorschlag ist zurückzuweisen, nicht nur, weil er auf keiner soliden textuellen Basis gegründet ist, sondern auch weil Bondeson deutlich missversteht, was die endoxa sind. Die endoxa sind keine übergreifenden moralischen Wahrheiten, die von allen Menschen für richtig gehalten werden, sondern anerkannte Meinungen, die zwar eine günstige Ausgangsbasis bieten, wenn man Untersuchungen, Reden und Gespräche jeglicher Art führt, die aber keinen endgültigen Wahrheitsanspruch erheben. Siehe dazu Fredes treffliche Bemerkung: »Aristotle seems to have exploited a certain ambiguity of the meaning of endoxon in ordinary Greek: it refers to someone or something well-known, famous or repute, but leaves open the justification of such prominence. Though most well-known or renowned cities, men or actions probably deserve that epithet, there is no specific kind of worth tied to it, let alone a moral value. Hence ›reputable‹ has to be taken with caution, in the sense that it entails no entitlement to truth in the case of propositions and to acceptance by everyone. That endoxa need not be true does, of course, not mean that they cannot be true or that their status is dubious. It only means that they are both in need of and worthy of further scrutiny« (Frede 2012, S. 199). Ethos und Praxis

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Ansehung dieses wichtigen Momentes der menschlichen Existenz, in welchem die Handelnden ihre charakterlichen Dispositionen noch bejahen und vernunftgemäß weiterentwickeln müssen, kann wiederum geschlussfolgert werden, dass die oben diskutierte Steinanalogie nicht wörtlich interpretiert werden soll. Dass Aristoteles tatsächlich ganz konkrete Überlegungen angestellt hat, die auf die Möglichkeit der Charakterveränderung zum Guten hindeuten, bekräftigt noch mehr – wie wir im Folgenden sehen werden – die Plausibilität dieser Annahme.

7.3 Mittel und Grenzen der charakterlichen Verbesserung Die aristotelische Charakterologie bietet wiederum interessante Einsichten in die Handlungsmöglichkeiten der Menschen, die sich voneinander durch ihre seelische Beschaffenheit unterscheiden. Es fällt in der aristotelischen Behandlung dieser Figuren auf, dass jeder dieser Charaktere unterschiedliche Aussichten und Chancen hat, was die Verbesserung ihrer Lebensführung anbelangt. Der Vergleich, den Aristoteles oftmals benutzt, wenn er die Möglichkeit der Charakterveränderung in Erwägung zieht, betrifft den akratēs und den akolastos, wie die folgenden Zitate zeigen: Der Unmäßige ist, wie gesagt, nicht geeignet, Bedauern zu empfinden; denn er bleibt bei seinem Vorsatz. Jeder Unbeherrschte hingegen empfindet Bedauern. Daher verhält es sich nicht so, wie wir bei der Darlegung der Schwierigkeiten formuliert haben. Vielmehr ist der Unmäßige unheilbar und der Unbeherrschte heilbar. 34 Da nun der eine [der Unbeherrschte] so beschaffen ist, dass er die übermäßige und der richtigen Überlegung entgegengesetzte körperliche Lust sucht, jedoch nicht aus Überzeugung, der andere aber [der Unmäßige] eine solche Überzeugung hat, weil er so beschaffen ist, dass er sie [die körperliche Lust] sucht, so ist der Erstere leicht von etwas Besserem zu überzeugen, der Letztere nicht. 35 Ἔστι δ’ ὁ μὲν ἀκόλαστος, ὥσπερ ἐλέχθη, οὐ μεταμελητικός· ἐμμένει γὰρ τῇ προαιρέσει· ὁ δ’ ἀκρατὴς μεταμελητικὸς πᾶς. διὸ οὐχ ὥσπερ ἠπορήσαμεν, οὕτω καὶ ἔχει, ἀλλ’ ὃ μὲν ἀνίατος ὃ δ’ ἰατός (NE VII 9, 1150b29–32). 35 ἐπεὶ δ’ ὃ μὲν τοιοῦτος οἷος μὴ διὰ τὸ πεπεῖσθαι διώκειν τὰς καθ’ ὑπερβολὴν καὶ παρὰ τὸν ὀρθὸν λόγον σωματικὰς ἡδονάς, ὃ δὲ πέπεισται διὰ τὸ τοιοῦτος εἶναι οἷος διώκειν αὐτάς, ἐκεῖνος μὲν οὖν εὐμετάπειστος, οὗτος δὲ οὔ (NE VII 9, 1151a10–14). 34

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Der psychologische Faktor des Bedauerns ist Aristoteles zufolge das deutlichste Zeichen, dass der akratēs bessere ethische Dispositionen als der akolastos hat. Dass der Erstere in der Lage ist Bedauern zu empfinden, bedeutet, wie wir zuvor diskutiert haben, dass er sich dessen bewusst ist, dass seine Taten und Handlungen nicht seinen wahren Überzeugungen entsprechen und dass er sich danach sehnt, seine Lebensführung zu verändern – obwohl das nicht ganz und gar in seiner Macht steht –, sodass er tatsächlich das sittlich Gute durch seine Bestrebungen treffen kann. Dahingegen kann man über den akolastos behaupten, dass seine sittliche Verdorbenheit so extrem ist, dass er nicht zur klaren Einsicht gelangen kann, dass etwas Wichtiges in seiner Existenz modifiziert werden muss, um aus seinem schlechten Zustand herauszukommen. Gerade diesen markanten Unterschied will Aristoteles veranschaulichen, wenn er behauptet, dass der akolastos unheilbar (aniatos) sei. Diese starke Bezeichnung könnte wiederum zu der Überzeugung führen, dass die Steinanalogie aus dem dritten Buch tatsächlich einen gewissen Wahrheitsanspruch haben muss, zumindest was diesen extremen Fall betrifft. Wie aber das zweite Zitat zeigt, schwächt Aristoteles ein paar Passagen später sein Urteil über die Verbesserungschancen des akolastos ab, indem er schlicht behauptet, es sei nicht leicht – wenngleich nicht unmöglich –, ihn von etwas Besserem zu überzeugen. Diese Abweichungen könnten wiederum den Eindruck erwecken, dass der aristotelische Ansatz nicht konsistent sei, aber ich bin der Ansicht, dass die Textstellen, die Anlass zu einer derartigen Lektüre geben, nicht zwangsläufig miteinander inkompatibel sind. Die Tatsache, dass Aristoteles den Zügellosen in einem besonderen Kontext als unheilbar bezeichnet, muss nicht so interpretiert werden, als ob damit dieses Ereignis etwa qua Naturphänomen als unmöglich erklärt werden würde. Diese Bezeichnung kann lediglich darauf hindeuten, wie Di Muzio bemerkt, dass jeder Versuch, seinen Charakter zu verändern, der nicht die erforderlichen Bedingungen erfüllt bzw. erfüllen kann, zum Scheitern verurteilt ist. 36 Ob die Bedingungen »Aristotle is comfortable with calling a man aniatos even when it is only de facto, but not intrinsically impossible for him to be cured of his vice. Aristotle’s use of the term does not per se commit him to the thesis that vice is by nature insuperable. It only commits him to the thesis that there are circumstances under which attempts at reforming an individual are bound to fail« (Di Muzio 2000, S. 214). Ich teile allerdings die von Di Muzio vertretene Interpretation nicht, der zufolge der akolastos bei Aristoteles unheilbar ist, insofern er nicht durch Überredung (persuasi-

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vorhanden sind, sodass der Charakter des akolastos verbessert werden kann, ist allerdings etwas, das nicht a priori festgelegt werden kann. Nur im Laufe der Zeit wird sich zeigen, ob die unternommenen Bestrebungen, um ihn zu besserem Handeln zu führen, vergeblich waren. Gewiss kann man sagen, dass die Chancen für den sittlichen Fortschritt im Fall des enkratēs und des akratēs beträchtlich besser aussehen, denn diese Charaktere sind nicht völlig schlecht, da bei ihnen das Beste, das Handlungsprinzip (archē), gewahrt bleibt (siehe NE VII 9, 1151a23–25). Aber auch bei ihnen ist nicht a priori festzustellen, ob die sittliche Anleitung das erwünschte Ziel erreichen wird. Bei ihnen ist es ebenfalls notwendig, den Versuch zu unternehmen, sie zu einer besseren Handlungsweise zu bringen, bevor man von ihnen tatsächlich behaupten kann, dass ihre Charaktere im vollen Sinne des Wortes heilbar waren. Dass nur die Erfahrung uns dies bestätigen kann, lässt sich anhand des folgenden Beispiels hinsichtlich der Freundschaft besser veranschaulichen: Wenn man aber jemanden als Guten zum Freund nimmt, er aber schlecht wird und sich auch so zeigt, muss man ihn dann noch lieben? Oder ist dies on) zum besseren Handeln geführt werden kann: »The self-indulgent person is, then, incurable. But does the progression of Aristotle’s argument authorize us to attribute to him the view that the self-indulgent person could never cease to be self-indulgent? No; at most we can attribute to Aristotle the view that the self-indulgent person could not cease to be self-indulgent as a result of persuasion. […] Aristotle […] is saying only that the vice of self-indulgence does not admit of correction through external influences. But this leaves open the possibility that moral reform be attained through a different process […]« (Di Muzio 2000, S. 213). Einerseits ist deutlich, dass kein Charaktertyp durch bloße Überredung zu einem besseren seelischen Zustand geführt werden kann. All die erfolgreichen Habituationsprozesse erfordern eine gewisse Zeitdauer, um ihre Zwecke zu erreichen, und zwar ganz unabhängig davon, ob die ursprüngliche Motivation, sich diesen Prozessen zu unterziehen, von dem Akteur selbst stammt oder nicht: Jemand kann durch Zwang bzw. Strafen zu einer besseren Handlungsweise gebracht werden. Andererseits lässt sich behaupten, dass die Lesart, die Di Muzio geltend macht, wonach der akolastos erst einmal durch Selbstbeobachtung (introspection) zur Einsicht gelangen muss, dass er ein falsches sittliches Leben führt, sodass die externen Mittel überhaupt eine positive Wirkung auf ihn haben können, durchaus unaristotelisch ist (siehe Di Muzio 2000, S. 217). Wie wir im Folgenden sehen werden, sind all die von Aristoteles vorgeschlagenen Mittel extern. Dass das so sein muss, lässt sich in Anbetracht der von uns zuvor diskutierten These der selbst verbergenden Natur des Lasters deutlich verstehen. Es wäre ein Irrtum zu glauben, dass der Prozess der charakterlichen Verbesserung auf eine Entscheidung bzw. eine Epiphanie des Lasterhaften warten sollte, denn sein Problem besteht gerade darin, dass er selbst nicht zum besseren Handeln gelangen kann.

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nicht möglich, wenn doch nicht alles liebenswert ist, sondern nur das Gute? Das Schlechte aber ist weder liebenswert, noch soll man es lieben. Denn man darf nicht ein Liebhaber des Schlechten sein noch dem Schlechten ähnlich werden; und wir haben gesagt, dass Gleiches mit Gleichem befreundet ist. Muss man nun die Freundschaft sofort auflösen? Oder gilt dies nicht für die Freundschaft mit allen schlechten Menschen, sondern mit denjenigen, die in der Schlechtigkeit unheilbar sind? Denjenigen, die der Besserung fähig sind, muss man eher zu einem guten Charakter als zu ihrem Vermögen verhelfen, da diese Hilfe besser und der Freundschaft eigentümlicher ist. Andererseits wird man, wenn jemand die Freundschaft auflöst, nicht denken, dass er etwas Befremdliches tut; denn er war nicht der Freund eines so beschaffenen Menschen. Wenn der Freund sich daher geändert hat und er ihn nicht retten kann, gibt er ihn auf. 37

Die Maßnahmen, die in solch einem Fall ergriffen werden müssen, erfordern eine große Kontextsensibilität seitens des Akteurs. Aristoteles weigert sich, eine definitive bzw. übergreifende Lösung bereitzustellen, die in allen Situationen, in denen ein Freund sittlich schlechter wird, angewendet werden könnte. Der Grund scheint mir zu sein, dass die Wirkung der Hilfe, die der tugendhafte Freund zu leisten vermag, vom Grad der Schlechtigkeit des anderen Freundes abhängen wird. Um einer guten Freundschaft willen ist es selbstverständlich zu erwarten, dass ein tugendhafter Mensch einem Freund seine Hilfe anbietet, vor allem, wenn ihm klar ist, dass die andere Person nicht imstande ist, ihre Probleme und Konflikte erfolgreich zu bewältigen. Die Tatsache, dass wir uns nicht vollkommen unserer sittlichen Fehler bewusst sind, macht es oftmals erforderlich, dass unsere Freunde uns auf sie aufmerksam machen, sodass wir in der Lage sind, sie zu überwinden. Die Freunde erweisen sich in dieser Hinsicht als ideale Gefährten, die uns auf den richtigen Weg zu bringen vermögen, wenn wir uns von der richtigen Lebensweise entfernen. Jedoch liegt es auf der Hand, dass von keinem Menschen auf eine vernünftige Weise verlangt werden kann, dass er all seine persönlichen Projekte, Interessen und Ziele beiseitelässt, sodass er einen Freund ἐὰν δ’ ἀποδέχηται ὡς ἀγαθόν, γένηται δὲ μοχθηρὸς καὶ δοκῇ, ἆρ’ ἔτι φιλητέον; ἢ οὐ δυνατόν, εἴπερ μὴ πᾶν φιλητὸν ἀλλὰ τἀγαθόν; οὔτε δὲ φιλητὸν hτὸi πονηρὸν οὔτε δεῖ· φιλοπόνηρον γὰρ οὐ χρὴ εἶναι, οὐδ’ ὁμοιοῦσθαι φαύλῳ· εἴρηται δ’ ὅτι τὸ ὅμοιον τῷ ὁμοίῳ φίλον. ἆρ’ οὖν εὐθὺς διαλυτέον; ἢ οὐ πᾶσιν, ἀλλὰ τοῖς ἀνιάτοις κατὰ τὴν μοχθηρίαν; ἐπανόρθωσιν δ’ ἔχουσι μᾶλλον βοηθητέον εἰς τὸ ἦθος ἢ τὴν οὐσίαν, ὅσῳ βέλτιον καὶ τῆς φιλίας οἰκειότερον. δόξειε δ’ ἂν ὁ διαλυόμενος οὐδὲν ἄτοπον ποιεῖν· οὐ γὰρ τῷ τοιούτῳ φίλος ἦν· ἀλλοιωθέντα οὖν ἀδυνατῶν ἀνασῶσαι ἀφίσταται (NE IX 3, 1165b13–22).

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unterstützt, der sich etwa keine Mühe gibt, seine Verhaltensweise zu verbessern, und bei seiner Schlechtigkeit noch entschiedener beharrt, da u. a. die Gefahr besteht, dass der Tugendhafte selbst durch die Gesellschaft eines solchen Menschen vom guten Handeln abweicht, d. h., er könnte seine eigene gute Lebensführung aufs Spiel setzen, indem er dem Einfluss lasterhaften Verhaltens ständig ausgesetzt ist. Deshalb behauptet Aristoteles, es sei dem Tugendhaften nicht vorzuwerfen, dass er eventuell die Entscheidung trifft, die Freundschaft aufzulösen, wenn die letztere keine guten Aussichten mehr hat. Die Annahme solch eines Beschlusses wird entsprechend von den besonderen Umständen erheblich abhängen. Dass man zum sittlichen Fortschritt anderer Menschen einigermaßen beitragen kann, ist ein Gedanke, der ebenfalls hinter der aristotelischen Auffassung der Strafe (kolasis) steht. Es liegt nahe, dass Aristoteles kein Vertreter der lex talionis ist. Ganz im Gegenteil: Bei ihm lässt sich feststellen, dass die Strafen auf etwas Gutes sowohl für die zu bestrafenden Menschen als auch für die Gesellschaft abzielen. Deswegen setzt er die Tugend in Verbindung mit der Anwendung der Strafen, wenn er die Aufgaben eines tüchtigen Politikers in Erwägung zieht. Die Strafen werden von Aristoteles in der Politik als etwas eher Notwendiges erklärt: Das Beste wäre offensichtlich, dass weder der Einzelne noch der Staat dergleichen bedürfte; aber insofern sie aus der Gerechtigkeit entspringen und ein Übel beseitigen, kann man behaupten, dass die von einem Politiker in Kraft zu setzenden Strafen als tugendhaft angesehen werden müssen (siehe Pol. VII 13, 1332a10– 18) – wobei angenommen werden kann, dass diese tugendhaften Taten nicht nur als solche aufgrund ihres tüchtigen Urhebers gelten würden, sondern auch weil sie ein gutes Ziel haben, nämlich die Bürger sittlich besser zu machen. Dieser Argumentationsgang wird durch die Betrachtungen ergänzt, die Aristoteles mit Hinblick auf die Rolle der Gesetze und der Erziehung im letzten Teil der NE anstellt. Aristoteles stellt in diesem Teil seiner Abhandlung die Frage, ob die theoretische Leistung, die Grundlagen des guten menschlichen Lebens erörtert zu haben, hinreichend ist, um die Menschen auf den Weg der Tugend zu lenken. Seine Antwort auf diese Frage ist, wie die folgende Textstelle belegt, negativ: Die Leute aus der Menge jedoch vermögen Worte nicht zum Guten und Werthaften zu motivieren. Denn diese sind ihrer Natur nach so beschaffen,

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Charakterveränderung

dass sie nicht der Scham, sondern der Furcht gehorchen, und dass sie sich schlechter Handlungen nicht deshalb enthalten, weil diese niedrig sind, sondern weil sie Strafe nach sich ziehen. Denn indem sie nach ihren Affekten leben, suchen sie die ihnen eigene Lust und das, wodurch diese entsteht, und meiden die entgegengesetzte Unlust, haben vom Werthaften und wahrhaft Lustvollen nicht einmal eine Vorstellung, da sie nie davon gekostet haben. 38

Aristoteles ist der Ansicht, dass die Gesetze erforderliche Bedingungen des Gemeinlebens darstellen, weil sie u. a. die Schlechten durch Bedrohung davon abhalten, üble Taten zu begehen. Die ungebildeten Menschen stellen eine deutliche Gefahr für die Menschen dar, die ein tugendhaftes Leben führen wollen: Dadurch, dass die Leute aus der Menge keine richtige sittliche Erziehung bekommen haben, streben sie nach schlechten Zielen und können nicht durch Reden überzeugt werden, dass das, was sie tun, schädlich sowohl für die Gemeinschaft als auch für sie selbst ist. Mit Nachdruck betont Aristoteles, dass »es ja nicht möglich oder (zumindest) nicht leicht ist, das, was vor langer Zeit in den Charakter aufgenommen wurde, durch Worte zu beseitigen« 39 – wobei der Eindruck erweckt wird, dass jede sittliche Anleitung, die sich nur auf die Rationalität guter Argumente zugunsten einer tugendhaften Lebensführung beschränkt, notwendigerweise ihr Ziel verfehlen wird. Dahingegen sind die Strafen bessere Mittel, um eine radikalere Läuterung bei diesen Menschen herbeizuführen, denn Strafen beziehen sich auf die schlechten Sitten der Individuen und zwingen die letzteren, sich andere Praktiken hinzugeben, und zwar unabhängig davon, ob sie von der Angemessenheit derselben tatsächlich überzeugt sind. Dass sie andere Tätigkeiten ausüben und mit neuen Lebensweisen vertraut werden, kann eventuell zum Ziel führen, dass sie neue hexeis erwerben und ein besseres ēthos entfalten, aber das wird wie in den anderen Fällen, die wir angesprochen haben, von den besonderen Umständen maßgeblich abhängen. Die Verhängung von Strafen ist keine Garantie, dass das erwünschte Ziel erreicht wird, wie die folgenτοὺς δὲ πολλοὺς ἀδυνατεῖν πρὸς καλοκαγαθίαν προτρέψασθαι· οὐ γὰρ πεφύκασιν αἰδοῖ πειθαρχεῖν ἀλλὰ φόβῳ, οὐδ’ ἀπέχεσθαι τῶν φαύλων διὰ τὸ αἰσχρὸν ἀλλὰ διὰ τὰς τιμωρίας· πάθει γὰρ ζῶντες τὰς οἰκείας ἡδονὰς διώκουσι καὶ δι’ ὧν αὗται ἔσονται, φεύγουσι δὲ τὰς ἀντικειμένας λύπας, τοῦ δὲ καλοῦ καὶ ὡς ἀληθῶς ἡδέος οὐδ’ ἔννοιαν ἔχουσιν, ἄγευστοι ὄντες (NE X 10, 1179b10–16). 39 οὐ γὰρ οἷόν τε ἢ οὐ ῥᾴδιον τὰ ἐκ παλαιοῦ τοῖς ἤθεσι κατειλημμένα λόγῳ μεταστῆσαι (NE X 10, 1179b16–18). 38

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Die Typologie der Handelnden und die Charakterveränderung

de Behauptung, die Aristoteles im Kontext dieser Diskussion macht, deutlicherweise zeigt: »Denjenigen aber, die nicht hören und von schlechterer Natur sind, müssten sie Züchtigungen und Strafen auferlegen und die Unheilbaren schließlich ganz aus dem Staat verbannen.« 40 Die Ergebnisse dieses Verfahrens, wie sich daraus entnehmen lässt, können entweder äußerst positiv oder negativ sein, aber das wird sich nur feststellen lassen, wenn alles, was in der Macht des Gesetzgebers bzw. der Gesellschaft hinsichtlich der sittlichen Läuterung der Schlechten steht, getan wurde. Ein unverbesserliches ēthos zu haben, ist etwas, das letztlich zur sozialen Isolierung des Betroffenen führt, 41 aber bevor diese Maßnahme ergriffen wird, müssen zunächst all die vorhandenen Optionen erschöpft werden. Es liegt auf der Hand, dass Aristoteles mit seinen ethischen Schriften niemals beabsichtigte, die ideale Methode bereitzustellen, um die unvollkommenen Charaktere des Menschen zu korrigieren. Damit ist zu erklären, dass er die Thematik der Charakterveränderung oftmals nur im Umriss und immer in Ansehung anderer wichtiger nahverwandter Punkte angesprochen hat. Der Standpunkt, den er im Grunde für die Aufgabe der praktischen Philosophie berücksichtigt, ist der des tugendhaften Handelnden, der unterschiedliche Bestrebungen unternehmen muss, um die menschlichen Vortrefflichkeiten zu entfalten und die eudaimonia durch die Ausübung der philosophischen Lebensform zu erlangen. Die Tatsache aber, dass er sich auch mit diesen besonderen Fällen auseinandergesetzt hat, deutet darauf hin, dass er sich der vielfachen Faktoren bewusst war, die das ἀπειθοῦσι δὲ καὶ ἀφυεστέροις οὖσι κολάσεις τε καὶ τιμωρίας ἐπιτιθέναι, τοὺς δ’ ἀνιάτους ὅλως ἐξορίζειν (NE X 10, 1180a8–10). 41 Trotz der selbst verbergenden Natur des Lasters ist zweifelsohne festzustellen, dass die Schlechten äußerst unzufrieden sind und dass sie selbst ihre eigene Existenz als schmerzlich bzw. bemitleidenswert betrachten. Die kakodaimonia, d. h., die äußerste schlechte Lebensführung, durch welche sie sich auszeichnen, führt oftmals zu der Konsequenz, dass diese Menschen nur die Gesellschaft mit anderen Schlechten suchen: »Diejenigen aber, die viele schreckliche Dinge getan haben und aufgrund ihrer Schlechtigkeit gehasst werden, fliehen sogar das Leben und zerstören sich selbst. Die Schlechten suchen Menschen, mit denen sie die Tage verbringen können, sich selbst aber fliehen sie. Denn sie erinnern sich an viele schlimme Dinge und erwarten anderes von derselben Art, wenn sie für sich sind; wenn sie aber mit anderen zusammen sind, vergessen sie es« (οἷς δὲ πολλὰ καὶ δεινὰ πέπρακται καὶ διὰ τὴν μοχθηρίαν μισοῦνται, καὶ φεύγουσι τὸ ζῆν καὶ ἀναιροῦσιν ἑαυτούς. ζητοῦσί τε οἱ μοχθηροὶ μεθ’ ὧν συνημερεύσουσιν, ἑαυτοὺς δὲ φεύγουσιν· ἀναμιμνήσκονται γὰρ πολλῶν καὶ δυσχερῶν, καὶ τοιαῦθ’ ἕτερα ἐλπίζουσι, καθ’ ἑαυτοὺς ὄντες, μεθ’ ἑτέρων δ’ ὄντες ἐπιλανθάνονται) (NE IX 4, 1166b11–16). 40

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Charakterveränderung

menschliche Gedeihen in Gefahr setzen. Die aristotelische Behandlung dieser Problematiken zeigt, dass für ihn die komplexen Angelegenheiten, die mit der menschlichen Praxis zusammenhängen, keine vorgefertigten Lösungen erlauben. Die scharfe Kontextsensibilität, die Aristoteles für das Treffen des Guten als notwendig erachtet hat, brachte er selbst in seiner praktischen Philosophie zur Anwendung, indem er sich weigerte, allerklärende Ursachen der Charakterveränderung zu identifizieren und eine unfehlbare Methode zur Verfügung zu stellen, mittels derer die Menschen zu besseren Handlungsweisen gebracht werden können. Da sich die menschlichen ēthē nur unter sehr besonderen Voraussetzungen, die nicht immer vorliegen, verändern lassen, ist ein derartiger Weg ausgeschlossen. Gerade in Anbetracht dieser theoretischen Schwierigkeit sollte vielleicht unsere Aufmerksamkeit nicht so sehr auf die Berichtigung möglicher Fehler gerichtet sein, sondern eher auf die Nachahmung des guten Menschen, der Aristoteles zufolge Richtschnur und Maß für die Wahrheit in jedem Fall ist.

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Schlusswort

Mit der vorliegenden Studie wurde der Aufgabe nachgegangen, die unterschiedlichen Rollen des ēthos in der Architektonik der aristotelischen praktischen Philosophie darzulegen und analysieren. Die Komplexität des ēthos-Begriffes hat in unserer Untersuchung zu unterschiedlichen Betrachtungen hinsichtlich der Natur der Habituationsprozesse, der praktischen Vernunft, der inneren Beschaffenheit unterschiedlicher Praxisakteure und der Grundlagen einer angemessenen sittlichen Beurteilung geführt. In Anbetracht dieser hermeneutischen Herausforderung war es notwendig, eine Interpretation zu entfalten, die all diesen grundlegenden Aspekten der aristotelischen Theorie gerecht werden und die Einheit des ēthos als psychischen Kern der sittlichen Verfasstheit eines Handelnden angemessen zur Darstellung bringen konnte. Es liegt deshalb nahe, dass der Untersuchungsgegenstand, mit welchem wir uns auseinandergesetzt haben, als ein entscheidendes Motiv anzusehen ist, das die gesamte aristotelische Philosophie maßgeblich prägt. Die nähere Betrachtung desselben hat uns neue Zugänge eröffnet, um wichtige bzw. kontroverse Fragen zu behandeln, zu welchen das aristotelische gedankliche Erbe immer noch Anlass gibt. Obwohl ich keineswegs beanspruche, eine definitive Lösung zu all den in dieser Untersuchung behandelten Problematiken zu liefern, bin ich der Hoffnung, dass die hier eingeschlagenen Interpretationswege noch weitere Perspektiven eröffnen können, um den Dialog mit dieser grundlegenden Figur des abendländischen Denkens auf eine fruchtbare Weise fortzusetzen. Trotz der Komplexität der Aufgabe, die semantische Mannigfaltigkeit des ēthos in all diesen Diskussionskontexten vor Augen zu haben, bin ich der festen Überzeugung, dass es diesen Versuch wert ist, um zum einen die Lesarten zu vermeiden, die ein sehr einfaches Bild des aristotelischen Denkens vorlegen, und zum anderen die enorme Aktualität des aristotelischen Ansatzes angemessener zu würdigen, vor allem mit Hinblick auf die unterschiedlichen Praxisherausforderun256

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Schlusswort

gen, mit denen wir als Handelnde ständig konfrontiert sind. Einen guten Charakter in aristotelischer Hinsicht zu entfalten bedeutet nicht, gewisse Vorlieben für diese oder jene Dinge zu haben, sondern einen harmonischen seelischen Zustand zu erreichen, in welchem unsere verschiedenen Vermögen, Dispositionen und Talente auf die guten Ziele ausgerichtet sind, die das menschliche Leben wertvoll machen. Und das ist m. E. ein Ideal, das nichts an Gültigkeit verloren hat und sich immer noch anzustreben lohnt.

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Abkürzungsverzeichnis der zitierten Werke des Aristoteles

Cat. DA De Memoria EE GA HA MA Met. MM NE PA Phys. Poet. Pol. Rhet. Top.

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Categoriae (Kategorienschrift) De Anima De Memoria et Reminiscentia Ethica Eudemia (Eudemische Ethik) De Generatione Animalium Historia Animalium De Motu Animalium Metaphysica (Metaphysik) Magna Moralia Ethica Nicomachea (Nikomachische Ethik) De Partibus Animalium Physica (Physik) De Arte Poetica (Poetik) Politica (Politik) Ars Rhetorica Topica (Topik)

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Stellenverzeichnis

Aristoteles Cat. 8, 8b27–28 198 8, 8b28 ff. 124 8, 8b30 142 10, 13a23–31 241 DA I 1, 403a16–17 115 I 1, 403a25 116 I 1, 403a29 ff. 116 I 4, 408b13 ff. 116 II 1, 412a20–22 95 II 1, 412a22–27 140 II 3, 414b2 97 II 5, 417a1–b2 140 III 4, 429b5–9 140 III 7, 431b8–12 165 III 9, 432b19–433a1 201 III 9, 433a24–25 201 III 10, 433a9–17 165 III 10, 433a15–17 201 III 10, 433a18–21 200 III 10, 433b6–7 181 III 10, 433b29–30 120 III 11, 434a5–10 120 De caelo III 1, 298b23 168 De memoria 2, 452a27–b4 142 2, 452a30 ff. 153

EE I 2, 1214b9–17 182 I 4, 1215a20–25 154 I 6, 1216b30–35 183 II 1, 1220a29–32 154 II 1, 1220a29–31 116 II 1, 1219a6–8 155 II 1, 1219a9–11 155 II 1, 1219b8–11 155 II 2, 1220a38–1220b3 18 II 2, 1220a39–1220b5 108 II 2, 1220b5–7 108, 190 II 5, 1222a10–12 118 II 7, 1223a26–27 97 II 8, 1224a33–36 236 II 8, 1224b15–19 236 II 10, 1226a21–32 113 II 10, 1226a21–32 153 II 11, 1228a2–4 23 II 11, 1227b22–25 171 II 11, 1227b25–28 198 II 11, 1228a2–4 187 II 11, 1228a11–15 187 II 11, 1228a15–18 207 III 7, 1234a28–32 135 VII 2, 1237a3–7 134 VIII 1, 1246a36–38 134 VIII 1, 1247b25 134 VIII 1, 1247b25–26 134 VIII 1, 1247b23–25 134 VIII 1, 1248b17 ff. 164 GA I 23, 731b8 94 II 1, 732a25–733b23 68 II 1, 732b30 68

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Stellenverzeichnis II 1, 733a32–33 68 II 4, 737b25–27 68 II 6, 744a30–31 68 III 8, 748b7–17 132 IV 4, 770a6–7 214 IV 4, 770a31–35 214 V 2, 781a28 65 HA I 1, 487a11–14 60 I 1, 488b12–26 65 VIII 1, 588a16–b3 61 VIII 1, 588a30–31 126 VIII 1, 588b4–6 62 MA 6, 700b19 97 6, 700b23 202 7, 701a6 ff. 165 7, 701a25 201 8, 702a19 120 Met. I 2, 982b4 168 IV 2, 1003a33 27 IV 3, 1005b19 ff. 87 VII 6, 1029a1–6 95 IX 5, 1047b31–35 142 MM I 1, 1181a25–1182b28 112 I 1, 1182a20 144 NE I 1, 1094b1 73 I 1, 1094b12–27 153 I 1, 1094b25 102 I 1, 1095a6 73 I 1, 1095a6 76 I 1, 1095a7 28, 75 I 1, 1095a9 75 I 1, 1095a10 85 I 2, 1095a26–28 92 I 6, 1098a11 ff. 142 I 6, 1098a2–6 97 I 7, 1098a25–34 153 I 8, 1098b1–4 102

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I 9, 1099b3 129 I 13, 1102b12–18 97 I 13, 1102b18–20 103 I 13, 1102b25 102 I 13, 1102b26, 33 100 I 13, 1102b28 103 I 13, 1102b34–35 103 I 13, 1103a1–8 170 I 13, 1103a2 97 I 13, 1103a3–4 101 II 1, 1103a17 ff. 14 II 1, 1103a17 ff. 18 II 1, 1103a19–23 111 II 1, 1103a23–26 112 II 1, 1103b21–25 198 II 1, 1103b21–24 123 II 2, 1103b21–25 142 II 2, 1103b21–25 158 II 2, 1104a8 114 II 2, 1104a10 ff. 118 II 2, 1104a27–b3 154 II 2, 1104b–1105a1 121 II 2, 1104b3–11 200 II 2, 1104b9–13 117 II 2, 1104b13 115 II 2, 1104b13–15 117 II 2, 1104b21–23 113 II 2, 1104b21–23 220 II 2, 1104b25–26 116 II 2, 1104b27–1105a1 200 II 2, 1105a10 117 II 2, 1105a12–16 154 II 3, 1105a30–34 154 II 3, 1105b5–9 199 II 4, 1105b21–23 115 II 4, 1106a3–4 194 II 6, 1106b36–1107a6 136 II 6, 1106b27–28 137 II 6, 1106b36–1107a2 193 II 6, 1107a3 80 II 9, 1109a20–30 219 II 9, 1109b14–23 153 III 1, 1109b34–35 204 III 1, 1110b11 164 III 2, 1111a3–6 114 III 2, 1111a3–6 220 III 4, 1111b5–6 23

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Stellenverzeichnis III 4, 1111b5–6 187 III 4, 1111b6 28 III 4, 1111b19–31 197 III 4, 1111b26–27 122, 197 III 4, 1111b28–29 197 III 4, 1112a1–3 187 III 4, 1112a6–7 202 III 4, 1112a16–17 195 III 5, 1112a21–b16 113, 153 III 5, 1112a30 ff. 179 III 5, 1112b11 ff. 166 III 6, 1113a15 171 III 6, 1113a15–22 223 III 6, 1113a25–29 224 III 6, 1113a29–33 169 III 6, 1113a29–1113b1 224 III 7, 1114a14–22 242 III 7, 1114a31–b1 176 III 7, 1113b2–5 122, 171 III 7, 1113b21–30 246 III 7, 1113b33–1114a3 247 III 7, 1114a7–10 244 III 7, 1114b6–8 134 III 7, 1114b11–12 134 III 10, 1115b20 ff. 198 III 10, 1115b20–24 122 III 13, 1118b21–27 118 IV 1, 1120a23–24 164 IV 3, 1121a5–7 149 IV 3, 1121a19–26 156 IV 3, 1121b6 28 IV 4, 1122a28–29 147 IV 6, 1123a32–33 156 IV 7, 1123b5–6 147 IV 9, 1125a16–19 156 IV 13, 1127b23 28 V 1, 1129a13–15 198, 220 V 7, 1132a2–4 150 V 10, 1134a19–23 150 VI 2, 1138b35 ff. 124 VI 2, 1139a1 28 IV 2, 1139a3–1139b5 195 VI 2, 1139a14 102 VI 2, 1139a21–26 196 VI 2, 1139a23 164 VI 2, 1139a25 203 VI 2, 1139a26–27 138, 164

VI 2, 1139a27 102 VI 2, 1139a30–31 196 VI 2, 1139a32 164 VI 2, 1139b5 23 VI 2, 1139b5–11 113, 153, 164 VI 2, 1139b7–8 181 VI 3, 1139b15–17 163 VI 3, 1139b31–32 124 VI 4, 1140a1–21 73 VI 4, 1140a5 ff. 123 VI 4, 1140a20–21 124 VI 5, 1140a24–25 168 VI 5, 1140a25–28 181 VI 5, 1140b5, b20–21 170 VI 5, 1140b6–7 167, 183 VI 5, 1140b8–10 169 VI 5, 1140b16–20 199 VI 8, 1141b22–33 185 VI 8, 1141b23–24 141, 184 VI 8, 1141b25 184 VI 9, 1142a11–20 75 VI 9, 1142a12–16 75 VI 13, 1144a8–9 171 VI 13, 1144a20–22 171 VI 13, 1144a31–36 176 VI 13, 1144a34 144 VI 13, 1144a34–1144b1 199 VI 13, 1144b1 ff. 219 VI 13, 1144b1–14 126, 135, 221 VI 13 1144b19–21 144 VI 13 1144b30 59 VI 13, 1144b30–32 144 VI 13, 1144b32–1145a2 110 VI 13, 1144b35 145 VII 1, 1145a15–22 210 VII 1, 1145a18 24 VII 1, 1145a26 216 VII 1, 1145a29–30 212 VII 1, 1145a30–32 213 VII 2, 1145b16 219 VII 3, 1145b21–27 87 VII 3, 1146a10–15 235 VII 3, 1146a16–17 219 VII 5, 1147a1–3 230 VII 5, 1147a4–9 230 VII 5, 1147a10–20 232 VII 5, 1147a31–1147b3 233

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Stellenverzeichnis VII 6, 1148a6 219 VII 6, 1148a11–20 204 VII 6, 1148a16–22 226 VII 6, 1148a19–21 211 VII 6, 1148a23 ff. 230 VII 6, 1148a23–31 212 VII 6, 1148b16, 34 213 VII 6, 1148b17–18 214 VII 6, 1149a2–5 217 VII 6, 1149a16–20 217 VII 9, 1150b29–32 205, 235 VII 9, 1150b32–36 224, 248 VII 9, 1151a5–8 227 VII 9, 1151a10–14 248 VII 9, 1151a19 219 VII 9, 1151a23–25 250 VII 9, 1151a29 219 VII 10, 1151b28 219 VII 11, 1151b34–1152a4 237 VII 11, 1152a8 219 VII 11, 1152a11 219 VII 11, 1152a17 203 VII 11, 1152a29–33 142 VII 1155b10 28 VIII 3, 1156a31–1156b4 77 VIII 7, 1157b28–32 205 IX 3, 1165b6 28 IX 3, 1165b6–12 207 IX 3, 1165b13–22 251 IX 4, 1166a16 95 IX 4, 1166a18–26 182 IX 4, 1166b11–16 254 IX 8, 1168b25–30 164 IX 8, 1168b34–1169a 195 IX 8, 1169a18–25 164 IX 11, 1171b30 ff. 206 X 1, 1172a22 28 X 2, 1172b15 28 X 8, 1178a16 28 X 8, 1178a17 28 X 10, 1179b10 82 X 10, 1179b11 82 X 10, 1179b15 82 X 10, 1179b25–26 82 X 10, 1179b30–31 82 X 10, 1179b7–10 129 X 10, 1179b10 ff. 226

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X 10, 1179b10–16 253 X 10, 1179b16–18 253 X 10, 1179b32–1180a4 246 X 10,1180a8–10 254 X 10, 1180a10 83 X 10, 1181b15 83 PA I 5, 644b5–645a15 63 II 2, 648a9–11 68 II 3, 650a35–b2 67 II 4, 651a12–17 67 II 7, 653a30–31 68 II 10, 656a12–13 68 III 4, 667a11–22 67 III 6, 669b3–6 68 IV 10, 686a24–32 68 Phy. II 1, 193a12–193b9 73 VIII 1, 251b20 137 Poet. 6, 1450b8–11 188 15, 1454a16–22 S. 188 Pol. I 2, 1253a15–17 84 I 2, 1253a19–29 84 I 9, 1257a40–41 65 II 2, 1261a10–1261b15 90 III 4, 1276b26–30 84 III 4, 1277b10–15 83 III 13, 1284a3–11 212 III 13, 1284b28–34 213 III 16, 1287a30–32 97 IV 8, 1294a20 129 V 1, 1301b3–4 129 VII 4, 1325b40–1326a3 72 VII 4, 1325b40 ff. 219 VII 7, 1327b18–38 71 VII 7, 1327b36–38 97 VII 13, 1332a10–18 226, 252 VII 13, 1332a19–25 224 VII 14, 1333a15–18 97 VII 15, 1334b18 ff. 124 VII 16, 1334b30–38 128

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Stellenverzeichnis VII 16, 1335a3–6 128 VII 16, 1335a29–1336a6 72 VII 16, 1335a30–32 128 Rhet. I 3, 1359a2–5 164 I 5,1360b19–30 129 I 5, 1360b31–38 130 I 10, 1368b36–1369a4 197 I 10, 1369a1–4 97 I 11, 1370a6–9 142 I 11, 1370a7–9 153 II 1, 1378a19–26 116 II 12, 1389a5–6 78 II 12, 1389a15–16 80 II 2, 1389b2 80 II 12, 1389b2–3 80 II 12, 1389b4 80 II 13, 1389a33–34 80 II 13, 1389b13–1390a23 81 II 15, 1390b21–3 130 III 16, 1417a16–21 188 III 16, 1417a24–28 203 Top. I 11, 105a1–6 85 IV 5, 126a12–14 197 VIII 14, 163b9 168 VIII 14, 163b9–16 132

Platon Definitiones 412 e8 195 Gorgias 466a–474b 226 505e–506e 225 509e 225 516e 169 516e ff. 169 Menon 94a–c 169

Nomoi II 655d–656a 49 II 659c 49 V 746a 137 VI 775c–d 51 VII 788a–b 50 VII 791d 56 VII 792c–d 53 VII 792d–e 55 VII 792e 18 VII 797e–798a 54 VII 798d 52 VIII 837b 50 VIII 837c 50 X 901a 46 X 908b 48 XI 918c–922a 56 XI 930a 51 Phaidros 245b 194 245b–249b 87 Politeia II 370a–c 90 II 375c 46 II 375e 46 III 398a–b 49 III 400e 46 III 401a–c 49 III 401d–402d III 409c–d 48 IV 422d–423c IV 436a–b 86 IV 436b 87 IV 439e–441c IV 442b–c 88 IV 443d–e 87 IV 441c–445e V 462a–e 88 VI 496b 46 VI 497b–c 48 VI 500d 49 VI 500e 49 VI 501a 49 VI 501c 49 VI 506d–509b

49 88 88 88

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Stellenverzeichnis VIII 544a 47 VIII 544c–d 47 VIII 544d–e 47 VIII 549a 46 IX 577a 52 X 597a–598b 49 X 604e–605a 49 X 605a 46 X 607a 49

Athenaios Dipnophistarum 4, 48, 158e 36 Clemens von Alexandria Stromata 5, 70, 1 36 Demosthenes De Corona 192–193 195

Politikos 309a 48 310c–d 50

In Aristocratem 127 195 141 195

Protagoras 345d 87, 225 345d–e 229

In Midiam 43–44 195

Sophistes 251e 194

Empedokles DK 31 B 110 43

Thaitetos 147d 194 176a 55 176a ff. 55

Euripides Antiope 201, 1–4 37

Sonstige Autoren

Autolykus 282, 1–9 37

Aischylos Sieben gegen Theben 610 89

Die Hilfeflehenden 869–871 35 907 36

Alexander von Aphrodisias De fato VI 170, 20–171, 8 243 XXVII 197, 3–11 243

Elektra 363 36

Problemata ethica XIX 140, 5–7 122

Heraklit DK 22 B 2 40 DK 22 B 5 40 DK 22 B 18 40 DK 22 B 41 40 DK 22 B 43 40 DK 22 B 44 40 DK 22 B 53 39

Aristophanes Die Wespen 877 33

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Medea 98–109 34

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Stellenverzeichnis DK 22 B 78 40 DK 22 B 80 39 DK 22 B 117 40 DK 22 B 119 39 DK 22 B 136 40 Herodot Historien I 15, 157 28 Hesiod Werke und Tage 167 28 Homer Ilias VI 511 28 XXIV 258 ff. 210 Odyssee XIV 411 28

Sophocles Antigone 705–706 32 746 33 Aias 595 33 520–524 129 Stobaios Anthologium II 7, 13 192 Theognis Elegien I 213 29 I 965–966 29 I 967 29 I 1071–1074 29 II 967 29 II 1243–1244 29 II 1302 29

Pindar Nemëische Oden VIII 35–36 30 VIII 37 30

Theophrast Charaktere 15-17 66

Olympische Oden XI 19–20 30 XIII 13 30

Thomas von Aquin Summa Theologiae Ia–IIae, q. 77, a. 2 ad 4 234

Pythagoras DK 14–16 41 DK 14 2 41

Xenophanes DK 21 B 2 37

Sextus Empiricus Adversus Mathematicos I 288 36

Xenophon Memorabilien III 10, 3 36 IV 8, 11 36 Symposion VII 3 36 VIII 13 36

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Literatur

Primärtexte und verwendete Übersetzungen Aristoteles Primärtexte Aristotelis (1959): Ars Rhetorica, hrg. von W. D. Ross, Oxford. Aristotelis (1949): Categoriae et liber De Interpretatione, hrg. von L. MinioPaluello, Oxford. Aristotelis (1961): De Anima, hrg. von W. D. Ross, Oxford. Aristotle (2012): De Arte Poetica, hrg. von L. Tarán, Boston – Leiden. Aristotelis (1965): De Generatione Animalium, hrg. von L. Drossart, Oxford. Aristotle (1978): De Motu Animalium, hrg. von M. Nussbaum, Princeton. Aristotle (1980): De Partibus Animalium, hrg. von I. Düring, New York. Aristotelis (1991): Ethica Eudemia, hrg. von R. R. Walzer und J. G. Mingay, Oxford. Aristotelis (1894): Ethica Nicomachea, hrg. von I. Bywater, Oxford. Aristotle (2011): Historia Animalium, hrg. von D. Balme, Cambridge. Aristotelis (1883): Magna Moralia, hrg. von F. Susemihl, Leipzig. Aristotelis (1957): Metaphysica, hrg. von W. Jaeger, Oxford. Aristotle (1955): Parva Naturalia, hrg. von W. D. Ross, Oxford. Aristotelis (1950): Physica, hrg. von W. D. Ross, Oxford. Aristotelis (1957): Politica, hrg. von W. D. Ross, Oxford. Aristotelis (1958): Topica et Sophistici Elenchi, hrg. von W. D. Ross, Oxford.

Übersetzungen Ars Rhetorica Rapp C. (2002a): Aristoteles. Rhetorik (I): Berlin. Rapp C. (2002b): Aristoteles. Rhetorik (II): Berlin. Categoriae Oehler K. (2006): Aristoteles. Kategorien, Berlin.

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Literatur De Anima Theiler W. (1995): Aristoteles. Über die Seele, Hamburg. De Ars Poetica Schmitt A. (2008): Poetik, Berlin. De Generatione Animalium Gohlke P. (1959): Aristoteles. Über die Zeugung der Geschöpfe, Paderborn. De Motu Animalium Kollesch J. (1985): Aristoteles. Über die Bewegung der Lebewesen, Berlin. De Partibus Animalium Kullmann W. (2007): Über die Teile der Lebewesen, Berlin. Ethica Eudemia Dirlmeier F. (1967): Aristoteles. Eudemische Ethik, Berlin. Kenny A. (2011): Aristotle. Eudemian Ethics, Oxford. Ethica Nicomachea 1 Broadie S. und Rowe C. (2002): Nicomachean Ethics, Oxford. Crisp R. (2000): Aristotle. Nicomachean Ethics, Cambridge. Dirlmeier F. (1984): Aristoteles. Nikomachische Ethik, Berlin. Gadamer H. G. (1998): Aristoteles. Nikomachische Ethik VI, Frankfurt. Gigon O. (2010): Die Nikomachische Ethik, München. Wolf U. (2006): Aristoteles. Nikomachische Ethik, Hamburg. Historia Animalium Aubert H. und Wimmer F. (1868): Aristoteles. Thierkunde, Leipzig. Magna Moralia Dirlmeier F. (1973): Magna Moralia, Darmstadt. Metaphysica Bonitz H. (1994): Metaphysik, Hamburg. Physica Zekl H. G. (1987): Physik, Hamburg. Politica Susemihl F. (2009): Politik, Hamburg. Die in dieser Arbeit verwendete deutsche Übersetzung der NE ist die von Ursula Wolf, wenngleich sie gelegentlich mit kleinen Modifizierungen wiedergegeben wird; andere Übersetzungen wurden aufgrund ihrer kritischen Apparate und besonderer Übersetzungsvorschläge entscheidender Termini für die Diskussion mitberücksichtigt.

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Literatur Topica Rapp C. und Wagner T. (2004): Topik, Stuttgart. Smith R. (1997): Aristotle. Topics. Books I and VIII with Excerpts from Related Texts, Oxford.

Platon Burnet J. (1900–1907): Platonis opera (I–V), Oxford. Platon (1990): Werke in acht Bänden, Darmstadt. Platon (1989): Der Staat, Hamburg.

Sonstige Autoren 2 Alexandri Aphrodisiensis (1887): Scripta Minora (I–II), Berlin. Alexander von Aphrodisias (1995): Über das Schicksal, Berlin. Diels H. und Kranz W. (1903): Die Fragmente der Vorsokratiker (I–III), Berlin. Kirk J. S., Raven J. E. und Schofield M. (2001): Die vorsokratischen Philosophen: Einführung, Text und Kommentar, Stuttgart. Euripides (1983): Medea, Stuttgart. Herodoti (1963): Historiae (I–II), Oxford. Ioannis Stobaei (1909): Anthologium, Berlin. Sancti Thomae Aquinatis (1888): Summa Theologiae (Textum Leoninum), Rom. Thomas von Aquin (1887): Summe der Theologie, Regensburg.

Hilfsmittel Höffe O. (Hrg.) (2005): Aristoteles-Lexikon, Stuttgart. Horn C. und Rapp C. (Hrg.) (2008): Wörterbuch der antiken Philosophie, München. Lidell H. G. und Scott R. (2001): A Greek-English Lexicon, Oxford. Rapp C. und Corcilius K. (Hrg.) (2011): Aristoteles Handbuch, Stuttgart/Weimar.

Sekundärliteraur Achtenberg D. (2002): Cognition of Value in Aristotle’s Ethics, Albany. Adkins L. und Adkins R. A. (2005): Handbook to Life in Ancient Greece, New York. Die epischen, elegischen und tragischen Dichter wurden im Altgriechischen nach den zweisprachigen Ausgaben der Loeb Classical Library zitiert.

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