Ethik und Politik des Aristoteles in der Frühen Neuzeit [2 ed.] 9783787328994, 9783787328987

Der frühneuzeitliche Humanismus stellt bekanntlich den Menschen ins Zentrum des Interesses. In zahlreichen Darstellungen

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German Pages 311 [322] Year 1996

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Ethik und Politik des Aristoteles in der Frühen Neuzeit [2 ed.]
 9783787328994, 9783787328987

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Archiv für Begriffsgeschichte · Sonderheft 12



Archiv für Begriffsgeschichte Begründet von Erich Rothacker herausgegeben von Christian Bermes, Ulrich Dierse und Michael Erler Redaktion: Annika Hand

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG



Ethik und Politik des Aristoteles in der Frühen Neuzeit herausgegeben von Christoph Strosetzki in Verbindung mit Walter Mesch und Christian Pietsch

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG



Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar. ISBN 978-3-7873-2898-7 ISBN eBook: 978-3 7873-2899-4

© Felix Meiner Verlag Hamburg 2016. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§  53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Satz: Type & Buch Kusel, Hamburg. Druck und Bindung: Druckhaus Beltz, Bad Langensalza. Werkdruck­ papier: alterungsbeständig nach ANSI-Norm resp. DIN-ISO 9706, hergestellt aus 100% chlorfrei gebleichte Zellwww.meiner.de/afb stoff. Printed in Germany.



INHALT

Christoph Strosetzki Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Uwe Baumann Basileia und Tyrannis in der Dramatik und der Dichtung der Englischen Renaissance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 David A. Lines Ethics, Politics and History in Bernardo Segni (1504–1558) . . . . . . . . . . . . 45 Walter Mesch Das Göttliche in uns und das menschliche Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 Jörn Müller Der Kommentar zur Nikomachischen Ethik von Johannes Versor († 1485) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 Matthias Perkams Gesetz und Gewissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Christian Pietsch Freiheit und Schicksal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 Riccardo Pozzo Die Begründungsfunktion der Habituslehre bei Piccolomini und Duodo . 167 Christof Rapp John Rainolds über ethische Aspekte der Aristotelischen Rhetorik . . . . . 177 Bernd Roling Lutherische Debatten über die virtus heroica zwischen Heldentum und Askese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 Salvador Rus Rufino El Hombre ¿Animal Político o Social? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 Richard Saage Atistoteles-Kritik und frühneuzeitliche Modernisierung . . . . . . . . . . . . . . . 243 Christian Schäfer Das Gesetz des Handelns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257

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Inhalt

Arbogast Schmitt Zur Grundlegung der Ethik in einer ›Kultur des Gefühls‹ bei Aristoteles 277 Christoph Strosetzki Zum Kaufmann bei Aristoteles und im Spanien der Frühen Neuzeit . . . . . 303

Vorwort

Bekanntlich ist es ein Charakteristikum des frühneuzeitlichen Humanismus, den Menschen ins Zentrum des Interesses zu stellen. Dabei wird er nicht nur allgemein und theoretisch, sondern auch in seinen konkreten Erscheinungsformen und praktischen Verrichtungen betrachtet. Die unterschiedlichen Alltagswelten beruflicher und privater Art werden beobachtet, beschrieben, miteinander verglichen und beurteilt. Ein gutes Beispiel dafür ist La piazza universale di tutte le professioni del mondo (1587) des Italieners Tomaso Garzoni. Das italienische Wort »professioni« wird in der deutschen Übersetzung aus dem Jahr 1619 mit »Professionen, Künsten, Geschäfften, Händlen vnd Handiwercken« übersetzt und umschrieben, während in der spanischen Übersetzung von Christóval Suárez de Figuero von 1615 nur von »plaza universal de todas ciencias y artes« die Rede ist. Auf mehr als 700 Seiten werden in 153 Kapiteln nicht nur Berufe mit ihren berufsbezogenen Wissensdisziplinen vorgestellt, sondern auch unterschiedlichste Bereiche alltäglicher Praxis. Garzonis Werk La piazza universale ist der seltene Fall einer Gesamtschau menschlicher Alltagswelten beruflicher und privater Art. Zahlreicher sind die teils deskriptiven, teils normativen Darstellungen einzelner Lebenswelten, die neben weiteren literarischen Gattungen nutzbringend herangezogen werden sollen. Bei den Humanisten finden sich für zahlreiche Verhaltensbereiche entsprechende Traktate, die ein gewisses standesbedingtes und kulturelles Apriori bilden, das sowohl das Handeln als auch das Erkennen mitbedingt. Vorliegender Band stellt nun die Frage, inwiefern die Theorien des Aristoteles in Ethik und Politik nach wie vor eine Rolle bei der Erörterung des Verhaltens des einzelnen und der Gestaltung der Gesellschaft spielen. Weiter ist zu fragen, ob der Rückgriff auf Aristoteles mit einer eindeutigen Wertung verbunden ist und ob es sich eher um äußere Referenzen oder um die Artikulation zentraler Gehalte handelt. Und ist die Renaissance nicht eher von Platon als von Aristoteles geprägt? Dante rühmt Aristoteles ähnlich wie Albertus Magnus oder Thomas von Aquin noch als »Meister derer, die wissen«, und macht so dem scholastischen Aristotelismus alle Ehre. Doch schon zwischen Petrarca und Ficino wird immer häufiger die Auffassung vertreten, dass der »göttliche Platon« Aristoteles vorzuziehen sei. In dieselbe Richtung deutet Cristofero Landinos Auszeichnung Platons als »Fürst der Philosophen«, die wie Ficinos Übersetzungen und Kommentare platonischer Schriften in den Kontext des Florentiner Platonismus gehört. Wohl nicht zuletzt angesichts dieser Entwicklung in Florenz hat sich in der kulturhistorischen Wahrnehmung der Renaissance weithin die Ansicht durchgesetzt, sie sei in philosophischer Hinsicht primär oder gar ausschließlich platoArchiv für Begriffsgeschichte · Sonderheft 12 · © Felix Meiner Verlag 2016 · ISBN 978-3-7873-2525-2

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Vorwort

nisch orientiert. Bei näherem Hinsehen lässt sich diese Ansicht jedoch kaum aufrechterhalten. Schon im Blick auf die Lage in Italien wird man dem Florentiner Platonismus einen Paduaner (oder Venezianer) Aristotelismus entgegenstellen müssen. Zu denken ist dabei an wichtige Kommentatoren wie Tomeo, Pomponazzi, Piccolomini und Zabarella – um nur wenige zu nennen –, aber auch an die berühmte Erstausgabe des griechischen Aristoteles durch Minuzio, die zwischen 1495 und 1498 erscheint. Blickt man über Italien hinaus, zeigt sich ebenfalls, dass die Auseinandersetzung mit Aristoteles im 15. und 16. Jahrhundert keineswegs abreißt. Von der spanischen Spätscholastik (z. B. Francisco de Vittoria) über die Deutsche Reformation (z. B. Philipp Melanchthon) bis zum Frankreich der Religionskriege (z. B. Jean Bodin) finden sich prominente Beiträge zur Aristoteles-Rezeption. In der Kommentierung des Aristoteles ist die Produktivität der Auseinandersetzung enorm, was sich bereits an der großen Zahl von Kommentatoren zwischen 1500 und 1650 (über 1350) zeigt. Wie immer man dies im Einzelnen einschätzen mag – jedenfalls wird die aristotelische Orientierung der mittelalterlichen Scholastik (die sich durchaus mit wichtigen Rückgriffen auf Platon verträgt) in der Renaissance nicht einfach durch eine platonische Orientierung abgelöst. Vielmehr wird auch hier der alte Streit zwischen Aristotelikern und Platonikern fortgeführt. Dabei sind die Fronten keineswegs immer klar, weil schon seit dem Neuplatonismus, der in die spätantike Aristoteles-Kommentierung eingeflossen ist, einflussreiche Harmonisierungsmodelle in Umlauf waren. Ein nicht weniger unübersichtliches Bild zeigt das 17. Jahrhundert. Die Auseinandersetzung mit Aristoteles schwankt hier zwischen polemischem Anti-Aristotelismus als treibender Kraft, vorsichtiger Weiterführung durch (nur teils beabsichtigte) Verwendung aristotelischer Theorieelemente und deutlicher Zustimmung durch die Verteidigung des Aristotelismus. Der aktuelle Forschungsstand zeigt bereits eine intensive Beschäftigung vor allem mit der aristotelischen Kosmologie, Metaphysik, Psychologie, Erkenntnistheorie und Rhetorik sowie mit dem grundsätzlichen Paradigmenwechsel in der Frühen Neuzeit. Der ethische und politische Aristotelismus, der im vorliegenden Band thematisiert werden soll, ist dagegen deutlich weniger bearbeitet. Dabei ist kaum zu übersehen, dass unter den aristotelischen Schriften im 15. und 16. Jahrhundert neben De anima einerseits und der Rhetorica sowie der Po­ etica andererseits vor allem die Ethica Nicomachea und die Politica besondere Beachtung fanden. In ethischen und politischen Schriften der Renaissance und Frühen Neuzeit kann der Bezug zu Aristoteles explizit sein, wenn aus seinen Werken oder den Kommentaren und Kompilationen seiner Werke zitiert wird, oder implizit sein, wenn auf einige seiner zentralen Ideen zurückgegriffen wird. Die Auseinandersetzung mit ihm findet sich in philosophischen ebenso wie in literarischen Werken, in öffentlich ausgetragenen Kontroversen ebenso wie in Essays und Traktaten. So kann selbst in anti-aristotelischen Schriften eine implizite Weiterführung einiger Elemente seiner Philosophie zu finden sein.

Vorwort

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Die einzelnen Beiträge des vorliegenden Bandes lassen sich in zwei Gruppen einteilen: die erste beschäftigt sich mit dem Staat und seinen Gesetzen, die zweite mit dem individuellen Handeln, seiner Fundierung und seinen Komponenten. Die Definition des Gesetzes thematisiert Christian Schäfer. Er belegt, dass in de Sotos De iustitia et iure das Gesetz mit der thomasischen Handlungstheorie verbunden wird. De Soto legt in den Anfangsquaestionen eine grundlegende Definition des lex-Begriffs vor, die er aus den Vorgaben der Rechtsund Gesetzeslehre bei Thomas von Aquin entwickelt und die es erlauben soll zu verstehen, warum die voneinander unabhängigen Rechtssysteme (kirchliches Recht, weltliches Recht sowie alle partikulären Ausformungen von Rechtssystemen und Rechtstraditionen) gleichermaßen als »Recht« angesehen werden können. De Soto zeigt auch auf, dass jedes Gesetz in seiner Entstehung und seinen Grundbestandteilen den Handlungsentscheidungen eines Individuums ähnelt. Er erklärt, wie und mithilfe welcher Instanzen (Verstand, Wille) es zu Entschlüssen eines Individuums kommt, sozusagen einer privaten lex, einem handlungsgenerierenden Selbstgesetzgebungsvorgang. Auffallend sind dabei Verweise, die sich über Thomas hinaus direkt auf Aristoteles’ Nikomachische Ethik stützen. Welche Rolle für den Staat die Herrschaftsform der Tyrannei hat, zeigt Uwe Baumanns Beitrag. Er belegt, dass sich die englischen Dramatiker des Renaissancetheaters ebenso wie Fulke Greville zentraler Motive der klassisch-antiken Tyrannentopik bedienen und damit ihren Zeitgenossen Kriterien vermitteln zur Bewertung der politischen und sozialen Strukturen ihrer Zeit. In der Darstellung von Herrschaft in William Shakespeares Richard III, John Fords The Chronicle Historie of Perkin Warbeck, Ben Jonsons Sejanus His Fall, John Fletchers The Tragedy of Valentinian und Fulke Grevilles Poetical Treatise of Monarchy könnte ein wirkungsvolles, von der Zensur kaum kontrollierbares subversives politisches Potenzial liegen. Dass es angesichts einer Tyrannenherrschaft ein Recht zum Widerstand gibt, veranschaulicht Matthias Perkams am Verhältnis zwischen dem allgemeinen Gesetz und dem individuellen Gewissen. Die Grundlage hierfür bietet das Werk des Thomas von Aquin, der ein Widerstandsrecht, zum Teil sogar eine Widerstandspflicht, gegen ungerechte Gesetze erlaubt. Anhand der Interpretationen des thomasischen lex-Traktats durch Cajetan und Suárez wird gezeigt, dass Cajetan die Autorität des Gewissens direkt aus der lex aeterna ableitet: Durch die Rückbindung des Gewissens an das ewige Gesetz wird es legitim, ein positives Gesetz anhand vernünftiger Gründe als ungerecht zu beurteilen und dagegen Widerstand zu leisten. Bei Suárez dagegen ergibt sich, dass ein ungerechtes Gesetz kein Gesetz im eigentlichen Sinne ist, da die Gerechtigkeit, also Rationalität eines Gesetzes, zu den konstitutiven Merkmalen des Gesetzes überhaupt gehört. Bemerkenswert sei es, dass beide Autoren, wenn auch im Detail unterschiedlich, den Willen des göttlichen Gesetzgebers als eigentlichen Geltungsgrund der Gesetze betonen. Italienische Übersetzungen ethischer und politischer Werke sind immer zugleich Auseinandersetzungen mit Machiavelli. Dies zeigt David Lines am Bei-

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Vorwort

spiel von Bernardo Segni (1504–1558). Dabei veranschaulicht er den innovativen Charakter von Segnis Übersetzung der Aristotelischen Werke in die Nationalsprache Italienisch. Besonderes Augenmerk gilt der Darstellung des Tyrannen in Aristoteles’ Politik V.10-11. Segni übersetzte einige Werke des Aristoteles: die Rhetorik (1545–1546), Nikomachische Ethik (1547), Politik (1548) und Poetik (1548–1549). Segnis Werk muss dabei im Kontext eines neuartigen, in den 1540er Jahren beginnenden Interesses in Italien gesehen werden, aristotelische Werke in der italienischen Nationalsprache zu präsentieren. Die Gesellschaftsentwürfe des Thomas Morus und des Thomas Hobbes setzen sich nach Richard Saage gleichermaßen mit aristotelischen Vorgaben auseinander. Dabei verwirft Morus die Prämisse, dass die einen zum Arbeiten und die anderen zum Gehorchen geboren sind, und entzieht damit einer anthropologischen Hierarchisierung der Gesellschaft die aristotelische Grundlage. Dem aristotelischen Wirtschaftsmodell der weitgehenden Selbstversorgung stellt er ein Konzept gegenüber, das im Kern einer Planwirtschaft ähnelt. Auch Hobbes kritisiert die aristotelische Herrschaftspyramide, wenn auch aus einer anderen Perspektive: Seine Gesellschaft ist individualisiert und definiert sich über das Prinzip der Konkurrenz. Trotz der Gemeinsamkeiten der Gesellschaftsentwürfe von Hobbes und Morus, ihrer Aristoteles-Kritik und ihrer konstruktivistischen Methodik, gehen diese doch von unterschiedlichen Prämissen aus. So weist der eine den Weg in eine kollektive, der andere in eine individualistische Moderne. Mit Hobbes ist schon der Weg in die zweite Gruppe von Beiträgen eingeschlagen, die sich mit dem Handeln, seiner Fundierung und seinen Komponenten beschäftigen. Exemplarisch stellt Christian Pietsch die Frage nach der Möglichkeit freien, selbstverantworteten menschlichen Entscheidens und Handelns bei Alexander von Aphrodisias und seiner Rezeption in der Frühen Neuzeit (v. a. durch Pietro Pomponazzis De fato). Er identifiziert den unaristotelischen Begriff der heimarménê mit dem zentralen aristotelischen Begriff der phýsis, der für das Handeln des Einzelnen verantwortlichen Instanz. Daraus ergibt sich, dass der Mensch zumindest nach Ausbildung seines Charakters keineswegs mehr frei im Sinne einer Wahl zwischen völlig gleichberechtigten Handlungsoptionen ist, da sein Handeln durch Charaktertendenzen prädisponiert ist. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob es den einen antiken Aristotelismus überhaupt gab oder stattdessen viele antike Aristotelismen. Das Corpus Aristotelicum, die Schriften Alexanders von Aphrodisias und spätere neuplatonische Kommentare zu Aristoteles stellen selbst bereits antike Rezeptionen aristotelischen Denkens dar, in denen es zu thematischen und methodischen Wandlungen kommt. Eine andere Festlegung des Charakters, der die Handlungsoptionen einschränkt, ist der Habitus. Nach Riccardo Pozzo fragt Francesco Piccolomini nach dem ontologischen Status des Habitus. Er verortet die Grundhaltungen des Verstandes extra mentem, wonach es ohne die ontologisch in der Natur gründende Weisheit weder Kunst noch Klugheit oder Wissenschaft gäbe. Der PiccolominiSchüler Andrea Duodo führt die Habitusdebatte weiter, indem er die fünf aristo-

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telischen habitus principes für unzureichend befindet und um die habitus instru­ mentales ergänzt, die die Methoden zur Begründung von Wissen liefern. Sowohl Piccolomini als auch Duodo behandeln die Aristoteles entlehnte Habituslehre als wissenschaftstheoretisches Problem. Dass der Mensch von Natur aus als soziales Wesen zum Leben in der Gemeinschaft bestimmt ist, findet sich im zweiten Kapitel des ersten Buches der Politik des Aristoteles. Darauf greift Salvador Rus Rufino zurück, wenn er darlegt, wie Aristoteles die Entwicklung der menschlichen Gesellschaften von der kleinsten Einheit der Familie über das komplexere Dorf bis zur komplexesten Einheit, der Polis, versteht. Verbunden mit der thomasischen Tradition verwenden die Kommentatoren der Renaissance bevorzugt die Übersetzung animal civile, die im späteren Verlauf mit der Reformationsbewegung von animal sociale abgelöst wird. Diese Transformation des Begriffs deutet auf die Betonung der sich schrittweise entwickelnden Opposition zwischen zivilem und kirchlichem Recht hin und kann als Ursprung einer säkularisierten Politikkonzeption gesehen werden. Um ein animal sociale zu sein, muss der Mensch bestimmte Eigenschaften erfüllen, die er im Laufe seiner Entwicklung erst herausbilden muss: die Fähigkeit zur Sprache, zum vernünftigen Denken und zur Unterscheidung von Gut und Böse bzw. Recht und Unrecht. Welche Bedeutung der Wille für das Handeln hat, analysiert Jörn Müller, wenn er sich mit Johannes Versor beschäftigt, der die Aristoteles-Auslegung an den zentraleuropäischen Universitäten im späten 15. und frühen 16. Jahrhundert maßgeblich beeinflusst hat. In seiner Ethik, wie sie sich in seinem QuaestionesKommentar zur Aristotelischen Nikomachischen Ethik findet, steht die Behandlung der Unbeherrschtheit (griech. akrasia, lat. incontinentia) im Vordergrund. Diese akrasia entspricht einer Handlungs- und Sündenlehre augustinischer Provenienz und deutet damit den Aristotelischen Ursprungstext um. Man könnte hier von einer Mittelstellung des Willens zwischen Sinnlichkeit und Ratio sprechen. Die deutliche Orientierung an Thomas führt dazu, dass sich Versors Quaes­ tiones eher als eine Art Kurzfassung der Glückslehre des Thomas und weniger als eine direkte Kommentierung des Aristoteles lesen. In seinem Beitrag zur Glückslehre des Aristoteles untersucht Walter Mesch, inwiefern ein traditionelles Stufenmodell der eudaimonia hilfreich sein kann, um zwischen aktuellen inklusivistischen und exklusivistischen Interpretationen zu vermitteln. Aus Sicht der Inklusivisten sei eudaimonia das umfassendste Gut, das im praktischen oder politischen Leben alle ethischen und dianoethischen Tugenden beinhalte. Aus Sicht der Exklusivisten hingegen könne eudaimonia, zumindest im engeren Sinne, nur im vollkommensten Gut der Weisheit liegen, das ein theoretisches oder gottähnliches Leben leitet. Es werden zunächst die Vor- und Nachteile dieser zwei extremen Sichtweisen diskutiert, um danach das Vermittlungspotential von zwei wichtigen Texten der Florentiner Renaissance zu betrachten: Leonardo Brunis Einführung in die Moralphilosophie und Donato Acciaiuolis Kommentar zur Nikomachischen Ethik.

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Vorwort

Nicht die eudaimonia, sondern das Lustprinzip stellt Arbogast Schmitt in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen. Aristoteles weist die Ethik dem Bereich von Lust und Unlust zu und sieht ihre Hauptaufgabe darin, »das wirklich Angenehme schmecken zu lehren«. Da seinem Urteil nach die Lust ein Begleitphänomen der Tätigkeit ist, ist sie für ihn nicht grundsätzlich etwas Irrationales, das dem Denken entgegengesetzt ist, sondern wird von der Tätigkeit her begriffen, zu der sie gehört. Die lustvollsten Tätigkeiten sind die, in denen jemand sein Können vollendet und ungehindert entfaltet. Das sind vor allem die psychischen Akte vom Wahrnehmen bis zum Denken. Alle diese Akte haben eine mögliche Vollendung, wenn sie auf beste Weise ausgeführt werden und auf dazu passende Gegenstände gerichtet sind. Am besten und lustvollsten nennt Aristoteles das reine Erkennen selbst. Das hat ihm Kritik eingebracht. Sein auf eine bestmögliche Lusterfahrung, d. h. auf das Glück des Einzelnen, gerichtete Ethik ist aber gerade wegen ihrer Ausrichtung auf eine Ordnung der Lüste auch realistischer als eine Ethik, die erst im Absehen des Einzelnen von sich selbst und einem Handeln allein zugunsten anderer wahre Moral erkennen kann. Hatte im Mittelalter die Heiligkeit des Märtyrers Vorbildcharakter, musste mit der Entwertung der Heiligen im protestantischen Kontext Ersatz gesucht werden. Es war nach Bernd Roling die heroische Tugend, die für die protestantischen Ethiker der Frühen Neuzeit zum entscheidenden Vehikel wurde, um das Vakuum, das die sanctitas hinterlassen hatte, mit neuer Bedeutung zu füllen. Anders als im Spätmittelalter hatte sich dabei jedoch mit dem Beginn des 17. Jahrhunderts in den Lutherischen Ethiken eine vergleichsweise klare Bestimmung des Heroen herausgebildet. Es entsteht das Panorama eines aristotelischen Ausnahmemenschen, der kein eskapistischer Eremit mehr sein sollte, sondern seine Tugenden als gesellschaftlich nützliche Talente ins Zentrum rückt. Die virtus heroica war ein moralischer Habitus, der besondere Menschen betraf und in Gott und seiner Gnade seinen Ursprung hatte. Den Helden musste ein afflatus divinus, eine göttliche Einhauchung, auszeichnen, die ihn an die gewöhnliche Situation anpasste und seine Fähigkeiten entfaltete. Es entstand die Vorstellung, dass der Held den Schöpfer nachahmt und so zum Vorbild seiner Gesellschaft wird. Unterschiedliche Berufsgruppen erfordern unterschiedliche Tugenden und Fähigkeiten. Ausgehend von der neuen Bedeutung des Kaufmanns im Spanien der Frühen Neuzeit vergleicht Christoph Strosetzki die gesellschaftliche Betrachtung des Berufsstandes in dieser Epoche mit den Positionen der Antike. In der aristotelischen Gesellschaftstheorie ist der Kaufmann zwar ein notwendiges Element, allerdings erscheint er oft in negativem Licht. Ihm fehlt die nötige Muße für die denkende Tätigkeit. Als Sklave oder Fremder gehört er nicht zu den Stützen der Gesellschaft. Da er meist reich ist, ist er selten tugendhaft: Die Freigebigkeit als mittleres Maß erreicht er meist nicht. Spanische Theoretiker wie Mercado und Azpilcueta verteidigen dagegen den Kaufmann gegenüber traditionell vorgebrachten Anschuldigungen und bekräftigen seine gesellschaft-

Vorwort

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liche Bedeutung und moralische Dignität. Dabei weisen sie dem bereits im Mittelalter erörterten Begriff des pretium iustum eine zentrale Stellung zu. Da auch Reden Handeln ist, liegt es nahe, die Beziehungen zwischen Rhetorik und Ethik zu thematisieren. Christof Rapp stellt die Vorlesung über Aristoteles’ Rhetorik vor, die der noch junge John Rainolds vermutlich im Jahr 1572 am Corpus Christi College hielt. Rainolds bleibt zwar weitgehend auf aristotelischem Boden, sieht aber zugleich in Agricola, Vives und Ramus Verbündete in seinem Kampf gegen einen autoritätsgläubigen Aristotelismus. Betrachtet man den Aufbau der Vorlesung, ist nicht zu übersehen, dass Rainolds sich deutlich mehr für das ethische Material der Rhetorik als für die logischen Details interessiert. Er fragt sich, ob die Affekterregung richtig sei, wozu er eine Bestimmung der Natur der Affekte vornimmt. Polemisch wird Rainolds dort, wo er die von Aristoteles aufgezählten Glücksgüter als wesentliche Bestandteile der aristotelischen Glücksethik interpretiert und aus puritanisch-asketischer Sicht scharf kritisiert. Die – wie sich gezeigt hat sehr komplexe – Frage nach der Bedeutung des Aristoteles für die Ethik und Politik der Frühen Neuzeit entstand im Kontext des von Christoph Strosetzki geleiteten DFG-Projekts »Humanistenwissen und Lebensformen in der Frühen Neuzeit«. Herausgestellt werden sollte, welche Bedeutung die aristotelischen Lehren in der Frühen Neuzeit für die Bewertung und Einordnung des gesellschaftlichen Handelns haben. Da die wechselseitigen Beeinflussungen gerade in dieser Epoche vielfältig waren, wurde eine gesamt­ europäische Ausrichtung gewählt. Die vorliegenden Beiträge gehen zurück auf die von der DFG finanzierte Tagung, die im Dezember 2013 an der Universität Münster stattfand. An der Konzeption und Einladung waren die Münsteraner Kollegen Walter Mesch und Christian Pietsch beteiligt. Zu danken ist auch Martha Walczak für die redaktionelle Betreuung der Druckvorbereitung sowie dem Felix Meiner Verlag und den verantwortlichen Herausgebern für die Aufnahme in die Reihe der Sonderhefte des Archivs für Begriffsgeschichte. Münster, im Januar 2016

Christoph Strosetzki

Abhandlungen

Uwe Baumann

Basileia und Tyrannis in der Dramatik und der Dichtung der Englischen Renaissance I. Prolog Eine der faszinierendsten Figuren auf der Bühne des englischen Renaissancetheaters (ca. 1580–1642) ist der Tyrann. Wie so viele Einzelphänomene der Dramatik jener Zeit ist die Ausgestaltung des Tyrannenbildes, sind die Elemente und Züge, die das überindividuelle Motiv des Tyrannen konstituieren, erst in den letzten Jahrzehnten in den Fokus der Forschung getreten.1 Dabei wurde mehrfach herausgestellt, wie konsequent William Shakespeare und seine Zeitgenossen typologisch-topische Klassifizierungen wie Tyrann (bzw. Tyrannis) und sein terminologisch-konzeptuelles Gegenbild Basileus (bzw. Basileia) für die Sympathie- und Rezeptionslenkung nutzen. Eine Vielzahl der solcherart auf die Darstellung von Herrschaft und Herrschaftskonzepten konzentrierten His­torien und Tragödien entfalten in der dramatischen Präsentation / Aufführung hohe zeitgenössische politische ›Brisanz‹, indem sie das Publikum zur diskursiven Reflexion der positiven / negativen Auswirkungen des jeweiligen Herrschaftskonzepts ein­ laden und zugleich über das Prinzip der Korrespondenzbeziehung den – natürlich verbotenen – Blick auf die eigenen Herrscher/innen und deren Herrschaftsausübung lenken.2 Insbesondere die reich entwickelte Tyrannentopik der 1  Vgl. Rebecca W. Bushnell: Tragedies of Tyrants. Political Thought and Theater in the English Renaissance (London 1990); vgl. ebenfalls Robert P. Adams: Opposed Tudor Myths of Power: Machiavellian Tyrants and Christian Kings. In: Studies in the Continental Background of Renaissance English Literature. Essays Presented to John Leon Lievsay, ed. by Dale Betrand Jonas Randall and George Walton Williams (Durham 1977) 67–90; William A. Armstrong: The Elizabethan Conception of the Tyrant. In: Review of English Studies 22 (1946) 161–181; William A. Armstrong: The Influence of Seneca and Machiavelli on the Elizabethan Tyrant. In: Review of English Studies 24 (1948) 19–35; Francis James Bayerl: The Characterization of the Tyrant in Elizabethan Drama (Diss. Univ. of Toronto 1974). Vgl. insgesamt auch Uwe Baumann: Basileus und Tyrann. Herrscherbilder und Bilder von Herrschaft in der Englischen Renaissance, Düsseldorfer Beiträge aus Anglistik und Amerikanistik. Bd. 8 (Frankfurt a.M. 1999). 2 Vgl. exemplarisch zu den Römerdramen der englischen Renaissance U. Baumann: Das Drama der englischen Renaissance als politische Kunst. Die zeitgenössische Aktualität der Römerdramen. Teil I in Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 33 (1992) 101–131; Teil II in Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 35 (1994) 63–100; U. Baumann: The Presentation of the Roman Imperial Court in Jacobean Tragedy. In: Jacobean Drama as Social Criticism, ed. by James Hogg (Salzburg 1995) 73–93; U. Baumann: Tyrannen, Attentäter und Intrigen: Die Darstellung des

Archiv für Begriffsgeschichte · Sonderheft 12 · © Felix Meiner Verlag 2016 · ISBN 978-3-7873-2525-2

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Uwe Baumann

Englischen Renaissancedramatik gründet dabei – was die bisherige Forschung weitgehend marginalisiert hat – in humanistischen Synthesen und Distinktionen, die ihrerseits in klassisch antiker und mittelalterlicher politischer Philosophie und Historiographie gründen.3 Diese zunächst allgemeine Aussage möchte ich im Folgenden anhand exemplarischer Dramen von William Shakespeare, Ben Jonson, John Fletcher und John Ford konkretisieren, detaillierter vorstellen und funktionsgeschichtlich analysieren. Ein Vergleich mit den Herrschaftskonzepten in der politischen Dichtung Fulke Grevilles soll den Beitrag beschließen. Als begriffsgeschichtlicher und terminologischer Einstieg ist zuvor ein knapper, auf wenige Beispiele konzentrierter, chronologischer Überblick über die Bedeutungsgeschichte von gr. τύραννος und lat. tyrannus unverzichtbar,4 da dieser die Bedeutungsvielfalt von engl. tyrant erklärt und zugleich wesentliche Züge der antiken Tyrannenkonzeption expliziert.

II.  Τύραννος und tyrannus: Begriffsgeschichte Der gr. Terminus τύραννος (wohl tyrrhenischer Herkunft)5 bezeichnet ursprünglich neutral einen Alleinherrscher und wird noch von Herodot häufig synonym mit βασιλεύς oder μóναρχος verwendet.6 Der scharfe politische Gegensatz zwiRömischen Kaiserhofes in der Jakobäischen Tragödie. In: Basileus und Tyrann, hg. von U. Baumann, a. a.O. [Anm. 1] 419–440; U. Baumann: Historia magistra vitae? Römische Geschichte im Drama der Shakespearezeit. In: Bilder der Antike. Super alta perennis – Studien zur Wirkung der Klassischen Antike. Bd. 1, hg. von Astrid Steiner-Weber, Thomas Schmitz und Marc Laureys (Göttingen 2007) 89–126. 3  Vgl. U. Baumann: Thomas More and the Classical Tyrant. In: Thomas More and the Classics. Moreana 86 (1985) 108–127. Vgl. ebenfalls Ernst Walser: Die Gestalt des tragischen und des komischen Tyrannen in Mittelalter und Renaissance. In: Kultur- und Universalgeschichte: Walther-Goetz-Festschrift (Leipzig/Berlin 1927) 125–144; Alfred von Martin: Coluccio Salutati‘s Traktat ›Vom Tyrannen‹: Eine Kulturgeschichtliche Untersuchung nebst Textedition. Abhandlungen zur mittleren und neueren Geschichte. Bd. 47 (Berlin 1913); Coluccio Salutati: ›Tractatus de tyranno‹. Kritische Ausgabe mit einer historisch-juristischen Einleitung. Quellen der Rechtsphilosophie. Bd. 1, hg. von Francesco Ercole (Berlin 1914); Ephraim Emerton: Humanism and Tyranny: Studies in the Italian Trecento (Cambridge 1925); Bernhard Bess: Frankreichs Kirchenpolitik und der Prozess des Jean Petit über die Lehre vom Tyrannenmord (Marburg 1891); Alfred Coville: Jean Petit: La question du tyrannicide au commencement du XVe siècle (Paris 1932); Edeltraud Werner: Von Tyrannen und Fürsten. Coluccio Salutati und Niccolò Machiavelli als Protagonisten der Diskussion in der italienischen Renaissance. In: Basileus und Tyrann, hg. von U. Baumann, a. a.O. [Anm. 1] 55–80. 4  Es sei freimütig eingestanden, dass der folgende, überaus knappe begriffsgeschichtliche Überblick einige Anregungen der Institutio principis christiani des Erasmus von Rotterdam (In: Des. Erasmi Opera Omnia. Bd. 4, Teil 1, hg. von Otto Herding (Amsterdam 1974) 152–163) verdankt. Für unsere bescheidenen Zwecke genügt im Folgenden bei Zitaten aus antiken griechischen Quellen zumeist eine – jeweils mit dem Original abgeglichene – deutsche Übersetzung. 5  Vgl. T. Lenschau, in: Realenzyklopädie der klassischen Altertumswissenschaft Bd. VII A, 2 (1948), Sp. 1821–1842, s.v. ›Tyrannis‹, bes. Sp. 1822. 6 Vgl. Herodot I,12; I,14; I,15; III,80–82; vgl. Gerhard Heintzeler: Das Bild des Tyrannen

Basileia und Tyrannis in der Dramatik und der Dichtung

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schen griechischer Polis und Alleinherrschaft äußert sich u. a. darin, dass es für den Bürger der Polis keine höhere Ehre, keinen größeren Verdienst als den Tyrannenmord gibt: Die Tyrannenmörder Harmodios und Aristogeiton werden in Athen über Jahrhunderte verehrt.7 Den prinzipiellen Gegensatz zwischen Polis und Alleinherrschaft betont auch schon Herodot in der berühmten Verfassungsdebatte. Der Verteidiger der Demokratie, Otanes, wirft der Alleinherrschaft Hybris vor, in ihr herrsche die Willkür eines Einzelnen, der niemandem Rechenschaft schulde; Sosikles geißelt in der Korintherrede die Alleinherrschaft explizit als das Ungerechteste und Blutrünstigste der Welt.8 Auch auf die griechische Bühne wirkt dieser Gegensatz zwischen Polis und Alleinherrschaft,9 vielleicht am nachhaltigsten auf Euripides; in der Tragödie Die Schutzflehenden kontrastiert er (bzw. seine Figur Theseus) Alleinherrschaft und Isonomie (429 ff.):10 Nichts ist dem Volk so feindlich wie Tyrannenmacht: Da gelten – was das Höchste – nicht gemeinsame Gesetze; nur ein König, der sich alles Recht Anmaßt, gebietet: keine Gleichheit waltet mehr. Doch wo Gesetze aufgezeichnet wurden, hat Der arme und der reiche Mann das gleiche Recht. Auch darf der Schwache wider einen Glücklichen Das Recht vertreten, wenn er ihm ruchlos erscheint, Und wenn er wahr gesprochen, siegt der Kleinere. Auch ist es Freiheit, wenn der Herold ruft im Volk: »Wer will den Bürgern guten Rat verkündigen?« Und hochgeehrt ist, wer es will; wer aber nicht, Der schweigt. Wo wäre gleichres Recht in einem Staat? Auch freut ein Volk sich, welches selbst im Land gebeut, Kraftvoller Jünglingsarme, die sich ihm geweiht; bei Platon. Ein Beitrag zur Geschichte der griechischen Staatsethik. In: Tübinger Beiträge zur Altertumswissenschaft 3 (Stuttgart 1937) bes. 7–15.   7  Vgl. Marga Hirsch: Die athenischen Tyrannenmörder in Geschichtsschreibung und Volkslegende. In: Klio 20 (1926) 129–167; Hans Friedel: Der Tyrannenmord in Gesetzgebung und Volksmeinung der Griechen. Würzburger Studien zur Altertumswissenschaft. Bd. 11 (Stuttgart 1937); Karl Schefold: Die Tyrannenmörder. In: Museum Helveticum 1 (1944) 189–202; Helmut Berve: Die Tyrannis bei den Griechen (Darmstadt 1967) bes. Bd. 1, 63–77 und Bd. 2, 554–563. Vgl. ebenfalls Max Lossen: Die Lehre vom Tyrannenmord in der christlichen Zeit. Festrede der Königlich Bayrischen Akademie der Wissenschaften (München 1894); Hans Georg Schmidt: Die Lehre vom Tyrannenmord. Ein Kapitel aus der Rechtsphilosophie (Tübingen 1901); Hans Jonas: Die Lehre vom Tyrannenmord in der Antike (Köln 1947).   8  Vgl. Herodot III,80 und V,92α.   9  Vgl. G. Heintzeler: Das Bild, a. a.O. [Anm. 6] 11–14. Vgl. ebenso Bernhard Zimmermann: Das Herrscherbild in der griechischen Literatur des 5. und 4. Jahrhunderts v. Chr. In: U. Baumann: Basileus und Tyrann, a. a.O. [Anm. 1] 1–12, bes. 10 ff. 10  Euripides, Suppl. (Die Schutzflehenden) 429–454. (Übersetzung von J. J. Donner).

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Ein König aber achtet sie dem Feinde gleich, Und jeden Besten, der ihm klug und weise dünkt, Ermordet er, für seine Zwingherrschaft besorgt. Wie mag ein Staat nun fürder stark und sicher sein, Wenn einer gleichwie Ähren auf dem Frühlingsfeld Die Kühnen und der Jugend Blüte bricht? Was nützt es, dass man Kindern Geld und Gut erwirbt, Des Herrschers Habe mühevoll zu mehren nur? Was nützt es, schöne Töchter sich daheim zu ziehn, Dem Herrn zu süßer Wonne, wenn’s ihn lüstet nur, Zu bittrem Schmerz den Eltern? Ungeachtet aller Macht und alles äußeren Glanzes ist der Alleinherrscher (in Euripides‘ Ion) in Wahrheit unglücklich, muss er doch beständig um sein Leben fürchten und die Guten meiden; seine Kumpane muss er sich aus der bösen Rotte suchen.11 Im Geschichtswerk des Thukydides wird der Alleinherrscher als vollendeter Egoist gezeichnet, sorgt er doch nur für den eigenen Nutzen, das eigene Wohlbefinden und die eigene Dynastie. Selbst eine eventuelle Fürsorge für die Polis entspringt egoistischen Motiven.12 Im dritten Buch beschreibt und klassifiziert Thukydides kurz die Verfassung Thebens; dabei ordnet er die dortige Herrschaft weniger Männer als dem Gesetz und weiser Ordnung am fernsten und der Tyrannis (der Alleinherrschaft) am nächsten ein,13 womit Tyrannis zum Gegenbegriff zu weiser Ordnung und Gesetz wird. Ganz in diesem Sinne definiert dann Xenophon den Tyrannen. Als erster grenzt er ihn klar von seinem Gegenbild, dem König, dem βασιλεύς, ab: Der König herrscht mit dem Willen seiner Untertanen und nach dem Gesetz, der Tyrann dagegen herrscht gegen den Willen der Bevölkerung, aus eigener Machtvollkommenheit und unter Missachtung der Gesetze.14 Xenophons Schriften markieren ein wichtiges Stadium in der Entwicklung des Tyrannenbildes. In seinem Hieron, einem Dialog zwischen dem Tyrannen Hieron I von Syrakus und dem Dichter Simonides, vertritt Hieron die Ansicht, dass der Tyrann im Vergleich zum Privatmann der Unglücklichere sei: Die Angst, die Herrschaft zu verlieren, fessele den Tyrannen an seine Residenz;15 das ihm gespendete Lob erkenne er als bloße Schmeichelei.16 Nie könne er in Frieden leben, immer müsse er bewaffnet und 11  Vgl.

Euripides, Ion 621 ff. Vgl. zur Vorstellung vom in Wahrheit unglücklichen Tyrannen Benedikt Giger: Der Tyrann. Werden und Wesen des tyrannischen Menschen und des Staatstyrannen (Zürich 1940) bes. 68–79. 12  Vgl. Thukydides I,17. 13  Vgl. Thukydides III,62. 14  Vgl. Xenophon, Mem. IV,6,12. 15  Vgl. Xenophon, Hier. 1; vgl. insgesamt auch B. Zimmermann: Das Herrscherbild, a. a.O. [Anm. 9] 3–5. 16  Vgl. Xenophon, Hier. 1.

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von seiner Leibgarde umgeben sein, und dennoch sei er niemals in Sicherheit.17 Vertrauen könne und dürfe er niemandem entgegenbringen, trachteten ihm doch sogar die eigenen Kinder und nächsten Verwandten nach dem Leben.18 In der Cyropaedia, einem Fürstenspiegel, der die Entwicklung des Kyros zum jungen Mann, zum erfolgreichen Feldherrn und schließlich zum besonnenen Herrscher nachzeichnet, porträtiert Xenophon mit Kyros den idealen Alleinherrscher: Kyros sorgt für seine Untertanen wie ein Hirte für seine Herde, wie ein Vater für seine Kinder.19 Xenophon fasst in seinen Schriften all das zusammen, was bisher als typisch für den Tyrannen angeführt wurde: Der Tyrann ist ein Herrscher, der seine Herrschaft gegen die Polis erlangt hat und diese ohne Zustimmung der Bevölkerung ausübt. Von einer ethischen Verurteilung des Tyrannen und tyrannischer Herrschaft ist bei Xenophon noch nicht die Rede. Um diese ergänzt Platon die klassisch griechische Tyrannentopik:20 Für Platon manifestiert sich in der Tyrannis, die nur der Befriedigung persönlichen Machtstrebens dient, das Höchstmaß an Verwerflichkeit und zugleich auch des Unglücks für den Tyrannen selbst;21 die Tyrannis ist für Platon sittlich minderwertig, da sie zu seiner Konzeption des δίκαιον in deutlichem Widerspruch steht.22 Im berühmten Tyrannenkapitel der Politik des Aristoteles finden sich knappe definitorische Distinktionen der Tyrannis, die insgesamt wiederum als kongeniale, systematische Zusammenfassungen gelten dürfen (1295a):23 […] Bei der Tyrannenherrschaft aber haben wir zwei Arten im Verlauf unserer Erörterungen über das Königtum unterschieden, weil die Gewalt, die der Tyrann in beiden Fällen ausübt, eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Königtum hat, da seine Herrschaft auf dem Gesetze beruht. Einmal nämlich wählt man bei einigen barbarischen Völkerschaften unumschränkte Monarchen, und dann wurden vorzeiten auch bei den alten Griechen manche auf diese Weise zu Alleinherrschern bestellt, die man Äsymneten nannte. In der Herrschaft beider gibt es einige Unterschiede, doch war sie gleichmäßig wegen ihrer gesetzlichen Grundlage, und weil der Gehorsam seitens der Bürger freiwillig geleistet wurde, dem Königtum verwandt; dann aber war sie auch wieder tyrannisch, weil sie despotisch und nach Willkür ausgeübt wurde. 17  Vgl. Xenophon, Hier. 2,8 ff. 18 Vgl. Xenophon, Hier. 3,1 ff.; vgl. G. Heintzeler: Das Bild, a. a.O. [Anm. 6] 26–28 und B. Zim­mermann: Das Herrscherbild, a. a.O. [Anm. 9] 1 ff. 19  Vgl. Xenophon, Kyr. VIII,1,1; VIII,1,44 und VIII,2,14; vgl. B. Zimmermann: Das Herrscherbild, a. a.O. [Anm. 9] bes. 1–2. 20 Vgl. G. Heintzeler: Das Bild, a.  a.O. [Anm. 6] bes. 44 ff. und B. Zimmermann: Das Herrscher­bild, a. a.O. [Anm. 9] bes. 5–8. 21  Vgl. Platon, Gorg. 475b ff. 22  Vgl. die Details bei G. Heintzeler: Das Bild, a. a.O. [Anm. 6] bes. 50 ff.; B. Giger: Der Tyrann, a. a.O. [Anm. 11] bes. 18 ff. und B. Zimmermann: Das Herrscherbild, a. a.O. [Anm. 9] bes. 7–8. 23  Aristoteles, Pol. 1295a (Übersetzung von Eugen Rolfes); vgl. Johann Endt: Die Quellen des Aristoteles in der Beschreibung des Tyrannen. In: Wiener Studien 24 (1902) 1–69.

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Eine dritte Art der Tyrannis ist jene, die darum am meisten als solche gelten muss, weil sie das Gegenstück zur Pambasileia, zum Vollkönigtum, bildet. Eine solche Tyrannis muss jene Monarchie sein, vermöge deren der Inhaber der Gewalt, ohne verantwortlich zu sein, über alle, die seinesgleichen und noch besser als er sind, lediglich zu seinem eigenen Vorteil und nicht zum Wohle der Beherrschten, regiert. Daher beruht sie nicht auf freier Zustimmung. Denn kein freier Mann erträgt freiwillig eine solche Herrschaft. Werfen wir noch kurz einen Blick auf die analoge Abgrenzung zwischen Tyrannis und Basileia durch Polybios. Die Basileia, das wahre Königtum, gründet in dem freiwilligen Einverständnis der Regierten; die Herrschaft muss mit Vernunft ausgeübt werden.24 Die Entartung der Basileia führt zur Tyrannis, der Tyrann ist ein despotischer Gewaltherrscher (V,11,6):25 Denn so handelt ein Tyrann: er übt mit Gewalttaten ein Schreckensregiment über widerstrebende Untertanen, gehasst von ihnen und sie seinerseits hassend, ein König aber regiert und leitet freiwillig Gehorchende, indem er ihnen Gutes tut, geliebt um seiner menschlichen Güte und seiner Fürsorge willen. Damit hat die Entwicklung des gr. Begriffs τύραννος einen Abschluss erreicht,26 so dass man zusammenfassen kann: Der Terminus Tyrann bezeichnet seit dem 2. vorchristlichen Jahrhundert einen rücksichtslos gegen den Willen der Bevölkerung handelnden Despoten, der sich weder an göttliches noch an natürliches Recht gebunden fühlt. Dies ist zugleich die Bedeutung, die heute als die Hauptbedeutung des Wortes gilt. Der mit diesen Attributen ausgestattete Tyrann, der als historische Gestalt der Vergangenheit angehört, wird schnell zu einem der Lieblingsobjekte der griechischen und römischen Rhetorik; die mit der Tyrannis und dem Tyrannenmord verknüpften hochkomplexen juristischen Fragen werden zu beliebten Themen für Übungsreden (declamationes) der Schüler der Rhetorenschulen.27 24 

Vgl. Polybios V,11,6 und VI,4,2; vgl. dazu Karl-Wilhelm Welwei, Könige und Königtum im Urteil des Polybios (Köln 1963) bes. 123 ff. 25  Polybios V,11,6 (Übersetzung von Hans Drexler). 26  Vgl. zum Tyrannen in der griechischen Literatur der Spätzeit Chester G. Starr: Epictetus and the Tyrant. In: Classical Philology 44 (1949) 20–29 sowie weitere Quellen und Literatur bei H. Berve: Die Tyrannis, a. a.O. [Anm.7] I,476–509 und II,737–753. Vgl. zum metaphorischen Gebrauch Kurt A. Raaflaub: Polis Tyrannos: Zur Entstehung einer politischen Metapher. In: Arktouros. Hellenic Studies Presented to B. M. W. Knox on the Occasion of his 65th Birthday, ed. by Glen W. Bowersock, Walter Burkert and Michael C. J. Putnam (Berlin/New York 1979) 237–252. 27  Vgl. Wilhelm Fleskes: Vermischte Beiträge zum literarischen Porträt des Tyrannen im Anschluß an die Deklamationen (Münster 1914); Joseph Roger Dunkle: The Rhetorical Tyrant in Roman Historiography: Sallust, Livy and Tacitus. In: Classical World 65 (1971) 12–20. Vgl. insgesamt Stanley Frederick Bonner: Roman Declamation in the Late Republic and Early Empire (Liverpool 1949); vgl. zur kreativen Rezeption im englischen Renaissance-Humanismus die Declamatio Lucianicae Respondens des Thomas Morus (dazu U. Baumann: Lukianübersetzungen.

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Zeitgleich lässt sich erstmals im Lateinischen der von gr. τύραννος entlehnte Terminus tyrannus nachweisen. Zunächst primär für die frevelhaften Herrschergestalten der griechischen Mythologie gebraucht, verschmilzt der griechische Tyrannenhass schon bald mit der in der römischen Republik nicht weniger glühenden Königsfeindschaft, was sich terminologisch in einem synonymen Gebrauch von rex, dominus und tyrannus niederschlägt.28 In spätrepublikanischer Zeit weisen diese Begriffe keinen Bedeutungsunterschied auf; sie werden zu politisch-propagandistischen Schlag- und Kampfwörtern, mit denen sich die unterschiedlichsten politischen Gruppierungen gegenseitig das Streben nach Alleinherrschaft vorwerfen. Neben den Gracchen, Marius, Cinna, Sulla und Clodius ist es vor allem Caesar, der immer wieder als Tyrann bezeichnet und auch geschmäht wird.29 Der Einfluss Ciceros, dessen Briefe, politische Reden und sonstige Schriften deutlich Zeugnis für seinen Tyrannenhass ablegen, ist dabei kaum zu überschätzen: Die Iden des März feiert er als geradezu prototypischen Tyrannenmord; Brutus, Cassius und die übrigen Verschwörer sind für ihn Helden, die der res publica die libertas zurückgaben.30 Ciceros Hoffnungen sollten sich nicht erfüllen: Schon wenig später bezeichnet er Antonius als abscheulichen, grausamen Tyrannen, unter dessen dominatio es noch schlimmer als zu Lebzeiten Caesars ist.31 Von Cicero stammt eine prägnante Definition des Tyrannen, die in der Renaissance allerdings nicht bekannt war (de re publ. II,26,47–48):32 [H]ic est enim dominus populi quem Graeci tyrannum vocant; nam regem illum volunt esse, qui consulit ut parens populo conservatque eos quibus est praepositus quam optima in condicione vivendi, sane bonum ut dixi rei publicae genus, sed tamen inclinatum et quasi pronum ad perniciosissimum statum. simul atque enim se inflexit hic rex in dominatum iniustiorem, fit continuo In: Thomas Morus. Humanistische Schriften, Erträge der Forschung. Bd. 243, hg. von dems. und Hans Peter Heinrich (Darmstadt 1986) 40–54, bes. 43–51.) 28 Vgl. die Belege bei Friedrich-Karl Springer: Tyrannus. Untersuchungen zur politischen Ideologie der Römer (Köln 1952) 3 ff. und 9 ff.; Raban von Haehling: Rex und Tyrann. Begriffe und Herrscherbilder der römischen Antike. In: Basileus und Tyrann, hg. von U. Baumann, a. a.O. [Anm. 1] 13–33. 29  Vgl. F.-K. Springer: Tyrannus, a. a.O. [Anm. 28] bes. 68 ff.; R. von Haehling: Rex und Tyrann, a. a.O. [Anm. 28] bes. 21 ff.; vgl. ebenso Jean Béranger: Tyrannus. Notes sur la notion de tyrannis chez les Romains particulièrement à l‘époque de César et de Cicéron. In: Revue des Etudes Latines 13 (1935) 85–94. 30  Vgl. Cicero, Att. XIV,4,2; XVI,6,1. Vgl. auch Cicero, de off. 2,23 und insgesamt die Analyse von R. von Haehling: Rex und Tyrann, a. a.O. [Anm. 28]. 31  Vgl. Cicero, Phil. XIII,18. 32  Cicero, de re publ. II,26,47–48 (Übersetzung von Konrat Ziegler). Ähnliche Äußerungen Ciceros zum Wesen des tyrannischen Herrschers finden sich auch in den Briefen, Reden und sonstigen Schriften, die der Renaissance bekannt waren (vgl. die Materialien bei R. von Haeh­ ling: Rex und Tyrann, a. a.O. [Anm. 28]); vgl. insgesamt auch Karl Büchner: Der Tyrann und sein Gegenbild in Ciceros ›Staat‹. In: Hermes 80 (1952) 343–372; vgl. zum rhetorisch-funktionalen Gebrauch, den Cicero von der Tyrannentopik in seinen Reden macht, Vinzenz Buchheit: Chrysogonus als Tyrann in Ciceros Rede für Roscius aus Ameria. In: Chiron 5 (1975) 193–211.

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tyrannus, quo neque taetrius neque foedius nec dis hominibusque invisius animal ullum cogitari potest; qui quamquam figura est hominis, morum tamen inmanitate vastissimas vincit beluas. quis enim hunc hominem rite dixerit, qui sibi cum suis civibus, qui denique cum omni hominum genere nullam iuris communionem, nullam humanitatis societatem velit? [Dies ist nämlich der Gewaltherr eines Volkes, den die Griechen Tyrann nennen. Denn König, so wollen sie, soll der heißen, der wie ein Vater für das Volk sorgt und diejenigen, über die er gesetzt ist, in der möglichst besten Lebenslage erhält: gewiss eine gute Staatsform, wie ich schon sagte, aber doch nicht festgegründet und gleichsam überhängend und in Gefahr, in die verderblichste Form abzusinken. Sowie nämlich dieser König sich einer nicht ganz gerechten Machtausübung zuwendet, wird er sofort zum Tyrannen, dem scheußlichsten, schmutzigsten und Göttern wie Menschen verhasstesten Lebewesen, das sich erdenken lässt. Zwar hat er die Gestalt eines Menschen, aber durch die Bösartigkeit seines Charakters übertrifft er die schlimmsten Raubtiere. Denn wer könnte den mit Recht einen Menschen nennen, der zwischen sich und seinen Mitbürgern, der schließlich mit dem ganzen Menschengeschlecht keine Rechtsgemeinschaft, keine menschliche Verbundenheit gelten lassen will?] Nach einer interessanten, staatsrechtlich und historisch begründeten Erklärung des Cornelius Nepos (in der Vita des Miltiades), die auf das Verhältnis Polis versus Alleinherrscher zurückweist, bezeichnet der Terminus tyrannus wertfrei denjenigen, der die Alleinherrschaft in einer Stadt innehat, die vorher eine demokratische Regierungsform hatte.33 Steht dieses Wortverständnis recht isoliert innerhalb der lateinischen Überlieferung, so ist es im 1. nachchristlichen Jahrhundert vornehmlich Seneca, der die zeitbedingte Notwendigkeit des Prinzipats anerkennt und im Rückgriff auf die klassische Unterscheidung zwischen βασιλεύς und τύραννος Königtum und Tyrannis detailliert analysiert (de clem. XI [I,13]):34 Placido tranquilloque regi fida sunt auxilia sua, ut quibus ad communem salutem utatur, gloriosusque miles […] omnem laborem libens patitur ut parentis custos; at illum acerbum et sanguinarium necesse est grauentur stipatores sui. […] O miserabilem illum, sibi certe! nam ceteris misereri eius nefas sit, qui caedibus ac rapinis potentiam exercuit, qui suspecta sibi cuncta reddidit tam externa quam domestica, cum arma metuat, ad arma confugiens, non amicorum fidei credens, non pietati liberorum; qui, ubi circumspexit, quaeque fecit quaeque facturus est, et conscientiam suam plenam sceleribus ac tormentis adaperuit, saepe mortem timet, saepius optat, inuisior sibi quam seruientibus. 33  Vgl. Cornelius

Nepos, Milt. 8. de clem. XI [I,13]. (Übersetzung nach Manfred Rosenbach). Vgl. zur Tyrannendarstellung in den Tragödien Senecas Ilona Opelt: Senecas Konzeption des Tragischen. In: Senecas Tragödien, hg. von Eckard Lefèvre (Darmstadt 1972) 92–128. 34  Seneca,

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E contrario is, cui curae sunt uniuersa, qui alia magis, alia minus tuetur, nullam non rei p. partem tamquam sui nutrit, inclinatos ad mitiora, etiam, si ex usu est animaduertere, ostendens, quam inuitus aspero remedio manus admoueat, in cuius animo nihil hostile, nihil efferum est, qui potentiam suam placide ac salutariter exercet adprobare imperia sua ciuibus cupiens, felix abunde sibi uisus, si fortunam suam publicarit, sermone adfabilis, aditu accessuque facilis, uoltu, qui maxime populous demeretur, amabilis, aequis desideriis propensus, etiam iniquis uix acerbus, a tota ciuitate amatur, defenditur, colitur. Eadem de illo homines secreto locuntur quae palam; […] Hic princeps suo beneficio tutus nihil praesidiis eget, arma ornamenti causa habet. [Einem friedlichen und ruhigen König sind treu seine Helfer, weil er sich ihrer für das Gemeinwohl bedient, und der ruhmreiche Soldat […] nimmt gern jede Mühe auf sich als des Vaters Wache; doch jenen harten und blutrünstigen Gewaltherrscher bedrücken notwendig die eigenen Leibwächter. […] O dieser Beklagenswerte, jedenfalls für sich selbst! Denn für die übrigen sei sich dessen zu erbarmen ein Bruch göttlichen Rechtes, der mit Morden und Rauben die Macht ausgeübt hat, der alles in seinen Augen hat verdächtig werden lassen, in der Öffentlichkeit wie im eigenen Hause, weil er Waffen fürchtet, sich zu Waffen flüchtend, nicht der Freunde Treue vertrauend, nicht dem Pflichtgefühl der Kinder; der, sobald er sich vor Augen führt, was er getan hat und was er zu tun im Begriffe ist, und sein Gewissen, voll von Verbrechen und Folterungen, öffnet, oft den Tod fürchtet, öfter wünscht, verhasster sich selbst als den ihm Dienenden. Umgekehrt – der, dem alles Gegenstand seiner Sorge ist, der das eine mehr, das andere weniger schützt, jeden Teil des Staates wie einen seiner selbst nährt, neigend zu milderen Maßnahmen, auch wenn es üblich ist, einzuschreiten, zeigend, wie ungern er zu einem bitteren Mittel greift, in dessen Gesinnung nichts Feindliches, nichts Wildes ist, der seine Macht friedlich und heilsam ausübt, bestrebt, verständlich zu machen seine Herrschaft den Bürgern, über und über glücklich sich vorkommend, wenn er sein Glück der Öffentlichkeit hat vermitteln können, im Gespräch leutselig, für Begegnung und Aussprache aufgeschlossen, im Gesicht, das am meisten die Menschen gewinnt, liebenswert, angemessenen Wünschen geneigt, auch gegenüber unbilligen kaum herbe: er wird von der ganzen Bürgerschaft geliebt, verteidigt, verehrt. Dasselbe sprechen über ihn die Menschen für sich wie in der Öffentlichkeit; […]. Hier bedarf ein Princeps, durch seine Wohltat sicher, überhaupt nicht der Wachen, Waffen besitzt er zum Schmuck.] Die Machtvollkommenheit des Alleinherrschers, des Princeps, wird in der Folgezeit anerkannt; der Begriff tyrannus verliert dennoch nichts von seiner abschreckenden Wirkung.35 Er bezeichnet seit dem 1. Jahrhundert n. Chr. den un35 Vgl.

F.-K. Springer: Tyrannus, a. a.O. [Anm. 28] bes. 78 ff. Begleitet wird dies durch den allmählich schwindenden pejorativen Beigeschmack der Begriffe dominus und rex.

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gerecht und willkürlich regierenden Princeps: Als tyrannische Kaiser werden in der Überlieferung meist Tiberius, Caligula, Nero, Domitian, Commodus, Caracalla, Elagabal und Maximinus angeführt.36 In der Spätantike bezeichnet tyrannus vornehmlich den Usurpator, denjenigen, der sich gegen den rechtmäßigen Herrscher erhebt.37 Die Erkenntnis, dass jedoch meist der Sieger die Geschichte schreibt – bzw. in seinem Sinne (um-) deutet – war der Spätantike ebenfalls nicht fremd. Der Verfasser der Historia Augus­ta führt in der Vita des Pescennius Niger (1,1) aus, dass solche Thronanwärter, die der Sieg der anderen zu Tyrannen machte (»quos tyrannos aliorum victoria fecerit«), in der Literatur meist nur sehr kurz und verfälscht behandelt würden, eine deprimierende Erkenntnis, die Aurelius Victor ebenso pointiert formuliert (XXXIII,23–24):38 Quamquam eo prolapsi mores sunt, uti suo quam reipublicae magisque potentiae quam gloriae studio plures agant. Hinc quoque rerum vis ac nominum corrupta, dum plerumque potior flagitio, ubi armis superaverit, tyrannidem amotam vocat damno publico oppressos. [Unsere Sitten sind indes schon so tief gesunken, dass sich die meisten eher vom eigenen als vom Nutzen des Staates und mehr vom Streben nach Macht als von dem nach Ehre leiten lassen. Deswegen ist auch die Bedeutung der Dinge und ihrer Bezeichnungen verfälscht worden, indem sehr oft der durch seine Schändlichkeit Überragende, wenn er mit den Waffen gesiegt hat, bei einem zum Schaden der Allgemeinheit Unterdrückten von der Beseitigung einer Tyrannis redet.] Diese knapp skizzierte Geschichte der Begriffe τύραννος und tyrannus verdeutlicht im Rückblick auch den Facettenreichtum des engl. tyrant, für das im OED folgende Bedeutungsnuancen, die allesamt auf klassische Motive und Distink­ tionen zurückgehen, aufgelistet werden:39 (1) One who seizes power upon the sovereign power in a state without legal right; an absolute ruler; a usurper. (2) A ruler, governor, prince. (3) A king or ruler who exercises his power in an oppressive, unjust, or cruel manner; a despot. 36  Vgl. die

Belege bei F.-K. Springer: Tyrannus, a. a.O. [Anm. 28] 78 ff.; R. von Haehling: Rex und Tyrann, a. a.O. [Anm. 28] bes. 23 ff.; vgl. ebenfalls H. Berve: Die Tyrannis, a. a.O. [Anm. 7] II,738; Klaus Willmer: Das Domitianbild des Tacitus. Untersuchung des taciteischen Tyrannenbegriffs und seiner Voraussetzungen (Hamburg 1958). 37  Vgl. die Belege bei F.-K. Springer: Tyrannus, a. a.O. [Anm. 28] 101 ff. und R. von Haehling: Rex und Tyrann, a. a.O. [Anm. 28] 28 ff. 38  Aurelius Victor XXXIII,23–24 (Übersetzung von Manfred Fuhrmann). 39  Oxford English Dictionary XI (1933) 563. Vgl. auch Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch. Bd. 11, 1. Abt., 2. Teil (Leipzig 1952), 1967–1974, s.v. ›Tyrann‹.

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(4) Anyone who exercises power or authority oppressively, despotically, or cruelly; one who treats those under his control tyrannically.

III.  Historien der Englischen Renaissance A. Allgemeines Repräsentationen von Herrschaft und Herrschaftskonzepten stehen im Zentrum zahlreicher Historien und Tragödien William Shakespeares: So präsentiert und bilanziert etwa Richard II die Ablösung einer traditionell sakramentalen Herrschaftsideologie (Richard II) durch eine – die gefährliche Nähe zu Niccolò Machiavelli kaum leugnende – pragmatisch-nüchterne Herrschaftskonzeption (Henry Bolingbroke, später Henry IV), die sich im zupackenden, erfolgreichen Handeln bewährt.40 Henry V bezieht durch eine prinzipiell diskursive, Widersprüche offenlegende Inszenierung des Protagonisten und Titelhelden (Henry V) das Publikum in den Prozess der historischen Bewertung von Herrschaft und ihrer Möglichkeiten und Grenzen mit ein.41 Die Ermordung des (für Brutus potenziell) tyrannischen Alleinherrschers Caesar, die ausführlichen Diskussionen und die Rechtfertigungen dieses »Tyrannenmordes« bringt Shakespeare in seiner Tragedy of Julius Caesar auf die Bühne.42 Die von Macbeth nach seinem Mord an Duncan in Schottland errichtete blutrünstige Tyrannis, der grausame Krieg gegen das eigene Volk, steht neben der eindringlichen psychologischen Studie des von seiner Schuld in immer bedrohlicheren, seinen Geist zerrüttenden Wahnvorstellungen heimgesuchten Titelhelden im Mittelpunkt von

40 Vgl.

Wolfgang Iser: Shakespeares Historien. Genesis und Geltung. Konstanzer Bibliothek Bd. 9 (Konstanz 1988), bes. 85 ff.; U. Baumann: Shakespeare und seine Zeit. Uni-Wissen Anglistik / Amerikanistik (Stuttgart/Düsseldorf/Leipzig 1998) bes. 57–61; Manfred Beyer: ›Never was monarch better fear’d and lov’d‹. Zum Herrscherbild in Shakespeares Historien. In: Basileus und Tyrann, hg. von U. Baumann, a. a.O. [Anm. 1] 303–327; Heinz Zimmermann: Die ideologische Krise in King Richard II (1988). In: William Shakespeare. Historien und Tragödien. Neue Wege der Forschung, hg. von U. Baumann (Darmstadt 2007) 15–34; vgl. insgesamt auch Renate Schruff: Herrschergestalten bei Shakespeare. Untersucht vor dem Hintergrund zeitgenössischer Vorstellungen vom Herrscherideal. Studien zur Englischen Philologie N.F. Bd. 35 (Tübingen 1999). 41  Vgl. U. Baumann: Der Nationalheld im Spannungsfeld von Panegyrik und Dekonstruktion: Henry V (1998). In: William Shakespeare, hg. von U. Baumann, a. a.O. [Anm. 40] 49–56; Jens Mittelbach: Die Kunst des Widerspruchs. Ambiguität als Darstellungsprinzip in Shakespeares ›Henry V‹ und ›Julius Caesar‹, Jenaer Studien zur Anglistik und Amerikanistik. Bd. 5 (Trier 2003) bes. 73 ff.; vgl. auch W. Iser: Shakespeares Historien, a. a.O. [Anm. 40] bes. 183 ff. und Stephen Greenblatt: Unsichtbare Kugeln. In: Verhandlungen mit Shakespeare. Innenansichten der englischen Renaissance, hg. von S. Greenblatt (Berlin 1990) 25–65 und 156–161. 42 Vgl. die Details und deren Diskussion bei U. Baumann: Das Drama, a. a.O. [Anm. 2]; J. Mittelbach: Die Kunst, a. a.O. [Anm. 41] bes. 174 ff.

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Shakespeares reifster Vision des Bösen, der Tragedy of Macbeth.43 Bezeichnenderweise expliziert diese düstere Tragödie in einer Schlüsselszene (IV,3), dem berühmten Zwiegespräch zwischen Malcolm und Macduff, einen veritablen Katalog von Aspekten und Kriterien für die Beurteilung von Basileia und Tyrannis im Allgemeinen (vgl. bes. II,3,58–115).44 In dieser brutalen, blutigen Kriegerwelt von Shakespeares Macbeth gibt es nur einen Hoffnungsschimmer, einen vorbildlichen Herrscher, der freilich nur als off stage character überhaupt Erwähnung findet und dennoch ein höchst aufschlussreiches, einen deutlichen Kontrast zu den Herrschern Schottlands signalisierendes Gegenbild konstituiert, der englische König, Edward der Bekenner.45 Statt vieler weiterer möglicher nur noch ein Beispiel: William Shakespeares Richard III. Hauptquelle für Shakespeares vielleicht berühmteste Historie ist – durch die Vermittlung der Tudor-Chroniken – The History of King Richard III des Thomas Morus, die ihrerseits für die beklemmend düstere Darstellung des »Tyrannen« Richards und der desaströsen Auswirkungen dieser Tyrannis auf das staatliche Gemeinschaftsleben sich unverkennbar zentraler Motive der klassisch-antiken Tyrannentopik bedient.46 Im Prolog der ebenfalls von der History des Thomas Morus geprägten, anonymen True Tragedy of Richard III fragt ›Poetry‹: »What maner of man was this Richard Duke of Gloster?« und erhält von ›Truth‹ die Antwort: »A man ill shaped, crooked backed, lame armed withall / Valiantly minded but tyrannous in

43  Vgl. U. Baumann: Shakespeare und seine Zeit, a. a.O. [Anm. 40] bes. 81–86; vgl. ebenfalls Marga Unterstenhöfer: Die Darstellung der Psychologie des Tyrannen in Shakespeares ›King Richard III‹ und ›Macbeth‹ (Frankfurt a.M./Bern/New York/Paris 1988) bes. 117 ff. 44  Vgl. dazu U. Baumann: Macbeth und Duncan als Herrscher in Shakespeares Macbeth. In: Basileus und Tyrann, hg. von U. Baumann, a. a.O. [Anm. 1] 363–378, bes. 363–366. 45  Vgl. Ekkehart Krippendorff: Politik in Shakespeares Drama. Historien – Römerdramen – Tragödien (Frankfurt a.M. 1992) bes. 391–426; U. Baumann: Macbeth und Duncan, a. a.O. [Anm. 44] bes. 377–378. 46  Vgl. die Belege in U. Baumann: Thomas More, a. a.O. [Anm. 3]; vgl. insgesamt auch Hans Peter Heinrich: Sir Thomas Mores ›Geschichte König Richards III.‹ im Lichte humanistischer Historiographie und Geschichtstheorie. Beiträge zur englischen und amerikanischen Literatur. Bd. 5 (Paderborn/München/Wien/Zürich 1987) bes. 93 ff; George M. Logan: More on Tyranny: The History of King Richard the Third. In: The Cambridge Companion to Thomas More, ed. by G. M. Logan (Cambridge 2011) 168–190; John Guy: Thomas More and Tyranny. In: Moreana 49, Heft 189–190 (2012) 157–188; Jeffrey S. Lehman: Seeing Tyranny in More’s History of King Richard III. In: Moreana 50, Heft 191–192 (2013) 131–157; Gabriela Schmidt: What use to make of a tyrant? Thomas More’s History of Richard III and the Limits of Early Tudor Historiography. In: Moreana 50, Heft 191–192 (2013) 187–218; vgl. insgesamt auch Elizabeth Story Donno: Thomas More and Richard III. In: Renaissance Quarterly 35 (1982) 401–447; Dermot Fenlon: Thomas More and Tyranny. In: The Journal of Ecclesiastical History 32 (1981) 453–476; Muriel Sheila Harris: Sir Thomas More’s ›History of Richard III‹ as Humanist Historiography (Columbia Univ. 1972); Gerald John Rubio: St. Thomas More’s ›Richard III‹ in the Tudor Chronicles (Univ. of Illinois 1971); Patrick Joseph Sullivan: The ›Painted Processe‹: A Literary Study of Sir Thomas More’s ›History of King Richard III‹ (Univ. of California, Berkeley 1967).

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authoritie«.47 Die dann folgende Präsentation Richards, der seinen Gegnern und später auch seinen Anhängern grausam und unerbittlich gegenübertritt (vgl. Z. 598 ff.; 649 f.; 1441 ff.; 1630 ff.; 1932; 1969 ff.), der seine Brutalität durch Sarkasmus und grausigen Hohn intensiviert (vgl. Z. 1506 ff.; 1571 ff.; 1966; 1981) und der sich zunehmend mit Gewissensqualen konfrontiert sieht (vgl. Z. 1874 ff.), zeigt ihn als Tyrannen mit den topischen Charakterzügen der antiken Tyrannenliteratur. Der Richard der anonymen True Tragedy of Richard III gewinnt jedoch an keiner Stelle die diabolische Gewalt, die ihn zur Inkarnation des Bösen schlechthin macht; dieser Richard, die Ausgeburt der höllischen Mächte, tritt wenig später erst bei Shakespeare auf.48

B.  William Shakespeare, Richard III (1592/93) Bereits im Eingangsmonolog legt Shakespeares Richard III seine Beweggründe und weiteren Pläne dar (I,1,14–31):49 47  Anon.: The

True Tragedy of Richard III. The Malone Society Reprints, ed. by Walter Wilson Greg (Oxford 1929) Z. 56–58 (Verweise im Folgenden nach dieser Ausgabe im Text); vgl. insgesamt Clayton A. Greer: The Relation of Richard III to The True Tragedy of Richard Duke of York and The Third Part of Henry VI. In: Studies in Philology 29 (1932) 543–550; John Dover Wilson: Shakespeare’s Richard III and The True Tragedy of Richard the Third, 1594. In: Shakespeare Quarterly 3,4 (1952) 299–306; Jill Levenson: Anonymous Plays. The True Tragedy of Richard III. In: The Predecessors of Shakespeare. A Survey and Bibliography of Recent Studies in English Renaissance Drama, ed. by Terence P. Logan and Denzell S. Smith (Lincoln/ Nebraska 1973) 272–280; Brian Walsh: Truth, Poetry, and Report in The True Tragedy of Richard III. In: Locating the Queen’s Men, 1583–1603. Material Practices and Conditions of Playing, ed. by Helen Ostovich, Holger Schott Syme and Andrew Griffin (Surrey 2009) 123–133. 48  Vgl. Christian Werner Thomsen: Der Charakter des Helden bei Seneca und in der früh­ elisabethanischen Tragödie (Marburg 1967) bes. 147–157; vgl. insgesamt auch George Bosworth Churchill: Richard the Third up to Shakespeare. Palaestra. Bd. 10 (Berlin 1900); Alison Hanham: Richard III and his Early Historians 1483–1535 (Oxford 1975); Robert J. Lordi: The Relationship of Richardus Tertius to the Main Richard III Plays. In: Boston University Studies in English 5 (1961) 139–153; Roxane C. Murph: Richard III. The Making of a Legend (Metuchen/N.J. 1977); Alec R. Myers: Richard III and Historical Tradition. In: History 53 (1968) 181–202; Jeremy Potter: Good King Richard? An Account of Richard III and his Reputation 1483–1983 (London 1983); Desmond Seward: Richard III. England’s Black Legend (London; New York; Sydney; Toronto 1983). Das bedeutende lateinische Universitätsdrama aus Cambridge, Richardus Tertius, von Thomas Legge (1579), gehört selbstverständlich auch in diesen Kontext, u. a. weil es in durchaus kongenialer Weise Darstellungs- und Strukturprinzipien der Tragödien Senecas mit der auf Thomas More zurückgehenden historiographischen Repräsentation Richards III verknüpft und insgesamt eine ganze Reihe von strukturellen Parallelen zu einzelnen Szenen Shakespeares enthält (vgl. hierzu Dana F. Sutton: Thomas Legge: The Complete Plays I, Richardus Tertius (New York/San Francisco/Bern/ Frankfurt a.M./Berlin/Wien/Paris 1993) bes. vii ff.), wobei eine detaillierte Würdigung von Legges ›Bild‹ Richards III noch aussteht. 49 Antony Hammond: William Shakespeare, King Richard III. The Arden Shakespeare (London; New York 1981); im Folgenden alle Zitate und Verweise nach dieser Ausgabe. Vgl. aus der kaum mehr überschaubaren Forschungsliteratur Laura Alexander: Senecan Stoicism and Shakespeare’s Richard III. In: Interactions. Aegean Journal of English and American Studies

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But I, that am not shap’d for sportive tricks, Nor made to court an amorous looking-glass; I, that am rudely stamp’d, and want love’s majesty To strut before a wanton ambling nymph: I, that am curtail’d of this fair proportion, Cheated of feature by dissembling Nature, Deform’d, unfinish’d, sent before my time Into this breathing world scarce half made up – And that so lamely and unfashionable That dogs bark at me, as I halt by them – Why, I, in this weak piping time of peace, Have no delight to pass away the time, Unless to spy my shadow in the sun, And descant on mine own deformity. And therefore, since I cannot prove a lover To entertain these fair well-spoken days, I am determined to prove a villain, And hate the idle pleasures of these days. 14 (2005) 27–48; U. Baumann: Shakespeare und seine Zeit, a. a.O. [Anm. 40] bes. 68–71; Martin Brunkhorst: Mores Historie und Shakespeares Drama. Dispositionstechnik in Richard III. In: Sprachkunst 13 (1982) 128–140; Joseph Campana: Killing Shakespeare’s Children. The Cases of Richard III and King John. In: Shakespeare 3 (2007) 18–39; Wolfgang Clemen: A Commen­ tary on Shakespeare’s ›Richard III‹ (London 1968); Annaliese Connolly: Richard III. A Critical Reader (London 2013); Rafik Darragi: Violence, théâtre et politique dans Richard III. In: Le Tyran: Shakespeare contre Richard III, publ. par Dominique Goy-Blanquet (Amiens 1990) 84–92; Morton J. Frisch: Shakespeare’s Richard III and the Soul of the Tyrant. In: Interpretation. A Journal of Political Philosophy 20 (1993) 275–284; Marjorie Garber: Descanting on Deformity. Richard III and the Shape of History. In: The Historical Renaissance. New Essays on Tudor and Stuart Literature and Culture, ed. by Heather Dubrow and Richard Strier (Chicago 1988) 79–103; Raymond Gardette: Richard III, Tyran. In: D. Goy-Blanquet: Le Tyran, a. a.O. [Anm. 49] 93–107; Bettina Gessner: Der Machtkampf in Shakespeares ›King Richard III‹ als Konflikt zweier Weltbilder (Essen 1985); D. Goy-Blanquet: Le Tyran, a. a.O. [Anm. 49]; Jens Martin Gurr: ›Bad is the World, and All Will Come to Nought‹. History and Morality in More’s and Shakespeare’s Richard III. In: Litteraria Pragensia. Studies in Literature and Culture 7 (1997) 51–78; Ralf Hertel: Nationalising History? Polydore Vergil’s Anglica Historia, Shakespeare’s Richard III, and the Appropriation of the English Past. In: Exiles, Emigrés and Intermediaries: Anglo-Italian Cultural Transactions, ed. by Barbara Schaff (Amsterdam 2010) 47–70; Andreas Höfele: Making History Memorable. More, Shakespeare and Richard III. In: REAL. The Yearbook of Research in English and American Literature 21 (2005) 187–203; Rebecca Lemon: New Directions. Tyranny and the State of Exception in Shakespeare’s Richard III. In: Richard III: A critical reader, ed. by Annaliese Francis Connolly (London 2013) 111–128; Wolfgang G. Müller: The Villain as Rhetorician in Shakespeare’s Richard III. In: Anglia 102 (1984) 37–59; Nick Myers: Figures of the Tyrant. The Context to Shakespeare’s Richard III. In: Bulletin de la Société d’Etudes Anglo-Américaines des XVIIe et XVIIIe Siècles 49 (1999) 25–39; Joel Elliot Slotkin: Honeyed Toads. Sinister Aesthetics in Shakespeare’s Richard III. In: Journal for Early Modern Cultural Studies 7 (2007) 5–32; Matthew Westcott Smith: Shakespeare’s Machiavel. ›Richard III‹ in the History of Political Philosophy (New York, Buffalo 1994); Marga Unterstenhöfer: Die Darstellung, a. a.O. [Anm. 43] bes. 52 ff.

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Shakespeares Richard III ist ein grandioser Heuchler und Schauspieler, der die von ihm gewählten Rollen nahezu perfekt beherrscht, der seine überragenden Kompetenzen in der persuasiven Kunst der simulatio bis in alle Einzelheiten lustvoll auslebt,50 der sich im Lichte des Erfolgs seiner Verstellungskunst sonnt, wie etwa sein Monolog nach der ›Eroberung‹ Annes bezeugt (I,2,232–242):51 Was ever woman in this humour woo’d? Was ever woman in this humour won? I’ll have her, but I will not keep her long. What, I that kill’d her husband and his father: To take her in her heart’s extremest hate, With curses in her mouth, tears in her eyes, The bleeding witness of her hatred by, Having God, her conscience, and these bars against me – And I, no friends to back my suit at all; But the plain devil and dissembling looks – And yet to win her, all the world to nothing! Gegen Ende des dritten Aktes erläutert Richard in einer Frage an Buckingham seine eigenen Fähigkeiten des persuasiven Rollenspiels (III,5,1–4): Come, cousin, canst thou quake and change thy colour, Murder thy breath in middle of a word, And then again begin, and stop again, As if thou were distraught and mad with terror? Richard, von anderen Figuren der Historie immer wieder als Höllenknecht, Teufel oder Ausgeburt der höllischen Niederungen beschimpft,52 ist ein Tyrann, der mit allen Zügen der antiken Tyrannentopik ausgestattet ist.53 Expressis verbis wird er mehrfach als Tyrann – bzw. seine Herrschaft als Tyrannis – bezeichnet,54 50  Vgl. R

III, I,1,117 ff.; I,3,47 ff.; II,1,53 ff.; II,2,151 ff.; III,1,79 ff.; IV,4,397 ff. insgesamt auch Romuald Ian Lakowski: From History to Myth. The Misogyny of Richard III in More’s History and Shakespeare’s Play. In: Q/W/E/R/T/Y. Arts, Littératures & Civilisations du Monde Anglophone 9 (1999) 15–19; Jack Trotter: ›Was Ever Woman in this Humour Won?‹. Love and Loathing in Shakespeare’s Richard III. In: The Upstart Crow 13 (1993) 33–46. 52 Vgl. R III, I,2,46: »thou dreadful minister of hell«; I,2,50: »Foul devil«; I,2,78: »diffus’d infection of a man«; I,2,91: »devilish slave«; I,3,118: »devil«; I,3,143 f: »Hie thee to hell for shame, and leave this world, / Thou cacodemon: there thy kingdom is«; I,3,230: »The slave of Nature, and the son of hell«; I,3,293: »Sin, death, and hell have set their marks on him«; IV,4,48: »A hellhound that doth hunt us all to death«; IV,4,71: »hell’s black intelligencer«. 53  Vgl. die Literatur oben, Anm. 49. Zwei seiner literarischen Ahnen gibt Richard III selbst explizit zu erkennen: Machiavelli (Henry VI, Part 3, III,2,191–195) und die Vice-Figur der Moralitäten (R III, III,1,82–83). 54  Vgl. R III, II,4,51: »insulting tyranny«; IV,4,51: »grand tyrant of the earth«; V,2,2: »yoke of tyranny«; V,3,169: »tyranny«; V,3,247: »[a] bloody tyrant«; V,3,256 f: »If you do sweat to put a tyrant down, / You sleep in peace, the tyrant being slain«. 51 Vgl.

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noch deutlichere Hinweise bietet die Präsentation seiner Bluttaten. Seine Blutgier wird von Anne betont (I,2,101 ff.), ansonsten wird er wiederholt als blutiger König bezeichnet.55 England unter König Richard wird von Königin Elizabeth als Schlachthaus konzeptualisiert (IV,1,43). Richard ist, in den Worten seines Gegenspielers Henry Richmond (V,3,247–250): A bloody tyrant and a homicide; One rais’d in blood, and one in blood establish’d; One that made means to come by what he hath, And slaughter’d those that were the means to help him[.] Shakespeares Richard ist ein Herrscher, der weder göttliches noch menschliches Recht anerkennt (I,2,70 f.); durch eine Parallelkonstruktion in einer stichomythischen Wechselrede zwischen Richard und Königin Elizabeth stilisiert Shakespeare Richard zum Antipoden der Natur (IV,4,353–354): K. Rich. As long as heaven and nature lengthens it. Eliz.: As long as hell and Richard likes of it. Richard, von der Natur um Wohlgestalt und Charme betrogen, wird zur UnNatur, zum widernatürlichen Bruder- und Neffenmörder.56 Dieser Richard hat keine Freunde;57 als Hund,58 als wildes Tier59 wird er bezeichnet; im zweiten Akt analysiert Königin Elizabeth vorausschauend die politische Situation (II,4, 50–54): The tiger now hath seiz’d the gentle hind; Insulting tyranny begins to jut Upon the innocent and aweless throne. Welcome destruction, blood, and massacre; I see, as in a map, the end of all. 55  Vgl. R III, III,4,103: »O bloody Richard«; IV,3,22: »bloody King«; V,5,2: »the bloody dog is dead«. 56  Vgl. R III, passim, bes. IV,4,223 ff. 57  Vgl. R III, I,2,240: »And I, no friends to back my suit at all«; V,3,201–204: »I shall despair. There is no creature loves me, / And if I die, no soul will pity me - / And wherefore should they, since that I myself / Find no pity to myself?«. 58  Vgl. R III, I,3,216: »Stay, dog«; I,3,289-291: »O Buckingham, take heed of yonder dog! / Look when he fawns, he bites; and when he bites / His venom tooth will rankle to the death«; IV,4,48–54: »A hell-hound that doth hunt us all to death: / That dog, that had his teeth before his eyes, / To worry lambs, and lap their gentle blood; / That excellent grand tyrant of the earth, / That reigns in galled eyes of weeping souls; / That foul defacer of God’s handiwork / Thy womb let loose to chase us to our graves«; V,5,2: »the bloody dog is dead«. 59 Vgl. R III, II,4,50: »The tiger now hath seiz’d the gentle hind«; IV,4,22–23: »Wilt thou, O God, fly from such gentle lambs, / And throw them in the entrails of the wolf?«; IV,5,2: »the most deadly boar«; V,2,7–11: »The wretched, bloody, and usurping boar, / That spoil’d your summer fields and fruitful vines, / Swills your warm blood like wash, and make his trough / In your embowell’d bosoms – this foul swine / Is now even in the centre of this isle«.

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Zu Beginn des fünften Aktes bestätigt Richmond, dass sich die düsteren Ahnungen Elizabeths erfüllt haben, bezeichnenderweise in vergleichbarer Metaphorik und Motivik (V,2,7–11): The wretched, bloody, and usurping boar, That spoil’d your summer fields and fruitful vines, Swills your warm blood like wash, and makes his trough In your embowell’d bosoms – this foul swine Is now even in the centre of this isle[.] Alle diese Charakterzüge, die Grausamkeit, das Wüten als wildes Tier, die Tatsache, dass der Tyrann ohne Freunde ist, korrespondieren mit den zentralen Topoi der antiken Literatur über den Tyrannen – bzw. über tyrannische Herrschaft. Shakespeares Richard ist so entmenschlicht, dass sich sogar die eigene Mutter von ihm abwendet und ihn verflucht (IV,4,192–196): And there the little souls of Edward’s children Whisper the spirits of thine enemies And promise them success and victory. Bloody thou art; bloody will be thy end. Shame serves thy life and doth thy death attend. Durch Anne, Richards Gattin, erfährt das Publikum zuerst von Richards angsterfüllten Träumen, die ihm den Schlaf rauben (IV,1,82 ff.). Im fünften Akt schließlich wird das Publikum Augen- und Ohrenzeuge eines solchen Traumes: Die Geister der von Richard Ermordeten erscheinen ihm in der Nacht vor der Entscheidungsschlacht mit Richmond. Prince Edward, Henry VI, Clarence, Rivers, Grey, Vaughan, Hastings, die Prinzen, Lady Anne und Buckingham verfluchen Richard und kündigen ihm mit stereotypen Wendungen,60 die sich seinem Gedächtnis einbrennen sollen, Verzweiflung, Niederlage und baldigen Tod an. Der Monolog Richards, unmittelbar nachdem er aus diesem Traum erwacht ist, bietet einen tiefen Einblick in seine Gewissensqualen, artikuliert seine existentiellen Selbstzweifel, aber bestätigt auch noch einmal seine tyrannische Natur (V,3,180 – 204): O coward conscience, how dost thou afflict me! The lights burn blue; it is now dead midnight. Cold fearful drops stand on my trembling flesh. What do I fear? Myself? There’s none else by; Richard loves Richard, that is, I and I. Is there a murderer here? No. Yes, I am! 60  Vgl. R III, V,3,121; V,3,127 f; V,3,136; V,3,141; V,3,142; V,3,144; V,3,149; V,3,155; V,3,164; V,3,172 f. Vgl. hierzu Polybios XXIII,10,2 f; vgl. zur Tradition der Geisterszenen Gisela Dahinten: Die Geisterszene in der Tragödie vor Shakespeare. Zur Seneca-Nachfolge im englischen und lateinischen Drama des Elisabethanismus. Palaestra. Bd. 225 (Göttingen 1958).

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[…] I am a villain – yet I lie, I am not! Fool, of thyself speak well! Fool, do not flatter. My conscience hath a thousand several tongues, And every tongue brings in a several tale, And every tale condemns me for a villain: Perjury, perjury, in the highest degree; All several sins, all us’d in each degree, Throng to the bar, crying all, ›Guilty, guilty!‹ I shall despair. There is no creature loves me, And if I die, no soul will pity me – And wherefore should they, since that I myself Find in myself no pity to myself? Zusammenfassend darf man festhalten: William Shakespeare präsentiert in seiner Historie mit Richard III eine Herrscherfigur, die mit allen Zügen antiker Tyrannentopik ausgestattet zur diabolischen Inkarnation des Bösen schlechthin wird. Ob sein am Ende militärisch siegreicher Gegenspieler, Henry Richmond, der spätere Henry VII, der Stammvater der Tudor-Dynastie, die Statur eines wahren Königs, eines βασιλεύς hat, lässt die Historie bewusst offen.

C.  John Ford, Perkin Warbeck (1625 oder später) John Ford dramatisiert in seiner Historie The Chronicle Historie of Perkin War­ beck. A Strange Truth61 das Schicksal des vermeintlichen Thronprätendenten Perkin Warbeck, der sich als Richard, Herzog von York, der jüngere Sohn Ed61  Vgl.

Peter Ure: John Ford, The Chronicle History of Perkin Warbeck. A Strange Truth. The Revels Plays (London 1968); vgl. Donald K. Anderson: Kingship in Ford’s Perkin Warbeck. In: English Literary History 27 (1960) 177–193; D. K. Anderson: Richard II and Perkin Warbeck. In: Shakespeare Quarterly 13 (1962) 260–263; Jonas A. Barish: Perkin Warbeck as Anti-History. In: Essays in Criticism 20 (1970) 151–171; Anne Barton: He that Plays the King. Ford’s Perkin Warbeck and the Stuart History Play. In: English Drama. Forms and Development. Essays in Honour of Muriel Clara Bradbrook, ed. by Marie Axton; Raymond Williams (Cambridge 1977) 69–93; Joseph Candido: The ›Strange Truth‹ of Perkin Warbeck. In: Philological Quarterly 59 (1980) 300–316; Coburn Freer: ›The Fate of Worthy Expectation‹. Eloquence in Perkin War­ beck. In: ›Concord in Discord‹. The Plays of John Ford, 1586–1986, ed. by D. K. Anderson (New York 1986) 131–148; Jean Howard: ›Effeminately dolent‹. Gender and Legitimacy in Ford’s Perkin Warbeck. In: John Ford. Critical Re-Visions, ed. by Michael Neill (Cambridge 1988) 261– 279; Alexander Leggatt: A Double Reign. Richard II and Perkin Warbeck. In: Shakespeare and His Contemporaries. Essays in Comparison, ed. by Ernst Anselm Joachim Honigmann (Manchester 1968) 129–139; M. Neill: ›Anticke Pageantrie‹. The Mannerist Art of Perkin Warbeck. In: Renaissance Drama 7 (1976) 117–150; Peter Nover: Die Inszenierung von Herrschaft in John Fords Perkin Warbeck. In: U. Baumann, Basileus und Tyrann, a. a.O. [Anm. 1] 441–449; D. B. Randall: ›Theatres of Greatness‹. A Revisionary View of Ford’s Perkin Warbeck (Victoria 1986); vgl. insgesamt zum Stuart History Play Judith Doolin Spikes: The Jacobean History Play

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wards IV, ausgibt. Protegiert von der Herzoginwitwe Margarete von Burgund, die ihn als ihren Neffen anerkennt, schart Warbeck Anhänger um sich und bemüht sich sowohl in Irland als auch am Hofe des schottischen Königs, James IV, um Unterstützung für seinen Anspruch auf die englische Krone. Während Henry VII zu Beginn von Fords Historie sein Los beklagt, sich trotz königlicher Abstammung immer wieder gegen Hochstapler wie Lambert Simnel oder Perkin Warbeck behaupten zu müssen, erscheint Warbeck am schottischen Königshof. Fasziniert von der rhetorisch-charismatischen Überzeugungskraft Warbecks, folgert König James, dass diese eloquentia das äußere Zeichen inneren Königtums sei.62 Er heißt Perkin Warbeck als »Cousin of York« willkommen und sagt ihm jedwede Unterstützung zu. Auch Lady Katherine Gordon, eine schottische Hofdame, erliegt dem rhetorischen Charme Warbecks und wird von James, gegen den Willen von Katherines Vater, mit Perkin Warbeck verheiratet. Die festlich-harmonische Stimmung am schottischen Hof kontrastiert Ford mit der nüchternen, ganz auf Machterhalt ausgerichteten Herrschaftsausübung Henrys. So ist Henry, nachdem er erfahren musste, dass sein getreuer Diener Sir William Stanley, jener Stanley, der ihm auf dem Schlachtfeld von Bosworth noch die Krone aufgesetzt hatte, die Sache Warbecks unterstützt hat, gezwungen, seinen ehemaligen Freund und Bundesgenossen wegen Hochverrats schuldig zu sprechen und dem Scharfrichter zu überantworten. Kurz bevor er zu seiner Hinrichtung hinausgeführt wird, verabschiedet sich Stanley standesgemäß von dieser Welt (II,2,108–110): I take my leave, to travel to my dust: Subjects deserve their deaths whose kings are just. Come, confessor; on with thy axe, friend, on. Die in diesen Versen, die durch den Endreim (»dust« / »just«) wie auch als ul­ tima verba Stanleys besonders herausgehoben sind, insinuierte Frage, ob Henry ein gerechter Herrscher ist, legt die Deutung der gesamten Historie als »lesson in kingship« nahe.63 In Perkin Warbeck präsentiert John Ford unterschiedliche Konzeptionen von Königsherrschaft und bilanziert ihre Vorzüge und Nachteile im Kontext von Warbecks missglückter Expedition nach England. Als beherrschende, überlegene Figur erweist sich der ebenso vorausschauend wie politisch klug handelnde Henry VII, der Repräsentant eines nüchtern pragmatischen, realpolitischen, erfolgsorientierten und zugleich sakramentalen Königtums. and the Myth of the Elect Nation. In: Renaissance Drama N. S. 8 (1977) 117–149; Ivo Kamps: Historiography and Ideology in Stuart Drama, (Cambridge 1997). In der Argumentation und einigen Formulierungen greife ich auf U. Baumann: Shakespeare und seine Zeit, a. a.O. [Anm. 40] 138–141 zurück. 62  Vgl. bes. C. Freer: The Fate, a. a.O. [Anm. 61]. 63  Vgl. bes. D. K. Anderson: Kingship, a. a.O. [Anm. 61]; A. Barton: He that Plays the King, a. a.O. [Anm. 61]; M. Neill: Anticke Pageantrie, a. a.O. [Anm. 61].

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Nachdem Warbecks unrealistische Hoffnungen, das englische Volk würde sich ihm anschließen, bitter enttäuscht worden sind, wendet sich auch James, gedrängt von Henry, von dem mittlerweile unpopulären ›Hochstapler‹ ab. James hat sozusagen seine, von Henry übermittelte Lektion in praktischer Politik gelernt und lässt Warbeck fallen, weil dessen Sache wenig erfolgversprechend scheint. Als anpassungsfähig und vorsichtig kalkulierend erweist sich James, als der vollendete pragmatische Realpolitiker (aber vielleicht zu wenig moralisch gefes­ tigt, um als βασιλεύς gelten zu können) beherrscht Henry die Szene, und Perkin Warbeck, wie Henry in seinem Selbstverständnis ein überzeugter Repräsentant des sakramentalen Königtums, muss – wie Shakespeares Richard II64 – erkennen, dass Gottvertrauen alleine nicht ausreicht, um in einem weltlichen Kampf um die Macht den Sieg davon zu tragen. Umgeben von dubiosen und unfähigen Ratgebern hält er fatalistisch an seinem Herrschaftsanspruch, seinem Konzept von historischer Wahrheit fest. In seinen Herrscherfiguren, James, Henry und Perkin Warbeck, verdeutlicht John Ford, dass auch ein von Gott auserwählter Herrscher nur dauerhaft und gerecht regieren kann, wenn der sakramentale Herrschaftsmythos ergänzt wird durch effektive, nüchterne, praktische Herrscherqualitäten, die die Unterstützung des Adels und des Volkes sicherstellen. Darauf verweist vielleicht auch schon der so merkwürdige Untertitel seiner Historie: A Strange Truth. Perkin Warbecks kraftvolle, zündende Reden zeitigen in England keine politischen Konsequenzen. Sie erfüllen die intendierte persuasive Funktion nicht mehr und die erfolglose Rhetorik wird zum Signum für das Scheitern der politischen Mission. Ein letzter verzweifelter Versuch, die Aufständischen in Cornwall um sich zu scharen, besiegelt schließlich sein Verhängnis: Warbeck flieht, wird gefangen genommen, nach London überführt und, nachdem er sich geweigert hat, seine Hochstapelei zuzugeben, hingerichtet. Als Hauptquellen für diese letzte bedeutende Historie der Stuartzeit dienten Francis Bacons Historie of the Reign of King Henry the Seventh (1622) und Thomas Gainsfords The True and Wonderfull History of Perkin Warbeck (1618). Ein Vergleich zwischen diesen Quellen und Fords Dramatisierung ist sehr aufschlussreich: Geschickte Umstellungen innerhalb des historisch überlieferten Geschehens verdichten und konzentrieren (wie in Shakespeares Historien und Tragödien) die Handlung.65 Bedeutsamer als diese Umstellungen oder die Ergänzung des historischen Stoffes um die starke Frauenfigur Katherine sind jedoch die Veränderungen in der Präsentation König Henrys und seines Widersachers Perkin Warbeck. Henry ist von John Ford deutlich positiver als in seinen Quellen porträtiert: Während Bacon die Geldgier und die mangelnde Voraussicht des Königs tadelt, setzt der 64  Vgl. bes. D. K. Anderson: Richard II and Perkin Warbeck, a. a.O. [Anm. 61]; A. Leggatt: A Double Reign, a. a.O. [Anm. 61]; vgl. zu Shakespeares Richard II grundlegend H. Zimmermann: Die ideologische Krise, a. a.O. [Anm. 40]. 65  Vgl. die tabellarische Synopse bei P. Ure: John Ford, a. a.O. [Anm. 61] xxxviii–xxxix.

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König bei Ford sein Geld gezielt zum Erreichen politischer und militärischer Ziele ein. Darüber hinaus setzt seine Fähigkeit, die Aktionen anderer zu antizipieren, seinen kompetenten Beraterstab immer wieder in Erstaunen. Gleichwohl fallen auch bei Ford Schatten auf Henrys Charakter. Er lässt seinen Freund Stanley, nach ausschließlich politischen Kriterien beurteilt, gerechter- und notwendigerweise hinrichten und er demütigt Katherine, während Warbeck im Kerker liegt. Die entscheidende Abweichung nimmt Ford jedoch in der Konzeption seines Titelhelden vor, da dieser zu keinem Zeitpunkt der Handlung, nicht einmal, als ihm die königliche Gnade Henrys für ein Geständnis versprochen wird, eingesteht, ein Hochstapler zu sein. Bis zum Schluss bleibt er bei seiner subjektiven Version der Wahrheit, er sei Richard IV und ihm gebühre die englische Krone. Dies ist sicherlich der literarische Geniestreich John Fords in der Konzeption seines Titelhelden, mit dem er sich – wie schon Shakespeare in Richard II66 – einer Festlegung auf einen klaren ideologischen oder politischen Standpunkt entzieht, wie Peter Ure ausführt:67 For the absolutely essential thing about Ford’s portrayal of Warbeck, the real stroke of genius, which makes the whole thing worthwhile and validates the labours of commentators, is this: Warbeck never does anything in the play to suggest either that he is playing a part and knows it, or – and this is the vital point – that he is, in Baconian fashion, playing a part and no longer knows it. […] But beyond these [comments by the source-historians], there is, in the heart of the artefact, something which is not wholly susceptible to their modes of qualification or explanation, something therefore free and anarchic: the Warbeck whose convictions about his own nature appear both sane and noble and appeal as such directly out of the play to its spectators. That is the stroke of genius, and it is that that appears independent of anything identifiable in the sources. It is done of course not for the sake of trying to persuade us that Warbeck is what he thinks he is but because it is what Ford perceived would ›make‹ his play as a dramatic experience: one in which the spectators must measure the impact and appeal of Warbeck against the assured testimony of Henry and a whole range of witnesses, including the source-historians themselves. Mit dieser signifikanten Abweichung von der historischen Überlieferung, wo Warbeck seine Hochstapelei eingesteht und dann als Mitglied der Warwick-Verschwörung hingerichtet wird, und mit seiner Stilisierung Perkin Warbecks zum verantwortungsbewussten Anführer, der vergeblich um Vergebung für seine Gefolgsleute bittet und schließlich bewusst den Tod wählt, verdeutlicht John Ford die prinzipielle Perspektivengebundenheit jedweder (auch historischer) Er66  Vgl. nochmals 67 

H. Zimmermann: Die ideologische Krise, a. a.O. [Anm. 40]. P. Ure: John Ford, a. a.O. [Anm. 61] xlii.

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kenntnis und Wertung. Selbst die zynische, aber darum nicht falsche These, dass immer der Sieger die Geschichte schreibt, versieht er mit einem Fragezeichen. Das letzte Wort hat zwar Henry, und er formuliert politisch klug die ins Allgemeine gewendete staatsmännische Lehre aus dem Geschehen (V,3,216–219: »and from hence / We gather this fit use: that public states, / As our particular bodies, taste most good / In health, when purgèd of corrupted blood«), aber den nachhaltigeren Eindruck beim Publikum hinterlässt Perkin Warbeck. Wie schon in Shakespeares Richard II die Leiden und menschliche Verzweiflung Richards ihm die Sympathie des Publikums sicherten, so lebt auch John Fords Perkin Warbeck in der Erinnerung des Theaterpublikums als heroische Verkörperung einer nicht realisierten historischen Alternative, als subversive gedanklich-experimentelle Dekonstruktion des Selbstverständnisses der Tudor-Monarchie, des tudor myth, als »strange truth«.

IV.  Tragödien der Englischen Renaissance: Römerdramen A. Allgemeines Von den insgesamt zehn englischen Tragödien der Renaissance, die Episoden der Geschichte der römischen Kaiserzeit auf die öffentlichen Bühnen Englands bringen,68 konzentrieren sich sieben auf die Präsentation des verwerflichen, moralisch depravierten Charakters und der frevelhaften Schandtaten eines tyrannischen Kaisers: Ben Jonson, Sejanus His Fall (1603); Anon., Claudius Tiberius Nero (1607); Nathanael Richards, The Tragedy of Messallina, The Roman Em­ presse (1635); Thomas May, The Tragedy of Julia Agrippina, Empresse of Rome (1628); Anon., Nero (1624); Philip Massinger, The Roman Actor (1626) und John Fletcher, The Tragedy of Valentinian (1614). Nicht die vorbildlichen Kaiser des römischen Reiches, Augustus, Vespasian, Titus, Trajan, Hadrian, Antoninus Pius oder Marc Aurel, interessierten und faszinierten die englischen Dramatiker, sondern sie richteten ihr Augenmerk auf die bereits in der antiken Tradition zu despotischen, grausamen Tyrannen stilisierten Kaiser: Tiberius, Nero, Domitian und Valentinian, wobei die Auswirkungen der despotischen Willkürherrschaft auf die Moral und das Leben des einzelnen Bürgers, die Mentalität in einem Klima allgemeiner Verdächtigung, Unterdrückung, Überwachung und Kontrolle jeweils Schwerpunkte der Darstellung konstituieren.69

68 Vgl. die Details, Analysen und weitere Literatur bei U. Baumann: Vorausdeutung und Tod im englischen Römerdrama der Renaissance (1564–1642). Kultur und Erkenntnis. Bd. 13 (Tübingen/Basel 1996) bes. 204 ff. und die systematische Auswertung 401 ff. 69  Vgl. die Details bei U. Baumann: The Presentation of the Imperial Court, a. a.O. [Anm. 2] und U. Baumann: Tyrannen, Attentäter und Intrigen, a. a.O. [Anm. 2].

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B.  Ben Jonson, Sejanus His Fall (1603) Zwei Verschwörern wider den Staat widmet Ben Jonson seine beiden Tragödien, Sejanus His Fall (1603) und Catiline His Conspiracy (1611), wobei schon Tacitus in seinem berühmten Seian-Porträt (ann. IV,1) die Parallelen zwischen den beiden Verschwörern akzentuiert. Die politische Analyse der Schwächen des Einzelnen, die das Staatswesen insgesamt zum Niedergang verurteilen, macht Catiline His Conspiracy zu einer düsteren, aber darum nicht weniger eindrucksvollen dramatischen Repräsentation der dahinsiechenden römischen Republik, deren Untergang von Cicero vorerst noch einmal verhindert werden kann.70 Ein ähnlich beklemmendes Porträt Roms unter Seian und – dem bereits in der antiken Überlieferung als Tyrannen konzeptualisierten – Kaiser Tiberius präsentiert Ben Jonson in seiner ersten Tragödie Sejanus His Fall, die wie Catiline His Conspiracy in vorzüglichen Kenntnissen der klassisch antiken Überlieferung gründet.71 In den ersten drei Akten seiner Tragödie Sejanus His Fall72 zeigt Ben Jonson im Detail auf, wie Seian seine ehrgeizigen Pläne langsam, Schritt für Schritt, verwirklicht, seine Gegner einen nach dem anderen beseitigt, Agrippina und 70  Vgl. die Details (und weitere Literatur) bei U. Baumann: Vorausdeutung und Tod, a. a.O. [Anm. 68] 119–125. 71  Vgl. insgesamt U. Baumann: Vorausdeutung und Tod, a. a.O. [Anm. 68] bes. 119–125 und 212–224. 72 Whitney F. Bolton: Ben Jonson. Sejanus His Fall. The New Mermaids (London 1966); im Folgenden alle Zitate und Verweise nach dieser Ausgabe. Vgl. insgesamt U. Baumann: Die Tragödien Ben Jonsons als humanistische Auseinandersetzung mit Niccolò Machiavelli. In: Staatstheoretische Diskurse im Spiegel der Nationalliteraturen von 1500 bis 1800. Wolfenbütteler Forschungen. Bd. 79, hg. von Barbara Bauer und Wolfgang G. Müller (Wiesbaden 1998) 295–318; Daniel C. Boughner: Sejanus and the Ideal Prince Tradition. In: Studies in English Literature 11 (1971) 265–281; Cynthia Bowers: ›I Will Write Satires Still, in Spite of Fear‹. History, Satire, and Free Speech in Poetaster and Sejanus. In: Ben Jonson Journal 14 (2007) 153–172; Brandon Christopher: ›Associate of Our Labours‹. Ben Jonson’s Sejanus and the Limits of Master-Secretary Friendship. In: Ben Jonson Journal 19 (2012) 105–126; Richard Dutton: The Sources, Text, and Readers of Sejanus. Jonson’s ›integrity in the Story‹. In: Studies in Philology 75 (1978) 181–198; K. W. Evans: Sejanus and the Ideal Prince Tradition. In: Studies in English Literature 11 (1971) 249–264; Penelope Geng: ›He Only Talks‹. Arruntius and the Formation of Interpretative Communities in Ben Jonson’s Sejanus. In: Ben Jonson Journal 18 (2011) 126–140; Yongtae Kim: Ben Jonson’s Sejanus. The Politics of Ambiguity and the Art of Writing. In: Shakespeare Review 24 (1994) 185–213; Werner von Koppenfels: ›Acting his tragedies with a comic face‹: Zur Konvergenz von Tragödie und Komödie in Ben Jonsons Dramen Sejanus und Volpone. In: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 53 (1979) 525–543; Brock Cameron MacLeod: The Polybian Text. Historiography in the Margins of Ben Jonson’s Quarto ›Sejanus‹ (Victoria 2011); Katherine Eisamann Maus: Ben Jonson and the Roman Frame of Mind (Princeton/New York 1984); Annabel Patterson: ›Roman-Cast Similitude‹. Ben Jonson and the English Use of Roman History. In: Rome in the Renaissance. The City and the Myth, ed. by Paul A. Ramsey (Binghamton 1982) 381–394; Norbert H. Platz: Ethik und Rhetorik in Ben Jonsons Dramen (Heidelberg 1976) bes. 167–204; John Gordon Sweeney: Sejanus and the People’s Beastly Rage. In: English Literary History 48 (1981) 61–82; Matthew H. Wikander: ›Queasy to Be Touched‹. The World of Ben Jonson’s Sejanus. In: Journal of English

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ihre Söhne (im Einverständnis und im Auftrag des Tiberius) mit einem Netz von Spionen umgibt und sie so bespitzeln lässt. Arruntius, Silius, Sabinus und einige Gesinnungsgenossen müssen in Art eines antiken Chores machtlos zuschauen73 wie das allgemeine Klima immer mehr von Verdächtigung, Denunziation, Kriecherei und Angst geprägt ist. Das von den Umtrieben der Agenten Seians seinen Ausgang nehmende Unheil macht vor nichts und niemandem Halt. Abstammung, Moral und Ehre, all das zählt nichts mehr in diesen Zeiten, so klagt Silius, jedermann sei käuflich und buhle um die Gunst Seians (I,1,27–41): […] These can lie, Flatter, and swear, forswear, deprave, inform, Smile, and betray; make guilty men; then beg The forfeit lives, to get the livings; cut Men’s throats with whisperings; sell to gaping suitors The empty smoke, that flies about the palace; Laugh, when their patron laughs; sweat, when he sweats; Be hot, and cold with him; change every mood, Habit, and garb, as often as he varies; Observe him, as his watch observes his clock; And true, as turquoise in the dear lord’s ring, Look well, or ill with him: ready to praise His lordship, if he spit, or but piss fair, Have an indifferent stool, or break wind well, Nothing can ‘scape their catch. Nicht die Zeiten, die Menschen hätten sich verändert,74 fährt Arruntius fort, die alten Römertugenden seien mit Cato, Brutus und Cassius zu Grabe getragen worden (I,1,86–104).75 Dieser einsichtigen und schonungslosen Analyse des herrschenden politischen Klimas stellt Jonson die verbrecherischen Handlungen Seians gegenüber. Seian intrigiert gegen Drusus, den Sohn und präsumtiven Nachfolger des Tiberius, und lässt ihn mit Hilfe Livias vergiften and Germanic Philology 78 (1979) 345–357; Brian Woolland: ›Sejanus His Fall‹. Does Arruntius Cry at Night? In: Jonsonians. Living Traditions, ed. by B. Woolland (Aldershot 2003) 27–41. 73  Vgl. für das Folgende U. Baumann: Vorausdeutung und Tod, a. a.O. [Anm. 68] 212–224. 74  Vgl. bes. I,1,86-92: »Times: the men, / The men are not the same: ›tis we are base, / poor, and degenerate from th’exalted strain / Of our great fathers. Where is now the soul / Of godlike Cato: he, that durst be good, / When Caesar durst be evil; and had power, / As not to live his slave, to die his master«. Die panegyrische Würdigung des Germanicus als wahres Idealbild eines Herrschers (I,1,120-174) durch Arruntius, Silius, Sabinus und Cordus schafft sehr früh schon eine strahlend helle Folie (eines potentiellen βασιλεύς), vor der sich die Gegenwart um so düsterer ausnimmt. 75  Insbesondere mit seinen letzten Worten (I,1,103–104: »’tis true, that Cordus says, / ›Brave Cassius was the last of all that race‹«) verweist Arruntius auf moralische Wertungen im Geschichtswerk des Cremutius Cordus, die im Majestätsprozess gegen Cordus eine entscheidende Rolle spielen werden (vgl. bereits I,1,74–85).

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(II,1,7–24; 108–120; II,3,479–491; III,1,13), er schürt den Hass des Tiberius gegen Agrippina und ihre Anhänger (II,2,190–284) und bestimmt nach Gutdünken die ersten Opfer aus der Anhängerschaft Agrippinas (II,2,285–312). Seian agiert nicht nur als willfähriges Werkzeug des Tiberius, schon früh strebt sein Geist nach Höherem und er wähnt sich auf dem besten Weg zur Kaiserwürde (II,2,390–404). Einen ersten dramatischen Höhepunkt präsentiert Ben Jonson zu Beginn des dritten Aktes: In einer Sitzung des Senats erhebt plötzlich der Konsul Varro (im Auftrag Seians) Anklage gegen Silius, einen treuen Freund und Kampfgefährten des Germanicus (II,2,285–295). Silius habe den Kampf gegen Sacrovir, den Führer des gallischen Aufstandes, hinausgezögert und sich mit den Geldern der Provinz die eigenen Taschen gefüllt (III,1,179–190). Diese Anklage wie die folgende knappe ›Verhandlung‹ ist die vollendete dramatische Umsetzung der Schilderung, die Tacitus in seinen Annalen über den Majestätsprozess gegen C. Silius bietet (ann. IV,18,120,2). Wie bei Tacitus macht auch Jonsons Silius kein Hehl aus seiner Meinung, unverblümt hält er der Anklage entgegen, er wisse schon, wer seinen Sturz wolle (III,1,244–247): »This boast of law, and law, is but a form, / A net of Vulcan’s filing, a mere engine, / To take that life by a pretext of justice, / Which you pursue in malice«. Silius durchschaut die Ränke Seians, er weiß, dass sein Leben verwirkt ist und wendet sich an den Kaiser selbst; er wirft Tiberius persönlichen Neid und Missgunst vor. Seit er, Caius Silius, den Aufstand der Rheinlegionen niedergeworfen habe, hätte Tiberius ihn gefürchtet und gehasst (III,2,302–305): »so soon, all best turns, / With doubtful princes, turn deep injuries / In estimation, when they greater rise, / Than can be answered«. Silius hat innerlich mit seinem Leben abgeschlossen; aber er will sich nicht aburteilen und wie ein Feigling zum Tode führen lassen (III,2,326–339): All that can happen in humanity, The frown of Caesar, proud Sejanus’ hatred, Base Varro’s spleen, and Afer’s bloodying tongue, The Senate’s servile flattery, and these Mustered to kill, I am fortified against; And can look down upon: they are beneath me. It is not life whereof I stand enamoured: Nor shall my end make me accuse my fate. The coward, and the valiant man must fall, Only the cause, and manner how, discerns them: Which then are gladdest, when they cost us dearest. Romans, if any here be in this Senate, Would know to mock Tiberius’ tyranny, Look upon Silius, and so learn to die.

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Mit seinen letzten Worten stößt er sich den Dolch in die Brust. Silius stirbt – Ben Jonson weicht hier signifikant von der antiken Überlieferung ab76 – den Freitod des Stoikers (vgl. bes. III,2,336), als Exemplum für die Nachwelt, als Hoffnung, dass die alte römische virtus wieder neu ihr Haupt erhebt. Seine großartige, illusionslose Sterberede, zu gleichen Teilen Apotheose des Freitods und Schmähung des Tyrannen Tiberius, vermittelt dies nachdrücklich. Zumindest von Arruntius wird Silius auch verstanden (III,1,340–343). Dennoch muss auch jener dem weiteren Treiben der Schergen Seians ohnmächtig zusehen, Cremutius Cordus wird angeklagt,77 Agrippina und ihre Söhne werden verhaftet und verbannt, Sabinus ergriffen, getötet und in den Tiber geworfen. Der Umschwung erfolgt schließlich nur, weil auch Seian in Tiberius seinen Meister findet. Tiberius, der den Ehrgeiz seines Günstlings schon früh durchschaut, verweigert Seian die Hand Livias (III,2,530–576) und lässt ihn – misstrauisch geworden – von Macro überwachen (III,2,647–713). Gleichzeitig jedoch benutzt Tiberius weiterhin Seian als willfährigen Handlanger seiner eigenen Interessen in Rom. Seian, der mehr denn je glaubt, Tiberius lenken zu können (III,2,586–622), wird so zur Schachfigur im Machtspiel des Tiberius. In scheinbar willkürlichen, nicht eindeutig deutbaren Zügen erhebt Tiberius den einen Freund Seians zum Konsul, den anderen enthebt er seines Amtes, lobt Seian in einem Brief, im nächsten schon erfolgt ein Tadel, bald spricht Tiberius von einer ernsten Krankheit, dann wiederum stellt er seine Rückkehr von Capri nach Rom in Aussicht (IV,4,410–445). Als Zeichen für den baldigen Untergang Seians wertet Lepidus diese so widersprüchlichen Aktionen des Tiberius; er bleibt jedoch allein mit dieser Deutung, Arruntius vor allem ist es, der Zweifel anmeldet (IV,4,473–477). Selbst er, der Tiberius meist durchschaute und in asides des Kaisers Rollenspiel entlarvte,78 verkennt die Maschen des von Tiberius nun in aller Vorsicht um Seian geknüpften Netzes. Umsicht und sorgfältige Planung sind denn auch von Nöten, zu mächtig ist Seian bereits geworden. Der gesamte Senat und vor allem die Prätorianer sind zu seinen diensteifrigen Werkzeugen entartet (IV,4,455–459). In der ersten Szene des fünften Aktes fühlt sich Seian denn auch fast am Ziel all seiner hochfliegenden Wünsche, er glaubt, er habe alle Gegner aus dem Weg geräumt (V,1,1–15). Unbeeindruckt und machttrunken verharrt Seian in stolzer Hybris; er ignoriert eine ganze Reihe düsterer Vorzeichen, während sich das 76 

Tacitus vermerkt nur lapidar, dass Silius der drohenden Verurteilung durch seinen Freitod zuvorkam (ann. IV,19,4). 77  Vgl. zum Prozess gegen Cremutius Cordus III,1,374–470. Vgl. bes. die nahezu wörtlich aus Tacitus, ann. IV,34,2–35,3 übersetzte Verteidigungsrede des Cordus (III,1,407–460), die wohl auch Ben Jonsons eigene Position wiedergeben dürfte (vgl. auch N. H. Platz: Ethik und Rhetorik, a. a.O. [Anm. 72]). 78  Vgl. neben des asides noch III,1,214; 348; 371–373; 376–377; 463; vgl. weiter – im vertrauten Gespräch mit Sabinus und Lepidus – III,1,471–474 und bes. 483–487: »Ay, noble Lepidus, / Augustus well foresaw, what we should suffer, / Under Tiberius, when he did pronounce / The Roman race most wretched, that should live / Between so slow jaws, and so long a-bruising«.

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Netz des Tiberius immer enger um ihn schlingt. Macro ist gegen Mitternacht – von Capri kommend – eingetroffen und hat im Auftrag des Kaisers den Senat im Tempel des Apollo für den frühen Morgen zusammengerufen (V,2,100–108). Klar und unmissverständlich sind seine Befehle, alle Eventualitäten hat Tiberius bedacht (V,2,152–160). Macro versichert sich des Konsuls Regulus und der städtischen Kohorten unter Lacos Führung (V,2,108–152), alles ist sorgfältig vorbereitet für die Sitzung des Senats und den entscheidenden Schlag gegen Seian. Einzig das mögliche Misstrauen Seians gilt es noch zu zerstreuen: Macro erscheint im Haus des Seian, packt ihn, wie von Tiberius klug vorausberechnet, bei seiner Eitelkeit und Machtgier: Er lügt ihm vor, Tiberius werde Seian in der Sitzung des Senats die tribunizische Gewalt verleihen (V,4,363–365). Damit hat Macro (und auch Tiberius) sein Spiel gewonnen. Nur allzu begierig auf diese neue Ehre, gleichbedeutend mit der förmlichen Anerkennung seiner Mitregentschaft, eilt Seian bar jeder Vorsicht und ohne Prätorianerschutz zur Sitzung des Senats (V,4,382–399; V,5,418–430). Dort, im Tempel des Apollo, lässt Macro einen Brief des Tiberius verlesen, der in seiner rhetorischen Dialektik geradezu meisterhaft die machiavellistische Doppelzüngigkeit des Kaisers akzentuiert und damit zugleich die Szene V,6 zum rhetorischen und politischen Glanzstück der Tragödie macht.79 Mit spitzer Feder entlarvt Jonson den widerwärtigen Opportunismus der Senatoren, zeigt sie, wie sie sich zu Beginn der Sitzung kriecherisch um Seian drängen, wie sie durch den Brief des Tiberius immer mehr verunsichert werden, bis sie schließlich weiter und immer weiter von ihm abrücken, von ihm, in dessen Glanz sie sich noch vor Minuten sonnen wollten.80 Unerbittlich schlägt Seians Schicksalsstunde. Mit jedem Satz des kaiserlichen Schreibens wird seine Position erschüttert, wird er seiner Macht beraubt, sitzt bald schon ganz alleine da. Fassungslos muss er den verlesenen Worten lauschen (V,6,643–647): »In the meantime, it shall not fit for us to importune so / judicious a Senate, who know how much they hurt the / innocent, that spare the guilty: and how grateful a / sacrifice, to the Gods, is the life of an ingrateful person«. Seian wird unter Bewachung gestellt und nach kurzem Aufbegehren (V,6,657– 705) in Ketten hinausgeführt. Sein Schicksal hat sich erfüllt, er, der noch vor Stunden mächtig wie ein Gott sich wähnte, wird vom Volk förmlich in Stücke gerissen. Man ist schnell versucht, diesen Sturz und Tod als gerechte Strafe für 79  Dies

wird offenkundig, berücksichtigt man, dass Ben Jonson für diese dramatisch ungeheuer lebendige Szene und den meisterlichen Brief des Tiberius nur auf die kargen Angaben des Cassius Dio (58,10,1–8) zurückgreifen konnte. Die überragenden dramatischen Qualitäten dieser Szene zeigte eine insgesamt bemerkenswerte moderne Inszenierung (von Gregory Doran) der Royal Shakespeare Company (Stratford, Swan Theatre, 2005) mit William Houston in der Titelrolle, die der Verf. im August 2005 zweimal sehen konnte. 80 Vgl. bes. den Kommentar des Arruntius (V,6,506–511): »Gods! how the sponges open, and take in! / And shut again! look, look! is not he blest / That gets a seat in eye-reach of him: more / That comes in ear, or tongue-reach: O, but most, / Can claw his subtle elbow, or with a buzz / Fly-blow his ears«.

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die verübten Schandtaten, als Sühne für seinen Frevel wider die Menschen und die Götter zu werten. Eine solche Deutung des Geschehens liefert denn auch, die Tragödie beschließend, Terentius (V,6,901–906): Let this example move th’insolent man, Not to grow proud, and careless of the gods: It is an odious wisdom, to blaspheme, Much more to slighten, or deny their powers. For, whom the morning saw so great, and high, Thus low, and little, ‘fore the even doth lie. Aber dies, der Sturz des übermächtigen Seian im Sinne der mittelalterlichen decasibus-Tragödie, worauf im Übrigen schon der Titel Sejanus His Fall deutlich verweist, ist nur eine Seite dieser hochpolitischen Tragödie. Geändert hat sich nämlich nichts durch diesen Tod. Macro tritt das Erbe Seians an und handelt genauso skrupellos wie jener.81 Den jugendlichen Sohn des Seian lässt er hinrichten und Seians kleine Tochter ebenfalls, die – da das Gesetz die Hinrichtung von Jungfrauen verbietet – zuvor noch die Schmach der Vergewaltigung erleiden muss (V,6,842–857). Und im Hintergrund lauert die Sphinx,82 lauert immer noch die schattenhafte, zwielichtige Gestalt des Tiberius, eines kaiserlichen Schauspielers, der sich als Schüler Machiavellis von keinem Günstling überspielen lässt. So ist Ben Jonsons Sejanus His Fall nicht nur die Tragödie des Aufstiegs und Falls eines skrupellosen, von Ehrgeiz zerfressenen Machtmenschen, sie ist gleichzeitig eine schonungslos offene Gesellschaftsanalyse, eine deprimierende, moralische Tragödie: Misstrauen, Hass, Kriecherei, Gewalt und Heuchelei regieren auch am Ende noch die Menschen.83 Ohnmächtig wie am Anfang muss auch die Chorgestalt Arruntius dies anerkennen (V,6,705–707): »Like, as both / Their bulks and souls were bound on Fortune’s wheel, / And must act only with her motion!«. Mehr noch, die desillusionierten asides und Kommentare des Arruntius, mit denen er das Treiben der Schergen Seians und das zynische, wenngleich brillante Rollenspiel des tyrannischen Kaisers entlarvt, werden selbst zu von Seian und von Tiberius bewusst eingesetzten Mitteln, den zutiefst verderbten, korrupten Staat am Leben zu erhalten (III,2,498–500): »His frank tongue / Being lent the reins, will take away all thought / Of malice, in your course against the rest«. Die illusionslose Repräsentation des politischen Lebens in Rom unter einem tyrannischen Herrscher Tiberius und seinen willfährigen Schergen gewinnt noch 81  Vgl.

III,2,714–749; IV,2,77–92; IV,4,514–522 und bes. die bewusste Prophezeiung des Arruntius V,6,753–756: »I prophesy, out of this Senate’s flattery, / That this new fellow, Macro, will become / A greater prodigy in Rome, than he / That now is fall’n«. 82 Vgl. die knappe, treffende Bemerkung des Arruntius (III,1,64–65): »By Jove, I am not Oedipus enough / To understand this Sphinx«. 83  Dies bezeugen die Botenberichte über die von der Bevölkerung verübten Gräueltaten an Seians Leichnam (V,6,756-835) nachdrücklich; vgl. dazu auch J. G. Sweeney: Sejanus, a. a.O. [Anm. 72].

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an Eindringlichkeit, wenn man berücksichtigt, dass selbst die Tugendhaften unbemerkt korrumpiert werden und der einzige wahrhaft tugendhafte, gute und potenziell vorbildliche Herrscher, Germanicus, in der Tragödie nur als Verstorbener, als off stage character, als βασιλεύς und Objekt der liebevoll panegyrischen Erinnerung erscheint (I,1,113–174).

C.  John Fletcher, The Tragedy of Valentinian (1614) Wie Ben Jonsons Tiberius und Philip Massingers Domitian ist John Fletchers Valentinian III in The Tragedy of Valentinian (1614)84 ein grausamer, lüsterner Tyrann, der allein der Befriedigung seiner niedrigen Gelüste und Instinkte lebt. Ohne dies hier detaillierter ausführen zu müssen, wird man zusammenfassen können, dass auch er – wie Tiberius in der anonymen Tragödie Claudius Tiberius Nero, Nero in der anonymen Tragödie Nero und Domitian in Philip Massingers The Roman Actor85 – mit dem Tod seine gerechte Strafe findet. Aber nicht die Rache des Maximus fällt schließlich den misstrauischen Kaiser, sondern die (aufgrund einer Intrige des Maximus von Valentinian) anbefohlene Ermordung des Aecius setzt eine weitere Rachehandlung in Gang. Phidias und Aretus, zwei treue Diener des Aecius, beschließen, den Tod ihres Herrn zu rächen (IV,4,275– 346). Zu Beginn des fünften Aktes siecht Valentinian bereits dahin; der von den Wachen hereingeschleppte Aretus, der das gleiche Gift wie der Kaiser getrunken hat, quält den sterbenden Valentinian, indem er ihm in leuchtenden Farben die Qualen ausmalt, die dem Kaiser noch bevorstehen (V,2,66–103). Das unerbittliche Feuer des Gifts verzehrt die Eingeweide wie ein Waldbrand, jubelt geradezu in einem höllischen Tanz (V,2,99–103); mit einer letzten, schrecklichen Drohung stirbt Aretus schließlich (V,2,109–110): »feare, feare thou Monster, / Feare the just gods, I have my peace«. Der Tyrann auf dem Kaiserthron jedoch muss weiter leiden, weiter den grimmen Schmerz erdulden. In einer letzten Ge84  Vgl.

Robert K. Turner: The Tragedy of Valentinian. In: The Dramatic Works in the Beaumont and Fletcher Canon. Bd. 4, ed. by Fredson Bowers (Cambridge/London/New York/Melbourne 1979) 261–414 (im Folgenden alle Zitate und Verweise nach dieser Edition im Text). Vgl. insgesamt auch – in Ergänzung der Details und der Literatur bei U. Baumann: Vorausdeutung und Tod, a. a.O. [Anm. 68] 391–400 – noch F. T. Bowers: Elizabethan Revenge Tragedy 1587-1642 (Princeton 1940/ND 1959) bes. 149–153; Sandra Clark: Sex and Tyranny Revisited. Waller’s The Maid’s Tragedy and Rochester’s Valentinian. In: Theatre and Culture in Early Modern England. 1650-1737. From Leviathan to Licensing Act, ed. by Catie Gill (Surrey 2010) 75–86; Marina Hila: ›Justice Shall Never Heare Ye, I Am Justice‹. Absolutist Rape and Cyclical History in John Fletcher’s The Tragedy of Valentinian. In: Neophilologus 91 (2007) 745–758; Nancy Cotton Pearse: John Fletcher’s Chastity Plays, Mirrors of Modesty (Lewisburg 1973) bes. 151–156; Jeremy W. Webster: Performing Libertinism in Charles II’s Court. Politics, Drama, Sexuality (New York 2005). 85  Vgl. dazu Details und weiterführende Literatur bei U. Baumann: Vorausdeutung und Tod, a. a.O. [Anm. 68] 225–253; 266–307; 342-362 und die systematische Auswertung der Todesdarstellungen: 480–533.

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ste des Trotzes hadert er mit den Göttern (V,2,127–137), dann stirbt er mit einem gequälten Aufschrei »I go, I goe, more aire, more aire; I am mortall« (V,2,140) schließlich auch; seine abscheulichen Untaten sind damit gesühnt. Die göttliche Gerechtigkeit fordert jedoch ebenfalls noch den Tod des Maximus, der – um seine Rache gegen den Kaiser ausführen zu können – den besten Freund (Aecius) mit einer heimtückischen Intrige wohlbedacht geopfert hatte. Nun, da Valentinian tot und Lucina, die geschändete Ehefrau des Maximus, damit gerächt ist, schickt auch Maximus sich an, der Gattin und dem Freund Aecius in den Tod zu folgen (V,3,17–23). Plötzlich jedoch, durch keinerlei Indiz vorbereitet, erfolgt der Umschwung (V,3,23–26): »stay, I am foolish, / somewhat too suddaine to mine own destruction, / This great end of my vengeance may grow greater: / Why may not I be Caesar, yet no dying«. Und Maximus nutzt die Gunst der Stunde, nutzt den Aufruhr der wegen des Todes ihres Heermeisters Aecius empörten Soldaten und lässt sich vom Heer zum Kaiser ausrufen (V,4,1–49). Die Gattin des Valentinian, Eudoxa, zwingt er – um seine Herrschaft abzusichern – zur Ehe; er hat gar die Stirn, Eudoxa vorzuheucheln, aus Liebe zu ihr habe er Lucina der Schande preisgegeben und den Freund Aecius geopfert, alles habe er getan, nur um sie, Eudoxa, zu erringen (V,6,138). In Eudoxa jedoch findet er seinen Meister, sie beherrscht die Kunst der Verstellung besser noch als er; in glänzendem Rollenspiel heuchelt sie ihm Liebe vor und plant doch bereits seinen Tod (V,6,38– 51). Dieser Tod als gerechte Strafe für seine Verbrechen ereilt Maximus bei der feierlichen Inthronisation; nach dem ersten Schluck, den er als Kaiser trinkt, sinkt er zu Boden. Stumm und zunächst von keinem der Umstehenden bemerkt, stirbt Maximus (V,8,53–58). Eudoxa hat ihn mit dem Lorbeerkranz vergiftet. Ihre Tat rechtfertigt sie mit einer flammenden Verteidigungsrede, in der sie die Verbrechen des Maximus dem gesamten Hofstaat eindringlich und jedermann überzeugend vor Augen führt (V,8,84–108). Der von allen Umstehenden implizit und explizit als gerecht empfundene Kaisermord, bei dem sogar der Himmel zustimmend zu lächeln scheint (V,8,109–121), beschließt die Tragödie. Der Tragödienschluss ist in seinen Details bemerkenswert. Zunächst einmal gilt es festzuhalten, dass die anwesenden Soldaten, sobald sie den Tod ihres neuen Kaisers realisieren, diesen sofort rächen wollen (V,8,64), Eudoxa jedoch ist geistesgegenwärtig genug, die Soldaten zu beruhigen und ihnen die Gründe für ihre Tat darzulegen; d. h. für sie – und sie hofft auch für die übrigen – ist der Mord an dem regierenden Herrscher nicht a priori ein Verbrechen (V,8,65–71): Wise men would know the reason first: to die, Is that I wish for Romans, and your swords, The readiest way of death: yet Souldiers grant me (That was your Empresse once, and honourd by ye) But so much time to tell ye why I killd him, And waigh my reasons well, if man be in you; Then if ye dare doe cruelly, condemne me.

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Eudoxa wendet das Argument sogar ins Gegenteil: Wenn die Soldaten ihre Mordmotive wohl bedächten und nachvollziehen könnten, würden sie sich als Menschen erweisen, ihre, Eudoxas, Tat zu verurteilen wäre dagegen grausam und – so möchte man den Gedanken konkretisieren – unmenschlich. Erst nach einigem Zögern und nachdem Eudoxa die Untaten des Maximus den übrigen offen dargelegt hat, sind diese von der Argumentation Eudoxas gewonnen, mehr noch, die Tragödie endet mit dem expliziten (und zugleich revolutionären) Bekenntnis des Affranius, dass nach göttlichem, natürlichem und menschlichem Recht dieser Tyrannenmord gerechtfertigt war (V,8,109–114): What lesse could nature doe, what lesse had we done, Had we knowne this before? Romans, she is righteous; And such a peece of justice, heaven must smile on: Bend all your swords on me, if this displease ye, For I must kneele, and on this vertuous hand Seale my new joy and thankes, ----- thou hast done truly. Für Sempronius wird Eudoxa aufgrund ihrer Tat geradezu zu einer Heiligen (V,8,115) und mit dem verständlichen Wunsch nach einem neuen Kaiser, der sich nicht als Tyrann erweisen möge (V,8,118–119: »then plant a Cesar / Above the reach of envie, blood, and murder«), tragen die Soldaten den Leichnam des Maximus hinaus. Die Bühnenfigur des verwerflichen, zynischen Tyrannen, die moralische Analyse der jeden einzelnen Bürger korrumpierenden Lasterhaftigkeit des kaiserlichen Hofes unter einem Tyrannen, wie auch der detailliert geschilderte und ethisch begründete Widerstand gegen die Gewaltherrschaft bis hin zum ausführlich begründeten und gerechtfertigten Tyrannenmord verleihen dieser Römertragödie, The Tragedy of Valentinian, wie auch schon Ben Jonsons Sejanus His Fall, ihre eminent politische Stoßkraft.86

V.  Fulke Greville, Treatise of Monarchy Fulke Greville, Lord Brooke (1554-1628), verfasste zwei Tyrannentragödien, Alaham und Mustapha,87 eine dritte Tragödie, Antony and Cleopatra vernichtete er selbst in einem Akt der Selbstzensur, weil er befürchtete, sie könnte – über 86  Vgl. insgesamt

U. Baumann: Tyrannen, Attentäter und Intrigen, a. a.O. [Anm. 2] bes. 436–

440. 87  Vgl.

hierzu Joel Davis: Multiple Arcadias and the Literary Quarrel between Fulke Greville and the Countess of Pembroke. In: Mary Sidney, Countess of Pembroke, ed. by Margaret Patterson Hannay (Surrey 2009) 285–314; Matthew C. Hansen: Gender, Power and Play. Fulke Greville’s Mustapha and Alaham. In: Sidney Journal 19 (2001) 125–141; Ernest P. Kuhl: Contemporary Politics in Elizabethan Drama. Fulke Greville. In: Philological Quarterly 7 (1928) 299–302; Aya Mimura: The Absent Reader. Tension in Fulke Greville’s Prose and Tragedy. In: Shakespeare Studies 30 (1992) 1–16; Ivor Morris: The Tragic Vision of Fulke Greville. In: Shake-

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das Prinzip der Korrespondenzbeziehungen – als verhüllter und selbstverständlich verbotener Kommentar zu hochaktuellen politischen Ereignissen, konkret zur intrikaten Beziehung zwischen dem Earl of Essex und Königin Elisabeth, gewertet werden.88 Eine ähnliche Vorsicht ließ er walten, indem er seine politische Dichtung, die sich mit den brisanten Fragen der politisch-theoretischen, verfassungsrechtlichen Diskurse der 1610er und 1620er Jahre auseinandersetzte, nicht veröffentlichte.89 Diese politische Dichtung, ergänzt um sein Life of Sir Philip Sidney und den Treatie of Human Education, gründet in Grevilles calvinistischen religiösen Überzeugungen, der Ethik der Stoa und den eigenen politischen Erfahrungen, primär in der Administration des Reiches. Diese politische Dichtung, neben einzelnen politischen Gedichten in der Sammlung Caelica, umfasst insbesondere: Treatise of Religion, Treatie of Warres und Treatise of Monarchy; Fulke Greville ist damit der erste englische Humanist, der Fragen der Politik, der Konzeptuaspeare Survey 14 (1961) 66–75; Ants Oras: Fulke Greville’s Mustapha and Robert Wilmot’s Tancred and Gismund. In: Notes and Queries 7 (1960) 24–25; Ronald A. Rebholz: The Life of Fulke Greville. First Lord Brooke (Oxford 1971) bes. 131 ff.; Joan Rees: Fulke Greville, Lord Brooke, 1554-1628. A Critical Biography (London 1971) bes. 139–181; Warner G. Rice: The Sources of Fulke Greville’s Alaham. In: Journal of English and Germanic Philology 30 (1931) 179–187; Brett Roscoe: On Reading Renaissance Closet Drama. A Reconsideration of the Chorus in Fulke Greville’s Alaham and Mustapha. In: Studies in Philology 110 (2013) 762–788; Mitsuo Shikoda: ›The Concept and Function of Time‹ in Mustapha. In: Essays and Studies in English Language and Literature 55 (1969) 37–62; P. Ure: Fulke Greville’s Dramatic Characters. In: Review of English Studies 1 (1950) 308–323; Gerald Alfred Wilkes: The Chorus Sacerdotum in Fulke Greville’s Mustapha. In: Review of English Studies 49 (1998) 326–328; G. A. Wilkes: Press Corrections in Fulke Greville’s Mustapha (1609). In: Review of English Studies 54 (2003) 473–478. 88  Vgl. John Gouws: The Prose Works of Fulke Greville, Lord Brooke (Oxford 1986) 93/1– 93/24: »Lastly, concerning the tragedies themselves, they were in their first creation three, whereof Antony and Cleopatra, according to their irregular passions in forsaking empire to follow sensuality, were sacrificed in the fire; the executioner, the author himself, not that he conceived it to be a contemptible younger brother to the rest, but lest, while he seemed to look over-much upward, he might stumble into the astronomer’s pit: many members in that creature (by the opinion of those few eyes which saw it) having some childish wantonness in them apt enough to be construed or strained to a personating of vices in the present governors and government. From which cautious prospect I, bringing into my mind the ancient poets’ metamorphosing man’s reasonable nature into the sensitive of beasts or vegetative of plants, and knowing these all, in their true moral, to be but images of the unequal balance between humours and times, nature and place; and again, in the practice of the world, seeing the like instance not poetically, but really, fashioned in the Earl of Essex then falling (and ever till then worthily beloved both of Queen and people) – this sudden descent of such a greatness, together with the quality of the actors in every scene, stirred up the author’s second thoughts to be careful, in his own case, of leaving fair weather behind him, […]«. Die Vernichtung der eigenen Tragödie Antony and Cleo­ patra durch Fulke Greville, als Akt der vorausschauenden Selbstzensur, ist einer der klarsten Belege für die allgemeine Bedeutsamkeit des Denkens in Korrespondenzen als zeitgenössische ›Interpretationsmethode‹ (vgl. dazu U. Baumann: Das Drama, a. a.O. [Anm. 2]). 89  Vgl. J. Rees: Fulke Greville, a. a.O. [Anm. 87] bes. 119 ff.; vgl. ebenfalls G. A. Wilkes: Fulke Greville, Lord Brooke. The Remains. Being Poems of Monarchy and Religion (Oxford 1965) bes. 1–19. (Im Folgenden alle Zitate und Verweise nach dieser Edition).

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lisierung von Herrschaft, des Auslotens der zentralen Konfliktzone Gottesgnadentum versus Gesetz explizit zum Gegenstand von Dichtung macht.90 Von besonderem Interesse in unserem Zusammenhang sind die ersten fünf Abschnitte im Treatise of Monarchy,91 deren Überschriften das argumentative Programm explizieren: (I.) Of the Beginning of Monarchy (1–45) (II.) Declination of Monarchy to Violence (46–79) (III.) Of weake Minded Tyrants (80–105) (IV.) Cautions Against these Weake Extremities (106–145) (V.) Stronge Tyrants (146–191) Die nächsten sechs Abschnitte (VI–XII) fokussieren Einzelphänomene, Kirche, Gesetze, Adel, Handel, Einnahmen der Krone, Frieden und Krieg, bevor dann in den Abschnitten XIII, XIV und XV im detaillierten Vergleich mit Aristokratie und Demokratie die konzeptuelle Vortrefflichkeit der Monarchie herausgestellt wird. Auf rein terminologischer Ebene ist zunächst festzuhalten, dass Greville das Lexem tyrant zumeist wertfrei und neutral benutzt, als Synonym zu king (König) und / oder prince (Fürst). Die rhetorisch immer wieder mit Exempeln aus klassisch-antiker Mythologie und Geschichte illustrierten Distinktionen erweisen die sogenannte Ancient Constitution als die beste Regierungsform; der »kingin-parliament« herrscht über England, nicht der König allein, und das Gesetz – so die juristischen und verfassungsrechtlichen Autoritäten – stehe über König und Parlament.92 Dass diese Konzeption den wiederholt formulierten »absolutistischen« Positionen des Königs flagrant widersprach, bedarf keines weiteren Kommentars, erklärt aber wohl, warum diese Dichtung zu Lebzeiten Grevilles unveröffentlicht blieb. 90  Vgl. insgesamt Peter C. Herman: ›Bastard Children of Tyranny‹. The Ancient Constitution and Fulke Greville’s A Dedication to Sir Philip Sidney. In: Renaissance Quarterly 55 (2002) 969–1004; Molly Elisabeth Kupfer: Fulke Greville’s ›Poems of Monarchy‹ als Spiegel seiner politischen Annsichten (Riga 1929); Fred J. Levy: Fulke Greville. The Courtier as Philosophic Poet. In: Modern Language Quarterly 33 (1972) 433–448; Hugh N. MacLean: Fulke Greville: Kingship and Sovereignty. In: Huntington Library Quarterly 16 (1953) 237–271; H. N. MacLean: Fulke Greville on War. In: Huntington Library Quarterly 21 (1958) 95–109; Jean-Christophe Mayer: ›Bothe Kinge, and People Seem’d Conjoyn’d in One‹. Fulke Greville and the Question of Political Power. In: Cahiers Elisabéthains 60 (2001) 43–52; R. A. Rebholz: The Life of Fulke Greville, a. a.O. [Anm. 87], passim; J. Rees: Fulke Greville, a. a.O. [Anm. 87], passim; Freya Sierhuis: The Idol of the Heart. Liberty, Tyranny, and Idolatry in the Work of Fulke Greville. In: Modern Language Review 106 (2011) 626 – 646; Victor Skretkowicz: Greville, Politics, and the Rhetorics of A Dedication to Sir Philip Sidney. In: Sidney Journal 19 (2001) 97–123. 91  Vgl. G. A. Wilkes: The Remains, a. a.O. [Anm. 89] 35–202. Der Einfachheit halber werden die einzelnen Gedichte jeweils nur mit ihrer Nummerierung zitiert. 92  Vgl. mit den Details und weiteren Quellen die grundlegenden und ausgewogenen Analysen von P. C. Herman: Bastard Children of Tyranny, a. a.O. [Anm. 90]; H. N. MacLean: Kingship and Sovereignty, a. a.O. [Anm. 90]; F. Sierhuis: The Idol, a. a.O. [Anm. 90].

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Wichtiger in unserem Zusammenhang ist, wie Greville die Entstehung der Gesetze konzeptualisiert: als aufgrund der prinzipiellen Schwächen der menschlichen Natur notwendig, um ein geregeltes staatliches Zusammenleben zu ermöglichen. Er unterscheidet zwischen Gesetzen, die von Tyrannen (in diesem Falle als egoistischer Gewaltherrscher zu verstehen) und wahren Königen gemacht werden (Monarchy, 320): This, to good uses for the publick cause, That, all mens freedoms under Will to bring, One Spider-like, the other like the Bee, Drawing to help or hurt humanity. Da weder Naturrecht noch die göttlichen Gesetze die Gesinnung und das Handeln des Menschen wirkungsvoll kontrollieren können, wird das positive oder human law zum zentralen Instrument, staatliche Stabilität und Ordnung zu garantieren (Monarchy, 246): […] in Mans darkness since Church rites alone Cannot guard all the parts of Government, Lest by disorder, States be overthrown, Pow’r must use Laws as her best instrument; Laws being Maps, and Councellours that do Shew forth diseases, and redress them too. Quelle dieser Macht, oder der Souveränität, ist das Volk, das dem Herrscher die Macht übertragen hat, die Einhaltung dieses human law zu überwachen und seine Prinzipien sicherzustellen, die königliche Macht selbst wiederum ist höheren Standards unterworfen. Ungeachtet etlicher Strophen und einzelner Verse, die eindringlich davor warnen, dass das Volk früher oder später gegen tyrannische Herrscher, die gegen Willen und Wohl des Volkes regieren, rebellieren wird, bekennt sich Fulke Greville unmissverständlich zur mittelalterlichen und von den meisten Theoretikern der Tudorzeit wiederholten Doktrin, dass nur Gott allein berechtigt sei, einen König oder Tyrannen abzusetzen (Monarchy, 191): […] if Pow’r will exceed, then let Mankind Receive oppression, as fruits of their error, Let them, again, live in their duties shrin’d, As their safe Haven from the winds of terror, Till he that rais’d Pow’r to mow mens sins down, Please for Pow’rs own sins, to pluck off her Crown. Ungerechte, tyrannische Herrschaft muss der Mensch aufgrund seiner eigenen schwachen, korrupten Natur ertragen. So nah diese Positionierung der von James I wiederholt akzentuierten Stuart-Konzeption des divine right of kings auch kommen mag, zumindest in einem, zentralen Punkt, einem der argumenta-

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tiven Grundpfeiler des »Stuart-Absolutismus« bleibt der Widerspruch bestehen: der Herrscher steht – wie von der Ancient Constitution formuliert – unter Gott und dem Gesetz.93

VI. Epilog Ich komme zum Schluss und fasse selbstverständlich nichts mehr zusammen. Die klassisch-antiken Herrschaftskonzepte von Basileia und Tyrannis stehen konzeptuell hinter den notwendigerweise groben, holzschnittartigen Präsentationen von Herrschaft und Herrschaftskonzepten des englischen Renaissancedramas. Insbesondere die klassische Tyrannentopik liefert einprägsame, eindringliche Schlagworte für die publikumswirksame Inszenierung ungerechter, willkürlicher Herrschaft und entfaltete mit diesen rhetorisch geschickt funktionalisierten Topoi ein von der Zensur kaum wirkungsvoll kontrollierbares subversives politisches Potenzial.94 Vergleichbar, jedoch signifikant detaillierter und – von der Gattung Poetry ermöglicht – diskursiver, expliziert die politische Dichtung Fulke Grevilles die politischen Grundpositionen eines universell gebildeten und loyalen Humanisten und politischen Praktikers, der wohl im Wissen um die politische Brisanz seiner im Detail subversiven Positionen seinen Treatise of Mo­ narchy nicht veröffentlichte. Für die politische Dichtung Fulke Grevilles wie für die englische Renaissancedramatik insgesamt gilt, dass sie durchgängig die klassisch-antike Tyrannentopik und die Differenzierungen von τύραννος und βασιλεύς nutzten, dass der Rezeptionsweg jedoch, den die klassische Tradition und ihre Distinktionen 93  Vgl.

H. N. MacLean: Kingship and Sovereignty, a. a.O. [Anm. 90] bes. 262–264: »Greville finds the source of sovereignty in the people at large, and though this group ›gave‹ power into the hands of a monarch, not all sovereignty was so transmitted, since a part was retained. The sovereignty wielded by a prince is subject to another and higher standard, and failure to recognize this is likely to mean that the monarch loses his sovereignty altogether. […] Conduct by a prince counter to ›the Peoples standard‹ will mean loss of sovereignty, and, far more important, loss of order in the State. Such conduct usually takes the form of arbitrary rule, imposed by a monarch to whom sovereignty is literally perpetual and absolute. […] Greville by no means subscribes to all the tenets of ›divine right‹; as usual, he accepts some and rejects others. Figgis [N. Figgis: Studies of Political Thought from Gerson to Grotius, 1414-1625 (Cambridge 1916)] advances four propositions as characteristic of the theory of divine right: (1) that monarchy is a divinely ordained institution; (2) that the king possesses indefeasible hereditary right; (3) that sovereignty is invested entirely in the king, who is incapable of legal limitation; (4) that monarchy, true or tyrannical, must not be resisted by the subject. With the last of these points, Greville is evidently in agreement. With the third he certainly does not agree. That monarchy is a divinely ordained institution Greville appears to believe. […] Indefeasible hereditary right, however, is a matter of some doubt for Greville. With English kings not only claiming the throne by heredity but proposing as a matter of course to continue that arrangement indefinitely, the discreet statesman could hardly express an opposite opinion, nor was Greville the man to ignore such considerations«. 94 Vgl. nochmals R. W. Bushnell: Tragedies of Tyrants, a. a.O. [Anm. 1] und U. Baumann: Tyrannen, Attentäter und Intrigen, a. a.O. [Anm. 2].

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genommen haben, nur in den seltensten Fällen präzise (re-)konstruiert werden kann: Die klassisch-antike Tyrannentopik war auch in der englischen Renaissance längst zum humanistischen Gemeingut geworden.

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Ethics, Politics and History in Bernardo Segni (1504–1558) Machiavellianism and Anti-Medicean Sentiment1 In 1549 the ducal printer in Florence, Lorenzo Torrentino, saw through to press a translation of and commentary on Aristotle’s Politics by Bernardo Segni, one of the most active cultural figures in Florence in the 1540s and a member (as the frontispiece proudly reminds the reader) of the Florentine Academy.2 The work was notable, not so much for being on the Politics, as for being in Italian – or better, as Segni specified, »in lingua vulgare fiorentina« – and for being a part of Segni’s programme to interpret in the vernacular a whole raft of Aristotelian works, namely the Rhetoric (written 1545–1546), Nicomachean Ethics (1547), Politics (1548) and Poetics (1548–1549), followed by a paraphrase of the De anima.3 Segni’s enterprise must be seen within the context of a new and extremely competitive drive throughout Italy which, starting in the 1540s, wished to present Aristotle’s works in the vernacular, as a complement to (and, on occasion, a replacement of) the Latin interpretations of universities and schools of religious orders.4 Despite the proliferation of paraphrases, dialogues and transla1 

The research leading to these results was funded by the European Research Council under the European Union’s Seventh Framework Programme (FP/2007–2013) / ERC Starting Grant 2013 – 335949 Aristotle in the Italian Vernacular: Rethinking Renaissance and Early-Modern Intellectual History (c. 1400–c. 1650)«. For their precious comments and suggestions, I wish to thank Simone Bionda, Simon Gilson and Sara Miglietti. 2  The frontispiece reads: »Trattato dei governi di Aristotile tradotto di greco in lingua vulgare fiorentina da Bernardo Segni, gentilhuomo e Accademico Fiorentino«. I use the Florence 1549 edition printed by Torrentino. Translations of Segni’s writings are my own. Those of Machiavelli’s Il principe are taken from Niccolò Machiavelli: The Prince, transl. by George Bull (London 1961) (henceforth: Bull). 3  The order of printing does not always correspond to that of composition given above. Thus 1549 saw the appearance of Segni’s Rettorica e Poetica as well as his Trattato dei governi; the Ethica was first printed in 1550, and the De anima posthumously in 1583. See Simone Bionda: Aristotele in Accademia. Bernardo Segni e il volgarizzamento della »Retorica«. In: Medioevo e Rinascimento 16, n.s. 13 (2002) 241–265 (here, 242, n. 2); ders.: La »Poetica« di Aristotele volgarizzata. Bernardo Segni e le sue fonti. In: Aevum 75.3 (2001) 679–694 (here, 687); and, for the relationship of the commentaries on the Ethics and Politics, ders.: La copia di tipografia del »Trattato dei governi« di Bernardo Segni. Breve incursione nel laboratorio del volgarizzatore di Aristotele. In: Rinascimento, 2a serie, 42 (2002) 409–442 (esp. 413–416). For descriptions of the editions and reprints of Segni’s interpretations, see Eugenio Refini with the collaboration of David A. Lines, Simon A. Gilson and Jill Kraye: Vernacular Aristotelianism in Renaissance Italy, c. 1400–c. 1650. A Database of Works (http://warwick.ac.uk/vernaculararistotelianismdatabase). 4  Among the pioneers in this field, one must recall, in addition to Bernardo Segni, at least Alessandro Piccolomini (1508–1579), Antonio Brucioli (1498?–1566), Benedetto Varchi (1503– 1565), and the theoretical underpinnings provided by Sperone Speroni (1500­–1588). For a list of their Aristotelian writings and an overview of the critical literature, see the web pages of Archiv für Begriffsgeschichte · Sonderheft 12 · © Felix Meiner Verlag 2016 · ISBN 978-3-7873-2525-2

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tions meant to reach a broader public than the Latinate one, this was not necessarily an exercise in producing an »Aristotle lite« version for the masses.5 Segni in particular showed in his interpretation of the Ethics how deeply familiar he was with the Latin tradition of translating and commenting on Aristotle’s works and how interested he was in presenting sophisticated philosophical points to a lay audience.6 The reader who first encounters Segni’s Trattato dei governi, then, may be disappointed to discover that it deals only rarely and tangentially with philosophical issues, and that its exposition is often disconcertingly brief. This essay will illustrate and try to explain some of these features, while also arguing that in this work Segni is responding to more contemporary concerns and debates relating to Florence’s political situation. In particular, I will show that Segni was strongly aware of and exploited Niccolò Machiavelli’s doctrines, both in his interpretation of Aristotle and even more strongly in his work of political history, the Istorie fiorentine, even though he disagreed with some of Machiavelli’s premises. I will also consider in what ways Segni expressed his discontent with the Medici regime, even while he managed to praise and defend Duke Cosimo. I wish to start, however, by considering Segni’s understanding of the relationship between ethics and politics, since this has implications for how he approaches the Politics.

I.  Ethics and Politics in Segni Medieval and Renaissance commentators belonged to two different schools of thought concerning the relationship between ethics and politics. The first and better-known one, represented by the interpretations of Eustratius of Nicaea and Thomas Aquinas, maintained that ethics, oeconomics and politics (in parallel with the Aristotelian works in which those branches of moral philosophy are contained) are like concentric circles, the smallest of which regards the virtue of the individual, whereas the others progressively concern the virtue and happiness of broader segments of society (the family and political community respectively). In this conception, politics is superior to ethics inasmuch as it considers the good of the greater number of people. Thus the tripartite division of moral

the research project E. Refini: Vernacular Aristotelianism, a. a.O. [Anm. 3]. See also the helpful references and analyses in: Il volgare come lingua di cultura dal Trecento al Cinquecento. Atti del Convegno internazionale, Mantova, 18–20 ottobre 2001, a cura di Arturo Calzona, Fran­ cesco Paolo Fiore, Alberto Tenenti e Cesare Vasoli (Firenze 2003). 5  On the problems of identifying the works’ audience see Luca Bianchi: Volgarizzare Aristotele. Per chi? In: Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie 59.2 (2012) 480–495. 6  See D. A. Lines: Rethinking Renaissance Aristotelianism. Bernardo Segni’s Ethica, the Florentine Academy, and the Vernacular in Sixteenth-Century Italy. In: Renaissance Quarterly 66.3 (Fall 2013) 824–865.

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philosophy refers to branches of increasing importance.7 A rival view, held by Albertus Magnus, John Buridan and other interpreters, instead saw ethics as laying the theoretical foundation for moral philosophy.8 Although moral philosophy is again seen as tripartite, there is a sense in which there are really two main divisions: ethics provides the principles of moral philosophy, which are then applied by oeconomics and politics. Ethics is therefore not subordinated to politics, but vice versa, for it considers not the happiness of the individual, but of man in general.9 For Segni, ethics is not confined to the realm of action, but also extends to that of contemplation (which in his view is the superior of the two). He therefore holds, in the Trattato dei governi, that the end of moral philosophy (what he calls civil facultà) is ethics, and in a flat contradiction of the opinions of St Thomas views ethics as the architectonic discipline within its sphere.10 This exaltation of  7  See, among others, Jill Kraye: Moral Philosophy. In: The Cambridge History of Renaissance Philosophy, ed. by Charles B. Schmitt, Quentin Skinner and Eckhard Kessler; assoc. ed. Jill Kraye (Cambridge 1988) 303–386 (esp. 303­–306); Matteo Rolandi: »Facultas civilis«. Etica e politica nel commento di Bernardo Segni all’Etica Nicomachea. In: Rivista di filosofia neoscolastica 88.3 (1986) 553–594 (esp. 566–569).  8  See Albert’s distinction between »ethica docens« and »ethica utens«, outlined in Jörn Müller: Natürliche Moral und philosophische Ethik bei Albertus Magnus (Münster 2001) 256­ –307. Also see D. A. Lines: Sources and Authorities for Moral Philosophy in the Italian Renaissance. Thomas Aquinas and Jean Buridan on Aristotle’s »Ethics«. In: Moral Philosophy on the Threshold of Modernity, ed. by Jill Kraye and Risto Saarinen (Dordrecht 2005) 7–29 (esp. 11–14); ders.: Aristotle’s »Ethics« in the Italian Renaissance (ca. 1300–1650). The Universities and the Problem of Moral Education (Leiden 2002) 125–127.  9 Alternative views to these two were presented by Antonio Bernardi Mirandolano and Francesco Piccolomini. The former, in his Lectiones in primum librum Ethicorum Aristotelis (Vatican, BAV, Urb. lat. 1414, ff. 93v–94r), argued that the Ethics teaches the whole of civil philosophy, whereas the Politics is only added to correct man’s sinfulness. The latter tried to navigate between other positions; see D. A. Lines: Aristotle’s »Ethics« in the Italian Renaissance, a. a.O. [Anm. 8] 269–271. 10  B. Segni: Trattato dei governi, a. a.O. [Anm. 2] I.1, 14: »Havendo il sommo Filosofo nel libro dell’Ethica dataci la dottrina che può far l’huomo felice, et mostratone dove consista essa felicità humana, et mediante che cosa ella si possa acquistare, in questo secondo trattato morale si seguita di dar la dottrina da far felice et beata la città intera, la qual cosa parendo che sia più degna che non è a far un solo huomo, sì come egli dice anchora nel III capitolo del primo libro dell’Ethica, farà forse parer ragionevole, che questo trattato della Politica sia più nobile di quello dell’Ethica, et che egli sia il fine inteso della civil facultà. Della qual materia per haver io trattato nel commento dell’Ethica nel primo libro, dove è a proposito di farsi questo discorso, mi vo io a tal determinatione rimettendo. […] Bastici, che l’ethica è il fine della civil facultà, e che la politica et l’ethica sotto un medesimo genere vanno comprese et da una medesima disciplina son considerate. Et che primieramente è considerata l’ethica come Architettonica et guida di tutte le morali discipline, et dalla quale et la politica, o se alcuna altra se ne ritrova, pigli i suoi documenti« (»The supreme Philosopher taught us, in the book of the Ethics, how man can become happy and showed us in what human happiness consists and how it may be acquired. Here, in this second moral treatise, he continues by teaching how to make the entire city happy. As he states in the Ethics, Book I, chapter 3, it may seem that it is more worthy to do this [for a city] than for a single individual; it may therefore appear reasonable that this treatise on politics is more noble than that on ethics, and that it is the end to which civil philosophy tends. Since I have

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ethics is repeated in the Proem to his commentary on the Ethics11 and is important for understanding Segni’s treatment of the Politics, for there the Florentine academician explicitly rejects the possibility of interpreting the text philosophically or scientifically, for instance by reconstructing Aristotle’s syllogisms.12 Segni’s theoretical approach is not, however, new, as claimed by Rolandi:13 rather, he is making a hidden appeal to the alternative tradition, referred to above, of Albert and Buridan. Let us now consider more closely how different the Ethica and the Trattato dei governi are in practice. First of all, the two works have obvious presentational similarities. Printed by Lorenzo Torrentino, they contain the text of Aristotle’s works in a new translation prepared by Segni, largely on the basis of previous Latin ones (that of Johannes Argyropoulos for the Ethica, that of Leonardo Bruni for the Trattato),14 even though the frontispieces of Segni’s interpretations usually advertise that they are based on the Greek original. Both are introduced discussed these matters in the first book of my commentary on the Ethics, I refer back to what I argued there. […] Here, it is enough to say that ethics is the end of civil philosophy, and that politics and ethics belong to the same genus and fall under the same discipline. And that, within the context of the moral disciplines, ethics holds the chief place as the architectonic discipline that guides all others; from it politics or any other [moral discipline] gathers its teachings«). Cf. the comments in M. Rolandi: »Facultas civilis«, a. a.O. [Anm. 7] 569–572; the issue is correctly assessed in Marco Toste: Evolution within Tradition. The Vernacular Works on Aristotle’s Politics in Sixteenth-Century Italy. In: Thinking Politics in the Vernacular from the Middle Ages to the Renaissance, ed. by Gianluca Briguglia and Thomas Ricklin (Fribourg 2011) 192–193. On the other hand, the statement that »we find hardly anything original in either [Segni’s] commentary on the Politics or his commentaries on other Aristotelian works« (ebd. 192) needs to be nuanced depending on the particular work under consideration; one should also be cautious about using »originality« as a measuring stick (see this essay’s conclusion). 11  B. Segni: L’Ethica d’Aristotile tradotta in lingua vulgare fiorentina et comentata per Bernardo Segni (Venice 1551), Proem, ff. 6v–7r; see D. A. Lines: Rethinking Renaissance Aristotelianism, a. a.O. [Anm. 6] 839. 12  B. Segni: Trattato dei governi, a. a.O. [Anm. 2] I.1, 14: »Et entrando brevemente a dichiarare questo capitolo proposto, dico innanzi, che il modo che io terrò nella dichiaratione di questo testo sarà fatto brevemente, col lasciare ire il più che si può la via scientifica, che s’usa ordinariamente dagli espositori d’Aristotile per la cagione che, stimandomi tali scritti dovere esser letti più da huomini che non sieno introdotti in Filosofia, che dagli altri, mi sono ingegnato però di non oscurar loro l’intelletto con le sottigliezze et col ridurre nel Silogismo le propositioni« (»In preparation for explaining the chapter before us, I say first of all that my method of commenting this work will be to do so briefly, leaving aside as much as possible the scientific approach usually employed by Aristotle’s expositors. I do this because I expect that these writings will be read more by laymen in philosophy than by others; I have therefore made a particular effort not to hide their meaning through subtleties or by a reduction of its propositions to syllogisms«). Segni’s avoidance of syllogisms may be a conscious allusion to a similar declaration by Jacques Lefèvre d’Étaples in his introduction to his commentary on the Nicomachean Ethics; see Eugene F. Rice, Jr.: The Prefatory Epistles of Jacques Lefèvre d’Étaples and Related Texts, hg. von dems. (New York/London 1972) 42. On other presences of Lefèvre in Segni’s Trattato see M. Toste: Evolution within Tradition, a. a.O. [Anm. 10] 194. 13  See especially M. Rolandi: »Facultas civilis«, a. a.O. [Anm. 7] 573 and 575. 14  The choice of Bruni’s translation of the Politics was likely due to the lack of one by Argyropoulos on the same work.

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by a dedicatory letter to Cosimo I, duke of Florence. There are very few explicit references to textual and philological problems, although Segni is aware of these and mainly deals with them silently through his translation.15 Segni’s commentary follows each chapter of text and elucidates various historical, literary or philosophical references present in the Ethics and the Politics. Both works are written for an audience that is fairly unfamiliar with complex philosophical discussions. Both works include interesting tables, which neatly outline Aristotle’s arguments more effectively than a convoluted discussion could. Even more striking than the similarities between the two works, however, are their differences. Segni’s Ethica, for instance, is a work that he takes great pains to make attractive to his readers in many different ways. Although he does not (he says) believe that stylistic elegance is necessary when exploring a philosophical work, he does connect Aristotle’s statements with Dante’s poetry, which is quoted on numerous occasions. Segni also refers to contemporary historical events, particularly as they relate to Italy and Tuscany. He provides an elaborate accessus ad auctorem at the start of his commentary. In terms of philosophical content, Segni’s Ethica positively embraces the technique of presenting clearly Aristotle’s syllogisms.16 The work also has a strong religious flavour, as it implicitly responds to declarations from the Protestant camp about the slavery of the will.17 These elements are almost entirely absent in Segni’s work on the Politics. There he refers to Dante only once.18 Only extremely rarely does he make any religious allusions.19 Only in one instance does he attempt to defend Aristotle from holding wrong opinions, for instance on the eternity of the world and the 15  Two explicit instances are in Ethics, Book V (D. A. Lines: Rethinking Renaissance Aristotelianism, a. a.O. [Anm. 6] 842–847) and Politics, Book I (S. Bionda: La copia di tipografia, a. a.O. [Anm. 3] 423–428). Also see B. Segni: Trattato dei governi, a. a.O. [Anm. 2] I.1, 14–15: »Anchora nella traduttione di questa opera, perché ne’ testi in molti luoghi sono degli errori manifesti, però mi scuso con i lettori se non si sarà sodisfatto loro interamente. Certo è, che io mi sono ingegnato con quei migliori aiuti che io ho saputo o potuto trovare, di renderlo più aperto et più vero che e’ mi sia stato possibile, senza haver notato altrimenti o le diversità di chi ha tradotto, o le diversità che io ho trovate ne’ testi; non havendo per fine di mostrare simil diligenza; et bastimi, che quegli che intenderanno la lingua greca da per loro lo potran conoscere« (»As to the translation of this work, I apologize to the readers if, due to manifest errors in many places of the text, they will not be fully satisfied. I can assure them that I have made every effort, through the best aids that I have been aware of and able to find, to make it as clear and faithful as possible. I have not tried to indicate disagreements between translators or textual variants, since showing that kind of diligence was not the goal of the present enterprise. It will be enough if those who know Greek will be able on their own to appreciate my choices«). 16  D. A. Lines: Rethinking Renaissance Aristotelianism, a. a.O. [Anm. 6] 833. 17  Ebd. 830–832, 849–851. 18  Simon A. Gilson: »Aristotele fatto volgare« and Dante as »Peripatetico« in SixteenthCentury Dante Commentary. In: L’Alighieri: Rassegna dantesca 39 N.S. (gennaio-giugno 2012) 31–63 (here, 36). 19  See his brief comments on the histories of Herodotus (VII.10, p. 363) and the impossibility of going back 17,000 years. On other occasions he does, however, lambast the power and abuses of the religiosi. See, for instance, B. Segni: Trattato dei governi, a. a.O. [Anm. 2] II.9, 108.

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mortality of the soul.20 As mentioned, he explicitly rejects the technique of providing syllogisms. References to poetry and history (whether ancient or modern) are extremely rare.21 The introduction to the work covers only a small range of the standard accessus ad auctorem elements. Indeed, at times one wonders how hard Segni was trying. In comparison with the Ethics, most interpretations of chapters seem short in the extreme, and the printer’s copy of the manuscript22 shows Segni engaged in a significant effort to bulk up the commentary portion (not always with particularly relevant materials) just before going to press. At times Segni’s comments are so short as to be almost risible. At the end of Book V, for instance, where Aristotle offers a quite complex discussion of Plato’s notions of numerology in relationship to politics, Segni seems unembarrassed to declare that he does not understand these mathematical matters very well and will therefore not deal with the chapter in question.23 Other passages are covered in an almost perfunctory way, even though they are not particularly complex. A further strong difference is that of Segni’s attitude toward his sources: in the Ethica, he names the commentators whom he has found most helpful quite openly and also clearly uses Donato Acciaiuoli as a model. Indeed, in many ways the Ethica is a specular treatment of Acciaiuoli’s commentary on the same work, accompanied by Argyropoulos’ translation and Acciaiuoli’s prefatory material. 24 The most obvious link between Segni’s Trattato and Acciaiuoli’s commentary on the Politics25 is that both interpreters depend on Bruni’s translation, make strong use of Thomas Aquinas’s commentary,26 and share a conventional view about the ties between ethics and politics. But there the similarities seem to end. Not only is Segni’s Politica much less philosophically and even textually engaged than Acciaiuoli’s conterpart, but Segni is also clearly using this occasion to support positions favourable to his dedicatee the duke of Florence, oftentimes in clear contrast to the opinions held by Aristotle on the best forms of government. An 20 

Ebd. II.6 (end) and II.7. II.7, 103 does contain some references to contemporary Italian attitudes toward women though. 22  This is Archivio di Stato di Firenze (ASF), ms. Cerchi 838; on the work, see S. Bionda: La copia di tipografia, a. a.O. [Anm. 3]. 23  B. Segni: Trattato dei governi, a. a.O. [Anm. 2] V.12, 304: »Della qual materia dirò io niente per non l’intendere, et per riputarla difficile più che utile; lascierò a un altro la gloria d’haverla intesa« (»I won’t say anything about this matter because I don’t understand it, and think it is hard rather than useful. Someone else can have the glory of having understood it«). 24  The point is discussed at length in D. A. Lines: Rethinking Renaissance Aristotelianism, a. a.O. [Anm. 6]. 25  See Donato Acciaiuoli: In Aristotelis libros octo Politicorum commentarii (Venice 1566). I will refer to this edition; Segni, of course, may have used either the Venice 1504 edition or one of the Florentine manuscripts listed in C. H. Lohr: Latin Aristotle Commentaries, I. 1 Medieval Authors A–L (Firenze 2013) 109. 26  It would be more accurate to say that the work is a combined effort by Thomas (up to Book III, lectio 6) and Peter of Auvergne. For the strong presence of this medieval work in Segni’s Trattato, see M. Toste: Evolution within Tradition, a. a.O. [Anm. 10] 193–194. 21  Ebd.

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exploration of some of these instances will also point toward an interesting and unexpected undercurrent that forms part of Segni’s commentary. A first place to start, however, is Segni’s understanding of how personal virtue relates to public office. Segni makes several important points about the interconnections between personal moral virtue and the operations of politics. These are particularly concentrated in discussions of Books IV and VII. In the first case, when commenting on chapter 12 and its endorsement of the mixed constitution, Segni says: »Mostra il Filosofo in questo capitolo la Republica ottima mista, et non l’ottima assoluta, esser quella che è più commune e più capace a molti popoli, et non quella che è immaginata et che ha bisogno di cose infinite et quasi impossibili, dicendo questo contra Platone. Dipoi mostra, che l’ottima vita della città è la mediocre a similitudine dell’huom solo, nel quale la vita mediocre è quella che lo fa felice, e quello che farà la città beata sicome egli ha detto nell’Ethica. Ma perché la vita della città è il governo, però il governo, conchiude il Filosofo, che sarà composto di cittadini mediocri, sarà l’ottimo.«27 As it happens, this particular passage is one of the few that do find a counterpart in Acciaiuoli’s commentary.28 Both Acciaiuoli and Segni (following the commentary of Thomas Aquinas)29 stress that a particular constitution will only be as good as the proportion of its virtuous citizens. In other words, both the governed and those who govern must be focused on exercising moral virtue. This is one strong reason why Segni seems to have little regard for any of the popular constitutions. The problem, as Segni sees it, is that not many people possess and exercise moral virtue. As a consequence, a popular constitution would not have the kind of strong moral foundations that are necessary for stability and survival. Furthermore, both aristocracies and popular constitutions have other goals (wealth and liberty, respectively), whereas the best constitution really needs to have as its goal virtue, at the very least on the part of those who rule. Those in such a position must therefore needs be few indeed.30 For Segni, this is a strong argument in favour of the rule by one man (although he also seems to concede that a restricted aristocracy might be possible).31 This man will not, of course, have an ordinary kind of virtue, but a heroic one, which 27 

B. Segni: Trattato dei governi, a. a.O. [Anm. 2] IV.12, 220 (»In this chapter the Philosopher shows that for many peoples the most common and appropriate constitution is the best mixed form of government (rather than the best in an absolute sense); contradicting Plato, he says that it is not an imagined constitution, in need of infinite and almost impossible things. He then shows that the best kind of life in the city is that grounded in mediocritas; just as that is the kind of life that makes an individual happy, so it will lead to civic beatitude, as he says in the Ethics. But since the life of a city is its government, for this reason the Philosopher concludes that the best government will be that made up of citizens who reflect mediocritas«). 28  See D. Acciaiuoli: In Aristotelis libros octo Politicorum, a. a.O. [Anm. 25] ff. 142v–143r, with its exploration of mediocritas. 29 See Thomas de Aquino: Commentaria super libros Politicorum Aristotelis cum textu (Venice 1500), esp. f. 69r-v. 30  B. Segni: Trattato dei governi, a. a.O.[Anm. 2] IV.2, 189. 31  Segni makes little reference throughout to the Republic of Venice, but does very occa-

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will give him preeminence over others.32 Because Segni holds the contemplative life in higher esteem than the active one, however, he ties himself in knots trying to explain that such a special status does not mean that the ruler of a city will have more dignity and nobility than the »libero huomo«, i.e., the one who enjoys a contemplative life, free from the cares of worldly affairs.33

II.  Princes, Tyrants and the Medici In contrast with this rather bold statement, on several occasions Segni tries to ingratiate himself with Cosimo by defending the legitimacy of his one-person rule. At the same time, he seems particularly anxious to stress that one needs to distinguish between the rule of the benign monarch or prince and, instead, that of a tyrant. This point is given particular attention in Book V, chapter 11. Segni observes that the reign of a (legitimate) ruler consists in absolute power over good and virtuous men for the common good; he adds that this power is spontaneously yielded by the subjects to someone who seems to be above them because of his heroic virtue. From this premise Segni deduces its contrary – i.e., that a tyranny will again consist in absolute power over good men, but this time for one’s own advantage rather than the common good. He also specifies that this power is not presented to someone particularly virtuous, but is instead seized by an especially malicious individual. On this basis, Segni concludes that some of the constitutional arrangements discussed by Aristotle (e. g., the princes of Asia) were not actually tyrannies, since the rulers in question exercised their power over subjects who were ruled willingly.34 Nonetheless, Segni also addresses at greater sionally mention it incidentally; see, for instance, ebd. III.10, 167 and M. Toste: Evolution within Tradition, a. a.O. [Anm. 10] 195, n. 18. 32  See e. g., B. Segni: Trattato dei governi [Anm. 1] IV.2, 190. 33  Ebd. VII.3, 343–44: »[…] significa che l’huom libero e sciolto dalle cure civili è in più desiderabil grado di vita che non è l’huomo che comanda signorilmente, cioè che non è chi è sopra gli altri, che li fien’ per servi e non per simili. Et questo detto conferma il Filosofo, ma e’ non conferma già, che ogni imperio sia d’una sorte medesima, come molti si stimavano. Né conseguita però dal detto, che se il libero huomo è più degno che non è l’huomo che comanda signorilmente, che l’huomo che comanda civilmente sia più nobile dello speculativo et dell’huomo libero. Ché ciò farebbe contro l’intento del Filosofo […]« (»[…] this means that the man who is free and unencumbered by civil cares is in a more desirable state of life than the man who rules as tyrant, or in other words than someone who is above other people, who are regarded as his servants rather than his equals. The Philosopher confirms this opinion, but he does not agree that all types of rule are the same, as many thought. Nor does it follow from this statement, that whereas the free man is more worthy than the one who rules as tyrant, that that one who rules according to law is more noble than the speculative and free man, since this would be against the Philosopher’s intent […]«). 34  Ebd. V.11, 299–300: »Ha disopra il Filosofo diffinito il Regno essere uno imperio assoluto sopra huomini buoni et virtuosi per fine di ben’ publico. La qual degnità dice egli esser data spontaneamente dai popoli a chi per virtù heroica trapassi gli altri. Onde per tal diffinitione

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length two points that are only briefly referred to in the text: namely, whether having foreign bodyguards is a sign only of tyranny, and again whether only tyrants deprive citizens of their arms. It would seem that Segni is here responding to particular features of the reign of Cosimo I and thus defending his patron from criticism. In Aristotle these points are part of a discussion in Politics V.10 (1311a1–18), where the Stagirite (who is explaining the differences between a good monarchy and a tyranny) states: »The idea of a king is to be a protector of the rich against unjust treatment, of the people against insult and oppression. Whereas a tyrant, as has often been repeated, has no regard to any public interest, except as conducive to his private ends; his aim is pleasure, the aim of a king, honour. Therefore they differ also in their excesses: the tyrant accumulates riches, the king seeks what brings honour. And the guards of a king are citizens, but of a tyrant mercenaries. That tyranny has all the vices both of democracy and oligarchy is evident. As of oligarchy so of tyranny, the end is wealth (for by wealth only can the tyrant maintain his guard and his luxury). Both mistrust the people, and therefore deprive them of their arms. Both agree too in injuring the people and driving them out of the city and dispersing them. From democracy tyrants have borrowed the art of making war upon the notables and destroying them secretly or openly, or of exiling them because they are rivals and stand in the way of their power; and also because plots against them are contrived by men of this class, who either want to rule or to escape subjection.«35 Aristotle is here making two main points about the differences between kings and tyrants: first, that whereas the former are mainly concerned with honour and justice in the public interest, the latter are self-centred and focused on pleasure and wealth; second, that a king protects and is thus able to count on support from the citizenry, whereas a tyrant lives in fear of it and mistrusts it, to the extent that he drives it out or deprives it of weapons and other means of power; he is particularly averse to the nobility.

si può dire, conoscendosi l’un contrario per l’altro, che la Tirannide sia uno imperio assoluto sopra gli huomini di buona qualità per fine di ben proprio, toltasi o per forza o per inganno da chi avanzi gli altri d’assai per malitia. Con queste diffinitioni adunque poste si può vedere le sorti delle Tirannidi dette innanzi degli Esinneti o vogliam dire dei Dittatori et dei Principi dell’Asia non esser vere Tirannidi, perché tali Principi sono eletti et governano sopra chi vuol essere signoreggiato« (»Above, the Philosopher defined monarchy as an absolute form of rule over good and virtuous men for the common good. He states that the people assigns this dignity spontaneously to someone who surpasses the rest because of his heroic virtue. So, given this definition, one can say, deducing one opposite from the other, that tyranny instead is an absolute form of rule over good men for selfish ends, and is acquired either by force or deception by someone who long surpasses the rest because of his malice. According to these definitions, one can see that the Aesumnetic tyrannies (or, if we prefer, of the dictators and princes of Asia) are not true tyrannies, because those princes are elected by and rule over people who wish to be ruled despotically«). 35  Jonathan Barnes: The Complete Works of Aristotle: The Revised Oxford Translation, 2 vols (Princeton 1984), II, 2081.

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In his translation, Segni highlights the damage that is done by tyrants to the people (»il Popolo«) and underlines (by reiterating Aristotle’s observation about the tyrant’s choice concerning a city’s guards) the way in which tyrants privilege outsiders and foreigners.36 His commentary on this chapter is very short and does not explore these issues in any detail,37 but he returns to them explicitly in the following chapter, where in fact most of Segni’s discussion centres on the differences between a king and a tyrant. After various general observations in this regard,38 Segni observes: »Ma e’ potrebbe dir uno, che con due proprietà date dal Filosofo alli Tiranni, che tutti li Principi fussino Tiranni, et quegli, che invero sarebbe cosa ridicula a confessare, che fussin tali. Et queste sono la guardia del corpo composta di forestieri, et il tor l’arme ai sudditi. Al che si risponde, che il Filosofo volendo dimostrare un Tiranno, che assolutamente fusse tale, perciò e’ li dette tutte le proprietà che hanno del Tirannico, considerate per sé, sebene e’ può essere, che elle non sieno accidentalmente. Ma infatto le proprietà vere sono le due dette disopra, cioè il regnar per forza a chi non vuole star sottoposto, et il regnar per commodo proprio. Onde chiunche regnasse per fine di ben Publico et fusse eletto al Principato, non si potrebbe dir mai Tiranno, sebene egli andasse con la guardia de’ forestieri et disarmasse i suoi Cittadini. Perché la prima cosa è messa in costume da tutti i Principi che son Principi naturali et però è venuta in legge. Et l’altra sebene per sé considerata non ha del Civile, niente prohibisce però che dove li Cittadini sono divisi in sette et non sanno, et non vogliono, o non possono vivere senza Principe, che e’ non sia util loro l’esser senz’armi, per

36  The passage is translated by Segni as follows (B. Segni: Trattato dei governi, a. a.O. [Anm. 2] V.10, 283–284): »Et l’uffitio del Re è guardare che chi ha facultà non sia rubato, et che il Popolo non sia offeso dai ricchi. Ma la Tirannide (come io ho detto innanzi) non riguarda a nessuna utilità pubblica, anzi solo al commodo proprio. Et il fine tirannico è il piacevole. Et il fine regio è l’honesto. Onde infra le cose che l’uno et l’altro governo ha più, la Tirannide ha i danari, et il Regno ha piuttosto gli honori. Oltradiquesto del Re è la guardia Civile. Et del Tiranno la composta de’ soldati forestieri. Et è manifestissimo, che la Tirannide ha i vitii dello Stato Popolare, e di quello de’ Pochi potenti; perché dallo Stato de’ Pochi ella piglia il fine, che v’è la Ricchezza, che con tal modo solo può ella mantener la sicurtà sua, [ms Cerchi 838, f. 399v, expun.: et nutrir i soldati forestieri] et viver nelle delitie, et non prestar fede alcuna ai suoi Cittadini. Onde che dalli Tiranni si levi l’arme ai Cittadini et facciasi male al Popolo et cacciansi via li Cittadini, et lievinsi dalle guardie della Città, [ms Cerchi 838, f. 399v, expun.: et svuotinsi le Città d’habitatori] è vitio comune dell’uno stato et dell’altro, cioè della Tirannide et di quello de’ Pochi potenti. Et dallo Stato Popolare piglia ella il far contra la Nobiltà et il distruggerla in occulto et in palese et il farla ribella, come s’ella fusse sua avversaria et nimica del suo Principato. Imperoché da’ Nobili si fanno le congiure, parte per volere essi governare et parte per non voler servire«. I have evidenced in italics the clause that Segni has inserted in place of the more standard understanding. Cf. Bruni’s translation of the sentence in question in D. Acciaiuoli: In Aristotelis libros octo Politicorum, a. a.O. [Anm. 25] f. 184r: »Itaque arma civibus suis adimere, ac multitudinem populi conculare, ac ex urbe pellere, et vacuam habitatoribus civitatem reddere, communia sunt utrarumque, paucorum scilicet potentiae et tyrannidis«. 37  Ebd. V.10, 290–291. 38  See above, Anm. 33.

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non havere occasione con tale instrumento di rovinare la lor Patria. Ma questo basti.«39 This passage, then, is where Segni deals head-on with Aristotle’s comment in Politics V.10, discussed above, about the differences between a king and a tyrant. In essence he is claiming here that, of the two features of a king mentioned earlier (reigning for the public good and looking for support to one’s citizens) the first is the essential one, whereas the second (via a neat Aristotelian distinction) is accidental. Indeed, he somewhat broadens the contours of the first requirement, emphasizing that a true king is one who is accepted willingly (or, better yet, elected) by his subjects. By implication, a tyrant will be one who is imposed on them and has only his own interests at heart. He may or may not have a foreign bodyguard or disarm his own citizens; these actions  – at times required by a particular political situation  – really have no bearing on whether the rule in question is legitimate or not. Interestingly, Segni says nothing here about whether it is important for a ruler’s powers to be limited (by laws or other institutions, for example), in order for him not to be considered a tyrant.40 Segni’s comments need to be understood within the Florentine context of the time.41 Following the restauration of the republic in 1527–1530 (which with the »Arrabbiati« took a populist turn that was unwelcome to Segni), the city fell under the influence of the Holy Roman Empire, which reinstated the Medici family (this time as hereditary dukes) in the person of Alessandro de’ Medici. Segni, who was of noble extraction and had republican/aristocratic leanings,42 served 39 

B. Segni: Trattato dei governi, a. a.O. [Anm. 2] V.11, 300; no significant variants in ms Cerchi 838, ff. 416r–417r (»But someone might say that two characteristics assigned by the Philosopher to tyrants imply that all princes are tyrants, including those (which it would be ridiculous to admit) that might wish to be such: these are a bodyguard made up of foreigners and the disarmament of one’s subjects. I reply that the Philosopher wished to depict an absolute tyrant and therefore endowed him with all the characteristics that smell of tyranny, considered in and of themselves, even though they may not do so when regarded as accidents. For indeed the true characteristics of a tyrant are the two mentioned above – that is, reigning by force over those who have no desire to be subject to you, and reigning for your own advantage. Thus, if anyone should reign for the common good, having been elected to the principate, he could never be considered a tyrant, even though he might have a foreign bodyguard and have disarmed his citizens. For the first is a habit common to all natural princes and has therefore become law; the second is not, considered in and of itself, according to law, but when the citizens are divided into factions and either do not know how to, or do not want to, or are not able to live without a prince, nothing stands in the way of assuming that they will be better off without weapons, so that they will not have an opportunity thereby to bring ruin upon their country. But let this suffice«). 40  On this point see Silvia Genzano: La notion de »principat civil« dans l’oeuvre de Bernardo Segni. In: Storiografia repubblicana fiorentina (1494–1570), a cura di Jean-Jacques Marchand e Jean-Claude Zancarini (Firenze 2004) 355–367 (esp. 365–366 in relation to Cosimo). 41  For the following, see the useful sketch by Furio Diaz: Il Granducato di Toscana. I Medici (Torino 1976) 1–83. 42  The fullest description of Segni’s background, biography and political leanings remains Michele Lupo Gentile: Studi sulla storiografia fiorentina alla corte di Cosimo I de’ Medici (Pisa 1905) 11–34; see also the work’s appendix of documents. On the generally elitist orientation of

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under the authoritarian Alessandro and does not seem to have had any dealings with the Florentine exiles who tried on various occasions to return and unseat the Medici. A brief moment of hesitation seems to have come over Florence’s political class right after Alessandro’s assassination in January 1537, but it was soon concluded with the decision (strongly championed by Francesco Vettori among others) to elect as duke Cosimo (1519–1574), then 16 years old and son of Giovanni delle Bande Nere and of Maria Salviati. Despite attempts to circumscribe his power and expenditure already in the Senate’s proclamation, Cosimo soon began to centre power in his own hands, eventually overhauling Florence’s institutions but also maintaining alliances as necessary with notable Florentine families.43 Among Cosimo’s various initiatives in both foreign and internal affairs, two stand out that have particular relevance to Segni’s comments above. First in order of time was a bando, issued on 28 May 1539, prohibiting private citizens from bearing arms and instructing them to report any weapons they owned.44 It would appear that this instruction – which was renewed on 10 January 154745 and in many ways was not dissimilar to other similar initiatives across Italy that tried to contain civil strife – continued to rankle with the higher echelons of Florentine society at least until Segni’s writing of the Trattato. The second initiative was the replacement of Cosimo’s Italian bodyguard, headed by the captain Pirro Colonna, with one of 100 German soldiers in 1541. This decision, announced on the heels of the captain’s offence of the duchess’s favourite dwarf, had actually matured over a long period. In explaining his actions to Andrea Doria, Cosimo revealed the expectation that foreign soldiers would be considerably less trouble than Italian ones.46 On both of these points,

many vernacular commentators of the Politics, see M. Toste: Evolution within Tradition, a. a.O. [Anm. 10] 210. 43  For a balanced judgement on Cosimo I’s absolutism, see F. Diaz: Il Granducato di Toscana, a. a.O. [Anm. 41] 76–77. 44  See Lorenzo Cantini: Legislazione toscana raccolta e illustrata da Lorenzo Cantini, 30 Bde. (Firenze 1800­–1808), I, 183–185 and F. Diaz: Il Granducato di Toscana, a. a.O. [Anm. 41] 106–107. Thanks to Jonathan Davies for pointing me to Cantini’s work. 45  L. Cantini: Legislazione toscana, a. a.O. [Anm. 44] II, 3–4. 46  See the letter of Cosimo de’ Medici to Andrea Doria, prince of Melfi (29 June 1541): »Havendo disegnato più tempo fa di servirmi di soldati Alemanni per la guardia mia et di questa città, promettendomi da loro, oltra alla fedeltà, molto minor fastidii che da soldati italiani, mi deliberai alli giorni passati di effectuar’ questo desegno […]« (»Having planned a while ago to use German soldiers for my own guard and that of this city, and expecting from them, not only loyalty, but also fewer problems than those given by Italian soldiers, I decided during the past few days to carry out my plan […]«) (ASF, Mediceo del Principato, 4, f. 312r); for background, see Lorenzo di Andrea Pagni’s letter to Agnolo di Matteo Niccolini (13 June 1541; ebd. ff. 299r– 301v): leading on from the offence given by his captain of the guard, Pirro Colonna, to his wife’s favourite dwarf, Cosimo decided to put in action a long-meditated plan; the wording on f. 300r is extremely close to that of Cosimo’s letter. According to the »ricordi« of Pierfrancesco Riccio, by 24 August 1541 the German guards had started their service (see ASF, Mediceo del Principato, 600, f. 6 according to the Medici Archive Project).

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Segni offered a spirited (if somewhat specious) defence of his patron in the comments to the Politics reported above. Segni’s private opinion about Florence’s ruler was, however, rather different. Segni held minor offices under (and undertook several diplomatic missions for) Cosimo47 and had dealings with him both in connection with his role in the Accademia Fiorentina (in which Cosimo had a strong interest)48 and as he sought his approval and support for the publication of his Aristotelian works. He thus had observed his rule at fairly close range. In his Istorie fiorentine (which cover the years 1527 to 1555 and were not printed during his lifetime)49 he discusses Cosimo’s character and exploits at some length, offering a fairly balanced but unusually frank portrayal. He comments favourably, for instance, on his sense of justice and temperance in sexual matters50 and on his general moral uprightness (which led among other things to his laws against blasphemy and sodomy),51 but he is quite careful to temper these points with others, for instance on his scarce availability for hearings (udienze), his greed and prodigality, and his perhaps insincere display of religion. Without question, however, Segni’s most daring and fundamental move is to present Cosimo as a tyrant. A telling description comes after narrating the events of Alessandro’s death in January 1537, which had raised (but 47  On the offices held by Segni, see M. Lupo Gentile: Studi sulla storiografia fiorentina, a. a.O. [Anm. 42] 25–30. 48  Among the best studies on the Accademia Fiorentina is Michel Plaisance: L’Accademia e il suo principe. Cultura e politica a Firenze al tempo di Cosimo I e di Francesco de’ Medici (Manziana 2004); see also Michael Sherberg: The Accademia Fiorentina and the Question of the Language. The Politics of Theory in Ducal Florence. In: Renaissance Quarterly 56.1 (2003) 26–55. 49  They were interrupted by the author’s death in 1558 and remained in manuscript until 1723, doubtless because they offered too critical an assessment of the Medici dukes. They should be compared with Segni’s earlier La vita di Niccolò Capponi, on which see Alessandro Montevecchi: Biografia e storia nel Rinascimento italiano (Bologna 2004) 120–144. The Istorie, probably begun around 1553, were not intended for publication during Segni’s lifetime and take into consideration events throughout Europe. The work is analysed in M. Lupo Gentile: Studi sulla storiografia fiorentina, a. a.O. [Anm. 42] 34–85 (his damning judgement, based on the work’s supposed derivativeness, has overshadowed its merits); Eduard Fueter: Geschichte der neueren Historiographie (München 1911; rpt. 1968) 86–87; Ermete Rossi: La pubblicazione delle Storie del Varchi e del Segni. In: Giornale Storico della letteratura italiana 117 (1941) 43–54; Roberto Ridolfi: Novità sulle »Istorie« del Segni. In: Belfagor 15 (1960) 663–676; ders.: L’edizione principe delle »Istorie« del Segni e una sua famigerata lacuna. In: La bibliofilia 65 (1963) 5–15; Eric Cochrane: Historians and Historiography in the Italian Renaissance (Chicago 1981) 278–282. More insightful than all of these is Rudolf von Albertini: Firenze dalla repubblica al principato. Storia e coscienza politica (Torino 1970; original German edition, Bern 1955) 329–334. For more recent comments on the work, see Alessandro Capata: Sondaggi sulla virtù postmachiavelliana: Vettori, Giovio, Segni. In: Italianistica 38.1 (2009) 11–31. On the general context of sixteenthcentury Florentine writings on Cosimo I, see Panegirici e vite di Cosimo I de’ Medici: Tra storia e propaganda, a cura di Carmen Menchini (Firenze 2005). 50  B. Segni: Istorie fiorentine dall’anno MDXXVII al MDLV, a cura di Gargano Gargani (Florence 1857) 373–374. 51  Ebd. X, 408.

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then quickly dashed) the Florentines’ hopes of liberty; the citizens are described as downcast »dappoiché in una sì bella occasione, e dopo una sì acerba tirannide sopportata, quei pochi cittadini avessino contro alla voglia universale, e contro all’autorità di una parte di sì nobili Fuorusciti, riposto in un subito il giogo della servitù loro addosso.«52 The outcome of not having cast off the previous tyranny (i.e., that of Alessandro) was that of being landed with a new one, for despite the hopes of some that his authority could be contained, »Cosimo subito trapassò nel principato assoluto, e sdegnati li costumi e consigli civili […] s’accostò più a credere ad Ottaviano de’ Medici ed a quelli che lo persuadevano a darsi tutto a la fede dell’imperatore ed a farsi per questo verso duca e signore assoluto.«53 Here Segni not only underlines Cosimo’s absolute power (which would not, in and of itself, be sufficient to consider him a tyrant), but insinuates that his election occurred against the will of the people; furthermore, he hints at his habit of finding support in foreigners (particularly Charles V) rather than in his own citizens. The latter is a point that is developed at greater length elsewhere in the Istorie, where Segni notes that Cosimo (like Alessandro before him) had greatly privileged outsiders and made very little use of Florentines,54 although he makes no specific mention of the German Guard. It is a note that recurs in Segni’s later lament about Florence’s inability to become great, in which he observes that Cosimo »par quasi forzato per mantenersi in signoria (cosa sopra ogni altra dolcissima) a darsi in preda a’ forestieri ed all’armi de’ barbari.« 55 And, as Segni reviews Florence’s political history, he finds that it has seen as protagonists only degenerate forms of government, namely bad popular constitutions, terrible oligarchies, and tyrannies. Indeed, Segni maintains that Florence »sarebbe […] certo stata grande in dominio ed in signoria, se l’avessi avuto ordini buoni e civili che l’avessono 52 

Ebd. VIII, p. 331 (»because on such a splendid occasion, and after having tolerated such a bitter tyranny, those few citizens had (against everyone’s will, and against the desire of some very noble exiles) immediately taken up again the yoke of slavery«). 53  Ebd. VIII, 332 (»Cosimo immediately became an absolute prince, and having no regard for constitutional habits and counsels […] gave ear rather to Ottaviano de’ Medici and to those who wished to convince him to gain the emperor’s full trust, so that he could become an absolute duke and lord«). 54  Ebd. XI, 450: »Il principe presumendo assai nel suo proprio consiglio, non teneva conto alcuno dei cittadini per tal conto [i. e. la formulazione delle leggi], ed era dindotto (!) dopo a non si servire più di quei cittadini che molte volte si sono contati in questa storia […]. Nessun Fiorentino era in pregio appresso di questo principe, o pochi, e non gli migliori, ed erano adoperati in cose basse, e non in cose da nobili e da cittadini usi ad esser liberi« (»The prince relied very strongly on his own judgement and on this matter [the formulation of laws] had no regard for the citizens; later he was persuaded not to make any use of those citizens who have been so often referred to in this history […]. No Florentine was highly regarded by this prince, or in any case it was few and not the best ones; when they were used, it was for lowly tasks, and not for those that befit nobles and citizens used to being free«). The point is underlined in John M. Najemy: A History of Florence 1200–1575 (Malden, Mass. 2006) 470. 55  B. Segni: Istorie fiorentine, a. a.O. [Anm. 50] XV, 571–572 (»seems almost forced, in order to stay in power (which state was above any other sweet to him) to make himself captive to foreigners and the arms of barbarians«).

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retta. Ma non gli ebbe mai, perché non fermò in nessuna parte né republica, né principato, che governandosi con giustizia le potesse dar l’armi e le leggi da farla signora.«56 It is hard to interpret these passages other than as an accusation of tyranny directed to the Medici’s government.57 Segni bolsters his argument by referring to Cosimo’s use of money. Two passages of the Istorie in particular outline the duke’s excessive wants, luxuries, projects, and taxes; if in the first Segni emphasizes the Duke’s wastefulness,58 in the second the indictment reaches beyond this, implying that the Duke’s main and only concern was that of providing for his and his wife’s desires, in addition to those of the Germans.59 His perceived needs were so enormous that he spent 500,000 ducats a year, conducting a lifestyle »simile piuttosto a un re potente che a un duca«; he had numerous building projects, but several of these were for

56  Ebd. XV, 571 (»[Florence] would […] certainly have become great both in dominion and in power, if it had been governed by good constitutional arrangements. But it never had these, for it never established either a republic or a principate that was able, through its just government, to provide it with the arms and laws necessary to make her mistress«). 57  For comments on Segni’s depiction of Cosimo see also R. von Albertini: Firenze dalla repubblica al principato, a. a.O. [Anm. 49] 332–333; F. Diaz: Il Granducato di Toscana, a. a.O. [Anm. 41] 207. It is also true, of course, that Segni was disappointed with Florence’s republican governments; see above, Anm. 56. 58  B. Segni: Istorie fiorentine, a. a.O. [Anm. 50] IX, 373: »Nelle spese era bene troppo largo, perché oltre allo stare sontuoso, ed al dare molte provisioni disutili, si dilettava assai di muraglie, di condotti d’acque, di gioie, e soprattutto del giuoco, ne’ quali modi di vivere consumava infinita roba, ed era forzato sovente, oltre all’entrate ordinarie, che arrivavano a grossa somma, metter gravezze straordinarie alla città ed al dominio, che aggravavano pur troppo li sudditi […]« (»He was far too prodigal in his expenses, for besides his luxurious lifestyle and many useless disbursements, he was very fond of defensive walls, aqueducts, jewels and especially gambling, in which lifestyle choices he poured infinite resources; thus he was often obliged to place extraordinary taxes (in addition to his usual revenues, which already amounted to a considerable sum) on the city and its dominion, which placed too great a burden on his subjects […]«). 59  Ebd. XI, p. 449: »Perciò non aveva altra cura, che d’investigar modi di far denari, per poter supplire alle voglie degl’imperiali e per sadisfare a’ desiderii suoi e della moglie, li quali essendo grandi, facevano che i cittadini ed i popoli erono da lui aggravati. Questo principe, per dire il vero, più che nessun altro di casa Medici, avendo ridotto in se stesso tutta l’autorità e l’onor pubblico, s’era ancora impadronito assolutamente di tutte l’entrate, e per tanti varii modi l’aveva accresciute, ch’e’ poteva spendere ogni anno cinquecentomila scudi, li quali ancora non bastando alle incomportabili spese sue, per le provvisioni che dava ai colonnelli, a spie, a Spagnuoli, a donne che servivano madama, e per ogni altra sua maniera di vivere, simile piuttosto a un re potente che a un duca […]« (»So his only preoccupation was how to make money, in order to meet the desires of those connected with the Empire and to satisfy both his own wants and those of his wife; since these were great, considerable burdens were placed on the citizens and the people. To say the truth this prince, more than any other of the Medici family, centred in his own hands all public authority and honours and became absolute lord of all the [city’s] revenues. In many various ways he managed to increase these revenues, so that each year he could spend 500,000 scudi, which even so were not enough for his unsustainable expenses, which included payments to military officers, spies, Spaniards, the duchess’s female servants, and for every other aspect of his manner of life, which was closer to that of a powerful king than of a duke […]«).

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»sontuosi edifizi, e per solo diletto suo«.60 There can be little doubt that Segni is here directing the discerning reader to compare Cosimo’s deportment with the aims of kings and tyrants laid out by Aristotle in Politics, V.10 and mentioned above: »[the tyrant’s] aim is pleasure, the aim of the king, honour. Therefore they differ also in their excesses; the tyrant accumulates riches, the king seeks what brings honour« (1131a3–5). Finally, it is worthwhile noting Segni’s attitude toward an armed citizenry. As mentioned above, Cosimo’s bando of 1539 prohibited the Florentines from bearing arms. Segni does not mention this specific edict in his Istorie fiorentine, but he does discuss other initiatives to deprive the citizens of their arms. A first occurence was in 1530 under the Republic. In this particular instance, the Republic’s leaders hired 2000 German soldiers, installed them in the city, and then used them to enforce a new bando that all citizens should lay down their arms and wear civilian dress. Homes were searched to ensure the edict’s observance, and thereafter »si volsero quei cittadini a vendicare molte passate ingiurie state loro fatte, e per tal mezzo assicurare meglio la grandezza loro.«61 Likewise, toward the beginning of Duke Alessandro’s rule, the bandi against holding private weapons were renewed, resulting in stiff penalties for people who contravened,62 but of course also in a much greater feeling of security for those in power. Although, ironically, the bando did not prevent Alessandro’s murder at the hands of his close friend and relative Lorenzino de’ Medici,63 it could be argued that it did secure the smooth transition of power to Cosimo by discouraging armed uprisings in Florence.64 Segni does not comment explicitly about the effects of these edicts on Florentine political life, but does note the strong feelings they elicited, particularly from the city’s youth; he implies that the bandi were used, in both of these instances, for evil personal ends and to shore up bad governments. Segni is therefore echoing Aristotle’s position that both oligarchies and tyran60 

Ebd. (»sumptuous buildings, for his own exclusive enjoyment«). Ebd. V 205 (»those citizens turned to avenging themselves of many past wrongs, so as to establish more firmly their high position«). 62  Ebd. V 227: »Fecesi nondimeno nel principio del nuovo signore un’altra severa ricerca di tutte l’armi, essendo rinnovati in prima i bandi, e dipoi andati in molte case i birri e i famigli d’Otto a ricercare insino a quelli de’ dichiarati amici de’ Medici, onde avvenne che a certi, che o per ignoranza o per malizia avendo contraffatto, furono dati castighi severissimi, poi messi in fondo di torre o in carcere perpetua, fino a tanto che poi per grazia del principe n’erono liberati« (»Nonetheless, at the start of the new lord’s rule the bandi were renewed and another thorough search for arms took place. The police and the servants of the Otto [di Guardia] conducted a search of many homes, including those of the Medici’s declared friends, and it happened that some who (whether by ignorance or malice) had contravened the bando were given extremely harsh punishments and put either in dungeons or in prison for life, or at least until they were later freed by the prince’s pardon«). 63 The Medici’s family members were usually explicitly exempted from the provisions of these bandi. 64  For the events in question, see B. Segni: Istorie fiorentine, a. a.O. [Anm. 50] VII 313–315; F. Diaz: Il Granducato di Toscana, a. a.O. [Anm. 41] 64–66. 61 

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nies »mistrust the people, and therefore deprive them of their arms« (1131a10), thus bolstering his argument that the government exercised by the Medici is, for all practical purposes, a tyranny. The views Segni puts forth in his Istorie fiorentine are obviously hard, if not impossible, to reconcile with his rather different comments about Cosimo in the Trattato. There can be little doubt that he was more guarded (and less candid) in his work meant for the press. In the absence of any evidence that Segni suddenly changed his position, we shall have to assume that the opinions put forward in the Istorie were much closer to being his personal views. But one could argue that, even in his commentary on the Politics, Segni did not altogether disguise his anti-Medicean sentiments from the perceptive reader. His translation’s insistence on a tyrant’s habit of depriving citizens of their arms, and his commentary’s logically shaky defence of Cosimo’s actions (for instance, in hiring mercenary soldiers) could be construed as hints that his position was quite different from what it appeared to be. Indeed (as Simone Bionda has helpfully suggested to me) this could be a case of Segni’s clever use of the rhetorical figure of antiphrasis, whereby an author makes a statement whose meaning is precisely the opposite of the obvious one. Segni’s classically trained contemporaries would have had no trouble spotting the device.

III.  Segni and Machiavelli’s Shadow A further, significant indication of Segni’s attitude toward Cosimo can be deduced from the Trattato’s numerous allusions to Machiavelli.65 The work makes, in fact, only two direct references to the Florentine thinker,66 and one could be 65 

Here I do not wish, of course, to suggest that Machiavelli is Segni’s only near-contemporary source; his sympathies for Savonarola, for instance, may also have influenced his work (see R. von Albertini: Firenze dalla repubblica al principato, a. a.O. [Anm. 49] 330), but this aspect remains to be explored. 66  See M. Lupo Gentile: Studi sulla storiografia fiorentina, a. a.O. [Anm. 42] 70–71. The two passages are B. Segni: Trattato dei governi, a. a.O. [Anm. 2] V.4, 260: »et di qui forse ha tratto il nostro Machiavello ne’ suoi Discorsi quello universale, cioè, che chi è stato cagione di fare uno grande, è forza che rovini, benché e’ non n’adduca a punto le ragioni dette qui« (»perhaps our [citizen] Machiavelli drew from here his more general statement, in the Discorsi, that whoever has been the instrument for making someone great must necessarily fall into ruin, even though he does not exactly report the reasons given here«); and ebd. V.10, 290: »Doppo questo tratta delle congiure in quanti modi elle si fanno, et per quante cagioni contra i principi, et dice molte cose degne da essere notate et avvertite da loro; dalle quali buona parte ne ha tolte di qui il Machiavello nel suo libro del Principe, essendovi infra l’altre notata anchor’ quella di coloro che congiurano contra li Principi per acquistar gloria. De’ quali afferma il Filosofo con difficultà potersi guardare i Principi, perché tali congiuranti non si curano di vivere. Né alcun rimedio migliore hanno i Principi per guardarsi da simili, che di vivere in tal maniera ch’e’ sieno amati dallo universale« (»After this he discusses how and why conspiracies against princes take place and states many matters that are worthy of their attention and mindfulness; Machiavelli used a good number of these in his book The Prince, where he noted, among other things, the point

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forgiven for thinking that the distance between the two writers was too great to be bridged. After all, as we have seen, Segni’s views on the intimate connection between ethics and politics made the conventional assumption that a ruler would be someone who was exemplary for his exercise of moral virtue, and this was a point that Machiavelli most definitely did not support.67 One of the indications of the differences between Segni and Machiavelli can be seen in how they treat Aristotle’s discussion of what a ruler should appear to do. Of course, there are some things that a tyrant must do, if he wishes to remain in power – for example, he must make the people suspicious of each other, take away their free time and goods, cause them to keep busy through wars, cause learning to wane, etc. (1313b1–30). His three main aims will be to humiliate his subjects, create mistrust among them, and make them powerless (1314a13–29). In the second part of chapter 11, however, another interesting feature is that the tyrant »should act or appear to act in the character of a king« (1314b1, emphasis mine). This is where Aristotle starts underlining the importance of dissimulation. For instance, the tyrant must give the impression of being a good administrator of the public finances. He must also present himself as someone who does not cause fear in those whom he meets, but as someone who is great and deserving of respect. He may not be solicitous about all the virtues, but he at least needs to take into account civil virtue and exhibit it. The same kind of dissimulation should apply to bodily pleasures, in which it is essential for the tyrant to appear moderate (1314b1–38).68 But particularly explosive to Christian ears are Aristotle’s remarks immediately following, which Segni renders as follows: »Oltra di questo debbe fare una diligenza eccessiva di apparire amatore della religione, perché li sudditi temono manco da simili principi di sopportare cose ingiuste se gli stimano che il principe sia religioso et ch’ei tenga conto di Dio et manco contra d’un tale si congiura, come contra di chi habbia Dio in aiuto. Et una tal cosa debbe esser fatta apparire sanza stultitia.«69 In other words, it is important about those who conspire against princes in order to acquire glory. The Philosopher states that it is hard for princes to guard themselves from such people, because these kinds of conspirers do not care whether or not they live. The best remedy that princes have against them is to live in such a way that they are loved by all«). For the second passage, cf. Niccolò Machiavelli: Il principe, nuova edizione a cura di Giorgio Inglese (Torino 2013) IX §14–§19, esp. §18: »Concluderò solo che a uno principe è necessario avere il popolo amico, altrimenti non ha nelle avversità rimedio« (Bull [Anm. 2] 69: »I shall only conclude that it is necessary to have the friendship of the people; otherwise he has no remedy in time of adversity«); also XXIV §5 and Machiavelli’s parallel expression (XIX §10) about being »odiato da lo universale« (Bull [Anm. 2] 103: »hated by the populace«). Segni’s references to Machiavelli are also mentioned very briefly by Giuliano Procacci: Machiavelli nella cultura europea dell’età moderna (Roma-Bari 1995) 71–73 and M. Toste: Evolution within Tradition, a. a.O. [Anm. 10] 195. 67  See especially N. Machiavelli: Il principe, a. a.O. [Anm. 66] XV–XIX. 68  Cf. B. Segni: Trattato dei governi, a. a.O. [Anm. 2] V.11, 295–296. 69  Ebd. V.11, 297. Cf. J. Barnes: The Complete Works of Aristotle, a. a.O. [Anm. 35] 2087: »Also he should appear to be particularly earnest in the service of the gods; for if men think that a ruler is religious and has a reverence for the gods, they are less afraid of suffering injustice at

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for the tyrant to present himself as a paterfamilias, a legitimate prince, someone who rules without his own interests at heart. In essence, he is to act as if he were virtuous, or at least half-virtuous, or at the very least not evil.70 Given his views of a ruler’s exercise of virtue, Segni must have found all of this deeply embarrassing. Indeed, he does not bother to comment on this passage, except to make Aristotle say quite the opposite of what he does in the passage on religion cited above: according to Segni, »Una tal cosa [i.e., the prince’s religiosity] debbe esser fatta apparire sanza stultitia« means »che ’l principe debba esser [not apparire] religioso; ma ch’e’ debba osservar la religione in modo che e’ non paia superstizioso, o simile a certi che piuttosto paiono stolti«.71 These comments are also an implicit rebuttal of Machiavelli, pointing to a notable gulf between the two thinkers’ understanding of the place of moral virtue and religion in politics. Nonetheless, on a range of issues Segni also agrees with Machiavelli, and his works reveal how thoroughly familiar he is with Machiavelli’s writings.72 On some occasions Machiavelli’s words are recalled through extraneous elements added by Segni: for instance, in the Trattato it is not enough for him to repeat Aristotle’s comments about the fortitude of the lion in Book VIII, ch. 3: he also inserts a reference to the insidiousness of the fox.73 In Book III, ch. 12, he introduces a discussion about adulators where it is not explicitly called for.74 At a certain point he laments Italy’s weakness, its divisions and lack of a strong leader, echoing Machiavelli.75 Even in the Istorie fiorentine Segni often underlines his hands, and they are less disposed to conspire against him, because they believe him to have the very gods fighting on his side. At the same time his religion must not be thought foolish«. 70  B. Segni: Trattato dei governi, a. a.O. [Anm. 2] V.11, 299: »Debbe ancora il Tiranno fingersi nei costumi sì fatto, cioè ch’ei sia virtuoso, o almeno mezzo virtuoso, o ch’ei non sia cattivo, ma in quel mezzo«. The famous expression of Machiavelli’s viewpoint is in N. Machiavelli: Il principe, a. a.O. [Anm. 66] XVIII §13–§15: »A uno principe adunque non è necessario avere in fatto tutte le soprascritte qualità, ma è bene necessario parere di averle; anzi ardirò di dire questo, che, avendole e osservandole sempre, sono dannose, a parendo di averle sono utili: come parere piatoso, fedele, umano, intero, religioso – e essere, ma stare in modo edificato con lo animo che, bisognando non essere, tu possa e sappia mutare il contrario. E hassi a intendere questo, che uno principe e maxime uno principe nuovo non può osservare tutte quelle cose per le quali gli uomini sono chiamati buoni, sendo spesso necessitato, per mantenere lo stato, operare contro alla religione. E però bisogna che egli abbia uno animo disposto a volgersi secondo che e’ venti della fortuna e la variazione delle cose gli comandano; e, come di sopra dissi, non partirsi dal bene, potendo, ma sapere entrare nel male, necessitato«; for the English, see Bull [Anm. 2] 100–101. 71  B. Segni: Trattato dei governi, a. a.O. [Anm. 2] V.11, 299. 72  On Segni’s familiarity with Machiavelli and his use of the expression »principato civile« taken from Machiavelli, see also S. Genzano: La notion de »principat civil«, a. a.O. [Anm. 40]. 73  B. Segni: Trattato dei governi, a. a.O. [Anm. 2] VIII.4, 400–401. Cf. N. Machiavelli: Il principe, a. a.O. [Anm. 66] XVIII §7. 74  B. Segni: Trattato dei governi, a. a.O. [Anm. 2] III.12, 181. Cf. N. Machiavelli: Il principe, a. a.O. [Anm. 66] XXIII. 75  B. Segni: Trattato dei governi, a. a.O. [Anm. 2] VII.7, 352–353. Cf. N. Machiavelli: Il principe, a. a.O. [Anm. 66] XXVI.

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the necessity both of good constitutions and of military power, in what seems to be a strong reprise of Machiavelli’s regular pairing of buone leggi e buone arme.76 In all of these cases, Segni is not just alluding to or repeating aspects of Machiavelli’s writings, but strongly concurring with them. And it is worthwhile noting that many of Segni’s criticisms of Cosimo in the Istorie are rooted in fundamental aspects of Machiavelli’s political thought. Two instances of these parallelisms will give a flavour of Segni’s relationship to Machiavelli. Returning to the two topics highlighted in Segni’s commentary on Politics V.11, we have seen that the issue of disarming one’s citizens is one of the aspects of Cosimo’s actions that Segni most deplores. This is, of course, also discussed in The Prince, where Machiavelli holds that a new prince never disarms his own people, but only those of a newly acquired territory: »Ma quando tu gli disarmi, tu cominci a offendergli: mostri che tu abbi in loro diffidenzia, o per viltà o per poca fede, e l’una e l’altra di queste opinioni concepe odio contro di te; e perché tu non puoi stare disarmato, conviene ti volti alla milizia mercennaria […]«77 Disarming one’s citizens therefore has two undesirable effects: the first is that it insults the citizenry and is likely to generate hatred toward the ruler; the second is that, since a ruler must somehow defend himself, he will turn to foreign mercenaries. The latter issue, which is also one of the two that Segni highlights in his commentary on Politics V.11, is (as is well known) a strong theme in Machiavelli’s writings.78 It was, according to him, one of the main problems afflicting the Italian peninsula in the first decades of the sixteenth century, and indeed his call in the last chapter of The Prince was for the Medici to »provedersi d’arme proprie« (»procure their own arms«); he voiced confidence that the »virtù italica« in terms of military defensive power would shine through.79 Various aspects of Segni’s depiction of Cosimo in the Istorie also seem to owe more than a little to Machiavelli. The Florentine statesman had admonished

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N. Machiavelli: Il principe, a. a.O. [Anm. 66] XII §3: »E’ principali fondamenti che abbino tutti li stati, così nuovi come vecchi o misti, sono le buone legge e le buone arme« (Bull [Anm. 2] 77: »The main foundations of every state, new states as well as ancient or composite ones, are good laws and good arms«). 77  Ebd. XX §7 (Bull [Anm. 2] 115: »But as soon as you disarm your subjects you start to offend them, showing whether through cowardice or suspicion that you mistrust them; and on either score hatred is aroused against you. Then, since you cannot stay unarmed, you are forced to have recourse to mercenary troops […]«); see also the broader context in XX §1–§9. 78  Ebd. XII §4–§5; ders.: Discorsi sopra la prima deca di Tito Livio, a cura di Corrado Vivanti (Torino 2000) II 20; useful comments and survey of the historiography in Christopher Lynch, Introduction. In: Niccolò Machiavelli, Art of War, trans., ed. and with a commentary by Christopher Lynch (Chicago 2003) xiii–xxxiv. This is not to imply that Machiavelli was the only writer with this perspective; see N. Machiavelli: Il principe, a. a.O. [Anm. 66] 85, n. 11. 79  N. Machiavelli: Il principe, a. a.O. [Anm. 66] XXVI §20–§21. See also M. Toste: Evolution within Tradition, a. a.O. [Anm. 10] 195, n. 20, where the point about the closeness between Segni and Machiavelli on this issue is well made.

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that a prince dedicate himself entirely to arms;80 he had identified a particular danger in the possibility that a ruler, during times of peace, should let down his guard: »Questi simili modi debbe osservare uno principe savio: e mai ne’ tempi pacifici stare ozioso […]«.81 Segni’s description of Cosimo at the start of his reign is that there is not much to report, since he was »volto all’ozio« (»dedicated to idleness«), spending his time on frivolous activities, including betting large sums of money to please his wife in her pastime.82 Machiavelli also had quite a bit to say about the temptation for a ruler to thrive on liberality and sumptuousness, whose result was bound to be an increased burden on the public purse as the prince looked for ever-larger revenues and therefore placed additional tax requirements on the people. His conclusion was that it was better to be considered a miser than to be hated.83 When he picks up the discussion again, Machiavelli observes that the surest way of being hated is to touch people’s property (roba) or family members (»li uomini sdimenticano più presto la morte del padre che la perdita del patrimonio«).84 Segni’s considerations about the duke’s prodigality and considerable hunger for money are therefore ominous.85 A final example may be found in Segni’s portrayal of Cosimo’s piety: as he covers the events of 1542, he states »nel vero questo principe, o fingeva, o aveva in fatto religione, e nel vivere suo era molto onesto, col qual modo reggeva similmente la corte e gli suoi più intrinsechi servitori.«86 Segni is thus highly aware of the possibility, so eloquently presented by Machiavelli, that a prince might somehow dissimulate in his display of religion. Beyond this, one should note that Segni does deliver positive judgements about the Medici ruler, as he does in this passage, where he underlines his uprightness (onestà). But it is also true that Segni never goes further than this muted kind of praise. This would not much matter, were it not for Machiavelli’s argument that a true prince is one with an unusual and superior nature to that of others,87 recalling Aristotle’s points about a ruler’s heroic virtue. This paper has focused in particular on Aristotle’s depiction of the tyrant in Politics V.10–11 and on what Segni made of it, both in his own commentary and in his Istorie fiorentine. In the process we have seen that Segni treats the Politics much more summarily than he does the Ethics. This is most likely in keeping with his understanding of the relationship between these two branches of moral 80 

N. Machiavelli: Il principe, a. a.O. [Anm. 66] XIV and XXIV. XIV §16 (Bull, p. 90: »A wise prince must observe these rules; he must never take things easy in times of peace […]«). 82  B. Segni: Istorie fiorentine [Anm. 50] X, 398. 83  N. Machiavelli: Il principe, a. a.O. [Anm. 66] XVI §1–§6, §11, §19–§20. 84  Ebd. XVII §14 (Bull, p. 97: »men sooner forget the death of their father than the loss of their patrimony«); see also ebd. XIX §6–§10. 85  B. Segni: Istorie fiorentine, a. a.O. [Anm. 50] XI, 449; see above, Anm. 58. 86  Ebd. X, 408 (»indeed this prince either pretended to be or was religious, and was very upright in his life; he ruled the court and his closest servants in the same way«). 87  N. Machiavelli: Il principe, a. a.O. [Anm. 66] XXI §10 and passim. 81  Ebd.

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philosophy, where ethics is clearly superior in that it provides the theoretical foundation of politics. This does not mean that for Segni politics is unimportant, but that it requires less discussion, both because it should be viewed as an application of the principles of ethics and because – with the return of the Medici to power – it is now less relevant.88 It also means that Segni maintains the inherited framework according to which moral and civic virtue are deeply interconnected. From this perspective, it would be reasonable to expect Segni to reject Machiavelli, since he already disagrees with his most controversial claims in The Prince that a ruler should either follow or abandon conventional morality and religion according to necessity. He does not, however, do so; rather, he embraces Machiavelli’s viewpoint on a variety of issues – including, as we have seen, the use of mercenaries and the disarming of one’s citizens. Segni’s recognition of Machiavelli’s usefulness even when he disagrees with him on important theoretical points is a reminder that in 1549 the antimachiavellianism typical of the following decade (culminating with the placement of his works on the Index in 1557) was still to come.89 Finally, Segni’s attitude toward Cosimo and the Medici is both resentful and subtle. While the Politics commentary is circumspect and does not oppose the duke openly (not least because Cosimo’s approval was necessary for the work’s publication), the sophistication of Segni’s language and defence of Cosimo shows that there were still voices in Florence able to hint at their dissent, something that Segni feels even freer to do in his Istorie fiorentine. There may have been some self-interest in Segni’s observation that foreigners now ran Florence, but in any case Segni felt that he could not simply stand by in silence while his beloved city fell under the tyrant’s spell. His Istorie show that not even the rise of an absolutist prince could keep criticism and anti-Medicean sentiment entirely at bay.90 Modern scholars may not care for what must have been (given his comments in the Istorie) a strong dose of insincerity on Segni’s part, both in the dedication and in the commentary on the Politics. We should recall, however, that this was often the way of the Renaissance court, and that both humanist and scholastic writers usually felt the need to bow to it. A case that bears some similarities to that of Segni is that of Francesco Piccolomini, who dedicated his Universa 88  See the acute observation on this point in Maurizio Viroli: From Politics to Reason of State. The Acquisition and Transformation of the Language of Politics 1250–1600 (Cambridge 1992) 245–247. 89  G. Procacci: Machiavelli nella cultura europea, a. a.O. [Anm. 66] 20–21, 83–121. 90  For the place of the court in Segni’s Aristotelian works (and particularly the Ethics) see Ullrich Langer: Aristotle Commentary and Ethical Behaviour. Bernardo Segni on Friendship between Unequals. In: Philosophy in the Sixteenth and Seventeenth Centuries. Conversations with Aristotle, ed. by Constance Blackwell and Sachiko Kusukawa (Aldershot 1999) 107–125, esp. 110–11 and 120–22. For the extent of freedom of expression in Cosimo’s Florence and the Accademia Fiorentina in particular, see Sherberg: The Accademia Fiorentina, a. a.O. [Anm. 48]; although Segni is not mentioned in the article, he may be viewed as combining what Sherberg calls »the rhetoric of acclaim« with »the politics of dissent«.

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philosophia de moribus (1583) to the Senate of Venice, which had control over the University of Padua where he was teaching. Upon his retirement to his native Siena a few years later, however, Piccolomini dedicated to the Medici family a vernacular version of the work. Rather than praising the virtues of republics, as the Universa philosophia did, the Compendio della scienza civile exalted the merits of a principate.91 But Piccolomini was just one among many Renaissance writers who seem to have had an uncanny awareness of the political climate and sometimes adjusted their expressions accordingly. Again, we must not judge them according to our own standards. The larger point to make, however, is a methodological one. Segni’s commentary on the Politics is just one among many Latin and vernacular ones and is therefore part of a broader tradition. While we should be grateful for studies that offer a flavour of how Aristotle’s work was interpreted in the period,92 it is useful to recall that these works arose within specific cultural, social and political contexts, which are key to helping us understand their purposes. We may be mistaken, therefore, if we expect too much of them in terms of philosophical originality; their value may well lie elsewhere. We must also accept that it may not be enough to explore works that are explicitly Aristotelian, since an author’s political ideas may also be transmitted through letters, biographies, histories and other writings. All of this is true of Segni, whose Trattato requires the corrective lense of the Istorie fiorentine, whose achievement should ideally be placed within the context of a much broader effort in the 1540s and 1550s to interpret Aristotle’s works (and indeed classical philosophy in general) in the Italian vernacular, and whose interest partly lies in the work’s able combination of established and contemporary sources and its potential links with the activities of the Accademia Fiorentina. One wonders therefore to what extent other works on Aristotle’s 91 

On Piccolomini’s Compendio and its relationship to the Universa philosophia de moribus see D. A. Lines: Latin and Vernacular in Francesco Piccolomini’s Moral Philosophy. In: »Aristotele fatto volgare«. Tradizione aristotelica e cultura volgare nel Rinascimento, a cura di David A. Lines e Eugenio Refini (Pisa 2014) 169–199; see also M. Toste: Evolution within Tradition, a. a.O. [Anm. 10] 207–208. 92 For the vernacular tradition in general now see G. Briguglia: Thinking Politics in the Vernacular, a. a.O. [Anm. 10]; for the French tradition in particular see Ingrid A. R. De Smet: Philosophy for Princes. Aristotle’s Politics and its Readers during the French Wars of Religion. In: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 76.1 (2013) 23–47. For the Latin tradition in the Renaissance there is little of much merit, but see at least Giovanni Rossi: La tradizione politica aristotelica nel Rinascimento europeo. Tra »famiglia« e »civitas«, hg. von dems. (Torino 2004); Christoph Horn und Ada Neschke-Hentschke: Politischer Aristotelismus. Die Rezeption der aristotelischen »Politik« von der Antike bis zum 19. Jahrhundert, hg. von dems. (Stuttgart/ Weimar 2008), which inexplicably omits Italy for the Renaissance; Alexander Fidora, Johannes Fried, Matthias Lutz-Bachmann und Luise Schorn-Schütte: Politischer Aristotelismus und Religion in Mittelalter und Früher Neuzeit, hg. von dems. (Berlin 2007); and Günter Frank: »Politica Aristotelis«. Zur Überlieferungsgeschichte der aristotelischen »Politica« im Humanismus und in der frühen Neuzeit. In: Der Aristotelismus in der Frühen Neuzeit – Kontinuität oder Wiederanaignung?, hg. von Günter Frank und Andreas Speer (Wiesbaden 2007) 325–352. For a census of Italian vernacular interpretations see E. Refini: Vernacular Aristotelianism, a. a.O. [Anm. 3].

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moral philosophy respond (in more or less open ways) to contemporary concerns, ideas and writings and whether they really can be considered in isolation from them. One looks forward to the kind of contextualization of the Politics that has lately begun to take place in some ways for the Ethics.93

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interesting, recent example is Amedeo Quondam: Forma del vivere. L’etica del gentiluomo e i moralisti italiani (Bologna 2010).

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Das Göttliche in uns und das menschliche Leben Zur Aristotelischen eudaimonia und ihrer Rezeption in der Florentiner Renaissance Was Aristoteles unter eudaimonia versteht, lässt sich seinen Ethiken nicht leicht entnehmen. Dies liegt vor allem daran, dass in der Bestimmung des höchsten Gutes zwei Lebensformen auftauchen: ein politisches Leben, das alle Bürger teilen, und ein theoretisches Leben, das den Philosophen vorbehalten ist. Im Hintergrund steht die Differenz von ethischen und dianoetischen Tugenden. Geht man von der zentralen These aus, eudaimonia sei eine (vernünftige) Tätigkeit der Seele gemäß der aretê, hat man also danach zu fragen, welche Tugenden hier inwiefern als Grundlage dienen können und sollen. In der neueren Forschung wird diese Frage bekanntlich äußerst kontrovers diskutiert. Inklusivistische Deutungen, die primär auf ethische Tugenden sowie die mit ihnen kooperierende phronêsis setzen und das gute Leben als komplexe Verbindung verschiedener Güter betrachten, konkurrieren mit exklusivistischen Deutungen, die ausschließlich die dianoetische Tugend der sophia heranziehen und das gute Leben – wenigstens im strengen Sinne – auf das eine Gut der kontemplativen Erkenntnis beschränken. Daneben stehen Vermittlungsversuche, die nicht zuletzt geltend machen, dass der erkennende nous nach Aristoteles zwar das ›Bes­te‹ oder etwas ›Göttliches in uns‹ ist, ein rein theoretisches Leben nach seiner Auffassung aber auch über das hinausgeht, was Menschen als leiblich-seelische Wesen verwirklichen können. Ich möchte die Problemlage, die sich aus dieser Spannung ergibt, zunächst für die Aristotelische Konzeption erläutern, indem ich die Kontroverse zwischen inklusivistischen und exklusivistischen Ansätzen darzustellen (I.) und anhand der Nikomachischen Ethik einzuschätzen versuche (II.). Danach wende ich mich ihrer Rezeption in der Frühen Neuzeit zu. Leitend ist die Frage, wie hier mit den heute so kontrovers diskutierten Schwierigkeiten umgegangen wurde. Um die Textbasis überschaubar zu halten, beschränke ich mich auf zwei Schriften aus der Florentiner Renaissance, die für den ethischen Aristotelismus des 15. Jahrhunderts eine wichtige Rolle spielen: Zuerst beziehe ich mich auf die zwischen 1421 und 1424 entstandene Einführung in die Moralphilosophie (Isagogicon moralis disciplinae) von Leonardo Bruni (III.),1 dann auf den rund fünfzig Jahre später erschienenen Kommentar zur Nikomachischen Ethik (Expositio super libros Ethicorum) von Donato Acciaiuoli (IV).2 Beide Texte behandeln auch das problematische Verhältnis zwischen vita activa und vita contemplativa, indem sie 1  Leonardo

Bruni Aretino: Humanistisch-philosophische Schriften, mit einer Chronologie seiner Werke und Briefe, hg. von Hans Baron (Leipzig/Berlin 1928) 20–41. 2  Der Text erschien 1478 in Florenz. Er wurde bis zum Ende des 16. Jahrhunderts fast zwanArchiv für Begriffsgeschichte · Sonderheft 12 · © Felix Meiner Verlag 2016 · ISBN 978-3-7873-2525-2

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Varianten des traditionellen Stufenmodells entwickeln. Ich möchte in meinem Beitrag ihre wichtigsten Ergebnisse erläutern. Dabei soll nach Perspektiven gesucht werden, die dazu beitragen könnten, aus der verhärteten Diskussion der gegenwärtigen Forschung herauszufinden. Es geht mir also nicht nur um einen Zugang zum Renaissance-Aristotelismus, sondern auch um philosophische Einsichten, die aus heutiger Sicht noch hilfreich erscheinen mögen, wenn man die Aristotelische Position zu verstehen versucht. Das gilt vor allem für Acciaiuoli, dessen Kommentar ungleich differenzierter ist als Brunis Einführung. Allerdings verdient auch der kompakte Zugriff dieser Einführungsschrift durchaus eine nähere Betrachtung. Dass man den historischen Ort der Renaissance-Interpreten dabei nicht naiv ausblenden darf, versteht sich.3

I.  Die Aristotelische eudaimonia zwischen Inklusivismus und Exklusivismus Blicken wir also zu Beginn auf die Nikomachische Ethik, um eine Basis für die folgende Auseinandersetzung mit ihrer Rezeption zu gewinnen. Die berühmte Bestimmung der eudaimonia findet sich als Ergebnis des sogenannten ErgonArguments im ersten Buch. Wie Aristoteles aus diesem viel behandelten Argument folgert, ist die eudaimonia bzw. das »menschliche Gute« (anthrôpinon agathon) »(1) die Tätigkeit der Seele gemäß der Tugend (psychês energeia kat’ aretên) und (2) gibt es mehrere Tugenden, gemäß der besten und vollkommensten (kata tên aristên kai teleiotatên), und außerdem (3) ein volles Leben hindurch (en biȏi teleiȏi). Denn eine Schwalbe und ein Tag machen noch keinen Sommer, und so machen auch ein Tag oder eine kurze Zeit noch niemanden selig (makarion) und glücklich (eudaimȏn).« (EN I 6, 1098a16–20) Alle drei Teile dieser Bestimmung sind umstritten. Im Zentrum der Ausein­ andersetzung steht aber vor allem die Frage, was als beste und vollkommenste Tugend aufgefasst werden muss. Und diese Frage lässt sich wiederum nur beantworten, wenn klar ist, in welchem Sinne hier für die aretê überhaupt von der »besten und vollkommensten« (aristê kai teleiotatê) gesprochen wird. Die erwähnten Interpretationsansätze beantworten beide Fragen ganz unterschiedlich. Inklusivisten gehen davon aus, dass die beste und vollkommenste Tugend, die das Gelingen des ganzen Lebens ermöglicht, nur eine möglichst umfassende Tugend sein kann. Allerdings hält man nicht alle aretai für gleichermaßen einschlägig. Als unabdingbar gilt meist lediglich die umfassende Verbindung ethischer Tugenden wie Besonnenheit, Tapferkeit oder Gerechtigkeit mit der dianozig Mal nachgedruckt. Mir lag die digitalisierte Fassung eines Nachdrucks vor, der 1560 in Lyon erschien. Eine kritische Ausgabe gibt es noch nicht. 3  Vgl. dazu vor allem David A. Lines: Aristotle’s Ethics in the Italian Renaissance (ca. 1300– 1650). The Universities and the Problem of Moral Education (Leiden/Boston/Köln 2002).

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etischen Tugend der Klugheit (phronêsis), deren Bezug auf die Praxis und das gute Leben besonders leicht zu erkennen ist (EN VI 5, 8 und 13), während die anderen dianoetischen Tugenden eher als partielle Ergänzungen mit beschränkter Reichweite erscheinen. Dies gilt nicht nur für die auf Produktion bezogene ›Kunst‹ (technê), die sich allenfalls indirekt bzw. über technische Mittel auf das gute Leben bezieht, sondern auch für die Weisheit (sophia), in der sich Vernunft und Wissenschaft zu einer eigenen Lebensform verbinden. Aus Sicht der Inklusivisten sollte der besondere Wert dieser theoretischen Lebensform nicht überschätzt werden, weil die sophia zwar für Philosophen wichtig ist, aber nicht alle Bürger Philosophen werden können und zu werden brauchen, um gut zu leben. Außerdem betonen Inklusivisten, dass selbst eine umfassende aretê nicht reicht, um die Aristotelische eudaimonia zu verstehen. Vielmehr muss sie als eine gemäß der aretê ausgeübte ›Tätigkeit‹ (energeia) auch noch äußere und körperliche Güter umfassen, weil eine gute Tätigkeit diese voraussetzt – sei es nun als benötigte Mittel oder als konstitutive Teile ihres gelingenden Vollzugs (EN I 9, 1099a31–1099b8). Besonders hervorgehoben wird dabei der Status intrinsischer Güter, die nicht als bloße Mittel zu betrachten sind. Demnach bedeutet ›Teleiotatê‹ für die Inklusivisten das Vollkommenste im Sinne des Umfassendsten und ›aristê‹ hat eine kompositionelle oder additive Bedeutung.4 Nach ihrer Auffassung wären schwierige Probleme der Aristotelischen Konzeption sonst nicht zu lösen. Es ließe sich etwa nicht verständlich machen, wie (eigentliche) Handlungen, die – im Unterschied zu herstellenden Tätigkeiten – kein äußeres ergon produzieren, und insofern ihr telos durch den bloßen Vollzug ihrer Tätigkeit realisieren, dann doch auf höhere Ziele bezogen sein sollen (EN I 1, 1094a3–18). Und erst recht ließe sich nicht verständlich machen, wie diese höheren Ziele, die sogar um ihrer selbst willen angestrebt werden können, letztlich auf das höchste Ziel der eudaimonia zu beziehen sind (EN I 1, 1094a18–22; I 5, 1097a24–1097b7). Folgt man der inklusivistischen Deutung, ist dieses ›Rätsel‹ nur zu lösen, wenn man das höchste Ziel als umfassendstes Ziel auffasst. Denn dabei bleibt der teleologische Status der integrierten Ziele unangetastet. Exklusivisten nehmen demgegenüber an, dass die beste und vollkommenste Tugend, die in der zitierten Bestimmung der eudaimonia erwähnt wird, dieselbe Tugend sein muss, die Aristoteles im zehnten Buch die »vorzüglichste« (kratistê) und die des »Besten« in uns (tou aristou) nennt (EN X 7, 1177a12 f.). Gemeint ist natürlich die sophia, d. h. die Tugend der Kontemplation bzw. theôria. ›Teleiotatê‹ bedeutet demnach das Vollkommenste im Sinne des Vorzüglichsten und ›aristê‹

4  John Ackrill: Aristotle on Eudaimonia. In: Proceedings of the British Academy 60 (1974) 330–359, 345 ff. (Ein Nachdruck des einflussreichen Artikels findet sich in: Aristoteles. Die Nikomachische Ethik, hg. von Otfried Höffe (Berlin ²2006) 39–62). Aus der umfangreichen Literatur erwähne ich sonst nur noch Terence Irwin: The Structure of Aristotelian Happiness, Ethics 101 (1991) 382–390 und Roger Crisp: Aristotle’s Inclusivism. In: Oxford Studies in Ancient Philosophy 33 (2007) 111–136.

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hat eine hierarchische oder normative Bedeutung.5 Aus exklusivistischer Sicht liegt dies schon deshalb nahe, weil der Gesichtspunkt der Vollkommenheit mit dem qualitativen Gesichtspunkt der Güte bzw. Bestheit kombiniert ist. Während ›teleiotatê‹ bei Aristoteles nicht unbedingt im Sinne qualitativer Vollendung verstanden werden muss, sondern durchaus auch eine quantitative Vollständigkeit meinen kann – was eine einschlägige Stelle in der Metaphysik ausdrücklich geltend macht (Met. V 16, 1021b12–14) –, scheint dies für den Superlativ ›aristê‹ nämlich kaum möglich zu sein. Die beste Tugend kann nicht die quantitativ umfassendste, sondern nur die qualitativ vorzüglichste bzw. die dem Rang nach höchste sein. Geht man davon aus, dass ›teleiotatê‹ an der zitierten Stelle ›aristê‹ erläutern soll, was naheliegend erscheint, ist also auch ›teleiotatê‹ qualitativ zu verstehen. Außerdem argumentiert Aristoteles mit einer definitiven Zuordnung. Wenn es mehrere Tugenden gibt, sagt er an unserer Stelle, so ist eudaimonia die Tätigkeit gemäß der besten und vorzüglichsten. Mit einer inklusivistischen Auffassung scheint sich dies schlecht zu vertragen, weil dann ja auch die anderen Tugenden einschlägig blieben. Die Tätigkeit gemäß der sophia wäre dann, anders als EN I 6 nahelegt, nicht die einzige, die eudaimonia zu realisieren vermag, sondern nur die Verwirklichung ihrer höchsten Stufe. Schließlich und vor allem setzen Exklusivisten auf die Konsistenz der Aristotelischen Argumentation. Da Aristoteles im zehnten Buch ausdrücklich sagt, eudaimonia sei eine Tätigkeit gemäß der sophia bzw. ein theoretisches Leben gemäß dem nous, liegt es nahe, ihm diese Auffassung schon im ersten Buch zuzutrauen, um den Zusammenhang seiner Konzeption zu wahren. Dies gilt umso mehr, als es hier neben der umstrittenen Bestimmung durchaus weitere Stellen gibt, die auf den besonderen Rang der sophia anspielen (EN I 3, 1096a4 f.; I 11, 1100b11–22.). Jedenfalls darf das zehnte Buch nach Ansicht der Exklusivisten auf keinen Fall marginalisiert werden, wenn es um das Verständnis der eudaimonia geht.

II.  Versuch einer Einschätzung der konkurrierenden Ansätze Was ist zu dieser Kontroverse zu sagen? Eine Entscheidung fällt schwer, weil beide Ansätze klare Stärken und klare Schwächen haben. Im Blick auf die bislang in den Vordergrund gerückte Frage, was aretê teleiotatê in der Bestimmung der eudaimonia bedeutet, wird man zunächst feststellen müssen, dass die exklusivistische Deutung sehr viel überzeugender ist. Aristoteles argumentiert für die aretê nämlich durchgängig qualitativ und nicht quantitativ. Besonders deutlich zeigt dies ihre ausführliche Erläuterung im zweiten Buch der Nikomachischen Ethik, wo sie als eine Vollendung bestimmt wird, die dasjenige, woran sie sich fin5  Richard Kraut: Aristotle on the Human Good (Princeton 1989) 241 ff. Vgl. auch Robert Heinaman: Eudaimonia as an Activity in Nicomachean Ethics 1. 8–12. In: Oxford Studies in Ancient Philosophy 33 (2007) 221–253 und Peter Stemmer: Aristoteles’ Glücksbegriff in der Nikomachischen Ethik. Eine Interpretation von EN I, 7. 1097b2–5. In: Phronesis 37 (1992) 85–110.

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det, bzw. dessen ›Leistung‹ (ergon) gut macht (EN II 5, 1106a15–24). Eine solche Vollendung gibt es nach Aristoteles auch für das ergon des Auges oder Pferdes, weshalb bei der aretê des Menschen zusätzliche Qualifikationen zu berücksichtigen sind. Wie er einsichtig zu machen versucht, geht es hier um eine (gute) Mitte zwischen den schlechten Extremen des Mangels und des Übermaßes, und zwar um eine Mitte »für uns« (pros hêmas: EN II 5, 1106a31), die in einer »Entscheidungshaltung« liegt (hexis prohairetikê: EN II 6, 1106b36). Von einer solchen mesotês ist im ersten Buch zwar noch nicht die Rede, aber dieselben qualitativen Grundannahmen finden sich bereits hier. So rechnet das Ergon-Argument klarerweise damit, dass sich das ergon einer Tätigkeit in ihrer hervorragenden Ausübung gemäß der aretê vollendet (EN I 6, 1098a7–15). Außerdem wird schon hier betont, die menschliche Tugend sei eine Tugend der Seele, nicht des Körpers (EN I 6, 1096a 16; I 13, 1102a16 f.), und eudaimonia finde sich nur bei (erwachsenen) Menschen, nicht bei Kindern oder anderen Lebewesen (EN I 10, 1099b32–1100a4). Beides dürfte vorausgesetzt sein, wo Aristoteles – die zitierte Bestimmung aus EN I 6 variierend – sagt, dass eudaimonia eine Tätigkeit gemäß der vollkommenen Tugend ist (EN I 10, 1100a4; I 13, 1102a6). Und wenn der Positiv ›teleia‹ auf dieser Grundlage qualitativ zu verstehen ist,6 liegt dies für den Superlativ ›teleiotatê‹ natürlich ebenfalls nahe, weil man sonst bei der Steigerung

6  Richard

Kraut: Aristotle on the Human Good (Princeton 1989) 247 ff. Dieser wichtige Gesichtspunkt ist nicht nur von Exklusivisten, sondern auch von Autoren auf der Suche nach einem Mittelweg angeführt worden. Dabei wird freilich weniger die Ausschließung unvollkommener bzw. natürlicher Tugenden betont als die Verbindung einschlägiger Tugendarten, die verschiedenen Seelenteilen entsprechen. Vgl. Jeffrey S. Purinton: Aristotle’s Definition of Happiness. NE I.7, 1098a16–18. In: Oxford Studies in Ancient Philosophy 16 (1998) 259–297, 264 ff. und Jörn Müller: Ergon und eudaimonia. Plädoyer für eine unifizierende Interpretation der ergon-Argumente in den aristotelischen Ethiken. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 57 (2003) 513–542, 528 ff. – Mit der Forderung eines qualitativen Verständnisses der aretê teleia soll natürlich nicht bestritten werden, dass die ethische Tugend nach Aristoteles aus verschiedenen Einzeltugenden besteht. An den erwähnten Stellen (EN I 10, 1100a4; I 13, 1102a6) findet sich aber nicht der geringste Hinweis auf eine solche Zusammensetzung, während die Differenz von (erwachsenen) Menschen, Kindern und anderen Lebewesen bzw. die von Seele und Körper ausdrücklich thematisiert wird. Dazu kommt, dass Aristoteles die Zusammensetzung der ethischen aretê auch sonst nirgendwo ausführlicher diskutiert. Er verweist auf sie eher am Rande, nämlich erst im fünften Buch, wo er die Gerechtigkeit nicht nur als »vollkommene Tugend […] in Bezug auf den anderen Menschen« (aretê teleia … pros heteron: EN V 3, 1129b25–27), sondern auch als »ganze Tugend« (holê aretê: EN V 3, 1130a9; V 5, 1130b7) bestimmt, und im sechsten Buch, wo er geltend macht, der phronimos müsse über alle Tugenden verfügen (EN VI 13, 1145a1 f.). Hält man sich an die Nikomachische Ethik, sieht es nicht so aus, als hätte sich Aristoteles für die Zusammensetzung der ethischen Tugend besonders interessiert. Die Eudemische Ethik ergibt einen etwas anderen Befund, weil es durchaus naheliegt, die aretê teleia aus ihrer Bestimmung der eudaimonia (EE II 1, 1219b35–39) so aufzufassen, dass damit die ganze Tugend – gemäß ihrer Zusammensetzung aus einzelnen Tugenden – gemeint ist. Dies erlaubt freilich nicht, das quantitative Verständnis der aretê teleia aus EE II einfach auf EN I zu übertragen. Vgl. auch dazu Jörn Müller, der Purinton 534, Anm. 43 zurecht für eine solche Übertragung kritisiert.

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desselben Adjektivs in Bezug auf dasselbe Nomen eine stillschweigende Bedeutungsverschiebung annehmen müsste.7 Das bedeutet natürlich nicht, dass mit der aretê teleiotatê dasselbe gemeint sein müsste wie mit der aretê teleia, sei es nun intensional oder auch nur extensional. Wer die Steigerung des Adjektivs ernst nimmt, wird vielmehr damit rechnen müssen, dass die vollkommenste Tugend die vollkommene in qualitativer Hinsicht ähnlich übertrifft wie die vollkommene Tugend die unvollkommene, d. h. wie die Tugend der menschlichen Seele die seines Körpers bzw. die Tugend des vernünftigen und strebenden Seelenteils die des wahrnehmenden und ernährenden. Da Aristoteles für die eudaimonia betont, dass sie nur Menschen, nicht aber anderen Lebewesen zukommen kann, ist dabei nicht nur der vernünftige, sondern auch der strebende Seelenteil auf Menschen zu beziehen. Es geht hier also nicht um irgendein Streben, wie es sich nach Aristoteles auch bei anderen Lebewesen findet, sondern um das (wenigstens der Möglichkeit nach) vernünftige Streben des Menschen. Oder, um es in der Sprache des Ergon-Arguments zu sagen: Es geht um das Streben im Sinne eines Seelenteils, der dem logos »gehorcht« (hȏs epipeithes logȏi), und sich dabei von einem Seelenteil, der ihn »hat und denkt« (hȏs echon kai dianooumenon: EN I 6, 1098a3 f.) unterscheidet. Es gibt also auch innerhalb dieser weit gefassten Vernunft bzw. zwischen verschiedenen vernünftigen Seelenteilen noch qualitative Stufen. Damit liegt es nahe, die vollkommenste Tugend, von der die Bestimmung der eudaimonia spricht, grundsätzlich dort zu suchen, wo der vernünftige Seelenteil, der den logos »hat und denkt«, seine höchste qualitative Vollendung erreicht. Das sechste Buch greift diesen Gesichtspunkt auf und bereitet die spätere Favorisierung der Weisheit vor. Denn trotz der von Aristoteles herausgearbeiteten praktischen Bedeutung der phronêsis wird doch schon hier mehrfach darauf hingewiesen, dass die sophia auf einer noch höheren Ebene steht (EN V 13, 1143b33 f.; 1145ba6–11). Auf dieser Grundlage kann das zehnte Buch die eudaimonia schließlich ausdrücklich als Tätigkeit gemäß der vorzüglichsten Tugend untersuchen, auf den nous als das Beste in uns verweisen und sophia als höchste qualitative Vollendung des vernünftigen Seelenteils erläutern (EN X 7,1177a12 ff.). Nimmt man all dies zusammen, wird man für das Verständnis der aretê teleiotatê grundsätzlich der exklusivistischen Deutung folgen müssen. Es gibt aber andere Aspekte der Aristotelischen Konzeption – schon im Umkreis der angeführten Bestimmung und dann auch noch an anderen wichtigen Stellen –, die zumindest einen strikten Exklusivismus, wonach eudaimonia ausschließlich in einem theoretischen Denken gemäß der Weisheit liegt, unter Druck bringen und insofern für eine gewisse Berücksichtigung inklusivistischer Perspektiven sprechen. Ich gehe die 7  J. Müller: Ergon und eudaimonia, a. a.O. [Anm. 6] 534 versucht dies einleuchtend zu machen, um eine weitgehende Übereinstimmung der EE und der EN nachweisen zu können. Aus meiner Sicht geht er hier etwas zu weit, obwohl ich für die aretê teleia in EN I – wie bereits erläutert – seine Bezugnahme auf Tugendarten statt auf Einzeltugenden, die qualitativ und nicht quantitativ ansetzt, durchaus einleuchtend finde.

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wichtigsten Punkte, die bei der Konkurrenz beider Ansätze zu berücksichtigen sind, kurz durch. Für die aretê teleiotatê liefert das erste Buch der Nikomachischen Ethik, wie sich abgezeichnet hat, keinen guten Grund, die vollkommenste Tugend (mit den Inklusivisten) als umfassendste zu verstehen. Und das zehnte Buch legt noch deutlicher nahe, dass hier die höchste Tugend der Weisheit gemeint ist. Außerdem leuchtet nicht ein, dass eine Tätigkeit gemäß der Tugend ausschließlich auf Praxis bezogen werden muss, lässt sich doch auch theoretisches Denken als energeia auffassen. Es spricht deshalb nichts dagegen, den ersten Teil der Definition, der eudaimonia als Tätigkeit gemäß der Tugend bestimmt, mit einem zweiten Teil zu verbinden, der sie (im Sinne der Exklusivisten) strikter als Tätigkeit gemäß der vollkommensten Tugend betrachtet und auf das vorzügliche Denken der Weisheit bezieht. Schließlich muss man eudaimonia – anders als Inklusivisten immer wieder behaupten – sicher nicht als ein aus Teilen bestehendes Ganzes auffassen, um die Differenz von Praxis und Poiesis oder die Hierarchie untergeordneter und übergeordneter Ziele verstehen zu können. Denn Handlungen im eigentlichen Sinne, die anders als Produktionen keine äußeren Werke herstellen, besitzen nicht notwendig Ziele, die um ihrer selbst willen gewählt werden. Vielmehr können sie durchaus einen instrumentellen Status haben, etwa wenn jemand auf den Markt geht, um Geschäfte zu erledigen, die dem materiellen Wohlstand dienen sollen. Und Ziele, die um ihrer selbst willen gewählt werden können – wie Lust, Ehre, Tugend und Vernunft (EN I 5) –, lassen sich trotzdem noch auf ein höchstes Ziel beziehen. Es ist z. B. durchaus möglich, die ethische Tugend sowohl um ihrer selbst willen als auch um der Kontemplation willen zu wählen, weil sie einerseits in sich wertvoll ist und andererseits einen Freiraum für ungestörte Kontemplation schafft. Allgemeiner gefasst lässt sich feststellen, dass man nicht nur, was offensichtlich sein dürfte, verschiedene Handlungen auf dasselbe Ziel, sondern auch dieselben Handlungen auf verschiedene Ziele beziehen kann, ohne dass darin irgendein Widerspruch liegen muss. Ebenso lassen sich Ziele widerspruchsfrei sowohl um ihrer selbst willen wählen als auch, um ein höheres Ziel zu erreichen. Ein Widerspruch ist höchstens zu befürchten, wenn es nicht mehr gelingt, die zugleich verfolgten Ziele in eine teleologische Relation einzuordnen. Dies könnte nämlich ein Hinweis darauf sein, dass die Ziele nicht nur verschiedene Inhalte besitzen, sondern Inhalte, die sich ausschließen.8 8 

Nach Aristoteles wird man dies wohl so zu verstehen haben. Denn er rechnet ja nicht mit der Möglichkeit, dass es verschiedene höchste Ziele geben könnte, sondern versucht einsichtig zu machen, dass es letztlich ein höchstes Ziel geben muss (EN I 1, 1094a18–22; I 5, 1097a24– 1097b7). Und wenn es nur ein solches Ziel gibt, muss sich alles, was man recht verstanden, wohlbegründet und frei von Missverständnissen als Ziel anstreben kann, auf eben dieses höchste Ziel beziehen lassen. Damit ist wohlgemerkt nicht gesagt, dass alle untergeordneten Ziele, die irgendwie zur eudaimonia beitragen, in einem strengen Sinne als instrumentell verstanden werden müssen. Die technische Mittel-Zweck-Relation liefert nach Aristoteles zwar ein wichtiges Modell für die teleologische Struktur der Praxis (EN I 1, 1094a16 f.). Aber dies schließt wichtige Unterschiede zwischen technê und aretê keineswegs aus (EN II 3, 1105a26–33). Vor allem je-

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Es gibt hier jedenfalls kein ›Rätsel‹ in der Aristotelischen Konzeption, das man nur lösen könnte, indem man das höchste Gut als größtes bzw. umfassendstes Gut versteht. Auf der anderen Seite muss man sich fragen, ob die Aristotelische Bestimmung der eudaimonia so verstanden werden darf, dass ausschließlich eine Tätigkeit gemäß der Weisheit als einschlägig gelten kann. Auch wenn der Wortlaut der zitierten Stelle in EN I 6 eine derart strikte Auffassung nahelegen mag, passt sie nicht zur gestuften Anlage der Aristotelischen Konzeption. Schon das ErgonArgument rechnet, wie wir gesehen haben, mit einer Differenz von hinhörendem und leitendem logos (EN I 6, 1098a4 f.; I 13, 1103a1–3), die von der Differenz ethischer und dianoetischer aretai aufgenommen wird (EN I 13, 1103a3–10) und so den Aufbau der Aristotelischen Ethik bestimmt. Dabei dient der weitaus größte Teil des Textes vom zweiten bis ins zehnte Buch der Erläuterung der ethischen aretê. Und schon deshalb wäre es kaum zu verstehen, wenn diese entweder gar nichts mit eudaimonia zu tun haben sollte oder auf eine bloß instrumentelle Bedeutung zu beschränken wäre. Vor allem aber erlaubt selbst das zehnte Buch, also – wenn man so will – der ›Kronzeuge‹ der exklusivistischen Deutung, keine derart strikte Interpretation. Denn hier wird zwar ein Leben gemäß der Weisheit als vollkommene (teleia) eudaimonia bezeichnet, aber das politische Leben gemäß ethischen Tugenden erhält ausdrücklich zumindest einen zweiten Rang zugebilligt (EN X 8, 1178a9 ff.). Es liegt deshalb nahe, die Bestimmung im ersten Buch so zu verstehen, dass eudaimonia nicht etwa ausschließlich, sondern nur vorrangig als ein theoretisches Denken gemäß der sophia zu verwirklichen ist. In dieselbe Richtung deutet ein Gesichtspunkt, der in der Kontroverse um die Aristotelische eudaimonia meist nicht ausreichend berücksichtigt wird. Ich meine die dritte Bestimmung, die an der eingangs zitierten Stelle angeführt wird, wonach jemand nur dann als glücklich (eudaimôn) gelten kann, wenn die zuvor erwähnte Tätigkeit gemäß der vollkommenen aretê in einem vollen oder vollständigen Leben (en biȏi teleiȏi) ausgeübt wird. Denn hier denkt Aristoteles zweifellos an ein Leben, das eine längere, wenn auch nicht genauer bestimmte Zeitspanne umfasst, jedenfalls aber nicht nur kurz dauert (oud’ oligos chronos). Und ein gutes Leben, das sich derart zeitlich erstreckt, ist – anders als die teleia eudaimonia –, wie immer wieder richtig gesehen wurde,9 sicher als ein aus Teilen bestehendes Ganzes zu verstehen. Es mag problematisch erscheinen, dass Aristoteles das Wort ›teleios‹ in einem einzigen Satz auf zwei verschiedene Weisen verwendet haben soll, zum einen im Sinne einer qualitativen Vollendung, wie sie der Tugend (auf verschiedenen Stufen) zukommt, zum anderen im Sinne einer quantitativen Vollständigkeit, die doch folgt daraus, dass ein Ziel zur eudaimonia beiträgt, nicht, dass es sich nicht um seiner selbst willen anstreben ließe. Es ist wichtig, dies zu sehen, weil sich das Verhältnis des politischen und des theoretischen Lebens sonst kaum erläutern lässt, ohne aus dem inklusivistischen ins exklusivistische Extrem zu fallen. 9  Vgl. erneut z. B. J. Müller: Ergon und eudaimonia, a. a.O. [Anm. 6] 527 f.

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das zeitlich erstreckte Leben besitzt. Wenn das qualitative Verständnis der aretê, das eben skizziert wurde, überzeugend ist, bleibt meines Erachtens aber nichts anderes übrig, als diese Dopplung zur Kenntnis zu nehmen. Denn ›bios teleios‹ kann in der Aristotelischen Bestimmung der eudaimonia sicher nicht ein vollkommenes Leben (gemäß einer qualitativen Perfektion), sondern nur ein volles oder vollständiges Leben (gemäß einer zeitlichen Erstreckung) bedeuten. Dies liegt nicht daran, dass das Adjektiv hier auf ein anderes Nomen bezogen ist. Für sich genommen könnte ›bios teleios‹ nämlich durchaus als ein qualitativ vollkommenes Leben verstanden werden. Verantwortlich sind vielmehr die temporalen Zusatzbestimmungen, die Aristoteles hier und an anderen Stellen anführt, weil diese eindeutig auf eine quantitative Bedeutung im Sinne zeitlicher Erstreckung oder Dauer verweisen. Ein ›bios teleios‹ ist dadurch gekennzeichnet, dass er nicht nur eine »kurze Zeit« (oud’ oligos chronos: EN I 6, 1098a20) oder eine »beliebige Zeit« (mê ton tychonta chronon: 1001a16), sondern die »volle Länge eines Lebens« (mêkos biou teleion: EN X 7, 1177b25) dauert. Wie die Diskussion des berühmten Solon-Problems zeigt, denkt Aristoteles dabei weder an die maximale Länge, die für ein menschliches Leben überhaupt möglich ist, noch an die gesamte Erstreckung eines jeweiligen Lebens. Es ist nämlich möglich, dass eine Person, deren eudaimonia durch großes und häufiges Unglück getrübt wurde, diese wiedererlangen kann. Allerdings gelingt dies nicht »in kurzer Zeit« (en oligȏi chronȏi), sondern, wenn überhaupt, dann nur »in einer langen und vollständigen« (en pollȏi tini kai teleiȏi), wenn sie dabei »große und schöne Dinge erreicht« (EN I 11, 1101a8–13).10 Wie auch immer diese temporale Dimension näher zu erläutern sein mag – festzustellen ist jedenfalls, dass es sich hier nicht um eine versteckte Bedeutungsverschiebung handelt. Denn durch jene temporalen Zusatzbestimmungen wird die quantitative Bedeutung (der zeitlichen Dauer) für den bios teleios mindestens ebenso deutlich, wie sich die qualitative Bedeutung (der formalen Perfektion) für die aretê teleia und aretê teleiotatê durch eine kontextualisierende Interpretation verdeutlichen lässt. Die zeitliche Erstreckung des bios teleios betrifft nicht nur den Status äußerer Güter, der in der Kontroverse zwischen Inklusivisten und Exklusivisten häufig beleuchtet wird, sondern ist auch für die grundsätzliche Einschätzung der eudaimonia von großer Bedeutung. Dies liegt schon deshalb auf der Hand, weil es sich hier um den dritten Teil der berühmten Bestimmung aus EN I 6 handelt. Außerdem wird dieser Aspekt, wie sich gezeigt hat, an vielen anderen Stellen ebenfalls thematisiert und variiert. Demnach ist eudaimonia nach Aristoteles nicht nur (1) eine vernünftige Tätigkeit der Seele gemäß der (vollkommenen) Tugend, wobei an alle Arten vollkommener Tugend, also an dianoetische und ethische Tugenden zu denken sein dürfte, und – genauer gefasst – (2) vorrangig, wenn 10  Sowohl die Eudemische Ethik als auch die Magna Moralia scheinen hierin weniger differenziert zu sein und eine stärkere Lesart nahezulegen. Das ist häufig richtig gesehen worden. Vgl. etwa Terence Irwin: Permanent Happiness: Aristotle and Solon. In: Oxford Studies in Ancient Philosophy 3 (1985) 89–124, 103.

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auch nicht ausschließlich, eine vernünftige Tätigkeit gemäß der vollkommensten Tugend, d. h. gemäß der Weisheit. Vielmehr ist sie auch (3) eine solche Tätigkeit in einem (möglichst) vollen bzw. vollständigen Leben, das nicht auf eine kurze Zeit beschränkt sein darf. Dieser temporale Gesichtspunkt stellt für exklusivistische Interpretationen eine Schwierigkeit dar, wenigstens wenn sie eine strikte Ausschließlichkeit des kontemplativen Glücks einleuchtend zu machen versuchen, und wird deshalb häufig einfach ausgeblendet.11 Die Schwierigkeit liegt darin, dass selbst ein vollkommenes Denken gemäß der Weisheit nicht reicht, um das Leben in seiner zeitlichen Erstreckung gelingen zu lassen. Ein solches Denken ist nach Aristoteles zwar länger als jede andere Tätigkeit, aber eben doch nicht ununterbrochen durchzuhalten (EN I 11, 1100b11–22; EN X 7, 1177a21 f. u. 1177b22; Met. XII 7, 1072b24–26). Wer ein dauerhaft gutes Leben sucht, wird also auch weitere Tätigkeiten aus dem Bereich der Klugheit und der ethischen Tugenden benötigen, und zwar als Ermöglichung einer ergänzenden, wenigstens zweitrangigen eudaimonia, die den nicht-kontemplativen ›Rest‹ der Lebenszeit ebenfalls gut zu leben erlaubt. Das gute Leben wäre sonst auf kontemplative Inseln schlechthin vollendeter Tätigkeit beschränkt, während das umgebende Meer eigentlicher Praxis keinerlei Vollendung zuließe. Und eine solche Isolation der eudaimonia dürfte mit dem temporalen Gesichtspunkt des bios teleios kaum vereinbar sein.12 Es mag richtig sein, dass man das zeitlich erstreckte gute Leben des bios teleios – wie Exklusivisten häufig behaupten13 – nicht einfach mit der eudaimonia selbst identifizieren darf, weil diese als energeia entweder keine Teile aufweist 11  Vgl. allerdings Richard Kraut: Aristotle on the Human Good (Princeton 1989) 68, Anm. 48: »There is an imperfection in having the good briefly.« Ausführlicher diskutiert wird die lange vernachlässigte Frage vor allem bei Alejandro G. Vigo: Zeit und Praxis bei Aristoteles. Die Nikomachische Ethik und die zeitontologischen Voraussetzungen des vernunftgesteuerten Handelns (Freiburg 1996). Dabei weist Vigo zu Recht darauf hin, dass nach Aristoteles eine »vertikale Einheit«, die ein hierarchisches Verständnis der Tugend voraussetzt, von einer »horizontalen Einheit«, die ein zeitliches Verständnis des Lebens voraussetzt, unterschieden werden muss (249 ff.). Aus der neueren Literatur nenne ich Christoph Horn: Eine Schwalbe macht noch keinen Frühling. Eudaimonia und Zeit bei Aristoteles. In: Glück-Tugend-Zeit. Aristoteles und die Zeitstruktur des guten Lebens, hg. von W. Mesch (Stuttgart 2013) 21–40 und J. Müller: Wann kann man ein Leben glücklich nennen? Aristoteles und das Solon-Problem, ebenfalls in: GlückTugend-Zeit, a. a.O. [Anm. 11] 41–62. 12  Man kann die Schwierigkeit auch so erläutern, dass nicht temporale, sondern ethische und anthropologische Gesichtspunkte im Vordergrund stehen. Denn zum einen betont Aristoteles, dass der Philosoph, obwohl er letztlich auf Weisheit setzt, durchgängig auf das Zusammenleben mit anderen Menschen angewiesen bleibt. Dazu benötigt der Philosoph nicht nur ethische Tugenden, sondern auch äußere Güter, wenigstens als Mittel und Anlässe bei ihre Betätigung (EN X 8, 1178b5–7). Zum anderen betont er, dass sich unsere Natur »zum Betrachten nicht genügt« (ou autarkês […] pros to theôrein: EN X 9, 1178b33 f.). Wir benötigen auch leibliche Gesundheit, Nahrung und überhaupt äußere Güter, sofern sie zum Überleben erforderlich sind. Und davon ist der nach Weisheit strebende Philosoph selbstverständlich nicht ausgenommen. 13  Vgl. Geert van Cleemput: Aristotle on Eudaimonia in Nikomachean Ethics I. In: Oxford Studies in Ancient Philosophy 30 (2006) 127–157, 155 f.

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oder doch nicht im selben Sinne wie der bios teleios. Aber zu strikt trennen sollte man die eudaimonia und das Leben des eudaimôn auch nicht, da Aristoteles erkennbar darum bemüht ist, einen Zusammenhang herzustellen. Wie er an der zitierten Stelle geltend macht, liegt eudaimonia eben nur dann vor, wenn eine vernünftige Tätigkeit gemäß der vollkommenen Tugend über einen längeren Zeitraum ausgeübt wird. Dabei scheint für das gute Leben mehr erforderlich zu sein als die vollkommenste Tugend allein. Und dies bringt einen exklusivistischen Ansatz in Schwierigkeit, weil zumindest die ethische Tugend keine bloß instrumentelle Bedeutung besitzen kann, sondern selbst eudaimonia zu realisieren erlaubt, mag diese im Vergleich mit der vollkommenen eudaimonia auch nur zweitrangig sein. – Halten wir also fest: Inklusivistische Ansätze sind problematisch, weil sie die vollkommenste Tugend, von der die Aristotelische Bestimmung der eudaimonia spricht, als umfassendste Tugend missverstehen und darin den primären Status des theoretisch-kontemplativen Glücks verfehlen. Exklusivistische Ansätze sind problematisch, weil sie dazu neigen, die vollkommene eudaimonia der Weisheit zu isolieren, die ethischen Tugenden durchgängig zu instrumentalisieren und sie damit stärker zu marginalisieren, als es der sekundäre Status des praktisch-politischen Glücks zulässt. Nun gibt es diese Ansätze natürlich in verschiedenen Varianten, die auf die genannten Probleme recht unterschiedlich reagieren. Insgesamt scheint mir die Diskussion aber immer noch viel zu sehr durch eine unproduktive Fundamentalkonkurrenz geprägt. Je mehr die einen ›all inclusive‹ rufen, desto mehr ziehen sich die anderen auf den exklusiven Standpunkt einer ›splendid isolation‹ zurück. Wer hier weiterzukommen versucht, wird grundsätzlich anders ansetzen müssen. Statt von inklusivistischen oder exklusivistischen Grundannahmen auszugehen, liegt es nahe, sich an einem Stufenmodell zu orientieren, wie es in traditionellen Aristoteles-Interpretationen anzutreffen ist. Ich habe dieses Modell, wie dem aufmerksamen Leser nicht entgangen sein dürfte, in meiner Kritik an inklusivistischen und exklusivistischen Defiziten schon als Orientierungshilfe herangezogen. Damit stehe ich natürlich nicht allein. Wenn ich recht sehe, arbeiten alle zeitgenössischen Vermittlungsversuche, die aus der Konfrontation von Inklusivismus und Exklusivismus herauszufinden versuchen, mit einer Spielart dieses traditionellen Modells.14 Und eben dies mag den Blick auf ältere Interpretationen empfehlen.

14 

Ich verweise stellvertretend nur auf einen interessanten Vorschlag von David Charles, der mit dem Begriff der Analogie arbeitet. Vgl. David Charles: Aristotle on Well-Being and Intel­ lectual Contemplation. In: The Aristotelian Society, Suppl. Vol 7,1 (1999) 205–223.

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III.  Vita activa und vita contemplativa bei Bruni Damit bin ich nun endlich so weit, zu den angekündigten Interpretationen aus der italienischen Renaissance übergehen zu können. Bei Leonardo Bruni geht es mir primär um einen recht allgemeinen Punkt, der für humanistische Ansätze insgesamt einschlägig ist, obwohl er nicht immer gleich stark in Erscheinung tritt und auch dort, wo er gut zu greifen ist, nicht überbewertet werden darf. Ich meine die neue Wertschätzung des aktiven Lebens, die humanistischen Interpretationen aus heutiger Sicht ein besonderes Interesse verleiht. Diese neue Wertschätzung der vita activa verträgt sich zwar durchaus mit einer bleibenden Dominanz der vita contemplativa, bringt aber doch einen anderen Akzent in das traditionelle Stufenmodell ein, als er in scholastischen Interpretationen vorherrscht. So ist etwa in der Summa theologiae des Thomas von Aquin zu lesen, dass das »letzte und vollkommene Glück« (ultima et perfecta beatitudo), das im gegenwärtigen Leben gar nicht zu erreichen ist, sondern nur für das zukünftige Leben erwartet werden darf, »ganz in der Betrachtung besteht« (tota consistit in contemplatione). Im Unterschied zu diesem vollkommenen Glück besteht das unvollkommene Glück, das sich schon im gegenwärtigen Leben erreichen lässt, »zwar zuerst und hauptsächlich in der Betrachtung« (primo quidem et principaliter consistit in contemplatione), aber, wie Thomas in ausdrücklichem Rückgriff auf das zehnte Buch der Nikomachischen Ethik sagt, »in zweiter Linie in der Tätigkeit der praktischen Vernunft, die die menschlichen Handlungen und Leidenschaften ordnet« (S.th. I-II, q.3, a.5).15 Nun darf man sicher nicht übersehen, dass sich schon dieses Schema für unser irdisches Leben an einer Aristotelischen Stufung von praktischer und theoretischer Vernunft orientiert, also den Status der vita activa als eines wenigstens sekundären Glücks keineswegs bestreitet. Und ebenso wenig darf man übersehen, dass dieses Schema in den Aristoteles-Interpretationen der Renaissance grundsätzlich unangetastet bleibt, obwohl der Rang des kontemplativen Lebens außerhalb des Aristotelismus durchaus kontrovers erörtert wurde.16 Wo das vollkommene Glück von Aristotelikern ausdrücklich erwähnt wird, wie etwa bei Francesco Piccolomini, kann es immer noch – ganz ähnlich wie bei Thomas – in einer vollkommenen Kontemplation verortet werden.17 Allerdings wird inzwischen deutlicher darauf hingewiesen, dass es sich hier um die Perspektive »unserer Theologen« handelt, sei es nun, dass man sie affirmativ aufgreift wie 15 

Zitiert nach der zweisprachigen Ausgabe der Summa Theologiae I-II q. 1–5 von Johannes Brachtendorf: Über das Glück. De Beatitudine (Hamburg 2012). 16  Z. B. bei Coluccio Salutati, vgl. Victoria Kahn: Coluccio Salutati on the Active and Contemplative Lives. In: Arbeit, Musse, Meditation: Studies in the Vita activa and Vita contemplativa, hg. von Brian Vickers (Zürich, ²1991) 153–179. 17  Francesco Piccolomini: Universa philosophia de moribus (Venedig ²1594) 429–431 (zuerst erschienen: Venedig 1583). Vgl. hierzu die englische Übersetzung von Jill Kraye: Cambridge Translations of Renaissance Philosophical Texts. Vol I: Moral Philosophy, ed. by Jill Kraye. (Cambridge 1997) 68–79, bes. 71–74.

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Francesco Piccolomini,18 oder als für die Aristoteles-Interpretation nicht wirklich einschlägig zur Seite schiebt wie Donato Acciaiuoli.19 Beide Vorgehensweisen schaffen einen gewissen Spielraum, um ohne ausdrückliche Kritik des scholastischen Schemas einerseits das Eigenrecht der vita activa stärker in den Vordergrund zu rücken und andererseits die enge Verbindung der vita contemplativa mit einer klerikalen oder monastischen Lebensform durch eine gewisse Resäkularisierung zu lockern.20 Beide Aspekte sind schon bei Bruni anzutreffen, obwohl seine knappe Einführung in die Moralphilosophie (Isagogicon moralis disciplinae) nicht ausführlicher auf sie eingeht. Was die Resäkularisierung des kontemplativen Lebens betrifft, liegt die ganze Pointe eigentlich schon darin, dass Bruni anders als Thomas nicht davon spricht, das letzte und vollkommene Glück der Kontemplation könne nur in einer »Schau des göttlichen Wesens« (S.th. I-II, q.3, a.2) bestehen. Vielmehr hält er sich hier zunächst eng an die Aristotelische Erläuterung der Weisheit, wonach sie sowohl über vernünftige Einsicht (intelligentia) verfügt als auch über Wissen bzw. Wissenschaft (scientia). Schon Aristoteles bestimmt sophia als eine Verbindung von nous und epistêmê, wobei sich der nous auf die Erfassung der Prinzipien bezieht und die epistêmê auf das, was aus den Prinzipien folgt (EN VI 7, 1141b2 f.). Und Bruni zitiert dies fast wörtlich, freilich ohne den Zusammenhang von intelligentia und scientia genauer zu erläutern (39). Erstaunen mag dabei, dass er die Weisheit en passant auch als Kenntnis der göttlichen und menschlichen Dinge (rerum divinarum humanarumque cognitio) bestimmt. Er hält dies für gerechtfertigt, weil er die Differenz von göttlichen und menschlichen Dingen mit der Differenz von Prinzipien und Prinzipiaten gleichsetzt. Aber eine solche Gleichsetzung wird man für die Nikomachische Ethik kaum annehmen dürfen, sagt Aristoteles hier doch, Gegenstand der sophia sei (ausschließlich) das seiner Natur nach Ehrwürdigste (timiôtata têi physei). Und das ›Ehrwürdigste‹ meint dabei das Göttliche, das vom Menschlichen als eigentlicher Gegenstand theoretischer Erkenntnis unterschieden werden muss. Als Grundlage dient Aristoteles eine Auffassung, die Bruni selbst anführt: Weisheit bezieht sich (wie die Wissenschaft) auf das notwendig Seiende, das niemals anders sein kann – und eben deshalb auch theoretische Erkenntnisse im strikten Sinne zulässt –, nicht aber auf die veränderlichen Verhältnisse der Praxis, für die primär nur eine überlegende Klugheit zuständig sein kann (EN VI 2–9).21 Nach Aristoteles geht es der Weisheit also nur um göttliche Dinge, weil sie die 18 

Ebd. 401, 433 f. Donato Acciaiuoli: Expositio libri Ethicorum Aristotelis (Lyon 1560) 868 (zuerst erschienen: Florenz 1478). Vgl. auch hierzu die Übersetzung von J. Kraye, a. a.O. [Anm. 15] 47–58, 48. 20  Vgl. Paul Oskar Kristeller: The Active and the Contemplative Life in Renaissance Humanism, In: Arbeit, Musse, Meditation: Studies in the Vita activa and Vita contemplativa, hg. von Brian Vickers (Zürich ²1991) 133–152, 139. 21  Natürlich ist auch die Praxis für Aristoteles theoriefähig, dies aber doch nur im eingeschränkten Sinne einer Wissenschaft, die allgemeine Begriffe ›im Umriss‹ bestimmt, letztlich auf die Anwendung im Handeln zielt und dabei von Klugheit und Erfahrung abhängt (EN I 1). 19 

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höchste Ebene der Erkenntnis erreicht und menschliche Dinge auf einer niedrigeren ontologischen und epistemologischen Ebene stehen. Dies zeigt nicht nur EN X 7–9, wo besonders viel vom Göttlichen die Rede ist, sondern auch die eben erwähnte Passage in EN VI 7, auf die sich Brunis Darstellung bezieht. Aristoteles betont hier nämlich ebenfalls mit Nachdruck, der Mensch sei nicht das Beste, was es im Kosmos gebe (1141a21 f.), bevor er sagt, die Einsicht und Wissenschaft der Weisheit beziehe sich auf das Ehrwürdigste (1141b2 f.). Wenn Bruni die Weisheit auf göttliche und menschliche Dinge bezieht, entfernt er sich also vom Aristotelischen Vorbild und greift auf ein umfassenderes Weisheitsverständnis zurück, wie es sich in der Stoa findet. Hier an Stoische Vorbilder, vor allem an den viel gelesenen Cicero,22 zu denken, liegt schon deshalb nahe, weil Bruni zu Beginn seiner Abhandlung nachzuweisen versucht, dass sich die philosophischen Schulen der Antike in Bezug auf das gute Leben nicht grundsätzlich widersprechen (27 f.). Und dabei geht es vor allem um die Übereinstimmung von Peripatetikern (bzw. Aristotelikern) und Stoikern. Wie Bruni einsichtig zu machen versucht, stimmen beide Schulen darin überein, dass die Tugend für das gute Leben maßgeblich ist. Der Unterschied liege eigentlich nur darin, dass Stoiker gar keinen Einfluss des Zufalls auf das gute Leben einräumten und Peripatetiker einen geringen. Aus Brunis Sicht fällt dies nicht allzu sehr ins Gewicht, weil es ihm weniger um die theoretische Begründung der Ethik geht als um ihre praktische Anwendung (21). In Bezug auf diese Anwendungsperspektive scheint ihm sogar der Hedonismus mit tugendethischen Ansätzen kompatibel zu sein, solange die Lust nicht isoliert und gegen das Gute ausgespielt wird, weil das gute Leben schon nach Aristoteles – wie Bruni ganz richtig sieht – mit Lust verbunden sein muss (28). Betrachtet man diese Harmonisierungsbemühung aus der Perspektive wissenschaftlicher Begriffsbildung, Argumentation und Erklärung, muss sie unbefriedigend erscheinen. Das heißt aber noch lange nicht, dass sie für die favorisierte Anwendungsperspektive kein Recht besitzen könnte. Ich verweise auf den skizzierten Hintergrund nur, um verständlich zu machen, warum Bruni Aristotelisches und Stoisches am Ende seiner Schrift so kommentarlos verbinden kann, wie sich dies für das Weisheitsverständnis feststellen lässt. Es ist keineswegs der Fall, dass er klare Unterschiede einfach nicht gesehen hätte. Im Blick auf die Anwendungsperspektive meint er vielmehr gute Gründe zu haben, wenn er empfiehlt, manche konzeptionellen Unterschiede nicht allzu wichtig zu nehmen. Dies zeigt sich auch daran, dass er Unterschiede zwischen dem Aristotelischen und dem Stoischen Ansatz durchaus betont, wo sich seiner Ansicht nach für die Anwendung wichtige Konsequenzen ergeben. So verteidigt er die Aristotelische Tugend der Sanftmütigkeit (praotês) gegen ihre Stoischen 22  Eckhard Keßler verweist in seiner Übersetzung des Isagogicon auf Cicero: Tusc. Disp., IV, 26, 57. Vgl. Ethik des Nützlichen. Texte zur Moralphilosophie im italienischen Humanismus, hg. von Sabrina Ebbersmeyer, Eckhard Keßler und Martin Schmeisser (München 2007) 112–145, 143.

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Kritiker, weil er meint, dass sich Zorn in manchen Situationen als lobenswert erweisen und mit Tugend verbinden kann. Halten wir also fest, dass Bruni für Differenzen zwischen Aristoteles und der Stoa keineswegs blind ist, sondern ihre Ansätze nur zu harmonisieren versucht, wo ihm dies für die praktische Anwendung gerechtfertigt erscheint. Die Aristotelische Konzeption der Weisheit stellt hierbei einen Grenzfall dar, weil sie als vollendete Tätigkeit des Menschen einerseits mit in die praktische Philosophie gehört, andererseits jedoch auf theoretischem Denken beruht und den Bereich des Handelns transzendiert. Es sieht so aus, als würde sich Bruni für diese theoretische Seite der Aristotelischen Konzeption nicht sehr interessieren. Jedenfalls geht er nicht ausführlicher auf sie ein. Das Eigenrecht der vita activa gegenüber der vita contemplativa bringt er dagegen betont zum Ausdruck: »Da es nun aber, wie wir gesagt haben, mehrere Tugenden gibt, steht es fest, dass einige von ihnen geeigneter sind für das Leben der Muße (ad otiosam vitam), das auf der Betrachtung beruht (in contemplatione repositam), andere für das geschäftige und bürgerliche Leben (negotiosam et civilem). Weisheit nämlich und Wissen und Einsicht nähren das kontemplative Leben, die Klugheit aber herrscht in jedem Handeln. Beide Lebensweisen haben ihr eigenes Lob und ihre eigenen Vorzüge (laudes commendationesque proprias). Das kontemplative Leben ist ganz offensichtlich göttlicher und seltener (divinior atque rarior), das aktive Leben aber zeichnet sich durch die allgemeine Nützlichkeit aus (in communi utilitate praestantior). Alles was wir daher – im privaten oder öffentlichen Leben (vel in privata vel in publica re) – mit Auszeichnung und mit Lob tun (excellenter et cum laude agimus), alles was wir zu unserem eigenen Nutzen oder zum Nutzen des Vaterlandes oder der lieben Menschen tun, das stammt von der Klugheit und den Tugenden, die mit der Klugheit verbunden sind.« (39 f.)23 Wie schon Kristeller zu Recht betont, stellt Bruni das aktive Leben hier sicher nicht bedingungslos über das kontemplative, sondern weist nur darauf hin, dass es nützlicher ist, während das andere Leben ebenso – »ganz offensichtlich« (plane) – göttlicher und seltener sein soll.24 Das Verhältnis zwischen Nützlichem und Göttlichem bleibt dabei ungeklärt. Auch sonst bietet der Text wenig, was hierfür hilfreich sein könnte. Allerdings ergänzt Bruni die zitierte Einschätzung direkt im Anschluss so, dass die besondere Bedeutung der Klugheit noch mehr in den Vordergrund gerückt wird. Obwohl er auch hier nicht ausdrücklich vom Verhältnis der beiden Lebensformen spricht, scheint es doch naheliegend, einen Zusammenhang herzustellen. In ihrem interessanten Buch zur frühhumanistischen Moralphilosophie vertritt Sabrina Ebbersmeyer sogar die Auffassung, dass

23  Zitiert nach der Übersetzung von Eckhard Keßler, ebd. 143. Der Band enthält auch den lateinischen Text der kritischen Ausgabe: L. Bruni Aretino, a. a.O. [Anm. 1] 20–41. 24  Vgl. P. O. Kristeller: The Active and the Contemplative Life in Renaissance Humanism, a. a.O. [Anm. 20] 143.

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Bruni an dieser Stelle die traditionelle Wertung der Tugenden verschiebe.25 Wie sie einsichtig zu machen versucht, geht es ihm keineswegs nur darum, das Eigenrecht der vita activa gegenüber der vita contemplativa herauszuarbeiten. Nachdem er an der bereits zitierten Stelle eine Gleichwertigkeit der Lebensformen festgestellt habe, weil beide »ihr eigenes Lob und ihre eigenen Vorzüge [besitzen]«, gehe Bruni im Anschluss daran einen deutlichen Schritt weiter. Denn hier sei für ihn nicht mehr die Weisheit die »wichtigste intellektuelle Tugend«, wenn es um das gute Leben geht, sondern die Klugheit. Und mit dieser Aufwertung der Klugheit gehe auch eine Aufwertung der aktiven Lebensform einher. Sehen wir uns diese zweite Stelle also ebenfalls etwas genauer an: »Aber eines muss man vor allem erkennen: wenn ein Mann nicht gut ist, dann kann er nimmermehr klug sein. Denn die Klugheit ist das richtige Urteilen über die Nützlichkeit (vera existimatio circa utilitatem). Das wahre Urteilen aber ist unverdorben (incorrupta). Die Dinge aber können so, wie sie in Wirklichkeit sind, nur dem guten Mann erscheinen. Das Urteil der unmoralischen Menschen dagegen ist dem Geschmack der Kranken vergleichbar, die beinahe von keiner Sache den wahren Geschmack erkennen. Daher gibt es nichts, dem die Laster der Sitten so schaden wie der Klugheit (Itaque nihil est omnium, cui magis officiant vitia morum quam prudentiae). Ein verbrecherischer und lasterhafter Mensch nämlich wird die wahren mathematischen Beweise und die Erkenntnisse der Physik durchaus bewahren, für die Werke der Klugheit aber ist er schlechthin blind, und das Licht der Wahrheit verliert er bei der Klugheit allein.« (40) Worauf Bruni hier zuerst verweist, ist ein Zusammenhang, der schon bei Aris­ toteles an prominenter Stelle betont wird: Es gibt keine Klugheit ohne ethische Tugenden. »Denn die Tugend macht, dass das Ziel (skopos) richtig wird, und die Klugheit, dass der Weg dazu (ta pros touton) richtig wird« (EN VI 13, 1144a7 f.). Die Schlechtigkeit dagegen verführt und bringt den Handelnden dazu, sich an falschen Zielen zu orientieren. »Also ist klar, dass man nicht klug sein kann, wenn man nicht tugendhaft ist« (EN VI 13, 1144a36 f.). Auch der zweite Punkt ist aus Aristotelischer Sicht nachvollziehbar: Ein Mathematiker oder Physiker muss nicht über ethische Tugend verfügen, weil es hier nur auf Wissen ankommt, weshalb der Verlust der Tugend die wissenschaftliche Kompetenz auch nicht zu trüben vermag. Aristoteles macht jedenfalls eine ganz ähnliche Differenz für die aretê und die technê geltend (EN II 3, 1105a26–33). Was daraus für die Weisheit folgt, ist aber alles andere als klar, weil ihr Sonderstatus als Vollendung von Theorie und Praxis gar nicht zum Ausdruck gebracht wird, wenn man statt vom Weisen vom Mathematiker und Physiker spricht. Mathematik und Physik gehören natürlich zu den theoretischen Wissenschaften, doch Weisheit ist weder irgendeine einzelne unter diesen noch ihre Gesamtheit. Vielmehr steht sie 25 

Sabrina Ebbersmeyer: Homo agens. Studien zur Genese und Struktur frühhumanistischer Moralphilosophie (Berlin/New York 2010) 179 u. 184.

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als »erste Philosophie«, die die ersten Prinzipien und Ursachen alles Seienden als solchen betrachtet, über den anderen theoretischen Disziplinen (Met. I 1–2; IV 1;VI 1). Außerdem muss Weisheit für Aristoteles mehr sein als eine rein theo­ retische Disziplin, weil sonst nicht verständlich wäre, wie sie in der praktischen Philosophie der Klugheit überlegen sein und eudaimonia »hervorbingen« kann (EN VI 1143b32 f.; 1144a3 f.; 1145a6–10). Blickt man auf das zehnte Buch der Nikomachischen Ethik, wird vollends unverständlich, wie es nach Aristoteles möglich sein sollte, ein Weiser zu sein, ohne über ethische Tugenden und Klugheit zu verfügen. Denn, wie Aristoteles dort betont, wird der Weise, sofern er mit anderen Menschen zusammenlebt, »wählen, gemäß den [ethischen] Tugenden zu handeln« (hairetai ta kata tên aretên prattein: X 8, 1178b2). Vielleicht kann die Weisheit, versteht man sie als theoretisches Denken, nach Aristoteles allein nicht gewährleisten, dass diese Wahl gelingt. Und wenn dies so ist, würde sie ethische Tugend und Klugheit als ergänzende Fundamente voraussetzen. Vor dem Hintergrund unserer vorangegangenen Überlegungen dürfte aber klar sein, dass eine rein theoretische Weisheit ohne ethische Basis keine vollendete eudaimonia ermöglichen könnte. Weisheit als Vollendung des guten Lebens benötigt – wenigstens bei Menschen – eine weniger vollkommene ›Basisvariante‹, die ohne ethische Tugend und Klugheit unmöglich ist. Wie hat Bruni dies eingeschätzt? Meines Erachtens ist das kaum zu entscheiden, weil er den Bezug zur Weisheit – anders als Ebbersmeyer unterstellt – nicht ausdrücklich herstellt. Ob er die Möglichkeit eines unmoralischen Mathematikers oder Physikers als Möglichkeit eines unmoralischen Weisen betrachtet, lässt der Text einfach offen. Und selbst wenn dies so wäre, bliebe zu fragen, wie er den Status einer solchen Weisheit verstünde. Im Rückgriff auf Aristoteles würde es jedenfalls naheliegen, eine Weisheit, die ohne Unterstützung ethischer Tugenden auskommen muss, nicht als ihre Vollgestalt zu betrachten. Dies ist schon deshalb so, weil die teleia eudaimonia, die im theoretischen Leben verwirklicht werden soll, in einem solchen Fall durch praktische Defizite gefährdet wäre. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass die Tätigkeit des Besten in uns, als kontinuierlichste, lustvollste, autarkste, am meisten um ihrer selbst willen geliebte und am meisten in der Muße liegende Tätigkeit, wirklich ausgeübt werden könnte, wenn der Denkende dabei den Irritationen fehlgeleiteter Affekte ausgesetzt bliebe (EN X 7). Wer von übermächtigen Begierden heimgesucht wird, dürfte vielmehr große Probleme damit haben, sich dem Genuss des reinen Denkens hinzugeben. Zugegebenermaßen sagt Aristoteles in EN X kaum etwas Greifbares zu diesem problematischen Innenverhältnis, sondern betont vor allem, dass der Weise ethische Tugenden benötigt, um mit seinen Mitmenschen auszukommen. Allerdings räumt er durchaus ein, dass wir – anders als Götter – keine reinen Vernunftwesen sind, weshalb wir auch in unserem theoretischen Denken nur ein Leben führen können, das dem ihren ähnlich ist, ohne es doch ganz zu erreichen (EN X 8, 1178b25–27). Für Götter mag es dabei ein »plumpes Lob« sein, wenn man sagt, dass sie keine schlechten Begierden haben, weil auch gute Begierden (gemäß der

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Tugend) ihrer Natur unangemessen erscheinen (EN X 8, 1178b16–18). Doch bei uns ist dies anders, weil sich unsere Natur »zum Betrachten nicht genügt« (ou autarkês […] pros to theôrein). Wir benötigen auch leibliche Gesundheit, Nahrung, die zur Ausübung der Tugend erforderlichen Mittel und den angemessenen, weil tugendhaften Umgang mit diesen (EN X 9, 1178b33–1179a9). Dies schließt übrigens keineswegs aus, dass die ethische Basis für die teleia eudaimonia nicht von der Weisheit selbst bereitgestellt wird, sondern durch die ethische Tugend bzw. die mit ihr verbundene Klugheit. In dieser Hinsicht lässt sich Brunis Betonung ihrer Nützlichkeit durchaus mit Aristoteles rechtfertigen. Problematisch wäre es nur, wenn Bruni versuchen würde, diese Nützlichkeit der Klugheit gegen die Göttlichkeit der Weisheit auszuspielen, worauf es im Isagogicon aber keine klaren Hinweise gibt.

IV.  Das Stufenmodell der eudaimonia bei Acciaiuoli Damit komme ich nun zu Donato Acciaiuoli, der in seinem 1464 geschriebenen und 1478 erstmals gedruckten Ethik-Kommentar Expositio super libros Ethicorum das Verhältnis der beiden Lebensformen ungleich differenzierter erläutert. Die immer wieder diskutierte Frage, wie humanistisch dieser bis ans Ende des 16. Jahrhunderts einflussreiche, fast zwanzig Mal nachgedruckte Kommentar ist, lasse ich außer Acht. Dasselbe gilt für die Frage, inwiefern es sich hier überhaupt um Acciaiuolis Kommentar handelt, die damit zu tun hat, dass er sich vermutlich weitgehend an den Florentiner Vorlesungen des byzantinischen Emigranten Johannes Argyropoulos orientiert.26 Stattdessen beschränke ich mich auf seine Erläuterung des Verhältnisses der beiden Lebensformen, wie es sich im Kommentar zum siebten Kapitel des zehnten Buchs greifen lässt. Und auch dabei verweise ich nur auf drei Gesichtspunkte, die mir besonders interessant erscheinen: Erstens bemüht sich Acciaiuoli erkennbar darum, die Superiorität des kontemplativen Lebens nicht in eine Exklusivität seines Glücksanspruchs umschlagen zu lassen. Zweitens versucht er verständlich zu machen, wie der übergeordnete Status der Kontemplation damit zu vereinbaren ist, dass auch Handlungen bzw. ethische Tugenden um ihrer selbst willen angestrebt werden können. Und drittens bietet er eine ausgefeilte Erläuterung dafür, warum Aris­toteles einerseits sagt, das kontemplative Leben gehe über das hinaus, was dem »Menschen als Menschen« zukomme, während er andererseits doch betont, dass uns dieses Leben »von Natur eigentümlich« sei. Was den ersten Punkt betrifft, so ist durchgängig klar, dass uns Acciaiuoli keinen strikten Exklusivismus nahezubringen versucht. Stattdessen entwickelt er ein Stufenmodell, in dem das kontemplative Leben zwar die höchste eudaimo26 Vgl.

Luca Bianchi: Un commento ›umanistico‹ ad Aristotele. L’»Expositio super libros Ethicorum« di Donato Acciaiuoli. In: Rinascimento 30 (1990) 29–55, 33 f.

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nia, aber keineswegs die einzige liefert. In seiner textnahen Darstellung erläutert er sechs Gründe, die nach Aristoteles dafür sprechen, die kontemplative oder spekulative felicitas als höchste zu begreifen (869–871). Demnach handelt es sich hier um die vollkommenste Tätigkeit (perfectissima operatio), weil sie einerseits auf unserem vollkommensten Vermögen (perfectissima potentia) beruht und sich andererseits auf den vollkommensten Gegenstand (perfectissimum obiectum) bezieht. Da die Vernunft unter unseren seelischen Vermögen am wenigsten von erschöpfbaren körperlichen Organen (instrumenta corporea) abhängt, ist diese Tätigkeit am wenigsten der Erschöpfung oder Ermüdung (defatigatio) unterworfen und insofern die kontinuierlichste (maxime continua). Außerdem kann sie als lustvollste (maxime iocunda) betrachtet werden, weil sie in ihrer weitgehenden Trennung von materialen Bedingungen am reinsten (maxime pura) ist, einen höheren Grad von Sicherheit (certitudo) erreicht und diejenigen, die sie ausüben, – anders als jene, die praktische Aufgaben zu bewältigen haben – schon wissen (sciunt) und nicht nur nach Wissen streben bzw. fragen (quaerunt). Dabei ist die kontemplative Tätigkeit auch am meisten autark (sufficientissima), benötigt man in ihr äußere Güter und andere Menschen doch weniger als im praktischen Leben. Sie wird am meisten um ihrer selbst willen angestrebt (propter se maxime experibilis), weil durch eine Handlung etwas jenseits ihrer selbst erreicht zu werden scheint. Und schließlich ist sie die Tätigkeit, die am meisten in der Muße und der Ruhe besteht (quae consistit maxime in otio et quiete), während praktische Tätigkeiten besonders mit kriegerischen und politischen Angelegenheiten zu tun haben. – Dass Acciaiuoli keinen strikten Exklusivismus propagiert, zeigt sich nicht nur an seiner durchgängig komparativen Erläuterung der Glücksstufen, sondern auch an seiner Berücksichtigung der zeitlichen Dimension des guten Lebens. Er betont zwar, dass das vollkommene menschliche Glück (humana felicitas perfecta) nichts anderes ist als eine kontemplative Tätigkeit. Aber, wie er richtig sieht, bezieht sich diese für Aristoteles – nicht anders als die Bestimmung aus EN I 6 – auf die zeitliche Dauer und Länge eines perfekten Lebens (mensuram temporis & longitudinem vitae perfectam). Man muss sich deshalb über eine längere Zeit hinweg um seine Vervollkommnung bemühen – was nach Acciaiuoli, wie wir noch genauer sehen werden, auch eine ethische Vervollkommnung beinhaltet – und selbst dann, wenn diese erreicht ist, weiter tätig bleiben (873, 67). Kommen wir also zum zweiten Punkt, der größere Schwierigkeiten bereitet. Wie sich der übergeordnete Status der Kontemplation damit vereinbaren lässt, dass auch Handlungen, und nicht etwa nur Betrachtungen, um ihrer selbst willen angestrebt werden können, ist eine wichtige Frage für das Verständnis der Aris­ totelischen eudaimonia. Wäre dies nicht verständlich zu machen, müsste man mit den Inklusivisten befürchten, dass eine Bezugnahme auf die Kontemplation, die sie im strengen Sinne als höchstes Gut geltend macht, die ethische Tugend durchgängig instrumentalisieren und den Glücksstatus des aktiven Lebens gefährden würde. Was sagt Acciaiuoli dazu? Er macht, wie ich finde, vollkommen

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zu Recht geltend, dass nach Aristoteles durch »eine Handlung etwas jenseits ihrer selbst erreicht zu werden scheint« (actioni acquiri videtur aliquid praeter ipsam), sei es nun »mehr oder weniger« (aut plus aut minus, 871, 64). Dies sagt auch der Aristotelische Text. Während uns die theoretische Tätigkeit nichts bietet »außer dem Betrachten« (para to theȏrêsai), haben wir von der praktischen Tätigkeit noch »einen kleineren oder größeren Gewinn außer der Handlung« (ê pleion ê elatton peripoioumetha: EN X 7, 1377 2–4). Muss man hier auf inklusivistischen Pfaden befürchten, dass mit einem solchen peripoiein die Differenz von Praxis und Poiesis unterlaufen wird? Mir scheint, eine solche Befürchtung wäre unbegründet, weil Aristoteles keineswegs sagt, dass Handlungen auf diese poietische oder effiziente Dimension zu reduzieren sind. Und genauso wenig tut dies Acciaiuoli. Vielmehr macht er mit Aristoteles lediglich geltend, dass praktische Tätigkeiten – anders als kontemplative – »nicht nur [Hervorhebung W. M.] um ihrer selbst willen ausgeführt zu werden scheinen« (non videntur merae propter se: 871, 64). Damit ist vorausgesetzt, dass zumindest manche Handlungen auch um ihrer selbst willen ausgeführt bzw. dass ihre Ziele um ihrer selbst willen gewählt werden können. Und dies scheint auch erforderlich zu sein, wenn im aktiven Leben überhaupt eine Form von eudaimonia realisierbar sein soll. Wie wir bereits gesehen haben, kann man zwar einräumen, dass auch diese hochrangigen Ziele wie Lust, Ehre, Tugend und Vernunft noch auf das höchste Gut der eudaimonia zu beziehen sind. Aber mit einem Glück des aktiven Lebens vereinbar ist dies nur, wenn dabei nicht nur eine Bezugnahme auf die Kontemplation gemäß der Weisheit, d. h. auf das Ziel der teleia eudaimonia, infrage kommt. Es muss vielmehr möglich sein, sich auch im praktischen Kontext selbst auf eudaimonia zu beziehen, indem man eine praktische Tätigkeit gemäß der ethischen aretê anstrebt. Dazu müssen Ziele wie Lust, Ehre, Tugend und Vernunft nicht nur um ihrer selbst willen angestrebt werden können, sondern die praktische Tätigkeit gemäß der ethischen aretê, also die Basisstufe der eudaimonia, muss für sich genommen ebenfalls um ihrer selbst willen angestrebt werden, und zwar immer und grundsätzlich, wenn eudaimonia im Bereich des Handelns überhaupt zu verwirklichen sein soll (EN I 5). Dass Acciaiuoli dies genauso sieht, wird an einer späteren Stelle noch deutlicher. Wie er hier betont, ist die Theorie (speculatio) nur dann als Ziel von Handlungen zu betrachten, wenn man die praktische Tätigkeit mit der theoretischen vergleicht. Untersucht man die praktische Tätigkeit dagegen »für sich in ihrer eigenen Gattung« (seorsum in genere suo), ist ihr höchstes Ziel eine »Tätigkeit gemäß der Klugheit« (operatio secundu prudetia: 871, 66). Aus Sicht der Weisheit lässt sich dieser Zusammenhang bestätigen. Wie wir ebenfalls schon gesehen haben, muss nämlich angenommen werden, dass theoretisches Glück nach Aristoteles, anders als Exklusivisten behaupten, praktisches Glück im Sinne der skizzierten ›Basisvariante‹ voraussetzt. Und dies könnte man mit Acciaiuoli wohl auch folgendermaßen zum Ausdruck bringen: Erst wenn man das höchste Ziel des praktischen Lebens ›erreicht‹ bzw. die hierfür grundlegende Habitualisierung der ethischen Tugend abgeschlossen

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hat,27 kann man sinnvollerweise danach fragen, ob der gesamte Bereich des Handelns auf ein noch höheres Ziel bezogen ist. Jedenfalls nimmt Acciaiuoli hier zweifellos verschiedene Stufen an und versucht diese im Sinne einer Abfolge zu erläutern. Politische Tätigkeiten sind demnach auf das aktive Glück gemäß der (ethischen) Tugend bezogen und diese ihrerseits auf das kontemplative Glück. So wäre es für Acciaiuoli ein Missverständnis, das politische Leben letztlich auf »Ehre oder Würde« (honor vel dignitate) zu beziehen. Wer ein politisches Leben führt, »scheint vielmehr sein eigenes Glück und das seiner Mitbürger anzustreben, nicht das politische, das er schon hat (quam habet), sondern das spekulative, auf das hin das aktive Glück selbst gleichsam als sein höchstes Ziel geordnet zu sein scheint« (871, 66). Dass hier eine teleologische Stufung der eudaimonia vertreten wird, liegt auf der Hand. Das aktive Glück ist, wie der Text sagt, letztlich auf das kontemplative ausgerichtet. Abgekürzt kann man deshalb politische Tätigkeiten – mit einem gewissen Recht – auch direkt auf das kontemplative Glück beziehen. Und Acciaiuoli tut genau dies, um mit Aristoteles »Ruhe und Muße« (quies et otium) als letzte Ziele des menschlichen Strebens in den Blick zu bringen. Die Zwischenstufe des aktiven Glücks ist deshalb aus seiner Sicht aber keineswegs überflüssig. Vielmehr sagt er an der zitierten Stelle ja ausdrücklich, dass derjenige, der nach Ruhe und Muße strebt, das politische Glück »schon hat«. Worum es geht, ist etwas anderes. Es geht um die Frage, inwiefern praktische Tätigkeiten letztlich immer über sich hinausweisen wie der Krieg, der um des Friedens willen geführt wird, oder wie die »geschäftige« (negotiosa) Politik, die ein Ziel jenseits ihrer selbst benötigt. Und dies schließt keineswegs aus, dass sie auch um ihrer selbst willen angestrebt werden können. In der sukzessiven Betrachtung, die Acciaiuoli anschließt, wird der Zusammenhang deutlicher: »Denn warum erwerben wir Tugenden? (cur enim aquirim virtutes?) Damit wir gemäß ihnen handeln können (ut operemur per illas).« Das ist die Stufe des aktiven Glücks. »Warum sonst noch? (quid deinde?) Damit wir in ruhevoller Muße kontemplieren können (ut quiescentes in otio contemplemur)« (871, 66). Eine solche Stufung von praktischem und kontemplativem Glück kann natürlich nur einleuchten, wenn es sich nicht um Lebensformen handelt, die einander grundsätzlich ausschließen und deshalb eine Entscheidung zugunsten der einen oder der anderen erfordern, sondern um kombinierbare Tätigkeitsformen, die in gewisser Weise zusammengehen müssen, um das menschliche Glücksstreben ins Ziel kommen zu lassen. Aber dies liegt ohnehin nahe. So scheint mir offenkundig 27 

Blickt man auf die zeitliche Erstreckung des guten Lebens, lässt sich das höchste Ziel des Handelns, solange man lebt, natürlich niemals abschließend erreichen. Trotzdem muss es, qualitativ betrachtet, in einzelnen Tätigkeiten zu erreichen sein, weil eudaimonia sonst keine Tätigkeit der Seele gemäß der aretê sein könnte. Dabei ist nach Aristoteles anzunehmen, dass mit einer erfolgreichen Charakterprägung durch ethische Tugenden die entscheidende Grundlage für das praktische oder politische Glück gelegt ist. Vgl. W. Mesch: Praktische Zeit und ethische Tugend. In: Glück-Tugend-Zeit, a. a.O. [Anm. 11] 95–116.

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zu sein. dass es hier nicht (oder doch nicht primär) um das Verhältnis zwischen dem Beruf des Politikers und dem Beruf des Philosophen geht, sondern um Tätigkeitsformen, die verschiedenen Stufen der menschlichen Natur entsprechen. Dies gilt nicht erst für die Diskussion der bioi in EN X 7–9, sondern schon für ihre Einführung in EN I 3. Das Genussleben befindet sich eindeutig auf der untersten Stufe, höher steht das politische Leben und für das theoretische Leben wird – angesichts von Defiziten der (ethischen) Tugend – eine noch höhere Stufe suggeriert, ohne zunächst klar formuliert zu sein. Im Hintergrund stehen, wie wir gesehen haben, schon hier verschiedene Teile der menschlichen Seele. Diese anthropologische oder psychologische Dimension der ethischen Lebensformen mag nicht gut dazu passen, dass sich das Wort ›bios‹ bei Aristoteles häufig auf Berufe oder Karieren bezieht, während Ausdrucksweisen des Lebens, die auf seelischen Fähigkeiten beruhen, umgekehrt eher mit dem Wort ›zoê‹ verbunden werden. Doch hier stellt Aristoteles eben andere Bezüge her. Dies räumt selbst David Keyt ein, der in einem vielbeachteten Aufsatz eigentlich zu zeigen versucht, warum die bioi der Nikomachischen Ethik keine kombinierbaren Lebensformen sein können. »The apolaustic life reflects man’s animal (or generic) nature; the political life, his human (or specific) nature; and the philosophical life, his divine nature.« Auf dieser Grundlage kommt er etwas überraschend dann doch zu einer Variante der Verbindungsthese: »A child by attaining rationality can rise above his animal nature and become permanently a man, but no man can permanently live the life of a god. The theoretical life does not supplant the practical and political; it crowns it.«28 Grundsätzlich ist das sicher richtig. Allerdings bleibt dabei unberücksichtigt, inwiefern bei einer solchen Krönung das »Göttliche in uns« als Teil unserer eigenen Natur gelten kann. Acciaiuoli hat dies zu erläutern versucht, was mir die Gelegenheit gibt, ein letztes Mal auf ihn zurückzukommen. Ich beziehe mich damit noch kurz auf die dritte der oben genannten Fragen, warum Aristoteles einerseits sagt, das kontemplative Leben gehe über das hinaus, was dem »Menschen als Menschen« zukommt, und andererseits, dieses Leben sei uns »von Natur eigentümlich«. Naheliegenderweise besteht Acciaiuolis Antwort darin, zwei Perspektiven auf den Menschen auseinander zu halten. Was durch die Kontemplation überschritten wird, muss nämlich etwas anderes sein als diese selbst. Das erste ist die conditio humana, die ihn »zuerst und unmittelbar« (primo et immediate) von anderen Lebewesen unterscheidet – wobei Acciaiuoli an die praktische Vernunft denkt, die uns im politischen Leben leitet und unser aktives Glück ermöglicht. Das zweite ist die theoretische Vernunft, die uns in die Nähe unsterblicher Wesen rückt, ohne über eine bloße Ähnlichkeit hinauszuführen (874, 69). Trotzdem muss die theoretische Vernunft letztlich als das bestimmendste Moment im Menschen (principalissimum in homine) aufgefasst werden. Denn sonst bliebe 28 

David Keyt: The Meaning of BIOΣ in Aristotle’s Ethics and Politics. In: Ancient Philosophy 9 (1989) 15–21, bes.18–20.

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unverständlich, wie hier die höchste Stufe unseres eigenen Glücks zu erreichen sein soll (878, 70). Wie mir scheint, leuchtet auch diese Unterscheidung zweier Ebenen der menschlichen Natur im Blick auf die Aristotelische Konzeption grundsätzlich ein, obwohl sie von Acciaiuoli mit einem wenig überzeugenden Unsterblichkeitsargument verbunden wird. Und es macht verständlich, warum Aristoteles einerseits davon ausgeht, dass sich selbst der Weise nicht ganz auf das Glück der Kontemplation zurückziehen darf, während es doch andererseits als das schlechthin höchste Ziel des Menschen gelten muss. Wie mir scheint, ist ein traditionelles Stufenmodell, wie wir es bei Acciaiuoli angetroffen haben – trotz aller Schwierigkeiten, die seine Ausarbeitung zweifellos bietet –, den heute verbreiteten inklusivistischen und exklusivistischen Modellen in wichtigen Belangen überlegen. Wenigstens gilt dies für den Vergleich mit ihren extremen Varianten, die eudaimonia entweder ausschließlich in die Theorie zu setzen oder mit der Gesamtheit aller Güter zu identifizieren versuchen. Selbstverständlich liefert Acciaiuoli auf der Grundlage der Vorlesung von Argyropoulos nur eine historische Anknüpfungsmöglichkeit unter sehr vielen. Ich habe diesen Autor auch deshalb gewählt, weil er – abgesehen von Renaissance-Spezialisten – heute kaum noch gelesen wird. Dabei wäre von ihm für zentrale Schwierigkeiten der Interpretation, mit der die Forschung heute noch ringt, durchaus etwas zu lernen.

Jörn Müller

Der Kommentar zur N ikomachischen Ethik von Johannes Versor († 1485) Ein Beitrag zur Thomistischen Schulbildung

Johannes Versor (Jean le Tourneur) war ein dem Weltklerus angehörender Magister in der Artes-Fakultät der Universität Paris, der später auch noch den Doktortitel in der Theologie erwarb und 1458 Rektor wurde. In der älteren Forschung wurde trotz fehlender eindeutiger Belege in den Universitätsakten davon ausgegangen, dass er später auch noch in Köln gelehrt hat, wohl vor allem deshalb, weil seine Werke gegen Ende des 15. Jahrhunderts bei Heinrich Quentell in Köln gedruckt wurden.1 Dieser Kölner Aufenthalt gilt allerdings mittlerweile als unwahrscheinlich. Gestorben ist er vermutlich 1485, auf jeden Fall nach 1482.2 Von Johannes Versor ist uns eine größere Zahl von Aristoteles-Kommentaren überliefert, die nicht zuletzt dank der schon erwähnten Wiegendrucke einen starken Einfluss auf die Aristoteles-Auslegung an den zentraleuropäischen Universitäten im späten 15. und frühen 16. Jahrhundert ausübten, und zwar nicht nur in Paris und Köln, sondern nachweislich z. B. auch in Krakau und Prag.3 Sein Kommentar zur Nikomachischen Ethik (ab hier: NE) wurde sogar noch im 15. Jahrhundert ins Hebräische übersetzt.4 Zu seiner Zeit und in den unmittelbar

1 Vgl.

Martin Grabmann: Die mittelalterlichen Kommentare zur Politik des Aristoteles, Sitzungs­ berichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Abteilung, Jahrgang 1941. Bd. 2. Heft 10, 68, der aber schon darauf hinweist, dass Versor in Handschriften aus verschiedenen Zeiten durchgängig als »Parisiensis« bezeichnet wird (und in keinem Fall als »Coloniensis« o. ä.). 2  Einen griffigen Überblick zu Leben und Werk Versors bietet Egbert P. Bos: John Versor’s Albertism in his Commentaries on Porphyry and the Categories. In: Chemins de la pensée médiévale. Études offertes à Zénon Kaluza (Textes et études du Moyen âge, 20), publ. par Paul J.J.M. Bakker (Turnhout 2002) 47–78, hier: 50–53. 3  Zur großen Zahl von Inkunabeln und Handschriften vgl. Charles Lohr: Medieval Latin Aristotle Commentaries. Authors: Johannes de Kanthi – Myngodus. In: Traditio 27 (1971) 251– 351, hier: 290–299, Olga Weijers: Le travail intellectuel à la Faculté des arts de Paris: textes et maîtres (ca. 1200–1500). V. Répertoire des noms commençant par J (Turnhout 2003) 170–176, sowie Christoph Flüeler: Die verschiedenen literarischen Gattungen der Aristoteleskommentare: Zur Terminologie der Überschriften und Kolophone. In: Manuels, programmes de course et techniques dans les universités médiévales, publ. par Jacqueline Hamesse (Louvain-la-Neuve 1994) 75–116, hier: 80–84; Flüeler verweist auf 180 ihm bekannte Handschriften mit Werken, die Johannes Versor zugeschrieben werden. 4  Diese Übersetzung erfolgte wohl zwischen 1465 und 1477 durch Eli ben Yosef Habillo. Vgl. David A. Lines: Aristotle’s Ethics in the Italian Renaissance (ca. 1300–1650). The Universities and the Problem of Moral Education. (Education and Society in the Middle Ages and Renaissance, 13) (Leiden/Boston/Köln 2002) 45. Archiv für Begriffsgeschichte · Sonderheft 12 · © Felix Meiner Verlag 2016 · ISBN 978-3-7873-2525-2

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nachfolgenden Generationen galt er also als eine veritable Autorität in Sachen Aristoteles.5 Unabhängig von dieser unbestrittenen rezeptionsgeschichtlichen Bedeutung in der Renaissance bzw. der frühen Neuzeit hat sein Kommentarwerk bei den späteren Philosophiehistorikern jedoch ein eher gemischtes Echo hervorgerufen: Während Carl Prantl in seiner Geschichte der Logik ihn als einen »trockenen und langweiligen Erklärer« scheltet, der bloß in uninspirierter Weise Thomas von Aquin nachbetet,6 sah Martin Grabmann in Versors Aristoteles-Kommentaren »Inhaltsfülle und Klarheit«7 am Werk und bescheinigt ihnen sogar, dass sie »großes Wissen und großen Scharfsinn bekunden und tief in die Aristotelische Gedankenwelt eindringen«.8 In der jüngeren Forschung ist v.a. seine Logik und die darin artikulierte Universalien-Lehre zum Gegenstand einiger wissenschaftlicher Kontroversen geworden. Dabei ging es primär um die Frage, ob Versor nun im Rahmen der Schulbildung der spätmittelalterlichen Universitäten dem Thomismus,9 dem Albertismus,10 beiden11 oder keinem von beiden12 zuzurechnen ist. Seine Ethik, wie sich in seinem Quaestionen-Kommentar zur Aristotelischen NE findet, ist in diesem Zusammenhang bisher allerdings noch kaum beachtet bzw. untersucht worden. Diesen Kommentar möchte ich im Folgenden brennglasartig in den Blick nehmen, und zwar an einer Art Testfall, nämlich der Behandlung der Unbeherrschtheit (grch. akrasia, lat. incontinentia) im siebten Buch. Wie neuere Forschungen  5 Vgl.

E. P. Bos: Versor’s Albertism, a. a.O. [Anm. 2] 53. Zu Versors zeitlich begrenztem Einfluss vgl. auch Charles B. Schmitt: Aristotle and the Renaissance (Cambridge/Mass. 1983) 46 f. und 147 f.  6 Vgl. Carl Prantl: Geschichte der Logik im Abendlande. Bd. 4 (repr. Berlin 1955) 220 f. Weitere negative Urteile zu Versor sind versammelt bei Pepijn Rutten: »Secundum processum et mentem Versoris«: John Versor and His Relation to the Schools of Thought Reconsidered. In: Vivarium 43 (2005) 292–336, hier: 298.  7  M. Grabmann: Mittelalterliches Geistesleben. Abhandlungen zur Geschichte der Scholas­ tik und Mystik. Bd. 3 (München 1956) 230.  8  M. Grabmann: Kommentare, a. a.O. [Anm. 1] 68.  9  So lautet die lange unbestrittene Standardeinschätzung, etwa bei C. Prantl: Geschichte der Logik, a. a.O. [Anm. 6] 200 (»der entschiedene Thomist Versor«); M. Grabmann: Geistes­ leben, a. a.O. [Anm. 7] 230; René Anthoine Gauthier: Introduction. In: L’Éthique a Nicomaque. Introduction, traduction et commentaire, hg. von R. A. Gauthier und Jean Yves Jolif. Bd. I.1 (Paris/Louvain2 1970) 140 (»bien connu pour sa fidelité thomiste«) und Jill Kraye: Classical Traditions in Renaissance Philosophy (Aldershot 2002) 192 (»fifteenth-century Parisian Thomist«). Einen guten Überblick über die Debatte zur Schulzugehörigkeit Versors bietet P. Rutten: Secundum processum, a. a.O. [Anm. 6] bes. 292–300. 10  Vgl. E. P. Bos: Versor’s Albertism, a. a.O. [Anm. 2]. 11 Vgl. C. Lohr: Aristotle Commentaries, a. a.O. [Anm. 3] 290 (»Thomist, ›sed Albertizabat‹«); O. Weijers: Le travail intellectuel, a. a.O. [Anm. 3] 170; Feliks Krause: La structure ontique des substances séparées chez Jean Versor. In: Historia philosophiae medii aevi. Studien zur Geschichte der Philosophie des Mittelalters (FS Kurt Flasch), hg. von Burkhard Mojsisch. Bd. 1 (Amsterdam/Philadelphia 1991) 489–520, hier: 519 f. 12  Vgl. P. Rutten: Secundum processum, a. a.O. [Anm. 6], der Versor eher als Autorität sui generis außerhalb von Thomismus und Albertismus zu profilieren versucht.

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gezeigt haben, scheiden sich gerade an der Interpretation dieses Phänomens die Geister der mittelalterlichen (und auch der der neuzeitlichen) Interpreten recht deutlich, so dass eine Untersuchung dieser Textpassagen eine Art Lackmus-Test für den jeweiligen Denker darstellt.13 Versors Text bietet hier, so meine erste These, eine philosophisch originelle Deutung des Aristotelischen Textes, die ihn durch die Einbringung des Willens in die Analyse unbeherrschter Handlungen in einem entscheidenden Punkt transformiert (Teil I). Anschließend möchte ich zeigen, dass man den Ausdruck ›philosophische Originalität‹ hier freilich mit Vorsicht gebrauchen muss, insofern Versor seine Deutung wesentlich der Lektüre und intelligenten Kompilation der Schriften von Thomas von Aquin schuldet (Teil II). Von diesem inhaltlichen Befund aus lassen sich einige philosophiehistorische Schlussfolgerungen ziehen: zum einen hinsichtlich der historischen Verortung Versors im Spannungsfeld von Albertismus und Thomismus im 15. Jahrhundert (Teil III); zum anderen hinsichtlich der Absichten, die Versor mit diesem Ethik-Kommentar verfolgt haben könnte (Teil IV).

I.  Von der Unbeherrschtheit zur Willensschwäche: Versors akrasia-Deutung Zuerst sei in aller gebotenen Kürze an den problemgeschichtlichen Zusammenhang erinnert, in dem die Interpretation Versors zu NE VII zu lokalisieren ist: Es geht um die prinzipielle Möglichkeit eines Handelns wider besseres Wissen, das dann vorliegt, wenn der Akteur nicht das tut, was er für das Beste hält, obwohl er es tun könnte. Sokrates hatte eine solche Handlungsbeschreibung und damit das Phänomen der Unbeherrschtheit (akrasia) in toto in Abrede gestellt: In Wirklichkeit handle es sich dabei nur um eine Form von Unwissenheit.14 Aris­ toteles prüft diese offensichtlich mit dem Alltagsverstand konfligierende These von Sokrates in NE VII und versucht, ein Verständnis von akrasia zu finden, das

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Vgl. hierzu Risto Saarinen: Weakness of the Will in Medieval Thought: From Augustine to Buridan (Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters, 44) (Leiden/New York/Köln 1994) und Risto Saarinen: Weakness of Will in Renaissance and Reformation Thought (Oxford 2011), der jeweils eine Art heuristischer Matrix für die unterschiedlichen Rezeptionslinien der Aristotelischen akrasia in mittelalterlichen und neuzeitlichen Büchern zur Ethik entwickelt, sowie Jörn Müller: Rez. zu: Risto Saarinen: Weakness of Will in Renaissance and Reformation Thought. In: British Journal for the History of Philosophy 20/2 (2012) 427–432. Für die Rezeption von NE VII im Spannungsfeld der Debatte zwischen Intellektualisten und Voluntaristen im 13. Jahrhundert vgl. J. Müller: Willensschwäche in Antike und Mittelalter. Eine Problemgeschichte von Sokrates bis Johannes Duns Scotus (Ancient and Medieval Philosophy I, 40) (Leuven 2009) 497–690. 14  Vgl. Platon: Protagoras 351b–358e, bes. 358c (Übers. Friedrich Schleiermacher): »Und zu schwach zu sein gegen sich selbst ist also nichts anderes als Unwissen, und sich selbst zu beherrschen ist nichts anderes als Weisheit. […] Und was ist Unwissen anderes als: falsche Meinungen zu haben und sich zu täuschen über wichtige Dinge?«

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Raum für unbeherrschtes Handeln schafft, ohne den Sokratischen Intellektualismus vollends zu desavouieren.15 Versor scheint diesem Problem einiges Gewicht beizumessen: Er widmet der Thematik von continentia und incontinentia insgesamt vierzehn Quaestionen mit zahlreichen eingestreuten Anschlussproblemen (dubitationes).16 Zum Vergleich: Die dianoetischen Tugenden in Buch VI werden von Versor in nur acht Fragen abgehandelt, die Gerechtigkeit in Buch V in zehn Fragen. Das eigentliche Kernproblem, nämlich wie man überhaupt gegen besseres Wissen handeln kann, wird in Quaestio 4 diskutiert, und hier folgt Versor insgesamt den bei Aristoteles angelegten und in der scholastischen Kommentartradition entwickelten Bahnen.17 Er unterscheidet in handlungstheoretischer Absicht zwischen dem theoretischen und dem praktischen Syllogismus und differenziert letzteren noch einmal in seine Bestandteile: (a) den auf eine allgemeine Handlungsregel zielenden Obersatz (das Beispiel bei Versor lautet: »Nichts Lustvolles ist übermäßig zu erstreben«18) und (b) den auf die einzelne Situation gehenden Untersatz (»Dies wäre ein übermäßig Lustvolles«). Wenn beide, (a) und (b), zusammenkommen, folgt daraus als Schlussfolgerung des praktischen Syllogismus unmittelbar (c) die Handlung (oder in Versors Beispiel: die Unterlassung) – hier könnte es also nicht zur Unbeherrschtheit kommen.19 Im Falle des akratischen Handelns muss also etwas in der Formung des praktischen Syllogismus seitens der recta ratio, also der moralisch urteilenden Vernunft, schief laufen. Versor sieht hier kausal den Einfluss der sinnlichen Leidenschaften (passiones) am Werk, welche in ihrem Aufwallen die normale Vernunfttätigkeit stören und letztlich ihr eigenes lustvolles Handlungsziel (z. B. einen Ehebruch), das unter einen prohibitiven Obersatz der recta ratio fallen müsste, brachial durchsetzen. Dazu muss natürlich zuerst einmal verhindert werden, dass der praktische Syllogismus der rechten Vernunft bis zur tätigen Umsetzung durchläuft, was Versor wie folgt analysiert: Unter dem Einfluss der Leidenschaften wird der entsprechende Untersatz des praktischen Syllogismus nicht unter den Obersatz der Vernunft gebracht; es fehlt also die notwendige Verknüpfung von rationalem Handlungsvorsatz und Wahrnehmung der vorliegenden Situation als Instanziierung dieser allgemeinen Regel.20 Stattdessen wird 15  Für eine umfassende Darstellung der gesamten antiken Debatte zur Thematik vgl. J. Müller: Willensschwäche, a. a.O. [Anm. 13] 47–208. 16 Vgl. Johannes Versor, Quaestiones super libros Ethicorum [im Folgenden: QSLE] VII (Köln 1494; repr. Frankfurt a.M. 1967) qq. 3–16, f.57ra–69ra. 17  Vgl. zum Folgenden QSLE VII, q.4 (»Utrum aliquis possit operari incontinenter contra suam scientiam ratione in eo recta permanente«), f.58vb–59va. 18  Ebd. f.59ra: »nullum delectabile est inordinate prosequendum.« 19  Vgl. ebd. 59ra: »Recta ratione permanente et integra quoad maiorem et minorem secundum actum non potest quis incontinenter agere.« 20  Vgl. ebd. f.59ra: »habens talem cognitionem non actualiter subsumit minorem sub maiori. Ergo potest operari actualiter et iudicare conclusionem repugnantem conclusioni syllogismi practici esse bonam.«

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ein alternativer Obersatz der Begierde (concupiscentia) aktiviert (»Alles Lustvolle ist zu tun«), der sich dann im Verbund mit einem entsprechenden Untersatz (»Dies ist lustvoll«) unmittelbar in die Handlung übersetzt.21 Auf diese Weise kann selbst dann, wenn der rationale Handlungsvorsatz aktiv, also dem Handelnden bewusst ist, die Handlung in Richtung des Lustobjekts deflektiert werden, weil der Untersatz und die damit verbundene Schlussfolgerung nur habituell, aber nicht aktuell gewusst werden. Der Handelnde befindet sich, wie Versor im Rückgriff auf die von Aristoteles selbst gebrauchten Beispiele ausführt, in einem Zustand, der dem eines Schlafenden oder Betrunkenen entspricht, der auf sein habituelles Wissen nur beschränkten Zugriff hat: Erst wenn er aufwacht oder wieder nüchtern ist, kann er es aktualisieren.22 Das Wissen im Untersatz liegt also, wie Versor in Anlehnung an die etablierte scholastische Terminologie sagt, nur in einem gebundenen oder gefesselten Habitus (habitus ligatus) vor, und diese zumindest temporär wirksame Fesselung bewirken die Leidenschaften des sinnlichen Seelenteils, also die vis irascibilis oder die vis concupiscibilis. Damit liegt aber ein latenter Konflikt zwischen Kognition – in Form des rationalen Obersatzes – und Appetition – in Gestalt des faktischen Erstrebens des verbotenen Objekts der Begierde – vor. Versor beschäftigt sich nun etwas eingehender mit der Störung des praktischen Syllogismus und der daraus entstehenden Form qualifizierter Unwissenheit beim Handelnden. Aristoteles führt hier in erster Linie die körperlichen Auswirkungen heftiger Leidenschaften ins Feld, die als psychophysische Phänomene auch direkt auf die Vernunfttätigkeit wirken können, wie ja das Beispiel des Betrunkenen zeigt. Versor hält das ebenfalls für eine mögliche Quelle kognitiver Fehlleistungen im praktischen Syllogismus, führt aber zuerst eine andere Ursache ins Feld: »Auf eine Weise wird jemand [scil. in der Aktualisierung habitueller kognitiver Gehalte] behindert, wenn er sie nicht betrachten will (velit). Dies geschieht, wenn die Lust zu etwas anderem neigt.«23 Versor spezifiziert dies wie folgt: »Also wird der Wille durch das aus dem Druck der Leidenschaften heftig erregte sinnliche Streben angezogen. Und er [scil. der Wille] stimmt ihm zu (consentit) und wendet sich vom Urteil der Vernunft ab und will nicht mehr auf sie hören.«24 Dass Versor in der betreffenden Passage unmittelbar zuvor von den ersten Bewegungen (primi motus) der Sinnlichkeit gesprochen hat, die der 21  Vgl. ebd. f.59rb: »Et ultra concupiscentia dicat ›omne dulce est delectabile‹: tunc passio appetitus absorbet iudicium rationis quoad minorem et subsumit sub universali appetitus et non sub universali rationis; et sic sequitur operatio incontinentis.« 22  Vgl. ebd. f.59ra: »ut dicat actu et consideret nullum delectabile esse prosequendum. Et habet cognitionem boni in habitu ligato, ut potest cognoscere aliquam delectationem inordinatam, puta illam quam prosequitur non esse prosequendam. Hanc tamen actualiter non considerat esse delectationem inordinatam.« 23  Ebd. f.59rb: »uno modo impeditur aliquis si non velit considerare, quod contingit quando voluptas ad aliud inclinat.« 24  Ebd.: »Allicitur igitur voluntas appetitu sensitivo tamquam vehementer moto ex pulsu passionis, et sic ei consentit et avertit se a iudicio rationis nec vult audire rationem.«

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Vernunftnatur per se nicht untertan sind,25 verstärkt zusammen mit dem hier explizit gebrauchten Begriff der Zustimmung (lat. consensus; grch. synkatathesis) den Eindruck eines Stoisch imprägnierten Lehrstücks: Bevor die Leidenschaften den praktischen Syllogismus blockieren und den Handlungsfortgang kapern können, muss der Akteur ihnen zuerst zugestimmt haben.26 Versor stellt der Aristotelischen Erklärung somit eine der Stoischen Handlungstheorie entlehnte Idee voran, nämlich dass Leidenschaften nur dann kausal voll wirksam werden, wenn die menschliche Vernunft sie nicht zurückweist. Die Pointe liegt dann darin, dass für diese Ablehnung eben gerade nicht die Vernunft selbst, sondern das natürlicherweise auf sie ausgerichtete Streben, also der Wille als appetitus rationalis, zuständig ist. Letzterer könnte die Leidenschaften in ihrem Anfangsstadium zurückweisen, wie es beim Beherrschten geschieht;27 sofern der Wille des Unbeherrschten dies aber gerade unterlässt, werden diese Leidenschaften so stark, dass sie mit den von Aristoteles beschriebenen physiologischen Mechanismen die Vernunft stören und den Willen okkupieren können. Dieser hat sich und den Akteur damit quasi selbst entmachtet, was die Leidenschaften aus sich heraus nicht ohne weiteres hätten bewirken können.28 Mit dieser Einbeziehung des Willens in die Analyse akratischen Handelns hat Versor zweierlei erreicht: (1) Er löst das notorische Problem, inwiefern ein Handeln, das zumindest in partieller Unwissenheit ausgeübt wird, dem Akteur dennoch zugerechnet werden kann. Unwissenheit ist ja neben Zwang eine der beiden Bedingungen, unter denen Aristoteles Handlungen für unwillentlich und damit für nicht mehr zurechenbar hält, was in Sachen akrasia dann schon einige Probleme aufwirft: Denn hier wird die Vernunft ja von der Leidenschaft scheinbar einfach überwältigt und gewaltsam in einen Zustand partieller Unwissenheit versetzt. Versor betont hingegen den nicht-zwanghaften Charakter des Geschehens: Der Wille hätte auch anders gekonnt, und somit ist eine starke Freiheitsbedingung erfüllt. Die involvierte Unwissenheit ist eine frei gewollte und kein bloßes Widerfahrnis;29 gerade deshalb ist der kausale Einfluss der Leidenschaft hier keine wirkliche Entschuldigung.30 Dementsprechend klassifiziert Versor auch die Intentionalität 25 Diese

primi motus entsprechen terminologisch den Stoischen »Vorregungen« (propatheiai); vgl. hierzu Richard Sorabji: Emotion and Peace of Mind. From Stoic Agitation to Christian Tempta­tion (Oxford 2000). 26  Vgl. auch die in Richtung der Stoa tendierende Analyse des Zorns als zweistufigem Urteil in QSLE VII, q.8, f.62ra. 27 Vgl. QSLE VII, q.15, f.68rb: »licet passiones non sint in voluntate, tamen in potestae voluntatis est eis resistere. Et hoc modo voluntas continentis resistit concupiscentiis.« 28 Vgl. QSLE VII, q.4, f.59rb: »appetitus trahit voluntatem mediante ratione perversa et per appetitum corrupta, licet hoc non potest facere appetitus virtute propria.« 29 Vgl. hierzu die Ausführungen zum temporalen Verhältnis von Unwissenheit und verkehrtem Streben beim Unbeherrschten in QSLE VII, q.12, f.66rb. Siehe auch die Überlegungen zu der auf den Willensakt folgenden ignorantia voluntaria in QSLE III, 2, f.21va–b. 30  Vgl. das zweite Dubium (»utrum incontinenti debeatur venia«) zu QSLE VII, q.5, f.60ra: »licet propter passionem operatur, haec tamen passio non debet eum excusare, quia non omnes

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des akratischen Handelns: Der Unbeherrschte handelt zwar nicht aus seinem ursprünglichen Vorsatz (ex electione), also aus der recta ratio heraus, sondern eben aus Leidenschaft (ex passione). Das unterscheidet ihn ja gerade vom habituell Unmäßigen, der bereits falsche bzw. schlechte Vorsätze hat und deshalb aus Überzeugung handelt.31 Dennoch kann man auch vom Unbeherrschten sagen, dass er die Handlung wählt, insofern er der Begierde zustimmt.32 Diese Zustimmung ist kein Resultat einer generellen habituellen Fehladjustierung des Willens auf die falschen (i.e. nicht-rationalen Ziele), sondern eher so etwas wie eine epileptisch auftretende Schwäche seinerseits, die der Leidenschaften v. a. als einer auslösenden Mitursache bedarf. Aufgrund der expliziten Beteiligung des Willens an der Stoisch konzipierten Anfangsphase des Handelns vermag Versor aber die Willentlichkeit des Geschehens besser zu explizieren als Aristoteles.33 (2) Damit kann Versor aber auch eine zentrale Augustinische Grundintuition einfangen, nämlich dass die Sünde immer im Willen liegt.34 Er unterscheidet zwar in Buch VII explizit zwischen der Aristotelischen und der Augustinischen Tradition von continentia und incontinentia,35 aber über das Moment der Zustimmung (consensus) und die Konzipierung des unbeherrschten Tun als »Handeln gegen das Gewissen« (agere contra conscientiam) kann er die antike akrasia zumindest in eine voluntaristische Handlungs- und Sündenlehre Augustinischer Provenienz einbringen.36 Diese ›Voluntarisierung‹ der incontinentia zeigt sich auch an ihrem Pendant, der Beherrschtheit (continentia). In seiner 15. Quaestio fragt Versor nach dem vermögenspsychologischen Sitz der Beherrschtheit, wofür sich drei Kandidaten anbieten:37

apponunt sufficientiam diligentiae ad repellendum id quod agit esse malum et contra rationem rectam quam habe[n]t de universali.« 31  Vgl. hierzu QSLE VII, q.6, f.60va–b. 32 Vgl. QSLE VII, q.15, f.68ra: »Prima autem differentia eorum invenitur in electione, quia continens, quamvis patiatur vehementes concupiscentias, tamen eligit non sequi eas, propter rationem; incontinens autem eligit sequi eas, non obstante contradictione rationis.« 33 Aristoteles hingegen vertritt offensichtlich die Idee, dass die Willentlichkeit des akratischen Handelns auf die Verantwortung für den eigenen Charakter zurückgeht: Man hätte anders handeln können, wenn man sich vorher anders (zur Beherrschtheit oder noch besser zur Mäßigung) entwickelt hätte. Damit ist aber ein wirkliches could have done otherwise in der konkreten Handlungssituation nicht gegeben; vgl. J. Müller: Willensschwäche, a. a.O. [Anm. 13] 141–152. 34 Vgl. QSLE VII, q.12, f.65vb: »Peccatum praecipue in voluntate consistit, nam voluntas est qua peccatur et recte vivitur. Et ideo ubi est alia [melior: maior; J.M.] inclinatio voluntatis ad peccandum ibi est gravius peccatum. Sed in incontinente voluntas inclinatur ad peccandum ex aliqua passione.« 35 Vgl. QSLE VII, q.3, f.57rb. 36  Zur Verknüpfung mit dem Gewissensbegriff vgl. QSLE VII, q.12, f.65vb. 37  Vgl. zum Folgenden: QSLE VII, q.15, f.67vb–68ra. Der Hauptteil dieser Quaestio ist in Anhang 1 (in der linken Spalte) wiedergegeben.

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(a) das sinnliche Streben in Gestalt des appetitus concupiscibilis, insofern es Beherrschtheit ebenso wie Mäßigung ja nach Aristoteles mit den durch taktile Berührung zustande kommenden körperlichen Lust- und Unlustzuständen zu tun hat; (b) die Vernunft, insofern die recta ratio sich ja gerade in einem korrekt gebildeten praktischen Syllogismus manifestiert, der trotz der Aufwallung der Leidenschaften durchgehalten wird; (c) der Wille, insofern dieser das für die Handlungswahl (electio) zuständige Vermögen ist.38 Versor beantwortet die Frage durch den Vergleich, was denn eigentlich den Beherrschten vom Unbeherrschten unterscheidet. Letztlich ist das weder der Zustand ihres sinnlichen Strebevermögens (denn beide sind den Leidenschaften ausgesetzt) noch der ihrer Vernunft (denn beide haben zumindest einen intakten Obersatz der recta ratio). Mit diesem eliminativen Verfahren kommt Versor zu einem eindeutigen Resultat: »Die Beherrschtheit sitzt weder im begehrlichen Streben noch in der Vernunft, sondern hat ihren Sitz im Willen.«39 Diese Schlussfolgerung wird durch weitere Argumente ausgepolstert, etwa durch die Überlegung, dass nur ein appetitives Vermögen wie der Wille den Leidenschaften des appetitus concupiscibilis überhaupt Widerstand leisten kann und nicht eine kognitive Größe wie die Vernunft. Insgesamt hebt Versor die Mittelstellung des Willens zwischen der Sinnlichkeit und der Ratio hervor, um zu erklären, inwiefern sich das Lob der continentia beim Beherrschten besonders auf die Qualität seines Willens richtet.40 Dies bietet ihm auch den Anlass, eine Konzeption von Willensstärke zu entwickeln, die als eine Mitte zwischen »Starrköpfigkeit« (pertinacia) und »Flatterhaftigkeit« (instabilitas) erscheint: Der Willensstarke bleibt nicht à tout prix bei jedem seiner ursprünglichen rationalen Entschlüsse, sondern hört weiterhin auf die Vernunft, die ihn z. B. aufgrund veränderter Umstände in eine andere Richtung zu lenken vermag; andererseits ist seine willentliche Ausrichtung auf rationale Vorsätze hin stark genug ausgeprägt, um sich den aufkeimenden Leidenschaften der niederen Seelenteile nicht sofort hinzugeben.41 Das ist genau das Problem der Unbeherrschten: Bei ihnen ist diese Willensstärke 38 

Ebd. f.68ra: »Continentia est in vi animi sicut in subiecto cuius actus est electio; sed talis est voluntas; ergo continentia est in voluntate subiective.« Zur electio als Akt des Willens vgl. auch QSLE III, q.3, f.22rb–va. 39  Ebd.: »Concupiscentia [recte: continentia; J.M.] non est subiective in appetitu concupiscibili neque in ratione sed subiective est in voluntate.« 40 Vgl. QSLE VII, q.6, f.60vb: »Aliter potest solvi ista ratio, scilicet quod voluntas propinquior est rationi quam vis concupiscibilis. Ideo bonum rationis ex quo virtus laudatur est magis ex hoc quod pertingit non solum usque ad voluntatem sed etiam usque ad vim concupiscibilem, quod etiam accidit intemperato quam si pertingat solus ad voluntatem: quod accidit in continente.« 41 Vgl. QSLE VII, q.14, f.67ra–va; q.15, f.67vb–68ra. Vgl. auch q.10, 64va: »Perseverantia de qua loquimur hic non moderat aliquas passiones sed consistit solum in quadam firmitate rationis et voluntatis.«

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als Vermögen zur rationalen Selbstkontrolle zu schwach ausgeprägt, und deshalb beugen sie sich von Zeit zu Zeit trotz besserer rationaler Einsicht schlechten Begierden, und zwar wesentlich schneller und widerstandsloser, als dies die Mehrzahl der Menschen tut. Dies ist aber kein Indiz für einen von Grund auf schlechten Willen – denn dann würde man nicht mehr von einem Unbeherrschten, sondern von einem Unmäßigen sprechen –, sondern die Signatur einer Willensschwäche im Vollsinne des Wortes: Die Vernunftorientierung des Willens ist insgesamt zu schwach bzw. instabil, so dass der Wille als Instanz der rationalen Selbstkontrolle gegenüber den Leidenschaften versagt, sich freiwillig von ihnen okkupieren lässt und damit den Weg frei macht für das akratische Handeln aus Leidenschaft. Deshalb bedarf es zur Überwindung dieser Schwäche auch weniger der intellektuellen Belehrung als einer auf die innere Widerstandskraft gegen die Begierde abzielenden correctio fraterna, wie Versor selbst hervorhebt.42 Versor transformiert in seinem Kommentar somit die Aristotelische Unbeherrschtheit zu einer genuinen Schwäche des Willens, die als Phänomen sui generis in Abgrenzung von moralischer Schlechtigkeit einerseits und einem bloßen Versagen der Vernunft andererseits verstanden werden muss.43 Aus der antiken Wissensschwäche wird so eine christliche Willensschwäche, womit nach meiner Wahrnehmung durchaus ein problemgeschichtlicher Fortschritt erzielt wird.44 Zumindest ist es ein innovatives Verständnis des Phänomens der akrasia, was nicht für Prantls abschätziges Urteil, sondern für das folgende Lob Grabmanns sprechen würde: »Johannes Versor begnügt sich nicht damit, in das Gewand dieser Quästionentechnik eine dialektisch-spekulative Behandlung einzuflechten, er nimmt auch zur Aristotelesdeutung anderer Autoren Stellung und erörtert mit bemerkenswerter Selbständigkeit auch Fragen, die nicht unmittelbar im Aris­totelestext niedergelegt sind.«45 Ein genauerer Blick auf Inhalt und Form der Kommentierung nährt allerdings Zweifel an dieser optimistischen Einschätzung der Originalität Versors.

42 Vgl. QSLE VII, q.12, f.66rb: »Ad secundam dicitur quod ad sanationem incontinentis non sufficit sola cognitio sed adhibetur exterius remedium ammonitionis et correctionis ex quibus aliquis incipit concupiscentiae resistere.« 43  Zur Betonung der Willentlichkeit siehe auch QSLE VII, q.16, f.68vb: »Et ideo dicit textus quod incontinens peccat volenter; nam scit quodammodo in universali id quod facit et cuius gratia facit et alias circumstantias. Ergo voluntarie facit. Non tamen est malus quia non agit ex electione, quia electio eius est epieikes, id est bona, quando est extra passionem. Sed quando supervenit passio, corrumpitur eius electio, quia vult malum.« 44  Vgl. hierzu auch J. Müller: Willensschwäche und innerer Mensch in Röm 7 und bei Origenes. Zur christlichen Tradition des Handelns wider besseres Wissen. In: Zeitschrift für die Neutestamentliche Wissenschaft 100 (2009) 223–246. 45  M. Grabmann: Kommentare, a. a.O. [Anm. 1] 69 (zum Politikkommentar Versors).

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II.  Thomas redivivus: Die Sententia libri Ethicorum als Basis für Versors Kommentar In seiner unlängst erschienenen Monographie »Weakness of the Will in Renaissance and Reformation« hat Risto Saarinen in seiner Analyse zu Versor bereits auf den Thomanischen Charakter dieser akrasia-Lesart aufmerksam gemacht:46 Schon Thomas von Aquin baut nämlich den Willen nachhaltig in seine Analyse des Problemkomplexes ein. Er deutet die Aristotelische Unbeherrschtheit konsequent als ein Problem der willentlichen Aufmerksamkeitssteuerung, insofern der Wille den Leidenschaften zustimmt und damit die Ablenkung der rationalen Ausrichtung auf bestimmte Situationsmerkmale bewirkt, die eigentlich im Untersatz des praktischen Syllogismus der recta ratio firmieren sollten.47 Doch Saarinen hat m.E. das Ausmaß der Orientierung von Versor an bzw. seiner Abhängigkeit von Thomas sogar noch etwas unterschätzt. Dies hängt mit einigen technischen Eigenheiten der Komposition des Kommentars von Versor zusammen, auf die ich kurz eingehen möchte. In der Forschung zu anderen Kommentaren von Versor ist schon verschiedentlich darauf hingewiesen worden, dass er meist auf der Basis eines ihm bereits vorliegenden scholastischen Kommentars operiert. Oft bietet hier Thomas von Aquin die Vorlage, aber z. B. in den Schriften zur Aristotelischen Logik, die Thomas nicht kommentiert hat, orientiert sich Versor ersatzweise an den Kommentaren von Albertus Magnus. Nun liegt im Falle seiner Quaestiones super libros Ethicorum eine solche Abhängigkeit von Thomas’ Ethik-Kommentar allein von der literarischen Form her nicht unbedingt nahe: Denn Thomas kommentiert die Ethik in einer sententia, d. h. er bietet einen Literalkommentar, in dem unter weitgehendem Verzicht auf eigenständige Fragen und Lösungen bloß eine Texteinteilung und eine sehr textnahe Erklärung der Aristotelischen Vorlage geboten wird, die wesentlich die Erschließung der intentio auctoris beabsichtigt. Versors Kommentar ist hingegen rein äußerlich als ein klassischer QuaestionenKommentar gestaltet, gehört also einem ganz anderen literarischen Genre an, das sich weniger text- als vielmehr ›problemorientiert‹ gibt. Doch ein genauerer 46 Vgl.

R. Saarinen: Renaissance and Reformation Thought, a. a.O. [Anm. 13] 63–69, der allerdings auch einige Augustinische Elemente in Versors Auslegung identifiziert, die er auf einen möglichen Einfluss Alberts zurückführt. Hier wäre ich eher skeptisch (s.u. im Text, Teil III). Saarinen relativiert dieses scheinbare Albertinische Sondergut selbst wie folgt: »But these additional features are also found in Aquinas and may be interpreted as a typically Thomist reconciliation between Aristotle and Augustine.« (Ebd. 67) Ein instruktives Beispiel hierfür ist die Zuordnung von Aristotelischer und Augustinischer incontinentia in QSLE VII, q.3 (s. o., Anm. 35), die von Versor nahezu wörtlich aus Thomas’ Summa theologiae [ab hier: STh] II, q.155, a.1, resp., übernommen wurde. 47 Vgl. zu diesem Verständnis von incontinentia bei Thomas: Bonnie D. Kent: Transitory Vice: Thomas Aquinas on Incontinence. In: Journal of the History of Philosophy 27 (1989) 199–223; R. Saarinen: Medieval Thought, a. a.O. [Anm. 13] 118–131; J. Müller: Willensschwäche als Problem der mittelalterlichen Philosophie. Überlegungen zu Thomas von Aquin. In: Recherches de Théologie et Philosophie médiévales 72 (2005) 1–28.

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Blick in die Struktur der Ausführungen in Buch VII zeigt, dass Versor hier eher einen Hybridkommentar aus lectio und quaestio liefert.48 Dies lässt sich durch zwei Beobachtungen stützen: (1) Entgegen einer immer wieder in der Forschung (z. B. bei Jill Kraye49) begegnenden Einschätzung liefert auch Versor in seinen Ethik-Quaestionen eine Art fortlaufenden Literalkommentar. Auf die Formulierung der Frage mit Quaeritur utrum und einer Reihe von Argumenten für eine der beiden Positionen, lässt er noch vor der Antwort jeweils einen längeren, mit Sciendum betitelten Abschnitt folgen, der meist eine divisio textus für den vorausgehenden Aristoteles-Text bietet.50 Dabei ist unschwer erkennbar, dass Versor hier die Texteinteilungen aus der Sententia libri Ethicorum von Thomas ohne größere eigene Zutaten übernimmt.51 (2) Aber auch in die Binnenstruktur der Quaestiones selbst und die in sie integrierten Dubitationes ist überwiegend Material aus Thomas’ Ethikkommentar eingearbeitet. Oft gestaltet Versor den Literalkommentar von Thomas einfach so um, dass er aus ihm die Einwände, Lösungen und Erwiderungen generiert, die seine Fragen inhaltlich strukturieren. Dies fällt ihm gerade in NE VII nicht schwer, insofern Aristoteles hier ja selbst zum Auftakt mit sechs verschiedenen Aporien aufwartet, die im nachfolgenden Text gemäß der endoxischen Methode behandelt werden.52 Insofern Thomas diese der Vorlage immanente Problemstruktur in seinem Literalkommentar sehr präzise herausarbeitet,53 kann Versor hier einfach diese für Quaestionen-Zwecke maßgeschneiderten Versatzstücke aus der Sententia libri Ethicorum verwenden, um daraus das formale Gerüst seiner Quaestiones und Dubitationes inhaltlich zu bestücken. 48 

Zur Auflösung der strikten Trennung von lectio und quaestio in den Pariser Ethikkommentaren bis 1500 vgl. auch D. A. Lines: Aristotle’s Ethics, a. a.O. [Anm. 4] 158–166. Diese Flexibilität zeigt sich schon bei Albertus Magnus, der die beiden ersten lateinischen Kommentare zur kompletten NE verfasst: Super Ethica (entstanden ca. 1250–1252) ist ein Literalkommentar mit Quaestionen; Ethica (um 1262) ist eine Paraphrase mit eingestreuten Quaestionen. C. Flüeler: Gattungen, a. a.O. [Anm. 3] entwickelt eine differenzierte Gattungstypologie für AristotelesKommentare in Abgleich mit der in den Kolophonen verwendeten Terminologie. 49  Vgl. Jill Kraye: Renaissance Commentaries on the Nicomachean Ethics. In: Vocabulary of Teaching and Research between Middle Ages and Renaissance (Études sur le vocabulaire intellectuel du Moyen Age, 8), ed. by Olga Weijers (Turnhout 1995) 96–117, hier: 99, nt. 8: »For a similar product of Parisian scholasticism, from a somewhat earlier era, see Johannes Versor, Quaestiones super libros Ethicorum Aristotelis, Cologne, 1491; unlike Major’s work, however, this one lacks a literal commentary and follows the traditional scheme for quaestiones more closely.« 50  Zur Kommentierungstechnik in Versors Politik-Kommentar, die formal der Behandlung in der Ethik-Quaestionen entspricht, vgl. auch M. Grabmann: Kommentare, a. a.O. [Anm. 1] 69. 51  Für ein Beispiel vgl. die Gegenüberstellung in Anhang 2. 52  Vgl. Aristoteles, NE VII 1, 1145b 2–7 (zur Methode) und VII 2–3, 1145b 8 – 1146b 5 (endoxa und aporiai). 53  Vgl. Thomas von Aquin, Sententia libri ethicorum VII, 2, ed. René Antoine Gauthier (Ed. Leon., 47, Rom 1969), 384, 1–29, wo Thomas sechs dubitationes im Aristotelischen Text identifiziert.

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Das schließt nun nicht aus, dass Versor auch Material verwendet, das nicht direkt aus dem Thomanischen Ethikkommentar stammt. Ein Musterbeispiel hierfür ist die bereits oben zitierte Quaestio 15 zur Frage, wo die Beherrschtheit ihren vermögenspsychologischen Sitz hat. Bei näherem Hinsehen zeigt sich, dass der Kern dieser Quaestio, also die Einwände, die eigentliche Lösung wie auch die Erwiderungen auf die Einwände nahezu wörtlich aus einem thematisch entsprechenden Artikel in Thomas’ Summa Theologiae, entnommen sind.54 Eine ähnliche Vorgehensweise, bei der größere Passagen aus der Secunda Secundae von Thomas nahezu bruchlos in den Literalkommentar eingearbeitet werden, zeigt sich z. B. auch in den Quaestionen 10 und 11, wo Versor die perseverantia als Kernstück des Verständnisses von Willensstärke im oft wörtlichen Rekurs auf die einschlägigen Artikel in der Summa theologiae charakterisiert.55 Eine ähnliche Technik lässt sich auch in vielen anderen Quaestionen in Versors Kommentar zu NE VII nachweisen.56 Mit Blick auf die oben konstatierte Transformation des akrasia-Verständnisses in Versors Kommentar durch die Einbringung des Willens lässt sich nun nach meinen Beobachtungen festhalten, dass sie wirklich gänzlich aus dem Schrifttum von Thomas geschöpft ist. Die Innovation von Versor besteht hier somit nicht darin, selbst etwas Neues gefunden zu haben, sondern in der Art und Weise, wie er eine inhaltlich stimmige Collage aus verschiedenen Schriften zusammenstellt. Denn Thomas bringt in seiner Sententia libri Ethicorum dem Willensbegriff nur äußerst sparsam in Anschlag, um den Aristotelischen Text zu erläutern, und zwar insofern dieser in der Grosseteste-Übersetzung der Nikomachischen Ethik nur in Gestalt der Kennzeichnung des akratischen Tuns als »willentlich« (grch. hêkôn, lat. voluntarium) explizit ins Spiel kommt.57 In seinen theologischen Schriften hingegen, v.a. in der Summa theologiae und in De malo, rekurriert Thomas hingegen recht intensiv auf den Willen zur Erklärung des Handelns wider besseres Wissen wie auch zur Charakterisierung der continentia als Habitus des Willens.58 Diese Stellen sind aber im Corpus Thomisticum recht verstreut, so dass ihre Kompilation in Versors Ethikkommentar erstmalig eine zwar inhaltlich komprimierte, aber dennoch kohärente Deutungslinie in einem einzigen Textzusammenhang bietet. Dies führt zu der naheliegenden Frage, wel54  Vgl. Thomas von Aquin, STh II–II, q.155, a.3. Eine Art Kurzfassung dieses Artikels findet sich dann in Sententia libri Ethicorum VII 10, a. a.o. [Anm. 53], 421 f., 87–97. Zum inhaltlichen Zusammenhang dieser beiden Texte vgl. Jörn Müller: Aquinas’s Commenting Strategy in his Sententia libri Ethicorum. A Test Case. In: Divus Thomas 118 (2015) 148–184, bes. 170–175. 55 Vgl. QSLE VII, qq.10–11, f.63vb–65rb, die in Fragestellung, Argumenten und Lösungen sehr eng an STh II–II, q.137, a.1–2, sowie an q.138, a.1 angelehnt sind. 56  Für eine Übersicht zu diesen Übernahmen vgl. Anhang 3. 57  Vgl. Aristoteles, NE VII 10, 1152a 15–16. Der Kommentar zu dieser Stelle in Versors QSLE VII, q.16. f.58vb ist wiederum weitgehend übernommen aus Thomas’ Sententia libri ethicorum VII 10, p.421, 64–87. 58  Vgl. hierzu die ausführliche Darstellung in J. Müller: Willensschwäche, a. a.O. [Anm. 13] 512–547.

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che Absicht Versor mit dieser Art der Kommentierung eigentlich verfolgt hat bzw. haben könnte.

III.  Ein Wegestreit in der via antiqua? In der jüngeren Forschung ist Versor des Öfteren als Protagonist in einem Wegestreit innerhalb der via antiqua, nämlich zwischen Thomismus und Albertismus, dargestellt worden. Diese Auseinandersetzungen sind generell für die Universitäten Paris und Köln und die verschiedenen Bursen an ihnen untersucht worden, mit besonderem Schwerpunkt auf der Logik und Metaphysik, aber auch mit Blick auf Themen aus der Psychologie, insbesondere der Intellektlehre.59 Versor ist dabei sowohl als Proponent des Thomismus gegen den Albertismus60 als auch diametral entgegengesetzt, also als den Thomismus zumindest in bestimmten Bereichen opponierender Albertist, dargestellt worden.61 Lässt sich sein Ethikkommentar in dieser Debatte verorten? Wollte Versor hier also möglicherweise in der einen oder anderen Richtung Stellung beziehen? Gegen eine solche Annahme spricht schon der Auftakt des ganzen Unternehmens. Versor notiert in seiner ersten Quaestio, dass Albert und Thomas hinsichtlich des Gegenstandes der Ethik eine unterschiedliche Auffassung vertreten haben: Während Albert das Gut des Menschen, insofern er Mensch ist (bonum hominis inquantum homo), also das Glück, als subiectum dieser Disziplin sieht, identifiziert Thomas es mit der zielgerichteten menschlichen Handlung (operatio humana ordinata in finem). Anstatt diese Positionen nun gegeneinander auszuspielen, marginalisiert Versor bewusst den hier feststellbaren Gegensatz: Der Unterschied sei kein wirklich sachlicher, sondern reduziere sich auf eine weitere im Gegensatz zu einer etwas engeren Bestimmung.62 Das klingt nicht nach ei59 Vgl.

hierzu die drei instruktiven Artikel von Marten J.F.M. Hoenen: Heymeric van de Velde († 1460) und die Geschichte des Albertismus: Auf der Suche nach den Quellen der Albertistischen Intellektlehre des Tractatus problematicus. In: Albertus Magnus und der Albertismus. Deutsche philosophische Kultur des Mittelalters (Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters, Bd. 48), hg. von Marten J.F.M. Hoenen und Alain de Libera (Leiden/New York/ Köln 1995) 303–331; Late Medieval Schools of Thought in the Mirror of University Textbooks. The Promptuarium Argumentorum (Cologne 1492). In: Philosophy and Learning. Universities in the Middle Ages (Education and Society in the Middle Ages and Renaissance, 6), ed. by Marten J.F.M. Hoenen, J.H. Josef Schneider and Georg Wieland (Leiden/New York/Köln 1995) 329–369; Thomismus, Skotismus und Albertismus. Das Entstehen und die Bedeutung von philosophischen Schulen im späten Mittelalter. In: Bochumer philoso­phisches Jahrbuch für Antike und Mittelalter 2 (1997) 81–103, bes. 92–102. 60 Vgl. die Klassifizierung von Versor als »proponent of Thomism against Albertism« im biobibliographischen Teil der Cambridge History of Renaissance Philosophy, ed. by Charles B. Schmitt and Quentin Skinner (Cambridge 1988) 839. 61 Vgl. z. B. das Urteil von E.P. Bos: Versor’s Albertism, a. a.O. [Anm. 2] 78 über Versors Albertismus in der Logik. 62 Vgl. QSLE I, q. 1, f.1rb: »Unde inter istos doctores non est diversitas in assignatione subiecti huius scientiae nisi penes magis commune et minus commune. Quia sanctus Thomas

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ner Kontraposition, sondern deutlich nach einem harmonisierenden Ansatz, in dem man eher von gegenseitigen Präzisierungen und Ergänzungen von Albertinischen und Thomanischen Elementen auszugehen hätte.63 In diesem Sinne hat Risto Saarinen die Darstellung der Aristotelischen akrasia im siebten Buch bei Versor verstanden: als einen Versuch, bestimmte Impulse der Deutung von Albert in ein von Thomas bereitgestelltes Grundgerüst einzufügen und somit eine Amalgamierung von Albertismus und Thomismus zu erreichen.64 Doch an dieser konkordistischen Deutung sind zumindest mit Blick auf Buch VII Zweifel angebracht. Diese werden nicht nur von dem offensichtlichen Umstand genährt, dass der Name von Albert in der gesamten Darstellung zur akrasia de facto kein einziges Mal fällt. Noch gravierender wiegt, dass es sehr schwer fällt, überhaupt spezifische Positionen in Versors Kommentar zu NE VII zu identifizieren, die »Sondergut« von Albert darstellen. Am auffälligsten zeigt sich dies in der bereits oben angeschnittenen Frage nach dem vermögenspsychologischen Sitz der continentia: Wie gesehen, charakterisiert Thomas die Beherrschtheit als eine volitionale Disposition, die ihren Sitz im Willen (und d. h.: nicht im sinnlichen Streben oder in der Vernunft) hat. Albert hingegen lässt in seinen beiden Ethikkommentaren keinen Zweifel daran, dass es sich bei der continentia um eine virtus intellectualis handelt, die ihren Sitz in der Vernunft hat.65 Hier besteht also ein veritabler doktrinaler Dissens zwischen Albert und Thomas. Wie geht Versor nun damit um? Kurz gesprochen: Er ignoriert den Gegensatz komplett. Die Darstellung des Problems in der 15. Quaestio ist vollkommen am einschlägigen Artikel aus Thomas’ Summa Theologiae (II–II, q.155, a.3) orientiert, ohne dass hier ein konkurrierender Albertinischer Gesprächsbeitrag auch nur erwähnt, geschweige denn sachlich angemessen konturiert würde. Dies zeigt der in Anhang 1 gebotene Textvergleich zwischen Versors und Thomas’ Text in aller wünschenswerten Deutlichkeit. assignat bonum hominis (quod est operatio) pro subiecto, Albertus vero assignat bonum ut se extendit ad operationem et habitum.« Eine ähnliche Harmonisierung zwischen Thomas und Albert strebt Versor auch bei der Bestimmung des Gegenstands der Aristotelischen Politik in seinem Kommentar zu dieser Schrift an; vgl. hierzu M. Grabmann: Kommentare, a. a.O. [Anm. 1] 70. 63 In QSLE I, f.1va, bringt Versor z. B. in die Diskussion über den Wissenschaftsstatus der Ethik die Überlegungen von Albert zur Unterscheidung von ethica docens und ethica utens ein, die bei Thomas keine zentrale Rolle spielen. 64  Vgl. R. Saarinen: Renaissance and Reformation Thought, a. a.O. [Anm. 13] 63 f. Ein solches kompilatorisches Programm legt auch ein bei Flüeler zitiertes Kolophon einer Prager Versor-Handschrift nahe: »Collecte ex Commentariis clarissimorum et illustrium virorum, videlicet doctoris sancti Thome de Alquino [sic !] et domini Alberti magnis Episcopi Ratisponensi…« (C. Flüeler: Gattungen, a. a.O. [Anm. 3] 84, nt. 16). 65 Vgl. Albertus Magnus, Super Ethica VII, lect. 1, ed. Wilhelm Kübel (Ed. Coloniensis, Bd. 14/2), Münster 1987, 516a: »Tertio videtur, quod [scil. continentia et heroica] non sint intellectuales virtutes […]. Solutio: Concedimus quod sunt intellectuales virtutes.« Vgl. auch ebd. lect. 8, 553a. Dieselbe Position wird von Albert auch noch in seinem zweiten Ethikkommentar vertreten; siehe Ethica VII, 1, 14, ed. Auguste Borgnet (Paris 1890) 499a: »Ex omnibus autem quae inducta sunt, facile est videre quod continentia intellectualis virtus est et est in ratione.«

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Es würde den thematischen Fokus dieses Beitrags überschreiten, die Präsenz von spezifischen Lehrstücken Alberts (und insbesondere von solchen, in denen erhebliche Abweichungen zu Thomas vorliegen) im ganzen Ethikkommentar von Versor zu prüfen; dies müsste einer umfassenderen Untersuchung vorbehalten bleiben. Ich möchte allerdings zusätzlich auf einen weiteren, vielleicht noch aussagekräftigeren Testfall hinweisen, nämlich den Umgang mit der für die Ethik zentralen Thematik des Glücks (felicitas). Auch hier zeigen sich nämlich bei Albert und Thomas höchst unterschiedliche Verständnisse: Albert entwickelt in seinen Ethikkommentaren im Anschluss an Aristoteles eine anspruchsvolle Theorie der innerweltlichen Glückseligkeit, die in der Schau der getrennten (d. h. immateriellen) Substanzen liegt.66 Diese höchste Erkenntnis ist dem Menschen möglich, insofern er durch philosophisches Studium eine besondere Reifungsstufe seines Intellekts, den sogenannten intellectus adeptus realisiert, der schließlich eine nicht mehr auf Abstraktion von sinnlichem Material beruhende direkte Wesensschau zu bewerkstelligen vermag. Sowohl diese in Auseinandersetzung mit Averroes und anderen arabischen Auslegern gewonnene Intellektlehre als auch die hieraus resultierende Theorie einer bereits im irdischen Leben zu realisierenden felicitas mentalis, eines veritablen Philosophenglücks, gehörten spätes­ tens seit dem beginnenden 14. Jahrhundert zu den schulbildenden Kennmarken eines ethischen Albertismus.67 Thomas hingegen zieht regelmäßig gegen diese Theorie zu Felde: Zum einen in Form seiner Betonung, dass der Mensch im Leben nur eine unvollkommene (und keine vollkommene) Glückseligkeit erlangen kann, was er schon in Aristoteles’ Ethik grundgelegt sieht;68 zum anderen in Gestalt seiner Kritik an jeglicher Form einer averroistisch inspirierten Intellektlehre mit dem intellectus adeptus als Klimax. Eine direkte Betrachtung der getrennten Substanzen im diesseitigen Leben hält Thomas für unmöglich, da jegliche irdische Erkenntnis seiner Epistemologie zufolge an sinnliche Wahrnehmungen und deren mentale Repräsentationen (als phantasmata) gebunden ist, die uns im Falle immaterieller Wesen eben völlig fehlen. Hier stehen sich somit Albert und Thomas (bzw. Albertisten und Thomisten69) in nahezu diametraler Opposition gegenüber. 66 

Vgl. hierzu Jörg Müller: Natürliche Moral und philosophische Ethik bei Albertus Magnus (Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie des Mittelalters, N.F. 59) (Münster 2001) 90–135; Der Einfluss der arabischen Intellektspekulation auf die Ethik des Albertus Mag­ nus. In: Wissen über Grenzen (Miscellanea Mediaevalia, 33), hg. von Andreas Speer und Lydia Wegener (Berlin/New York 2006) 545–568. 67  Vgl. die Notizen zur Wirkungsgeschichte in J. Müller: Natürliche Moral, a. a.O. [Anm. 66] 377–392. 68  Vgl. die Analyse bei Jörg Müller: Duplex beatitudo: Aristotle’s legacy and Aquinas’s conception of happiness. In: Aquinas and the Nicomachean Ethics, ed. by Tobias Hoffmann, Jörn Müller and Matthias Perkams (Cambridge 2013) 52–71. 69  Zur antithomistischen Intellektlehre der späteren Albertisten und ihrer Betonung des intellectus adeptus als höchster Stufe menschlicher Erkenntnis vgl. M. Hoenen: Heymeric van de Velde, a. a.O. [Anm. 59] 307 ff.

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Diese Diskussion über den wahren Charakter des irdischen Glücks und seine grundsätzliche Erreichbarkeit involviert eine entsprechende Interpretation des Aristotelischen bios theôrêtikos in Buch X der NE in Verbindung mit der Intellektlehre aus De anima III. Albert entwickelt in seinem zweiten Ethikkommentar, Ethica, explizit ein Verständnis des kontemplativen Glücks bei Aristoteles als Realisierung des intellectus adeptus.70 Auch dieses Lehrstück würde man also in irgendeiner Weise in Versors Kommentar erwarten, wenn es ihm um eine Auslotung Albertinischer und Thomanischer Elemente ginge. Aber hier herrscht weitgehende Fehlanzeige in Versors Quaestionen zum zehnten Buch der NE. Der intellectus adeptus wird kein einziges Mal erwähnt; stattdessen wird die damit konfligierende Idee der grundsätzlich erforderlichen Hinwendung des Intellekts zu den mentalen Repräsentationen von Sinneswahrnehmungen (conversio ad phantasmata), die eine Kennmarke der Thomistischen Epistemologie ist, durchgängig stark gemacht.71 Konsequenterweise schließt sich Versor hier auch explizit an Thomas’ Unterscheidung einer vollkommenen und unvollkommenen Glückseligkeit an und betont, dass es ein wirklich vollwertiges kontemplatives Glück, das der Mensch aus eigenen intellektuellen Kräften in diesem Leben erreichen könnte, in diesem Leben nicht gibt72 – dies bleibt der jenseitigen Erkenntnis des Menschen in Form der Schau der göttlichen Wesenheit vorbehalten. Versor folgt hier in der Argumentation einfach Thomas; die Möglichkeit einer abweichenden Deutung des Aristotelischen bios theôrêtikos wird lediglich an zwei Stellen angedeutet: (1) In einer Passage deutet Versor an, dass beim Verständnis des Intellekts in NE X recht unterschiedliche Auffassungen vertreten werden.73 Hierbei bezieht er sich auf den zu Lebzeiten von Albert und Thomas virulenten (und auch von 70  Vgl. hierzu

ausführlich J. Müller: Intellektspekulation, a. a.O. [Anm. 66]. Vgl. u. a. QSLE X, f.114vb und 119rb. Vgl. auch den direkten Anschluss an Thomas’ STh I–II, q.4, a.6, in der Frage, ob der Körper zur Glückseligkeit benötigt wird (mit deutlichen Spitzen gegen ein ›körperloses‹ neuplatonisches Glücksideal), in QSLE X, f.117vb. 72 Vgl. QSLE X, f.113vb, 114rb, 116ra, 117rb, sowie 118vb: »Patet etiam quod in hac vita non ponit perfectam felicitatem sed talem qualis potest competere humanae et mortali vitae. Ideo supra in primo dicit beatos autem ut homines.« Diese Formulierung (›beati ut homines‹) aus NE I 10, 1101a 20–21, greift auch Thomas immer wieder auf, in seinem Kommentar zur NE wie auch in seinen theologischen Werken; vgl. J. Müller: Duplex beatitudo, a. a.O. [Anm. 68] 62. Auf Versors Rekurs auf Thomas’ Unterscheidung von vollendeter und unvollendeter Glückseligkeit verweist auch Jill Kraye: Moral Philosophy. In: The Cambridge History, a. a.O. [Anm. 60] 303–386, hier: 318 u. 342 f. 73 Vgl. QSLE X, q.9, f.114ra: »Dubitatur primo quid sit illud in homine optimum. Respondetur quod est intellectus. Sed quia circa hoc sunt aliqui diversimode locuti nec est locus talia discutiendi. Ideo sub dubio ad praesens relinquit philosophus utrum scilicet optimum hominis sit intellectus vel aliquid aliud. […] Alio modo comparatur intellectus humanus ad res divinas secundum materialitatem ad ipsas, diversimode quidem secundum diversorum sententias. Nam quidam posuerunt intellectum humanum semper esse perpetuum et separatum aliquid et secundum hoc ipse intellectus humanus esset quoddam divinum quia res divinae dicuntur quae sunt sempiternae et separatae. Alii vero posuerunt eum esse partem animae sicut Aristoteles. Et hoc non esset simpliciter quoddam divinum sed esset dignissimum inter omnia quae in nobis 71 

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ihnen selbst wesentlich befeuerten) Streit um den ›averroistischen Monopsychismus‹, also die These, dass es nur einen einzigen transzendenten Intellekt für alle Menschen gebe. An dieser Stelle lässt Versor es allerdings mit einer kurzen Charakterisierung der divergenten Positionen bewenden, auch wenn er bereits verdeutlicht, dass die ›arabische‹ Lesart letztlich mit dem von Aristoteles propagierten Intellektbegriff nicht kompatibel ist. Eine explizite Entscheidung zwischen den Positionen schiebt er hier aber tendenziell auf.74 (2) Eindeutiger gestaltet sich hingegen seine Stellungnahme in folgendem Punkt: »Hieraus wird deutlich, dass der Philosoph [scil. Aristoteles] das höchste Glück in die Betätigung der Weisheit setzt, die im sechsten Buch [scil. der NE] behandelt wird, und nicht im Verhältnis zum tätigen Intellekt, wie manche es vortäuschen.«75 Das ist scheinbar eine eindeutige Stellungnahme Versors zu Gunsten von Thomas und mindestens indirekt gegen den von Albert propagierten intellectus adeptus (der in einer habituellen Überformung des möglichen Intellekts durch den tätigen Intellekt besteht) sowie gegen die darauf basierende Lehre von einer auf geistiger Wesensschau beruhenden felicitas mentalis gerichtet, wie sie für den ethischen Albertismus kennzeichnend ist. Aber de facto ist es einmal mehr bloß eine nahezu wörtliche Übernahme aus Thomas’ Ethikkommentar.76 Auch an dieser fundamentalen Verzweigung von Albertinischer und Thomanischer Glückslehre liefert Versor also keinerlei Aufbereitung der beiden konfligierenden bzw. konkurrierenden Positionen, sondern zitiert bloß Thomas. Daraus lässt sich zumindest die Schlussfolgerung ziehen, dass es Versor in seinem Kommentar offensichtlich nicht darum geht, Thomismus und Albertismus gegeneinander auszuspielen oder auch nur auszuloten. Wäre das sein Ziel, so müsste er gerade hier – ebenso wie bei der Diskussion um den seelischen Sitz der continentia in Buch VII – in Anbetracht der offensichtlichen Kontraposition der beiden Denker (und auch ihrer späteren Anhänger) explizit nachhaken. Dass er es nicht tut und Albert bzw. seine Position an diesen Stellen noch nicht einmal als eigenständige Stellungnahme zur Thematik zu Wort kommen lässt, geschweige denn ausführlicher diskutiert, kann man als Vertreter der ›harmonistischen‹ Lesart natürlich wie folgt auslegen: Wo Albertinische und Thomanische Positionen sunt propter maiorem convenientiam quam habet cum substantiis separatis secundum quod exerceret eius operationem sine organo corporeo.« 74  Vgl. ebd.: »Quocumque autem modo se habeat, necesse est secundum praedicta felicitas sit operatio huius optimi secundum virtutem sibi propriam.« 75  QSLE X, q.14, f.118vb: »Ex quo patet quod ultimam felicitatem ponit Philosophus in operatione sapientiae de qua in sexto determinatur et non in comparatione ad intellectum agentem ut quidam fingunt.« 76  Vgl. Thomas, Sententia libri ethicorum X 13, p. 595, 137–141: »Ex quo patet quod ultimam felicitatem humanam ponit Aristotiles in operatione sapientiae de qua supra in VI determinavit, non autem in continuatione ad intelligentiam agentem, ut quidam fingunt.« Zu Thomas’ Averroismus-Kritik in seinem Ethikkommentar vgl. auch J. Müller: Duplex beatitudo, a. a.O. [Anm. 68] 62–64.

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so grundsätzlich differieren, dass keine Amalgamierung möglich ist, sollte man Gegensätze innerhalb der via antiqua klugerweise lieber verschweigen, anstatt der Opposition der via moderna noch selbst die Waffen an die Hand zu geben, mit denen sie Thomismus und Albertismus gegeneinander ausspielen können. Eine solche hermeneutische Strategie zur Übertünchung von Gegensätzen ist zwar nicht auszuschließen, aber es ist wohl unwahrscheinlich, dass solche grundlegenden ethischen Differenzen zwischen Albertismus und Thomismus potenziellen Gegnern oder Kritikern beider Positionen durch solche Camouflagen wirklich entgangen sein sollten. Ich halte deshalb folgende Lesart für wahrscheinlicher: Versor ist in seinem Ethikkommentar überhaupt nicht an einer Positionierung im Wegestreit gelegen, und zwar weder gegenüber den Auseinandersetzungen zwischen via antiqua und moderna noch im Blick auf sichtbar vorhandenen Differenzen zwischen Albertismus und Thomismus. Was er in seinem Kommentar präsentiert – zumindest in den Büchern VII und X, die ich näher untersucht habe – ist letztlich eine gänzlich am Leitfaden von Thomas’ Sententia erarbeitete Deutung der Nikomachischen Ethik. Insofern schon Thomas in seinem Kommentar sich fast ausschließlich auf den Aristotelischen Text und die Rekonstruktion seiner Aussageabsicht hin konzentriert und abweichende Meinungen sowie Deutungen kaum verzeichnet, erstaunt es deshalb nicht, dass Versor hier ebenfalls wenig Weiterführendes bzw. Problematisierendes bietet. Genuin Albertistische Positionen, für die er auf anderes Schrifttum rekurriert hätte, sind in den Büchern VII und X seiner Quaestiones jedenfalls nicht nachweisbar.77 Wenn Versor hier intensiver auf Albert hätte zurückgreifen wollen, hätten sich ihm für seinen eigenen Hybridkommentar aus lectio und quaestio sowohl Alberts erster NE-Kommentar (Super Ethica, ein Literalkommentar mit Quaestionen) als auch sein zweiter (Ethica, eine Paraphrase mit eingestreuten Quaestionen) als Textbasis in besonderem Maße angeboten, und zwar nicht zuletzt von ihrer literarischen Mischform her. Aber Versor 77 Allerdings ist nicht ganz unumstritten, ob die Bücher VII bis X des Kommentars von Versor selbst stammen. R.A. Gauthier, Introduction, a. a.O. [Anm. 9] 140 f. sieht auf der Basis der Handschriftenlage nur die Bücher I–VI als gesichert zuschreibbar an und hält sich in Bezug auf den Rest eher bedeckt: »je ne sais ce qu’il faut penser de l’authenticité des questions sur les livres VII–X, qui n’existent pas dans les mss que j’ai consultés …« (ebd. 140, nt. 155). Eine weitere Tiefenbohrung in den ersten sechs Büchern wäre gerade unter diesem Gesichtspunkt lohnenswert, um zu sehen, ob sich die Technik des Kommentars hier von der in den Büchern VII und X verwendeten Kompilationen bzw. Collagen unterscheidet. Im Rahmen einer Stichprobe für Buch III lässt sich z. B. feststellen, dass QSLE III, q.2 (»Utrum ignorantia causet involuntarium«) nachhaltig auf STh I–II, q.6, a.8, rekurriert, QSLE III, 3.3 (»Utrum electio sit actus voluntatis vel rationis«) auf STh I–II, q.13, a.1. Insgesamt erscheint mir in Buch III aber die Abhängigkeit des Versor-Kommentars von Quaestionen aus der Summa von Thomas geringer als in den Büchern VII und X. Hier wäre eine vertiefte quantitative und qualitative Analyse lohnend. Auf jeden Fall ist aber R. Saarinen: Renaissance and Reformation Thought, a. a.O. [Anm. 13] 63 Recht zu geben, der die Zweifel an der Authentizität der Bücher VII–X letztlich für nicht allzu bedeutsam hält: »they [scil. books VII–X] appear in all printed editions and were certainly read by later generations as Versor’s teaching.«

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bevorzugt ausschließlich Thomas’ literale Ethikkommentierung in der Sententia libri Ethicorum und zeigt sich doktrinal – zumindest in Sachen Willensschwäche und Glück – weder als verschleierter Albertist noch als ein um die Harmonie von Thomas und Albert bemühter Exponent der via antiqua, sondern schlicht und elementar als ein unzweideutiger Thomist.78

IV. Fazit Folgt man der Argumentation des vorherigen Abschnitts, ist es trotz der Andeutungen von Versor zu Beginn seines Kommentars nicht sein eigentliches Anliegen, Thomas’ Deutung der Aristotelischen Ethik mit Albertinischem Material abzugleichen bzw. aus ihm heraus zu ergänzen. Wenn er für die Konstruktion seiner Quaestionen über seinen Basistext der Sententia libri Ethicorum von Thomas hinaus noch zusätzliches Material heranzieht, ist auch dieses nahezu vollständig aus dem Corpus Thomisticum geschöpft. Dies hatten wir oben (in Teil II) schon im Falle der akrasia gesehen: Versor ergänzt hier v.a. Quaestionen aus der Tugendlehre der Secunda Secundae der Summa theologiae, um die verschiedenen hier involvierten Kräfte bzw. Vermögen in ihrer Wirkungsweise und ihrer moralischen Bewertung näher auszuloten. Noch offensichtlicher ist dieses Supplementierungsverfahren in den Quaestionen zum zehnten Buch der Nikomachischen Ethik: Hier arbeitet Versor in nur leicht modifizierter Form eine ganze Reihe von Artikeln aus Thomas’ Glückstraktat der ersten fünf Quaestionen der Prima secundae ein.79 Im Ergebnis lesen sich dann Versors Quaestionen wie eine Art Kurzfassung der Thomanischen Glückslehre und weniger als eine direkte Kommentierung zum Text von Aristoteles. Das entspricht einer Tendenz, die Christoph Flüeler minutiös für die Wiener Ethik-Kommentare des 15. Jahrhunderts nachgewiesen hat, in denen auch weniger Aristoteles als vielmehr der Kommentar von Johannes Buridan zur Nikomachischen Ethik diskutiert wird. Dabei wird in den Disputationen nahezu 78 Vgl.

in diesem Sinne auch R. Saarinen: Renaissance and Reformation Thought, a. a.O. [Anm. 13] 69: »Versor’s commentary does not develop positions which could be labelled Albertian or the author’s own innovation. His Quaestiones is a systematic exposition of and apology for the conventional Thomist interpretation of Aristotle’s ethics.« Dass die scheinbaren Selbstkennzeichnungen Versors als Albertist in einigen logischen Schriften nicht als solche zu verstehen sind, hat P. Rutten: Secundum processum, a. a.O. [Anm. 6] 300–303 m.E. überzeugend nachgewiesen. Sein Fazit lautet: »On the whole, Versor’s doctrinal profile seems indistinct and at best a blurred form of Thomism« (ebd. 323). Problematisch erscheint mir allerdings sein Versuch, Versor dennoch als »authority sui generis« zu etablieren: »Although his works were used by Thomists and his views accord with Aquinas and the Thomist school on several fundamental issues, they do not reveal any confessions of loyalty to Aquinas and they are certainly not exclusively based on Aquinas’ works.« (Ebd. 329) Für die Bücher VII und X des NE-Kommentars muss man im Blick auf die letzte Feststellung eher das Gegenteil konstatieren, wie oben deutlich wurde. 79  Vgl. hierzu die detaillierte Übersicht in Anhang 4.

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ausschließlich auf Argumente aus der Vorgängerliteratur zurückgegriffen.80 In ähnlicher Form verfährt auch Versor, wobei letztlich Thomas’ Ethikkommentar und dessen Summa Theologiae seine unübersehbaren Hauptquellen sind. Welche Absichten könnte er mit dieser Collage bzw. Kompilation verfolgt haben? Hier scheinen mir drei Momente eine Rolle zu spielen: (1) Versors Kommentare zeigen insgesamt, wie Christoph Flüeler betont hat, »formal eine sehr große Ähnlichkeit und müssen als Einheit verstanden werden, sozusagen als Pariser Lehrbuch zum ganzen corpus Aristotelicum«.81 Vor dem Hintergrund der gewonnenen Erkenntnisse zur Ethik muss man nachhaltig den Thomistischen Charakter dieses Unternehmens unterstreichen: Versor liefert hier nicht mehr und nicht weniger als ein Lehrbuch zur Aristotelischen Ethik ad mentem Thomae. Dies ist zweifelsfrei als ein Beitrag zur Schulbildung zu verstehen, die sich ja wesentlich auf bestimmte autoritative Texte stützte,82 im vorliegenden Fall auf Thomas’ Sententia libri Ethicorum und seine Summa theologiae, die Versor in seinen Ethik-Quaestionen kompiliert. (2) Diese Kompilation führt, wie oben gesehen, im wesentlichen zu einer Über­führung der Thomanischen Literalexposition aus der Sententia libri Ethicorum in die Quaestionen-Form. De facto erzeugt das einen Hybridkommentar von lectio und disputatio, aber in der äußeren Form entsteht dadurch erst einmal eine handliche Sammlung Thomistischer Quaestionen zur Nikomachischen Ethik, die sich für den disputativen Lehrbetrieb an der Universität besonders gut eignete.83 Dies zeigt zum einen die formale Elastizität des Genres ›Kommentar‹.84 Zum anderen kann man es auch als Indikator für einen real vorhandenen Bedarf sehen, der durch Versors Schrift abgedeckt wurde: Endlich hatte man auch in Thomistischen Kreisen einen kompletten Kommentar in Quaestionenform, den man z. B. den zu dieser Zeit ebenfalls recht populären Ethik-Quaestionen Buridans, also der via moderna, entgegensetzen konnte.85 Dies würde 80  Vgl.

C. Flüeler: Teaching Ethics in the University of Vienna: The Making of a Commentary at the Faculty of Arts (A Case Study). In: Virtue Ethics in the Middle Ages. Commentaries on Aristotle’s Nicomachean Ethics, 1200–1500 (Brill’s Studies in Intellectual History, 160), ed. by István Bejczy (Leiden/Boston 2008) 277–346, bes. 285 u. 312. 81  C. Flüeler: Gattungen, a. a.O. [Anm. 3] 84. 82  Vgl. hierzu M. Hoenen: Thomismus, a. a.O. [Anm. 59] 84 f., der insgesamt vier plausible Definitionsmerkmale für philosophische Schulen im Mittelalter bietet. 83 Versor hat also schon erkannt, was R. A. Gauthier: Introduction, a. a.O. [Anm. 9] 131, zutreffend wie folgt ausdrückt: »[A]u fait, la Seconde Partie [scil. de la Somme de théologie de Thomas d’Aquin] constitue elle aussi un commentaire de l’Éthique, le commentaire par questiones qui devait normalement compléter l’exposicio littere […].« 84  Zur Entwicklung der Aristoteles-Kommentare in der Renaissance vgl. C.B. Schmitt: Aris­ totle, a. a.O. [Anm. 5] 34–63. 85  Für diesen Trend zu Quaestionen in der Ethik-Kommentierung im 14./15. Jahrhundert vgl. G. Wieland: The Reception and Interpretation of Aristotle’s Ethics. In: The Cambridge History of Later Medieval Philosophy, ed. by Norman Kretzmann (Cambridge 1982) 657–672, hier: 666 f. Zum Einfluss der Kommentare von Thomas und Buridan auf die Auslegung der Aristotelischen Ethik in der italienischen Renaissance vgl. D. A. Lines: Sources and Authorities for Moral Philosophy in the Italian Renaissance: Thomas Aquinas and Jean Buridan on Aristotle’s

Der Kommentar zur Nikomachischen Ethik von Johannes Versor († 1485)

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auch den nachweislichen Erfolg von Versors Kommentar in spätscholastischen Universitätskreisen im 15. und 16. Jahrhundert erklären, sowie auch seine Unbeliebtheit in humanistischen Kreisen, die der Quaestionen-Form eher abhold waren und sich deshalb lieber direkt an Thomas’ Literalexposition hielten.86 (3) Versors Ethikkommentar ist um 1446, und d. h. im Umfeld seiner Tätigkeit als Magister der Artes-Fakultät entstanden.87 Dies erscheint mir v.a. im Blick darauf interessant, wie er Lehrstücke aus Thomas’ moraltheologischem Hauptwerk, der Summa Theologiae, einarbeitet. Bei den Einwänden und im Sed contra der Ethik-Quaestionen verzichtet Versor oft auf die Nennung der von Thomas in der Summa explizit genannten theologischen und biblischen Autoritäten, sondern greift lieber auf die philosophischen Argumente zurück, insbesondere auf die bei Aristoteles selbst zu belegenden Positionen. Auch diese finden sich zwar oft schon bei Thomas in der Summa angeführt, aber hier ist die Blickrichtung gewissermaßen umgekehrt: Während Thomas aus Aristoteles schöpft, um ihn in seine theologisch fundierte Synthese der christlichen Moral einzuarbeiten, reintegriert Versor gewissermaßen die Überlegungen aus Thomas’ moraltheologischem Hauptwerk wieder in den philosophischen Kontext der Nikomachischen Ethik. Theologoumena spielen deshalb in Versors Ethikkommentar auch keine besondere Rolle.88 Wer die Kernideen Thomistischer philosophia moralis in komprimierter Form nachlesen wollte, konnte somit einfach Versors EthikQuaestionen zur Hand nehmen. Auch das ist zweifelsfrei ein Beitrag zur Schulbildung des Thomismus. Zusammenfassend gesagt: Der nähere Blick auf Versors Ethikkommentar und seine Behandlung der Aristotelischen akrasia zeigt ihn also im Wesentlichen als ein Produkt spätscholastischer Schulbildung. Wie die meisten Ethikkommentare zwischen 1350 und 1490 trägt er deshalb zum inhaltlichen Verständnis des Phänomens cum grano salis eben genau das bei, was er selbst in seinen scholastischen Quellen findet.89 Das führt eher zu einer ›Stalaktierung‹ der jeweiligen PoEthics. In: Moral Philosophy on the Threshold of Modernity (The New Synthese Historical Library, 57), ed. by Jill Kraye and Risto Saarinen (Dordrecht 2005) 7–29. 86  Vgl. ebd. 22: »Many humanists seem to have appreciated Thomas’s Sententia as a model of straightforward and clear (although not stylistically elegant) exposition.« 87  R. A. Gauthier: Introduction, a. a.O. [Anm. 9] 140, setzt den Kommentar in die Zeit vor 1446 (mit Hinweis auf die Notiz eines Kopisten in einer der Handschriften); O. Weijers: Le travail intellectuel, a. a.O. [Anm. 3] 174 datiert ihn um 1447. Nach C. Flüeler: Gattungen, a. a.O. [Anm. 3] 83 sind die von Versor überlieferten Aristoteleskommentare in den vierziger Jahren des 15. Jahrhunderts in Paris entstanden, auch wenn er einige Fragezeichen hinter diverse Zuschreibungen an Versor setzt. 88  In den Quaestionen zu Buch VII z. B. wird ein möglicher gnadentheologischer Aspekt der (in)continentia nur einmal ganz kurz (und eher pflichtschuldig) abgehandelt; vgl. QSLE VII, q.16, ad 2, f.69ra. Auch diese Passage ist übrigens nahezu wörtlich von Thomas übernommen; vgl. STh II–II, q.156, a.2, ad 1. 89  Vgl. R. Saarinen: Weakness of Will in the Renaissance and Reformation. In: Das Problem der Willensschwäche in der mittel­alterlichen Philosophie / The Problem of Weakness of Will in Medieval Philosophy (Recherches de Théologie et Philosophie médiévales: Bibliotheca, 8), hg.

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Jörn Müller

sition, die auch mit einer bewusst intendierten Simplifikation des Dargebotenen einher geht: Hier ist im Sinne der auf doktrinale Einheit zielenden Schulbildung wohl tendenziell ein gewisses Maß an Komplexitätsreduktion gefragt. Neue inhaltliche Wege werden in Sachen akrasia dann erst wieder mit Faber Stapulensis und mit den Kommentaren der Reformatoren beschritten.90 Dennoch ist dem Kommentar von Versor eine gewisse Innovationskraft nicht abzusprechen: Diese liegt v.a. in der geschickten Verknüpfung und Verdichtung des heterogenen Materials aus dem Corpus Thomisticum zu einer kohärenten Darstellung in Form eines Hybridkommentars aus Literalexposition und Quaes­ tionen. Das mag aus heutiger Perspektive nicht wirklich originell anmuten, aber das war wohl auch nicht der Anspruch schulbildender Literatur im späten Mittelalter. Denn bei dieser Art von Schulphilosophie steht eben, wie Marten Hoe­ nen es zusammenfassend formuliert hat, »nicht die Originalität, sondern die Richtigkeit oder Orthodoxie der Lehre im Mittelpunkt des Interesses«.91 Es ist institutionelles Philosophieren im Zeichen und Schatten eines gültigen Paradigmas, das es nach dem Selbstverständnis der Autoren zu explizieren und auszubauen, aber nicht grundlegend zu hinterfragen oder gar zu erschüttern galt.92

von Tobias Hoffmann, Jörn Müller und Matthias Perkams (Leuven/Paris/Dudley 2006) 331– 353, hier: 333: »For these reasons, the period between 1350 and 1490 was not very interesting for the study of philosophical ethics.« J. Kraye: Renaissance Commentaries, a. a.O. [Anm. 49] 96 sieht die meisten Renaissance-Kommentare zur NE aus dem universitäten Lehrkontext als »plodding, pedantic and conspicuously lacking in originality« und konkludiert: »Commentaries allow us to experience, vicariously, the tedium of the modern classroom.« 90  Vgl. ebd. 104 ff., sowie R. Saarinen: Renaissance and Reformation Thought, a. a.O. [Anm. 13] bes. 105–209. 91  M. Hoenen: Thomismus, a. a.O. [Anm. 59] 83. 92 Vgl. hierzu auch die Bemerkungen von C. Flüeler: Teaching Ethics, a. a.O. [Anm. 80] 320–323.

Anhang 1: Textvergleich Versor / Thomas

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Anhang 1: Textvergleich Versor / Thomas zur Frage nach dem psychologischen Sitz der Beherrschtheit (subiectum continentiae) Versor, Quaestiones super libros Ethicorum VII, q. 15 (f.67vb–68ra)

Thomas von Aquin, Summa theologiae II–II, q. 155

Quaeritur decimoquinto utrum continentia sit subiective in appetitu concupiscibili.

Articulus 3: Utrum subiectum continentiae sit vis concupiscibilis Videtur quod subiectum continentiae sit vis concupiscibilis.

(1) Arguitur primo quod sic, quia subiectum virtutis est proportionatum suae materiae; sed materia continentiae est concupiscentia delectabilium tactus quae pertinet ad vim concupiscibilem; ergo continentia est in vi concupiscibili.

(1) Subiectum enim alicuius virtutis oportet esse proportionatum materiae. Sed materia continentiae, sicut dictum est, sunt concupiscentiae delectabilium tactus, quae pertinent ad vim concupiscibilem. Ergo continentia est in vi concupiscibili.

(2) Secundo arguitur: Opposita habent fieri circa idem; sed incontinentia quae opponitur continentiae est in vi concupiscibili cuius passiones superant rationem; ergo incontinentia est in concupiscibili. Minor patet quia dicit Andronicus quod incontinentia est malitia concupiscibilis secundum quam pravas eligit delectationes prohibente rationabili; igitur.

(2) Praeterea, opposita sunt circa idem. Sed incontinentia est in concupiscibili, cuius passiones superant rationem; dicit enim Andronicus quod incontinentia est malitia concupiscibilis, secundum quam eligit pravas delectationes, prohibente rationali. Ergo et continentia, pari ratione, est in concupiscibili.

(3) Tertio arguitur subiectum virtutis humanae est ratio vel vis appetitiva quae dividitur in voluntatem, concupiscibilem et irascibilem. Sed continentia non est in ratione quia sic esset virtus intellectualis, neque etiam in voluntate cum sit circa passiones quae non sunt in voluntate neque etiam in irascibili, quia non est proprie circa passiones irascibiles ut dicum est. Ergo relinquitur quod sit in concupiscibili.

(3) Praeterea, subiectum virtutis humanae vel est ratio, vel vis appetitiva, quae dividitur in voluntatem, concupiscibilem et irascibilem. Sed continentia non est in ratione, quia sic esset virtus intellectualis. Neque etiam est in voluntate, quia continentia est circa passiones, quae non sunt in voluntate. Nec etiam est in irascibili, quia non est proprie circa passiones irascibilis, ut dictum est. Ergo relinquitur quod sit in concupiscibili.

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In oppositum arguitur: Omne existens in aliqua potentia aufert malum actum illius potentiae; sed continentia non aufert malum actum concupiscibilis, quia continens habet concupiscentias pravas, ut dictum est supra; ergo continentia non est in concupiscibili. (…) Conclusio secunda et responsiva: Concupiscentia [recte: continentia] non est subiective in appetitu concupiscibili neque in ratione sed subiective est in voluntate.

Sed contra, omnis virtus in aliqua potentia existens aufert malum actum illius potentiae. Sed continentia non aufert malum actum concupiscibilis, habet enim continens concupiscentias pravas, ut philosophus dicit, in VII Ethicorum. Ergo continentia non est in concupiscibili. [J.M.: keine direkte Entsprechung in STh II–II, aber vgl. Thomas, Sententia libri Ethicorum VII, lectio 10, p.421sq., ll. 87–97]

Prima pars probatur, quia omis virtus in aliquo subiecto existens facit ipsum differre a dispositione quam habet dum subicitur proposito vitioso; sed concupiscibilis eodem modo se habet in continente et in incontinente, quia in utroque prorumpit in concupiscentias pravas vehementes; ergo continentia non est in concupiscibili ut in subiecto.

Respondeo dicendum quod omnis virtus in aliquo subiecto existens facit illud differre a dispositione quam habet dum subicitur opposito vitio. Concupiscibilis autem eodem modo se habet in eo qui est continens, et in eo qui est incontinens, quia in utroque prorumpit ad concupiscentias pravas vehementes. Unde manifestum est quod continentia non est in concupiscibili sicut in subiecto.

Secunda pars probatur, quia similiter se habet ratio in continente et in incontinente quia uterque habet ratio­ nem rectam et uterque extra passionem existens gerit in proposito non sequi concupiscentias illicitas.

Similiter etiam ratio eodem modo se habet in utroque, quia tam continens quam incontinens habet rationem rectam; et uterque, extra passionem existens, gerit in proposito concupiscentias illicitas non sequi.

Tertia pars probatur, quia continentia est in vi animi sicut in subiecto cuius actus est electio; sed talis est voluntas; ergo continentia est in voluntate subiective. Maior patet qui prima differentia continentis et incontinentis invenitur in electione. Nam continens, quamvis patitur vehementes concupiscentias, tamen elegit non sequi propter

Prima autem differentia eorum invenitur in electione, quia continens, quamvis patiatur vehementes concupiscentias, tamen eligit non sequi eas, propter rationem; incontinens autem eligit sequi eas, non obstante contradictione rationis. Et ideo oportet quod continentia sit sicut in subiecto in illa vi animae cuius actus est electio. Et

Anhang 1: Textvergleich Versor / Thomas

rationem, sed incontinens eligit sequi eas non obstante contradictione rationis. Ergo maior vera. Minor patet ex tertio libri huius. (…) Ad rationes ante oppositum: (1) Ad primam dicitur quod continentia non est circa delectationes tactus sed est eas moderans sicut temperantia quae est in concupiscibili et quasi eis resistens. Ideo oportet quod sit in alia vi, quia resistentia est unius ad alterum.

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haec est voluntas, ut supra habitum est.

(1) Ad primum ergo dicendum quod continentia habet materiam concupiscentias delectationum tactus, non sicut quas moderetur, quod pertinet ad temperantiam quae est in concupiscibili, sed est circa eas quasi eis resistens. Unde oportet quod sit in alia vi, quia resistentia est alterius ad alterum.

(2) Ad secundam dicitur quod voluntas media est inter rationem et concupiscibilem et potest ab utroque moveri. In continente autem movetur a ratione, sed in incontinenti a concupiscibili. Et ideo potest attribui rationi sicut primo moventi, incontinentia concupiscibilis, quamvis utraque immediate pertineat ad voluntatem sicut ad proprium subiectum.

(2) Ad secundum dicendum quod voluntas media est inter rationem et concupiscibilem, et potest ab utroque moveri. In eo autem qui est continens, movetur a ratione, in eo autem qui est incontinens, movetur a concupiscibili. Et ideo continentia potest attribui rationi sicut primo moventi, et incontinentia concupiscibili, quamvis utrumque immediate pertineat ad voluntatem sicut ad proprium subiectum.

(3) Ad tertiam dicitur quod, licet passiones non sint in voluntate, tamen in potestate voluntatis est eis resistere. Et hoc modo voluntas continentis resistit concupiscentiis.

(3) Ad tertium dicendum quod, licet passiones non sint in voluntate sicut in subiecto, est tamen in potestate voluntatis eis resistere, et hoc modo voluntas continentis resistit concupiscentiis.

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Jörn Müller

Anhang 2: Exemplarischer Textvergleich der Kommentare zu NE VII (Johannes Versor / Thomas)1 Johannes Versor, Quaestiones super libros Ethicorum VII, q.1, ed. Köln 1494, f. 56ra–b

Thomas de Aquino, Sententia libri Ethicorum VII, lect. 1, ed. Leon. 48, Rom 1969, p. 380

Sciendum primo quod postquam philosophus determinavit de virtutibus moralibus et intellectualibus, consequenter determinat de quibusdam consequentibus ad virtutes et primo de continentia quae est quaedam imperfectum in genere virtutis. Secundo de amicitia quae est effectus virtutis, et hoc in octavo et nono huius. Et finaliter de fine virtutis, videlicet de felicitate, et hoc in decimo libro huius. Determinans autem de continentia et eius opposito primo distinguit eam ab aliis quae sunt eiusdem generis, et etiam eius oppositum. Et primo dicit quod post ea quae dicta sunt de virtutibus moralis et intellectualibus, oportet primo dicere de illis quae circa mores sunt fugienda, ut nihil praetermittatur. Quorum sunt tres, scilicet malitia, incontinentia et bestialitas.

Postquam philosophus supra determinavit de virtutibus moralibus et intellectualibus, hic incipit determinare de quibusdam quae consequuntur ad virtutem. Et primo de continentia, quae est quiddam imperfectum in genere virtutis. Secundo de amicitia, quae est quidam effectus virtutis, in octavo libro, ibi, post haec autem de amicitia et cetera. Tertio de fine virtutis, in X libro, ibi: post haec autem de delectatione et cetera.

Sciendum secundo quod (ut in sexto dictum est) actio vera hominis est cum ratione practica vera et appetitu recto. Et per hoc quod aliquid horum duorum pervertitur, contingit aliquid esse fugiendum in moralibus. Si igitur sit perversitas ex parte appetitus ratione praeterita remanente, erit incontinentia quae est quando aliquis habet rectam aestimationem de eo quod est 1  In

Circa primum duo facit. Primo determinat de continentia et eius opposito. Secundo de delectatione et tristitia quae sunt earum materia, ibi: de delectatione autem et tristitia et cetera. Circa primum duo facit. Primo distinguit continentiam ab aliis quae sunt eiusdem generis. Secundo de ea determinat, ibi: videtur utique continentia et cetera. Circa primum duo facit. Primo distinguit continentiam et eius oppositum ab his quae sunt eiusdem generis. Secundo ostendit de quibus eorum sit dictum, et de quibus restet dicendum, ibi, sed de hac quidem dispositione et cetera. Circa primum duo facit. Primo enumerat habitus seu dispositiones circa moralia vituperabiles. Secundo ponit eorum opposita,

der rechten Spalte (bei Thomas) sind die Textteile unterstrichen, die Versor in seinen eigenen Kommentar mehr oder minder wörtlich einbaut. Dies soll das hohe Maß an Übernahme durch Versor verdeutlichen.

Anhang 2: Exemplarischer Textvergleich der Kommentare zu NE VII

faciendum vel fugiendum, sed propter impetum appetitus in contrarium trahitur. Si autem perversitas appetitus intantum convalescit ut rationi dominetur, tunc ratio sequitur id in quod appetitus corruptus inclinat, sicut principium quoddam aestimans illud ut finem et optimum, et tunc operatur ex electione perversa ex qua aliquis dicitur malus, et talis dispositio dicitur malitia.

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ibi: contraria autem duobus et cetera. Dicit ergo primo, quod post ea quae dicta sunt de virtutibus moralibus et intellectualibus, ad hoc quod nihil moralium praetermittatur, oportet ab alio principio resumere, ut dicamus, quod eorum quae sunt circa mores fugienda, tres species sunt: scilicet malitia, incontinentia et bestialitas. Et horum quidem differentiam sic oportet accipere. Cum enim, ut in VI dictum est, bona actio non sit sine ratione practica vera et appetitu recto, per hoc quod aliquid horum duorum pervertitur, contingit quod aliquid sit in moribus fugiendum. Si quidem igitur sit perversitas ex parte appetitus ut ratio practica remaneat recta, erit incontinentia, quae scilicet est, quando aliquis rectam aestimationem habet de eo quod est faciendum vel vitandum, sed propter passionem appetitus in contrarium trahit. Si vero intantum invalescat appetitus perversitas ut rationi dominetur, ratio sequetur id in quod appetitus corruptus inclinat, sicut principium quoddam existimans illud ut finem et optimum; unde ex electione operabitur perversa, ex quo aliquis dicitur malus, ut dictum est in quinto. Unde talis dispositio dicitur malitia.

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Jörn Müller

Anhang 3: Quaestionen zur (in)continentia bei Versor mit Quellenbasis in Thomas’ Summa theologiae2 Johannes Versor, Quaestiones super libros Ethicorum VII, qq. 3–16

Quelle bei Thomas

q.3: Utrum continentia sit virtus

STh II–II, q.155, a.1

q.6: Utrum incontinentia sit melior intemperantia

STh II–II, q.155, a.4

q.7: Utrum continentia et incontinentia sint circa delectationes humanas et bestiales

STh II–II, q.155, a.2

q.8: Utrum incontinentia irae sit peior quam incontinentia concupiscentiae

STh II–II, q.156, a.4

q.10: Utrum perseverantia sit virtus

STh II–II, q.137, a.1

q.10, dubium (2): Sub qua virtute principali continetur perseverantia

STh II–II, q.137, a.2

q.11: Utrum mollities opponatur perseverantiae

STh II–II, q.138, a.1

q.12: Utrum intemperatus sit peior incontinente

STh II–II, q.156, a.3

q.14: Utrum pertinacia sit vitium alicui virtuti morali oppositum

STh II–II, q.138, a.2

q.15: Utrum continentia sit subiective in appetitu concupiscibili

STh II–II, q.138, a.3

q.16: Utrum stet incontinentem esse prudentem

STh II–II, q.156, a.2

2  »Quellenbasis«

bedeutet hier (wie auch in Anhang 4), dass Versor sich bestimmter Textteile von Thomas, wie etwa der einleitenden Argumente, der Antwort und/oder der abschließenden Erwiderungen, in wörtlicher, wenn auch meist verkürzter Übernahme bedient.

Anhang 4: Quaestionen zum Glücksbegriff bei Versor mit Quellenbasis

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Anhang 4: Quaestionen zum Glücksbegriff bei Versor mit Quellenbasis in Thomas’ Summa theologiae Johannes Versor, Quaestiones super libros Ethicorum X, qq. 8–14

Quelle bei Thomas

q.8: Utrum felicitas sit operatio

STh I–II, q.3, a.2

q.9: Utrum felicitas consistat in operatione sensus

STh I–II, q.3, a.3

q.9, dubium: Utrum felicitas consistat in actu voluntatis

STh I–II, q.3, a.4

q.10: Utrum felicitas consistat in operatione intellectus sive in speculatione veritatis

STh I–II, q.3, a.5

q.11: Utrum hominis vera felicitas consistat in visione divinae essentiae

STh I–II, q.3, a.8

q.11, dubium (1): Utrum vera et perfecta beatitudo hominis possit consistere in consideratione scientiarum speculativarum

STh I–II, q.3, a.6

q.11, dubium (2): Utrum vera hominis felicitas possit consistere in cognitione substantiarum separatarum

STh I–II, q.3, a.7

q.12, dubium (1): Utrum homo possit fieri beatus per actionem alicuius creaturae

STh I–II, q.5, a.6

q.12, dubium (2): Utrum omnes appetant felicitatem

STh I–II, q.5, a.8

q.13: Utrum corpus requiratur ad felicitatem

STh I–II, q.4, a.6

q.13, dubium (1): Utrum ad felicitatem requirantur etiam bona exteriora

STh I–II, q.4, a.7

q.13, dubium (2): Utrum amici sint necessarii ad beatitudinem

STh I–II, q.4, a.8

q.14: Utrum homo possit consequi felicitatem

STh I–II, q.5, a.1

q.14, dubium (1): Utrum in ista vita possit haberi perfecta felicitas

STh I–II, q.5, a.3

q.14, dubium (2): Utrum homo per sua naturalia possit veram beatitudinem consequi

STh I–II, q.5, a.5



Matthias Perkams

Gesetz und Gewissen Die historischen Hintergründe der Position des Thomas von Aquin und ihre Rezeption bei Cajetan und Suárez

I.  Rezeptionsbedingungen des Aristotelismus im lateinischen Sprachraum Es mag überraschen, zum Aristotelismus in der frühen Neuzeit Beobachtungen zum Gewissensbegriff beizutragen, lässt sich doch das Gewissen, jedenfalls unter diesem Namen, nicht in den aristotelischen Schriften finden. Man könnte ergänzen, dass der Begriff des Gewissens in der griechischen Philosophie der Antike allgemein nur eine relativ geringe Bedeutung hat und erst im Rahmen der christlichen Theologie, die hierin ihren jüdischen Wurzeln folgt, große Bedeutung erlangte. Hierzu könnte man beispielsweise anführen, dass sich Textbelege für den Gewissensbegriff in der griechischen Philosophie vor dem Neuen Testament, vor allem den paulinischen Schriften, kaum finden und dass sich die ersten Grundzüge einer umfassenden Gewissenstheorie bei dem Juden Philon von Alexandrien feststellen lassen, der gerade in dieser Hinsicht nicht einer philosophischen, sondern einer alttestamentlichen Tradition folgt.1 Eine andere Perspektive ergibt sich, wenn man sich die Geschichte und Bedeutung des Gewissensbegriffs im lateinischen Denken klarmacht. Hier spielt das Wort conscientia bereits in den vorchristlichen Schriften eines Marcus Tullius Cicero eine wichtige Rolle und wird somit von den christlichen Autoren bereits als recht klar konnotierter Begriff rezipiert. Dessen Bedeutung zeigt sich auch daran, dass das lateinische conscientia nicht nur wesentlich geläufiger war als sein griechisches Pendant συνειδός oder συνείδησις,2 sondern auch von vornherein stärker mit der rechtlichen Sphäre und der Frage nach persönlicher Schuld verbunden war.3 Mit dem Hinweis auf die Bedeutung der conscientia im lateinischen Sprachraum ist dann auch eine erste Brücke zum frühneuzeitlichen Aristotelismus hergestellt. Denn die lateinische Terminologie und die in dieser 1 Die m.E. aufschlussreichste Darstellung ist Christian Maurer: synoida, syneidesis. In: Theo­logisches Wörterbuch zum Neuen Testament 7, hg. von Gerhard Kittel (Stuttgart 1966) 897–918. Vgl. weiterhin Henry Chadwick: Gewissen. In: Reallexikon für Antike und Christentum 10 (Stuttgart 1978) 1025–1107. 2  Das zeigt sich exemplarisch anhand der unterschiedlichen Häufigkeit des Wortes in verschiedenen Texten, z. B. in den lateinischen Origenes-Übersetzungen im Vergleich zu ihrem griechischen Original: Johannes Stelzenberger: Syneidesis bei Origenes (Paderborn 1963) 14 f. 3  Belege dafür, die freilich eine etwas exaktere Interpretation vertrügen, liefert J. Stelzenberger: Conscientia in der ost-westlichen Spannung der patristischen Theologie. In: Theologische Quartalsschrift 141 (1961) 183–189; ders.: Syneidesis, conscientia, Gewissen. Studie zum Bedeutungswandel eines moraltheologischen Begriffs (Paderborn 1963) 53 f.

Archiv für Begriffsgeschichte · Sonderheft 12 · © Felix Meiner Verlag 2016 · ISBN 978-3-7873-2525-2

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Matthias Perkams

Sprache zugänglichen Texte bildeten über die Jahrhunderte den Rahmen, innerhalb dessen die griechische Philosophie in Westeuropa rezipiert wurde. Die neu aus dem Griechischen (und Arabischen) übersetzten Texte wurden in den verschiedenen Epochen jeweils in einem Diskussionskontext gelesen, der von diesen Voraussetzungen geprägt war. Dies gilt auch für die breite Rezeption der Nikomachischen Ethik in Europa seit dem 13. Jahrhundert, die in dieser Intensität weder in der Spätantike noch im arabischen Raum Parallelen besitzt.4 Diese Rezeption, insbesondere in den Kommentaren und theologischen Summen des Thomas von Aquin und seines Lehrers Albertus Magnus, wurde ihrerseits zu einem Bezugspunkt für die Rezeption der aristotelischen Philosophie in den folgenden Jahrhunderten.5 Die Rezeption des Aristotelismus in der frühen Neuzeit muss daher vor dem Hintergrund des damals schon bestehenden lateinischen Begriffsrasters und des daraus resultierenden Diskussionsumfelds gedeutet werden. Denn die Konzeptualisierungen aristotelischer Provenienz wurden, wie jüngst am Beispiel der Kardinaltugenden gezeigt, in vielen Kontexten nach Möglichkeit so verwendet, dass sie mit älteren Begrifflichkeiten der lateinischen Tradition in Einklang zu bringen waren.6 Daher erweist sich eine Untersuchung der Geschichte des ethischen Denkens in lateinischer Sprache seit der Antike als unerlässliche Vor­ aussetzung, sowohl wenn man verstehen will, wie die aristotelische Philosophie im Europa des Mittelalters und der frühen Neuzeit rezipiert wurde, als auch, wieso die aristotelische Ethik gerade in diesem Umfeld auf so fruchtbaren Boden stieß, dass sie zur Entwicklung eines Menschenbildes, das vom Ideal individueller sittlicher Verantwortung und Würde7 geprägt ist, beitragen konnte, welches sich beispielsweise im arabischen Raum, der ebenfalls über gute Aristoteles-Kenntnisse verfügte, nicht in derselben Weise entwickelte. Im Folgenden möchte ich diese etwas global behaupteten Entwicklungen anhand des Verhältnisses von allgemeinem Gesetz und individuellem Gewissen etwas näher (wenn auch dem Rahmen dieses Beitrags geschuldet punktuell) 4  Vgl.

Matthias Perkams: Einleitung. In: Thomas von Aquin, Sententia libri Ethicorum I et X. Kommentar zur Nikomachischen Ethik, Buch I und X. Lateinisch-Deutsch. Herausgegeben, übersetzt und eingeleitet von M. Perkams (Freiburg u. a. 2014) 13–35. 5  Vgl. zur Rezeption der Nikomachischen Ethik die Beiträge in Virtue Ethics in the Middle Ages. Commentaries on Aristotle’s Nicomachean Ethics, 1200–1500, hg. von István Pieter Bejczy (Leiden/Boston 2007), sowie speziell zu Thomas von Aquin diejenigen in Aquinas and the Nicomachean Ethics, hg. von Tobias Hoffmann, Jörn Müller und Matthias Perkams (Cambridge 2013), ergänzt zur Naturgesetztheorie durch M. Perkams: Aquinas’s Interpretation of the Aris­ totelian Virtue of Justice and his Doctrine of Natural Law. In: I. P. Bejczy: Virtue Ethics, a. a.O. [Anm. 5] 131–150. 6  Zum Beispiel der Kardinaltugenden s. jetzt I. P. Bejczy: The Cardinal Virtues in the Middle Ages. A Study in Moral Thought From the Fourth to the Fourteenth Century (Leiden/Boston 2011) 153–182. 7  Vgl. dazu M. Perkams: Würde des Menschen. Die mittelalterliche Begründung eines modernen Konzepts. In: Friedensethik im frühen Mittelalter. Theologie zwischen Kritik und Legitimation von Gewalt, hg. von Gerhard Beestermöller (Münster 2014) 305–326.

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verfolgen und zugleich darauf hinweisen, dass die hochmittelalterliche Zusammenfassung der lateinischen begrifflichen Entwicklung den Ausgangspunkt für ganz unterschiedliche neuzeitliche Interpretationstendenzen darstellt: In einem ersten Teil möchte ich zeigen, dass Thomas von Aquin auf der Grundlage spezifischer Entwicklungen des lateinischen Denkens, die bereits in der Antike beginnen, den Grundsatz formuliert, dass jemand aus seiner Gewissensüberzeugung heraus nicht an ungerechte Gesetze gebunden ist, ja einigen von ihnen gar nicht folgen und sogar, nach angemessener Abwägung, Widerstand gegen bestimmte leisten darf bzw. muss. Dann möchte ich anhand von zwei der einflussreichsten frühneuzeitlichen Interpretationen des thomasischen lex-Traktats aufweisen, dass diese von Thomas einmalig getroffene Formulierung in der Neuzeit unterschiedlich rezipiert wurde: Während Thomas de Vio Cajetan zu Beginn des 16. Jahrhunderts eine auf Einzelpunkte beschränkte Auslegung von Thomas’ Anmerkungen vornimmt und eher die Verpflichtungskraft der Gesetze betont, macht ein Jahrhundert später Francisco Suárez ausdrücklich die inhaltlich weitgehend unveränderte thomasische Lehre zu einem tragenden Element seiner Abhandlung »Über die Gesetze und Gott den Gesetzgeber« (De legibus ac deo legislatore). Schließlich gilt es, aus diesen Beobachtungen einige Schlussfolgerungen zur Bedeutung der Thematik zu ziehen.

II.  Gesetz und Gewissen im lateinischen Sprachraum bis Thomas von Aquin Der Gewissensbegriff verdient inhaltlich unter anderem deswegen besonderes Interesse, weil in der lateinischen Tradition mit seiner Hilfe das Verhältnis der staatlichen Gesetze zur sittlichen Einsicht des Einzelnen diskutiert wurde. Diese Problemstellung lässt sich in gewisser Weise bereits auf Marcus Tullius Cicero zurückführen, in dessen Reden die conscientia die Schuld oder Unschuld eines Angeklagten bezeugen kann – wenn es auch aus unserer Sicht verwundert, dass gerade dieses »Gewissen« von Cicero als etwas von außen klar Erkennbares dargestellt wird.8 In ähnlicher Weise betonen dann die lateinischen Kirchenväter die Beziehung der conscientia zu richtigem und falschem Verhalten und sehen sie als Ort persönlicher Schuld und Unschuld, während ihre griechischen Zeitgenossen mit συνείδησις oder συνειδός eher allgemein das Innere des Menschen bezeichnen und keine so starke Beziehung zu individuellem Fehlverhalten herstellen.9 8 

Zum Beispiel Pro Milone 61. die Ansicht von J. Stelzenberger: Conscientia in der ost-westlichen Spannung, a. a.O. [Anm. 3]. – Die spätantiken griechischen Reflexionen auf das Gewissen im Neuplatonismus stellen zwar einen Bezug zur Praxis her, aber kaum zur individuellen Beurteilung bestimmter Handlungen. Wichtige Belege sind z. B. Damaskios: In Phaedonem I, § 271 (Leendert G. Wes­terink: The Greek Commentaries on Plato’s Phaedo II. Damascius (Amsterdam/Oxford/ New York 1977) 163; weiteres in der Anmerkung von Westerink ebd. 162 f.); (Ps.-)Philoponos: 9  So

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Spätestens von Augustinus wird dann die conscientia als ein strikt innerer Raum der Selbstbeurteilung verstanden, in der der Mensch allein sich seiner Taten und der Motive für diese bewusst ist, mit der Folge, dass die conscientia und damit auch die Schuld des Einzelnen im strengen Sinne nur noch von diesem und von Gott erkannt werden kann.10 Eine weitere Entwicklung lässt sich im Hochmittelalter beobachten.11 Insbesondere Peter Abaelard hält in dieser Periode fest: »Es gibt keine Sünde gegen das eigene Gewissen« (non est peccatum nisi contra conscientiam).12 Er arbeitet weiterhin heraus, dass das so verstandene Gewissen seine Rechtfertigung durch die Vernunft erhält, die, als konkrete Instanz des allgemeinen Naturgesetzes, den Menschen »wie ein Gesetz regieren muss« (ratio quae me quasi lex regere debet).13 Da diese Vernunft in jedem einzelnen Menschen unterschiedlich wirksam ist, wird die conscientia sive ratio zu der individuellen Instanz, in der sich die allgemeine Vernunft ausdrückt, welche die mittelalterlichen Theologen als Naturgesetz (lex naturae bzw. naturalis) bezeichnen.14 Diese Überlegung steht im engen Bezug zur Lehre vom irrenden Gewissen, die, in inhaltlich recht großer Nähe zu einigen Überlegungen Abaelards,15 ihre klassische Ausformulierung bei Thomas von Aquin gefunden hat: Der einzelne Menschen hat stets dem Urteil seines Gewissens als der für ihn nicht mehr hinIn Aristotelis De anima librum III commentarium, ed. by Michael Hayduck (Commentaria in Aris­totelem Graeca 15) (Berolini 1897) 465, 15 f. Zu diesem Text und seinem Kontext vgl. M. Perkams: Selbstbewusstsein in der Spätantike. Die neuplatonischen Kommentare zu Aristoteles’ De anima (Berlin 2008) 402–416. 10  Namentlich in De civitate dei 1, 26 (p. 41 f. Dombart/Kalb). – Die in diesem Absatz geschilderten Zusammenhänge habe ich auf dem Weltkongress für Mittelalterliche Philosophie in Freising im August 2013 in einem bislang unveröffentlichten Arbeitspapier mit dem Titel »God and the Virgins. Augustine and the Doctrine of Conscience« diskutiert, das auf Wunsch zugesandt werden kann. 11  Zur Rolle des Gewissensbegriffs in der mittelalterlichen Ethik s. jetzt R. Schüssler: Practical Ethics. In: The Cambridge History of Medieval Philosophy 1, ed. by Robert Pasnau (Cambridge 2014) 517–535, hier 526–530 (S. 527 Anm. 33 mit Angabe weiterer Überblicksliteratur). 12  In dieser Formulierung in einer Zwischenüberschrift dreier Handschriften seiner auch Scito te ipsum genannten Ethica auf S. 54 Luscombe. Die Zwischenüberschrift fehlt leider in der Ausgabe von Ilgner. 13  Commentaria in epistolam Pauli ad Romanos 3 (S. 209, Z. 755 Buytaert). 14  Überblicksdarstellungen hierzu sind z. B. Martin Grabmann: Das Naturrecht in der Scholastik von Gratian bis Thomas von Aquin. In: ders., Mittelalterliches Geistesleben 1 (München 1926) (Nachdr. Hildesheim 1975) 65–103; Odon Lottin: Le droit naturel chez Saint Thomas d’Aquin et ses prédécesseurs (Bruges 21931); Felix Flückiger: Geschichte des Naturrechts I (Zürich 1954) 411–475; Reginaldo Pizzorni: Il diritto naturale dalle origini a s. Tommaso d’Aquino (Roma 1978) 170–309; M. Perkams: Lex naturalis vel ius naturale – Philosophisch-theologische Traditionen des Naturrechtsdenkens im 12. und 13. Jahrhundert. In: Lex und Ius. Beiträge zur Begründung des Rechts in der Philosophie des Mittelalters und der frühen Neuzeit, hg. von Alexander Fidora; Matthias Lutz-Bachmann und Andreas Wagner (Stuttgart- Bad Cannstatt 2010) 89–119. 15 Dazu M. Perkams: Liebe als Zentralbegriff der Ethik nach Peter Abaelard (Münster 2001) 254–259.

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tergehbaren, rational gegründeten moralischen Selbstbeurteilung zu folgen, und zwar selbst dann, wenn dieses Gewissensurteil womöglich falsch ist.16 Mit dieser Aussage ist zwar keine absolute Selbständigkeit des Gewissensurteils ausgesagt: Denn zum einen setzt Thomas eine Verpflichtung, für sein Urteil alle zu beachtenden Informationen ebenso heranzuziehen wie die Umstände und Folgen möglichen Handelns, soweit diese zu ermitteln sind; zum anderen meint er immer noch, dass eine aus einem Irrtum folgende Handlung niemals gut sein kann, es sei denn, es handelt sich um einen tatsächlich unvermeidlichen Tatsachenirrtum.17 Trotz dieser Einschränkungen stellt er aber doch klar, dass für Menschen in ihrem Handeln die eigene reflektierte und sorgfältige Beurteilung der Situation eine nicht hintergehbare Norm darstellt, so dass Handlungen auf der Grundlage ihrer Einschätzung durch die individuelle Vernunft des Einzelnen moralisch bewertet werden müssen. Durch die Rückbindung der conscientia an das Naturgesetz der Vernunft beziehungsweise das ewige Gesetz entstehen im hohen Mittelalter zugleich die terminologischen Grundlagen für eine Inbezugsetzung dieses individuellen Gewissens mit dem allgemeinen staatlichen Gesetz. Die Grundlage hierfür ist wiederum bei Cicero zu suchen. Dieser zitiert eine, angeblich von hochgelehrten Männern geäußerte, Definition des Gesetzes als »höchste Vernunft, die in der Natur wohnt, und alles befiehlt, was getan werden muss, und das Gegenteil verbietet. Dieselbe Vernunft ist Gesetz, wenn sie im Geiste des Menschen bestätigt und gefestigt ist« (lex est […] ratio summa, insita in natura, quae iubet ea, quae facienda sunt, prohibetque contraria. Eadem ratio, cum est in hominis mente confirmata et confecta, lex est).18 Aus dieser Zurückführung der menschlichen Vernunft auf eine der Natur innewohnende Normativität schließt Cicero weiterhin, dass das ius, also das Recht der einzelnen Staaten (ius civile) aus diesem höchsten Gesetz der kosmischen Vernunft abgeleitet und folglich an diesem zu messen ist.19 Eine solche prinzipielle Abgeleitetheit der einzelstaatlichen Gesetze von einem universalen Na16  Summa

theologiae I–II 19, 5 (Editio Leonina 6, 145 f.). Vgl. allgemeiner Ludger Honnefelder: Conscientia sive ratio. Thomas von Aquin und die Entwicklung des Gewissensbegriffs. In: Mittelalterliche Komponenten des europäischen Bewusstseins, hg. von Josef Szöverffy (Berlin 1983) 8–19; ders.: Transzendentalität und Moralität. Zum mittelalterlichen Ursprung zweier zentraler Termini der neuzeitlichen Philosophie. In: Theologische Quartalsschrift 172 (1992) 178–195; T. Hoffmann: Conscience and synderesis. In: The Oxford Handbook of Aquinas, ed. by Brian Davies and Eleonore Stump (Oxford 2012) 255–264. 17  Summa theologiae I–II 19, 6 (Editio Leonina 6, 146 f.). Zum ganzen Problemkomplex siehe M. Perkams: Gewissensirrtum und Gewissensfreiheit. Überlegungen im Anschluss an Thomas von Aquin und Albertus Magnus. In: Philosophisches Jahrbuch 112 (2005) 1, 31–50. 18  Cicero: De legibus 1, 18. Die Übersetzung folgt locker derjenigen von R. Nickel, versucht aber, dessen Missverständnisse zu korrigieren. Weitere Parallelen bei Cicero und anderen finden sich bei Lucas Petrus Kenter: M. Tullius Cicero. De legibus. A commentary on book I (Amsterdam 1971) 81 f. 19  Cicero: De legibus 1, 19; das ius civile war bereits in 1, 19 erwähnt worden.

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tur- (ius naturale) oder Völkerrecht (ius gentium) wurde im lateinischen Raum auch durch die juristische Literatur verbreitet, da neben den Aussagen Ciceros ähnliche Formulierungen Ulpians und anderer Juristen zu Beginn der Institutionen und Digesten Justinians zu lesen sind, welche eine wichtige Grundlage der juristischen Studien bildeten.20 Obwohl die Rückbindung der staatlichen Gesetze an das rationale Gesetz der Natur griechischen, insbesondere stoischen, Vorbildern folgt,21 erhält sie auf diese Weise in vielgelesenen Grundschriften der lateinischen Bildung einen so prominenten Platz, dass die Frage, wie die dem Kosmos innewohnende Sittlichkeit sich in gerechten Gesetzen ausdrücken lässt, zu einem Grundproblem des Rechtsdenkens der lateinischen Welt wird. Ein wichtiger Aspekt dieser Debatte betrifft die Frage, wie auf das Scheitern dieses Unternehmens, d. h. auf ungerechte Gesetze, zu reagieren ist. Auch in dieser Hinsicht legt Cicero entscheidende Grundlagen, wenn er festhält, nur eine gerechte, auf dem Naturgesetz beruhende Vorschrift dürfe zu Recht Gesetz genannt werden. Denn im Begriff Gesetz sei, so Cicero, die »Bedeutung und das Urteil, das Gerechte und Wahre auszuwählen« (vis et sententia iusti et veri legendi), enthalten, wohingegen viele faktisch existierende sogenannte Vorschriften der Übereinkunft (consensus) einer Räuberbande glichen und folglich den Namen »Gesetz« nicht verdienten.22 Diese Überlegungen werden in die antike christliche Literatur übernommen, wo Augustinus in seiner vielgelesenen Frühschrift »Der freie Wille« (De libero arbitrio) ebenfalls die Aussage trifft »Dasjenige Gesetz scheint keines zu sein, das nicht gerecht ist« (lex esse non videtur quae iusta non fuerit).23 Damit wird die Frage nach dem Umgang mit ungerechten Gesetzen zu einem Thema der christlichen Literatur lateinischer Sprache, der sich insbesondere die Theologie annimmt, die sich im hohen Mittelalter zu einer eigenen, methodisch durch die Philosophie fundierten Wissenschaft entwickelt. Vor diesem Hintergrund stellt dann Thomas von Aquin ausdrücklich die Frage, wie sich das individuelle und von außen nicht voll nachvollziehbare, gleichwohl aber vernunftgestützte Urteil des Gewissens zu den normativen Ansprüchen der staatlichen Gesetze verhält. Seine Erklärung ruht auf dem schon 20 

Entsprechende Zitate von der Juristen Ulpian, Papinian, Gaius und Paulus finden sich in Iustiniani Digesta 1, 1, 1; 1, 1, 7; 1, 1, 9; 1, 1, 11 (Corpus iuris civilis, ed. by Mommsen/Krueger, 1 (Berlin 171963) 29); griechische Belege finden sich in Iustiniani Digesta 1, 3, 2 (ebd. 33). Dieselben Textbausteine wurden im kurzen Lehrbuch der Institutionen wiederverwendet (vor allem Iustiniani Institutiones 1, 2, 1 f. (ebd. 1)) und waren damit dem lateinischen Leser umso leichter zugänglich. – Zur Wirkung der iustinianischen Schriften in der Geschichte des europäischen Rechts s. z. B. Max Kaser: Römische Rechtsgeschichte (Göttingen 21986) 273–278; Alfred Söllner: Einführung in die römische Rechtsgeschichte (München 21980) 147–150. 21  Wichtige griechische Belege stoischer Provenienz sind Philon von Alexandrien: De Iosepho 29 = Stoicorum veterum fragmenta 3, 323 und Diogenes Laertios: Vitae philosophorum, 7, 88. 22  Cicero: De legibus 2, 11–13. 23  Augustinus: De libero arbitrio 1, 33 (Corpus Christianorum Scriptorum Latinorum. Series Latina 29, p. 217).

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angedeuteten Grundsatz, dass sich im Gewissen, als der konkreten Anwendung der sittlichen Einsicht des Urgewissens (synderesis), das universale Naturgesetz ausdrückt, das in der Vernunft selbst liegt,24 mit der Folge, dass der einzelne Mensch im Gewissen letztlich Zugang zu den Normen hat, die auch die Gültigkeit der Gesetze der menschlichen Gemeinschaft legitimieren. Hieraus ergibt sich Thomas’ Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis des individuellen Gewissens zu ungerechten Gesetzen: »Ungerecht […] sind Gesetze auf zweierlei Weise: Auf eine Weise durch einen Widerspruch zum menschlichen Gut […]: entweder vom Ziel her, wie wenn irgendein Vorsteher den Untergebenen belastende Gesetze auferlegt, die nichts mit dem Gemeinwohl zu tun haben, sondern eher mit seiner eigenen Gier oder seinem eigenen Ruhm; oder auch vom Erlassenden her, wie wenn jemand ein Gesetz erlässt, das über die ihm anvertraute Macht hinausgeht; oder auch von der Form her, zum Beispiel wenn die Lasten ungleich auf die Menge verteilt werden, selbst wenn sie auf das Gemeinwohl hingeordnet sind. Und dies sind eher Gewalttaten als Gesetze. […] Daher verpflichten solche Gesetze im Forum des Gewissens nicht, außer vielleicht um einen Skandal oder Durcheinander zu vermeiden. Auf eine andere Weise können Gesetze ungerecht sein durch einen Widerspruch zum göttlichen Gut, wie zum Beispiel die Gesetze von Tyrannen, die zum Götzendienst anleiten oder zu irgendetwas anderem, was gegen das göttliche Gesetz ist. Und derartige Gesetze darf man in keiner Weise beachten«.25 Hier wird auf eine Weise, die sich im Prinzip folgerichtig aus dem lateinischen Denken über Gesetz und Gewissen ergibt, festgestellt, dass jeder aufgrund seiner natürlichen Vernunft die Ungerechtigkeit bestimmter Gesetze erkennen kann. Der von Thomas angebotene, bereits recht umfangreiche Kriterienkatalog setzt voraus, dass sich die Gerechtigkeit eines Gesetzes auf eine Weise kriteriell 24  Summa theologiae I 79, 12 f.; I–II 91, 2; 94, 1 (v. a. ad 2) (Editio Leonina 5, 279–281; 7, 154. 168). Zum Ursprung des Konzepts der synderesis s. M. Perkams: Die Entwicklung des Synderesis-Konzepts aus der Exegese von Röm 7 durch Anselm von Laon, Peter Abaelard und Robert von Melun. In: Radix totius libertatis. Zum Verhältnis von Willen und Vernunft in der mittelalterlichen Philosophie des Mittelalters, hg. von Günther Mensching (Würzburg 2011) 1–42. J. Müller: Zwischen Vernunft und Willen. Das Gewissen in der Diskussion des 13. Jahrhunderts. In: Ebd. 43–73. 25  Iniustae autem sunt leges dupliciter. Uno modo, per contrarietatem ad bonum humanum […]: vel ex fine, sicut cum aliquis praesidens leges imponit onerosas subditis non pertinentes ad utilitatem communem, sed magis ad propriam cupiditatem vel gloriam; vel etiam ex auctore, sicut cum aliquis legem fert ultra sibi commissam potestatem; vel etiam ex forma, puta cum inaequaliter onera multitudini dispensantur, etiam si ordinentur ad bonum commune. Et huiusmodi magis sunt violentiae quam leges […]. Unde tales leges non obligant in foro conscientiae, nisi forte propter vitandum scandalum vel turbationem. Alio modo leges possunt iniustae per contrarietatem ad bonum divinum: sicut leges tyrannorum inducentes ad idololatriam vel ad quodcumque aliud quod sit contra legem divinam. Et tales leges nullo modo licet observare. Summa theologiae I–II 96, 4 responsio (Editio Leonina 7, 183b).

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beschreiben lässt, die von der aristotelischen Vierursachenlehre inspiriert ist; auf diese Weise kommen nicht nur formale Mängel eines Gesetzes, z. B. die mangelhafte Legitimation des Gesetzgebers, zur Sprache, sondern auch inhaltliche Defizite, die sich auch bei Gesetzen ergeben können, die eigentlich mit dem Gut für die Allgemeinheit (bonum commune) das richtige Ziel verfolgen. Wichtig ist aber vor allem Thomas’ Behauptung, dass derjenige, der eine solche Ungerechtigkeit erkennt, im Forum des Gewissens nicht an das Gesetz gebunden ist: Er braucht ihm nicht zu gehorchen, ja im Falle eines Widerspruchs zum göttlichen Gesetz darf er das nicht einmal. In der Antwort auf den dritten Einwand unterstreicht Thomas sogar ausdrücklich, dass hieraus auch ein Recht auf Widerstand gegen solche Gesetze folgt: »Daher ist der Mensch bei derartigen [Ungerechtigkeiten; M.P.] nicht verpflichtet, dem Gesetz zu gehorchen, wenn er ohne Skandal oder größeren Schaden Widerstand leisten kann«.26 Diese Aussage gewinnt vor allem vor dem Hintergrund der oben angesprochenen Lehre vom irrenden Gewissen ihre Brisanz: Denn die Ungültigkeit eines Gesetzes, das im Gewissen nicht anerkannt wird, kann in Thomas’ Systematik letztlich nur vom Individuum beurteilt werden, das wiederum, wie oben dargelegt, an sein eigenes Gewissensurteil gebunden ist, selbst dann, wenn dessen Richtigkeit nicht absolut feststeht. Übrigens entspricht dem auf der positiven Seite Thomasʼ Ansicht, dass ein guter Mensch durch das Gesetz auch zu nichts gezwungen wird, weil er einem gerechten Gesetz immer freiwillig folgt.27 Damit begründet Thomas, im Rückblick auf den von Abaelard und anderen entwickelten Gewissensbegriff, eine prinzipielle Autonomie des Individuums gegenüber allen menschlichen Gesetzen als solchen. Diese besteht nicht nur darin, dass der Mensch sich, wie Thomas es in anderen Kontexten auch mithilfe der aristotelischen Epieikie begründet, im Einzelfall eine Abweichung von einem nicht hinreichend exakten Gesetz erlauben darf, weil das Gesetz nicht geeignet ist, jedem Einzelfall gebührend Rechnung zu tragen;28 vielmehr zeigt gerade der Verweis darauf, dass man Gesetze, die dem göttlichen Gesetz widersprechen, gar nicht beachten darf, dass Thomas hier in der Tat der Meinung ist, dass ein Gesetz, das nicht den Prinzipien der Gerechtigkeit entspricht, den Anspruch auf Befolgung grundsätzlich verwirkt hat. Seine Aussage, dass man diesem Gesetz allenfalls zur Vermeidung eines Skandals gehorchen solle, schränkt die mora26  Unde nec in talibus homo obligatur ut obediat legi, si sine scandalo vel maiori detrimento resistere possit. Summa theologiae I–II 96, 4 ad 3 (Editio Leonina 7, 183b). 27  Summa theologiae I–II 96, 5 responsio (Editio Leonina 7, 184b). 28  So argumentiert Thomas unter Bezugnahme auf seine Gesetzestheorie in Summa theologiae II–II 120, 1 ad 2 (Editio Leonina 9, 468; zur selben Thematik auch Summa theologiae I–II 96, 6 [Editio Leonina 7, 187] mit Hinweis darauf, dass Ausnahmen, außer in Fällen höchster Dringlichkeit, vom Gesetzgeber erlaubt sein müssen). Zu beachten ist, dass Thomas in solchen Antworten auf Einwände nicht alle möglichen Implikationen seiner Antwort ausführt, sondern sich häufig darauf beschränkt, einfach eine knappe Antwort auf die jeweilige Anfrage zu geben. Eine exakte Darstellung des Verhältnisses von Gewissen und Epieikie lässt sich aus dieser Stelle also nicht ableiten.

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lische Gültigkeit der Rechtsordnung in einer recht unspezifischen Weise ein, die mit einem umfassenden Gehorsamsanspruch des Staates kaum mehr zu vereinbaren ist. Im Grunde erlaubt Thomas ein umfassendes Widerstandsrecht gegen ungerechte Gesetze, das im religiösen Bereich sogar als eine Widerstandspflicht bezeichnet wird.29 Diese Überlegungen führen auf wichtige Fragen im Hinblick auf das Verhältnis des Einzelnen zum Staat. Als erstes drängt sich das Problem auf, inwieweit eine Position, die dem Urteil des Einzelnen so weitgehende Rechte einräumt, in einem Kontext, der noch auf Jahrhunderte von geistlichen und weltlichen Monarchien bestimmt wurde, überhaupt akzeptiert werden konnte oder man sie nicht vielmehr abgelehnt oder zumindest entschärft hat. Daneben ergeben sich aber auch Fragen hinsichtlich der Kohärenz des Argumentes selbst: Aufgrund welcher Kriteriologie soll der Einzelne selbst überhaupt entscheiden, aufgrund seines Gewissens in moralisch nicht verwerflicher Weise von staatlichen Gesetzen abzuweichen? Und: Bis zu welchem Grade kann der Staat ein solches Verhalten tolerieren, ohne dass deswegen die handlungsleitende Kraft der staatlichen Gesetzgebung über Gebühr eingeschränkt würde? Um ein Schlaglicht auf die Behandlung dieser Fragen zu werfen, sollen nun, wie angekündigt, die Erklärungen der Summa theologiae durch Cajetan und Suárez näher betrach­tet werden.

III.  Gesetz und Gewissen in zwei neuzeitlichen Erklärungen der Summa theologiae A.  Die Verpflichtung des Gewissens bei Thomas de Vio Cajetan Die Provokativität, die Thomas’ Behandlung der Gewissensthematik in sich trägt, lässt sich aus dem ersten und äußerst einflussreichen Gesamtkommentar zur Summa theologiae anschaulich machen, den der Dominikaner Thomas de Vio Cajetan, ein Zeitgenosse Luthers und einer der bedeutendsten Theologen seiner Zeit, zwischen 1507 und 1520 verfasste. Die Bedeutung dieses Kommentars für den Thomismus wird nicht zuletzt dadurch augenfällig, dass er in der Editio Leonina der Summa theologiae mit abgedruckt wurde; auf diese Weise ist er auch heute noch leicht zugänglich.30

29  Das

wird unter Hinzuziehung weiterer Gesichtspunkte erläutert von Michael Städtler: Widerstandsrecht bei Thomas von Aquin. In: Transformation des Gesetzesbegriffs im Übergang zur Moderne. Von Thomas von Aquin zu Francisco Suárez, hg. von Manfred Walther, Norbert Brieskorn und Kay Waechter (Stuttgart 2008) 61–69. 30  Zu seiner Person siehe Barbara Hallensleben: Cajetan. In: Lexikon für Theologie und Kirche 2 (Freiburg u. a. 31994) 884 f.; James A. Weisheipl: Cajetan (Tommaso de Vio). In: New Catholic Encyclopedia 2 (Detroit u. a. 22003) 853–855.

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Der auffälligste Punkt von Cajetans Auslegung der Artikel 4–6 der Quaestio 96 der Summa theologiae ist, dass in ihr die Frage nach einem Widerstandsrecht im Grunde nicht vorkommt, und zwar weder hinsichtlich der Möglichkeit, direkt Widerstand gegen die staatliche Ordnung zu leisten, noch auch nur in der Hinsicht, ob es einem Untertanen erlaubt ist, einem staatlichen Gesetz nicht zu gehorchen. Lediglich zu Beginn der Auslegung des Artikels 96, 4 mit seinen Aussagen zur fehlenden Bindung des Gewissens an ein ungerechtes Gesetz weist Cajetan ganz allgemein auf die Bedeutung von Thomas’ Ausführungen hin und lässt so verschiedene Anwendungsfelder offen. Ansonsten besteht sein Kommentar zu diesem und dem folgenden Artikel vor allem in der vertieften Diskussion einzelner von Thomas angeführter Einwände und Lösungen, die Cajetan aus einem erkennbaren Frageinteresse heraus interpretiert. Und zwar ist für ihn der Artikel 4, wie auch der Folgeartikel 5, als eine Aussage zur moralischen Verpflichtungskraft des gerechten Gesetzes von Interesse; die Grenzen dieser vom Gesetz auferlegten Notwendigkeit (necessitas) möchte er möglichst genau festlegen. Im Artikel 4 diskutiert er dies anhand der Frage, »ob ein gerechtes Gesetz im Forum des Gewissens so sehr verpflichtet, dass der Mensch für seine Beobachtung zu sterben gehalten ist«.31 Diese Frage ergibt sich vom thomasischen Text her noch am ehesten aus dem dritten von Thomas angeführten Einwand, in dem aus der Möglichkeit, »Unterdrückung und Gewalttat« (oppressionem et violentiam) zu vermeiden, darauf geschlossen wird, dass die menschlichen Gesetze gar keine Notwendigkeit für das Gewissen enthielten – eine Ansicht, der Thomas, wie erwähnt, für ungerechte Gesetze ohne Einschränkung zustimmt. Cajetan zeigt, ohne auf Thomas’ Aussagen direkt einzugehen, eine gegenläufige Tendenz: Er wendet sich gegen eine Position, der zufolge positive – den Beispielen zufolge sowohl kirchliche als auch weltliche32 – Gesetze nur im Ausnahmefall eine moralische Verpflichtung dazu auferlegen, lieber zu sterben, als sie zu befolgen; demgegenüber vertritt er selbst die Ansicht, eine Handlung werde schon allein dadurch, dass ein menschlicher Gesetzgeber sie gebietet, zu einer tugendhaften Handlung, der ebenso verpflichtender Charakter zukomme wie einer naturrechtlich tugendhaften Handlung: »Das positive Gesetz […] macht indifferente Handlungen zu tugendhaften oder lasterhaften […]; wenn es die Bezahlung von Zoll (gabella) verlangt, unterstellt es diese Handlung der Gerechtigkeit; wenn es einen Gottesdienst vorschreibt, unterstellt es ihn der Frömmigkeit; […] und daher wird jemand, 31  An lex humana ita obliget in foro conscientiae, quod homo teneatur mori pro eius observatione. Editio Leonina 7, 183a. 32  Es ist bereits bei Thomas klar, dass auch viele religiöse und kirchliche Gesetze nicht naturrechtlich, sondern »Zusätze« (superadditamenta) zum Naturgesetz zu verstehen sind, d. h. dem positiven Recht angehören: Summa theologiae I–II 98, 5 resp. (Editio Leonina 7, 197a) zum jüdischen Gesetz des alten Bundes; I–II 106, 1–2, v. a. 106, 1 ad 2 (Editio Leonina 7, 273 f.).

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so wie er im Forum des Gewissens zu tugendhaften Handlungen angehalten ist […] und sich nicht durch Furcht entschuldigen kann, usw., ebenso auch nicht von der Ungerechtigkeit, dem Sakrileg usw. entschuldigt, die er, wenn es von einem Gesetz so festgelegt wurde, verachtet, begeht usw.«33 Die Strategie dieser Argumentation zielt offensichtlich darauf ab, den moralischen Charakter der Befolgung von Gesetzen zu unterstreichen. Letztlich macht es in ihrer Perspektive keinen Unterschied, ob ein bestimmter Akt gegen die natürliche Vernunft – deren Aufgabe es im thomasischen Denken in erster Linie ist, Tugenden vorzuschreiben und Laster zu verbieten34 – oder gegen ein positives Gesetz verstößt: In jedem Fall liege gleichermaßen eine Todsünde oder eine lässliche Sünde vor.35 Cajetans Frageinteresse und dessen theoretische Grundlagen werden in der ausführlichen Interpretation des Artikels 96, 5, der die allgemeine Hierarchie der Gesetze thematisiert, noch deutlicher. Auch hier interessiert sich Cajetan im Grunde nur für die Antwort des Thomas auf einen Einwand, nämlich auf die Frage, inwieweit der Herrscher an die Gesetze gebunden ist. Cajetan baut seine eigene Antwort auf die von Thomas eher beiläufig getroffene Unterscheidung zwischen einer »Zwingkraft« (vis coactiva) und einer »Leitungskraft« (vis directiva) des Gesetzes aus, von denen der Herrscher offensichtlich nur der zweiten unterliegen könne.36 Mit dem Ziel, Thomas’ Standpunkt in dieser Sache noch besser zu begründen, zieht Cajetan auch dies in Zweifel, da ohne die herrscherliche Autorität die Gesetze nur eine »Zeigekraft« (vis ostensiva) hätten, so wie die idealen Gesetze von Aristoteles und Platon, die ganz frei von staatlicher Autorität seien.37 Die Terminologie und die differenzierte Argumentation weisen darauf hin, dass diese Punkte einer nachthomasischen Diskussion entnommen sind, für die die Grenzen herrscherlichen Handelns zu seinem zentralen Thema geworden sind; dies kann hier jedoch nicht weiter verfolgt werden. Für unseren Kontext von großem Interesse ist hingegen, dass Cajetans Antwort auf einem bestimmten Verständnis des Gewissens und des Umfangs von dessen Verpflichtung beruht:

33  Lex positiva […] facit de actibus indifferentibus virtuosos vel vitiosos […]; praecipiendo solutionem gabellae, ponit actum illum sub iustitia; praecipiendo cultum divinum, ponit sub religione; etc. […] et propterea, sicut in foro conscientiae tenetur quis ad actus virtutum et ad evitandos actus vitiorum nec excusatur metu etc., ita non excusatur ab iniustita, a sacrilegio etc., qui, determinata sic a lege, contemnit aut incurrit etc. Commentarium Caietani ad Summam theologiae I–II 96, 4, § 5 (Editio Leonina 7, 184b). 34  Summa theologiae I–II 96, 2 f. (Editio Leonina 7, 181a–182b). 35  Commentarium Caietani ad Summam theologiae I–II 96, 4, § 4 (Editio Leonina 7, 184a). 36  Summa theologiae I–II 96, 5 ad 3 (Editio Leonina 7, 185ab) 37  Commentarium Caietani ad Summam theologiae I–II 96, 5, § 2. 6 (Editio Leonina 7, 185a. 186a).

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»Weil der Herrscher dem Gesetz nicht anders als im Hinblick auf Gott unterliegt – das ist dasselbe wie zu sagen, er unterliege dem Gesetz im Forum des Gewissens –, hat das Gesetz aus demselben Grunde die Kraft, den Herrscher zu verpflichten, aus dem es die Kraft hat, im Forum des Gewissens zu verpflichten. Wie aber in Artikel 4 gesagt wurde, hat das Gesetz verpflichtende Kraft im Forum des Gewissens vom ewigen Gesetz, aus dem es abgeleitet wird«.38 Die von Thomas von Aquin zu Beginn von Artikel 4 eingeführte Formel, die Gültigkeit des Gewissens sei direkt von der lex aeterna abgeleitet, wird hier als ein allgemeines Prinzip der Gültigkeit von Gesetzen interpretiert und auf diese Weise zu einem Eckpunkt des Gedankengebäudes, das der Argumentation zugrunde liegt: Ebenso wie jeder Mensch ist der Herrscher über sein Gewissen dem Gehorsam gegenüber den Gesetzen verpflichtet, weil sein Gewissen durch seine Teilhabe am ewigen Gesetz ihn darauf hinweist bzw. hinweisen muss, dass er Gott untersteht und diesem gegenüber – auch im Verhältnis zu den selbst erlassenen Gesetzen – verantwortlich ist. Über diesen Gedanken kommt Cajetan zu einer genaueren Begründung der eben schon festgestellten moralischen Wirkung von Gesetzen, die ob ihrer Deutlichkeit heraussticht: »Genau daraus nämlich, dass der Herrscher willentlich das Gesetz verkündet, will er, dass die Anordnung Gesetzeskraft hat. Und weil ›eine Anordnung erhält Gesetzeskraft‹ soviel heißt wie ›vom ewigen Gesetz geht eine Leitungskraft im Forum des Gewissens aus‹, dem auch der Herrscher unterworfen ist, daher hat das menschliche Gesetz aus dem eigenen Willen des Herrschers und aus dem ewigen Gesetz verpflichtende Kraft für den Herrscher im Forum des Gewissens – wenn auch auf verschiedene Weise: vom ewigen Gesetz her als von der ewigen Ursache, von der die verpflichtende Kraft von derartigem stammt; vom Willen des Herrschers aber wie von etwas, das die universale Ursache zu einer speziellen Wirkung näher bestimmt«.39

38  Cum princeps non subiciatur legi nisi quoad Deum, quod idem est quod subiici legi in foro conscientiae, ex eodem habet vim lex obligandi principem, unde habet vim obligandi in foro conscientiae. Ut autem in art. 4 dictum est, lex habet vim obligativam in foro conscientiae ab aeterna lege, a qua derivatur. Commentarium Caietani ad Summam theologiae I–II 96, 5, § 4 (Editio Leonina 7, 185b). 39  Ex hoc namque ipso quod voluntarie legem promulgat, vult ordinationem illam habere vim legis. Et quia ordinationem aliquam obtinere vim legis est sortiri ab aeterna lege vim directivam in foro conscientiae, cui etiam princeps subicitur, ideo ex propria voluntate principis et ex aeterna lege vim obligativam in foro conscientiae lex humana habet; quamvis diversimode, quia ab aeterna lege sicut a causa a qua est vis obligativa huiusmodi; a voluntate vero principis sicut a determinante causam universalem ad effectum specialem. Commentarium Caietani ad Summam theologiae I–II 96, 5, § 7 (Editio Leonina 7, 186a).

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Die Bindung des Gewissens an das ewige Gesetz wird hier dezidiert zum Grund dafür, dass prinzipiell jedes Gesetz den Menschen im Gewissen verpflichtet, und das allein dadurch, dass ein Herrscher es erlässt. Zwar ist der Wille des Herrschers hierbei immer noch an das Naturgesetz und damit an die goldene Regel gebunden40 und darf insofern nicht willkürlich sein, doch gewinnt der Willens­ entschluss des Herrschers, wenn er sich in geeigneter Weise äußert, eine eigene kausale Wirkung, die sich bis auf das Innere des Menschen erstreckt. Die Verantwortung des Gewissens vor Gott bedeutet im Blickwinkel dieser Argumentation in erster Linie die moralische Verpflichtung auch des Herrschers selbst auf das staatliche Gesetz, das von ihm erlassen wurde. Die theoretische Grundlage dieser Argumentation ist, dass der Herrscher in derselben gewissensmäßigen Stellung zum Gesetz steht wie jeder andere Mensch, doch wird diese universale Grundlage in der Menschennatur von Cajetan bezeichnenderweise gar nicht erwähnt. Zu beachten ist, dass diese gewissensmäßige Bindung an das Gesetz zunächst einmal unabhängig vom Inhalt dieses Gesetzes gilt: Durch das Gewissen repräsentiert wird die Unterordnung des Einzelnen unter Gott, nicht aber bestimmte inhaltlich näher konkretisierte Verpflichtungen des Herrschers. Solche Verpflichtungen kommen in Cajetans Interpretation nur indirekt zustande, indem nämlich der Herrscher in seiner Amtsführung an die Prinzipien des Naturgesetzes gebunden ist. Das bedeutet für Cajetan näherhin, dass der Herrscher zwar die Möglichkeit hat, sich selbst oder jeden beliebigen anderen von der Zwangskraft des Gesetzes auszunehmen, dass er sich damit aber immer noch schuldig macht vor dem Naturgesetz,41 vermittels dessen das ewige Gesetz auf die politische Sphäre wirkt und das insofern für diese normativ ist. Auf diese Weise wahrt Cajetan die thomasische Hierarchie der Gesetze, obwohl man den Eindruck gewinnt, dass die einzelnen Elemente der Synthese größere Selbständigkeit voneinander haben: Das Naturgesetz scheint so mit dem ewigen Gesetz verbunden, dass dieses primär den Grund dafür darstellt, dass der Einzelne, insbesondere der Herrscher, auf jenes verpflichtet ist, ohne dass eine gleichsam natürliche Verbindung von ewigem und Naturgesetz klar erkennbar wäre. Diese Zusammenhänge müssten jedoch in einer genaueren Interpretation geklärt werden, als sie hier möglich ist. Cajetans Erklärungen zur Summa theologiae sind jedenfalls erkennbar von einem ganz anderen Erkenntnisinteresse geleitet als bei Thomas selbst: Nicht das Verhältnis jedes Einzelnen zum ggf. ungerechten Gesetz steht in Frage, sondern die Gültigkeit des Gesetzes für den Herrscher, der es erlassen hat. Die Unterscheidung gerechter und ungerechter Gesetze, die Thomas so wichtig ist, tritt ganz zurück und wird in Cajetans Erklärung dieser Artikel gar nicht erwähnt. Damit kommt de facto eine Argumentation zustande, die den gegebenen posi40 

Commentarium Caietani ad Summam theologiae I–II 96, 5, § 4 (Editio Leonina 7, 185b). Commentarium Caietani ad Summam theologiae I–II 96, 5, § 12 (Editio Leonina 7, 186b– 187b). 41 

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tiven Gesetzen eine moralische Dignität unterlegt, die den Einzelnen gerade nicht zur Auseinandersetzung mit ihnen anhält, sondern selbst dem Herrscher auch auf moralischer Ebene Gehorsam aufnötigt. Somit wird die Gerechtigkeit von Gesetzen bei Cajetan allenfalls indirekt zum Thema, indem der Herrscher – vielleicht in antimacchiavellistischer Stoßrichtung – über das Gewissen an das Naturgesetz gebunden wird und so moralisch verantwortlich bleibt. Ein systematischer Punkt, den Cajetan erwähnt, wird in der Folgezeit besonders wichtig: Die von Thomas nur kurz erwähnte Rückbindung des individuellen Gewissens an das ewige Gesetz wird verstanden als allgemeine Aussage darüber, dass der moralische Verpflichtungsgrund jeglicher Gesetze für das Individuum darin liegt, dass dieses im Gewissen vom ewigen Gesetz, d. h. von Gott, daran gebunden ist, menschlich gegebenen Gesetzen zu gehorchen. Insofern das Gewissen damit an den Geltungsgrund jedes Gesetzes gebunden ist, bleibt seine Autonomie gegenüber jedem menschlichen Gesetz auf systematischer Ebene erhalten, auch wenn dies von Cajetan nicht herausgestellt wird. Ihren Verpflichtungsgrund erlangt diese Bindung jedoch viel eindeutiger als bei Thomas im Willen Gottes, dem sich auch der Herrscher zu unterwerfen hat; die Selbstgesetzgebung der Vernunft tritt deutlich zurück gegenüber dem Gehorsam gegenüber dem höchsten Gesetzgeber.

B.  Gesetz und Gewissen in De legibus ac deo legislatore des Francísco Suárez 1. Gerechte und ungerechte Gesetze Gerade im Vergleich zu diesem einseitigen Frageinteresse Cajetans fällt auf, wie stark Francisco Suárez das Verhältnis des Gewissens zum Gesetz in seiner ganzen Breite rezipiert. In seinen verschiedenen Facetten und Anwendungsfeldern bildet dieses Thema ein Leitmotiv von Suárezʼ umfassender Darstellung der verschiedenen Arten des Gesetzes, die zuerst 1612 auf der Grundlage einer längeren handschriftlichen Vorbereitung unter dem Titel »Die Gesetze und Gott der Gesetzgeber« (De legibus ac deo legislatore) erschien.42 Schon in diesem Titel ist im Übrigen die zentrale Rolle nicht zu übersehen, die auch für Suárez der göttliche Ursprung der Gesetze spielt.43 In der Einleitung dieses Werkes geht Suárez insbesondere darauf ein, welche Aufgabe dem Theologen in der Gesetzestheorie zukommt. Seine Ausführungen definieren diese insbesondere so, dass er die Bindungskraft herauszuarbeiten und zu diskutieren habe, die die verschiedenen Arten von Gesetz im Gewissen 42  Vgl. die

Einleitung zur kritischen Ausgabe, Band 1. Dazu M. Walther: Facultas moralis. Die Destruktion der Leges Hierarchie und die Ausarbeitung des Begriffs des subjektiven Rechts durch Suárez – ein Versuch. In: Transformation des Gesetzesbegriffs, hg. von dems. (Stuttgart 2008) 141–146. 43 

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entfalten. Neben einer Beurteilung ihrer »Güte und Gerechtigkeit« (honestas ac rectitudo) vom Standpunkt des Glaubens her sei der zweite Gesichtspunkt, unter dem die Theologie sich mit den staatlichen Gesetzen zu befassen habe, »dass sie die Verpflichtungen des Gewissens, die aus ihnen entstehen, gemäß den Prinzipien des Glaubens offenlegt«.44 Ebenso habe sie die Regeln kirchlicher Gesetzgebung zu behandeln, »insofern sie das Gewissen binden und zum ewigen Heil anleiten«;45 in der weltlichen wie der geistlichen Sphäre ist also die moralische Dimension des Gesetzes, die sich als Verpflichtung des Einzelnen auswirkt, primäres Thema der Abhandlung, und hierfür spielt das Gewissen eine zentrale Rolle. Eine Aufgabe des Theologen ist dieses Thema insbesondere deshalb, weil zu zeigen ist, »wie« die Gesetze »von Gott selbst ihren Ursprung haben, insofern die Macht, sie zu erlassen, primär in Gott existiert und von ihm zu den Menschen auf einem entweder natürlichen oder übernatürlichen Weg ausfließt«.46 Auch Suárez betont also die göttliche Herrschaft über die Gesetze und leitet die menschliche Verfügungsgewalt über sie aus dieser ab. Auch die von Thomas und Cajetan bereits bekannte Verpflichtung (obligatio) ist für ihn auf die Autorität Gottes gegründet, die nun insbesondere im Glauben verankert wird. Als systematischen Grund hierfür nennt Suárez die Annahme, dass Gott das »letzte Ziel« und Subjekt des »Glücklichseins« (felicitas) für den Menschen sei, welches wiederum durch freies, den Gesetzen unterliegendes Handeln erreicht werde.47 Die Perspektive, unter der er als Theologe die Gesetze behandelt, lässt gerade in der letzteren Formulierung das thomasische Vorbild mit seinen aristotelischneuplatonischen Grundlagen noch erkennen. Die im Vergleich zu Thomas viel eindeutigere Zuordnung der Gesamtuntersuchung zur Theologie wird jedoch auch durch eine klare Begrenzung philosophischer Erkenntnisansprüche erreicht, da eine natürliche Vernunft »das natürliche Ziel des Menschen nicht überschreitet, ja dieses nicht einmal in jeder Hinsicht berührt, sondern insofern es zur Bewahrung der äußeren Gerechtigkeit und des Friedens des Staates nötig ist«.48 44  Leges vero civiles solum vel ut de earum honestate ac rectitudine per altiores regulas diiudicet vel ut obligationes conscientiae quae ex eis orientur iuxta principia fidei declaret. De legibus ac deo legislatore. Prooemium (1, S. 6, Z. 107–112 Edición crítica bilingüe). 45  Sacros autem canones et Pontificum decreta, ut conscientiam ligant et ad aeternam salutem dirigunt, tamquam sibi proprias recognoscit et vindicat. De legibus ac deo legislatore. Prooemium (1, S. 6, Z. 112–114 Edición crítica bilingüe). 46  Quomodo scilicet a Deo ipso originem habeant quatenus postestas ad illas ferendas in Deo primarie existit et ab ipso ad homines aut naturali aut supernaturali via dimanet. De legibus ac deo legislatore. Prooemium (1, S. 6, Z. 116–118 Edición crítica bilingüe). 47  De legibus ac deo legislatore. Prooemium (1, S. 2 f., Z. 8–26 Edición crítica bilingüe). 48 Tota vero haec [i. e. philosophica, M.P.] legum consideratio non transcendit naturalem finem, immo neque omni ex parte illum attingit, sed quatenus ad externam iustitiam et pacem

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Demnach ist die natürliche Vernunft nicht in der Lage, die transzendente bzw. übernatürliche Grundlage zu erforschen, auf welcher die Gültigkeit der Gesetze letztlich ruht. Die Frage, welche Bindungskraft das Gewissen unter den verschiedenen Bedingungen real existierender, mehr oder weniger vollkommener und gelungener Gesetze besitzt, kann insofern allein von der Wissenschaft geleistet werden, deren religiöse Grundlagen eine Überschreitung der natürlichen Vernunft implizieren. Für diese ist andererseits die Untersuchung der Bedingungen des Gewissens ebenso ursprünglich wie diejenige der Grundlagen des Gesetzes und bildet somit einen zentralen Gegenstand der Untersuchung. Diese zentrale Rolle des Gewissens lässt sich durch einen Blick auf den Aufbau von Suárez’ Werk bestätigen: Dieses lehnt sich zwar im Großen und Ganzen an die Struktur des lex-Traktats des Thomas von Aquin an, zeigt dabei aber einige Unterschiede, die gerade das Thema des Gewissens betreffen: Bereits im ersten Buch, in dem die Natur des Gesetzes im Allgemeinen behandelt wird, kommt Suárez auf das Thema zu sprechen, wie das Gewissen sich insbesondere zu einem ungerechten Gesetz verhält; auf diese Weise wird ein Punkt, den Thomas von Aquin erst in Bezug auf das menschliche Gesetz erörterte, bereits in die allgemeine Definition des Gesetzes hineingenommen. Dies geschieht im neunten Kapitel des ersten Buches, nachdem in den Kapiteln 1 –5 eine allgemeine Definition des Gesetzes geliefert und in den Kapiteln 6–8 auf einige Charakteristika jedes Gesetzes eingegangen wurde, die dazu erforderlich sind, dass dieses in vollem Maße Gesetz heißen kann. Die Behandlung dieser Merkmale, die Suárez als äquivalent zu den Ursachen des Gesetzes versteht,49 findet in Kapitel 9 ihren Abschluss, wo auf die von Isidor von Sevilla benannten Merkmale des Gesetzes eingegangen wird, die Suárez als »intrinsisch« bezeichnet, nämlich dass es »in Vernunft gegründet ist, weiterhin dass es mit der Gottesverehrung übereinstimmt, dass es zur Lehre passt und dass es zum Heil nützt«.50 Besonderes Gewicht erlangt dieses Kapitel allerdings weniger durch die Behandlung von Isidors Merkmalskatalog, den Suárez mehr aus Respekt vor der Tradition in den Mittelpunkt zu stellen scheint,51 als deswegen, weil er als Angabe der »Bedingungen« dafür verstanden wird, »dass das Gesetz gerecht ist und auf gerechte Weise erlassen wird« (conditiones […] ut lex sit iusta et iuste

reipublicae tuendam necessarium est. De legibus ac deo legislatore. Prooemium (1, S. 5, Z. 87–90 Edición crítica bilingüe). 49  De legibus ac deo legislatore I 6, 1 (1, S. 102, Z. 2–7 Edición crítica bilingüe). 50  Lex erit omne quod ratione constiterit, dumtaxat quod religioni congruat, quod disciplinae conveniat, quod saluti proficiat. De legibus ac deo legislatore I 9, 1 (2, S. 3, Z. 7–9 Edición crítica bilingüe). 51  Das zeigt sich z. B. daran, dass er darauf hinweist, eigentlich fände sich selbst bei Isidor ein korrekterer Merkmalskatalog, sich dann aber weitgehend an dem zuvor zitierten, von mir gerade aufgezählten Katalog orientiert: De legibus ac deo legislatore I 9, 1 (2, S. 3 f., Z. 10–17 Edición crítica bilingüe).

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feratur).52 Diese Formulierung kann Suárez in scholastischer Terminologie auch so verstehen, dass sie sich auf die »Materie« und die »Form« des Gesetzes bezögen.53 Zur »Materie« bzw. zum Inhalt des Gesetzes gehören dabei Anweisungen für Handlungen, die sich auf eine alle Tugenden umfassende iustitia legalis im Sinne von Buch V der Nikomachischen Ethik beziehen, die hierzu freilich nicht explizit zitiert wird.54 Für Suárez reduziert sich der damit, und auch der von Isidor gemeinte Inhalt freilich der Sache nach darauf, dass »das Gesetz mit der Vernunft übereinstimmen muss« (lex debet esse consentanea rationi).55 Die systematische Grundlage dieser Aussage, die auf den ersten Blick in einer gewissen Spannung zur vorrangigen Rolle Gottes als Gesetzgeber zu stehen scheint, ergibt sich daraus, dass Gott aufgrund seiner wesensmäßen Güte so eng an das Naturgesetz gebunden ist, dass er niemals etwas wollen kann, was diesem direkt entgegensteht. »Wenn eine Handlung […] intrinsisch schlecht ist, wird sie genau deswegen vom Naturgesetz verboten und folglich von Gott, insofern er dessen Urheber ist«.56 Demnach geht Suárez davon aus, dass Gottes Wille immer mit der angemessenen rationalen Bewertung von Handlungen als in sich gut oder schlecht übereinstimmt; lediglich bei Handlungen, die aus verschiedenen Intentionen heraus geschehen können, ist es im Einzelfall möglich, dass eine zunächst schlecht scheinende Handlung dadurch gut wird, dass Gott sie will.57 Die voluntaristischen Züge bei Suárez werden demnach durch eine rationalnaturgesetzliche Bedeutung des Willens Gottes so gemäßigt, dass die Rationalität als innere Struktur des von Gott gegebenen Gesetzes gewahrt werden kann. Damit ist auch eine wichtige Grundlage dafür gegeben, dass die Gerechtigkeit des Gesetzes ihre schon bei Thomas so wichtige Rolle behält.

2. Das Verhältnis von Naturgesetz und Gewissen Aus den genannten Merkmalen jedes Gesetzes ergibt sich daher auch für Suárez, dass ein ungerechtes Gesetz kein Gesetz im eigentlichen Sinne ist. Er begründet dies expressis verbis damit, dass »eine Gerechtigkeit, die dieser Güte des Gesetzes widerspricht, Gott selbst entgegengesetzt« sei;58 mit anderen Wor52  De legibus ac deo legislatore I 9, 1 (2, S. 4, Z. 20–23 Edición crítica bilingüe). Der Titel des Kapitels führt beide Inhaltsbeschreibungen nebeneinander auf, sowohl die Beschäftigung mit der Gerechtigkeit des Gesetzes als auch die mit den von Isidor genannten Bedingungen. 53  De legibus ac deo legislatore I 9, 12 (2, S. 16, Z. 10–12 Edición crítica bilingüe). 54  De legibus ac deo legislatore I 9, 2. 7 (2, S. 5, Z. 15–21; S. 10, Z. 10–15 Edición crítica bilingüe). 55  De legibus ac deo legislatore I 9,7 (2, S. 9 f., Z. 4–9 Edición crítica bilingüe). 56  Quando opus est […] intrinsece malum, eo ipso prohibetur lege naturali et consequenter a Deo, ut est auctor eius. De legibus ac deo legislatore I 9, 3 (2, S. 6, 13–15). 57  De legibus ac deo legislatore I 9, 3 (2, S. 6, Z. 17–25 Edición crítica bilingüe). 58  Iustitia repugnans huic honestati legis ipsi Deo est contraria. De legibus ac deo legislatore I 9, 11 (2, S. 14, Z. 1–6 Edición crítica bilingüe).

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ten ist es für ihn in erster Linie nicht der Widerspruch des Gesetzes gegen die Vernunftordnung als solche, sondern die gegen Gott, die die Ungültigkeit eines ungerechten Gesetzes ausmacht. Während dieser Gedanke die dezidiert theologische Grundoption des Werkes widerspiegelt, liegt die Rolle des Naturgesetzes der Vernunft auf einer anderen Ebene: Die Gesetzeskraft eines Gesetzes zeigt sich, wie Suárez an der zitierten Stelle anführt, insbesondere darin, dass es »verpflichte« (legem […] non esse legem neque obligare). Diese Verpflichtungskraft eines Gesetzes ergibt sich aus dem Naturgesetz: Wie Suárez in seinem zweiten Buch ausführt, ist nämlich die Verpflichtung (obligatio) »die wichtigste oder fast die einzige Wirkung des Naturgesetzes« ([effectus] potissimus […] vel fere unicus), und zwar insbesondere im Hinblick auf das Gewissen.59 Diese Beschränkung des Naturgesetzes auf die Verpflichtung hat einen breiteren theoretischen Hintergrund. Suárez unterscheidet nämlich deutlich zwischen der Vernunftnatur als solcher und dem Naturgesetz, »welches dem menschlichen Willen befiehlt oder verbietet, was vom Naturrecht her zu tun ist«.60 Durch diese Beschränkung des Naturgesetzes auf seinen befehlenden Charakter rückt Suárez dieses besonders nah an das Gewissen heran, so wie es Paulus in Röm 2, 14 f. beschreibt: Das dort erwähnte »Zeugnis« des Gewissens bezeugt für ihn vor allem, dass der Mensch dem »natürlichen Spruch der rechten Vernunft« (dictamen naturale rectae rationis) dann folgt, wenn er richtig, und nicht folgt, wenn er falsch handelt. »Dieser Spruch ist also das Naturgesetz, und kraft seiner sagt man auch, dass der Mensch, der durch dieses geführt wird, sich selbst Gesetz ist, trägt er doch in sich ein Gesetz, das durch den Spruch der natürlichen Vernunft geschrieben wird«.61 Auf diese Weise wird das Gewissensurteil zum entscheidenden Zeichen, durch welches die Präsenz des Naturgesetzes im Menschen erkannt wird. Zugleich beschränkt Suárez die Wirkung des Naturgesetzes ausdrücklich auf das menschliche Innere, da es weder in Gott noch in etwas Außermenschlichem sein könne.62 Entscheidend für die Freiheit individueller Gewissensentscheidungen ist jedoch seine Bestimmung des Verhältnisses des Gewissens zum Naturgesetz. Aus der thomasischen Formulierung, das Gewissen sei eine »Anwendung« (applica59 

De legibus ac deo legislatore II 9, 1 f. (3, S. 136 f., Z. 1–4; S. 137, Z. 1 f. Edición crítica bilingüe). 60  De legibus ac deo legislatore II 5, 9, Z. 2–10, Zitat 8–10 Edición crítica bilingüe. Übs. Brieskorn. 61  De legibus ac deo legislatore II 5, 10 (3, S. 67, Z. 6-S. 68, Z. 14, Zitat 12–14 Edición crítica bilingüe): Hoc ergo dictamen est lex naturalis et ratione illius dicitur homo qui illo ducitur esse sibi lex, quia in se habet scriptam legem medio dictamine naturalis rationis. Übs. in Anlehnung an Brieskorn. 62  De legibus ac deo legislatore II 5, 12 (3, S. 70, Z. 2–8 Edición crítica bilingüe).

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tio) des Naturgesetzes auf eine einzelne Handlung, zieht er nämlich zwei Folgerungen: 1. Das Gewissen hat einen weiteren Anwendungsbereich als das Naturgesetz, denn es wende auch die positiven Gesetze an, nämlich das göttliche und das menschliche Gesetz. 2. »Das Gewissen pflegt nicht nur das wahre Gesetz anzuwenden, sondern auch ein vermutetes, weswegen es zuweilen ein irrendes Gewissen gibt. Ein irrendes Gesetz kann es hingegen nicht geben, denn allein durch diese Tatsache wäre es kein Gesetz mehr«.63 Der zweite Punkt, auf den ich zunächst eingehen möchte, zieht aus den thomasischen Voraussetzungen eine wichtige Konsequenz. Die Gerechtigkeit eines Gesetzes, also, wie oben erläutert, seine Rationalität, gehört, wie schon Cicero und Thomas festgehalten haben, zu den konstitutiven Merkmalen des Gesetzes überhaupt. Eine Regelung, die diesem Kriterium nicht entspricht, verliert damit ihre Dignität als Gesetz, selbst wenn es in der konkreten Situation aufgrund des Ziels der Aufrechterhaltung der Ordnung einige Einschränkungen dieser Feststellungen geben mag. Dagegen behält das Gewissen, auch das einer Lehre des Thomas von Aquin, seine Dignität auch dann, wenn es sich im Irrtum befindet. Den Grund dafür erläutert Suárez an dieser Stelle nicht, es lässt sich jedoch daraus ableiten, dass das Gewissen als individuelles Vernunfturteil für das Individuum, gerade in der aktualen Situation, nur begrenzt überprüfbar und daher zunächst einmal gültig ist. Wer aus seinem Gewissen handelt, handelt aufgrund seiner besten Gesetzeskenntnis und seiner rationalen Einschätzung der Situation. Wenn er sich irrt, handelt er womöglich falsch, die Gültigkeit seines Gewissensurteils ist dadurch nicht eingeschränkt; dagegen hängt die Geltung eines Gesetzes als einer universalen – und insoweit diskursiv überprüfbaren – Ordnungsstruktur, wie bereits zuvor erläutert, an bestimmten inhaltlichen Kriterien, ohne die es schlechthin nicht greift. Der Geltungsanspruch des individuellen Gewissens ist insofern für das gewissenhafte Individuum letztlich höher, als irgendein Gesetz es sein kann. Sein volles Gewicht entfaltet dieser Punkt, wenn man den ersten eben von Suárez genannten Punkt hinzunimmt, dass es dem Gewissen zukommt, sowohl das menschliche als auch das göttliche Gesetz anzuwenden, und zwar, wie in Erinnerung zu rufen ist, aufgrund seines direkten Bezuges zum Naturgesetz, dem Verpflichtungsgrund des Gewissens. Aus dieser Struktur rechtfertigt sich grundsätzlich die Möglichkeit, dass das Gewissen, trotz seiner Irrtumsanfälligkeit, legitimerweise vom menschlichen und göttlichen Gesetz abweichen kann.

63  De legibus ac deo legislatore II 5, 15 (3, S. 74, Z. 9–14 Edición crítica bilingüe): Immo conscientia non solum applicare solet veram legem, sed etiam existimatam, quomodo interdum datur conscientia erronea. Lex autem erronea dari non potest, nam eo ipso non erit lex, quod maxime verum est in lege naturali, quae Deum habet auctorem. Übs. in Anlehnung an Brieskorn.

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Damit hat Suárez die Grundlagen für das bereits bei Thomas implizierte Verhältnis von Gesetz und Gewissen zunächst terminologisch weiter geklärt. Eine innere Ausbuchstabierung dieses Verhältnisses erfolgt an verschiedenen Stellen von De legibus ac deo legislatore, und zwar jeweils dort, wo das Verhältnis des Gewissens zu den einzelnen Gesetzen – dem menschlichen und dem göttlichen bzw. kanonischen Gesetz – sowie den einzelnen zu berücksichtigenden Zweifelsfällen angesprochen werden. Hier möchte ich mich auf die generellen Bemerkungen zu dieser Thematik beschränken, die Suárez bereits im ersten Buch, als direkte Konsequenz seiner Überlegungen zur Gerechtigkeit von Gesetzen, entfaltet.

3. Das individuelle Gewissen und das menschliche Gesetz Dort lassen sich zwei nähere Bestimmungen dazu finden, unter welchen Bedingungen das individuelle Gewissen die Möglichkeit hat, einem allgemeinen Gesetz nicht zu folgen. Eine von ihnen betrifft die Frage, welche Art von Ungerechtigkeit ein solches Vorgehen rechtfertigt. Grundsätzlich unterscheidet Suárez in dieser Hinsicht drei Arten von Fällen, die von Thomas von Aquin wohl als Mängel im Hinblick auf das Ziel, den Urheber und die Form des Gesetzes klassifiziert würden. Suárez definiert den ersten Punkt als die Notwendigkeit und Nützlichkeit des Gesetzes sowie seinen sachlichen Bezug zum Gemeinwohl; den zweiten entwickelt er anhand der Bedingungen für das Jurisdiktionsrecht des Gesetzgebers.64 In beiden Fällen kommt es darauf an, dass diese Bedingungen faktisch erfüllt sind, nicht hingegen auf die persönlichen Intentionen des Gesetzgebers. In diesem Sinne kommt der richtigen Form des Gesetzes, die Suárez als die gerechte Verteilung der auferlegten Lasten auf alle unter dem Gesetz stehenden versteht, besondere Bedeutung zu. Im Hinblick auf sie sieht er eine Ungültigkeit des Gesetzes dann gegeben, »wenn das Missverhältnis und die Ungleichheit des Gesetzes so groß sind, dass sie sich zum Schaden der Allgemeinheit und zur schwierigen Belastung der Mehrheit ihrer Mitglieder auswirken«.65 Dagegen verliert ein insgesamt gerechtes, aber nicht in jeder Hinsicht angemessenes Gesetz seinen Gesetzescharakter nicht. Allerdings verliert es nach Suárez’ Meinung seine Gültigkeit, wenn es einzelne Glieder des Staates über Gebühr belastet, im Hinblick auf diese Staatsbürger und verpflichtet sie im Gewissen nicht, obwohl das Gesetz als Ganzes in Geltung bleibt.66 64 

De legibus ac deo legislatore I 9,15 (2, S. 20, Z. 7–18 Edición crítica bilingüe). Quando tanta est improportio et inaequalitas legis, ut redundet in detrimentum commune et in grave ac iniustum onus plurium membrorum eius. De legibus ac deo legislatore I 9, 16 (2, S. 21, Z. 12–14 Edición crítica bilingüe. Übs. Brieskorn). 66  De legibus ac deo legislatore I 9, 16 (2, S. 21, Z. 14–24 Edición crítica bilingüe). 65 

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Zusätzlich zu diesen inhaltlichen Punkten ist freilich zu beachten, welche Bedingungen dafür erfüllt sein müssen, dass jemand zu Recht in seinem Gewissen urteilen kann, dass er durch das Gesetz nicht verpflichtet ist. Hierzu verweist Suárez zunächst auf das subjektive Kriterium, »dass die Ungerechtigkeit des Gesetzes moralisch feststeht. Denn wenn die Sache zweifelhaft ist, dann muss man vermutungsweise zugunsten des Gesetzgebers urteilen«.67 Dieses Kriterium begründet Suárez neben dem höheren Recht des Gesetzgebers und dessen möglicherweise verborgenen allgemeinen Gründen auch mit der Notwendigkeit, dass sich die Untergebenen keine allzu große Freiheit gegenüber dem Gesetz anmaßten.68 Diese das Recht zum Ungehorsam einschränkenden Kriterien, die über die von Thomas von Aquin benannte Vermeidung eines Skandals hinausgehen, sind freilich wiederum der persönlichen Beurteilung im Gewissen des Einzelnen anheimgegeben, so dass letztlich auch in dieser Hinsicht wieder dessen Sicherheit infrage steht. Es ist interessant zu beobachten, dass Suárez in diesem Punkt eine vorsichtigere Formulierung wählt, wenn er im sechsten Buch von De legibus, unter explizitem Verweis auf die aristotelische Epieikie, genauer auf das Problem zu sprechen kommt. Hier stellt er einerseits heraus, dass man einen positiven Grund dafür haben muss, ein Gesetz für ungerecht zu halten, während eine bloße Unkenntnis der Gründe, die den Gesetzgeber zu diesem Gesetz geführt haben, nicht genüge.69 Andererseits ist er aber der Meinung, dass man für diesen positiven Zweifel an der Gerechtigkeit des Gesetzes im Einzelfall nicht in jedem Fall einen sicheren Grund benötigt, um ihm entschuldigt nicht folgen zu können, sondern dass hierzu unter gewissen Bedingungen ein wahrscheinlicher Grund genügen kann, besonders wenn man vermutet, ein Gesetz nicht ohne Sünde befolgen zu können oder einen Konflikt mit einem anderen Gesetz sieht.70 An diesem Punkt, der hier nicht mehr im Detail verfolgt werden kann, zeigt sich vermutlich der Einfluss des sogenannten Probabilismus, also der zuerst 1577 von dem spanischen Dominikanertheologen Bartolomaeus de Medina vertretenen Ansicht, dass man seinem Gewissen schon dann folgen darf, wenn es einen wahrscheinlichen Grund gibt, der die gewählte Handlungsweise rechtfertigt. Sie bedeutete eine bedeutende Einschränkung der alten, u. a. bei Thomas von Aquin zu findenden, Meinung, man habe im Gewissen im Zweifelsfall dem Weg zu folgen, der am sichersten frei von Sünde war. Diese Ansicht wurde in neuerer Zeit u. a. deswegen kritisiert, weil sie sich gegen die besonders von Bartolomé de las Casas vertretene Bußdisziplin richtete, aufgrund welcher spanischen Konquistadoren die Lossprechung in der Beichte verweigert wurde, wenn sie nicht volle 67  Advertunt autem omnes doctores necessarium esse, ut de iniustitia legis certo moraliter constet. Nam si res sit dubia, praesumendum est pro legislatore. De legibus ac deo legislatore I 9, 11 (2, S. 14, Z. 12–14 Edición crítica bilingüe). 68  De legibus ac deo legislatore I 9, 11 (2, S. 14, Z. 13–19 Edición crítica bilingüe). 69  De legibus ac deo legislatore VI 7, 1–2 (Ed. Antwerpen 1613, 437). 70  De legibus ac deo legislatore VI 8, 2 (Ed. Antwerpen 1613, 440 f.).

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Restitution der den Indianern gestohlenen Güter und Rechte leisteten; denn sie hätten nach Ansicht von Las Casas das Unrecht ihres Tuns erkennen und stattdessen frei von Sünde handeln müssen.71 Während der Probabilismus in dieser Hinsicht ein scharfes Vorgehen der Kirche gegen die spanischen Verbrechen in Lateinamerika erschwert haben mag, kann man seine Einführung in das Verhältnis des Individuums zum Gesetz, wie wir sie bei Suárez beobachten können, als die Einräumung eines größeren Spielraums für das individuelle Urteil durchaus positiv werten. Insbesondere scheint damit die Möglichkeit zu bestehen, unterschiedlichen individuellen Urteilen über die Verpflichtungskraft von Gesetzen besser gerecht werden zu können

IV. Fazit Der selektive Durchgang durch einige lateinische Diskussionen des Gewissensbegriffs weist darauf hin, dass Thomas von Aquins Diskussion der Rolle des Gewissens im Verhältnis zu staatlichen Gesetzen, wie sie sich insbesondere in Summa theologiae I–II 96, 4 in Verbindung mit I–II 19, 5 f. findet, eine Art Knotenpunkt der abendländischen Diskussion des Problems bildet. Thomas fasst in prägnanter Weise Traditionen des Nachdenkens über Gesetz und Gewissen, die das, christliche und nichtchristliche, lateinische Denken seit der Antike beschäftigen, in einer Art Synthese zusammen. Indem er aus der Rückbindung des Gewissens an das ewige Gesetz auf die Möglichkeit des Einzelnen schließt, ein positives Gesetz anhand vernünftiger Gründe als ungerecht zu beurteilen und dagegen Widerstand zu leisten, legt er wichtige Grundlagen für die Bedeutung individueller Rationalität im neuzeitlichen Denken, die man zumindest in ihrem Kern auch heute noch für zutreffend halten kann.72 Die exemplarische Betrachtung zweier frühneuzeitlicher Interpretationen zeigt, dass diese These in dieser Epoche nicht einheitlich rezipiert wurde, sich aber auch in der katholischen Theologie zumindest teilweise durchsetzte: Während Cajetan zu Beginn des 16. Jahrhunderts Thomas’ Text weitgehend im Sinne einer Verpflichtung des Gewissens, und zwar insbesondere desjenigen des Herrschers, auf das Gesetz deutet, ist Thomas’ Gewissenstheorie 100 Jahre später bei Suárez zu einem zentralen Element einer Gesamttheorie des Gesetzes geworden. Der Bezug des Gewissens auf die normative Struktur hinter den positiven Gesetzen bildet den Leitfaden, um das Verhältnis von Individuum und Gesetz zu bestimmen. Suárez’ Bemühen zielt näherhin auf die genauere Festlegung der einschränkenden Bedingungen für ein solches Urteil ab, ohne das Grundkon71  Ein ausführlicher Überblick über den Probabilismus findet sich bei Thomas Deman: Probabilisme. In: Dictionnaire de théologie catholique 13 (Paris 1936) 417–619. 72  Das habe ich zu begründen versucht in M. Perkams: Naturgesetz, Selbstbestimmung und Moralität. Thomas von Aquin und die Begründung einer zeitgemäßen Ethik. In: Studia Neoaris­ totelica 5 (2008) 109–131.

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strukt des Thomas aufzuheben. Damit wird zumindest auf theoretischer Ebene die Unterscheidung von rechtlicher und moralischer Beurteilung individueller Entscheidungen weiter vorangetrieben, die unter gewissen Bedingungen den Ungehorsam des Individuums zumindest schuldlos, wenn nicht sogar moralisch geboten sein lässt. Bemerkenswert ist, dass sowohl Cajetan als auch Suárez, wenn auch im Detail unterschiedlich, die Tendenz zeigen, den Willen des göttlichen Gesetzgebers als eigentlichen Geltungsgrund der Gesetze zu betonen. Damit wird der vernunftbetonte Charakter der thomasischen Lösung, bei der das ewige Gesetz als ratio divina zum Maßstab der ratio humana wird (STh I–II 19, 4 resp.) in eine voluntaristische Richtung hin verschoben, bei der die göttliche Vernunft letztlich insoweit zum Maßstab für das Gesetz wird, als Gott vernünftig handeln will. Es ist in diesem Kontext nicht möglich, diese Beobachtung angemessen zu interpretieren, da dies eine sehr umfassende Untersuchung jedes der beiden frühneuzeitlichen Ansätze erfordern würde. Es entsteht jedoch der Eindruck, dass der spätmittelalterliche Voluntarismus zu einem Perspektivenwechsel beigetragen hat, in dessen Folge der Gottesbegriff in einer zunehmend transzendenten Weise interpretiert wurde. Damit wird allerdings »die Eigenständigkeit, die Thomas von Aquin mit dem Begriff des ›natürlichen Gesetzes‹ verbindet«, gerade nicht »zugeschärft«;73 vielmehr verlegt die an Thomas anschließende theologische Tradition den Geltungsgrund des Gewissens und damit die persönliche Autonomie in die rational nicht zugängliche Sphäre des göttlichen Wollens. Damit trennt sie sich in einem wichtigen Punkt von der intellektualistischen Tradition des Mittelalters, deren klassische Formulierung durch Gregor von Rimini, das Sittengesetz würde selbst dann gelten, wenn es Gott – unmöglicherweise – nicht geben würde, zur Zeit des Suárez von seinem Zeitgenossen Hugo Grotius pointiert aufgegriffen wird.74

73 

So L. Honnefelder: Woher kommen wir? Ursprünge der Moderne im Denken des Mittelalters (Berlin 2008) 302, dem ansonsten in vieler Hinsicht zuzustimmen ist. 74  Hugo Grotius: De iure belli ac pacis. Prolegomena, § 11, nach Gregor von Rimini: Kommentar zum 2. Buch der Sentenzen des Petrus Lombardus d. 34–37, Art. 2. In: ders.: Moralisches Handeln und rechte Vernunft: Lectura super secundum Sententiarum, distinctiones 34–37; Kommentar zu den Distinktionen 34–37 des zweiten Sentenzenbuches; Lateinisch-Deutsch Herausgegeben, eingeleitet und übersetzt von Isabelle Mandrella (Freiburg u. a. 2010) 97–99.

Christian Pietsch

Freiheit und Schicksal Die Schrift perí heimarménês des Alexander von Aphrodisias und ihre Rezeption in der frühen Neuzeit

I. Einleitung Im Jahre 176 n. Chr. hatte der römische Kaiser Marcus Aurelius in Athen vier öffentliche Lehrstühle eingerichtet, für jede wichtige Schulrichtung einen.1 Wir finden Alexander von Aphrodisias, den nach Aristoteles bedeutendsten Aristoteliker der Antike, zwischen 198 und 209 bzw. 211 n. Chr. möglicherweise auf einem von ihnen, dem Lehrstuhl für aristotelische Philosophie,2 zumindest aber auf einem öffentlich besoldeten Lehrstuhl, deren es im römischen Reich dieser Zeit mehrere gab. Angesichts einer Zeitspanne von über 500 Jahren seit dem Tode des Aristoteles im Jahre 322 v. Chr. stellt sich – zumal nach dem Bedeutungsverlust der aristotelischen Philosophie während des Hellenismus und seiner erst seit dem 1. Jahrhundert v. Chr. erfolgten Wiederbelebung – die Frage, ob die antike Rezeption des Aristoteles unter so andersartigen Bedingungen statt zu einer Wiederholung nicht eher zu einer eigenständigen Weiterentwicklung führte. Gab es den antiken Aristotelismus überhaupt und nicht stattdessen ebenso viele antike Aristotelismen, wie es antike Rezeptionsstufen gab? Oder waren die verschiedenen antiken Entwicklungsstufen der aristotelischen Philosophie trotz aller historischen Differenzen letztlich doch Ausdruck einer im Kern einheitlichen Philosophie? Nicht zuletzt mit Blick auf die neuzeitliche Rezeption des antiken Aristotelismus wäre es wichtig zu wissen, ob es sich bei dem Rezipierten immer um dasselbe handelte. Dieser Frage – ›Wie wird Aristoteles in der Antike rezipiert?‹ – soll im Folgenden am Beispiel von Alexanders Schrift ›Über das Schicksal‹ (perí heimarménês) nachgegangen werden (III), um anschließend zu fragen, in welcher Form 1 Philostr., vit. Soph.

II 2 (566,8–567,7); Lucian., Eunuch. 3; Dio Cass. LXXI 31,3; vgl. Eduard Zeller: Die Philosophie der Griechen in ihrer geschichtlichen Entwicklung, dritter Teil, erste Abteilung (Leipzig 51923) 709 A. 2. 2  Alexander bedankt sich im Vorwort seiner Schrift De fato bei Kaiser Septimius Severus (Kaiser von 193–211) und seinem ebenfalls bereits als Kaiser fungierenden Sohn Caracalla (seit 198) für die Berufung (Alexander von Aphrodisias: Alexandri Aphrodisiensis praeter commentaria scripta minora, pars II: quaestiones, de fato, de mixtione, hg. von Ivo Bruns (Berlin 1892) Fat 1, 164,3). Da Caracallas jüngerer Bruder Geta im Jahre 209 n. Chr. Mitregent wurde, wäre er von diesem Zeitpunkt an vermutlich ebenfalls genannt worden, was die Datierung der Schrift auf die Zeit zwischen 198 und 209 n. Chr. am wahrscheinlichsten macht; vgl. Robert William Sharples: Alexander of Aphrodisias: Scholasticism and Innovation. In: Aufstieg und Niedergang der römischen Welt II 36.2, hg. von Wolfgang Haase (Berlin/New York 1987) 1177; R. W. Sharples: Schriften und Problemkomplexe zur Ethik. In: Der Aristotelismus bei den Griechen. Bd. 3, hg. von Paul Moraux (Berlin 2001) 513 mit A. 3. Archiv für Begriffsgeschichte · Sonderheft 12 · © Felix Meiner Verlag 2016 · ISBN 978-3-7873-2525-2

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dieser Aristotelismus, erneut anhand eben dieser Schrift, selbst wiederum Gegenstand von Rezeption in der frühen Neuzeit war (IV). Es geht in dieser Schrift Alexanders um die Frage, ob freies, selbstverantwortetes menschliches Handeln innerhalb einer von eigenen Ursachenverkettungen bestimmten Umwelt möglich ist. Alexander, der diese Möglichkeit bejaht, setzt sich dabei vor allem mit der deterministischen Position der Stoa auseinander. Um Alexanders Umgang mit dieser Frage zu verstehen, ist es sinnvoll, zunächst einen Blick auf die Behandlung dieser Fragestellung vor Alexander zu werfen (II).

II.  Die Entwicklung der Diskussion vor Alexander von Aphrodisias Dass der Mensch prinzipiell die Möglichkeit zu planvoller, eigenverantwortlicher Entscheidung und zu ihrer Umsetzung in seiner Umwelt durch Handlungen hat, war in der griechischen Literatur seit Homer unbestritten. Allerdings bedeutete diese Möglichkeit keine Freiheit im Sinne einer Autonomie. Menschliches Entscheiden und Handeln, also die inneren und äußeren Aktmöglichkeiten, wurden nur als eine Determinante komplexer Geschehensabläufe angesehen. Die Interaktion mit dem sozialen Umfeld schränkte den Einzelnen ebenso ein wie die Einflüsse, die göttliche Kräfte ausübten. Die Frage nach den Grenzen und Möglichkeiten, aber auch nach den Folgen und Verantwortlichkeiten menschlichen Entscheidens und Handelns wurde immer wieder neu thematisiert. Aristoteles war der erste griechische Autor, der die Frage nach den menschlichen Entscheidungs- und Handlungsmöglichkeiten aus den literarischen Einbettungen löste und in theoretischer Form behandelte.3 Dabei konzentrierte er sich auf die Darstellung der psychischen Akte, die sich vollziehen müssen, damit es zu einer menschlichen Handlungsentscheidung kommt. Er thematisierte hingegen nicht die Möglichkeit der Umsetzung einer einmal getroffenen Entscheidung gleichsam ›nach außen‹. Dass diese Möglichkeit prinzipiell besteht, wurde aufgrund einer Kontingenz einschließenden Naturauffassung vorausgesetzt. Die äußeren, physikalischen Handlungsvoraussetzungen werden im Rahmen der Ethik nur insofern thematisiert, als es in der Natur entweder Bereiche gibt, die sich menschlichem Einfluss entziehen und daher nicht Gegenstand menschlicher Entscheidungen sein können,4 oder insofern, als sich, etwa aufgrund widriger Umstände, die Verhinderung einer geplanten, an sich möglichen Handlung nie

3  Zur Entwicklung dieser Thematik in der griechischen Philosophie bis Alexander vgl. R. W. Sharples: Alexander of Aphrodisias On Fate (London 1983) 3–14. 4 Dazu zählen notwendige, d. h. nicht änderbare Zustände oder Abläufe, aber auch Zufälliges sowie Dinge, die zwar grundsätzlich beeinflusst werden könnten, aber außerhalb der Reichweite bzw. Interessensphäre des Individuums liegen; s. Nikomachische Ethik III 3, 1112 a21–30; VI 1, 1139 a13f; VI 5, 1140 a31f; Rhetorik I 2, 1357 a5–7; II 5, 1383 a7f.

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ausschließen lässt.5 Auch für Aristoteles besitzen menschliche Individuen zwar durchaus Entscheidungs- und Handlungsmöglichkeiten, sind aber keineswegs autonom. Unter den Philosophenschulen des nachfolgenden Hellenismus war die Stoa am einflussreichsten. Sie teilte, bei allen Differenzen im Detail, mit Aristoteles die Überzeugung, das menschliche Individuum sei zu selbst zu verantwortenden Entscheidungen fähig. Sie wich jedoch von Aristoteles ab bei der Frage nach der Umsetzbarkeit einer Entscheidung in Handlung, d. h. in das physische und soziale Umfeld des Entscheidungsträgers hinein. Denn die Stoa vertrat eine deterministische Physik mit notwendiger Ursachenverkettung ohne Kontingenz. Ein solches Naturverständnis konnte daher auch unmittelbar mit dem Schicksal (heimarménê) gleichgesetzt werden, das in falscher Etymologie von eírein (›aneinander reihen‹) abgeleitet und als »aneinander reihende Ursache dessen, was ist« oder als »ununterbrochene und unmittelbare Aneinanderreihung der Ursachen aller Dinge« oder ähnlich definiert wurde.6 Daher war auch die Ethik der Stoa dort deterministisch, wo Entscheidungen in äußere Handlungen umzusetzen waren. Deshalb konnten Entscheidungen sinnvollerweise auch nicht auf Handlungen zielen, sondern nur auf die innere Haltung. Diese Auffassung war etwa 500 Jahre lang dominant. Doch mit der Wiederbelebung der aristotelischen Philosophie bahnte sich seit dem 1. Jahrhundert v. Chr. eine Änderung an. Mit der aristotelischen Physik und ihrer Kontingenz einschließenden Naturauffassung wurde selbstbestimmtes menschliches Handeln als Umsetzung von Entscheidung nach außen wieder denkbar. Indem sich aber die Auseinandersetzung zwischen Stoa und Aristotelismus auf diesen Punkt richtete, wurde sie auf einem Gebiet geführt, das von Aristoteles selbst gerade nicht vorrangig behandelt worden war. Umgekehrt traten die handlungsrelevanten psychischen Akte, also die systematischen Voraussetzungen für äußeres Handeln, in den Hintergrund. Wenn sich der Aristotelismus dieser Zeit in eine von Aristoteles selbst nicht geführte Kontroverse begab, dann deshalb, weil Philosophie immer im Rahmen eines bestimmten historischen Kontextes agiert. Stoischer Determinismus 5 Aristot.,

Nikomachische Ethik VII 13, 1153 b17–19: »Der glückliche Mensch bedarf der körperlichen, der äußeren und der zufallsbedingten Güter, damit er, was diese Dinge angeht, nicht gehindert wird.« Ähnliche Äußerungen über durch äußere Bedingungen geförderte bzw. eingeschränkte Handlungsmöglichkeiten finden sich auch in nichtethischen Kontexten, dort freilich nicht um ihrer selbst willen, sondern als Analogie zur Behinderbarkeit physikalischer Abläufe bzw. im Rahmen der Klärung des Begriffes der Potenz (dýnamis): Metaphysik IX 7, 1049 a5–7: »Die Definition dessen, was aufgrund von Überlegung Wirklichkeit wird aus dem (zunächst) nur Potentiellen, lautet ›wenn es auf jemandes Willen hin geschieht, ohne dass etwas Äußeres es verhindert‹«; vgl. auch Politik IV 1, 1288 b21–24; Phys. VIII 4, 255 a34–b5, b22f. 6 Stoicorum Veterum Fragmenta collegit I. ab Arnim (Stuttgart 1903–1905 u. ö.) II 913 (265,6 f.), 915 (265,27). Weitere ähnliche Definitionen finden sich im Wortindex der Stoicorum Veterum Fragmenta IV s.v. heimarménê.

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wurde zur Zeit des Aristoteles noch nicht vertreten und musste folglich auch nicht widerlegt werden. Das Thema spielte philosophisch keine Rolle. Entsprechend erscheint in den Schriften des Aristoteles der Begriff des Schicksals nur an drei Stellen und nur an einer davon in deterministischer Bedeutung.7 Der Aristotelismus der römischen Kaiserzeit hingegen fand sich mit einer veränderten Situation konfrontiert. Welchen Einfluss generell die Einbettung in den Zeitkontext auf den Aristotelismus nach Aristoteles ausüben konnte, hat die neuere Forschung anhand etlicher vom Themenrepertoire stoischer Ethik geprägter Diskussionen des 1. und 2. Jahrhunderts n. Chr. zeigen können.8 Dies gilt auch für den Determinismus der Stoa. Er war theoretisch bereits in Chrysipps Schrift ›Über das Schicksal‹ (2. Jahrhundert v. Chr.) behandelt und begründet worden.9 Seither war er in der zeitgenössischen Diskussion präsent.10 Diesen stoisch geprägten und in popularisierter Form weit verbreiteten Determinismus hatte Alexander zu widerlegen, bevor er das eigene, aristotelische Verständnis erfolgreich etablieren konnte.11

III.  Alexander von Aphrodisias’ Schrift ›Über das Schicksal‹ (perí heimarménês) Alexanders Schrift perí heimarménês enthält 39 Kapitel. Sie gliedert sich, nach der Einleitung, in zwei große Abschnitte.12 Der erste Abschnitt (2–6) enthält eine Definition des Begriffs ›Schicksal‹. Alexander legt dort das aristotelische  7 Aristot., Poetik 16, 1455 a11, eine Stelle, die nicht die eigene Meinung des Aristoteles, sondern die Ansicht von Tragödienfiguren wiedergibt. Die anderen Stellen sind Phys. V 6, 230 a32 und Meteorologie I 14, 352 a29.  8  Hierzu gehören z. B. die Diskussionen über das erlaubte Maß an Emotionen, über die stoische Oikeiosis-Lehre oder über das Verhältnis von Eudämonie und Tugend; vgl. Christopher Gill: The Transformation of Aristotle’s Ethics in Roman Philosophy. In: The Reception of Aristotle’s Ethics, ed. by Jon Miller (Cambridge 2012) 39–51.  9  Stoicorum Veterum Fragmenta, a. a.O. [Anm. 6] II 925 (266,35–37): »Dieser (Chrysipp) will nämlich im ersten Buch seiner Schrift ›Über das Schicksal‹ beweisen, dass alles von Notwendigkeit und Schicksal erfasst ist«, II 915 (265,25f), wo außer Chrysipp auch noch die Stoiker Poseidonios (135–51 v. Chr.), Zenon von Kition (333/2–262/1 v. Chr.) und Boëthos von Sidon (2. Jh. v. Chr.) als Verfasser von Schriften perí heimarménês genannt werden. Zuvor scheint nur der Akademiker Xenokrates (396/5–314/3 v. Chr.) bereits eine Schrift über dieses Thema verfasst zu haben (Diog. Laert. IV 12), deren Inhalt aber nicht bekannt ist. 10  Die einschlägigen Schriften sind aufgeführt bei Dorothea Frede: The Dramatization of Determinism: Alexander of Aphrodisias’ De Fato. In: Phronesis 26 (1982) 295 A. 3. 11  Wenn auch die Stoa als Gegner von Alexander nie namentlich genannt wird, kann kein Zweifel bestehen und ist auch in der Forschung nicht umstritten, dass es sich um, wenn auch nicht immer ausgewogen dargestellte, stoische oder zumindest auch von den Stoikern vertretene Positionen handelt, gegen die Alexander argumentiert; vgl. Pierluigi Donini: Aristotelismo e indeterminismo in Alessandro di Afrodisia. In: Aristoteles. Werk und Wirkung. Bd 2: Kommentierung, Überlieferung, Nachleben, hg. von Jürgen Wiesner (Berlin/New York 1987) 87–89; R. W. Sharples: Schriften und Problemkomplexe, a. a.O. [Anm. 2] 517 f. 12  Eine von der folgenden etwas abweichende Einteilung findet sich bei R. W. Sharples:

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Verständnis dar. Der zweite Abschnitt (7–38) enthält die polemische Auseinandersetzung mit anderen Philosophien, vor allem mit der Stoa. Die Themen sind dort im Einzelnen die Rolle des Zufalls (7–8), die Rolle des Möglichen, d. h. der Kontingenz (9–10), die Handlungstheorie (11–15) und die negativen Folgen des Schicksalsglaubens für das moralische Handeln der Menschen (16–39).13 Gut erkennbar ist dabei die jenseits der Ethik liegende systematische Verankerung des Begriffs ›Schicksal‹, denn die Themen beginnen im Bereich nicht-ethischer Kontexte, vor allem der Physik, und gehen erst ab Kapitel 11 zur Ethik über. Im Folgenden soll von jedem der beiden Abschnitte ein Eindruck vermittelt werden. Der erste Abschnitt leistet die Definition des Schicksals, denn Alexander leugnet die Existenz des Schicksals keineswegs grundsätzlich. Dass es ein Schicksal gibt und dass darunter – in einem zunächst noch nicht näher bestimmten Sinn – eine Ursächlichkeit für bestimmte Geschehensabläufe zu verstehen ist, wird nach Alexander sogar durch eine bei allen Menschen anzutreffende axiomatische Grundannahme (prólêpsis), wenn nicht bewiesen, so doch im Sinne einer argumentatio ad hominem hinreichend (hikanôs) nahe gelegt (2, 165,14f).14 Alexander sieht, auch hierin methodisch Aristoteles folgend, seine Aufgabe darin, das richtige, in solchen Vorbegriffen, so genannten éndoxa, freilich noch unreflektiert vorhandene Verständnis – und das heißt für ihn: das aristotelische Verständnis15 – von ›Schicksal‹ freizulegen.16 Denn Alexander zufolge war der Alexander of Aphrodisias On Fate, a. a.O. [Anm. 3] 17; R. W. Sharples: Schriften und Problemkomplexe, a. a.O. [Anm. 2] 523. 13  Der Abschnitt Kap. 16–39 enthält, da die Determinismus-Frage zwar primär der Ethik angehört, ihre Voraussetzungen aber in der Physik hat, in den Kap. 22–25 auch eine Auseinandersetzung mit einem kosmologischen Beweis der Stoa zur Begründung ihrer deterministischen Ursachenlehre. 14 Diese Grundannahme wird von Alexander von Aphrodisias: Fat., a. a.O. [Anm. 2] 2, 165,25 als universal, d. h. bei allen Menschen vorhanden bezeichnet: koinê prólêpsis. Wie der Begriff der heimarménê auch ist der Begriff der prólêpsis ein Beispiel für die Übernahme stoischer Begrifflichkeit in den sachlichen Kontext anderer Schulen, selbst dort, wo eigentlich eigene Termini vorhanden waren, im vorliegenden Fall énnoia, was von Alexander freilich auch verwendet wird. Diese Übernahmen bedeuten keine sachliche Angleichung an die Stoa, sondern belegen nur die Prägung der zeitgenössischen philosophischen Terminologie durch die Stoa. 15  R. W. Sharples: Alexander of Aphrodisias On Fate, a. a.O. [Anm. 3] 18; R. W. Sharples: Schriften und Problemkomplexe, a. a.O. [Anm. 2] 514: »Repeated appeals are made to what is clear and generally accepted, though what that is may turn out to be standard Aristotelian school-doctrine.« 16  Bereits E. Zeller: Die Philosophie der Griechen, a. a.O. [Anm. 1] 822 weist darauf hin, dass Alexander »wiederholt und nachdrücklich den Grundsatz geltend , daß die allgemeine Meinung der Menschen und die angeborenen Vorstellungen, welche sich namentlich in der Sprache ausdrücken, ein hinreichender und unumstößlicher Beweis der Wahrheit seien.« Dass es bereits auf Aristoteles zurückgeht, zunächst noch unreflektierte Begriffe des allgemeinen Sprachgebrauchs, so genannte éndoxa, als Ausgangspunkte für eine philosophisch durch Distinktion zu leistende Läuterung eben dieser Begriffe zu nutzen, die dann als Prinzipien wissenschaftlichen Denkens dienen können, vgl. Christian Pietsch: Prinzipienfindung bei Aristoteles. Methoden und erkenntnistheoretische Grundlagen (Beiträge zur Altertumskunde 22) (Stutt­ gart 1992) 160–193.

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durch ›Schicksal‹ bezeichnete Sachverhalt von Aristoteles zwar nicht begrifflich, aber in der Sache längst berücksichtigt. Alexander erarbeitet die Definition in aristotelischer Methode durch schrittweise Differenzierung eines unbestimmt allgemeinen Ausgangsbegriffs bis zur differentia specifica,17 wie das folgende Schema zeigt: Ursache/ aitía 1. Dihairesis

Zielursache

Formursache

Materialursache

Wirkursache 2. Dihairesis

nicht zielbestimmt

zielbestimmt 3. Dihairesis

durch Zufall

durch Verstand

durch Natur 4. Dihairesis

›Natur‹ als generelles Bewegungsprinzip

Natur als ethisches Prinzip = Charakter

Als Ausgangspunkt dient der Begriff der Ursache (aitía), der im Sinne der aris­ totelischen Vier-Ursachen-Lehre in Wirkursache (1), Materialursache (2), Form­ ursache (3) und Zielursache (4) unterschieden wird (3, 166,15–167,16).18 Diese Differenzierung erhebt, wie die nachfolgenden auch, den Anspruch einer vollständigen Ausschöpfung des differenzierten Begriffes. Innerhalb dieser Differenzierung wird das Schicksal der Wirkursächlichkeit (1) zugeordnet. Die nächste, zweite Spezifizierung muss nun innerhalb der Wirkursächlichkeit vorgenommen werden. Alexander unterscheidet daher, ebenfalls im Anschluss an Aristoteles, zielbestimmte (1) und ziellose (2) Wirkursächlichkeit (4, 167,19– 26).19 Das Schicksal wird den zielbestimmten (1) Wirkursachen zugeordnet (5, 168,26–169,3). Innerhalb der zielbestimmten Wirkursächlichkeit wiederum kommt es zu einer dritten, diesmal dreifachen Unterscheidung (4, 168,1–24). Das Ziel, auf das ein Ablauf zusteuert, kann durch die Natur vorgegeben sein (1), wie bei der Ent17 

Zur dihairetischen Definitionsmethode des Aristoteles vgl. ebd. 140–193. Zur aristotelischen Vier-Ursachen-Lehre vgl. Metaphysik I 3, 983 a26–32; Phys. II 3, 194 b23–195 a3. 19 Vgl. Aristot., Phys. II 5, 196 b17f. 18 

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stehung von Pflanzen oder Lebewesen. Das Ziel kann aber auch durch den Verstand erfasst werden (2), eine für den Menschen spezifische Leistung. Schließlich kann ein Ziel ungeplant anstelle des ursprünglich intendierten Zieles, also durch Zufall erreicht werden (3). Auch diese Differenzierung hat ihr Vorbild bei Aris­ toteles.20 Die auf dem Zufall beruhende Zielorientierung (3) fällt jedoch weg, da sie nur in einem uneigentlichen Sinn zielorientiert ist. Doch auch das durch den Verstand angestrebte Ziel (2) kann, da ein Spezifikum des Menschen, nicht den Bereich des Schicksals bezeichnen. Das Schicksal kann daher unter den drei Optionen nur in den naturgemäßen Abläufen seinen Ort haben (1). Und in der Tat ist dies Alexanders Auffassung, für die er die prägnante Formulierung findet, Schicksal und Natur (phýsis) seien dasselbe (6, 169,19). Natürliche Abläufe, z. B. Wachstum, folgen einer Tendenz auf ein je bestimmtes Ziel hin. Sie werden von einer immanenten Teleologie geleitet, die durch die Natur der Sache vorgegeben ist und etwa einen Samen zum Baum werden lässt. Genau darin besteht der den Dingen vorgegebene Ablauf, ihr Schicksal. Diese Abläufe können jedoch durch äußere Gründe unterbrochen werden, sind also nicht notwendig. Die Natur – und somit das Schicksal – gibt daher, so Alexander, im Einzelfall auch Raum für das Widernatürliche, für die regelwidrige Abweichung. Natur – und somit das Schicksal – integriert Kontingenz. Schließlich bleibt noch eine letzte, vierte Differenzierung zu bewältigen. Denn der vom Schicksal abgedeckte Bereich reicht weit über den Bereich menschlichen Handelns hinaus. Alle natürlichen Vorgänge sind bei Gleichsetzung von phýsis und heimarménê zugleich auch schicksalhaft. In der vorliegenden Schrift geht es aber nur um die ethische Frage, ob das Handeln des Menschen auf Schicksal oder auf eigenen Entscheidungen beruht. Alexander schränkt daher den Naturbegriff auf den handlungsrelevanten Bereich ein (6, 170,11–171,17). Da Entscheiden und Handeln zur Natur des Menschen gehören, muss es in ihm ein Prinzip geben, das für Entscheiden und Handeln ursächlich ist. Dieses Prinzip ist der individuelle Charakter eines Menschen, dem gemäß er entscheidet und handelt. Er bzw. die Gewöhnung, auf der er beruht, stehen, wie schon Aris­ toteles deutlich macht, in Analogie zur biologischen phýsis des Menschen und bilden im Bereich des individuellen Handelns geradezu eine zweite, individuelle ethische Natur.21 In diesem Sinne ist die vierte und letzte Differenzierung gemeint. Es ist evident, dass bei der Gleichsetzung von Natur und Schicksal im Charakter als individueller ethischer Natur das auf den Handlungen beruhende Schicksal des individuellen Menschen liegt. Wie aber für Natur und Schicksal generell gilt, dass sie Kontingenz einschließen, so gilt dies auch für den Charakter als ethische Natur bzw. als ethisches Schicksal: Kontingenz macht Abweichungen möglich. Der Waghalsige, der Zügellose, der Ausdauernde, der Kleinliche, der 20 Aristot., Nikomachische 21 Aristot., Nikomachische

Ethik III 3, 1112 a31–33. Ethik VII 10, 1152 a29–33.

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Gierige – sie alle werden tendenziell ein Leben führen, das ihrem Habitus entspricht. Prinzipiell aber kann jeder den Tendenzen seines Charakters auch zuwider handeln. Als Beispiel nennt Alexander Sokrates. Dieser habe den Vorwurf charakterlicher Mangelhaftigkeit mit der Bemerkung akzeptiert, von seiner Veranlagung her sei er tatsächlich so, doch habe er durch philosophische Übung seine eigene Natur überwunden. Doch trotz dieser prinzipiellen Möglichkeit einer spontanen Freiheit gegenüber dem eigenen Charakter bleibt dies letztlich auch für Alexander eine Ausnahme, wenn er sie gegenüber der deterministischen Stoa auch stark hervorhebt. In der Regel folgt das Individuum seinem Charakter, d. h. seinem Schicksal. Fasst man das Bisherige zusammen, so ergeben die einzelnen Differenzierungsschritte als Definition des handlungsrelevanten menschlichen Schicksals, dass es sich um eine auf Handlungsziele hin orientierte, in der charakterlichen Natur der individuellen Seele gründende Wirkursache handelt, die Entscheiden und Handeln tendenziell, aber nicht notwendig bestimmt. Mit dieser Definition leistete Alexander den Spagat zwischen der Integration des zeitgenössisch etablierten Schicksalsbegriffs in den aristotelischen Kontext einerseits und der Vermeidung eines im Rahmen der aristotelischen Lehre nicht sinnvollen deterministischen Verständnisses andererseits. Alexander bewältigt dies durch Umdeutung. Er identifiziert den unaristotelischen Begriff der heimarménê mit dem zentralen aristotelischen Begriff der phýsis. Dies bedurfte keiner eigenen Rechtfertigung, hatte doch die Stoa selbst die Identifikation dieser beiden – in diesem Fall natürlich stoisch verstandenen – Begriffe bereits vorgenommen.22 Phýsis kann sowohl die allgemeine Natur einer Spezies oder eines Genus bezeichnen; phýsis kann aber – und auf diese Bedeutungsvariante kommt es hier an – auch das individuelle Lebens- und Bewegungsprinzip bezeichnen,23 und dies wiederum in einem physischen oder in einem ethischen Sinn; phýsis ist immer dasjenige Prinzip, das die auf ein charakteristisches Telos abzielende Aktivität vermittelt. Dieser grundlegende Begriff der phýsis wird nun, sofern er den individuellen Charakter als die für das Handeln des Einzelnen verantwortliche Instanz bezeichnet, mit dem individuellen menschlichen Schicksal identifiziert.24 Auf diese Weise wird der Schicksalsbegriff aus der stoischen Verkettung äußerer, vom Menschen unabhängiger notwendiger Geschehensursachen herausgelöst und in die Persönlichkeitsstruktur des Handelnden verlagert.

22  Stoicorum

Veterum Fragmenta, a. a.O. [Anm. 6] I 176, II 937, 1024; vgl. Andreas Zierl: Alexander von Aphrodisias. Über das Schicksal. Übersetzt und kommentiert von A. Zierl (Collegia. Philosophische Texte) (Berlin 1995) 159. 23 Aristot., Phys. II 1, 192 b20–23. 24  Vgl. die deutlichen Parallelen in Alexander von Aphrodisias: Alexandri Aphrodisiensis praeter commentaria scripta minora, pars I: de anima liber cum mantissa, hg. von I. Bruns (Berlin 1887) 185,11–17. 24–26.

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Denn während Alexander noch deutlicher als Aristoteles die Verantwortung des Einzelnen für die Beschaffenheit seines eigenen Charakters heraus­streicht, ist der Mensch zumindest nach dem Erwerb seines Charakters keineswegs mehr frei im Sinne einer Wahl zwischen völlig gleichberechtigten Handlungsoptionen.25 So handelt das Individuum zwar durchaus als es selbst, wenn es, wie es der Regel entspricht, seinem eigenen Charakter folgt, doch handelt es in einer durch Charaktertendenzen prädisponierten Weise. Der individuelle Charakter (êthos) ist, wie Alexander unter Rekurs auf ein Heraklit-Zitat hervorhebt, »für die Menschen ein Gott«,26 gibt ihnen, so will dies besagen, Handlungsanweisungen, die in der Regel bindende Wirkung haben. Die Abweichung wird die Ausnahme und immer nur als Ergebnis gezielter, schwieriger und daher seltener Überwindung der eigenen Charaktertendenzen möglich sein. Da der Charakter also durchaus, wenn auch nicht im stoischen Sinn, eine entscheidungs- und handlungsdeterminierende Wirkung hat, sieht Alexander im Rahmen seiner Konfrontation mit dem Determinismus nur dann in prägnanter Bedeutung freies Handeln gegeben, wenn ein Individuum – wie Sokrates – nur an rationalen Kriterien orientiert im Gegensatz zur eigenen Charakterkonstitution handelt. Es ist dann, so könnte man sagen, sogar frei von sich selbst und überwindet damit zugleich sein Schicksal. Dass dies möglich ist, liegt an der im aristotelischen phýsis-Begriff enthaltenen Kontingenz. Sie lässt die Vorgaben des Charakters als menschlichen Handlungsprinzips nur als Tendenz, aber nicht als Notwendigkeit wirksam sein. Wer also das Schicksal – dies ist Alexanders Beweisziel – als eine Komponente des menschlichen Lebens akzeptiert, muss damit keineswegs das stoische Verständnis verbinden. Dass diese Auffassung von der Schicksalhaftigkeit des Charakters, die menschliches Entscheiden und Handeln nicht als Ergebnis unkonditionierter Spontaneität, sondern als – im Regelfall – vorgegeben erscheinen lässt, durchaus genuin aristotelisch ist, bestätigt ein Blick in die Nikomachische Ethik. Für Aris­ toteles, der nicht gegen eine deterministische Position argumentieren musste, beruht dort zunächst – in diesem Punkt anders als bei Alexander – sogar bereits die Bildung des Charakters nur bedingt auf eigener Verantwortung; denn diese vollzieht sich zumindest oft unter Bedingungen, auf die der Einzelne kaum Einfluss hat. Zwar weist er dem Individuum in Nikomachische Ethik III 5 eine Verantwortlichkeit für die Gestaltung seines Charakters – und somit für die von ihm gefällten Handlungsentscheidungen – zu. Doch diese Aussage erweist sich kontextbedingt als einseitig und muss mit anderen Äußerungen zusammen gesehen 25 Zu

sehr legt dagegen m. E. Donini: Aristotelismo e indeterminismo, a. a.O. [Anm. 11] 84–86 das Gewicht auf die durch keinerlei innere Tendenzen vorgegebene Ungebundenheit der menschlichen Entscheidung, die Alexander gegen den Determinismus über Aristoteles hinaus habe betonen wollen. 26  Ebenso auch in Alexander von Aphrodisias: An, a. a.O. [Anm. 24] 185,23 f. Das leicht abweichende Original s. in Hermann Diels und Walther Kranz: Die Fragmente der Vorsokratiker, griechisch und deutsch von H. Diels, hg. von W. Kranz. Bd. 1 (Berlin 1951) 22 B 119.

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werden, die im Gegensatz dazu gerade die nicht selbst zu verantwortende Bedingtheit der Charaktergestaltung hervorheben.27 Denn die Formung des Charakters vollzieht sich, wie Aristoteles in Nikomachische Ethik X 9 erklärt, entweder von Natur aus oder durch Gewöhnung oder durch Belehrung (1179 b20f). So kann bei den meisten Menschen angesichts ihrer von Geburt an vorhandenen, vordergründigen Lustorientierung eine positive Charakterformung nicht aus eigener Kraft, sondern nur von außen mit Hilfe einer guten Gesetzgebung, die offenbar für geeignete Gewöhnung und Erziehung sorgt, gelingen. Doch selbst dann wird das Ergebnis, so Aristoteles, meist mäßig ausfallen. Hier ist es also gerade die von Natur aus, also a priori vorhandene charakterliche Prägung, die in den meisten Fällen einen guten Charakter verhindern wird. Umgekehrt gelangen zu charakterlicher Vollendung allenfalls die wenigen, die vorgängig über eine geeignete Grundhaltung, d. h. über eine Aufgeschlossenheit gegenüber dem sittlich Schönen und eine Abneigung gegen das Hässliche, verfügen, die also ebenfalls ihren Charakter nicht durch eigene Formung erhalten haben. Doch ohne gute Gesetze stellt sich selbst bei diesen meist kein Erfolg ein. Die Formung eines positiven Charakters ist also nach dieser Stelle in hohem Grade abhängig von der mitgegebenen Veranlagung, dann aber auch von den kontingenten historischen Umständen der – oft nicht optimalen – gesellschaftlichen Verhältnisse oder Erziehung. Ist der Charakter schließlich erst einmal geformt – und dies ist die Systemstelle, an der Alexander seinen eigenen Schicksalsbegriff unterbringen will – d. h. ist der Charakter erst einmal zur zweiten Natur geworden, bildet er zumindest im Regelfall die Voraussetzung der individuellen Handlungsentscheidungen im Sinne einer Konditionierung. Dass dieser einmal geformte Charakter später noch grundlegend korrigierbar wäre, hält Aristoteles zwar für möglich, aber schwierig und mithin unwahrscheinlich.28 Damit ist der Schicksalsbegriff Alexanders faktisch bereits bei Aristoteles klar vorgebildet. Alexander ruht also, so zeigt sich, zumindest was die Vorgaben des ausgebildeten Charakters betrifft, ganz auf aristotelischen Vorgaben auf, sieht aber – und dies ist nun der spezifischen Konfrontationssituation geschuldet – über Aris­toteles hinaus individuelle Freiheitsmöglichkeiten im prägnanten Sinne in der Wendung gegen den eigenen, weitgehend nicht selbst bestimmten Charakter gegeben. Zumindest im Falle charakterlicher Fehlhaltungen – und Alexan27  Vgl. Christian Pietsch: Gibt es zeitbedingte Formen von Glück? Wandel der eudaimonia durch Wandel ihrer Bedingungen bei Aristoteles. In: Glück – Tugend – Zeit. Aristoteles über die Zeitstruktur des guten Lebens, hg. von Walter Mesch (Stuttgart/Weimar 2013) 67–75. Ähnlich auch R. W. Sharples: Alexander of Aphrodisias On Fate, a. a.O. [Anm. 3] 6f mit A. 26. 28 In Nikomachische Ethik II 3, 1104 b34–1105 a3 heißt es, die Möglichkeit, die bei den meisten Menschen von Kindesbeinen an zum Entscheidungskriterium, d. h. zum Charakterzug gewordene Lusterfahrung (hêdonê) zugunsten anderer Kriterien wie des moralisch Richtigen (kalón) und des Nützlichen (symphéron) »auszuradieren« (apotrípsasthai) sei schwierig (chalepón). Ähnlich auch Aristot., Nikomachische Ethik VII 10, 1152 a29–33. Schon der Umstand, dass Aristoteles die vernunftgemäße Korrektur des Charakters nie in extenso thematisiert und allenfalls in Form einer Nebenbemerkung erwähnt, ist vielsagend.

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der nennt fast nur solche Beispiele wie Tollkühnheit, Zügellosigkeit, Geiz – sind vernunftgemäße Korrekturen möglich. Freilich wird dieser für die weitere Entwicklung der Freiheitsdebatte in der Antike so wichtige Aspekt der alleinigen Freiheit vernunftgemäßen Handelns nicht weiter verfolgt, denn Alexander ging es nur darum, die Möglichkeit nicht schicksals- bzw. charaktergebundenen Handelns zu beweisen. Das argumentative Verfahren der Kapitel 2–6 lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: – Die Realität der heimarménê wird mit dem entsprechenden Vorbegriff aller Menschen, also durch Verweis auf den consensus omnium begründet. Dieser Rekurs auf – noch zu präzisierende – allgemein etablierte Meinungen entspricht der aristotelischen Dialektik. – Der eigentlich stoische Begriff der heimarménê wird im Rahmen eines dihairetischen Verfahrens durch Identifikation mit dem zentralen Begriff der phýsis aristotelisiert. – Dies wird mit Hilfe aristotelischer Lehrstücke geleistet, die allerdings ursprünglich anderen Kontexten, vor allem der Physik und Metaphysik, entnommen sind. Die so geführte Diskussion findet sich in dieser Form bei Aris­ toteles nicht. – Im Rahmen der Konfrontation mit der deterministischen Stoa wird der Akzent anders als bei Aristoteles auf die Möglichkeiten einer Einwirkung auf äußere Abläufe statt auf die psychische Genese einer Entscheidung gesetzt. – Über Aristoteles hinaus wird persönliche Freiheit besonders in der Möglichkeit der Logos-bestimmten Wendung gegen den eigenen Charakter gesehen. Im zweiten der beiden großen Abschnitte verändert sich Alexanders Vorgehen, bedingt durch den Wechsel weg von der Darstellung eigener Lehre zur Polemik gegen fremde Lehrinhalte. So wird ab Kapitel 7 gegen die Inanspruchnahme genuin aristotelischer Begrifflichkeit durch die Stoa polemisiert, mit der der in Wahrheit vertretene Determinismus verdeckt werden soll. Die Stoiker leisteten diese Integration eigentlich systemfremder Begriffe durch stoische Umprägung, analog zu Alexanders aristotelischer Umprägung der ursprünglich stoischen heimarménê. Beispielshalber sei dies am Begriff des Zufalls (7–8) vorgeführt. Die Existenz des Zufalls bildet in Alexanders Beweisgang einen der Prüfsteine dafür, dass der Schicksalsbegriff tatsächlich Kontingenz einschließt und damit freies Handeln möglich macht. Denn wenn sich schon die Existenz von Zufall plausibel machen lässt, dann erst recht ein Kontingenz erlaubendes Schicksal. Es gehört nach Alexander zu den von allen Menschen geteilten Vorbegriffen, dass es unvorhersehbare, der ursprünglichen Intention zuwiderlaufende, daher seltene und unkalkulierbare Ereignisse gibt, die als Zufall (týchê bzw. autómaton) bezeichnet werden (8, 172,17–19). Damit schließt sich Alexander an Aristoteles’ Zufallsabhandlung in Physik II 5–6 bzw. an die Bestimmung akzidenteller

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Ereignisse in Metaphysik V 30 an – also erneut an ursprünglich nicht-ethische Kontexte – bis hin zur Auswahl der Beispiele. So kann jemand beim Ausheben eines Pflanzloches ohne Absicht auf einen Schatz stoßen.29 Ein ursprünglich auf ein anderes Ziel ausgerichteter Ablauf führt also akzidentell zu einem Ergebnis, das er eigentlich nicht haben sollte. Grund dafür ist, dass zwei eigentlich vonein­ ander unabhängige kausale Ketten – das Graben eines Loches mit dem Ziel einer Pflanzung und das Vergraben eines Schatzes zum Zweck seines Schutzes – sich überkreuzen. So kann eine eigentlich auf ein anderes Ziel ausgerichtete Handlung, das Vergraben des Schatzes, akzidentell, d. h. ohne Absicht, zur Ursache für das unbeabsichtigte Ergebnis eines anderen Ablaufes, des Grabens eines Pflanzloches, werden. Somit hat die Auffindung des Schatzes durchaus eine Ursache – Zufall ist weder für Aristoteles noch für Alexander unverursacht – doch weder eine notwendige noch eine als Ursache intendierte Ursache. Planbarkeit oder vorgängige Kenntnis einer solchen akzidentellen Verursachung sind nicht möglich. Entsprechend definierte bereits Aristoteles, dem Alexander folgt, Zufall als »Verursachung, die mittels Akzidens verfährt, im Bereich dessen, was geschehen kann, und zwar weder schlechthin noch als Regelfall« (Phys. II 5, 197 a32–35).30 Ihm folgt Alexander, wenn er formuliert: »Sooft nämlich ein um eines anderen willen Werdendes nicht zu dem führt, um dessentwillen es wurde, sondern zu etwas anderem, was anfangs gar nicht erwartet wurde, heißt es, daß dies aus Zufall geworden sei, da es an sich ohne Ursache geworden ist, akzidentell aber das zur Ursache hat, was für das Werden eines anderen wurde« (8, 172,19–23).31 Da die Stoiker eine eindeutige und notwendige Zuordnung von Ursache und Wirkung annahmen sowie die Fülle kausaler Abläufe in der Welt als durch ein vernünftiges Prinzip miteinander verknüpft ansahen, mithin also voneinander unabhängige Kausalketten ausschlossen, hatte ein solches Konzept in ihrem System keinen Platz.32 Doch um nicht offen gegen die Evidenz des Vorbegriffs argumentieren zu müssen (pará tá enargê; 8, 172,4), akzeptierten sie Alexander zufolge die Begrifflichkeit äußerlich, höhlten sie aber durch Umprägung aus. »Sie definieren«, so Alexander, »den Zufall als eine menschlichem Denken unbekannte Ursache« (8, 174,1 f.).33 Von Zufall wäre demnach immer nur dann die Rede, wenn ein an sich notwendiger Ablauf aus der subjektiven Perspektive eines unwissenden Beobachters angesprochen wird. Zufall schiede somit als wirk-

29 Aristot., Metaphysik V

30, 1025 a15 f. D. Frede: The Dramatization of Determinism, a. a.O. [Anm. 10] 280–282. 31 Trefflich die Beschreibung der aristotelisch-alexandristischen Zufallslehre bei Andree Hahmann: Mit Aristoteles gegen die Stoiker? Zufall und akzidentelle Verursachung in der Schrift »De fato« des Alexander von Aphrodisias. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 61 (2007) 361–366; 370–372, von wo auch die Übersetzung übernommen ist. 32  Ebd. 367–370. 33  Dass Alexander den Stoikern hier keine verfälschte Definition unterschiebt, sondern auf eine gängige Formulierung zurückgriff, zeigen gleich oder ähnlich lautende Belege bei anderen Autoren in Stoicorum Veterum Fragmenta, a. a.O. [Anm. 6] II 965 f.; 971. 30 

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liche physikalische Ursache aus.34 Dies widerspricht aber nicht nur der sachlich anderen aristotelischen Auffassung, sondern nach Alexander auch dem allgemein üblichen Gebrauch dieses Begriffs, der – sozusagen in einer noch unreflektierten Form – das oben erläuterte aristotelische Verständnis impliziert und damit bestätigt. Denn da unter Zufall gemeinhin das verstanden werde, wofür es keine eigentliche, primäre Ursache gibt, spreche niemand von Zufall, wenn er zugleich von gezielter Verursachung überzeugt sei, selbst wenn ihm diese unbekannt sei (8, 174,25–28). Umgekehrt suche niemand, wenn er von der Zufälligkeit eines Ablaufs überzeugt sei, nach einer eigentlichen Ursache. Denn wenngleich Zufälle durchaus Ursachen haben – die Auffindung des Schatzes etwa ist durch die Absicht verursacht, an einer bestimmten Stelle ein Pflanzloch auszuheben – so sind dies, wie Alexander in Kap. 24 erklärt, keine für das Zufallsereignis primären, sondern nur sekundäre, eigentlich auf ein anderes Ziel ausgerichtete Ursachen.35 Die Stoiker geraten Alexander zufolge daher in Konflikt mit der durch allgemeinen Vorbegriff approbierten Akzidenzialität der als Zufall bezeichneten Abläufe. Also kann das stoische Zufallsverständnis nicht richtig sein. Methodisch verfährt Alexander hier über den Rekurs auf allgemein anerkannte Vorbegriffe (éndoxa) mittels der auch bereits von Aristoteles in der Auseinandersetzung mit gegnerischen Positionen häufig verwendeten reductio ad absurdum. Die Charakteristika der Argumentation lassen sich wie folgt zusammenfassen: – Die Realität von týchê wird nahegelegt durch den Konsens eines allgemein vorhandenen Vorbegriffs. – Hinter dem Vorbegriff steht – zumindest nach aristotelischer Ansicht – sachlich eine Auffassung vom Zufall als akzidenteller Verursachung durch Überkreuzung zweier an sich unabhängiger Ereignisabläufe, die dem aristotelischen Verständnis entspricht. – Der týchê-Begriff ist bei Aristoteles primär in der Physik verankert, hat aber ethische Implikationen, auf die Alexander rekurriert.

34  In

diesem Sinne beschreibt Alexander selbst an anderer Stelle (Alexander von Aphrodisias: An., a. a.O. [Anm. 24] 179,6–10) das stoische Verständnis von týchê, gemäß dem sie keine eigene Wirklichkeit (phýsis) besitze, sondern nur in der unzureichenden Perspektive des menschlichen Betrachters bestehe. Vgl. R. W. Sharples: Alexander of Aphrodisias On Fate, a. a.O. [Anm. 3] 131 f.; A. Hahmann: Mit Aristoteles gegen die Stoiker?, a. a.O. [Anm. 31] 369. 35  Alexander von Aphrodisias: Fat., a. a.O. [Anm. 2] 24, 194,15–25; R.W. Sharples: Schriften und Problemkomplexe, a. a.O. [Anm. 2] 539 f. Der Begriff der ›primären Ursache‹ (oikeíon oder prohêgoúmenon aítion) bildet an dieser Stelle bei Alexander einen Gegenbegriff zu akzidenteller Verursachung (katá symbebêkós) und muss daher eine Ursache bezeichnen, die per se und als solche auf ein bestimmtes Ziel hinwirkt. Zu den in der Forschung diskutierten Verständnismöglichkeiten von prohêgoúmenon s. im Detail R. W. Sharples: Alexander of Aphrodisias On Fate, a. a.O. [Anm. 3] 132 f.; R. W. Sharples: Schriften und Problemkomplexe, a. a.O. [Anm. 2] 538 A. 188.

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– Die Stoa versucht, den allgemein anerkannten Begriff der týchê durch Stoisierung des Begriffs, d. h. durch Kompatibilität mit dem Determinismus zu integrieren, indem Zufall als mangelnde Ursachenkenntnis des menschlichen Beobachters gedeutet wird. – Die systembedingte Umdeutung von týchê widerspricht aber den Implikationen des allgemeinen Vorbegriffs, wie Alexander sie sieht. – Das stoische Verständnis ist somit Alexander zufolge als widersprüchlich erwiesen. Die dabei angewendete Widerlegung mittels Rekurs auf Vorbegriffe (éndoxa) und reductio ad absurdum ist für die aristotelische Dialektik charakteristisch. In beiden Fällen – bei der Schicksalsdefinition des ersten Abschnitts von perí heimarménês und bei der für den zweiten Abschnitt exemplarisch ausgewählten týchê36 – ist deutlich, dass Alexander sowohl methodisch als auch inhaltlich weitgehend auf Aristoteles aufruht. Dabei konnte es zu Akzentverschiebungen, zu Festlegungen von bei Aristoteles noch Offengelassenem sowie zur Anwendung aristotelischer Lehrstücke in neuen Kontexten kommen, was der veränderten Konfrontationssituation geschuldet war.37 In keinem Fall jedoch kommt es zu einer signifikanten Veränderung gegenüber Aristoteles. Die aristotelischen Philosopheme besitzen das Potential, auch in veränderten Kontexten und Fragestellungen im Sinne des Aristoteles anwendbar zu sein. In eben dieser Adaption identischer Inhalte und Methoden an historisch wechselnde philosophische Problemlagen sah Alexander seine Aufgabe, nicht in der Konzeption einer eigenen Philosophie. Von einem nachhaltig veränderten Aristotelismus kann zumindest in Alexanders Fall nicht gesprochen werden.

36 Was

sich für týchê zeigte, wiederholt sich im weiteren Verlauf des zweiten Abschnittes immer wieder: eine durch Vorbegriff gesicherte – und somit von Alexander als natürlich suggerierte – zentrale Sichtweise der aristotelischen Ethik wird auch von der Stoa in Anspruch genommen. Doch immer wieder konterkariert, wie Alexander sich zu zeigen bemüht, der stoische Determinismus diese beanspruchte Integration in den stoischen Kontext. Der Sinn etwa von ›Beratung‹ (boúleusis, Kap. 11) oder ›Entscheidung‹ (prohaíresis, Kap. 12) ist in deterministischem Kontext ebenso fraglich wie der Sinn von Bemühungen um moralische Besserung und um den Erwerb von Tugend (Kap. 16 und 27) oder wie der Sinn der Nutzung von Mantik (Kap. 17) und Orakelwesen (Kap. 31), der Bestrafung von Übeltätern (Kap. 19), von Lob und Tadel (Kap. 26) oder öffentlich etablierter moralischer Normen (Kap. 36), um nur einige Beispiele zu nennen. Dies aber führt in der Konsequenz immer wieder zu Folgen, die auch die Stoiker selbst nicht akzeptieren. 37  So bereits P. Donini: Aristotelismo e indeterminismo, a. a.O. [Anm. 11] 86 f.

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IV.  Die Rezeption von Alexanders perí heimarménês in der frühen Neuzeit Die Frage nach Freiheit und Determination des Menschen spielte in den Diskussionen der frühen Neuzeit keine geringe Rolle. Es lassen sich zwei Phasen unterscheiden. In der ersten Phase wird dieses Thema im Rahmen eines primär philosophischen und christlich-theologischen Interesses verhandelt.38 Es geht darum, ob und inwiefern der Mensch gegenüber der umfassenden Vorsehung Gottes als eigenständige Handlungsinstanz gelten kann. Die zweite Phase wird im 17. Jahrhundert durch das Aufkommen der mechanischen, experimentellen Physik eingeleitet. Es entsteht die Auffassung, alles Geschehen in der Welt werde invariabel und notwendig durch Naturgesetze bestimmt. Die philosophischen Positionen dieser Zeit sehen menschliche Handlungsfreiheit nach außen aufgehoben und Freiheit allenfalls noch nach innen, als Entscheidungsfreiheit, gegeben. Sehr extrem vertrat Derartiges z. B. Spinoza, der Freiheit dann für verwirklicht hielt, wenn etwas der durch die eigene Natur vorgegebenen Notwendigkeit folgen kann, ohne durch Fremdeinwirkung daran gehindert zu werden.39 Eine Wahl zwischen Optionen liegt damit selbst für die Entscheidungsfreiheit nicht vor. Alexander von Aphrodisias war zu dieser Zeit kein Unbekannter. Sein Name verband sich vor allem mit der umstrittenen, von der Kirche bekämpften averroistischen Position, die menschliche Seele als »Form eines natürlichen, organischen Körpers« könne nicht unsterblich sein.40 Doch auch perí heimarménês fand im Rahmen der Freiheit-Determinismus-Debatte große Beachtung. Ein Indiz dafür ist, dass außer den beiden Druckausgaben des griechischen Textes (Venedig 1534 und 1536) noch eine sehr viel größere Anzahl lateinischer Übersetzungen erschien, was offenbar einem verbreiteten Rezeptionsbedürfnis Rechnung trug.41 Die erste gedruckte lateinische Übersetzung erschien 1516 und erlebte im Laufe des 16. Jahrhunderts sechs Auflagen. Bis zum Jahr 1658 38 

Eine Übersicht über diese Phase in Antonio Poppi: Problems of Knowledge and Action. Fate, Fortune, Providence, and Human Freedom. In: The Cambridge History of Renaissance Philosophy, ed. by Charles B. Schmitt (Cambridge 1988) 641–667. 39 Spinoza, Ethica. In: Benedictus de Spinoza: Opera – Werke. Lateinisch und deutsch, zweiter Band: Tractatus de intellectus emendatione. Ethica, hg. von Konrad Blumenstock (Darmstadt 1967) I, Def. 7: Ea res libera dicitur, quae ex sola suae naturae necessitate existit, et a se sola ad agendum determinatur: Necessaria autem, vel potius coacta, quae ab alio determinatur ad existendum, et operandum certa, ac determinata ratione. 40  Alexander von Aphrodisias: An., a. a.O. [Anm. 24] 17,9–15; vgl. R. W. Sharples: Alexander of Aphrodisias, a. a.O. [Anm. 2] 1202–1204. Zur Geschichte dieser Lehre Alexanders bis zum 16. Jh. s. Eckhard Kessler: Alexander of Aphrodisias and His Doctrine of the Soul. 1400 Years of Lasting Significance. In: Early Science and Medicine 16 (2011) 1–93. 41  Die folgenden bibliographischen Angaben entstammen Ferdinand Edward Cranz: Alexander Aphrodisiensis. In: Catalogus translationum et commentariorum: Medieval and Renaissance Latin Translations and Commentaries. Vol. I., ed. by Paul Oskar Kristeller (Washington D.C. 1960) 80, 107–111.

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erschienen noch drei weitere lateinische Übersetzungen, darunter 1648 die des niederländischen Philosophen Hugo Grotius, die ihrerseits sieben Auflagen erlebte. Perí heimarménês konnte sich an Popularität mit Alexanders bekanntester Schrift ›Über die Seele‹ durchaus messen. Sucht man nach konkreten Spuren der Nachwirkung von perí heimarménês in der Renaissance, also in der ersten Rezeptionsphase, zeigt sich, dass das Interesse offenbar in der Zeit der frühen Druckausgaben am größten war. Perí heimarménês regte nicht nur zur Lektüre, sondern auch zur – gerade im Kontext der damals aufbrechenden Konfrontation zwischen katholischer und protestantischer Auffassung vom freien bzw. unfreien menschlichen Willen42 – produktiven Auseinandersetzung an. Mit der bereits 1520 in fünf Büchern verfassten, allerdings erst 1567 in gedruckter Form publizierten Schrift De fato, de libero arbitrio et de praedestinatione des italienischen Renaissance-Aristotelikers Pietro Pomponazzi (1462–1525) kam es zu der vermutlich bedeutendsten Rezeption.43 Wie Pomponazzi selbst berichtet (Prohem. 6), hatte er erst kurz vor Abfassung seiner Schrift (nuperrime) Alexanders Werk gelesen und wollte ihm, zumal wegen der aristotelischen Argumentation, das gesamte erste Buch widmen. De fato ist als Dokument frühneuzeitlicher Rezeption eines antiken Aristotelikers vor allem wegen Pomponazzis besonderen, unerwarteten Umgangs mit seinem Prätext überaus interessant. Denn die Erwartung, Pomponazzi werde als Aristoteliker im Sinne des Prätextes argumentieren, geht fehl. Im ersten Buch seines umfassend mit dem Problemkreis von Determination und freier Selbstbestimmung menschlichen Handelns befassten Werkes44 führt Pomponazzi die Auseinandersetzung vielmehr in Form einer scharfen Polemik gegen das von Alexander vertretene Schicksals- bzw. Freiheitskonzept und vertritt stattdessen die von Alexander bekämpfte stoische Auffassung. Trotz wiederholter Bescheidenheitstopik (z. B. Prohem. 4) erhebt Pomponazzi einen enormen Anspruch. Er habe trotz der Lektüre »nahezu unendlich vieler Schriften« keine befriedigende Lösung gefunden (Prohem. 4, 2,9–11). Man kann also Pomponazzi zufolge aus der gesamten Tradition nichts lernen, auch nicht aus der aristotelischen. Der für viele frühneuzeitliche Autoren charakteristische Gestus des einsamen Denkers, 42 

Vgl. Rita Ramberti: Il problema del libero arbitrio nel pensiero di Pietro Pomponazzi. La dottrina etica del De fato: spunti di critica filosofica e teologica nel Cinquecento (Firenze 2007) 153–156, 175 ff. 43  Zitiert nach der Ausgabe Petri Pomponatii Mantuani libri quinque de fato, de libero arbitrio et de praedestinatione, edidit R. Lemay. (Lucani 1957). Die Vermeidung der gedruckten Publikation war aufgrund der mit der christlichen Orthodoxie nicht konformen Lehren von Pomponazzi bewusst unterlassen worden. Allerdings hatte Pomponazzi De fato bereits direkt nach seiner Vollendung in Manuskriptform einem ausgewählten Leserkreis zugänglich gemacht; s. R. Ramberti: Il problema del libero arbitrio, a. a.O. [Anm. 42] 150–173. Eine Zusammenfassung des Inhalts der gesamten Schrift in A. Poppi: Problems of Knowledge and Action, a. a.O. [Anm. 38] 653–660. 44  Zur Deutung des gesamten Werkes und zu seiner Einordnung in den zeitgenössischen geistesgeschichtlichen Kontext vgl. R. Ramberti: Il problema del libero arbitrio, a. a.O. [Anm. 42].

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der mit einer langen Tradition bricht und endlich die Lösung bietet, ist auch bei Pomponazzi durchaus vorhanden. Wie Pomponazzi im Detail verfährt, soll wenigstens an einem Beispiel deutlich werden:45 an der Debatte um den Begriff des Zufalls (I 6, 17,8–29,25, besonders Abschnitt III, 25,17–29,25), deren Pendant bei Alexander bereits vorgeführt wurde. Methodisch geht Pomponazzi dabei nach scholastischer Art vor, indem er jeweils zunächst Alexanders Argumente aufführt, dann das Thema als solches bespricht und schließlich aus diesem sachlichen Reservoir die Argumente Alexanders einzeln widerlegt. Das Wesentliche am Zufall war Alexander zufolge, wie erwähnt, dass in einen bestimmten, intendierten Ablauf, z. B. in das Ausheben eines Loches, akzidentell, also unbeabsichtigt, ein anderer, hiervon unabhängiger Ablauf, etwa das Vergraben eines Schatzes, hineinwirkt, was zur Auffindung eines Schatzes führt. Für diese akzidentelle Verbindung zwischen Grabung und Schatz gibt es per se keine Ursache, so dass ein solches Ergebnis weder notwendig noch auch nur wahrscheinlich, sondern selten und gegen die Regel eintreten wird und sich auch nicht planen oder vorab wissen lässt. Pomponazzis Beweisziel besteht demgegenüber darin, umgekehrt im Sinne der Stoa die Notwendigkeit der Verbindung von intendiertem Ablauf und (vermeintlich) akzidentellem Ziel nachzuweisen.46 Seine Begründung ist, dass die Auffindung des Schatzes gerade nicht zufällig ist, da sie im Ausheben des Loches einerseits und im Vergraben des Schatzes an genau dieser Stelle andererseits Ursachen hat, deren Kombination zur Auffindung des Schatzes führen musste (22,7–23). Vermeiden ließ sich diese Kombination nicht, da der Schatz nun einmal an eben der Stelle vergraben wurde, an der der Urheber des Pflanzloches später grub. Die vorgegebene kausale Ausgangslage machte die Auffindung des Schatzes zwingend. Zufällig hingegen ist nach Pomponazzi dieses Ereignis nur dann, wenn man jeweils nur eine der beiden Kausalreihen für sich betrachtet: Der Grabende, der von dem Schatz nichts wissen kann, hält die Auffindung des Schatzes für zufällig. Der Besitzer des Schatzes hingegen, der ihn durch Vergraben sichern wollte, weiß von dem späteren Ausgräber nichts. Auch für ihn ist die Auffindung des Schatzes Zufall. Wer aber, gleichsam von höherer Warte aus, beide Kausalreihen als causae coniunctae zusammen sieht, sieht auch die Notwendigkeit des Ergebnisses (si ambae illae causae alicui sunt notae, non est ibi casus; 28,20f). Pomponazzi behauptet also, was Alexander zurückzuweisen versucht hatte, dass nämlich Zufall lediglich in der unzureichenden Erkenntnis aller Ursachen durch den Beobachter besteht, während an sich das Ereignis sehr wohl notwendig ist. Damit steht Pomponazzi als Erneuerer des stoischen Determinismus da.

45 

Zur gesamten Auseinandersetzung Pomponazzis mit Alexander s. R. Ramberti: Il problema del libero arbitrio a. a.O. [Anm. 42] 77–109. 46  R. Ramberti: Il problema del libero arbitrio, a. a.O. [Anm. 42] 90 f.

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Der schwache Punkt in Pomponazzis Argumentation ist nicht schwer zu sehen: die Annahme einer notwendigen Verbindung beider Kausalketten. Denn dass beide tatsächlich einander kreuzen, hängt, so könnte man im Sinne Alexanders einwenden, von einer Fülle kontingenter Entscheidungen der beteiligten Personen ab. Der Grabende hätte an einer anderen Stelle graben, der frühere Besitzer hätte sich gegen das Vergraben des Schatzes entscheiden, jemand anders hätte den Schatz früher finden können usw. Hier agieren mehrere voneinander unabhängige Entscheidungsträger, die sich nicht von übergeordneter Warte aus aufeinander abstimmen. Treffen die zur Auffindung des Schatzes durch genau diesen Ausgräber erforderlichen Umstände zusammen, ist das Ergebnis im Verhältnis zu den Intentionen der verschiedenen Entscheidungsträger akzidentell. Pomponazzi ist diese Schwäche offensichtlich bewusst. Er führt daher eine übergeordnete Instanz ein, die Ursachenketten dieser Art zusammenbringt, weil sie deren gemeinsames – für den menschlichen Beobachter zufälliges – Ergebnis intendiert hat: quod tamen has duas causas coniunxit per se intendit talem effectum (26,29–31). Ein Beispiel erläutert dies (27,2–7):47 Ein König schickt zwei miteinander verfeindete Personen – gleichzeitig und ohne Wissen voneinander – auf dieselbe Reise. Aus dem Blickwinkel der beiden Feinde ist dies, als sie sich begegnen, Zufall, da sie jeweils nur ihre eigene Intention kennen. Aus dem Blickwinkel des Königs jedoch ist dies kein Zufall, da er beide Kausalketten von höherer Warte aus miteinander kombiniert hat. Hinter dem König verbirgt sich unschwer erkennbar der göttliche Logos der Stoa, der die Fülle aller kausalen Abläufe in der Welt aufeinander abstimmt. So – und nur so – kann das Vergraben eines Schatzes zur nicht nur ex post notwendigen Voraussetzung der Auffindung des Schatzes werden, sondern sie als Folge zwingend nach sich ziehen.48 Die Rezeption von Alexanders perí heimarménês in Pomponazzis De fato zeigt, wie wenig aussagekräftig Etikettierungen wie ›Aristoteliker‹ in der Renaissance offenbar sind. Ein Autor wie Pomponazzi verfuhr selektiv.49 Einen wesentlichen Einfluss übte dabei diejenige Tradition auf ihn aus, die im Mittelalter, obwohl durchaus bekannt, gerade nicht sonderlich geschätzt, die aber im Zuge der Renaissance, zumal in Italien, wieder neu entdeckt worden war, nämlich die lateinischsprachige römische Literatur vom 1. Jahrhundert v. Chr. bis zum 2. Jahrhundert n. Chr. Diese aber war durch die Philosophien des Hellenismus, vor allem durch die Stoa geprägt. Dass Pomponazzi sich zumindest in der Frei47 

R. Ramberti: Il problema del libero arbitrio, a. a.O. [Anm. 42] 91. D. Frede: The Dramatization of Determinism, a. a.O. [Anm. 10] 282. 49  Auf die innere Vielfalt des Renaissance-Aristotelismus, dessen Vertreter kaum geschlossene Richtungen kannten, sondern ihre Positionen je einzelfallbezogen wählten, verweist bereits Paul Oskar Kristeller: Renaissance und Humanismus II. Philosophie, Bildung und Kunst (München 1976) 125. Daher ist Pomponazzi, der vielen als Begründer des so genannten Alexandrismus, also eines durch Alexander von Aphrodisias geprägten Aristotelismus gilt, wie De fato zeigt, keineswegs ein vorbehaltloser Gefolgsmann Alexanders. Sein ›Alexandrismus‹ beschränkt sich vielmehr auf die Leugnung der Unsterblichkeit der Seele; vgl. P. O. Kristeller: Renaissance und Humanismus, a. a.O. [Anm. 49] 129 f. 48 

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heit-Determinismus-Debatte dieser Tradition verpflichtet sah, bestätigt sich an späterer Stelle in De fato auch noch einmal ganz unabhängig von der Auseinandersetzung mit Alexander sehr ausführlich in Buch II, Kapitel 7 (190,14–221,22). Dort erklärt Pomponazzi nach Ablehnung der übrigen ihm bekannten antiken Positionen die stoische Lösung zur richtigen. Dabei ist er hier noch expliziter, als die Stoiker selbst es waren, indem er den Determinismus nicht nur in der äußeren Physik, sondern auch im menschlichen Innenleben walten lässt. Einen eigenen Willen, d. h. die Fähigkeit, etwas zu wollen oder nicht zu wollen, habe der Mensch nur insofern, als dieser in ihm stattfinde (in subiecto), jedoch nicht, insofern er auch diesen Willen bewirke (non autem tanquam in efficiente; 207,17–19). Die Wirkursache des menschlichen Willens ist nach Pomponazzi, wie überhaupt von allem, Gott allein.50 Pomponazzis Vorgehen in De fato ist vielleicht nicht repräsentativ, was die Offenheit und Aggressivität der Wendung eines angeblichen Aristotelikers gegen eine aristotelische Position betrifft. Es zeigt aber die Einflüsse, die in dieser Zeit generell wirksam waren. Daher wird man selbst dort, wo weniger offen gegen Aristotelisches polemisiert oder ihm gar zugestimmt wird, immer mit einer nicht geringen Stoisierung rechnen müssen. Gegenüber der, wie zu sehen war, trotz aller Wandlungen der historischen Rahmenbedingungen methodisch und sachlich weitgehenden Konstanz aristotelischen Denkens in der Antike kommt es erst in der Renaissance aufgrund neuer Einflüsse zu Problemen mit der aristotelischen Tradition selbst unter denen, die sich prinzipiell in seiner Nachfolge sehen, wie Pomponazzi. Diese Einflüsse könnten die spätere Lösung von Aristoteles vorbereitet haben, die sich im 17. Jahrhundert vollzog. Die Beschäftigung mit Alexander, auch mit seiner Schrift perí heimarménês, scheint sich in den nachfolgenden 100 Jahren allmählich abgeschwächt zu haben, ohne dass hier der Anspruch auf repräsentative Kenntnis aller denkbaren Fundstellen erhoben werden kann. Wenigstens erwähnt sei aus dieser Zeit der 50  Die Stoiker nahmen durchaus einen von der schicksalhaften Verkettung der unmittelbar von außen auf den Entscheidungsträger einwirkenden Ursachen (causae antecedentes) ausgenommenen und insofern freien menschlichen Willen an (vgl. z. B. Stoicorum Veterum Fragmenta, a. a.O. [Anm. 6] II 974). Die in der Person des Entscheidungsträgers selbst liegenden Ursachen bildeten ihrer Ansicht nach die primären Ursachen einer menschlichen Entscheidung (causae principales) und garantierten, dass die Entscheidung dem Entscheidungsträger zugerechnet werden konnte, denn dieser verfährt gemäß der ihm eigenen Beschaffenheit. Allerdings – und damit treffen sich die Stoiker in der Konsequenz doch wieder mit Pomponazzi – ist die konkrete Aktivität eines Entscheidungsträgers abhängig von den jeweils obwaltenden äußeren Umständen (den causae antecedentes), die auf den Entscheidungsträger einwirken und zwingend eine bestimmte Wirkung in ihm erzeugen (z. B. Stoicorum Veterum Fragmenta, a. a.O. [Anm. 6] II 991); vgl. Anthony Arthur Long: Stoic Determinism and Alexander of Aphrodisias De Fato (I–XIV). In: Archiv für Geschichte der Philosophie 52 (1970) 260–262; D. Frede: The Dramatization of Determinism, a. a.O. [Anm. 10] 288–292. Schwer zu sagen ist allerdings, wie dies mit den moralischen Postulaten der Stoa zusammenpasst. Denn wenn jeder nur so seine Zustimmung (synkatáthesis) zu etwas geben oder verweigern kann, wie es die Wirkung der äußeren Umstände auf sein Inneres erzwingt, entfällt jede moralische Verantwortlichkeit.

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spanische Jesuit und Spätscholastiker Francisco Suárez (1548–1617). In seinen 1597 verfassten Disputationes metaphysicae trägt die 19. Disputation die Überschrift De causis necessario et libere seu contingenter agentibus; ubi etiam de fato, fortuna et casu. Suárez sieht dort seine Aufgabe darin, dem freien Handeln des Menschen, aber auch zufälligen Abläufen gegen den Glauben an eine schicksalhafte Determination zu ihrem Recht zu verhelfen. Im Gegensatz zu Pomponazzi teilt Suárez Alexanders Auffassung und zieht ihn zur Stützung der eigenen Position heran, allerdings – von einer Stelle abgesehen, an der er ganz Alexanders Argumentation folgt51 – nicht im Detail und immer im Verbund mit weiteren Autoritäten.52 Im 17. Jahrhundert schließlich hörte zumindest die produktive Auseinandersetzung mit Alexanders perí heimarménês allem Anschein nach auf. Dies hatte seinen Grund vermutlich vor allem in dem philosophischen Paradigmenwechsel, der sich in dieser Zeit vollzog. Mathematisierung und Mechanisierung einer Physik schritten voran, die die Natur in den Rahmen kontingenzloser Gesetzmäßigkeiten zu bringen versuchte, wohl ein später Sieg der Stoa. Der Aristotelismus wurde generell nicht mehr als Autorität oder auch nur als Gegner ernst genommen. Auch Alexander von Aphrodisias blieb davon nicht verschont. Im Jahre 1658 erschien die letzte Auflage einer lateinischen Übersetzung. Danach wurde es still um perí heimarménês. Erst 1892 erschien mit der Ausgabe von I. Bruns erstmals nach 1536 wieder eine Edition des griechischen Textes, hinter der freilich eine ganz anders geartete, historisch orientierte Art der Rezeption stand. Doch sie ist nicht mehr Thema dieses Bandes.

51 

Francisco Suárez: Disputaciones metafísicas (Biblioteca Hispanica de Filosofía). Spa­nisch und lateinisch. Bd. 3, hg. von Sergio Rábade Romeo, Salvador Caballero Sánchez und Antonio Puigcerver Zanón (Madrid 1961) XIX, sect. XI,12: Zumindest sofern fatum im gängigen Verständnis als Ursache strikter Notwendigkeit (necessitas absoluta) verstanden werde, eine solche aber in der gesamten Schöpfung, also im Bereich der gegenüber Gott sekundären Ursachen (causae secundae) nicht existiere, ist das fatum für Suárez keine akzeptable Form der Verursachung. Akzeptabel sei die Rede vom fatum nur dort, wo die Bedeutung korrigiert werde. An dieser Stelle kommt nun Alexander ins Spiel. Denn es gebe, so Suárez, unter anderem die Möglichkeit, fatum als Äquivalent für die individuelle Natur von etwas aufzufassen (fatum interdum significare cuiusque rei naturam). Damit aber verliere der fatum-Begriff die Konnotation strikter Notwendigkeit, weil ›Natur‹ die Möglichkeit der Abweichung durch Freiheit oder durch Zufall impliziere (Unde sicut non omnia naturali ordine vel necessitate eveniunt, sed quaedam libere, alia casu, ita non omnia fiunt fato). Mit dieser Gleichsetzung von fatum und individueller natura folgt Suárez Alexanders Argumentation in perí heimarménês, Kap. 6. 52  Ein Beispiel: F. Suárez: Disputaciones metafísicas, a. a.O. [Anm. 51] XIX, sect. XI,7: Dort wird die Existenz eines selbst den Willen der Menschen noch determinierenden fatum deshalb abgelehnt, weil dadurch die freie Entscheidung (arbitrii libertas) aufgehoben werde. Hier wird Alexanders Schrift de fato zwar genannt, aber nur als eine Autorität neben Schriften des Aris­ toteles, Simplikios, Themistios und Plutarch. Wie präzise dieser Hinweis ist, ist nicht nur wegen der fehlenden Stellenangabe nicht leicht zu sagen, da Alexander die Möglichkeit einer Beeinflussung des inneren psychischen Zustandes durch das Schicksal gerade nicht thematisiert. Am nächsten kommen perí heimarménês, Kap. 11 und 12.

Riccardo Pozzo

Die Begründungsfunktion der Habituslehre bei Piccolomini und Duodo I.  Ethica Nicomachea Alpha, Beta und Zeta Der Begriff des habitus reicht in der Geschichte der philosophischen Terminologie bis in die Antike zurück. Dort bedeutet er die Veranlagung für bestimmte Handlungen bzw. Leidenschaften, wie hexis (Character) bei einem einzelnen Menschen oder ethos (Sitte) bei einer Gruppe von Menschen. Das über einen Habitus erworbene Können resultiert aus der Wiederholung und Einübung einzelner Handlungen, d. h. aus Erfahrung und Gewöhnung. In diesem Sinne produziert das ethos (habitudo, consuetudo) die hexis (habitus), d. h. eine bestimmte Richtung der Handlungsweisen und somit eine zweite Natur. Gemäß Aristoteles ist der Habitus doppelter Natur: Zum einen folgen die dianoetischen Tugenden dem rationalen Prinzip als solchem; zum anderen gehorchen die sittlichen Tugenden der Vernunft, wie das Kind dem Vater (Eth. Nic. Alpha 13, 1103 a 3–5). Die Tugenden wachsen in uns weder durch die Natur noch wider die Natur. Die Natur gibt uns die Fähigkeit, sie in uns aufzunehmen, und diese Anlage wird durch den Habitus zur Entwicklung gebracht (Eth. Nic. Beta 1, 1103 a 24–26). Die spezifisch logische und erkenntnistheoretische Bedeutung der dianoetischen Tugenden wurde von Wilhelm Risse auf die einfache Formel gebracht, dass sie Teil eines Sonderproblems der Logik sei: das Problem der Suche nach der Erkenntnis und der Geltung allgemeiner Prinzipien: »Man will im Sinne der Aris­ totelischen Beweistheorie nicht aus ungeprüften Ausnahmen, sondern nur aus sachlich vertretbaren Voraussetzungen schließen. Indem also die Schulphilosophie des 16. Jahrhunderts nach dem materialen Inhalt, nicht nur nach dem formalen Ausbau ihrer Schlüsse fragt, knüpft sie an den Aristotelischen Begriff des Wissens (An. Post. Alpha 2, 71 b 9), nicht an das Urteilsvermögen des Verstandes an. Ihre Erkenntnisfrage lautet also nicht: wie ist Erkenntnis möglich?, sondern: wie sind die Prinzipien der Wissenschaft aus den Dingen erschlossen? Wie verhält sich die Vernunft zur Erfahrung? Dieses in der Induktionstheorie zusammengefasste Problem bringt im 16. Jahrhundert zwei Ansätze hervor: funktionell die Methodenlehre und substantiell die Lehre der habitus, namentlich der intelligentia, als die Kenntnis der grundlegenden Prinzipien des Wissens.«1

1 Wilhelm Risse: Logik der Neuzeit. 1500–1640 (Stuttgart-Bad Cannstatt 1964) 274. Zur Habituslehre vgl. Félix Ravaisson: De l’habitude (Paris 1838); Maine de Biran: L’influence de l’habitude sur la faculté de penser (Paris 1840); Jacques Chevalier: L’habitude (Paris 1929); Gerhard Funke: Gewohnheit (Bonn 1958); John McDowell: Mind and World (New York 1994); Enrico Berti: Aristotele nel Novecento (Rom 1992); Franco Volpi: The Rehabilitation of Practical

Archiv für Begriffsgeschichte · Sonderheft 12 · © Felix Meiner Verlag 2016 · ISBN 978-3-7873-2525-2

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Bereits Platon hatte die Rolle von guten und schlechten Habitus für die Ausbildung der Staatshüter in Resp. und De leg. berücksichtigt. Zum einen seien Habitus schlechterdings Wissen (Theaet. 197 a), zum anderen auch die Möglichkeit, die Fertigkeiten eines einzelnen über den Weg der Übung zu erhöhen (Phaedr. 268 e). Aristoteles erschloss sie im Rahmen der praktischen Philosophie. Habitus gehören demnach zum Wissen der Ethik und der Politik, weil sich diese mit den Handlungen des Menschen beschäftigen (tò prákton). Dem Aristotelischen Vorbild entsprechend, fassten die meisten Logiker der Renaissance das Denken nicht als aktive Tätigkeit auf, sondern als passiv-reproduktive Prozesse, als Kenntnis der bewusstseinsunabhängigen Sache.2 Es wird deshalb einerseits durch die species bestimmt, die den sachlichen Inhalt der einzelnen Begriffe materiell wie formal definieren, und andererseits durch die von Aristoteles in Eth. Nic. Zeta behandelten hexeis (habitus).3 So stellten die Ausein­andersetzungen mit der Habituslehre die Brutstätte der modernen Subjektivitätstheorien dar. Der Habitus wurde als zweite Natur konzipiert, als erworbenes Mittel, um durch den Verstand die Prinzipien und die Struktur der Dinge zu erschließen. Es wäre aber zu kurz gegriffen, die Habitusdebatte der Renaissance nur vom Standpunkt der Psychologie aus zu deuten. Denn die Kernfrage der Logiker der Renaissance bestand vielmehr aus dem Dilemma, ob die zu erwerbenden Habitus in mente oder extra mentem lägen. Hier, wie auch sonst oft, dürfen wir uns nicht von der cartesianischen Konzeption der Subjektivität verleiten lassen. Der Konflikt rührte vor allem daher, dass man den ontologischen Status der Habitus zu klären versuchte, nicht etwa die Tätigkeit ihrer menschlichen Träger. Zwei Hauptrichtungen der Habituslehre in der Renaissance sind deutlich zu erkennen: der psychologische und der systematische Ansatz. Nach dem ersten sind Habitus das Resultat einer Haltung des Verstandes in Bezug auf die Dinge; nach dem zweiten sind sie das Resultat einer Haltung des Verstandes, die alles von den Dingen lernt. Für die ersteren ist der ontologische Status der Habitus durch den Verstand (in mente) bedingt, für die letzteren ist er von dem Verstand völlig unabhängig (extra mentem) und vielmehr in der Natur selbst begründet. Diesem Konflikt liegt eine unterschiedliche Interpretation des antiken téchne-Begriffs zugrunde. Für Aristoteles ist ars ein »habitus cum vera ratione effectivus«, für die Stoiker und die Ciceronianer ein »systema certarum propositionum exercitatione cognitarum ad finem in vitam utilem«. Die von Aristoteles eingeführten Definitionen von téchne (ars), episteme (scientia), phrónesis (prudentia), sophía (sapientia), nous (intelligentia) wurden während der Renaissance mehrfach diskutiert und, wenn nötig, in neuere Habitus integriert. Problemgeschichtlich kann man die Fragestellung der Habituslehre so Philosophy and Neo-Aristotelianism. In: Action and Contemplation, hg. von Robert C. Bartlett und Susan D. Collins (New York 1999) 3–25. 2  W. Risse: Logik der Neuzeit, a. a.O. [Anm. 1] 274. 3  Ebd. 275.

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ausdrücken: Können die von Aristoteles angegebenen fünf Grundhaltungen des Verstandes den ganzen Komplex der Wissenschaften bestimmen und abschließen? Und wenn nicht, welche weiteren Habitus müssen als Ergänzung miteinbezogen werden? Gegen die Auffassung, dass Systeme (systema) extra mentem, in rebus seien, dass sie realia und principia enthalten, und dass sie schließlich aus den Dingen selbst als primae notiones hervorgehen, argumentiert Jacopo Zabarella, dass Habitus jeder Theorie vorauszusetzen seien. Habitus seien dennoch in mente, a rebus seiuncti, instrumentales und behandelten notiones secundae. Vor allem seien die Logik sowie die Grammatik und die Rhetorik als habitus intellectuales instrumentales anzusehen.4

II.  Universa philosophia de moribus (1583) Ganz in den Rahmen dieser Diskussion stellt sich das groß angelegte Ethikwerk Universa philosophia de moribus von Francesco Piccolomini aus dem Jahr 1583 (das 1596 von Rudolph Goclenius in Frankfurt neuherausgegeben wurde), das eine Kritik aller Positionen enthält, die den Menschen und seine Bereiche in die Einheit der Natur und in leere logische Formeln zwängen wollen.5 Der Gegenstand des Werkes ist sowohl der Aristotelischen Ethica Nicomachea als auch der Politica entnommen. Anstatt sich jedoch an den Argumentationsgang der Aris­ totelischen Texte zu halten, formuliert Piccolomini die Materie der Ethik und der Politik gänzlich neu, indem er einem neuplatonisch inspirierten, graduellen moralischen Aufstieg des Menschen über zehn Ebenen folgt: von den Leidenschaften der Seele, den Grundstützen der Tugend, den Halbtugenden, den moralischen Tugenden, den intellektuellen Tugenden, den heroischen Tugenden, der Freundschaft, den Instrumenten der Tugend über das höchste Gut bis hin zum politischen Kontext der Anwendung der Tugend. Piccolomini war in der Tat ein »maestro, movimentante Aristotele con innesti e ibridazioni platonici«.6 Piccolominis Originalität besteht in der Behauptung der Autonomie des ethisch-politischen Diskurses gegenüber dem logisch-metaphysischen Diskurs. Die menschliche Welt ließe sich nicht als bloßes philosophisches Problem intellektualistisch auffassen.7

4  Jacopo

Zabarella: De natura logicae (Venedig 1578) I, 3–5. Die Definitionen von téchne bei Aristoteles und Zeno von Kition (SVF I 21 6) sind miteinander kompatibel, insofern es um die Identifizierung von Kunst und Wissenschaft geht. Hinsichtlich der Begründungsfrage ist téch­ne dennoch ein Habitus für Aristoteles und ein System für die Stoiker. 5 Francesco Piccolomini: Universa philosophia de moribus (Venedig 1593). Auszüge auf Englisch unter dem Titel: A Comprehensive Philosophy of Morals. In: Cambridge Translations of Renaissance Philosophical Texts, ed. by Jill Kraye (Cambridge 1997) 68–79. 6  Gino Benzoni: Pietro Duodo. In: Dizionario biografico degli italiani. Bd. 43 (Rom 1993). 7  F. Piccolomini: Universa philosophia de moribus, a. a.O. [Anm. 5]. Vgl. David A. Lines: Aristotle’s Ethics in the Italian Renaissance (Leiden 2002) 264–285.

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Piccolomini folgt dem Ethikkommentar von Eustratius, dessen lateinische Übersetzung von Robert Grosseteste seit dem 13. Jahrhundert geläufig war. Eustratius vertrat die These, dass Habitus geistige Substanzen in einer aufgehenden Prozession (proódos) seien, die vom nous bestimmt wird. Für Eustratius gehören die dianoetischen Tugenden eigentlich zur Metaphysik. Während alle Wissenschaften ihre Grundsätze als bereits bekannt voraussetzen müssen, erkläre und beweise allein die Metaphysik: sie sei der Kopf aller Wissenschaften (CAG 20 324).8 Eine weitläufig ausgearbeitete Habituslehre wird somit für Piccolomini Anlass, nochmals zu betonen, dass es ohne die ontologisch in der Natur gründende Weisheit weder Kunst noch Klugheit noch Wissenschaft gebe.9 Piccolomini geht es schließlich um die Autonomie des ethischen und politischen Bereiches. Jacopo Zabarella trennt in seiner als Antwort auf Piccolominis Universa philosophia de moribus konzipierten, höchst polemischen Abhandlung Apologia de doctrinae ordine von 1584 die natürliche von der künstlichen Ordnung, wobei erstere uns zur Begriffsbildung führt und letztere die Begriffe logisch ordnet. Zabarella wirft Piccolomini vor, er habe die Logik auf ein bloß menschliches Konstrukt reduziert und den Unterschied zwischen der ordo naturae und der ordo scientiarum vernichtet. In seiner Replik von 1594 mit dem Titel Comes politicus pro recta ordinis ratione propugnator formuliert Piccolomini jedoch lapidar: »ordo petantur a rebus«, und ganz und gar nicht »ex nostro modo cognoscendi«. Er verteidigt das ethisch Konkrete, die Objektivität der Logik und den Vorrang der Metaphysik. Für Piccolomini ist die Logik der Ausdruck der höchsten Fähigkeiten des Menschen, sie leite sowohl die menschliche Praxis als auch seine Spekulation.10

III.  De habitibus intellectus libri sex (1577) Die überhaupt erste monographische Untersuchung über die Habituslehre verdanken wir dem venezianischen Philosophen Andrea Duodo, vielleicht jedoch auch Piccolomini selbst: Er hatte eine kleine Gruppe von adligen Studenten ausgewählt, die er privat sehr intensiv (mit täglichen Treffen) betreute, darunter die Gebrüder Andrea und Pietro Duodo sowie ihr Kommilitone Stefano Tiepolo di Benedetto, weshalb »il sospetto […] che essi siano stati dei semplici  8 Vgl.

Antonino Poppi: L’etica del Rinascimento (Soveria Mannelli 1998); D. A. Lines: Aristotle’s Ethics in the Italian Renaissance, a. a.O. [Anm. 7].  9  F. Piccolomini: Universa philosophia de moribus, a. a.O. [Anm. 5] 308 ff. Vgl. A. Poppi: L’etica del Rinascimento, a. a.O. [Anm. 8] 210. 10  Jacopo Zabarella: Apologia de doctrinae ordine (Venedig 1584); F. Piccolomini: Comes politicus pro recta ordinis ratione propugnatur (Venedig 1594) 992. Vgl. Nicholas Jardine: Keeping Order in the School of Padua. In: Method and order in Renaissance philosophy of nature. The Aristotle commentary tradition, ed. by Daniel A. Di Liscia (Aldershot 1997) 203; D. A. Lines: Aristotle’s Ethics in the Italian Renaissance, a. a.O. [Anm. 7] 258.

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prestanomi«,11 blieb. Diese Studenten verfassten eine Reihe von Schriften, deren Inhalt von Piccolomini teils suggeriert, teils geradezu diktiert wurde. Es handelt sich bei diesen Schriften um eigenständige Publikationen (den heutigen Dissertationen ähnlich), die zwar von keiner Studienordnung vorgeschrieben waren, jedoch eine prachtvolle Krönung des eigenen Studiums darstellten. Einigen Berichten zufolge erhielten die auserwählten Studenten von Piccolomini am Tag ihrer Promotion sogar das fertige Manuskript der Abhandlung in die Hand, auf dem ihre Namen als Autoren standen: »in quibus praeceptoris ingenio et stylum, et nihil non omnino praeter titulos, per te agnosceres etiam si Picholomineus, suorum pudori parcens, id dissimilasset«. Piccolominis Handeln ließ sich einerseits mit dem Wunsch erklären, die Anerkennung der Studenten und ihrer mächtigen Familien zu bekommen; eine andere Erklärung liegt in dem in Padua sehr verbreiteten Usus des Privatunterrichts. So hatte Piccolomini eine Anzahl von Studenten, die bei ihm zu Hause als Untermieter wohnten. Noch 1610 berichtete Galileo Galilei davon, er könne in Padua mehr als 1.000 Gulden jährlich durch Privatunterricht verdienen.12 Eugenio Garin betrachtet es als ziemlich sicher, dass Piccolomini einer der ersten gewesen sei, der eine Abhandlung über die Seele vom Standpunkt der Simplicianer im eigenen Namen verfasst habe und dass er wenig später eine Abhandlung über die Seele vom Standpunkt der Platoniker unter dem Namen eines seiner Studenten zu schreiben veranlasst habe – ein typisches Schema, um in die Hochburg des Aristotelismus auch platonisches Gedankengut einfließen zu lassen.13 Dieses Verfahren galt offensichtlich auch für die Werke von Pietro Duodo, Andrea Duodo und Stefano Tiepolo, während in den philosophischen Abhandlungen venezianischer Staatsmänner wie Luigi Pesaro, Girolamo Cappello, Tommaso Contarini, Nicolò Contarini und Francesco Morosini ein direkter Einfluss Piccolominis nicht nachweisbar ist, jedoch für sehr wahrscheinlich gehalten wird.14 Duodo beginnt seine Darstellung mit einigen anthropologischen Bemerkungen.15 Sein Standpunkt ist orthodox aristotelisch, weshalb er die Aktivität des Menschen in der Gestaltung seines Lebens durch die Habitus betont.16 Ein Verhältnis zwischen der ersten und der zweiten Natur wird dabei von Duodo

11 

G. Benzoni: Pietro Duodo, a. a.O. [Anm. 6]. E. Baldini: Per la biografia di Francesco Piccolomini. In: Rinascimento, II Serie, 2 (1980) 389–420. 13  Eugenio Garin: Storia della filosofia italiana (Turin 1966) 658 f. 14  A. E. Baldini: Per la biografia di Francesco Piccolomini, a. a.O. [Anm. 12] 402. 15  Andrea Duodo: De habitibus intellectus libri sex (Venedig 1577) 2. Der Mensch sei: »cum animo […] praeditus ad opposita facili, et saepe ad deteriora proclivi, tenetur varios habitus accurate quaerere, et niti eos pro facultate acquirere, ut eorum recta ratione in convenientem finem ducatur, ac dirigatur. Sic homo maxime omnium eget cura, studio, et disciplina, ut ex nudo maxime indutus, ex impotentissimo potentissimus, ex informi formosissimus evadat.« 16  Andrea Duodo: De habitibus intellectus, a. a.O. [Anm. 15] 4: »Hinc homo in suis manibus dicitur derelictus, suae fortunae dicitur faber, suaeque sortis auctor.« 12  Artemio

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vor­ausgesetzt.17 Eine erste Einteilung der Habitus findet gemäß ihrer Gegenstände statt, die entweder sinnlich oder intellektuell sind.18 Es ist die seit Aristoteles traditionelle Unterscheidung zwischen habitus morales et intellectuales.19 Duodos Erläuterung räumt letzteren allerdings eine Vorrangstellung ein.20 Sein Werk trägt den Titel De habitibus intellectus, worauf er in der Tat den Fokus setzt. Von den sechs Büchern seiner Schrift beschäftigt sich das erste mit den oben erwähnten anthropologischen Grundlegungen und den sogenannten habitus instrumentales, die letzten fünf mit jeweils einem der habitus principes, und zwar in der folgenden Anordnung: intelligentia (II), sapientia (III), scientia (IV), prudentia (V), ars (VI). Seine Definition der habitus instrumentales lässt sich auf Zabarellas Definition der Logik als einen habitus intellectualis instrumentalis zurückführen. Die Breite, Komplexität und systematische Vollständigkeit seiner Darstellung gehen aber über Zabarella hinaus und bieten eine interessante Antwort auf die oben aufgeworfene Frage nach der Vollständigkeit der Aristotelischen Habituseinteilung: Sie sei nicht vollständig, bzw. ihre notwendige Ergänzung sei von Aristoteles nicht expliziert worden. Duodo unterscheidet die habitus instrumentales von den sachbezogenen habitus principes, da die habitus instrumentales keine Wissensinhalte als solche, sondern Methoden zu deren Darstellung und Beweis zum Gegenstand haben.21 »Die Habituslehre ist also im doppelten Sinne ein wissenschaftstheoretisches Problem der Logik, sofern einerseits die Habitus nach logischen Verfahren darzustellen sind und andererseits die Logik selbst den Habitus unterliegt. Wenn die Habitus formal der logischen Methoden zu ihrer begrifflichen Ordnung bedürfen, so wird die Logik ihrerseits materiell in dem durch die Habitus repräsentierten gegenständlichen Inhalt.«22 Die habitus principes garantieren die Sachlichkeit der Logik, indem sie die Grundhaltungen des Verstandes, über welche die Logik operiert, über den Erwerb sachbedingter Erfahrung legitimieren und nicht durch psychologische 17  Ebd.: »A natura exacte habemus, ut simus, ab arte, ut corpore bene valeamus, a proprio studio, cura, et diligentia, ut animum, et mentem congruenter perficiamus. Habitus animi, ut ad esse minus conducunt, ita ad bene esse apprime sunt necessarii. Viri autem recte affecti summopere expetere debent, ut bene sint, cum summopere de suo fine teneantur esse soliciti.« 18  Ebd.: »duo Genera habituum, quorum unum pertinet ad sentiendi facultatem, eiusque appetitum« und »aliud vero ad facultatem intelligendi.« 19  Ebd.: »Primi generis sunt virtutes in more positae. Alterius vero sunt virtutes ad mentem pertinentes.« Vgl. Eth. Nic. Zeta 3, 1139 b 1–2. 20  Andrea Duodo: De habitibus intellectus, a. a.O. [Anm. 15] 4–5: »Virtutes primi generis sanitati corporis convenienti proportione respondent: Vitia vero eis opposita aegritudini: Virtutes secundi generis pulchritudini, et decori corporis sunt similes, ut eorum oppositi habitus deformitates, et turpitudines intellectus dici merentur.« 21  Ebd. 6: »Insuper habitus semper veri, et recti duplices sunt; vel enim sunt instrumentarii, qualis praesertim est Grammatica, et logica, qui pro acquirendis potioribus habitibus nobis adminiculantur; Vel sunt habitus principes, qui ad Principem aliquem finem ex se optandum proxime ducunt, qualis est Scientia, Sapientia, Prudentia. Ars et Intelligentia.« 22  W. Risse: Logik der Neuzeit, a. a.O. [Anm. 1] 276.

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Denkprozesse.23 Die habitus instrumentarii ergänzen die von Aristoteles richtig aufgezählten fünf Grundhaltungen des Verstandes wegen ihrer Rolle für die Darstellung und des Beweises der sachbezogenen Denkgegenstände. Grammatica, rhetorica und logica dienen dazu, sowohl die »Denkbarkeit des Gegenständlichen aus der Allgemeinheit des Prädikats« als auch die »Gegenständlichkeit des Denkbaren aus der Erfahrbarkeit des Subjekts« zu erklären.24 Soweit verbindet sich die Frage nach den Habitus mit der Frage nach der Methode schlechthin. Duodos Stellungnahme zur Instrumentalität der Logik ist eindeutig.25 Er gibt eine Reihe von Gründen dafür an:26 Sein erster Vorwurf gilt den Stoikern und manchen Aristotelikern (man denke an Duns Scotus, aber auch an Melanchthon und Flacius d.J.)27; während sein zweiter Vorwurf Aristoteles selbst gilt, da er die instrumentelle Bedeutung von Grammatik, Rhetorik und Logik als Komplement der grundlegenden Habitus nicht erkannt habe.28 23  A.

Duodo: De habitibus intellectus, a. a.O. [Anm. 15] 6: »Insuper habitus semper veri, et recti duplices sunt; vel enim sunt instrumentarii, qualis praesertim est Grammatica, et logica, qui pro acquirendis potioribus habitibus nobis adminiculantur; Vel sunt habitus principes, qui ad Principem aliquem finem ex se optandum proxime ducunt, qualis est Scientia, Sapientia, Prudentia. Ars et Intelligentia.« 24  W. Risse: Logik der Neuzeit, a. a.O. [Anm. 1] 277. 25  A. Duodo: De habitibus intellectus, a. a.O. [Anm. 15] 10: »Propterea dixere nonnulli eas disciplinas [instrumentales], et praesertim logicam redigi ad Scientiam, ac insuper esse partem philosophiae, sed hi manifestissime falluntur.« 26  Ebd.10 f.: »Primo quoniam a proprio fine unum quodque denominari, et definiri conveniens est, finis proximus logicae ex sententia Aristotelis in primo Topicorum […] non est scire rem illam, in qua versatur, sed adminiculari Scientiis, et Artibus, propterea si ei convenirent caeterae omnes conditiones Scientiae, cum haec potissima desit, Scientia dici non potest. Praetera secundae intentiones, in quibus versatur logicus, non sunt res, quae proprie cadant sub Scientiam, illae enim, quae vere sunt Scientiae, et sunt philosophiae speculatricis partes in rebus versantur, et in partium mundi contemplatione, non in consideratione Notionum, et intentionum, a nobis in gratia alterius elaboratarum; Accedit quod si aliquo modo de eis est scientia, modus ille non est logicae considerationis, sed potius metaphysicae, dum considerantur sub ratione entis, et in comparatione ad ens per se, et proprie sumptum; vel Physicae dum considerantur ratione principiorum, et modi, quo conficiuntur, ita enim ad libros de anima pertinent, in logica solum considerantur, ut instrumenta pro explicandis rebus, quare solum instrumentaria est.« Vgl. Aristoteles: Top. Alpha 1, 101 a 35–37. 27  A. Duodo: De habitibus intellectus, a. a.O. [Anm. 15] 11: »Et hoc ex eo manifeste patet, quia logicus, ut logicus ignorat quid sit ens rationis, nec valet illud definire, sed solum in eo versatur, illud considerando, ut instrumentum ad aliud manifestandum. Hinc manifeste falluntur, qui eam censent philosophiae partem, ut Stoici, et nonnulli ex Peripateticis, nam in his, quae a nobis fiunt, nunquam evenit, ut instrumentum sit eius pars, quod instrumento efficitur.« 28  Ebd. 11 f.: »Natura, ut ad scientias essemus aptissimi, duo nobis potissima instrumenta largita est, loquendi scilicet, et ratiocinandi facultatem […] Hinc non iniuria a viris sapientibus, logica, Grammatica, Rhetorica, et similes dictae fuere artes ingenuo homine dignae. Aristoteles in 6. Ethicorum, dum habitus enumeravit, ad Principes respexit, non ad instrumentarios, et iure quidem, quoniam instrumentarii carent fine, ex se optabili, et proprio, sed ad Principes diriguntur; Insuper quoniam, ut patuit similitudine, et convenientia quadam ad Artem rediguntur.« Vgl. Aristoteles: Eth. Nic. Zeta 4, 1140 a 21–23.

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Was die einzelnen Habitus betrifft, unterscheidet sie Duodo vorerst nach dem Gesichtspunkt der res considerata (des Gegenstandes). Die res der Habitus ließen sich aber nicht statisch begreifen, sondern nur dynamisch. Voraussetzung dafür sei der Verstand, der sich immer mittels eines Habitus für einen bestimmten Zweck engagiert, denn die Zwecke seien die Handlung, die Wirkung und die Erkenntnis.29 An erster Stelle nennt Duodo die prudentia: »pro actione consurgit Prudentia, quae est recta ratio agibilium«, an zweiter Stelle die ars: »pro effectione consurgit Ars, quae dicitur recta ratione effectibilium«.30 Die prudentia und die ars machen die Gruppe der niederen Habitus aus, da sie in der Erfüllung eines auf eine Handlung bezogenen Bedürfnisses ihren Ursprung haben. Die höheren Habitus entstehen dagegen mit Blick auf die Frage nach der wahren Erkenntnis – so weit unter dem Gesichtspunkt der materia. Ein zweiter Gesichtspunkt für die Anordnung der Habitus beruht auf der forma, d. h. auf dem modus considerandi.31 Duodos Ausführungen über diesen Punkt sind im Hinblick auf Martini besonders wichtig.32 Denn hier skizziert Duodo eine im Keim begriffene epistemische Logik. Der Gegenstandsbereich wird durch die vom Menschen gewählte Einstellung bestimmt.33 Schließlich sind zwei Definitionen zu erwähnen, 29  A. Duodo: De habitibus intellectus, a. a.O. [Anm. 15] 6: »adeo ut fines sint Actio, effectio et cognitio«. 30  Ebd. 6 f.: »pro exacta veritate, et cognitione, quoniam ea latissima est, non unus, sed tres habitus parati sunt: et iure quidem, nam contemplatio, et veritas tribus modis se habere potest, vel enim versatur in primis principiis, quorum cognitio quoniam maxime est propria mentis, ideo eius nemine honestatur, et dicitur nous, sive Intelligentia, vel versatur in his, quae proxime pendent ex primis principiis, ac communia sunt, cumque primis principiis iuncta, et dicitur sapientia: Vel demum versatur in rebus propriis contracta aliqua ratione scibilibus proxime pendentibus ex principiis pariter propriis, et nuncupatur scientia.« 31  Ebd. 22: »Addo […] internam habituum inter se varietatem, et distinctionem in forma esse positam, et a forma esse petendam, forma habituum, sive quod praesertim ad formam pertinet, est modus considerandi; ideo ex modo considerandi intrinsecus sumenda est eorum distinctio, ut declaravit Aristoteles in 2. Physicorum context. 18. dum Mathematicum seiunxit a Physico, quod etiam explicavit Averroes in I. Posterior. com. 178 […]. Addo […] modum considerandi respicere finem, et a fine pendere, terminari, et formari, a fine enim diriguntur, et terminantur ordinata in eum, quia unus quosque rem considerat, quatenus suo fini inservit, per Aristotelem 2. Physi. 26 et finis dicitur causa causarum.« Die zwei hier von Duodo gegebenen Stellen aus Aristoteles und Averroes sind sehr aufschlussreich. Vgl. Aristoteles: Phys. Beta 2, 194 a 9–15; Averroes: In Posteriora Analytica. I,13. Op. com. Bd. I/2. 375 b; Aristoteles: Phys. Beta 2, 195 a 26–29. 32  A. Duodo: De habitibus intellectus, a. a.O. [Anm. 15] 22: »Ex quo sequitur distinctionem primo ortum ducere, et praesertim ut a prima causa pendere a fine: secundo proxime reperiri in forma, et conditionibus eius, exposcere tamen materiam convenientem, congruentiaque principia efficentia, et hac de causa Aristotel. in 3. de Anima, habitus fine distingui affirmavit. Confirmatur, nam quod modus considerandi servet relationem ad finem, patet. Medicus enim gratia exempli hominem considerat, ut arte sanabilem, Civilis, ut natum per actionem assequi felicitatem, et sic de caeteris.« Vgl. Aristoteles: De an. Gamma 4, 429 a 10–430 a 9. 33  A. Duodo: De habitibus intellectus, a. a.O. [Anm. 15] 23: »Confirmatur, quia ab eo prasertim petenda est distinctio, a quo pendet terminus directio, et forma considerationis, at haec a fine pendet, quod ostenditur, nam Aristoteles in 2. Phys. explicans, unde scientia, et Artes respi-

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die die Funktionalität der Habitus mit Blick auf die Kategorien und die Vollkommenheit hervorheben.34

IV.  Metaphysica Delta Das System der Habitus gewinnt seine Grundlegung aber erst durch die Darstellung der einzelnen habitus principes, wobei sich Duodo auf den Anfang von Metaphysica Delta stützt.35 Die intelligentia ist der Schwerpunkt des ganzen Systems.36 Wie Risse herausstellt, bedingt in der Tat »dieses innere Auge der Seele das theoretische Verständnis von Begriffen und Prinzipien. Dennoch sind die potentiell angeborenen Prinzipien entweder als Vernunftwahrheiten aus dem denkbaren Wesen der Dinge oder als Erfahrungswahrheiten aus den Sinnesempfindungen gewonnen. In beiden Fällen aber sind die Prinzipien nicht aus anderen Prinzipien deduziert, sondern aus Singulärem induziert.«37 In Bezug auf die sapientia beschränkt sich Duodo darauf, die Lehre der doppelten Wahrheit wiederzugeben.38 Anscheinend war Duodo – wie viele seiner Zeitgenossen – an einer wissenschaftlichen Ausarbeitung der Metaphysik nicht besonders interessiert. Die scientia definiert er als den »habitum intellectus«, wodurch man in der spekulativen Philosophie vermittels Beweise die Wahrheit sucht.39 Bemerkenswert ist die Voraussetzung, dass die Wissenschaft keine Grundlegung für andere Disziplinen bietet, sondern selber durch Beweise vom ciunt terminum suae considerationis, inquit in context. 26. illum recipere a fine, et unumquodque suo fine definiri, ac terminari conveniens est.« Vgl. Aristoteles: Phys. Beta 2, 195 a 26–29. 34  A. Duodo: De habitibus intellectus, a. a.O. [Anm. 15] 14: »Patet itaque habitus intellectus modo aliquo esse qualitates, proprie tamen ut ad intellectum pertinent dici relationes«; ebd. 33: »Habitus est perfectio a formis intelligibilibus insertis in essentia animarii intellectus in re manentis profluens.« 35  Ebd. 51: »Principia complexa vel sunt de ipso est secundo adiacente, et simplicissima penitus sunt, vel includunt maiorem compositionem; si primo modo se habent, ea possunt esse prima dupliciter vel absolute, et ex natura rei, vel ex parte nostrae cognitionis; Absolute […] possunt esse duplicia, vel quoad dignitatem, et naturam rerum, sic prima haec erit, Deus est, vel quoad abstractionem factam per nostrum intellectum, et prima erit, ens est: Si vero considerantur huiusmodi principia ut sunt prima ex parte nostrae cognitionis, sic prima haec erit, calidum est, sive frigidum est; haec enim ea sunt, quae primo nobis occurrunt.« Vgl. Aristoteles: Metaphys. Gamma 2, 1004 a 33–36. 36  Ebd. 41: »nous, sive mens est oculus internus animae, et eminentissima facultas eius ex sui conditione, et natura ad prima respiciens, et in eis solum requiescens. Ita primorum principiorum cognitio eius maxime propria.« 37  W. Risse: Logik der Neuzeit, a. a.O. [Anm. 1] 276. 38 A. Duodo: De habitibus intellectus, a. a.O. [Anm. 15] 83–84: »Humana Sapientia veluti umbra illius [divina Sapientia], et umbra quidem satis tenuis per quam homo aliqua ex parte redditur similis Deo […] Humana enim sapientia contradistincta ab aliis habitibus intellectus metaphysica est, quae et prima philosophia, et philosophia universa, et humana Theologia, et scientia absolutissima dici potest, quae non vulgaris, sed eminentioris hominis possessio est.« 39  Ebd. 106: »esse habitum intellectus, ac partem speculatricis philosophiae, demonstratione acquisitam, quae in partibus eius quod est, veritatem inquirit«.

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Riccardo Pozzo

nous/intelligentia abgeleitet wird. Diese Beweisart wird durch die Logik zur Verfügung gestellt. Die prudentia wird der »civilis scientia« 40 gleichgestellt. Der Standpunkt von Piccolomini und Duodo lässt sich letztendlich als eine Art von Intuitionismus bezeichnen, die sich auf die Singularität von Gedankenund Sinnbestimmungen stützt. Dadurch versucht Duodo, sich der platonischen Ideenlehre entgegenzusetzen. Ein solcher erkenntnistheoretischer Versuch kann nur mit Blick auf die damaligen Diskussionen zwischen Platonikern und Aristotelikern verstanden werden. Man muss allerdings daran erinnern, dass Duodos Wirkung sehr begrenzt blieb. Wahrscheinlich hatte er zu viel auf den nous gesetzt, der aber bekanntlich der am schwierigsten zu behandelnde Habitus ist.

40  Ebd.

142: »dicitur ratio recta, quoniam omnis in humana actione obliquitas, omnisque a rectitudine declinatio pariter est declinatio a Prudentia, et lapsum in imprudentiam […]. Dicitur prudentia ratio recta, non quidem omnium, sed agibilium.«

Christof Rapp

John Rainolds über ethische Aspekte der Aristotelischen Rhetorik I.  John Rainolds’ Lehrtätigkeit im biographisch-ideengeschichtlichen Kontext John Rainolds1 wurde 1549 in Devonshire, in der Nähe von Exeter geboren. 1562, im Alter von 13 Jahren, bekam er ein Stipendium am Merton College in Oxford, ein Jahr später wechselte er zum Corpus Christi College, wo er 1566 mit 17 Jahren zum Fellow auf Probe, zwei Jahre später zum regulären Fellow ernannt wurde.2 Von 1572 an hatte er für sechs Jahre die angesehene Position des Greek Readers am Corpus Christi College inne. In dieser Zeit, vielleicht schon im Jahr 1572, hielt er eine Vorlesung über Aristoteles’ Rhetorik.3 Das Manuskript von Rainolds’ Vorlesung ist auf Leerseiten niedergeschrieben, die in sein annotiertes griechisches Arbeitsexemplar der Rhetorik (die 1562er-Ausgabe von Morel, Paris) eingebunden sind. In demselben Band ist noch ein weiteres Skript, für eine Vorlesungsreihe über Dialektik, eingefügt. Der komplette Band wird bis heute in der Bodleian Library aufbewahrt; eine Abschrift der Vorlesung findet sich außerdem in einem im Queens College aufbewahrten Band. Die Vorlesung über die Rhetorik wurde erstmals 1986 von Lawrence Green herausgegeben, der für die Edition das Manuskript der Bodleian Library zugrunde legte.4 Obwohl die Vorlesung also zu Rainolds’ Zeit unveröffentlicht blieb und offenbar auch nicht zur Veröffentlichung gedacht war, begründete sie eine ziemlich außergewöhnliche Reputation des Dozenten. So schrieb ein Zeitgenosse (Bischof Joseph Hall) kurz nach seinem Tod: »He alone was a well-furnished library, full of all faculties, of all studies, of all learning; the memory, the reading of that man were near to a miracle.«5 Über die Vorlesung selbst hieß es: »The author that he read was Aristotle, whose three incomparable books of rhetoric he illustrated with so excellent a commentary, so richly fraught with all polite literature, 1 

Mitunter wird der Nachname abweichend als »Reynolds« buchstabiert. biographischen Angaben sind entnommen aus: Thomas Fowler: John Rainolds. In: Dictionary of National Biography (London 1896) 180–182 und Mordechai Feingold: Rainolds, John (1549–1607). In: Oxford Dictionary of National Biography (Oxford 2004, online edition, May 2012); für eine Zusammenstellung der biographischen Quellen siehe auch Lawrence D. Green: John Rainolds’s Oxford Lectures on Aristotle’s Rhetoric (Newark 1986) 24. 3  Zur Datierung der Vorlesung siehe auch die Ausführungen am Ende dieses Abschnitts. 4 Vgl. L. D. Green: John Rainolds’s Oxford Lectures, a. a.O. [Anm. 2]; für dessen Bericht über die Form des Manuskripts siehe S. 40–45. Zur Form und Anlage des Manuskripts siehe auch James McConica: Humanism and Aristotle in Tudor Oxford. In: The English Historical Review 94, 371 (1979) 303–305. 5  Zitiert aus T. Fowler: John Rainolds, a. a.O. [Anm. 2] 182. 2  Die

Archiv für Begriffsgeschichte · Sonderheft 12 · © Felix Meiner Verlag 2016 · ISBN 978-3-7873-2525-2

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Christof Rapp

that, as well in the commentary as in the text, a man may find a golden river of things and words, which the prince of orators tells us of.«6 Das Leben von John Rainolds ist stark durch die konfessionellen Veränderungen und Spannungen im Elisabethanischen Zeitalter geprägt. Seine Familie war ursprünglich katholisch, mehrere Familienmitglieder konvertierten, wie John selbst, zum Protestantismus, zwei seiner Brüder mussten anscheinend aufgrund ihrer Sympathien für den Papst das Corpus Christi College verlassen. John Rainolds selbst stand zwei Begründern anglikanischer Theologie, Bischof John Jewel und Richard Hooker, sehr nahe. Mehrfach verwickelte er sich in Streitigkeiten um die Berufung von vermeintlich romfreundlichen Fellows. Er wettert gerne – auch in der Rhetorik-Vorlesung – gegen die Pariser Scotisten (oder »Sorbonnisten«) und ihre Papsttreue. Im Jahr 1586 richtete Sir Francis Walsingham, der Begründer des englischen Geheimdienstes, für John Rainolds eine Art von befristeter Stiftungsprofessur in der Divinity School ein, die ausschließlich der Widerlegung römischer Lehrmeinungen gewidmet war. Das gab Rainolds die Gelegenheit, sein Profil als führender protestantisch-puritanischer Intellektueller zu schärfen. Er wurde schließlich Präsident des Corpus Christi College, und als der neue König James – Jakob I. –, im Jahr 1604 die Hampton Court Conference einberief, um auf Klagen der puritanischen Priester und Bischöfe einzugehen, wurde Rainolds vom König selbst als einer der vier Repräsentanten der Puritaner ausgewählt. Ein greifbares Ergebnis dieser Konferenz war der Beschluss, die später sogenannte »King James Bible« in Auftrag zu geben – eine englische Übersetzung der Bibel für die anglikanische Kirche, vorgenommen von führenden britischen Intellektuellen dieser Zeit. John Rainolds selbst widmete sich in den Folgejahren ganz dieser Unternehmung, starb aber vor ihrer Fertigstellung im Jahr 1607. Auf diesen biographisch-konfessionellen Komplex ist einzugehen, weil Rainolds’ konfessionelle Einstellung auch bei der Rhetorik-Kommentierung und der Auswahl der Referenzautoren eine nicht unerhebliche Rolle spielt. Im ganzen 16. Jahrhundert gab es keine englischen Übersetzungen und Kommentare der Aristotelischen Rhetorik – die großen Rhetorik-Kommentare dieses Jahrhunderts stammen alle aus Italien, der bedeutendste von Petrus Victorius (Pierro Vettori) aus dem Jahr 1548 (erweiterte Zweitauflage 1579). In der Rhetoriktheorie gab es Figuren, die unter dem Einfluss des kontinentalen Humanismus von Melanchthon und Erasmus standen, andererseits einige Anhänger der von Rudolf Agricola (1444–1485), Petrus Ramus (1515–1572) und Omer Talon (1510–1562) geprägten Reform klassischer Rhetorik, die besonders unter Pro-

6  Dies sind die Worte von Daniel Featley, zitiert in »The Life and Death of John Rainolds«. In: Thomas Fuller, Abel Redevivus, hg. von William Nichols, 2 Bde. (London 1867) II 220. Vgl. J. McConica: Humanism, a. a.O. [Anm. 4] 303 und L. D. Green: John Rainolds’s Oxford Lectures, a. a.O. [Anm. 2] 10.

John Rainolds über ethische Aspekte der Aristotelischen Rhetorik

179

testanten Ansehen genoss.7 Rainolds steht bei seiner Aristoteles-Interpretation einerseits in der humanistischen Tradition; er zitiert den erwähnten AristotelesKommentator Pierro Vettori und noch häufiger den spanischen Humanisten Juan Luis Vives (1492–1540), andererseits findet er aber auch deutlich Gefallen am Anti-Aristotelismus des Rudolf Agricola und des Petrus Ramus. Dabei steht er selbst – bei der Rhetorik-Vorlesung – terminologisch weitgehend auf Aristotelischem Boden, sieht aber zugleich in Agricola, Vives und Ramus Verbündete in seinem Kampf gegen einen traditions- und autoritätsgläubigen Aristotelismus, wie er ihn in der Scholastik, bei den bekämpften romtreuen Kräften seiner Zeit und insbesondere bei den Scotisten gegeben sieht. Auf die Neuerungen von Agricola und Ramus kann hier nicht ausführlich eingegangen werden; im Wesentlichen liegt ihnen an einer neuen Grenzziehung zwischen Dialektik und Rhetorik. Sie stören sich daran, dass der Aspekt der inventio, der Auffindung und Konstruktion von Argumenten, bei Aristoteles sowohl in der Rhetorik als auch in der Dialektik vertreten ist. Daher weisen sie die inventio ganz der Dialektik zu und lassen der Rhetorik nur noch die Figurenlehre und Ornamentik. Obwohl sie diese Neuerung mit einer penetranten antischolastischen Polemik vortragen, ist die sich darin manifestierende Abkehr von Aristoteles vielleicht weniger spektakulär, als sie meinten. Erstens nämlich geht Aristoteles ganz offen damit um, dass seine Rhetorik eine Hybriddisziplin ist, die Anleihen aus der Dialektik übernimmt; zweitens wiederholt die rhetorische inventio bei Aristoteles nicht nur die Techniken der Dialektik, sondern führt eine themenorientierte Topik neu ein und versucht auch die themenneutrale Topik, wie sie in der Dialektik praktiziert wird, mit Bezug auf den Gegenstand der Rhetorik zu modifizieren. Schließlich kommt hinzu, dass die ramistische Reform einerseits zwar die Disziplin der Rhetorik zugunsten der Dialektik erheblich beschneidet, andererseits aber die Dialektik auf Wahrscheinlichkeitsschlüsse gründet und ihr die Aufgabe des movere mitüberträgt, so dass die Dialektik de facto wie eine Rhetorik ohne Ornamentik auftritt und als Dialektik eine viel weitere Zuständigkeit beansprucht, als es die Aristotelische Rhetorik je tat.8 Zum Einfluss speziell von Petrus Ramus auf Rainolds und zur Verbreitung des Ramismus in England überhaupt finden sich in der Literatur unterschiedliche Auffassungen. Während Rainolds von den einen umstandslos als »Ramist« klassifiziert wird,9 warnen andere davor, jeden, der in dieser Zeit Ramus erwähnt oder zitiert, zum Anhänger des Petrus Ramus zu erklären.10 Erstaunlich ist, dass  7 Vgl.

hierfür auch Thomas M. Conley: Rhetoric in the European Tradition (New York/ London 1994) 133–143.  8 Vgl. hierfür auch ebd. 124–133; Peter Mack: A History of Renaissance Rhetoric 1380– 1620 (Oxford 2011) 56–75 und 136–148.  9  J. McConica: Humanism, a. a.O. [Anm. 4] 302, z. B. führt Rainolds als »leading Oxford Ramist« ein. 10  So Mordechai Feingold: English Ramism. A Reinterpretation. In: The Influence of Petrus Ramus, hg. von M. Feingold, Joseph S. Freedman und Wolfgang Rother (Basel 2001) 143: »Ra-

180

Christof Rapp

Rainolds in seiner Vorlesung über die Aristotelische Rhetorik zwar die Angriffe der Pariser »Scotisten« auf Ramus erwähnt, nicht aber dessen Ermordung im Zuge des Massakers der Bartholomäusnacht im August 1572. Das nimmt Green zum Anlass, die Vorlesung auf Trinity Term 1572 zu datieren, so dass die Vorlesungsreihe vor dem August 1572 bereits zum Ende gekommen wäre.11 Zwar gibt es in der Abschrift der Vorlesung im erwähnten Exemplar des Queens College eine Vorrede zu einer Vorlesung über die Rhetorik, die vom 13. August 1572 datiert, jedoch argumentiert Green, dass dies die Vorrede zu einer anderen, an die Mitglieder des Corpus Christi College gerichteten Vorlesung und nicht die Vorrede zu der universitätsöffentlich vorgetragenen Vorlesung sei, die uns erhalten ist.12 Wäre die Vorlesung hingegen erst nach dem Massaker der Bartholomäusnacht gehalten worden, dann wäre es in der Tat plausibel, wie Feingold zu argumentieren, dass die freundlichen Bezugnahmen auf Ramus, vor allem den Respekt vor dem zum Märtyrer gewordenen Gelehrten zum Ausdruck bringen sollten und weniger die Anhängerschaft zu einer bestimmten Schule.13 Am Ende trägt diese Frage nach der Art des Einflusses von Ramus auf Rainolds’ Vorlesungen vielleicht gar nicht so viel aus: Dass auch schon der junge Rainolds ein relativ eigenständiger Kopf ist und nicht nur dem Programm einer Schule folgt, wird aus dem eigenwilligen Stil der Vorlesung schnell deutlich. Klar ist auch, dass er mit den Lehren des Petrus Ramus gut vertraut ist und dass er mit dem antischolastischen, antitraditionalistischen Ton der ramistischen Reformen sympathisiert. Trotzdem scheint relativ unkontrovers, dass für Rainolds der Einfluss von Agricola und Vives wichtiger war als der von Ramus und dass ein Teil der Neuerungen, für die Ramus bemüht wird, auch schon von diesen übernommen worden sein kann.

mus ends up as a marginal figure in Rainolds’ lectures and this should warn us against turning everyone who mentions Ramus into a disciple.« Feingold rückt daher Rainolds’ Würdigungen von Ramus in die Nähe eines Lippenbekenntnisses: »Clearly, then, while ideologically aligning himself with Ramus against the hated Sorbonnists, the denominational charity that shielded the Frenchman from specific criticism was not extended to making him an intellectual authority« (ebd.). 11  Für die Datierung der Vorlesung siehe L. D. Green: John Rainolds’s Oxford Lectures, a. a.O. [Anm. 2] 45–49. 12  Vgl. ebd. 47. 13  Feingold neigt zu der Annahme, dass die Vorlesung nach dem Massaker stattfand; jedenfalls schreibt er: »Having embarked on his Rhetoric lectures shortly after the St. Bartholomew’s Day Massacre, Rainolds’ grudging commendations of Ramus are illustrative of his willingness to exculpate the rhetorical transgressions of the French martyr on confessional grounds […].« Er weist auf Äußerungen aus der zweiten, vermutlich später gehaltenen Vorlesung zur Dialektik hin, die Ramus in der Tat als Märtyrer bezeichnen (M. Feingold: English Ramism, a. a.O. [Anm. 10] 142).

John Rainolds über ethische Aspekte der Aristotelischen Rhetorik

181

II.  Die Vorlesungen über Aristoteles’ Rhetorik Kommen wir zu Rainolds’ Rhetorik-Vorlesungen selbst. Die Vorlesungen sind unterteilt in eine Einleitung, in eine Schlussvorlesung über das Thema Freizeit, Ferien und Erholung (der erste Satz dieser Vorlesung spielt auf das Thema des Angenehmen an, welches Gegenstand des nun zur Behandlung anstehenden Kapitels I.11 der Aristotelischen Rhetorik gewesen wäre) sowie in siebenundzwanzig Einzelvorlesungen nach einer Kapiteleinteilung, die Rainolds selbst vorgenommen hat. Das folgende Inhaltsverzeichnis gibt einen Überblick über Inhalt und Aufbau der Vorlesungen. Die linke Spalte nennt das Kapitel von Rainolds’ Vorlesung, die beiden mittleren Spalten nennen den jeweils im Mittelpunkt des Kapitels stehenden Teil des Aristotelischen Texts (wobei die zweite Spalte von links die Kapitelnummer sowie die für Aristoteles’ Rhetorik lange Zeit gebräuchliche Paragraphennummer und die dritte Spalte von links die Bekkerzahl, d. h. die Seiten-, Spalten- und Zeilenzahl der maßgeblichen Aristoteles-Ausgabe von Immanuel Bekker, nennt) und die rechte Spalte gibt in Stichworten das Hauptthema des jeweiligen Kapitels an. Introductio

Nutzen, Titel, Autor, Argument, Rhetorik Wann man Rhetorik studieren soll

Cap. 1

I.1.1–2

1354a1–11

Definition der Rhetorik

Cap. 2

I.1.3–11

bis 1355a20

Erregung von Affekten

Cap. 3

I.1.12–13

bis 1355b7

Nutzen der Rhetorik

Cap. 4

I.1.14

bis 1355b14

Kein eingeschränkter Gegenstandsbereich der Rhetorik

Cap. 5

I.1.14–2.1

bis 1355b34

Rhetorik als Fähigkeit das Überzeugende zu sehen

Cap. 6

I.2.2

bis 1355b39

Kunstgemäße und nicht-kunstgemäße Mittel der Überzeugung

Cap. 7

I.2.3–7

bis 1356a35

Die drei kunstgemäßen Mittel der Überzeugung (pisteis)

Cap. 8

I.2.8–11

bis 1357a1

Syllogismus und Induktion

Cap. 9

I.2.11–13

bis 1357a22

Anpassung an den Hörer

Cap. 10

I.2.14–18

bis 1357b25

Zeichen und Wahrscheinlichkeiten

Cap. 11

I.2.19

bis 1357b36

Zeichen

Cap. 12

I.2.19–22

bis 1358a35

Apodeiktik und Dialektik

Cap. 13

I.3.1

bis 1358b2

Die drei rhetorischen Gattungen

182

Christof Rapp

Cap. 13&14 I.3.2–3

bis 1358b13

Zwei verschiedene Einstellungen des Zuhörers

Cap. 15

I.3.4

bis 1358b20

Die Zeitstufen bei den drei rhetorischen Gattungen

Cap. 16

I.3.5–6

bis 1359a5

Die Ziele der drei rhetorischen Gattungen

Cap. 17

I.3.7–9

bis 1359a29

Rhetorik und Dialektik, Vorrat an Prämissen

Cap. 18

I.4.1–7

bis 1359b18

Rhetorik reicht in andere Gebiete hinein

Cap. 19

I.4.7–13

bis 1360a37

Was für den Staat (und die politische Rede) wichtig ist

Cap. 20

I.4.13–I.5.2 bis 1360b13

Für die Frage nach dem guten Leben nimmt die Rhetorik Anleihen bei der Ethik

Cap. 21

I.5.3–4

bis 1360b29

Die Definition und die Teile des guten Lebens

Cap. 22

I.5.4–9

bis 1361b2

Teile des guten Lebens: εὐγένεια (gute Geburt) εὐτεκνία / πολυτεκνία (gute, zahlreiche Kinder) πλούτος (Reichtum) εὐδοξία (gutes Ansehen) τιμή (Ehre)

Cap. 23

I.5.10–15

bis 1361b34

Körperliche Güter: ὑγίεια (Gesundheit) κάλλος (Schönheit) ἰσχὺς / ἀγωνιστικὴ ἀρετή (Stärke) μέγεθος (Größe) εὐγηρία (gutes Alter)

Cap. 24

I.5.16–I.6.1 bis 1362a17

Äußere Güter: πολυφιλία (gute Freunde) εὐτυχία (Zufallsglück, gutes Geschick)

Cap. 25

I.6.1–30

bis 1363b4

Das Gute/Nützliche

Cap. 26

I.7.1–I.8.1

bis 1365b25

Das komparativ Bessere

I.9.1–14

1366a23-b28

Das Edle und das Angenehme

Cap. 28 Peroratio

Zerstreuung und Erholung für die Studierenden

John Rainolds über ethische Aspekte der Aristotelischen Rhetorik

183

Im Manuskript ist keine Vorlesung zum 27. Kapitel aufgezeichnet und in der Tat bleibt zwischen dem Ende der 26. und dem Anfang der 28. Vorlesung ein Stück des Aristotelischen Textes unerwähnt. Die einzelnen Vorlesungen divergieren sehr stark in Länge und Ausarbeitungsgrad. Manche Einzelvorlesungen sind so detailliert ausgearbeitet, dass allein das unkommentierte Vorlesen sicherlich mehr als eine Stunde in Anspruch nehmen würde, während die kürzesten Vorlesungen aus nur 20–30 Zeilen bestehen, so dass sie entweder nur als Zusammenfassung für eine extemporierte Vorlesung dienten oder mehrere davon in einer einzigen Sitzung vorgetragen wurden. Die eingangs erwähnte Bindung des Vorlesungsskripts und die Art der Textreferenzen lassen darauf schließen, dass Rainolds die entsprechenden Textpassagen aus dem griechischen Text der Aris­ totelischen Rhetorik während der Vorlesung laut vorgetragen hat. Das auffallendste Merkmal dieser Untergliederung besteht darin, dass die Vorlesungen im Grunde nur etwas mehr als die erste Hälfte des ersten von drei Büchern der Rhetorik abdecken. Das ist zwar immer noch mehr als das durchschnittliche Pensum der meisten Leser der Rhetorik, bleibt aber doch bemerkenswert selektiv. Diese Selektivität ließe sich ganz prosaisch damit erklären, dass sich der unerfahrene Dozent vorab nicht viel Gedanken über die Stoffeinteilung gemacht hatte und dann mitten in der Besprechung des ersten Buches vom sich plötzlich einstellenden Ende des Trimesters überrascht wurde – ein Lapsus, der nur noch durch eine fix zusammengeschriebene Ferienvorlesung in loser Anbindung an das Lust-Kapitel der Rhetorik kaschiert werden konnte (für diese Möglichkeit sprechen im Übrigen auch die Auflösungserscheinungen, die u.a. in der Unterschlagung der Vorlesung zum 27. Kapitel zum Ausdruck kommen). Andererseits jedoch scheint die Auswahl ganz gut den Interessen des jungen Rainolds zu entsprechen; es ist nämlich nicht zu übersehen, dass er sich mehr für das ethische Material der Rhetorik, das in deren erstem Buch versammelt ist, als für die logischen Details interessiert. Zwar argumentiert Rainolds auch bei den logisch-dialektischen Passagen im ersten Buch engagiert und »opinionated« wie immer, jedoch scheinen die meisten Beobachtungen und Kritiken, die er hierzu anbringt, nicht wesentlich über Anregungen von Agricola, Vives und Ramus hinauszugehen. Die Ausführungen zur Logik und Dialektik, die die zweite Hälfte des zweiten Buches der Rhetorik füllen, bleiben ganz unerwähnt, wie auch erwartungsgemäß die Ausführungen zum Stil und zur Strukturierung der Rede im dritten Buch der Aristotelischen Rhetorik. Das Projekt des ersten Buches von Aristoteles’ Rhetorik hingegen, nämlich den Zweck der Rhetorik zu bestimmen, eine Unterteilung der Redegattungen vorzunehmen und den Redner mit Prämissen zum Guten/Schlechten, zum Glück usw. zu versehen, gibt Rainolds reichlich Gelegenheit, sich über ethische und weltanschauliche Fragen zu verbreiten. Bei dieser Interessenlage könnte es lediglich überraschen, dass er es sich scheinbar entgehen lässt, über die Affektkapitel in der ersten Hälfte des zweiten Buches der Rhetorik zu sprechen – jedoch hält sich diese Verwunderung nur beim ersten Hinsehen. Tatsächlich ist es nämlich so, dass Rainolds bereits die

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Christof Rapp

erste sich bietende Gelegenheit, nämlich die erste Erwähnung von Affekten in der Vorlesung über das 2. Kapitel, nutzt, um sich in aller Ausführlichkeit zu den Affekten zu äußern und hierfür auch Lesefrüchte aus den Affektkapiteln des zweiten Buches der Rhetorik zu verwenden. Um einen allgemeinen Eindruck von Rainolds’ Interessenschwerpunkten zu geben, sollen im Folgenden kurz einige der bemerkenswertesten Themen und Behauptungen vorgestellt werden. Im Anschluss daran werden zwei Themen näher erläutert, die am ehesten ethische Fragestellungen berühren, nämlich das Thema der Affekte und das Thema des Glücks.

III.  Einige Hauptthemen von Rainolds’ Vorlesung In der Einführungsvorlesung führt Rainolds aus, dass die drei Bücher der Rhetorik den Aufgaben des Lehrens (docendi), des emotionalen Bewegens (movendi) und des Erfreuens (delectandi) (96)14 gewidmet seien. Das Lehren werde durch Argumente, das Bewegen durch die Affekte und das Erfreuen durch Schmuck bewirkt. Die Unterscheidung, die Rainolds hier verwendet, resultiert aus einem verbreiteten Lehrstück der Schulrhetorik, ist Aristoteles selbst jedoch gänzlich fremd: Das rhetorische Beweisen ist für Aristoteles kein Lehren, das Erfreuen stellt sich primär durch das Verstehen oder das leichte Verstehen ein, und das Erfreuen durch Schmuck ist überhaupt kein eigenständiges Ziel seiner Rhetorik. Im Verlauf der Vorlesung greift Rainolds diese Trennung der rhetorischen Ziele immer wieder an, so als sei sie eine Aristotelische Erfindung. Er zitiert zustimmend Agricola, der sagt, wir beweisen immer, auch wenn wir bewegen und wenn wir erfreuen (170 und 178). Man bewege den Zuhörer, sagt Rainolds daher, auch indem man Argumente vorbringt. Die Rhetorik sei von größtem Nutzen für die Bewahrung der civitas (96) – wenn sie denn auf richtige Weise gebraucht wird, wenn sie auf falsche Weise gebraucht wird, sei sie perniciosissima (98). Damit erfasst Rainolds ganz zutreffend, dass Aristoteles auch selbst seine Redekunst als neutrales Instrument betrachtet, das zwar in höherem Maße auf Sachhaltigkeit und Vernünftigkeit drängt als einige der Vorgängerrhetoriken und das noch überzeugender ist, wenn es sich der Verteidigung des Rechten und Guten annimmt, das aber dennoch so oder so, gut oder schlecht, gebraucht werden kann und somit den Missbrauch nie vollständig ausschließt.15 Ganz zutreffend arbeitet er auch gegen Cicero heraus, dass der Begriff antistrophos (Gegenstück), mit dem Aristoteles das Verhältnis von Rhetorik und

14 

Die Seiten- und ggf. Zeilenangaben zu Rainolds’ Vorlesung beziehen sich auf die Ausgabe von L. D. Green: John Rainolds’s Oxford Lectures, a. a.O. [Anm. 2]. 15  Siehe dazu Aristoteles, Rhetorik I.1, 1355a29–38.

John Rainolds über ethische Aspekte der Aristotelischen Rhetorik

185

Dialektik beschreibt, keine Entgegensetzung, sondern eine außerordentliche Verwandtschaft und Nähe der beiden Disziplinen bezeichne (106).16 Rainolds macht deutlich (100), dass diejenigen falsch liegen, die Rhetorik nur mit dem Gebrauch von Tropen, Perioden und sprachlicher Ausschmückung verbinden – all dies sei nicht der Kern der Rhetorik. Mit Bezug auf Vives diskutiert er auch gleich zu Beginn die Frage (98–100), wann die richtige Zeit für das Erlernen der Rhetorik gekommen sei. Mit Vives lehnt er die Gewohnheit ab, die Unterrichtung in Rhetorik gleich auf den Grammatikunterricht folgen zu lassen. Mit Bezug auf Aristoteles’ Diktum am Beginn der Nikomachischen Ethik, dass ein junger Mensch nicht für die Vorlesungen über Moralphilosophie geeignet sei,17 will er die Rhetorik sogar tendenziell an den Schluss des Curriculums stellen, wenn Grundlagen in allen Künsten, der Moral, den Gesetzen und dem Umgang mit Affekten bereits gelegt sind. In den Vorlesungen zu den Kapiteln 8–12 setzt sich Rainolds mit der Aristotelischen Theorie des rhetorischen Beweises auseinander, wie sie im Wesentlichen in Kapitel 2 des ersten Buches der Rhetorik dargestellt wird. Das sind die Kapitel, in denen am ehesten Rainolds’ Zustimmung zu einzelnen Punkten von Agricola und Ramus zum Ausdruck kommt. Zu Beginn dieser Vorlesungsfolge setzt er sich ausführlich mit dem Status seiner Kritik an Aristoteles auseinander. Nachdem er schon zu früheren Anlässen die bekannte Formel von Aristoteles über seine Freundschaft zu Platon und der Wahrheit18 auf Aristoteles selbst angewandt hatte, führt er jetzt aus (176), in jedem Granatapfel finde sich eben mal ein verdorbenes Samenkorn; er selbst bietet sich generös an, zumindest einige Fehler in der Aristotelischen Beweistheorie auszumerzen. Peter Ramus wird in diesem Kontext als ein vortrefflicher und gelehrter Mann angeführt, der Aris­ toteles vielleicht von Zeit zu Zeit etwas zu harsch kritisiert, dies aber nicht aus Streitlust tut, sondern aus berechtigter Sorge darüber, dass die Sorbonnisten auch dann immer noch an Aristoteles glauben, wenn er sich offensichtlich irrt, während die, die die Wahrheit sagen, der Häresie verdächtigt werden.19 Was nun Rainolds selbst an Aristoteles’ Theorie des rhetorischen Beweises auszusetzen hat, ist vor allem Folgendes: (1.) Die Abtrennung der beweisenden Überzeugungsmittel – Beispiel und Enthymem (was Aristoteles selbst als logos zusammenfasst) – von êthos und pathos, Charakter und Affekt, da auch Beispiele und Enthymeme den Zuhörer zu milden (êthos) oder stärkeren (pathos) Affekten

16 Siehe

zu der manchmal etwas verqueren Rezeption dieses Begriffs auch Lawrence D. Green: Aristotelian Rhetoric, Dialectic, and the Traditions of antistrophos. In: Rhetorica 8 (1990) 5–27. 17  Siehe dazu Aristoteles, Nikomachische Ethik I.1, 1095a2–13. 18  Siehe dazu Aristoteles, Nikomachische Ethik I.4, 1096a11–17. 19  Zur Identität der »sorbonnistischen« Widersacher von Ramus vgl. P. Mack: A History of Renaissance Rhetoric, a. a.O. [Anm. 8]. U. a. griffen in Paris Pierre Galland (1510–1559) und Jacques Carpentier (1524–1574) die Thesen von Ramus heftig an.

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bewegen könnten.20 (2.) Die Behandlung von Beispiel und Enthymem als zwei gleichberechtigte Argumentationsformen: Vielmehr sei das Enthymem wie der Syllogismus eine argumentatio, das Beispiel und die Induktion ein argumentum, das Erstere die Form, das Letztere Materie. Dies wiederum sieht er bestätigt durch Ramus, der nur zwei formae argumentandi unterscheidet, nämlich syllogismus und enthymema – der Erstere vollkommen, der Letztere unvollkommen (perfectus – imperfectus).21 (3.) Da Rhetorik in der Lage sein soll, das Überzeugende in allen möglichen Dingen zu sehen, sei die Einschränkung von Enthymemen auf Zeichen und Wahrscheinliches beliebig (190 ff.).22 (4.) Es sei sinnlos, die Dialektik in apodeiktische und wahrscheinliche Argumentation zu unterteilen; alle dialektischen Argumente seien beweisend – apodeiktisch. Hierin folgt Rainolds nun wiederum Ramus; was ihn in der Richtigkeit dieser Auffassung bestätigt, ist der Gebrauch von apodeiknynai für den rhetorischen Beweis. Hiergegen könnte man nun einwenden, es gebe im Griechischen einen weiteren unter­ minologischen und einen engeren terminologischen Gebrauch der Ausdrücke apodeixis und apodeiknynai, und Rainolds ist sich dieses Einwands auch bewusst, tut aber entsprechende Bedenken, wie sie bei Vettori und »dem Rest der Herde serviler Interpreten« (250) formuliert sind, mit einer nonchalanten Geste ab. Kommen wir zum Ende dieses Überblicks noch kurz auf ein Beispiel zu sprechen, das ganz gut für den Übergang von den eher rhetorischen Erwägungen zu den ethischen Themen geeignet scheint. In den Vorlesungen zu den Kapiteln 13 bis 16 greift Rainolds Aristoteles ungewöhnlich scharf wegen dessen Unterteilung der drei Redegattungen – Politische Rede, Gerichtsrede, Lobrede – an. Aristoteles unterteilt diese nach Hörer, Zeitstufen und Zielen (in Rhetorik I.3), und es ist sicherlich richtig, dass diese Unterteilung einige Sonderlichkeiten aufweist, z. B. weil Aristoteles gewisser20 Aus

Aristotelischer Sicht scheint das eine überraschende Auffassung, da es sich beim êthos nicht um einen milden Affekt und schon gar nicht um einen Affekt derselben Personengruppe, nämlich der Zuschauer, sondern um den Charakter des Redners und dessen Darstellung handelt – und bei der Charakterdarstellung des Redners wiederum geht es primär um die Glaubwürdigkeit und den Ausschluss von Gründen, mit denen man diese Glaubwürdigkeit anzweifeln könnte. Mit einem »milden« Affekt hat das alles wenig zu tun. 21  Diese Gegenüberstellung geht auf die traditionelle Auffassung zurück, das Enthymem sei ein »unvollständiger«, weil »verkürzter« Syllogismus. – Allerdings definiert Aristoteles das Enthymem nirgendwo durch dessen logische »Unvollständigkeit«. Tatsächlich spricht er in den Ersten Analytiken von »vollkommenen« Syllogismen, jedoch meint er damit die Syllogismen der ersten Figur sowie den Umstand, dass die Gültigkeit dieser Syllogismen durch nichts anderes bewiesen werden muss. 22  Es ist nicht klar, ob Aristoteles tatsächlich das Enthymem auf Zeichen und Wahrscheinliches einschränken möchte. Was er tatsächlich sagt, ist, dass es die Rhetorik überwiegend mit Dingen zu tun habe, die nicht notwendig, sondern lediglich in der Regel gelten (damit würde er auch die Prämisse zurückweisen, dass Rhetorik auf wortwörtlich alles anzuwenden sei). Über Letztere könne man aber keine notwendigen Aussagen machen, sondern lediglich Aussagen, die behaupten, dass sich Dinge eben nicht immer, sondern meistens oder in der Regel so verhalten. Betrachtet man den Status solcher Aussagen als auf »Wahrscheinlichkeit« beruhend, dann hätte es Rhetorik für Aristoteles überwiegend mit Wahrscheinlichem zu tun.

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maßen aus Systemzwang der Lobrede die Zeitstufe der Gegenwart zuweisen muss, nachdem die der Zukunft schon für die politische Rede und die der Vergangenheit für die Gerichtsrede vergeben war. Der scharfsinnige Rainolds bemerkt das natürlich sofort; was er dann aber über viele Seiten hin kritisiert, ist Aristoteles’ Zuteilung von Zielen – nach dieser nämlich habe es die politische Rede nur mit dem Nützlichen zu tun, während es die Lobrede mit dem Edlen und die Gerichtsrede mit dem Gerechten zu tun habe. In einer teils deskriptiven, teils funktionsbezogenen Einstellung sagt Aristoteles hierüber, dass in der politischen Rede oft gar nicht erwogen werde, ob es gerecht sei oder nicht, die Grenznachbarn im Falle einer Niederlage in die Sklaverei zu führen.23 Die moralische Bewertung eines solchen Tuns steht an dieser Stelle der Aristotelischen Rhetorik gar nicht zur Debatte. Dennoch entzündet sich Rainolds’ moralische Empörung an just dieser Unterteilung: Etwas in der Rede als nützlich zu empfehlen, was nicht auch lobenswert und gerecht wäre, sagt Rainolds, sei schlechthin unmoralisch (144). Offenbar kann Rainolds mit einer rein funktionalen Unterscheidung der Redegattungen wenig anfangen und nichts mit dem Gedanken, dass, was auch immer der Redner selbst an Zielen verfolgen mag – moralische oder unmoralische –, das Nützliche eben der Aspekt ist, unter dem in der Volksversammlung bestimmte Angelegenheiten diskutiert werden. Hatte er zu Beginn noch nüchtern festgestellt, dass es der gute oder schlechte Gebrauch ist, der über den Nutzen oder Schaden der Rhetorik entscheidet und nicht die Kunst der Rhetorik selbst, empört er sich jetzt darüber, dass die Kunst eine Redegattung vorsieht, bei der das Nützliche getrennt vom Lobenswerten und Gerechten behandelt wird. Was ihm hier vorzuschweben scheint, ist eher so etwas wie die christliche Version des Ciceronischen Bilds vom Redner als vir bonus – als eines moralischen Menschen, der durch seine Integrität den Missbrauch der Rhetorik ausschließt. Das ist allerdings nicht das Aristotelische Modell einer dialektischen und daher für gegensätzliche Ziele anwendbaren Rhetorik, und daher wirken die diesbezüglichen Einwände etwas unvermittelt. Damit sind wir schließlich bei moralphilosophischen Themen angekommen; als erstes Beispiel soll Rainolds’ Behandlung der Affekte oder Emotionen vorgestellt werden, die vielleicht zu den systematisch anspruchsvollsten Partien der ganzen Vorlesung gehört.

A.  Erstes Beispiel zur Ethik: die Affekte Im ersten Kapitel seiner Rhetorik tadelt Aristoteles nach nur wenigen Zeilen seine Vorgänger dafür, dass sie sich ausschließlich damit befasst hätten, wie man durch die Erregung von Affekten die Richter verwirre. Damit lenkten sie von der Sache ab und verdunkelten nur das Urteil. Den Richter durch Affekte auf23 

Siehe hierzu Aristoteles, Rhetorik I.3, 1358b36–37.

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zurütteln und abzulenken, sei nun, wie wenn man die Messlatte, die man gebrauchen will, zuerst verbiege.24 Ein bekanntes Problem für die Kohärenz der Aris­ totelischen Rhetorik – vielleicht das bekannteste Problem überhaupt – besteht nun darin, dass Aristoteles bereits im zweiten Kapitel der Rhetorik die Erregung von Affekten als ein kunstgemäßes Überzeugungsmittel einführt und in der ers­ ten Hälfte des zweiten Buches eine viel rezipierte und oft gelobte Analyse von einem guten Dutzend einzelner Affektarten gibt. Wie man nun die Passagen, die die Affekterregung empfehlen, mit der Kritik an der Affekterregung der Vorgänger vereinbaren soll, ist nicht auf den ersten Blick deutlich. Gerade auch die Kommentare der Renaissance gehen sehr ausführlich auf dieses Problem ein. Rainolds wendet sich diesem Problem, wie gesagt, bei der ersten sich bietenden Gelegenheit zu. Formal betrachtet gibt er eine Diskussion ad utramque partem, bei der er zuerst 18 Gründe nennt, warum man keine Affekte erregen darf, und dann eine entsprechende Anzahl von Gründen, warum dies doch möglich und sogar empfehlenswert sei. Allerdings strebt er hierbei kein Gleichgewicht der Gründe an, sondern nennt erst die Einwände gegen die Affekterregung, entfaltet dann in Kürze eine eigene Theorie der Affekte, um schließlich im Lichte dieser eigenen aristotelisch inspirierten Theorie die anfänglichen Einwände zu entkräften. Damit sieht er sich grundsätzlich auf der Seite des Aristoteles, dessen vermeintliche Inkonsistenz in der Rhetorik er so erklärt, dass erst die falschen Praktiken und Begründungen ausgeräumt werden müssten, bevor das Wahre und Richtige etabliert werden kann.25 Für die Formulierung der Einwände greift Rainolds Hinweise des Aris­toteles auf, expliziert und differenziert diese. Er führt aber auch unabhängige Gründe an, die man gegen die Affekterregung vorbringen könnte, wie z. B. die stoische Auffassung, dass Affekte im Allgemeinen wie Krankheiten zu vermeiden seien. Vor allem aber gibt er eine Abundanz an Beispielen, mit denen er vor allem rhetorisch geglänzt haben dürfte.26 Eine Entscheidung in der Streitfrage, ob die Affekterregung richtig ist oder nicht, sagt Rainolds, sei nur möglich, wenn man zuvor die Natur der Affekte bestimme. Um dies zu tun, verweist Rainolds erst auf den allgemeinen Rahmen von Aristoteles’ De Anima II & III und gibt dann eine gewissermaßen vulgarisierte Version der Platonisch-Aristotelischen Seelenlehre. Es gebe zwei Teile der Seele – nous und thymos, im Lateinischen: mens und animus. Der höhere Seelen24 

Siehe hierzu Aristoteles, Rhetorik I.1, 1354a11–26. ist sicherlich nicht unplausibel. Denn in der Tat greift Aristoteles eine Praxis der Vorgänger an, bei der die Erregung von Affekten im Mittelpunkt der rhetorischen Technik steht, wodurch anderes – vor allem die Beweise und Argumente – vernachlässigt wird. Wenn er danach selbst die Affekte ausführlich behandelt, heißt es nicht, dass er die zuvor kritisierte Praxis empfehlen will, sondern eine Erregung der Affekte als Teil einer umfassenderen Theorie des Überzeugens. 26  Besonders in diesen Abschnitten versteht man, warum Rainolds mit der Entstehung des manierierten Stils des »Euphuism« in Verbindung gebracht wird (siehe M. Feingold: Rainolds, John, a. a.O. [Anm. 2]). 25  Dies

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teil wird dann als intellectus, der niedrigere als appetitus bestimmt; der Erstere sei für Wahrheit und Falschheit der Ideen (notiones) über die Dinge zuständig, der Letztere für die Unterscheidung von gut und schlecht in den Handlungen. Der allmächtige Schöpfer (oder was die Griechen »Natur« nannten) habe dies so eingerichtet, damit der Mensch die Wahrheit erkenne und Tugend in den Handlungen verwirkliche. Dem Intellekt habe er zur Verwirklichung seiner Aufgabe Allgemeinbegriffe (communes notitiae) mitgegeben, die Platon »ideai«, Aristoteles »prolêpseis«27 und der philosophische Laie »koinas ennoias« nenne. Dem niedrigeren Seelenteil, der sich zum höheren wie ein Knecht verhalte, habe der Schöpfer zwar keine Allgemeinbegriffe, dafür aber Affekte mitgegeben. Der Affekt sei daher eine natürliche von Gott eingepflanzte commotio animi für die Verfolgung des Guten und das Vermeiden des Schlechten.28 Die nähere Inter­ aktion von intellectus und appetitus erläutert er wie folgt: In den niedrigeren Teil der Seele, d. h. im appetitus sind die Affekte eingepflanzt wie Stimuli, die die träge Person aufrütteln, um Dinge auszuführen, die der Geist bestimmt hat. Wahres Wissen von den guten und schlechten Dingen hänge nämlich vom intellectus ab: Aber wenn diese bekannt sind, liegt das Streben nach guten Dingen und das Streben nach Vermeidung der schlechten Dinge im appetitus.29 Beispiel: Der Intellekt lehre, dass Faulheit schlecht sei, der appetitus steuert eine Abneigung bei, damit wir sie vermeiden. Oder der Intellekt lehre, dass Fleiß gut sei, der appetitus steuert die Liebe zum Fleiß bei, auf dass wir ihn umarmen. Der Intellekt lehre, dass Elenden zu helfen sei, der appetitus bewirkt Mitgefühl, so dass wir helfen. Auf diese Weise werden wir durch Affekte wie durch Sporne angetrieben, alle edlen Dinge zu tun und tadelnswerte Verfehlungen zu verachten. Wir lieben die Tugenden, die gelobt werden, fühlen Schmerz mit Menschen, die von Fehlern heimgesucht sind, und freuen uns mit den guten Menschen, die mit Ehren bedacht werden, wir bemitleiden die Bettler, usw.; schließlich fühlen wir fromme Verehrung für Gott, Achtung für das Vaterland, Liebe gegenüber den Mitmenschen und haben ein Pflichtgefühl gegenüber allem, was wir tun sollen.30 27 

Es ist etwas schleierhaft, wie er darauf kommt. Der Begriff der prolêpsis kommt klarer­ weise aus der hellenistischen, nach-aristotelischen Philosophie und ist vor allem von den Stoikern geprägt worden. 28  »Est igitur affectus, naturalis a Deo indita, ad bonum persequendum fugiendum malum, animi commotio« (142,13–15). 29  »Inferiori animae parti id est appetitui, ingenerantur affectus, quasi quidam stimuli qui torpentem excitent, ad ea exequenda quae mens decrevit. Nam vera bonorum & malorum cognitio ab intellectu pendet: cognitorum autem, bonorum appetitio, malorum declinatio, in appetitu sita est« (140,20–25). 30  »Ita affectibus quasi calcaribus ad omnia praeclara perficienda stimulamur; vitia quae arguuntur horremus; virtutes quae praedicantur amamus; homines iniuriis affligi dolemus; bonos honoribus ornari laetamur; miseremur supplices, detestamur improbos, probitate delectamur; facinoribus offendimur, timemus noxia, cupimus utilia; pietatem in Deum, caritatem in patriam, amorem in homines, officium in omnes ut debemus, exercemus« (140,31 – 142,6).

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Der Absatz berührt viele interessante philosophische Fragen, arbeitet aber keine davon näher aus. Die emotionalen, affektiven Regungen folgen dem Intellekt, der bestimmt, was gut und schlecht ist. Das stimmt nicht ganz mit der früher referierten Ansicht überein, der Intellekt sei für die Wahrheit der Ideen, der niedrigere Seelenteil für die Unterscheidung von gut und schlecht in den Handlungen zuständig. Wenn überhaupt, dann wäre nach dieser Beschreibung der niedrigere Seelenteil für das Verfolgen der guten und der schlechten Handlungen zuständig (gewissermaßen als principium executionis und nicht als principium diiudicandi). Und das scheint in der Tat die motivationale Hauptthese zu sein, die Rainolds hier vertritt: Verschiedenen, vom Intellekt als gut eingestuften Dingen entsprechen verschiedene Strebensarten, die die entsprechenden Dinge anstreben. In unserem Abschnitt werden vor allem solche Beispiele genannt, bei denen die Strebensart einem uns bekannten Affekt entspricht. Rainolds scheint sagen zu wollen, dass die Erkenntnis des Guten und Schlechten allein ohne den entsprechenden Affekttyp motivational ineffektiv wäre, also nicht zu den entsprechenden Handlungen führen würde. Um diese These besser zu verstehen, wüsste man gerne mehr darüber, wie und unter welchen Umständen es kommt, dass die Affekte dem Urteil des Intellekts folgen (allgemeinmenschliche Erfahrung lehrt jedenfalls, dass sie es nicht immer tun). Allerdings bleibt genau dieser Zusammenhang vage, weil die Partizipialkonstruktion »cognitorum autem – wenn sie/ weil sie – die guten und schlechten Dinge – als solche bekannt werden« (140, 24) unterschiedlich ausgedeutet werden kann. Rainolds scheint von der positiven Potenz der Affekte so angetan, dass er gar nicht auf die Phänomene eingeht, dass die Strebungen auch hinter dem als gut Erkannten zurückbleiben können und dass bestimmte Affekte unserem intellektuellen Urteil über das Gute eher entgegenwirken. Man hat den Eindruck, dass er sich hier in einer insofern intellektualistischen Position behaglich einrichtet, als die Affekte und der appetitus dem Urteil des Intellekts immer oder normalerweise oder in allen relevanten Fällen folgen. Und vielleicht sieht er sich zu einer derart optimistischen Annahme berechtigt, weil es in der vom Schöpfer eingerichteten Natur der Affekte liegt, eine bestimmte Funktion auszuüben. Genau diese Zweckbestimmung, die in seinem eigenen kurzen Abriss göttliche Quellen hat, sieht er aber auch bei den Peripatetikern gegeben (144), von denen er sagt, sie hätten im Gegensatz zu den fanatischen Stoikern erkannt, dass die Affekte unserer Seele zu unserem eigenen Vorteil gegeben seien: Furcht nämlich, um vorsichtig zu sein, Mitleid für mitfühlende Handlungen, und Wut/Zorn, um den Stein der Tapferkeit zu schärfen. Insgesamt haben wir es hier also mit einer platonisch-aristotelisch inspirierten und christlich reinterpretierten Seelenlehre und mit einem aristotelisch-peripatetisch gefärbten Affektbegriff zu tun, der den Affekt aber gänzlich vom Intellekt abhängig macht, indem der kognitive Akt sowohl dem nicht-rationalen Seelenteil einen geeigneten Strebensgegenstand für einen bestimmten Affekttyp präsentiert als auch sicherzustellen scheint, dass man die vom Intellekt als richtig

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eingestuften Dinge auch unbedingt erstrebt. Insofern die Affekttypen als Strebensarten ausdifferenziert werden, haben sie etwas Stoisches, wenngleich Rainolds bei diesem Thema alle stoischen Anklänge vehement zurückweist. Schaut man wiederum auf die verschiedenen Beispiele und die darin implizierten Definitionen einzelner Affekttypen, dann ist es wahrscheinlich, dass sich Rainolds dafür vom zweiten Buch der Aristotelischen Rhetorik hat inspirieren lassen. Was nun die rhetorische Legitimität der Affekterregung angeht, so ist gar nicht ohne weiteres klar, inwiefern Rainolds’ systematischer Abriss einer Affekttheorie eine klare Antwort liefern kann. Sein ganzer Stolz liegt darin, gezeigt zu haben, was für eine nützliche, von Gott eingerichtete Rolle die Affekte spielen, und allein daher könne man nicht auf die Idee kommen, sie generell vermeiden zu wollen. Sie sollen in der Rhetorik gebraucht werden (152) nicht wegen des Schadens, sondern wegen des Vorteils, den sie bewirken können, nicht um die Messlatte zu verbiegen, sondern um die verbogene Messlatte wieder gerade zu machen. Auf diese Weise könnten sie Laster, Ungerechtigkeit und Schändliches verhindern und Tugend, Gerechtigkeit und Integrität verteidigen. So werde ein Richter einen vorliegenden Fall gerechter beurteilen, wenn er vom Hass gegen den Übeltäter entbrannt ist. Den naheliegenden Einwand, dass sich die Affekt­ erregung bei seiner Theorie ja geradezu erübrigen könnte, wenn die Affekte doch dem richtigen Urteil ohnehin folgen, repliziert er mit dem eher konventionellen Hinweis, dass, wenn Unerfahrene richten sollen, man sie täuschen müsse, damit sie sich nicht selbst täuschen (146). Abschließend kann man vielleicht konstatieren, dass Rainolds’ Auffassung über Affekte insofern bestimmten Überzeugungen über die rhetorische Kunst entspricht, als er sich ja vehement weigerte, das movere vom docere zu trennen. Wenn wir also mit Beweisen und Argumenten immer auch bewegen, dann setzt das voraus, dass Affekte durch etwas auf rationale Weise Bewiesenes zustande kommen und nicht durch zusätzliche Tricks und Techniken bedient werden müssen. Nach der von Rainolds vertretenen Motivations- und Affekttheorie scheint dies nun in der Tat möglich: Der Beweis spricht den Intellekt an, der etwas als gut oder schlecht erkennt, und der appetitus liefert dazu die passende Strebung, also die passende Affektart. Das scheint einerseits aristotelisch gedacht, insofern als auch für Aristoteles Affekte durch bestimmte Meinungen und Urteile ausgelöst werden können, es ist andererseits unvereinbar mit der im dritten Buch der Aristotelischen Rhetorik gegebenen Empfehlung, Beweise und Affekt­erregung nie zugleich anzustreben, weil das eine die Wirkung des anderen aufhebe.31

31  Siehe hierzu Aristoteles, Rhetorik III. 17, 1418a12–16: »Auch dann gebrauche kein Enthymem, wenn du Emotionen erregst; entweder nämlich wird es die Emotion verdrängen oder es wird vergeblich gebraucht worden sein. Denn gleichzeitige Bewegungen verdrängen einander und löschen sich entweder aus oder machen sich gegenseitig schwächer.«

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B.  Zweites Beispiel zur Ethik: das Glück Im fünften Kapitel des ersten Buches der Rhetorik führt Aristoteles aus, was Glück sei, um dem Redner zu ermöglichen, im Hinblick auf das Glück als Ziel zu argumentieren. Er gibt im Grunde vier alternative Definitionen des Glücks, es sei nämlich »(1) gelingendes Handeln verbunden mit Tugend oder (2) Selbstgenügsamkeit des Lebens oder (3) das angenehmste mit Sicherheit verbundene Leben oder (4) reichliches Vorhandensein von Besitz und körperlichen Gütern verbunden mit der Fähigkeit, diese zu bewahren und damit umzugehen.«32 Im Anschluss stellt Aristoteles fest, dass wenn dies das Glück sei, bestimmte andere Dinge dann notwendigerweise Teile des Glücks seien; diese anderen Dinge entpuppen sich als Güter, nämlich äußere Güter, Güter des Körpers und Güter der Seele; im Einzelnen nennt er edle Herkunft, zahlreiche Freundschaften, wertvolle Freundschaften, Reichtum, gute Nachkommen, zahlreiche Nachkommen, ein gutes Alter, ferner die Vortrefflichkeiten des Körpers – wie Gesundheit, Schönheit, Stärke, eine große Statur, athletische Fähigkeiten –, gutes Ansehen, Ehre, Glück zu haben, Tugend.33 Rainolds scheint nun schon bei der vierfachen Definition des Glücks auf Angriff eingestellt zu sein: Unmissverständlich bringt er zum Ausdruck, dass er alle für falsch und vulgär halte.34 Jedoch scheint bei dieser vierfachen Definition des Glücks der Unterschied zur Glücksdefinition der Aristotelischen Ethik so deutlich, dass er sich Vettoris Meinung anschließt, es handle sich nicht um Aristoteles’ eigene Ansicht, sondern um die Aufzählung gängiger Meinungen.35 Allerdings vollzieht er wenige Sätze später eine überraschende Volte: Die partitio beatitudinis, die Unterteilung des Glücks, wenn auch nicht die Definition desselben, sei nun doch von solcher Art, dass sie mit der Ansicht der Ethik übereinstimme und deshalb von der wahren Natur des Glücks abweiche.36 Und daher benutzt er die von Aristoteles angegebenen Teile des Glücks – die vermutlich nicht weniger als Rekonstruktion der üblichen Auffassung gedacht sind als die Definition selbst –, um zu einem Rundumschlag gegen den Aristotelischen Glücksbegriff aus einer gewissermaßen puritanisch-asketischen Sicht auszuholen. Er nimmt nämlich die Aufzählung von Glücksgütern zum Anlass zu argumentieren, dass Aristoteles diese Güter für notwendige und wesentliche Bestandteile des Glücks hält. Umständlich und etwas ausweichend bemüht er das Zeugnis von Cicero, Laktanz und den Peripatetikern, um zu zeigen, dass für Aristoteles 32 Aristoteles, Rhetorik

I.5, 1360b14–17. I.5, 1360b18–23. 34  »Hic autem multo impurius haurit de faece; ut videatur Victorio, non suas sed vulgi sententias explicare. Proponit enim varias definitiones beatae vitae; quarum mihi, ut ingenue fatear, placet nulla; a veritate, certo scio declinant omnes: si ad vulgi captum, satis populariter; nimis sordide, si ad suam sententiam beatitudinem definivit« (278,9–15). 35  Siehe das in der vorigen Fußnote gegebene Zitat. 36  »[…] tamen partitio beatitudinis quam adiungit est eiusmodi, ut & illius opinioni in ethicis consentiat, & a natura beatitudinis vehementer declinet.« 33 Aristoteles, Rhetorik

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das gute Leben im Besitz von seelischen und körperlichen Gütern sowie von Glücks-/Zufallsgütern bestehe.37 Er unterschlägt dabei, dass Aristoteles einen wichtigen Unterschied zwischen seelischen Gütern und anderen Gütern macht, insofern als für ihn nur die Tugenden auf nicht-ambivalente Weise gut sind, während alle anderen Güter gut oder schlecht gebraucht werden können.38 Er unterschlägt auch, dass Aristoteles in der Ethik für eine differenzierte Position argumentiert, die den äußeren Gütern nur einen relativen Wert als Ermöglichung für die Ausübung von Tugenden beimisst, um sich so vorsichtig von der implausiblen These der absoluten Suffizienz der Tugenden für das Glück zu befreien. Der Anlass zu dieser Fundamentalkritik scheint in der Tat in der Anerkennung eines gewissen Werts für äußere und körperliche Güter zu liegen – wobei, wie gesagt, die Anerkennung dieses Werts in den Ethiken nur ein relativer ist, und die Wiederkehr dieser Güter in der Rhetorik vermutlich keine Rückschlüsse auf Aristoteles’ eigene Auffassung zulässt. Rainolds wehrt sich hier auch gegen die in der Scholastik vertretene Auffassung, das Leben der äußeren Güter beziehe sich auf das irdische Glück, während es daneben noch ein himmlisches, jenseitiges Glück gebe. Vielmehr führt er aus, dass das höchste Gut nur eines sein könne und dass es deshalb nur das himmlische Glück gebe.39 Hierfür wiederum führt er Christus selbst als Kronzeugen an: Entweder Aristoteles hat Unrecht oder Chris­ tus. Wenn Christus Recht hat, liegt Aristoteles falsch (modus ponendo tollens).40 Rainolds argumentiert außerdem, dass nach der Aristotelischen Glückskonzeption, die er mit dem Besitz von Gütern gleichsetzt, niemand glücklich sein könne, da man immer nach etwas strebe, was nicht in einem selbst liege. Der Aristotelische Glücksbegriff sei daher lediglich ein Abbild des Glücks, das nach dem schmutzigen Abschaum vulgärer Auffassungen gefertigt sei.41 Er bezeichnet Aristoteles’ Glückskonzept daher auch als »akkumulativ« und stellt es dem einfachen, selbstgenügsamen Konzept der Stoiker gegenüber, das auch von den christlichen Märtyrern bestätigt werde.42 Die Kritik an den einzelnen äußeren 37  »Definitiones excipit partitio; ex qua efficitur ut beatitude sit cumulate bonorum omnium complexio. Quo tendunt etiam ea quae dicuntur l.1.d. morib. Ac ut testantur M. Tullius et Lactantius, ea Peripateticorum, Aristotele duce, fuit opinione, ut in bonis animi & corporis & fortunae vitam beatam sitam esse iudicarent. Sententia speciosa, si verba spectes: subabsurda opinio, si rem expandas. Nam si vere, ut inquit ille, rara est concordia formae atque pudicitiae: quanto rarior vel nulla potius est concordia bonorum omnium?« (284,23–32). 38  Siehe hierzu Aristoteles, Rhetorik I.1, 1355b2–7. 39  »Stulte, una tantum est beatitudo; coelestis. Nam beatitudo est summum bonum; & plura summa bona esse non possunt, nec enim summum est qui est superius. Quodsi civilitatis felicitas, summum bonum est, summum non est« (292,28–30). 40  »Aut Aristoteles fallitur aut Christus. Si recte Christus, male Aristoteles« (292,32–33). 41  »Non est autem beatus qui bonum aliquod desiderat; nam bona omnia beato, in ipso sunt posita; & tamen desideret necesse est si sapiat; porro nisi sapiat non est beatus: ex quo efficitur; beatum Aristotelis, praestantius aliquod bonum desiderare; & propterea non esse in summi boni possessione. Non est igitur ea quam somniat beatitude, vera beatitude, sed imago beatitudinis a sordida faece vulgi sculpta, ab Aristotele alucinante descripta« (294,11–18). 42  «Quare vehementer alucinantur, nisi veteres omnes falli iudicabimus, recentes Dunsi no-

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Gütern und Zufallsgütern nimmt daher einen erheblichen Raum in Rainolds’ Vorlesungen ein. So lässt er sich darüber aus, dass, wenn eine große Zahl von Kindern zum Glück gehöre, auch die kinderlosen Päpste in Rom nicht glücklich sein könnten. In den entsprechenden Vorlesungen gleitet dann auch das Niveau der Diskussion merklich ab und man sieht sich einer Polemik ausgesetzt, die der vermittelnden Position des Aristoteles in der Frage des relativen Werts äußerer Güter kaum gerecht wird und die Aufzählung von Glücksgütern in der Rhetorik etwas willkürlich als Aristotelische Doktrin deklariert, wo doch schon früheren Kommentatoren klar gewesen zu sein scheint, dass es hier lediglich um die Explikation gängiger Ansichten geht. Obwohl Rainolds’ Ausführungen zur Aristotelischen Rhetorik an vielen Stellen einen guten Blick für mögliche Brüche und erklärungsbedürftige Spannungen im Text des Aristoteles beweisen und obwohl Rainolds oft ein Übermaß an Scharfsinn und Bildung bemüht, um relativ banale Zusammenhänge zu erläutern, gibt zumindest die dargestellte Diskussion des Glücks am Ende dann doch denen recht, die auch für die Rhetorikvorlesungen an die größere Mission von Rainolds erinnern: »Rainolds’ perspective on Aristotle in the 1570s is the familiar outlook of the Christian humanist whose one desire is to fill the minds of the young, not with useless subtleties, but with a rich spectrum of pagan wisdom, ready to be turned by those who understand it properly into harmonious instruction for a good life. It is pagan wisdom conveyed through Christian filters.«43

stri, qui simplicem, homines simplices, & aggregatam felicitatem ex Aristotele excudunt; cum illa sit Stoicorum, & reprehendatur ab Arist. Eth. L.1. c.4. haec Aristotelis, qui nemini putat Priamum beatum visum iri, quia calamitatibus oppressus de vita misere decessit. Sed ista opinio, ut ne Stoicis quidem probatur, qui beatum in tormentis moriturum putant, Christianis autem turpissima iudicatur, qui martyres ita mortuos beatissimos esse sciunt: ita satis evincit Aristotelis sententia beatum esse non posse [...]« (296,21–298,2). 43  J. McConica: Humanism, a. a.O. [Anm. 4] 306.

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Lutherische Debatten über die virtus heroica zwischen Heldentum und Askese I.  Einleitung: der Steckbrief des Helden Luther war ein Held, so lässt es der in seiner Zeit bedeutende Leipziger Professor für Metaphysik, Valentin Albert, im Jahre 1683 verlauten.1 Albert hatte dem Heldentum Luthers eine ganze Abhandlung gewidmet, die anhand einer Biographie nachweisen wollte, dass der Wittenberger in sich jede erdenkliche Form der Tugend vereinigte. Luther jedoch hatte in den Episoden seines Lebens mehr als nur ein Potpurri von moralischen Vorzügen an den Tag gelegt, er hatte jede virtus übertroffen und sie zu einer virtus heroica werden lassen. Seine in der Schrift begründete Tapferkeit, seine souveräne Verachtung der papistischen Bastionen und die Unerschrockenheit, mit der er dem römischen Antichristen gegenübergetreten war, hatten jedes menschliche Maß überstiegen.2 Auch seine constantia, seine Beharrlichkeit, und seine Großherzigkeit hatten Luther von allen gewöhnlichen Menschen abgehoben.3 Albert konnte, wie zu erwarten, mit einer ganzen Galerie von Beispielen aufwarten, von der Disputation mit Cajetan und dem Leipziger Streitgespräch bis zur Verbrennung der päpstlichen Bulle. Warum darüber hinaus ausgerechnet die erfolgreiche Unterbindung der Privatmessen dem Reformator zum besonderen Ausweis seines Heldentums werden musste, wird heute Alberts Geheimnis bleiben müssen.4 Der Leipziger Professor lässt seinem Heldengedicht auf Luther noch vergleichbare Eulogien auf andere Reformatoren folgen, vor allem auf Matthias Flacius Illyricus, der sich in seinem heroischen Antikatholizismus von seinem erheblich weniger heldenhaft agierenden Mitstreiter, dem irenistischen Lavierer Melanchthon, abheben konnte.5 Weder Luther selbst noch Flacius hätte man im Luthertum des 17. Jahrhunderts einem Kanonisierungsverfahren unterziehen können, um beide Figuren zweifelsfrei und autoritativ mit dem Stempel der moralischen Außerordentlich1  Mein ausdrücklicher Dank bei der Ausarbeitung dieser Studie gilt Risto Saarinen, der Alten Abteilung der Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen und der Alten Abteilung der Berliner Staatsbibliothek. 2 Valentin Albert – Christian Amos Bürger (resp.): De virtute heroica Lutherii, Matthiae Flaccii et Jacobi Andreae Dissertatio historica (Leipzig 1683), c. 1, §§ 7–17, fol. A4v–Bv. Zum gleichen Thema z. B. Christian Matthiae: Systema ethicum in tres libros distributum (Marburg 1627), Liber III, Exercitatio X, Disquisitio III, 275–280. 3  Albert – Bürger: De virtute heroica Lutherii [Anm. 2], c. 1, §§ 18–24, fol. Bv–B2v. 4  Ebd. c. 1, §§ 25–49, fol. B2v–C2r, zu den Messen § 42, fol. Cr. 5  Ebd. c. 2–3, fol. C2r–C4r. Andere Ethiker, darunter Julius Hartwig Reich: Institutionum ethicarum libri V (Kassel 1650), Liber V, c. 4, 294, betonen immerhin die mansuetudo heroica Melanchthons.

Archiv für Begriffsgeschichte · Sonderheft 12 · © Felix Meiner Verlag 2016 · ISBN 978-3-7873-2525-2

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keit zu versehen. Wunder waren darüber hinaus bei beiden Helden nicht belegt worden. Dass Valentin Albert seine Arbeit mit dem Titel ›De virtute heroica Lutheri‹ überschreiben konnte, lässt jedoch ahnen, dass man in seinen Kreisen, dem mitteldeutschen Protestantismus universitärer Prägung, zur Heiligkeit einen Alternativbegriff gefunden hatte und ihn auch als solchen favorisierte. Es war die heroische Tugend, nicht die sanctitas, über die der lutherische Vertreter der idealen Gerechtigkeit und Tapferkeit verfügen durfte. Aristoteles hatte in seiner Ethik mit etwas vagen Worten jenen tugendhaften Mann, der die Tugend auf die Spitze getrieben hatte, also über die superexcellentia virtutis verfügte, wie es in der lateinischen Übersetzung hieß, als göttlichen Mann apostrophiert; sein Beispiel war der Hektor des trojanischen Krieges gewesen.6 In dieser heroischen Tugend, die damit nur wenig bestimmt war, kulminierte wie in einem letzten Finalnexus jede Form von Tugendhaftigkeit. Ihr stand als Gegensatz, wie Aristoteles hinzufügt, die feritas, die Wildheit und Bestialität gegenüber, die größtmögliche Degeneration, zu der ein Mensch fähig war. Es war diese heroische Tugend, die für protestantische Ethiker der Frühen Neuzeit zum entscheidenden Vehikel wurde, um das Vakuum, das die Sanctitas und ihr Pendant, die Seligkeit, hinterlassen hatten, mit neuer Bedeutung zu füllen. Schon in den dreißiger Jahren hatte Rudolf Hofmann für die katholische Dogmatik zeigen können, dass die virtus heroica, begonnen bei den lateinischen Ethikkommentaren des Spätmittelalters, schrittweise zu einem Gegenstand des Interesses wurde; hier jedoch zuvorderst vermengt mit den Gaben des Heiligen Geistes.7 Als besondere Eigenschaft hatte sie, wie Hofmann im Detail nachweisen kann, in die Begrifflichkeit der Kanonisierungsprozesse Eingang finden können.8 Risto Saarinen hat in drei subtilen Aufsätzen zeigen können,9 dass auch im Mittelalter schon genuin säkulare Deutungen der heroischen Tugend im Umlauf waren, zumal bei Albertus Magnus oder Johannes Buridanus, sich die ersten Ethikkommentare jedoch vor allem die Frage gestellt hatten, ob die virtus heroica intellektuelle und moralische Tugend gleichermaßen umfassen konnte.10 Schon Saarinen hat deutlich gemacht, dass sich die protestantische Ethik dieser   6 Aristoteles: Ethica Nicomachea, hg. von Ingram Bywater (Oxford 1988) 1145a,15–20. Lateinisch als Aristoteles latinus: Ethica Nicomachea – Translatio Roberti Grosseteste (Aristoteles latinus 26,1–3), hg. von René Antoine Gauthier (Leiden 1973), Liber VII, c. 1,494.   7  Rudolf Hofmann: Die heroische Tugend. Geschichte und Inhalt eines theologischen Begriffes (München 1933) 30–112.   8  Ebd. 113–170.   9  Risto Saarinen: Virtus heroica. ›Held‹ und ›Genie‹ als Begriffe des christlichen Aristotelismus. In: Archiv für Begriffsgeschichte 33 (1990) 96–114, dort 96–100; ders.: Die heroische Tugend als Grundlage der individualistischen Ethik im 14. Jahrhundert. In: Individuum und Individualität im Mittelalter (Miscellanea Mediaevalia 24), hg. von Jan A. Aertsen und Andreas Speer (Berlin 1996) 450–463, hier 452–461; und ders.: Die heroische Tugend in der protestantischen Ethik. Von Melanchthon zu den Anfängen der Universität Turku. In: Melanchthon und Europa. 1. Teilband: Skandinavien und Mittelosteuropa, hg. von Günter Frank und Martin Treu (Stuttgart 2001) 129–138, hier 129 f. 10  Als Beispiele Albertus Magnus: Super Ethica commentum et quaestiones, hg. von Wil-

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Diskussion bemächtigen konnte, ihre mittelalterliche Vorgeschichte jedoch zu ihren Gunsten transformierte.11 Vorsichtig hatten Ethiker wie Philipp Melanchthon, Joachim Camerarius oder Hubertus van Giffen angedeutet, dass Gott als letzter Akteur diese Tugend im Menschen zur Vollendung bringen musste, doch war die Terminologie der heroischen Tugend bei diesen Autoren noch immer im Vagen geblieben.12 Ein erster Schritt ihrer Systematisierung war im ausgehenden 16. Jahrhundert getan worden, wie Saarinen ebenfalls anhand der Ethik des Franciscus Piccolomini hatte zeigen können.13 Hier soll die Perspektive noch geweitet werden, nämlich ins 17. Jahrhundert. Tatsächlich hatte kaum ein Segment der ›Nikomachischen Ethik‹ die Schulphilosophen dieser Epoche mehr fasziniert; jede Lutherische Ethik sollte der heroischen Tugend fortan ein eigenes Kapitel widmen. Vor allem jedoch wurde die virtus heroica an den protestantischen Universitäten zu einem Gegenstand, der in unzähligen Einzeldisputationen verhandelt wurde. Dieser Beitrag soll daher auch als Plädoyer dafür verstanden werden, dieser bisher wenig untersuchten Quellengattung stärker Beachtung zu schenken. Gleiches lässt sich ohne Zweifel auch von dem oft unterschätzten synkretistischen Schularistotelismus der protestantischen Scholastik des 17. Jahrhunderts als Ganzem behaupten. Vor allem in diesen Wittenberger, Leipziger, Jenenser, Altdorfer und Rostocker Kreisen, also den Bollwerken des universitären Protestantismus, verortet sich eine Variante der frühneuzeitlichen Aristotelesrezeption, deren Schriften im Unterschied zu den Ethikern des 16. Jahrhunderts noch immer nicht wirklich aufgearbeitet wurden.14

helm Kübel (Münster 1987) Liber VII, Lectio I, § 602, 517, oder Johannes Buridanus: Super decem libros Ethicorum (Paris 1513) (ND Frankfurt 1968), Liber VIII, q. 1, fol. 140raf. 11  R. Saarinen: Virtus heroica, a. a.O. [Anm. 9] 103–105; ders.: Die heroische Tugend in der protestantischen Ethik, a. a.O. [Anm. 9] 130–136. 12  Philipp Melanchthon: Philosophiae moralis epitomes libri duo et aucti (Straßburg 1542) Liber I, 58–60; Joachim Camerarius: Explicatio librorum Ethicorum ad Nicomachum (Frankfurt 1578) Liber VII, c. 1, 311–313; Hubertus van Giffen: Commentarii in decem libros Ethicorum Aristotelis ad Nicomachum (Frankfurt 1608) Liber VII, c. 1, 527–530. 13  R. Saarinen: Virtus heroica, a. a.O. [Anm. 9] 106–109. 14  Eine Synopse der reformierten Schulphilosophie gibt Wilhelm Schmidt-Biggemann: Die Schulphilosophie in den reformierten Territorien. In: Friedrich Ueberweg, Grundriß der Geschichte der Philosophie. Bd. 4: Das Heilige Römische Reich deutscher Nation, Nord- und Ostmitteleuropa, hg. von Helmut Holzhey und Wilhelm Schmidt-Biggemann (Basel 2001) 392–474; als Überblick über die Lutheraner Walter Sparn: Die Schulphilosophie in den lutherischen Territorien. In: Grundriss der Geschichte der Philosophie (Ueberweg). Bd. 4/1 (Basel 2001) 475–588.

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II.  Gott als Ursache des Helden Anders als im Spätmittelalter hatte sich mit dem Beginn des 17. Jahrhunderts in den Lutherischen Ethiken eine vergleichsweise klare Bestimmung des Heroen herausgebildet; ein pragmatischer Steckbrief des Helden, der dem wenig aussagekräftigen Phantombild, das Aristoteles beigesteuert hatte, erheblich an Kontur verleihen konnte. Damit freilich war dem Wunsch nach Präzision noch nicht Genüge getan, denn der mittelbar vielleicht erfolgreichste Terminus der ›Nikomachischen Ethik‹ wollte noch genauer bestimmt werden. Es entsteht das Panorama eines aristotelischen Ausnahmemenschen, der kein eskapistischer Eremit mehr sein sollte, sondern seine Tugenden als gesellschaftlich ökonomisierbare Talente ins Zentrum rückte, kein Athlet der Askese, sondern das Bild eines Reformers, von dem die Gesellschaft ebenso profitieren musste wie die Mitglieder der Kirche. Ausgehend von Bartholomäus Keckermann, Markus Friedrich Wendelin und Franciscus Piccolomini, Gelehrten, die drei der erfolgreichsten Ethiken ihrer Zeit geschrieben hatten,15 liefert Sigismund Pichler, ein Königberger Moralphilosoph, in einer eigenen Abhandlung zum Thema im Jahre 1650 folgende, vielleicht etwas sperrige Definition der heroischen Tugend: Die virtus heroica war ein moralischer Habitus, der besondere Menschen betraf und in Gott und seiner Gnade seinen Ursprung hatte. Er versetzte seinen Besitzer in die Lage, Gegenstände zum Objekt seiner Handlungen zu machen, die das Niveau des gewöhnlichen Menschen weit übersteigen mussten. War jemand im Besitz dieser heroischen Tugend, war er imstande, übermenschliche Aufgaben zu bewältigen, und zwar, wie Pichler noch hinzufügt, mit glücklichem Ausgang und zum Nutzen aller. Die moralische Tugend war also eine Tugend, doch zugleich war sie weitaus mehr; sie war eine Qualifikation, die den Menschen über seine Umwelt hinaushob und ihn, wie Aristoteles betont hatte, daher vergöttlichte.16 Dass diese Charaktereigenschaft nicht aus der Luft gegriffen war, sondern sie auch in der Wirklichkeit existierte, stand außer Zweifel, denn es gab, wie die mitteldeutschen Ethiker betonten, ihre Träger, die Helden. Zugleich fand sich, wie Wolfgang Heider, ein weiterer Moralphilosoph der Zeit, vermeldet, ganz offensichtlich auch das von Aristoteles fixierte Gegenteil, die Wildheit, deren

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Bartholomäus Keckermann: Systema ethicae tribus libris adornatum et publicis praelectionibus traditum (Hannover 1619) Liber III, c. 5, 344–357; Franciscus Piccolomini: Universa philosophia de moribus (Frankfurt 1601) Pars I, gradus VI, c. 1–23, 529–572; Markus Friedrich Wendelin: Philosophia moralis praeceptis succinctis methodice comprehensa (Harderwijk 1654) Liber I, c. 3, §§ 1–22, 99–110. 16  Sigismund Pichler und Johannes Reuter (resp.): Disputatio philosophica de virtute heroica (Königsberg 1650) § 10, fol A3v. Ähnlich z. B. auch Johann Dürr: Institutiones ethicae in tres partes secundum normam ordinis analytici digestae (Altdorf 1661) Pars III, Sectio IV, c. 1, § 2, 348.

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Existenz auch das Vorhandensein ihres Gegenstücks plausibel machen musste.17 Noch bevor man jedoch den Helden weiter spezifizierte, war fraglich, ob die heroische Tugend überhaupt ein Gegenstand der Ethik war, oder nicht doch eher ein Untersuchungsobjekt der Theologie. Die legitime Domäne der Ethik waren die moralischen Tugenden, wie die Aristoteliker der Frühen Neuzeit wiederholt zu verstehen gegeben hatten. Wenn die heroische Tugend nicht zum Kreis der moralischen Tugenden zählte, sondern womöglich wie Glaube oder Hoffnung zu den theologischen, musste sie aus dem Bereich der Moralphilosophie fallen. Auf den ersten Blick sprach einiges für diese zweite Annahme, denn die Standarddefinition enthielt, wie wir gesehen haben, zwei Faktoren, die gegen die Zugehörigkeit der virtus heroica zu den moralischen Tugenden sprach, Gott und das Übermaß. Wo die Theologie begann, hatte die gewöhnliche Ethik keinen Ort; die moralische Tugend definierte sich durch das Mittelmaß, die Mitte zwischen zwei Lastern, die zu bekämpfen sich der Held jedoch anmaßte. Auch die von Aristoteles beschworene Wildheit, ihr Gegenteil, schien der Zugehörigkeit der virtus heroica zu den moralischen Tugenden zuwiderzulaufen. Das gewöhnliche Laster, das der Tugend widersprach, schmälerte die Vernunft, die feritas, die Bestialität, die den Anti-Helden auszeichnete, schaffte sie jedoch zur Gänze ab, so Georg Hillischer im Jahre 1682.18 Natürlich zählte die heroische Tugend für die Mehrzahl der protestantischen Ethiker dennoch zu den moralischen Tugenden. Auch wenn Gott zu ihr den entscheidenden Beitrag leistete, bestand sie wie alle habitus aus einer Abfolge von Akten und richtigen Entscheidungen, wie Michael Wendeler betont; zugleich ließ sie die gewöhnliche Tugend zwar durch ihr Ausmaß und ihre Intensität hinter sich, nicht jedoch durch ihre Form, wie man konstatierte. Es war also legitim, die virtus heroica innerhalb der Ethik zu behandeln, auch wenn spätmittelalterliche Kommentatoren etwas anderes nahegelegt hatten.19 Gerade die heroische Tugend, so Georg Hillischer oder schon Franciscus Piccolomini, offenbarte darüber hinaus, dass die aristotelische Tugenddefinition im Unterschied zu möglichen stoischen Annäherungen die angemessenere war, denn sie schloss den Affekt mit ein. Gerade der Heroe tilgte seine Affekte nicht, sondern model17  Wolfgang

Heider: Philosophiae moralis systema seu Commentationes in universam Aris­ totelis ethicen (Jena 1629) Pars II, Divisio III, 415–417. Ähnlich z. B. Paul Rabe und Christoph Lefler (resp.): Disputatio politica de virtute heroica (Königsberg 1689) § 4, 9–12. 18  Georg Daniel Hillischer und Christian Friedrich Schütze (resp.): Disputatio moralis de virtute heroica (Wittenberg 1683) § 2, fol. A2vf. 19  Michael Wendeler und Johannes Christoph Rinckhammer (resp.): Ex philosophia morali de virtute heroica (Wittenberg 1662), q. 2, §§ 19–23, fol. A4v–Br. Einige Ethiker behalfen sich mit der Option, verschiedene Varianten der heroischen Tugend zu unterscheiden, eine pagane, die lediglich durch beharrliche exercitatio und doctrina das gewöhnliche Maß sprengte und der Ethik zuzurechnen war, und eine christliche, in der der Heilige Geist die Vollendung der Tugend herbeiführte und die Gegenstand der Theologie sein musste. Dazu Johannes Crellius: Ethica Aristotelica ad sacrarum literarum normam emendata, eiusdem Ethica christiana (Cosmopolis 1631) Pars II, c. 25, 181 f.

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lierte sie und lenkte sie in die richtige Richtung. Die klassischen Helden waren Männer von Leidenschaft gewesen; ja sie hatten, wie das Beispiel Alexanders des Großen, aber auch Luthers lehren konnte, bisweilen sogar Schwierigkeiten, ihren Zorn oder ihre Trauer zu beherrschen. Pichler geht noch einen Schritt weiter: Es musste besonderes Merkmal gerade der heroischen Tugend sein, den übergroßen Affekt zu terminieren, ob nun in Gestalt des Zornes oder des begehrenden Vermögens. Die Leidenschaft musste der Gefahr korrelieren, der sich der Held aussetzte, ja sie musste sich an ihr messen lassen.20 Schon Aristoteles, vor allem jedoch die mittelalterlichen Ethikkommentare, hatten den göttlichen Faktor in der heroischen Tugend hervorgehoben. Was verursachte sie? In übergreifendem Konsens bestimmen die protestantischen Ethiker Gott als erste Ursache der virtus heroica. Den Helden musste ein afflatus divinus, eine göttliche Einhauchung auszeichnen, die ihn der ungewöhnlichen Situation adaptierte und seine Fähigkeiten entgrenzte. Dieser afflatus verlangte nach weiterer Festschreibung. Einige Moralphilosophen, darunter Keckermann, sprechen von einem besonderen impetus, einer gottgegebenen Ausrichtung auf besondere Gegenstände.21 Andere, unter ihnen Christian Liebenthal in seinem ›Collegium ethicum‹ oder der Gießener Philosoph Kilian Rudrauf bemühen sich vor allem, diese besondere ›Begeisterung‹, die den Heroen vom gewöhnlichen Alltagsmoralisten unterscheiden sollte, von anderen Formen der Ergriffenheit zu trennen. Grundsätzlich war jede menschliche Tat von göttlicher Gnade begleitet – der Katholik mochte sie als gratia cooperans umschreiben – ja ein concursus versetzte den Menschen überhaupt erst in die Lage zu agieren.22 Die heroische Tugend musste in ihrem impetus also über diese gewöhnliche Gnade hinausgreifen. Welche Gestalt sollte dieser impetus annehmen? Zu trennen war er von jeder Variante der mystischen Ergriffenheit, die mit einer Erleuchtung zusammenfiel, dem raptus oder einer einem motus mysticus, wie Georg Hillischer es formuliert. Vergleichbare Zugriffe auf das menschliche Seelenleben blieben gewaltsam und singulär, zugleich ließen sie das Habituelle vermissen, die Wiederholbarkeit, die für eine Tugend so wichtig war.23 20 

G. D. Hillischer: De virtute heroica, a. a.O. [Anm. 18] § 5, fol. A4r; ebenso F. Piccolomini: Universa philosophia de moribus, a. a.O. [Anm. 15] Pars I, gradus VI, c. 7, 542 f. Ähnlich auch Nikolaus Saurwaldt und Jacob Nappe (resp.): Disputatio ethica de virtute heroica (Jena 1665) Sectio I, §§ 8–9, fol. A3r–A4r. 21  B. Keckermann, Systema ethicae, a. a.O. [Anm. 15] Liber III, c. 5, § 6, 346. 22 Christian Liebenthal: Collegium ethicum, in quo de summo hominis bono, principiis actionum humanarum, mente ac voluntate perspicue tractatur (Marburg 1644) Exercitatio XIV, q. 1, 96; Kilian Rudrauf: Institutiones morales recognitae per tria tmemata (Gießen 1675) Pars III, c. 13, § 4, 365 f.; Daniel Stahl: Philosophia moralis sive Ethica (Frankfurt 1652) Liber II, Sectio III, c. 4, 227–229; ebenso auch in einer eigenen Quaestio Valentin Crüger: Collegium ethicum, in quo selectiores philosophiae moralis quaestiones tractantur (Frankfurt 1655) Dis­ putatio XVIII (resp. Gabriel Willich), q. 5, fol. A4vf.; oder Barthold Müller: Collegium ethicum in quo XIII disputationibus ethica proponitur (Jena 1666) Disputatio X (resp. Petrus Schermbeck) §§ 9–10, fol. Iivf. 23  G. D. Hillischer: De virtute heroica, a. a.O. [Anm. 18] § 6, fol. A4rf.

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Johann Michael Lang, Professor zu Altdorf, der der virtus heroica noch im Jahre 1700 einen ausgreifenden Traktat schenkt, trennt noch deutlicher zwischen dem im Menschen wirksamen Geist und dem der göttlichen Inspiration der virtus heroica. Während letztere ein instinctus habituale war, musste der erstere ein instrumentum actuale sein; er verlangte weder eine besondere Anlage, noch musste er sich in konkreten Handlungen beweisen.24 Johannes Friedrich Schultz, auch er in Wittenberg, betont daher das Regelhafte des gottgegebenen heroischen impetus. Durch das Wirken des Heiligen Geistes garantierte der Schöpfer als erste Ursache, dass alle weiteren Ursachen, also zuvorderst der Mensch selbst, so disponiert waren, dass sie der ungewöhnlichen Aufgabe gerecht werden konnten; egal ob es sich um die Eroberung Asiens, die Neuordnung des Römischen Reiches oder die Kirchenreform handelte.25 Auch wenn der Heilige Geist eine ganze Person ergreifen und zugleich zum Visionär und Helden machen konnte, wurde er in der virtus heroica nur in der säkularen Domäne aktiv. Es gab Denker wie Lambert Daneau, die behauptet hatten, die virtus heroica könne aufgrund der Beteiligung des Heiligen Geistes am Ende nur Christen zuteilwerden,26 ja der his­torische Christus selbst sei der Einzige gewesen, der mit Hilfe der gratia dieses Maximum an Tugend habe erreichen können.27 Die Gnade des Heroen musste den Helden, so Lang, jedoch nicht zum Glauben führen, wie sich an den antiken Heroen zeigen ließ. Sie war keine heilskräftige Gnade, sondern entfaltete sich ohne salvierende Komponente.28 Dass sie, wie Johann Lang darüber hin­aus anmerkt, durch ihr anstachelndes Beispiel durchaus auch andere Menschen für die Wirkung der Glaubensgnade empfänglich machen konnte, war ein Nebeneffekt, der sich der Ökonomie der Vorsehung verdankte. Auch von der Gabe der Erleuchtung konnte der Heroe unberührt bleiben, auch wenn die Illumination, wie man in protestantischen Kreisen gönnerhaft vermerkte, damit durchaus nicht ausgeschlossen war.29 In den Augen seiner Lutherischen Herme24  Johann Michael Lang und David Allgöwer (resp.): De virtute heroica fidelium, quatenus ex Scripturis Sacris definiri potest, et vindicari debet, exercitatio positivo polemica (Altdorf 1700) c. 2, § 4, 24f. 25  Johann Friedrich Schultz und Johannes Georg Schubart (resp.): De virtute heroica (Wittenberg 1674), q. 5, fol. B2vf. Ähnlich z. B. N. Saurwald: De virtute heroica, a. a.O. [Anm. 20] Sectio I, §§ 8–9, fol. A4rf. 26  Lambert Daneau: Ethices christiane libri tres (Genf 1577) Liber I, fol. 104f. Einen eigenen Traktat, der beweisen sollte, dass die wahre virtus heroica allein im Christentum möglich sei, schreibt noch Richard Steele: The Christian Hero: An Argument, proving that no principles but those of religion are sufficient to make a great man (London 1722) dort c. 2–5, 21–52. 27  Arnold Senguerdius: Collegium ethicum, in quo XXXIV disputationibus Ethica proponitur (Amsterdam 1654) Disputatio XXVII (resp. Christan Wittewrongel) § 9, 218. Dass die heroische Tugend natürlich auch den Engeln zukam, betont W. Heider: Philosophiae moralis systema, a. a.O. [Anm. 17] Pars II, Divisio III, q. 3, 407. 28  J. M. Lang: De virtute heroica fidelium, a. a.O. [Anm. 24] c. 2, § 1, 21f. Dazu auch als Autorität Langs Johann Wilhelm Baier: Compendium theologiae moralis (Jena 1697) Pars III, c. 4, § 17, S. 208 f.; oder N. Saurwald: De virtute heroica, a. a.O. [Anm. 20] Sectio II, q. 2, fol. Cvf. 29  J. M. Lang: De virtute heroica fidelium, a. a.O. [Anm. 24] c. 2, § 2, 21–23.

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neuten war der Held also eine säkulare und reduzierte Variante des Mystikers, ein Heiliger der Tat ohne Heiligkeit, ohne Anspruch auf Erlösung im Jenseits, doch mit weitaus mehr Handlungskompetenz als der gewöhnliche Heilige.

III.  Die physiologischen Voraussetzungen des Heroen Bemerkenswert ist sicher, dass Ethiker wie Keckermann oder Gisbert Isen­doorn in seiner ›Ethica peripatetica‹ an den Helden einen Anforderungskatalog richteten, der teils Voraussetzung für den heroischen afflatus war, teils in der Physiologie des Heroen durch diesen erst generiert wurde.30 Das spezifische Mehr an Tugendhaftigkeit im Heroen ging einher, wie Schultz betont, mit einer besonderen körperlichen Konstitution, einem idealen temperamentum, einer optimalen Eukrasie, die den Helden auch organisch für seine ungewöhnlichen Leistungen vorbereiten konnte.31 Ob Caesar, Alexander, Samson oder Jonathan; sie alle hatten darüber hinaus eine besondere Beharrlichkeit, eine constantia, in den Schoß gelegt bekommen; außerdem eine Erziehung genossen, die sie schon vorher für die Heldengnade prädestiniert hatte und schon von Kindesbeinen an, so Schultz, auf die Konfrontation mit den großen Dingen vorbereiten konnte.32 Mit der heroischen Tugend zusammen fielen die geschliffene Rede, das geschärfte Urteil und nicht zuletzt, wie Sigismund Pichler hervorhebt, jenes permanente Maß an Glück, das einen Caesar in den entscheidenden Situationen von seiner mediokren Umgebung unterscheiden konnte.33 Isendoorn spricht lieber von der Liebe zum Glück als entscheidender Voraussetzung der virtus heroica, schon weil die Gefahr der Hybris immer im Raume stand. Auch die sprichwörtliche Fortuna wäre dem Helden nicht in den Schoß gelegt worden, wenn ein Mann wie Caesar ihr nicht mit beharrlicher Energie entgegengekommen wäre.34 Die heroische Tugend konnte also harte Arbeit sein. Johann Lang erweckt den Eindruck, 30  B. Keckermann: Systema ethicae, a. a.O. [Anm. 15] Liber III, c. 5, § 3, 345 f.; Gisbert Isendoorn: Ethica peripatetica in duos libros tributa per succinctas tabulas et quaestiones ex variorum auctorum monumentis collecta (Harderwijk 1659) Liber II, c. 19, 375. 31  J. F. Schultz: De virtute heroica, a. a.O. [Anm. 25] q. 5, fol. B2rf. Der natura minus idonea hatte die disciplina entgegenzuwirken, so z. B. Balthasar Lampert und Johannes Wende (resp.): Disputatio ethica de virtute heroica et intellectualibus (Frankfurt an der Oder 1624) § 26, fol. A4r. 32  S. Pichler: De virtute heroica, a. a.O. [Anm. 16] § 11, fol. A3vf.; J. F. Schultz: De virtute heroica, a. a.O. [Anm. 25] q. 5, fol. B2r. Ähnlich selbst noch Christian Cay Lorenz Hirschfeld: Betrachtung über die heroischen Tugenden (Kiel 1770) 49–57. 33  S. Pichler: De virtute heroica, a. a.O. [Anm. 16] § 11, fol. A4rf. Ähnlich zu Caesar z. B. Joachim Pastorius von Hirtenberg: Character virtutum variis aliorum etiam qua veterum qua recentium authorum coloribus adumbratus (Danzig 1680) 30 f. 34  G. Isendoorn: Ethica peripatetica, a. a.O. [Anm. 30] Liber II, c. 19, 375. Ähnlich z. B. Chris­ tian Wolf und Daniel Köhler (resp.): Disputatio ethica de virtute heroica (Wittenberg 1669) §§ 12–13, fol. B2rf. oder zeitgleich in Skandinavien Haquin Spegel und Eric Elfvedalius (resp.): Ethica disputatio de virtute heroica (Lund 1669) § 6, fol. Br.

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als hätte der Heroe, bevor ihn die göttliche Gnade qualitativ abrunden konnte, selbst alle Vorbedingungen für sein Heldentum zu schaffen. Er hatte der Gnade gleichsam das Bett zu bereiten; ein natürlicher Habitus in Gestalt des Temperamentes, den Johann Lang auch den instinctus naturalis nennen möchte, und ein erworbener in Gestalt der gewöhnlichen Tugend konnten Gott überhaupt erst die Veranlassung bieten, im heroischen Habitus seinen besonderen Beitrag zu leisten.35 Das Heldentum war daher fragil. Es bedurfte sogar, wie Lang weiter ausführt, der skrupulösen Vorarbeit, ja der exercitatio, meditatio und oratio, der Übung, der Meditation und des Gebetes, um den afflatus divinus zu erhalten, der den Helden ausmachte. Auch Luther hatte schließlich noch als Papist begonnen, so der Altdorfer Heldenexperte Johann Lang, um erst nach längerer Vorbereitungszeit den Kampf gegen die korrumpierte Kirche aufzunehmen.36 Ebenso leicht konnte man die heroische Tugend wieder verlieren, wie schon die Exempel der Heiligen Schrift untermauern konnten. Wie war es schließlich Helden wie Salomon oder David in ihrem späteren Leben ergangen? Wie leicht hatten sie sich dem Wohlleben hingegeben.37 Über das Verhältnis von hinreichenden Vorbedingungen und notwendigen Folgeerscheinungen war man sich, wie vielleicht deutlich geworden ist, im 17. Jahrhundert mit Blick auf das Heldentum nicht wirklich klar geworden. Verfügte jemand über eine besondere Physis, weil die heroischen Pflichten, mit denen er sich konfrontiert sah, sie nach sich gezogen hatten? Oder hätte er ohne die entsprechenden körperlichen Eigenschaften niemals zu einem Heroen werden können? Hatte er ständig Glück, weil er ein Held war und Gott dafür sorgte? Oder war er, im Sinne einer commutatio, ein Held, weil ihm alle Unternehmen glückten, die er in Angriff nahm? Welche Rolle spielte Gott in diesem Ursachengeflecht? Sollte seine Gnade schon für die Rahmenbedingungen mitverantwortlich sein, oder bestätigte er sie lediglich ex eventu? Vergleichsweise unstrittig war, in welchem Seelenvermögen sich die virtus heroica verorten sollte. Piccolomini, aber auch protestantische Ethiker wie Jacob Martini hatten zwar angedeutet, die heroische Tugend müsse im appetitus sensitivus oder im Willen allein ihre natürliche Heimat finden,38 doch bestand im Großen und Ganzen Konsens darüber, dass, wie zu erwarten, Vernunft und Wille sich gleichermaßen für den Helden verantwortlich zeigten. Weniger leicht zu beantworten war die schon im Mittelalter diskutierte Frage, ob die heroische Tugend ausschließlich eine moralische Tugend war oder ob sie auch intellektuelle Tugenden miteinschließen konnte. 35 

J. M. Lang: De virtute heroica fidelium, a. a.O. [Anm. 24] c. 2, § 5, 25. Ebd. c. 1, § 16, 11 f. 37  Ebd. c. 1, §§ 18–19, 12 f. 38  F. Piccolomini: Universa philosophia de moribus, a. a.O. [Anm. 15] Pars I, gradus VI, c. 6, 541; Jacobus Martini: Disputationes ethicae (Wittenberg 1612–14), Disputatio XII: De virtute heroica (resp. Levin Ludolph von Alvensleve), § 15, fol. A4vf.; und G. D. Hillischer: De virtute heroica, a. a.O. [Anm. 18] § 6, fol. A4rf. Zu Martini auch R. Saarinen: Virtus heroica, a. a.O. [Anm. 9] 110. 36 

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Piccolomini hatte in seiner in Mitteldeutschland oft maßgeblichen Ethik drei Argumente vorgebracht, um die intellektuellen Tugenden von der virtus heroica auszuschließen. Die Wildheit, das Gegenteil der heroischen Tugend, betraf vor allem die Sitten des Menschen, also musste auch ihr Gegenstück ausschließlich auf der Ebene der Moral zu verorten sein. Sie war mit dem Gehorsam gegenüber dem Schöpfer verbunden, also betraf sie ebenso zuvorderst die Moral und nicht die intellektuelle Domäne. Zu guter Letzt galten Helden, wie man wusste, als Repräsentanten der Tapferkeit oder waren von besonderer temperantia, traten also, so Piccolomini, wiederum als Vertreter moralischer Tugenden in Erscheinung.39 Georg Hillischer gehört zu jenen Moralphilosophen, die Piccolomini mit Nachdruck widersprechen. Warum sollten die Intellektuellen keine Helden sein dürfen? Natürlich erregte Tapferkeit größere Aufmerksamkeit als intellektuelle Fähigkeiten, doch musste der Heroe, wie Hillischer unterstreicht, gerade als geistig gefestigte Persönlichkeit agieren, denn er hatte seinen notwendig ausgeprägten Affekthaushalt einer ebenso dominanten Vernunft unterzuordnen. Auch die moralgefährdende Wildheit torpedierte Moral wie Vernunft gleichermaßen; vollkommene Vernunft war also, wie Hillischer weiter ausführt, durchaus auch als Gegenteil der Barbarei zu begreifen. Damit jedoch mussten die intellektuellen Tugenden ebenfalls zur heroischen Tugend gerechnet werden.40

IV.  Die öffentliche Tugend: der Sinn des Heroen Wenn man nach der Ursache des Heldentums fragte, so war es legitim, auch nach seinem Zweck zu fragen. Wem nützte der Held und, wenn Gott seinen Beitrag zu ihm leistete, welche Zwecke verfolgte der Schöpfer mit ihm? Auch diese Frage wird von den frühneuzeitlichen Peripatetikern mit systematischer Konsequenz beantwortet. Ihre Antwort war ohne die Reformation nicht denkbar, ja man kann sagen, dass sie die Heroen in die protestantische Lesart der Heilsgeschichte einordnen konnten. Sigismund Pichler und Wolfgang Heider, dessen ›Philosophiae moralis systema‹ im Jahre 1629 erschienen war, nennen zwei zentrale Zweckzusammenhänge, die man als den kleinsten gemeinsamen Nenner bezeichnen könnte. Der Held ahmte seinen Schöpfer nach; durch seine Nachahmung wurde er selbst zum Vorbild seiner Gesellschaft. Durch sein Beispiel und seine exemplarische Übererfüllung der göttlichen Gebote dokumentierte er, dass die Normen des Gesetzes in ihrer natürlichen Verfasstheit für alle erfüllbar waren.41 Aus der historischen Notwendigkeit heraus traten die Heroen 39  F. Piccolomini: Universa philosophia de moribus, a. a.O. [Anm. 15] Pars I, gradus VI, c. 4, 535–537. Ähnlich wie Piccolomini auch Battista Nani: De heroe libri quatturo (Venedig 1588) Liber IV, c. 2–4, 52–59. 40  G. D. Hillischer: De virtute heroica, a. a.O. [Anm. 18] § 10, fol. B3v–B4v. 41  S. Pichler: De virtute heroica, a. a.O. [Anm. 16] § 19, fol. B2r; W. Heider: Philosophiae moralis systema, a. a.O. [Anm. 17] Pars II, Divisio III, 415. Zur »Nachahmung« schon in einer

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daher in Erscheinung, wenn ein Gemeinwesen als Ganzes aufgerichtet werden musste und nicht nur ein Einzelner, wie Georg Hillischer vermerkt. Die historische Krise musste ihre Bühne werden.42 Johann Michael Lang gibt dem Heroen eine noch stärker konfessionelle Ausrichtung. Der Held bestätigte das Gesetz auf exemplarische Weise, in dem er seine Normen zur Gänze ausschöpfte. Gott ließ den Erfolg auf dem Fuße folgen. »Wem er das Herz gibt«, so hatte Luther gesagt, »dem gab er es auch in die Hände«. In der Kirche musste der Held auf diese Weise zum beständigen Reformator werden, von der Zeit der Propheten angefangen, über Johannes den Täufer, bis, wie zu erwarten, zu Luther und seinen Gefolgsleuten.43 Wie aber konnte man diesen historischen Heroen erkennen? Die Geschichte musste ihn selbst bestätigen. Der Träger der virtus heroica hatte das öffentliche Heil, die salus omnium animarum, im Auge, nicht Ehre, Geld oder sein Vergnügen. Unterblieben die Folgeerscheinungen, die dem ganzen Gemeinwesen zum Heile gereichten, musste sich der Held demaskieren. Als Hauptcharakterzug konnte auf der Negativseite unter diesen Voraussetzungen nur die Kühnheit zurückbleiben, wie es Johann Albert Thilo konstatiert, ein weiterer Ethiker aus Königsberg, oder besser noch die audacia, die bloße Dreistigkeit.44 Schlimmer noch, sie offenbarten sich als bloße Heldendarsteller, als Simulanten des Heroischen. Auch hierfür hatte die Lutherische Tugendlehre, wie Johannes Lang erinnert, einen Terminus, die Cacozelie, die den Affen der Tugend, die simia virtutis auszeichnete. Luther selbst hatte den falschen Helden in seinem Psalmenkommentar mit dem Affen verglichen, der den holzhackenden Bauern imitieren wollte, doch sich in seinem Unvermögen mit der Axt selbst die Hoden zerquetschte.45 Viele Figuren der Historie mussten daher, wie Johannes Lang hinzufügt, noch einer eingehenden Prüfung unterzogen werden, bevor über ihren Heldenstatus entschieden werden konnte. Für sie galt, was Lutherische Theologen wie Dannhauer aus dem Spätmittelalter übernommen hatten, die Scheidung der Geister. Erst in den Ergebnissen und ihrer Evaluation enthüllte sich, ob Gott selbst im Menschen wirksam geworden war, oder nur die menschliche Gier oder gar der Teufel, der sich als Engel des Lichtes verkleidet hatte.46 eigenen Quaestio Clemens Timpler: Philosophiae practicae systema methodicum (Hannover 1608) Liber III, c. 11, q. 5, 382 f. 42  G. D. Hillischer: De virtute heroica, a. a.O. [Anm. 18] § 12, fol. B3v; M. Wendeler: Ex philosophia morali de virtute heroica, a. a.O. [Anm. 19] q. 19, §§ 77–79, fol. Drf. Manch ein Held war daher ein König, doch nicht jeder König war ein Held, so in einer eigenen Quaestio Hippolyt Hubmeier: Repetitio Ethicorum Nicomachiorum Aristotelis (Coburg 1623) Disputatio VII, q. 6, fol. Ttvf. 43  J. M. Lang: De virtute heroica fidelium, a. a.O. [Anm. 24] c. 1, §§ 14–15, 10 f. 44  Johann Albert Thilo und Paulus Malluvius (resp.): Exercitatio academica de virtute heroica (Königsberg 1665) § 13, fol. Bv. 45  J. M. Lang: De virtute heroica fidelium, a. a.O. [Anm. 24] c. 1, § 20, 13 f. 46  Ebd. c. 1, §§ 25–26, S. 16–19, dazu Johannes Konrad Dannhauer: Dissertatio de probatione spirituum (Straßburg 1665), a. 3, 8–28.

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In den gleichen Kontext fiel die Frage, warum Helden wie Caesar oder Alexander trotz ihrer offensichtlichen Leistungen in späteren Lebensphasen so oft scheiterten oder ein schmähliches Ende fanden. Auch hier konnte das oberflächenpsychologische Raster der frühneuzeitlich-protestantischen Aristoteliker greifen. Sigismund Pichler, Wolfgang Heider oder Markus Friedrich Wendelin machen einige Vorschläge. Natürlich drohte dem Heroen Gefahr von außen, der Neid seiner Umwelt oder vom Gefahrenpotential, das qua definitione mit dem Heldentum verbunden war.47 Zur wirklichen Gefahr aber wurde der Held sich selbst. Der übergroße Affekt, der Männer wie Hercules oder Samson überhaupt erst zum Heldentum befähigt hatte, wandte sich in seiner Intensität gegen den Heroen und verselbständigte sich; der Träger der virtus heroica, der auf seine Eukrasie angewiesen war, verlor die Kontrolle über sein Gefühlsleben und seine Körpersäfte. Die Helden verfielen der Wollust, ließen sich wie Hercules oder Samson von Frauen einwickeln, oder gaben sich der Melancholie hin.48 Noch ein zweiter Aspekt kam hinzu, wie die protestantischen Ethiker vermerken. Gott selbst in seiner Vorsehung ließ den Heroen scheitern, um dem Menschen, wie zuvor seine Möglichkeiten, in einem zweiten Schritt seine Grenzen zu offenbaren. Wie die Siege des Heroen konnte auch sein Untergang für ein Gemeinwesen ein didaktisches Potential besitzen.49 Seltsam einvernehmlich gehen Ethiker wie Wendelin, Heider oder Pichler auf ein weiteres Phänomen ein. Fast immer entsprachen die Nachkommen eines Heroen im moralischen Range nicht ihren Eltern. Auch hier konnte die göttliche Gerechtigkeit zur Geltung kommen, die im Nachkommen nivellierte, was die Gnade in den Eltern zuvor überreich forciert hatte. Wahrscheinlicher war jedoch, dass die Träger der virtus heroica vor lauter Konfrontation nicht in der Lage waren, ihrem Nachwuchs eine angemessene Erziehung zukommen zu lassen. Helden, so lautete die triviale wie mutmaßlich richtige Erkenntnis, waren im Regelfall schlechte Eltern.50

47  G.

D. Hillischer: De virtute heroica, a. a.O. [Anm. 18] § 14, fol. B4v. Auf den Teufel als Hauptursache der gescheiterten Helden weist noch Tobias Schumberg: Pharus divina piloso­ phiae practicae (Nürnberg 1683) c. 15, 91. 48 W. Heider: Philosophiae moralis systema, a. a.O. [Anm. 17] Pars II, Divisio III, q. 4–6, 411–413; M. F. Wendelin: Philosophia moralis, a. a.O. [Anm. 15] Liber I, c. 3, § 19, 107 f. Zur Melancholie des Helden z. B. auch Heinrich Nicolai: Gymnasium ethicum (Danzig 1649) Exercitatio XIV (resp. Caspar Hamm), § 11, fol. Dd4vf. 49  S. Pichler: De virtute heroica, a. a.O. [Anm. 16] q. 6, fol. Cvf. 50  S. Pichler: De virtute heroica, a. a.O. [Anm. 16] q. 7, fol. C2rf.; J. F. Schultz: De virtute heroica, a. a.O. [Anm. 25] q. 8, fol. Cvf.; W. Heider: Philosophiae moralis systema, a. a.O. [Anm. 17] Pars II, Divisio III, q. 7, 413–415; M. F. Wendelin: Philosophia moralis, a. a.O. [Anm. 15] Liber I, c. 3, q. 10, § 20, 108. Ähnlich z. B. auch Johann Avenarius und Augustin Andreae: Dissertatio ethica de virtute heroica (Wittenberg 1621) q. 2, fol. B2v–B4r.

Lutherische Debatten über die virtus heroica zwischen Heldentum und Askese 207

V.  Konnte jeder ein Held werden? Zwei Fragenkomplexe pflegen die schulphilosophische Analyse des Heldentums im 17. Jahrhundert abzurunden, zum ersten die Frage, wer eigentlich als Träger der virtus heroica berufen war, zum zweiten die etwas subtilere Schwierigkeit, wie weit ein Held eigentlich gehen durfte. Hatte er das Recht, sein Leben aufs Spiel zu setzen? Erfahrung und Charaktertypologie gaben im Heldentum dem Edlen den Vorrang vor dem Normalsterblichen mit nicht-aristokratischer Abkunft, dem Erwachsenen den Vortritt vor dem Kind und dem Mann vor den Frauen. War damit zugleich gesagt, dass Frauen und Kinder als Heroen nicht in Frage kamen? Wer das Heroenpotential der Kinder in Zweifel zog, konnte das Argument vorlegen, ihre ausgebildete Rationalität, die doch den Affekt zu lenken hatte, müsse der Ausbildung der virtus heroica im Wege stehen.51 Wendeler und Hillischer können noch einmal mit dem Gegenargument der feritas aufwarten. Solange die Degeneration des Kindes hin zum Barbarischen möglich war, die die Erfahrung hinreichend bestätigt hatte, musste auch ihr Gegenteil, das Heldentum der Jugend, plausibel bleiben. Hatte der unmündige David nicht Goliath besiegt?52 Diffiziler gestaltete sich die Lage im Fall der Frau, von der Aristoteles in der ›Politik‹ immerhin nahgelegt hatte, ihre inconstantia sorge dafür, dass wahre Heldentaten von ihr nicht zu erwarten seien.53 Der Widerspruch blieb nicht aus, denn der göttliche afflatus durfte, wie Pichler betont, an kein Geschlecht gebunden sein. Schon Piccolomini hatte etwas gönnerhaft behauptet, die Leistung einer Frau müsse nicht das Niveau ihrer männlichen Heldenkollegen erreichen, um ihr den Status einer Heroin zu sichern.54 Andere LehnstuhlTheoretiker des Heldentums, darunter Christian Liebenthal oder Sigismund Pich­ler, hatten ein plausibles Argument, das den Kindern entsprach. Die Frau war zur völligen Barbarei und Bestialität imstande, wie eine Figur wie Medea leicht dokumentieren konnten, also waren auch Trägerinnen der virtus heroica nicht ausgeschlossen. Zu den biblischen Exempeln, Esther oder Judith, kamen die historischen Optionen, die Heldinnen vom Schlage der Amazonen, Elisabeth I., Christine von Schweden oder Margarethe von Dänemark.55 51 

Gegen den kindlichen Held wendet sich z. B. Hieronymus Praetorius: Theatrum ethicum et politicum (Jena 1647) Appendix, Sectio II, 136. 52  G. D. Hillischer: De virtute heroica, a. a.O. [Anm. 18] § fol. B2rf.; M. Wendeler: Ex philosophia morali de virtute heroica, a. a.O. [Anm. 19] q. 12, §§ 64–67, fol. C2rf. 53  Aristoteles: Politica, hg. von William D. Ross (Oxford 1964) 1259b, 10–16. Auch lateinisch als Aristoteles: Politicorum libri octo, Leonardo Aretino interprete. In: Aristotelis opera omnia (Venedig 1562–74) (ND Frankfurt 1962). Bd. 3. Liber I, c. 3, 228b. 54  F. Piccolomini: Universa philosophia de moribus, a. a.O. [Anm. 15] Pars I, gradus VI, c. 10, 545 f. Skeptisch ist z. B. auch Andreas Prückner: Compendium Ethicae (Jena 1664) c. 19, § 3, 103. 55  S. Pichler: De virtute heroica, a. a.O. [Anm. 16] q. 4, fol. B4v; G. D. Hillischer: De virtute heroica, a. a.O. [Anm. 18] § 10, fol. B2r–B3r, C. Liebenthal: Collegium ethicum, a. a.O. [Anm. 22] Exercitatio XIV, q. 2, 96 f.; H. Spegel: Disputatio de virtute heroica, a. a.O. [Anm. 34] § 11, fol. B3r; oder Justus Georg Schottel: Ethica. Die Sittenkunst oder Wollebenskunst, zu teutscher Sprache vernemlich beschrieben in dreyen Bücheren (Wolfenbüttel 1669) Liber III, c. 18, 586.

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Dass Heldentum auf der anderen Seite lebensgefährlich werden konnte, lag auf der Hand. Selbstmord war ein Vergehen wider Gott und die Vernunft gleichermaßen. Das Leben hatte Gott gegeben; im Freitod mussten darüber hin­ aus die unteren Seelenvermögen gegen die Ratio revoltieren und das natürliche Gefüge in Frage stellen, wie schon Aristoteles festgestellt hatte.56 Auch den Helden musste die Beharrlichkeit, die constantia und das Glück auszeichnen. Wer als Heroe scheiterte, so könnte die einfache Rechnung lauten, war schlicht kein Held mehr. Was aber war dann von den Märtyrern zu halten? Wer sich mit rechter Abwägung, mit beharrlichem Geist und um der Kirche willen einer Gefahr aussetzte, mit der Aussicht auf das Heil aller, hatte das Recht, wie der heilige Laurentius auf dem Bratrost auch den Tod in Kauf zu nehmen, wie Johann Schultz betont.57 Der oft, nicht zuletzt von Machiavelli in seinen livianischen Dekaden artikulierte Vorwurf,58 das Christentum sei dem wahren Heldentum eher abträglich, war daher zur Gänze, so Pichler mit Piccolomini, aus der Luft gegriffen, das Gegenteil war der Fall.59 Der definitorische Ausschluss des Selbstmordes konnte jedoch noch etwas subtiler vonstatten gehen. Samson, der Prototyp des biblischen Heroen, hatte das Gebäude, in dem er sich mit den Philistern aufhielt, durch bloße Körperkraft zum Einsturz gebracht, obwohl er wusste, dass er den Zusammenbruch nicht überleben würde. Was unterschied ihn in diesem Fall von einem gewöhnlichen Selbstmörder? Gisbert van Isendoorn und Georg Hillischer versuchen, die Situation in einem größeren Rahmen zu sehen. Letzte Wirkursache im Handeln des wahren Helden war Gott, der dem Helden in der virtus heroica die helfende Gnade gewährt hatte und mit dessen Hilfe er die übermenschliche Aufgabe überhaupt erst hatte auf sich nehmen können. Selbstmord galt als Sünde, weil sich der Mensch Verfügungsgewalt über ein Leben anmaßte, über das Gott allein gebieten durfte. Einem Helden wie Samson konnte der unberechtigte Zugriff auf die göttliche Seele in einer vergleichbaren Gemengelage jedoch nicht angelastet werden, wie Isendoorn und Hillischer betonen. Der Schöpfer gebot über das Leben eines Jeden. Gott selbst, so Isendoorn, konnte Samson das eigenen Auch Zenobia war ein mögliches Beispiel, dazu Conrad Horneius: Philosophia moralis sive civilis doctrina de moribus libri IV (Frankfurt 1665) Liber IV, c. 4, 656. Das Beispiel der Margartha von Dänemark stammte wohl vom Dänen Caspar Bartholin: Enchriridion ethicum seu Epitome philosophiae moralis (Straßburg 1630) c. 9, 210. 56  Aristoteles: Ethica Nicomachea, a. a.O. [Anm. 6] 1115a, 25 – 1115b, 6; und 1138a, 4–12. Lateinisch als Aristoteles: Ethica Nicomachea, a. a.O. [Anm. 6] Liber III, c. 7, 421, Liber V, c. 11, 475. 57  J. F. Schultz: De virtute heroica, a. a.O. [Anm. 25] q. 6, fol. B3v–B4v. Ähnlich z. B. auch Heinrich Uffelmann und Johann Friedrich Ebeling (resp.): Disputatio philosophica de virtute heroica (Helmstedt 1668) § 21, fol. B4rf. 58  Niccolò Machiavelli: Il Principe e Discorsi sopra la prima deca di Tito Livio, hg. von Sergio Bertelli (Mailand 1984) Liber II, c. 2, 279–285. 59  S. Pichler: De virtute heroica, a. a.O. [Anm. 16] q. 5, fol. Crf.; F. Piccolomini: Universa philosophia de moribus, a. a.O. [Anm. 15] Pars I, gradus VI, c. 3, 532–535, c. 12, 550–552; ebenso auch M. F. Wendelin: Philosophia moralis, a. a.O. [Anm. 15] Liber I, c. 3, q. 11, § 21, 109; W. Heider: Philosophiae moralis systema, a. a.O. [Anm. 17] Pars II, Divisio III, q. 2, 406 f.

Lutherische Debatten über die virtus heroica zwischen Heldentum und Askese 209

Leben also auch in die Hand gegeben und von seiner Verfügungsgewalt Abstand nehmen. Nur in dieser besonderen Situation hatte Samson daher das Recht, den Tod als Konsequenz seines Heldentums in freier Entscheidung herbeizuführen. Es war der Gipfel der virtus heroica und ihrer gnadenhaften Grundierung.60

VI. Fazit Durchmisst man diese Überlegungen, so fällt die bisweilen hybride Funktion des Heroen auf. Manch ein protestantischer Moralphilosoph hatte über den möglichen Opfertod des Helden, vor allem wenn er derart gnadeninduziert konnotiert war, wie in den gerade genannten Fällen, gleichsam durch die Hintertür wieder Grundideen der Heiligkeit in sein Modell der heroischen Tugend integriert. Scheinbar war man nicht bereit, zur Gänze auf sie zu verzichten. Den katholischen Heiligen jedoch charakterisierte, wie man nicht vergessen sollte, eine Thesaurierung der Gnade, die von der Kirche als Überschuss an spiritueller Energie zentral verwaltet werden konnte. Die starke Betonung der Gnade war ein Element, das auch den Heroen des Protestantismus auszeichnete, doch war ihm die mit ihr verbundene pastorale Industrie fremd, die den Heiligen zur Währung zwischen Diesseits und Jenseits erhoben hatte und selbst den Wechselkurs festlegen wollte. Gegenüber dem reinen Asketen oder Märtyrer hatte der Heroe, den ja, wie schon betont, auch der Katholizismus dieser Zeit goutieren konnte, den Vorteil, dass er unmittelbar der Gemeinschaft diente und daran gemessen wurde. Der Mehrwert des Helden kannte keine Mittlerinstanzen. Mehr noch, über diesen Mehrwert allein, dessen Wechselkurs sich in gegenwärtiger Münze und sofort ausbezahlen ließ, musste sich der Status der virtus heroica und ihrer Träger definieren. Man könnte den Helden daher auch, etwas vereinfacht formuliert, als die frühkapitalistisch-protestantische Variante des Heiligen bezeichnen. Dass sein Aufstieg so eng mit der Neu-Lektüre, oder besser kontinuierlichen Lektüre des Aristoteles verbunden war, wie zum Ende schon Saarinen gezeigt hat, offenbart auch, wie viel an sozialpolitischer Energie und Innovationskraft dem scheinbar so scholastischen Aristoteles auch im 17. Jahrhundert noch innewohnen konnte.

60 

G. Isendoorn: Ethica peripatetica, a. a.O. [Anm. 30] Liber II, c. 9, 275–277, G. D. Hillischer: De virtute heroica, a. a.O. [Anm. 18] § 9, fol. Bvf.

Salvador Rus Rufino

El Hombre ¿Animal Político o Social? El debate en el medioevo y la modernidad

I.  La pólis como totalidad vital y política del ser humano La pólis es virtualidad que constituye el único horizonte político del hombre griego. La pólis es el lugar donde debe realizar su vida política, porque en ella, una vez superadas las limitaciones de las primeras organizaciones sociales –familia1 y aldea–, el ser humano encuentra satisfechas todas las exigencias que le impone su modo de ser peculiar y que le destaca de otros animales. En el libro I, capítulo 2, de la Política, Aristóteles expuso su forma de entender la evolución de las sociedades humanas desde la más pequeña, simple, natural y fundamental, la familia, a la más compleja, la pólis. Este proceso tiene un eslabón intermedio, la aldea, que aparece definida como la suma o agrupación de varias familias. La familia, primera forma de agrupación social de los hombres, tiene dos fines propios y básicos: procurar los medios para la crianza de sus miembros y proporcionar posibilidades de desarrollo de los mismos en todos los sentidos, especialmente en el social. La consecución de ambos objetivos determinará la felicidad y la estabilidad de los familiares, es decir, el cumplir con el ideal de bien vivir en esta primera sociedad. Esto implica que para pasar de un estadio a otro, de la familia a la aldea, y de esta a la ciudad, se necesita que cada sociedad cumpla con las exigencias del modo de ser del hombre y realice plenamente todas y cada una de las funciones para las que se constituye. En la familia aparecen tres tipos de relaciones o emparejamientos básicos: esposo/esposa, amo/esclavo y padre/hijo. Cada uno para existir necesita de los otros, cada pareja subsiste porque se dan los dos elementos al mismo tiempo y simultáneamente, lo cual implica una tendencia a la preservación y a allegar medios para que se mantenga la dependencia. Sin embargo, la relación entre ellos es despótica, no política, es decir, uno manda y otros obedecen siempre, sin alterar el orden y manteniendo estable el ámbito que comparten y viven todos estos actores de la vida familiar. La familia es fundamental en el desarrollo de la vida griega. Pero también es esencial en el pensamiento político, ético y social de Aristóteles.2 La familia tiene un jefe –padre o cabeza de familia– que está en el vértice de la organización, de él depende el desarrollo físico, material y espiritual, la buena salud y, también, la socialización de todos los miembros de la unidad familiar. Es decir, sobre él pesa la responsabilidad de toda la organización y es quien establece las relacio1  Emmanuel

Bermon: Politique d’Aristote: famille, régimes, éducation (Bordeaux-Pessac

2011). 2  Aristóteles: Política I, XII; Ética a Nicómaco 1160b 22 y ss. Archiv für Begriffsgeschichte · Sonderheft 12 · © Felix Meiner Verlag 2016 · ISBN 978-3-7873-2525-2

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nes internas con los otros tres elementos de la familia: hombre/mujer; padre/hijo y amo/esclavo. Una de las funciones más importantes del padre de familia es su habilidad para incrementar el patrimonio familiar, esto es, buscar los medios necesarios para conseguir los bienes que satisfagan las necesidades crecientes de la unidad familiar. Aristóteles, después de la familia, se ocupa del estudio de las comunidades políticas más complejas, la aldea y la pólis. Su planteamiento intenta distinguir las asociaciones con un poder fuerte, por ejemplo, una comunidad política organizada, de aquellas que son asociaciones con un poder menos intenso, más diluido. Las formas de soberanía implican necesariamente diferentes reglas, leyes y tipos de relación intersubjetivas. En el comienzo mismo de la Política Aristóteles escribió sobre la asociación – koinonía– en el sentido de una agrupación de hombres libres unidos por algo en común: la amistad manifestada en forma de acuerdo que permite la distribución justa –no necesariamente igual– entre ellos de los beneficios que se consiguen al estar asociados.3 El paso histórico siguiente que se puede llegar a dar o no, depende de las circunstancias históricas y de la voluntad de los hombres, es que un legislador bueno establezca una organización jurídica y política que permita al estado, o a la aldea, o a la tribu, o a cualquier asociación humana, conseguir el ideal político: la vida buena o excelente y la felicidad que es indisoluble de la vida en comunidad.4 La aproximación histórica muestra la evolución antropológica de las formas de organización de los hombres, que revela que la pólis es el fin necesario del desarrollo político humano, y que ella es natural, inevitable y la única forma plena de la vida política. La evolución social muestra la historia de la constitución y formación del Estado, la evolución política del hombre que desemboca necesariamente en la plenitud de la vida social en común que es la pólis. Esta transformación social interna se produce en el tiempo, en la historia. La apuesta de Aristóteles está dentro de una tradición que admite la existencia de un progreso histórico, tecnológico, moral, social, político y legal desde un estado salvaje a una vida civilizada, que se transforma en un estado organizado.5 La historia para Aristóteles, en este punto, es un relato esquemático que exige tres pasos que comienzan en la familia, continúan en la aldea y concluyen en la pólis. A veces se da excesiva importancia al primero y al último, pero se olvida que los extremos están unidos por un eslabón intermedio que resulta necesario e imprescindible para alcanzar el fin y completar el proceso. Es un patrón secuencial de desarrollo, una pauta que se deduce tanto de la literatura, fundamentalmente de los relatos míticos, como de la historia y, más en concreto, de la visión 3  Aristóteles: Política 1280a 25 y ss., 1281a 2–10, 1295b 23–25, 1328a 21 y ss.; Ética Eudemia 1291b 13–24; Ética a Nicómaco 1161a 30–1161b 15, 1132b 31–34, 1133a 16–25. 4  Aristóteles: Política 1325a 7–10 y Ética a Nicómaco 1129b 17–19. 5  Platón: Protágoras 320c–322c.

El Hombre ¿Animal Político o Social?

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de conjunto que ofrecía la colección de 158 constituciones políticas y de las ideas que Platón había expuesto con anterioridad.6 Cuando Aristóteles alude a la aldea la cita de pasada, brevemente, y siempre de forma ambigua. La aldea puede considerarse como el desarrollo natural de la familia, que tiende a unirse con otras familias, o de varias ramas de una misma familia que se han desarrollado en el tiempo y buscan por cualquier medio su conservación, su protección, su ayuda mutua, su perdurabilidad. Sin embargo, también se podría considerar la aldea no como una asociación política, sino como una forma de organización prepolítica, porque los que viven en ellas tienen pocos intereses comunes, que no van más allá de la satisfacción de las necesidades físicas diarias y, además, viven dispersos. Es decir, el fin de la aldea es la perpetuación de la especie, y no desarrollar un tipo de asociación política. Para otros, la aldea es una forma, un tipo de comunidad política o de casa común que tiene su origen en varias casas que no pertenecen a la misma familia. Sería el resultado del crecimiento demográfico natural de una familia, o bien de un grupo humano, lo mismo que la ciudad lo es de la aldea. Este crecimiento es provocado por los mismos miembros de la familia, al separarse de la casa paterna y formar la nueva que es la suya. Es un proceso natural, pero se desarrolla en un tiempo histórico y culmina en la ciudad como realización completa y perfecta del mismo hombre, la familia y la aldea. Este proceso histórico se pone en marcha porque el hombre nunca puede ser totalmente autárquico, ni siquiera dentro de la misma familia ve satisfechas todas sus necesidades sociales. Además es necesario para superar el nivel de satisfacción de las exigencias vitales básicas y conseguir realizar el ideal de bien vivir, es decir, gozar de una vida excelente.7 El proceso histórico comienza con una forma de organización simple y culmina en la constitución de la pólis, que ofrece todas las posibilidades y supera a las otras asociaciones precedentes. La familia proporciona los medios para cubrir las necesidades diarias básicas y comenzar a socializarse. La aldea satisface otro tipo de exigencias vitales y aumenta el círculo de relación social. La pólis es la culminación del proceso. La aldea no puede ser como la pólis porque su fin no es realizar el ideal de bien vivir, sino que es un remedio a las limitaciones que la familia tiene para satisfacer las necesidades de sus miembros. La aldea ha de satisfacer el deseo de vivir, pero no es el paso definitivo para llegar a una convivencia plena. Por tanto, la aldea aparece como una confluencia armónica de intereses humanos y familiares que tienen que concluir necesariamente en la pólis, porque la aldea es una fase de la evolución histórica, social y política.

6 

Platón: República 369a y ss., Protágoras 320c y ss., Político 268d y ss., Timeo 22a y ss., Critón 109d–110a, Leyes 676a y ss., 713a–714b. 7  Aristóteles: Política 1252b 30.

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Pero ¿cuál es el vínculo, la sangre, el parentesco? Quizá la aldea congrega a varias familias porque no tiene como fin resolver las necesidades inmediatas, diarias, puesto que éstas se solucionan en el seno de la familia. Su fin y su razón de ser es obtener un mayor grado de seguridad y más medios de defensa ante un ataque externo. Pero también trata de satisfacer un número mayor de necesidades humanas mediante el intercambio de productos, el trueque. La familia, por sí misma, es una forma de asociación suficiente para su fin: solventar las necesidades diarias, pero lo normal es asegurar esta situación a lo largo del tiempo, en una dimensión temporal más amplia, superando la premura de lo cotidiano. Por esta razón, las familias se reúnen para formar una aldea, la unión es finalista, tiene un propósito. Así considerada, la aldea es una forma de continuación de la familia y posee el mismo origen y sirve para justificar su existencia: la preservación y el progreso material de los individuos. La aldea supera el día a día y permite que el hombre pueda proyectar y proyectarse más allá de lo diario porque las relaciones son más amplias y tiene más recursos. La aldea es una forma de organización social que se asienta sobre el principio de la mutua interdependencia. En ella se produce por primera vez una cierta especialización y una división de funciones, del trabajo, de las ocupaciones y de las tareas que deben realizarse para establecer y mantener una comunidad social. La evolución histórica y temporal de las relaciones humanas va desde la familia, donde por parte de la cabeza ejerce una relación diferente con los miembros que la componen: despótica –esclavos–, aristocrática –mujer– y real –hijos–, hasta la pólis, donde esta persona tiene que ceder algo de poder en beneficio de la comunidad. Entre la familia –donde se dan esas formas de relación– y la pólis –donde se dan otros modos de ejercer el poder– hay un paso intermedio, la aldea, que sirve como transición, su función es ser puente entre dos instituciones comunitarias naturales. De ahí la ambigüedad en el tratamiento de la aldea en los textos aristotélicos y la elipsis que realiza al tratar el paso de ésta a la pólis. No obstante, hay que admitir, siguiendo el razonamiento de Aristóteles, que la pólis es el conjunto armónico, suficiente, complejo, unitario y autárquico de varias aldeas. La pregunta que cabría hacerse es la siguiente: ¿Es la ciudad una simple agregación de aldeas? ¿Cómo es posible que estructuras simples puedan generar otras más complejas?8 El carácter natural de la ciudad para Aristóteles es un axioma, cuyo precedente social está precisamente en la evolución histórica de las formas de relación del ser humano y la ordenación de estas relaciones en comunidades complejas. No obstante, las primeras asociaciones –la familia y la aldea– surgieron para satisfacer necesidades vitales y físicas primarias.9 Pero cuando se trata de conseguir la felicidad, el ideal de bien vivir, la autarquía económica y la

8  Aristóteles: Política 9  Aristóteles: Ética

1303a 25–28 Eudemia 1242b 22–23 y Ética a Nicómaco 1160a 8 y ss.

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independencia política,10 se necesita otra estructura política más complicada que garantice la efectiva vigencia de esas exigencias humanas que una vez conseguidas son irrenunciables. ¿Es ésta la naturalidad de la pólis? La respuesta es afirmativa, porque la pólis es el final del proceso histórico de desarrollo del hombre como ser social más allá de su familia y conocidos inmediatos11 en el que todos los pasos, los momentos, las sociedades, tienen en común que son naturales, pues cada una a su modo y con sus medios, satisface un tipo de exigencia del hombre dentro de un estado de la evolución del mismo. No obstante, cada manera en la que el ser humano concreta su capacidad asociativa es un medio respecto a un fin más amplio y general. Al ser un medio-fin, o un fin medial, proporciona un marco general de evolución que abre las puertas a un desarrollo posterior y posibilita la constitución de nuevas formas de organización y asociaciones que permiten satisfacer más exigencias humanas, que ofrecen más posibilidades a cada uno de sus miembros. Se podría decir que lo que diferencia a la aldea de la pólis es el establecimiento y el desarrollo de un sistema jurídico y el sometimiento de los ciudadanos a él. Por lo tanto, el paso de la aldea a la pólis hay que entenderlo como un proceso temporal de maduración de las relaciones sociales y económicas que tienen su reflejo en unas normas que crean el orden legal, el ordenamiento normativo. Las leyes tratan de reglar los problemas acuciantes que sufre la aldea y que ella misma no puede llegar a superar. La existencia histórica de diversas formas de organización política de las que Aristóteles se hace cargo e intenta extraer los principios generales de la ciencia política, se debe a las distintas formas como los hombres se han organizado para vivir y convivir en el tiempo. Para Aristóteles la pólis supone una cierta unidad, pero no uniformidad. La mirada de Aristóteles escruta una y otra vez la realidad y vuelve la mirada hacia la historia. Ambas nos muestran que las ciudades son diversas, porque diversas son también las ocupaciones de los hombres, la posición social y económica. Por otra parte, no todos participan siempre del gobierno del mismo modo y al mismo tiempo. Unas veces gobierna uno sólo -monarquía o tiranía-, otras una minoría -aristocracia y oligarquía- y otras la mayoría -politéia y democracia-. Estas situaciones históricas son la causa de la pluralidad y de la diversidad de tipos constitucionales. Las diferencias entre los hombres y los regímenes se basan en un hecho incuestionable: la realidad en la que cada hombre se encuentra según sus riquezas, sus cargos, sus capacidades, etc. Con estas ideas Aristóteles critica las teorías políticas que buscan la instauración de un régimen político perfecto y sin posibilidades de mejora, cuando la realidad histórica nos está mostrando una y otra vez que existe un cambio constitucional que depende mucho de las 10  Aristóteles:

Política 1280b 15 y ss., 1280b 31 y ss., 1291a 22 y ss., 1326b 2 y ss. y Ética a Nicómaco 1297b 14–16. 11  Aristóteles: Física 194a 29.

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circunstancias en las que viven los hombres y los medios que tengan para organizar la convivencia. Una mirada hacia la historia política muestra una realidad innegable: el hombre por naturaleza es un animal político que vive, convive, con otros en una ciudad con el fin de conseguir realizar el ideal de bien vivir, tener una vida excelente. La constitución de la ciudad exige una ordenación concreta de las magistraturas, los órganos de dirección que la gobiernan y la especialización de las funciones del poder en instituciones políticas determinadas. Si la constitución política busca el bien común, es correcta; al contrario, si busca el bien y el provecho particular de los gobernantes, se considera desviada, corrupta, despótica y perversa. La historia demuestra un dato incuestionable: ha habido y habrá una evolución y un cambio de formas políticas continuo, por eso hay que considerar el devenir para poder establecer una teoría política con un fundamento sólido en la realidad histórica. Si la historia es maestra en esto, la antropología revela que la forma de estado y de gobierno, las mismas constituciones políticas, son la resultante real de lo más íntimo del ciudadano y su propia vida. La interacción ciudadano/constitución política supone un acto vital porque ésta es la realidad, el halo de vida, de una pólis,12 por eso la relación entre ciudadano/constitución política es auténtica, espontánea, válida y configura un status incuestionable de la biografía del ciudadano. Aristóteles apeló a la historia de la evolución política y a unas prácticas políticas que ya no estaban vigentes, pero que pervivían en la memoria de sus lectores como fuente de información acerca de lo que debía y lo que no debía hacerse en una sociedad para organizar la convivencia ciudadana. No cabe duda de que una de las intenciones de Aristóteles fue buscar el fundamento de lo político, de la misma ciencia política, en un pasado que había mostrado su éxito y revelado su fracaso en una época reciente. Esta estructura comunitaria como era la pólis, todavía podía y debía servir de modelo para articular las relaciones entre los ciudadanos y para establecer cuáles podían ser los regímenes políticos más viables y mejores. Aristóteles fue consciente del hecho de que cada régimen político histórico es único e irrepetible. Se pueden establecer categorías y principios generales, pero es cualitativamente diferente, por eso no se puede admitir la existencia de un proceso regular de cambio, o mutación. Pero sí se puede hablar de una evolución política -a modo de la biológica- que muestra la existencia de una historia constitucional diferente y diversa en el tiempo y en su realización concreta en un lugar y un tiempo determinados. De ahí que el movimiento histórico se pueda decir que es una clase establecida de movimiento que se apoya en una sucesión continua: unos elementos proceden de otros, como unas constituciones proceden de otras y evolucionan hacia otras formas. En el proceso histórico lo 12  Aristóteles: Política

1295a 40.

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que permanece y no sufre alteración es la pólis y son los polítai, los ciudadanos. Las demás estructuras y elementos que interactúan con ambos, están sometidos a mutaciones continúas. Aristóteles detectó en la política la existencia de un proceso en el que lo fundamental es la transmisión de experiencias para desarrollar una teoría política. Cada constitución política muestra una forma única de organizar la convivencia entre los hombres y de ordenar la realidad social. Pero la manera concreta de organización es una opción humana, que tiene como fundamento la libertad para elegir de los hombres entre diversas formas políticas, según las posibilidades reales que ofrece cada coyuntura histórica. La apelación a la historia, a las prácticas de un pasado que ya no existe, pero que se recuerda y se ha aprendido, como es el caso de las formas políticas que cita en sus libros con nombres, como fuente de información acerca de lo que debía y no debía hacerse en la política, desempeñó un papel importante en los debates sobre el mejor régimen político, sobre la mejor forma de gobernar a un ser humano que es en su origen social y en su destino final en la pólis se convierte en político. Aristóteles trató de buscar en el pasado los argumentos concluyentes para intentar la reforma del presente. Muchos aspectos de la historia política podían y debían servir como modelo para justificar y desarrollar las relaciones entre los hombres y con la comunidad social. Por tanto, el debate sobre el pasado era urgente y necesario en el tiempo histórico en el que vivió Aristóteles, tanto como el debate sobre el presente, que era imprescindible para la formulación de una teoría política completa que trataba de huir de la utopía irrealizable y debía fundamentarse en la experiencia histórica.

II.  La recepción y la fortuna de la Política En este epígrafe se mostrará que la Política de Aristóteles fue, desde su primera traducción latina13 en el último tercio del siglo XIII, una obra comentada y discutida pero fundamental para el desarrollo, la consolidación y la renovación del pensamiento político europeo hasta el siglo XVIII.

A.  La recepción de la Política en la Edad Media El aristotelismo ocupa una posición preeminente en la historia de la cultura occidental. Desde Boecio a Galileo, desde el final de la civilización clásica hasta la revolución científica del siglo XVII, e incluso en algunos círculos intelectuales más allá, las obras de Aristóteles fueron decisivas para configurar el pensamiento 13  Eckart

Schütrumpf: The earliest translations of Aristotle’s politics and the creation of political terminolgy (Paderborn 2014).

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de Occidente. Su influencia se extendió a las diversas ramas del saber humano: teología, filosofía, ciencias naturales, incluso dejó su huella en el sistema educativo universitario. Es conocido el aristotelismo de la Edad Media, especialmente desde el siglo XIII.14 Por el contrario, los historiadores del pensamiento de la Edad Moderna15 generalmente dejan de lado el aristotelismo y concentran sus esfuerzos en explicar la reacción contra la filosofía escolástica, la aparición y la influencia de nuevas escuelas filosóficas, el desarrollo científico, y pocos estudian

14 Véase

Charles Lohr: Medieval Latin Aristotle Commentaries Authors A-F. En: Traditio XXIII, (1967) 313–413; Medieval Latin Aristotle Commentaries Authors G-I. En: Traditio XXIV (1968) XXVI (1970) 135–216; Medieval Latin Aristotle Commentaries Authors Johannes de Kanthi-Mygodus. En: Traditio XXVII (1971) 251–351; Medieval Latin Aristotle Commentaries Authors Narcissus-Richardus. En: Traditio XXVIII (1972) 281–396; Medieval Latin Aristotle Commentaries Authors Robertus-Wilgelmus. En: Traditio XXIX (1973) pp. 93–197. Sobre el aristotelismo medieval existe una larga bibliografía, a modo de ejemplo se pueden citar los siguientes trabajos: Georg von Hertling: Zur Geschichte der aristotelischen Politik im Mittelalter. En: Rheinisches Museum für Philologie 39 (1884) 446–457; Martin Grabmann: Die mittelalterlichen Kommentare zur Politik des Aristóteles (München 1941); Jean Aubonnet: Aristote. Politique, Tome I (Paris 1968) CXLVI-CLXVI; Alois Dreizehnter: Untersuchungen zur Textegeschichte der aristotelischen Politik (Leiden 1962); Charles Lohr: The medieval interpretation of Aristotle. En: The Cambridge History of Later Medieval Philosophy, ed. by Norman Kretzmann, Anthony Kenny and Jan Pinborg (Cambridge 1982) 80–98; Jean Dunbabin: The reception and interpretation of Aristotle’s Politics. En: The Cambridge History of Later Medieval Philosophy, cit., 723–737; Vilèm Herold: Commentarium Magistri Johannis Wenceslao de Praga super octo libros Politicorum Aristotelis. En: Mediaevalia philosophica polonorum XXVI (1982) 53–77; Christoph Flüeler: Mittelalterliche Kommentare zur Politik des Aristoteles un zur Pseudo-Aristotelischen Oekonomik. En: Bulletin de philosophie médiévale 29 (1987) 193–229, Rezeption und Interpretation der Aristotelischen ›Politica‹ in späten Mittelalter (Amsterdam-Philadelphia) 1992; Francisco Bertelloni: Presupuestos de la recepción de la Política de Aristóteles. En: Aristotelica et Luliana, ed. de Fernando Domínguez et alii (Steenbrugis 1995) 35–54; Überlegungen zur Geschichte der dreigliedrigen ›philsophia practica‹ vor der mittelalterlichen Rezeption der aristotelischen libri morales. En: Mystik in Geschichte und Gegenwart. Texte und Unterschungen, ed Margot Schmidt y Helmut Riedlinger (Stuttgart 1998) 367–387; Cary J. Nederman: Medieval Aristotelianism and Its Limits: Classical Traditions in Moral and Political Philosophy 12th–15th Centuries (Aldershot 1997); Janet Coleman: Some Relations between the Study of Aristotle’s Rhetoric, Ethics and Politics in Late thirteenth- and Early Fourteenth-Century University Arts Courses and the Justification of Contemporary Civic Activities. En: Political Thought and the Realities of Power in the Middle Ages, ed. by Joseph Canning and Otto G.Oexle (Göttingen 1998) 127–158; Roberto Lambertini: Lo studio e la recezione della Politica tra XIII e XIV secolo. En: Il pensiero politico dell’età antica e medioevale. Dalla polis alla formazione degli stati europei, a cura di Carlo Dolcini (Torino, 2000) 145–173; La diffusione della Politica e la definizione de un linguaggio politico aristotelico. En: Quaderni storici 102 (1999) 677–704; Lidia Lanza: I commenti medievali alla Politica e la riflessione sullo stato in Francia secoli XIII-XIV. En: Il commento filosofico nell’Occidente latino (secoli XIII-XIV), a cura di Gianfranco Fioravanti, Claudio Leonardi e Stefano Perfetti (Turnhout 2002) 401–427. 15  Las obras de Charles Lohr: Latin Commentaries II. Renaissance Authors (Firenze 1988) y Aristotelica Helvetica (Freiburg 1994), dan noticias una buena cantidad de testimonios sobre la introducción de Aristóteles en la Europa Moderna.

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el auténtico renacimiento de las ideas de Aristóteles entre destacados comentaristas y profesores de las universidades europeas.16 La primera versión latina de la Política se la debemos a Guillermo de Moerbecker hacia 1264.17 A partir de ese momento la Política se consideró uno de los libros de Aristóteles que debían ser comentados, como ya lo habían sido otros libros de lógica, de ciencias naturales y filosofía siglos antes, en lo que se conoce como la primera oleada, es decir, el momento en que en la Alta Edad Media se comenzaron a usar las obras de Aristóteles. La tardía traducción de la Política al final del siglo XIII muestra que fue una de las últimas obras conocidas de Aristóteles en Occidente, junto con la Poética. La recepción de la obra de Aristóteles ha sido estudiada con bastante interés y existen diferentes opiniones que matizan cómo, cuándo, dónde y en qué autores influyó la obra de Aristóteles.18 La aparición del texto de la Política impuso un cambio de mentalidad y de metodología. Ni lo uno ni lo otro eran nuevos en Occidente, pues desde que Boecio dio a conocer los textos de Aristóteles en el siglo VI, los europeos incorporaron esas ideas a su mundo intelectual, a su cultura. La ciencia política en la Edad Media hasta la recepción de la Política de Aristóteles formaba parte de la teología moral. Se conocía la existencia de una obra de Aristóteles con ese nombre, era una noticia inconcreta que se transmitía de un autor a otro, pero no se sabía nada cierto sobre su contenido. Quizá nadie había podido leer los manuscritos griegos, o se habían leído parcialmente. O bien todo lo que se sabía eran citas recogidas de los grandes autores latinos que se copiaban y se leían con frecuencia en la Edad Media, como Cicerón, cuya influencia fue enorme. Todo esto nos lleva a pensar que había un conocimiento indirecto, o de segunda mano, pero en absoluto directo de los textos griegos. Esta nebulosa, esta indeterminación creó una especie de misterio alrededor de la Política y provocó el deseo de conocerlo y un interés creciente por encontrarlo y poder leerlo directamente. En suma, se quería satisfacer el deseo de saber qué decía Aristó16  Es fundamental la obra de Charles B. Schmitt: Aristotle and the Renaissance (Cambridge 1983) y la importante y selecta bibliografía citada; Jean Aubonnet: Aristote. Politique, CLXVICXLVI; Horst Dreitzel: Protestantischer Aristotelismus und absoluter Staat: die Politica des Henning Arnisaeus (ca. 1575–1636) (Wiesbaden 1970); Artemino Enzo Baldini: Aristotelismo Politico e Ragion di Stato (Firenze 1995); Horst Denzer: Spätaristotelismus, Naturrecht und Reichsreform: Politischen Ideen in Deutschland 1600–1750. En: Pipers Handbuch der politischen Ideen. Neuzeit: von den confessions Kriegen bis zur Aufklärung, hg. von Iring Fetscher und Herfried Münkler. Bd. 3 (München-Zürich 1985) 233–273; Luca Bianchi: Una caduta senza declino? Consideración sulla crisi dell’Aristotelismo fra Rinascimento ed età moderna. En: Aristotelica et Luliana 181–222. 17  El texto completo de Guillermo de Moerbecker se puede consultar en la edición de Franz Susemihl: Aristotelis Politicorum libro octo cum vetusta translatione Guilelmi de Moerbecka (Lipsiae 1872), también en Raymund Spiazzi: S. Thomae Aquinatis. In octo libros Politicorum Aristotelis expositio (Taurini-Romae 1966). 18 Salvador Rus-Rufino: Comentarios a la ›Política‹ de Aristóteles medieval y moderna (Madrid 2008) 29–66, donde se hace un resumen del aristotelismo y de la difusión de la obra de Aristóteles por Europa.

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teles, cómo lo justificaba y sus argumentos. Pero también había un interés pragmático: intentar articular y fundamentar esa parte de la filosofía moral con una obra de un filósofo de prestigio y de autoridad indiscutible. Este deseo explicaría que una vez conocido el texto se editara y se comentara constantemente desde el siglo XIII hasta nuestros días, pues podemos trazar una línea de continuidad de comentarios desde Alberto Magno hasta profesores e investigadores actuales. Esta actitud revela algo importante: la lectura de esta obra es fundamental para entender las claves sobre las que se asienta, consolida y evoluciona el pensamiento político y social europeo. Además, cada generación ha intentado ofrecer su interpretación. Son muchos años de pensamiento y de comentarios sobre unos mismos textos y sobre un conjunto articulado de ideas e ideales políticos.19 No cabe duda de que fueron los autores medievales20 los que encontraron y estudiaron el texto de Aristóteles. Lo vertieron al latín y lo difundieron por todo el mundo conocido. También fue un acierto incorporarlo definitivamente al acerbo cultural de Occidente, de tal forma, que la Política ha sido, es y será uno de los libros que todas las generaciones leerán, intentarán entender y extraerán de él soluciones a los interrogantes humanos y sociales que se planteen en cada momento. Esta tendencia se puede apreciar, de una u otra forma, en todos aquellos que se ocuparon desde el principio en comentar la obra en distintas épocas, como por ejemplo, Alberto Magno, Tomás de Aquino, Pedro de Alvernia, Siger de Bramante, Engelbert de Admont, Guy de Rímini, Juan de Legnano, Walter Burley, Juan de Buridán, Nicolás de Oresme, Juan de Brujas, Luis de Valencia, Fernando de Roa, Juan Versor, Gilberto Crab, Nicolás de Vaudémont, Henry Totting, Juan Vath, Juan Wenscelao de Praga, Pablo de Venecia, R. Aggerio y otros muchos autores que escribieron comentarios que se conservan en las bibliotecas de todo el mundo. Estos comentaristas, y otros que no se han reseñado,21 constituyen una muestra elocuente de que la Política no sólo fue conocida, sino que también fue asimilada al pensamiento europeo. Se convirtió en una obra a la que se podía acudir en busca de argumentos para explicar, justificar, fundamentar y criticar la realidad histórica y social de una época que estaba abocada a una crisis que desembocaría en la irrupción de la modernidad. La Política, de este modo, en la Edad Media comenzó a convertirse en un libro imprescindible, copiado y comentado. Todos los autores difirieron en sus aproximaciones, en sus glosas, en las ideas que exponían, en las teorías y sus de19  Véase

un tratamiento más amplio y con más datos en el artículo de Francisco Bertelloni: Presupuestos de la recepción de la Política de Aristóteles 37–40. 20  Jean Dunbabin: The reception and interpretation of Aristotle’s Politics 723–737. 21  Christoph Flüeler: Rezeption und Interpretation der Aristotelischen Politica. Bd. 2 (Amsterdam 1992) está dedicado a ofrecer una relación muy completa de todos los comentarios que el autor a ha encontrado en diversas bibliotecas de todo el mundo, la mayoría de ellos no fueron editados, y una gran parte son textos anónimos.

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sarrollos, debido a la combinación de tres razones fundamentales: el público destinatario del texto (reyes, príncipes, clérigos o estudiantes); que cada uno siguió las posiciones de las diferentes escuelas, corrientes de pensamiento y métodos académicos y, finalmente, que todos trataron de mostrar su nivel de compresión del texto mediante comentarios originales que pretendían avanzar sobre los precedentes. La aparición de la Política provocó una revolución intelectual. Pero no generó un cambio radical, porque muchos de los contenidos e ideas del texto estaban ya incorporados a la discusión y a la reflexión política medieval. Lo que sí podemos decir es que una vez conocido el contenido del texto permitió argumentar y justificar con más seguridad e intensidad sobre el origen y el desarrollo de la comunidad, la función de la justicia y la amistad en las relaciones sociales y políticas, las patologías de los regímenes políticos, las causas de la decadencia y de la extinción de las formas de estado y de gobierno; en suma, completó algunas teorías, aclaró otros aspectos, fundamentó con más rigor algunas ideas, pero no las suplantó. Si se quiere mantener que hubo una revolución, hay que circunscribirla a la creación de una ciencia política separada conceptual y metodológicamente con objetos de investigación y estudio diferenciados de la teología moral, complementaria de la ética -según el esquema aristotélico- y volcada sobre los asuntos humanos. Dicho con otras palabras, la Política sirvió para que naciera una ciencia del gobierno y que ésta encontrara un lugar propio y autónomo dentro del sistema general de los conocimientos humanos. Desde entonces se convertirá en la ciencia suprema del conocimiento práctico que buscó el bien de la comunidad y de los hombres que viven en ella. El éxito del aristotelismo político hay que atribuirlo tanto a las ideas y doctrinas contenidas en la Política, como también al esquema propuesto y a sus implicaciones para comprender y profundizar en el hombre como ser sociable por naturaleza.22 Así pues, la Política en la Edad Media se convirtió en un libro conocido, editado, copiado, comentado y asimilado hasta llegar a formar parte inseparable del pensamiento europeo. Todos los autores medievales leyeron un mismo texto y tuvieron una misma fuente para extraer de ellas sus ideas, pero, como se ha dicho, cada uno la interpretó a su manera según las circunstancias que rodearon la composición del texto. Todos mostraron un alto nivel de comprensión de 22  Cary J. Nederman: Aristotelianism and the Origins of Political Sciences in the Twelfth Century. En: Journal of History of Ideas 52 (1991) 179–194 donde explica cómo las obras de Hugo de San Víctor y Juan de Salisbury contenían muchas ideas que posteriormente los autores medievales encontraron en la Política; Francisco Bertelloni: Les schèmes de la philosophia practica antérieurs à 1265: leur vocabulaire concernat la Politique et leur rôle dans la réception de la Politique d’Aristote. En: L’elaboration des vocabulaire philosophique au Moyen Âge, ed. de Jacqueline Hamesse (Turnhout 2000) 177–202 expone los ejemplos de Boecio y Casiodoro; Francisco Bertelloni: Guiriditá della Scientia Politica nelle riflessione politica degli artisti nelle metà del secolo XIII. En: Veritas 38 (1993) 209–217 y El lugar de la política dentro de la tripartición de la Philosophia practica antes de la recepción medieval de la Política de Aristóteles. En: Veritas, 43 (1998) 563–576.

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las ideas de Aristóteles y una cierta originalidad en sus planteamientos23 y sus diferencias se basaron en estos factores externos al comentario, en el método empleado y en el deseo de superar los precedentes mostrando la originalidad de sus planteamientos. Además la lectura y la reflexión profunda en forma de comentarios sobre la Política proporcionó a los profesores, alumnos e intelectuales medievales gran parte de la estructura conceptual en cuestiones que tenían que ver con la ciencia y con la reflexión sobre la política. Su lenguaje y sus conceptos dominaron la discusión sobre la filosofía práctica desde la escolástica hasta la Ilustración tanto en el ámbito protestante como en el católico. No cabe duda de que este libro permitió, junto con otros, abrir la puerta a una modernidad que se terminó imponiendo. Prueba de ello es el incremento del número de comentarios y de obras comentadas.24

B.  La influencia de la Política en la Edad Moderna No cabe duda de que la consolidación de la Universidad como institución de formación, transmisión y creación de conocimiento de y para las nuevas elites profesionales, culturales, científicas y funcionariales, la irrupción de nuevas teorías filosóficas y la ruptura de la unidad política, moral y religiosa de Europa, fueron motivos suficientes para volver la mirada a los textos de Aristóteles y buscar en ellos soluciones a los nuevos problemas planteados. La Política fue uno de los libros en el que los pensadores encontraron elementos suficientes para dar respuesta a los problemas que unas circunstancias históricas convulsas provocaban, porque se había constituido en un argumento de autoridad para conseguir desarrollar ideas nuevas y defender algunas posiciones políticas concretas. Fue una obra que se presentó como una enciclopedia que, dentro del mismo discurso teórico, trataba de forma racional todos los niveles y todos los elementos de la realidad política y social. Por tanto, si bien es cierto que Aristóteles con el avance de la ciencia moderna perdió autoridad en otros ámbitos del conocimiento humano, adquirió fama en todo lo relacionado con el hombre consigo mismo -ética individual- y en relación con otros -economía y política-. Así Aristóteles ejerció una amplia influencia y tuvo un cierto dominio intelectual entre los profesores de las universidades europeas en la Edad Moderna y hasta finales del siglo XVII.

23 Véase James R. Blythe: Ideal Government and the Mixed Constitution in the Middle Ages (Princeton 1992) 161–164 donde sumariamente describe cómo la filosofía política de Aristóteles fue muy importante en el siglo XIV. 24  En los ciento cincuenta años que van desde 1500 a 1650 se pueden contabilizar más de 6.600 comentarios, un número muy considerable, si lo comparamos con los 750 que se realizaron en la Edad Media.

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Por otro lado, la ciencia política estaba cambiando y trataba de convertirse en un saber que se situaba por encima de todas la artes, las coordinaba y las subsumía en ella. Esta idea estaba desarrollada en la Política, por eso un grupo significativo de autores modernos centró su atención en esta obra y trató de extraer de ella todo lo que pudiera para completar su pensamiento. La Ética a Nicómaco comienza mostrando que la política es una ciencia peculiar, la más señora, la más dominadora, la directiva, la arquitectónica, que gobierna y dirige a las otras técnicas que influyen en el gobierno de la comunidad política.25 Es una ciencia que establece aquellas que son necesarias en la ciudad, en el estado, pues estas ciencias prácticas le obedecen: se sirve de ellas, su fin es comprender a las demás ciencias pues es el arquitecto del fin.26 Por esta razón Aristóteles escribió: »en todas las ciencias y artes el bien es un bien; el mayor y en el más alto grado será el de la suprema, y esta es la disciplina política«.27 Por tanto, es una disciplina que está por encima de las demás. Esta superioridad radica en el carácter supremo del objeto que persigue: abarca los objetos de todas las demás. Así pues, »las acciones de la vida«,28 siguiendo la terminología de Aristóteles, son el objeto general que abarca la totalidad de la ciencia. Acerca de ellas »legisla qué hacer y de qué apartarse«.29 No se trata de una ciencia sectorial, sino completa: abarca, en general, todas las acciones y la conducta humanas. Estas acciones prácticas no son necesarias a diferencia de las verdades universales conocidas mediante la teoría, pues éstas versan sobre lo que puede ser de otro modo y aquéllas sobre lo que no tiene ese carácter.30 Por eso esta ciencia es incierta e inexacta, porque su fin no es el conocimiento, sino la acción, la conducta práctica, muchas veces imprevisible y nunca necesaria. Si su fin comprende el de las demás ciencias, se tratará del fin que se busca por sí mismo, y los fines de las demás ciencias se buscarán en él. ¿Cuál es ese fin? Ese fin parece ser la felicidad. Por eso, la política es la ciencia de lo mejor y constituye el bien del hombre, »porque el bien del hombre y el de la ciudad son el mismo«, pero este fin es más grande y más perfecto cuando es de la ciudad; »aunque el bien del individuo y de la ciudad sean el mismo, será mucho más grande y más hermoso alcanzar y preservar el de la ciudad«.31

25  Aristóteles: Ética

a Nicómaco 1094a 25–26. 1152b 1. 27  Aristóteles: Política 1282b 14. 28  Aristóteles: Política 1094b 14. 29  Aristóteles: Política 1094b 1. 30  Esta es una distinción, trascendental en Aristóteles y ausente en Platón, entre razón teórica y razón práctica. Esta última está regulada por la prudencia, véase la Ética a Nicómaco capítulo II, libro VI 1139a 1 y ss. Lo bueno y lo malo de la razón práctica, la verdad homóloga con el recto deseo. Esta homologación es la que realiza la prudencia. Toda la antropología de la Ética a Nicómaco nace de esta distinción. 31  Las citas están Aristóteles: Ética a Nicómaco 1094b 3–1094b 9. 26  Aristóteles: Política

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La política, ciencia de lo mejor, tiene que ver con la felicidad. Constituye el bien del hombre, aquello sin lo cual éste no se alcanza como tal. Las acciones prácticas humanas, pues, parecen tener que ver con el bien y la felicidad: en ellas se gana o se pierde. Este objetivo supremo de la política -buscar y ganar el bien supremo, el que se busca por sí- establece una distinción drástica de la política respecto de las demás ciencias sociales. Ahí radica su señorío sobre las otras. Esto tiene una importancia extraordinaria: la política no puede confundirse con las demás técnicas,32 porque está más allá de ellas, es epitécnica. Es superior porque éstas buscan un bien parcial, sectorial, especializado, que se logra mediante una habilidad una técnica muy especializada, mientras que la política tiene que ver con algo más alto: la felicidad, que parece consistir en un bien al que todos los bienes parciales se orientan. La técnica no da la felicidad, todo lo más puede ser un medio para conseguirla. La política está por encima de las técnicas, pero ésta, a su vez, no puede ni suplantarla ni separarse de ella porque la medida humana, el criterio, lo recibe de aquélla. La relación entre ética, política y técnica requiere un ajuste mutuo que mantenga a cada una en su esfera propia. La política tiene una dignidad cualitativamente superior a la técnica, porque es diferente de ella, como se ha visto. Se trata de defender una dignificación de la política: lo que se dirige a lo más digno y apreciado por el hombre es un saber no equiparable a la simple producción, porque se ocupa de cosas que no se hacen para ser utilizadas, como los objetos instrumentales y funcionales, sino de las que se buscan por sí mismas. En la política nos jugamos la felicidad humana. Este fue el mensaje de Aristóteles. Esta acuñación y renovación de un concepto antiguo como la ciencia política contrastó con otros hechos históricos azorosos. Curiosamente a finales del siglo XV y comienzos del siglo XVI en Europa se desarrollaron diversas teorías que afectaban al estudio de las cuestiones políticas. Ninguna contó directamente con la Política de Aristóteles, lo cual demuestra que al menos al principio de la Edad Moderna, o bien Aristóteles no ejercía la autoridad de la que gozó más tarde en el ámbito de la ciencia política, o bien esta influencia se redujo a la interpretación, los comentarios y las lectiones impartidas en la Universidad, por tanto, se puede concluir que su influencia estaba circunscrita y recluida en el ámbito estrictamente académico, y no consiguió trasladar su influencia a la vida política y social práctica. Por tanto, su presencia no alcanzaba al gobierno práctico de la comunidad, o bien ésta era muy limitada o casi nula. Una rápida mirada muestra que el pensamiento político europeo, más volcado hacia la acción e influyente en la actividad práctica, estaba fragmentado, y unas veces los pensadores seguían algunas de las ideas contenidas en la Política, adaptándolas a la realidad que comparecía ante su mirada, mientras otras se apartaban o eran abiertamente hostiles a ellas. Por ejemplo, en Italia se hablaba 32  Véase

Xavier Zubiri: Naturaleza, Historia, Dios (Madrid 71978) 180–182 y 197–199. También el mismo Aristóteles: Retórica 1404b, 20–23 y Poética 1446a 30 y ss. sobre la poesía.

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de la Razón de Estado, de la eficiencia política en los escritos de N. Maquiavelo, F. Guicciardini y G. Botero; en Francia, de la doctrina de la Soberanía de J. Bodino33 y de las doctrinas de resistencia monarcómacas; en España, de la renovación del derecho natural escolástico y de la construcción de un derecho de gentes que sirvió de base para proclamar la necesidad de un derecho internacional con validez universal en todo lugar y en todo tiempo, un derecho que fuera el mínimo exigible para el modo de ser del hombre en cualquier parte del mundo donde se encontrase un ser humano. Esta corriente está más influida por el aristotelismo tomista, es la llamada Escuela de Salamanca;34 en Inglaterra, ejemplo de la construcción del ideal político que trascendía la realidad político-social y veía en la utopía la solución a los problemas que había planteado una separación radical y traumática de la Iglesia Católica, es la obra T. Moro -que fue continuada por T. Campanella y F. Bacon-, y en Holanda, de la afirmación de las diferentes funciones entre goberante y gobernado con la atribución y unas exigencias distintas para cada uno señalando una separación fuerte entre los diferentes ámbitos de actuación y esferas de responsabilidad, es representativo el caso del influyente J. Lipsio. Se pueden aducir muchas razones que expliquen por qué la teoría política siguió por estos derroteros tan diferentes. Por citar algunas, en España el descubrimiento, la conquista y la colonización de América provocaron un intenso debate y una profunda reflexión sobre las relaciones internacionales y los derechos de los pueblos y de los individuos, no sólo en el ámbito de una nación o un reino, sino también en la sociedad internacional. En Italia la dinámica propia del incipiente capitalismo comercial puso en marcha la nueva legitimación -ya no basada en las ideas éticas y teológicas- de las ciudades-estados mediante el mantenimiento y la conservación del poder unidos a su eficiencia político-económica. El progreso material de la ciudad y de los ciudadanos garantizaba la estabilidad política y, sin él, era difícil que un gobernante pudiera mantenerse al frente de las responsabilidades políticas, o que una forma de gobierno garantizara su continuidad. En Francia las guerras entre las creencias y las tendencias religiosas -con su punto culminante en la noche de San Bartolomé- amenazaron la unidad basada en la existencia de un rey, una creencia y una ley. A la vez el ejercicio de la soberanía exigía un principio de legitimación interconfesional. El rey se vio 33 Véase Ada Neschke-Hentschke: Frankreich im Zeitalter der Religionskriege: Jean Bodin. En: Politischer Aristotelismus. Die Rezeption der aristotelischen ›Politik‹ von der Antike bis zum 19. Jahrhundert, hg. von Christoph Horn und Ada Neschke-Hentschke (Sttugart 2008) 192–217 donde trata de mostrar la influencia de Aristóteles en la construcción de la teoría de la soberanía. 34  Norbert Brieskorn: Spanische Spätscholastik: Francisco de Vitoria. En: C. Horn und A. Neschke-Hentschke: Politischer Aristotelismus, a.a.O. [Anm. 33] 134–172; Merio Scattola: Ein interkonfessionelle Debatte. Wie die Spanische Spätscholastik die politische Theologie des Mittelalters mit der Hilfe des Aristoteles revidierte. En: Politischer Aristotelismus und Religion in Mittelalter und Früher Neuzeit, hg. von Alexander Fidora, Johannes Fried und Matthias Lutz (Berlin 2008) 139–162.

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obligado a establecer un nuevo Derecho para mantener la unidad política. En Alemania las reflexiones políticas ocuparon también a los reformadores, en muchos casos no eran más que derivaciones de sus creencias religiosas, posiciones teológicas y planteamientos éticos, que en algunas ocasiones se centraron en los comentarios a la Política de Aristóteles, y en otras se utilizaron glosas o pequeños ensayos sobre pasajes de la Biblia o de otros autores clásicos.35 En todo este panorama intelectual y en todos los debates, el aristotelismo tuvo una presencia muy limitada en algunos autores que alentaron y desarrollaron la Reforma protestante y en la Escuela de Salamanca, en este último caso, es un Aristóteles leído, explicado y comentado a través del filtro y la influencia del tomismo, y más en concreto, de las interpretaciones y los comentarios de Tomás de Aquino36. A comienzos del siglo XVII se intensificó la dedicación, el interés y la especialización científica por la política. Todo este panorama marcado por una profunda renovación intelectual se puede caracterizar como una búsqueda incesante de un nuevo paradigma teórico. En este ambiente ninguno de lo autores citados alcanzó una fama y una autoridad doctrinal tan incuestionada como Aristóteles, cualidad que fue perdiendo con el paso del tiempo porque los pensadores y los políticos vieron que sus escritos servían para formar a los alumnos en la universidad, pero no tenían aplicación alguna para resolver los graves problemas en los que la Europa de los siglos XVI y XVII estaba envuelta, y ante los que no se tenían ni ideas claras, ni capacidad, ni medios suficientes para salir de ellos y solventarlos. Este magisterio era aceptado porque su filosofía estaba originada y fundamentada en la razón, y porque sus ideas habían servido para comprender y hacerse cargo de un mundo sumido en un proceso de cambio radical y que se estaba haciendo del todo nuevo. Los pensadores modernos dieron importancia a Aristóteles porque ofrecía una explicación racional a los problemas históricos, políticos y antropológicos de su tiempo. De esta forma, los textos aristotélicos sirvieron para conseguir entender y explicar un entorno político, social, geográfico y cultural problemático y para llegar a alcanzar el propósito de todo pensador: entender su época y ofrecer soluciones globales viables, posibles, a un mundo sometido a un cambio continuo. Así, los 35  Anja Moritz: Die Aristotelesrezeption der protestantischen zwischen theologischer und praktischer Ethik. En: A. Fidora: Politischer Aristotelismus und Religion, a.a.O. [Anm. 34] 109– 118; Isabelle Deffers: Aristotelismus in Melanchtons Rechtsaufferssung. En: A. Fidora: Politischer Aristotelismus und Religion, a.a.O. [Anm. 34] 119–130; Noah Dauber: Deutsche Reformation Philipp Melanchton. C. Horn und A. Neschke-Hentschke: Politischer Aristotelismus, a.a.O. [Anm. 33] 173–191; Henning Ottmann: Protestatische Schulphilosophie in Deutschland: Arnisaeus und Conring. En: C. Horn und A. Neschke-Hentschke: Politischer Aristotelismus, a.a.O. [Anm. 33] 218–231; A. Neschke-Hentschke: Niederländische Protestantismus: Hugo Grotius. En: C. Horn und A. Neschke-Hentschke: Politischer Aristotelismus, a.a.O. [Anm. 33] 232–251. 36  Bernhard Stengel: Der Kommentar des Thomas von Aquin zur »Politik« des Aristoteles (Marburg 2011).

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autores fijaron su atención una vez más en la Política, que surgió con fuerza y se instaló en el centro de sus reflexiones y, también, influyó en algún político. Este retorno a Aristóteles tenía unas causas propias -unidas a unos efectos- que lo justifican, y que se pueden resumir en las siguientes. Como es sabido, la caída de Constantinopla provocó el éxodo de pensadores y filólogos bizantinos a Europa Occidental que trajeron nuevos manuscritos griegos y ayudaron a mejorar las técnicas de traducción. Este hecho permitió llevar a cabo la empresa de realizar nuevas versiones latinas de los textos de Aristóteles y traducirlos también a las lenguas vernáculas.37 El avance filológico, el conocimiento del griego y de nuevos manuscritos llegados tras la caída de Bizancio permitieron a los humanistas cuestionarse la exactitud de las traducciones medievales. Se inició un proceso de depuración de textos hasta llegar a fijar su supuesto contenido original. Fue la tarea que llevaron a cabo algunos filólogos. Pero también hay que señalar la importancia de la actitud crítica de otros, por ejempo, Pedro Ramos y Pedro Gassendi. Todo este movimiento de revisión y crítica permitió abordar por primera vez la difícil empresa de imprimir, al menos en cuatro ocasiones, la Opera Omnia de Aristóteles en ediciones griegas, latinas y bilingües, que sin duda alguna incrementaron el interés por la filosofía aristotélica y el deseo de poseer los textos y los comentarios que explicaran el contenido de dichas obras. Otro factor determinante fue la extensión del uso de la imprenta que sirvió para difundir con mayor facilidad y a menor coste los libros de Aristóteles y los comentarios. Tanto en la Europa protestante como la católica se apreció un gran interés por escribir, editar y difundir nuevas traducciones y comentarios que explicaran el contenido y las ideas de la Política. Parece que se estableció una competición, una carrera y un interés por conseguir poner del lado de una u otra tendencia doctrinal su indiscutible y gran autoridad. Esta es una razón que justifica por sí misma por qué se multiplicaron por diez el número de comentarios a la Política. Pero a su vez pone de relieve la complejidad del aristotelismo: los comentarios son muy variados y cada autor, como ocurrió en la Edad Media, los realizó desde sus propias posiciones políticas, religiosas y filosóficas. Por eso, se ha afirmado que es necesario hablar en plural de aristotelismos como una corriente doctrinal común a todos los pensadores europeos, pero con una amplísima variedad de tendencias entre ellos que dieron lugar a lo que Charles Schmitt calificó como »Aristotelismo Ecléctico«,38 que tuvo su origen en el uso del Corpus Aristotelicum como inicio de las reflexiones e investigaciones de un amplio grupo de pensadores pertenecientes a distintas ramas del saber que, tomando como referencia una o varias obras de Aristóteles, trataron de ofrecer 37 Brian P. Copenhaver y Charles B. Schmitt: Renaissance Philosophy. En: A History of Western Philosophy, Vol. 3 (Oxford/New York 1992) 76–126 en las que desarrollan de forma extensa y detallada las distintas iniciativas que se llevaron a cabo para traducir toda la obra de Aristóteles. 38  Charles B. Schmitt: Aristóteles y el Renacimiento (León 2004) 105–125.

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una explicación convincente del mundo y de la realidad política, social y de otros aspectos que exigían una elucidación. Las ideas de Aristóteles y sus obras ejercieron una gran influencia en la creación filosófica y científica. El resultado fue una fragmentación de la unidad cultural, filosófica, científica y teológica que se supo adaptar a un mundo en continuo y permanente cambio.39 El aristotelismo supo vivir en esta diversidad de interpretaciones que adquirieron personalidad propia según los territorios donde desarrollaban su actividad los autores, la religión que profesaban y defendían, las escuelas doctrinales a las que estaban adscritos, formando un grupo fragmentario pero unido por la aceptación de la autoridad doctrinal y del marco conceptual atribuido a Aristóteles desde la Edad Media, pero buscando una y otra vez adaptarse a las exigencias y a los retos de cada tiempo histórico.40 Esta unidad y esta variedad del aristotelismo fue posible porque los aristotélicos pensaron y estaban convencidos de que formaban parte de una tradición de pensamiento históricamente y doctrinalmente poderosa que había resistido el paso del tiempo porque hundía sus raíces en la Grecia Clásica. Ellos eran, y se consideraban, los eslabones de una cadena que arrancaba en los pilares mismos del pensamiento filosófico humano, y desde entonces no se había interrumpido nunca y seguía produciendo frutos muy importantes en el pensamiento europeo. Se puede comprobar que el aristotelismo fue un paraguas que dio cobertura a un número importante de tendencias filosóficas y teológicas muy variadas y, a veces, divergentes entre sí. Por eso, el aristotelismo en este caso es un rótulo, una etiqueta, que ha servido para describir muchas de las actitudes, tendencias y escuelas que utilizaron los textos de Aristóteles para construir su sistema o corriente de pensamiento y, en concreto, la Política. Pero hay que ser más precisos y quizá habría que hablar con más propiedad de la existencia de muchas o varias corrientes aristotélicas, de un fenómeno fragmentario, que se podría caracterizar por tener unas diferencias esenciales y difíciles de superar. El aristotelismo político no fue nunca una escuela de pensamiento unitaria, sino todo lo variada que se quiera según la lectura que cada autor hacía de los textos,41 pues éstos no son mudos, responden según se les pregunte.

39  Ebd. 107. Afirmó que se estableció »un eclecticismo en la filosofía aristotélica que puede ser señalado al menos desde dos perspectivas. Primero puede ser tomado como el impulso general que tuvieron algunos aristotélicos de tomar material de fuentes no aristotélicas simplemente porque pensaban que las ideas que contenidas en los textos de otras tradiciones se podían usar provechosamente para afirmar su propia filosofía. Una segunda modalidad se encuentra en la tendencia a aceptar nuevos desarrollos, particularmente en las ciencias y en las disciplinas formales, que ofrecían claramente una doctrina superior a aquella que se deriva de las fuentes aristotélicas habituales«. 40  C. B. Schmitt: Aristóteles y el Renacimiento, a.a.O. [Anm. 38] 119. 41  Véase Ebd. 29–54; ders.: A Critical Survey and Bibliography of Studies on Renaissance Aristotelianism 1958–1969 (Padova 1971) 27–29; C. J. Nederman: The Meaning of Aristotelia-

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La Política se consideró en la Edad Moderna un libro fundamental que contenía los principios básicos y las directrices esenciales para construir y desarrollar toda una ciencia práctica, un saber hacer, que alcanzaba su plena realización en la consecución del ideal de bien vivir social y del buen ciudadano gobernado por un gobernante justo. Así la doctrina de la Política se dividió en teoría que se ocupaba de los asuntos de carácter general, inmutables, perfectamente reconocidos y aceptados por todos o por una amplia mayoría, y también en práctica que se ocupaba de la dirección de ese saber hacer técnico que implicaba las situaciones especiales, cambiantes y sometidas a diferentes consideraciones según el objeto, el fin, las circunstancias y el tiempo. En el desarrollo de las políticas especiales aparecerán los comentarios que trataron de sistematizar el conocimiento humano y las técnicas que debe dominar un político, buscando siempre una exposición ordenada y un rigor metodológico, con el fin de ser útil para todos hombres y todos los estados en cualquier circunstancia histórica.

III.  El debate sobre el animal político o social42 El pasaje de la Política 1253a 7–18 en el que se centra este trabajo es clave para entender la antropología y el pensamiento político aristotélico. Durante siglos ha sido traducido y comentado por autores de diferentes escuelas de pensamiento, creencias religiosas y contextos culturales buscando desentrañar el verdadero sentido de la famosa afirmación de Aristóteles en la que el hombre, por naturaleza y no por ninguna otra concesión, está destinado a vivir en comunidad. La expresión griega zoon politikon fue vertida al latín indistintamente como animal civile, animal sociale y animal politicum, entre otras. La versión animal civile, que en principio aparece junto con animal politicum como doblete sinonímico, fue la preferida por la mayoría de traductores y comentaristas medievales y renacentistas vinculados a la tradición tomista, mientras que, en líneas generales, los autores vinculados a la tradición católica no tomista prefirieron traducir zoon politikon por animal sociale. Entre los siglos XIV y XVI se aprecia una progresiva aceptación de la traducción por animal politicum, ligada a la corriente reformista que se había desarrollado en Europa desde finales del siglo XIV, y en especial con el Renacimiento, y que cuestionaba los tradicionales principios de la religión católica así como la autoridad de la Iglesia de Roma. En esta época se elabora la imagen moderna nism in Medieval Moral and Political Thought. En: Journal of the History of Ideas 57,4 (1996) 570. 42  El contenido fundamental de este epígrafe está publicado por Salvador Rus y Francisco Arenas-Dolz: ¿Qué sentido se atribuyó al zoon politikon de Aristóteles? Los comentarios medievales y modernos a la Política. En: Foro Interno 13 (2013) 94–105.

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del homo politicus, que desplaza el ideal virtuoso y republicano del estoicismo romano hacia un pragmatismo alimentado por los siguientes hechos. La política se inclina hacia el interés del Estado, en detrimento de la fuerza moral y espiritual, fomentando un nuevo tipo de moral, cívica, colectiva y social, sacralizada en la persona real. En consecuencia, este empleo marca una laicización creciente de las instituciones y la creciente independencia de lo político frente a lo religioso. El origen de difusión del término »política/político«, como sustantivo y como adjetivo, se atribuye a la traducción francesa de la Política de Nicole Oresme en el siglo XIV.43 El término politicus era ya frecuente en el latín medieval y tributario de la traducción de la Política de Guillermo de Moerbeke (ca. 1264). Si el siglo XV supuso una importante inflexión en la filosofía política, el Renacimiento contribuyó al desarrollo del concepto de »político« y supuso el nacimiento de los sentidos principales que hoy conocemos: la política como la ciencia y la manera de gobernar una ciudad; y el político que tiene que ver con la conducta del que ejerce la responsabilidad del gobierno. A partir del siglo XVI se estabiliza la caracterización del zoon politikon como homo politicus, resultado de la superposición de las distintas interpretaciones del zoon politikon de la Política de Aristóteles. Veamos cada una de las traducciones.

A.  El hombre animal civil y político Las versiones latinas medievales prefieren traducir la expresión zoon politikon por animal civile, tal como evidencian no sólo la primera versión latina, de Guillermo de Moerbeke (1215–1286),44 sino también Alberto Magno (ca. 1200–1280)45 y Tomás de Aquino (1225–1274)46 y la traducción francesa de Nicolás Oresme (ca. 1323–1382).47 Por su parte, para Jean Buridan (ca. 1300–1358), como también para Tomás de Aquino en algunos de sus comentarios, el zoon politikon incluye al animal domesticum et civile, entendiendo que la familia y la ciudad forman una unidad.48 Es evidente que en estas primeras versiones civile aparece en doblete sinonímico con politicum para explicitar el sentido de este úl43  Léopold

Delisle: Observations sur plusieurs manuscrits de la politique et de l’économique de Nicole Oresme (Nogent-le-Rotrou 1870–1879); Jan P. H. Knops: Études sur la traduction française de la morale à Nicomache d’Aristote par Nicole Oresme (Gravenhage 1953). 44 Aristóteles, Politica (I-II.11). Translatio prior imperfecta interprete Guillelmo de Moerbeka (?) [ca. 1264] ed. de Petrus Michaud- Quantin: Aristotelis Latinus 29.1 (Bruges-Paris 1961). 45  Alberto Magno [Albertus Magnus]: Ethicorum libri X. Politicorum libri VIII (Lyon, 1651) 9. 46  Tomás de Aquino: In octo Politicorum Aristotelis libros expositio (Roma 1492) 1.1.36–37. 47  Nicole Oresme: Le Livre des Politiques d’Aristote [ca. 1370–1377]. En: Transactions of the American Philosophical Society, ed. by Albert Douglas Menut (1970) 49. 48 Jean Buridan [Joannes Buridanus]: Quaestiones in octo libros Politicorum Aristotelis (Oxford 1640) 1.4, 16–19.

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timo término, calco del griego politikon.49 En el Renacimiento, Jean Le Tourneur Versor (siglo XV), que sigue a Buridan, adopta también el doblete sinonímico civile et politicum.50 Otros autores, como Gil de Roma (1243–1316), interpretan la expresión zoon politikon en toda su extensión, como animal sociale, civile et politicum.51 Con todo, la versión por animal civile sigue siendo la preferida por los traductores y comentaristas renacentistas vinculados a la tradición tomista y así se encuentra en Ludovicus Valentia (1453–1496),52 Juan Ginés de Sepúlveda (1490– 1573),53 Michael Schütz y Johannes Sturm,54 Denis Lambin y Piero Vettori,55 Johannes Kessel (ca. 1546–1600),56 y también, a partir del siglo XVII, en Peter Gilken (1558–1616),57 Hubert van Giffen (1534–1604),58 Joannis Felde,59 Christoph Heidmann,60 Hermann Conring (1606–1681)61 y Johann Gottlob Schneider (1750–1822).62 En esta época el doblete sinonímico politicus-civilis servirá para ir acentuando progresivamente la oposición entre el derecho civil y el eclesiástico. Sin desaparecer por completo la dimensión »civil«, propia del cristianismo tomista, se produce también progresivamente un desplazamiento en las versiones, que destacan cada vez más su sentido »social«, »sociable« o »sociabilidad«. Si bien estos términos no se recogen en el Tesoro de la lengua castellana o española (1611), el Diccionario de la lengua castellana (1739) define »sociedad« como »compañía de racionales«, »sociable« como »lo que fácilmente se junta a 49  Nikolai

Rubinstein: The history of the word politicus in early-modern Europe. En: The Language of Political Theory in Early-Modern Europe, ed. by Anthony Padgen (Cambridge 1987) 41–56. 50  Jean Le Tourneur Versor [Joannes Versoris]: Libri Politicorum cum commento multum utili et compendioso (Colonia 1492) 3a–4b. 51  Gil de Roma [Aegidius Romanus]: De regimine principum libri III (Roma 1607) 12. 52  Ludovicus Valentia [Ludovicus Ferrariensis]: Epitoma per conclusiones librorum Politicorum (Roma 1464) ad 1253a7–8. 53  Juan Ginés de Sepúlveda [Johannes Genesius Sepulveda]: Aristotelis de Republica libri VIII (Paris 1548) ad 1253a 7–9. 54  Michael Schütz [Michael Toxites] y Johannes (o Jean) Sturm [Ioannes Sturmius]: Aristotelis Politicorum liber primus (Zurich 1550) 17a–18a. 55  Denis Lambin [Dionysius Lambinus] y Piero Vettori [Petrus Victorius]: Aristotelis Politicorum libri octo (Basilea 1582) 6–7, 10. 56  Johannes Kessel [Johannes Caselius]: In libros Aristotelis de optimo statu Reipublicae (Rostock 1587) 22s. 57  Peter Gilken [Petrus Gilkenius]: In Politicorum Aristotelis libros VIII (Frankfurt 1605) 11–12. 58 Hubert van Giffen [Hubertus Giphanius]: In Politicorum opus Aristotelis (Frankfurt 1608) 29–33. 59  Joannis Felde: Analysis librorum Politicorum Aristotelis (Frankfurt 1654) 21–23. 60  Christoph Heidmann [Christophorus Heidmanus]: Dissertationes Politicae VII. Ex octo libris Politicorum Aristotelis (Helmstedt 1672) 20–21. 61  Hermann Conring [Hermannus Conringius]: Aristotelis Politicorum libri superstites. Editio nova (Helmstedt 1656) 6–7. 62  Johann Gottlob Schneider: Aristotelis Politicorum libri octo superstites (Frankfurt Oder 1809) 343.

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otro e inclina a tener compañía« y »sociabilidad« como »el tratamiento y correspondencia de unas personas con otras«. Da la impresión que la »sociabilidad« es definida a partir de la »racionalidad« – o, mejor, »Lingüisticidad« o »comunicabilidad«– del ser humano.63

B.  La dimensión social del hombre Es precisamente durante el Renacimiento cuando comienza a entenderse el zoon politikon como animal sociale en el ámbito de la tradición católica no tomista y en el movimiento reformado. Así lo recoge Leonardo Bruni (ca. 1370–1444) en su traducción latina, cuya versión española, publicada en 1509, vierte por »animal sociable«.64 En el ámbito hispánico tenemos a Pedro de Castrovol (siglo XV), que traduce como civile et associabile,65 y a Fernando de Roa (1448?–1507), que en su traducción sigue a Bruni, mientras que en el comentario sigue la tradición tomista.66 Acentúan también esta dimensión »social« en el ámbito francés, el humanista Jacques Lefèvre d’Étaples (1450–1537);67 en el ámbito alemán, destacan los reformados Virgilius Wellendorffer, que distingue entre »civil y »social«,68 Philipp Melanchthon (1497–1560)69 y Joachim Kammermeister (1500–1574);70 en el ámbito italiano, Chrysostomus Javelli (ca. 1470–1538), que opta por la versión animal politicum et sociale,71 Raffaello Maffei (1451–1522),72 Donato Acciaioli,73 Genesio Malfanti, que emplea el doblete animal civile et sociale,74 al igual que el dálmata Nikola Vitov Gučetić (1549–1610), que usa el doblete sinonímico animale 63 

Diccionario de la lengua castellana, tomo VI 133. Bruni [Leonardo Aretino]: Aristotelis Politicorum libri octo (Paris 1526). La versión en español Aristóteles: Política y Económica (Zaragoza 1509). 65  Pedro de Castrovol: Commentum super libros Politicorum et Oeconomicorum Aristotelis (Pamplona 1496). 66  Fernando de Roa [Ferdinandus Rhoensis]: Commentarii in Politicorum libros (Salamanca 1502) VIIs. 67  Jacques Lefèvre d’Étaples [Jacobus Faber Stapulensis]: Introductio in Politica Aristotelis (Paris 1512) ad 1.2.10. 68  Virgilius Wellendorffer [Wellendarffer]: Polilogium ex Aristotelis octo Politicorum libris (Leipzig 1513) f. 8b. 69  Philipp Melanchthon [Philippus Melanchton]: In Aristotelis aliquot libros Politicos commentaria (Haguenau 1531) ff.4s. 70  Joachim Kammermeister [Joachim Camerarius der Ältere]: Politicorum et Oeconomicorum Aristotelis interpretationes et explicationes accuratae (Frankfurt 1581). 71 Chrysostomus Javelli [Chrysostomus de Casali]: Epytomata in octo libris Politicorum (Venecia 1536) 1.4, f. 5b–6a. 72  Raffaello Maffei [Raphael Maffeius Volaterranus]: Politica ad Nicomachum, Raphaelis Volaterrani argumenta in eosdem. Leonardo Aretino interprete (Venecia 1542) 6. 73  Donato Acciaioli: In Aristotelis libros octo Politicorum commentarii (Venecia 1566) 16ab. 74  Genesio Malfanti [Genesius Malfantius]: Civilis philosophiae compendium. In quo quidquid in libris Ethicorum, Politicorum, et Oeconomicorum disseruit Aristoteles (Padova 1587) 43b. 64  Leonardo

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civile et sociabile en su comentario escrito en italiano.75 En el siglo XVII Pierre de la Ramée prefiere traducir por civilius et urbani animal.76 Entre los autores renacentistas españoles que participan de una interpretación del zoon politikon como »animal social« o »sociable«, o ya abiertamente como »animal político«, encontramos a fray Antonio de Guevara (1480–1545), quien en su Reloj de príncipes señala: »Los antiguos philósophos, difiniendo qué cosa era hombre, dezían que el hombre era un animal que de su propria naturaleza era comunicable, sociable y risible, de do se sigue que el hombre encogido y solitario no puede en su condición sino ser enojoso«. Y más adelante: »Como el hombre naturalmente sea político, que es ser amigo de compañía, la compañía engendra embidia; la embidia pare discordia; la discordia cría la guerra; la guerra levanta la tyranía; la tyranía dissipa a la república; y, perdida la república, tienen todos en peligro la vida. Por esso es muy necessario que en todo ayuntamiento muchos se rijan por uno, que al fin al fin no ay república bien regida si no la que por un solo bueno es governada«.77 Otro importante humanista, Juan de Arce de Otálora (¿1510–1515?–1561) en sus Coloquios de Palatino y Pinciano escribe: »El hombre, dice el Filósofo que es animal sociable y alegre y conversable«. Y más adelante añade: »El hombre, según Aristótil, es animal sociable, y el mal acondicionado no se puede llamar tal«.78 El célebre Juan Huarte de San Juan (1529–1588) en Examen de ingenios para las ciencias afirma: »el hombre es animal racional, sociable y político; y porque su naturaleza se habilitase más con el arte, inventaron los filósofos antiguos la dialéctica, para enseñarle como había de raciocinar, con qué preceptos y reglas, cómo había de difinir las naturalezas de las cosas, distinguir, dividir, inferir, raciocinar, juzgar y eligir, sin las cuales obras es imposible ningún artífice poderse pasar. Y para poder ser sociable y político, tenía necesidad de hablar y dar a entender a los demás hombres las cosas que concebía en su ánimo; y porque no las explicase sin orden ni concierto, inventaron otra arte que llaman retórica, la cual con sus preceptos y reglas le hermosea su habla con polidos vocablos, con elegantes maneras de decir, con afectos y colores graciosos«.79

C.  Las interpretaciones posteriores a las guerras de religión Antes de las guerras de religión que asolaron Europa, entre ellas la Guerra de los Treinta Años, que provocó un cambio de hegemonía mundial, se había hecho un uso neutro del adjetivo »político«, que se refería a todo aquello »relativo al 75 

Nikola Vitov Gučetić [Niccolò Vito de Gozze]: Dello stato delle republiche, secondo la mente di Aristotele (Venecia 1591) 20–21. 76  Pierre de la Ramée [Petrus Ramus]: Aristotelis Politica (Frankfurt 1601) 13–14. Ramus señala la complementariedad entre civitas y urbs. 77  Antonio de Guevara: Reloj de príncipes (Madrid 1994) §§ 4 y 147, respectivamente. 78  Juan de Arce de Otálora: Coloquios de Palatino y Pinciano (Madrid 1995) vol. I 62 y 587. 79  Juan Huarte de San Juan: Examen de ingenios para las ciencias (Madrid 1989) 433–434.

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gobierno«. Así, desde el siglo XII el término civilis aparecía como doblete sinonímico de politicus, para explicitar el sentido de este último. La transformación del zoon politikon en un animal civile procede de la traducción de Moerbeke y servirá para ir acentuando progresivamente la oposición entre el derecho civil y el eclesiástico, siendo el germen de una concepción secularizada de la política. El uso creciente de animal civile en conjunción con animal politicum por muchos humanistas contribuirá a una identificación de la politia y la respublica. Ambas circunstancias propiciarán que a principios del siglo XV lo político se oponga, por una parte, a lo teológico, siendo sinónimo de »cívico« y, por otra parte, a lo monárquico, siendo sinónimo de »republicano«. Así, progresivamente la política fue concibiéndose tal como hemos citado como»la ciencia y modo de gobernar la ciudad y república«, según el Tesoro de la lengua castellana o española de Sebastián de Covarrubias, y englobando las demás artes cívicas, tal como recoge el Diccionario de la lengua castellana, que la entiende como »el gobierno de la república, que trata y ordena las cosas que tocan a la policía, conservación y buena conducta de los hombres«. Tras las guerras de religión se impuso, en los países reformados, la interpretación como animal politicum, mientras que entre los católicos prevaleció el sentido de animal civile o animal sociale. La nueva concepción de la política se distancia progresivamente de la ética. El final de la Edad Media consagró dos grandes principios que establecían el principio del derecho: uno descendente, teocrático y agustiniano –el poder procede de Dios–, otro ascendente y cívico, por el ascenso de los sujetos hacia el príncipe a partir de la definición aristotélica del hombre.80 Así, en el ámbito protestante alemán, Johann Kahl (1550–1614), destacado profesor de derecho en Heidelberg, discípulo del humanista francés Hugues Doneau (1527–1591) y autor de un célebre Lexicon iuridicum publicado en Frankfurt en 1600, en su traducción de la Política de Aristóteles, publicada en 1595, vierte zoon politikon como animal politicum.81 También Theophilus Golius (1528–1600), en su Epitome doctrinae politicae lo interpreta en este mismo sentido.82 Y lo mismo hace Wolfgang Heider (1558–1626).83 También, entre los católicos alemanes, Michael Piccart (1574–1620) interpreta el zoon politikon como animal politicum.84 Sus fuentes son a la vez la tradición del aristotelismo italiano y el conocimiento de la nueva escolástica española. Entre los protestantes ho80 

Gianfranco Fioravanti: La réception de la Politique d’Aristote au Moyen Âge tardif. En: Aspects de la pensée médiévale dans la philosophie politique moderne, publ. par Yves-Charles Zarka (Paris 1999) 4–24. 81  Johann Kahl [Joannes Calvinus]: Notae in Politicos Aristotelis priores libros (Frankfurt 1595) 11. 82 Theophilus Golius: Epitome Doctrinae Politicae ex octo libris Politicorum Aristotelis (Strassburg 1622) 20–21. 83  Wolfgang Heider: Philosophiae politicae sistema (Jena 1628) 29–30. 84  Michael Piccart [Michael Piccartus]: In Politicos libros Aristotelis commentarius (Leipzig 1615) 44–49.

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landeses, Franco Petri Burgersdijk (1590–1635), que también interpreta el zoon politikon como animal politicum, apunta como sinónimo de politicum la expresión maxime sociabile.85 En las interpretaciones protestantes del homo politicus tiende a desaparecer la dimensión mística o supranatural de un poder ahora secular, en manos de la sociedad civil.86 En estas interpretaciones se da la emergencia de la idea de sociedad civil como resultado del cuestionamiento de los modelos de ordenación social y de autoridad existentes y que se desarrollará durante los siglos XVII y XVIII. Así se encuentra en la obra de Balthasar Keller (1614–1671), famoso teólogo evangelista, que desempeñó varios puestos docentes en la Universidad de Helmstedt, que compatibilizó con su dedicación pastoral como predicador y pastor,87 y en Gebhart Theodor Meier (1633–1693), autor de importantes obras de derecho canónico e historia eclesiástica.88 Todo esto nos ofrece un esbozo, que sin duda es necesario completar, de la configuración semántica del zoon politikon.

IV.  A modo de conclusiones En este trabajo se han subrayado las diferencias existentes entre la concepción de Aristóteles y los autores medievales y modernos que comentaron su obra. La primera diferencia que salta a la vista es que Aristóteles trató de justificar el origen de la comunidad política y cuál entre todas las ensayadas por los hombres es la mejor. No olvidemos que fue testigo del triunfo de la monarquía macedónica, del desarrollo y de la consolidación del imperio alejandrino, dos formas políticas que no servían de modelo porque ambas eran extra-helénicas. Ante esta realidad innegable y exitosa, Aristóteles propuso explicar el origen y el desarrollo temporal e histórico de la sociabilidad como característica propia y natural del modo de ser del hombre, siguiendo una secuencia temporal. Primero en la familia es social, se hace sociable en la aldea y termina siendo político en la pólis. El hilo conductor que une estos tres momentos es la capacidad dialógica del ser humano para tener asuntos en común que convierte el espacio material de una pólis en el lugar natural y perfecto, en el más adecuado, no sólo para vivir, sino para realizar un ideal superior, el vivir bien conviviendo con otros seres humanos con los que mediante la comunicación realiza un proyecto común. Este bien vivir alude a un tema central en la vida humana: la consecución de la felicidad. Si el ser humano se juega su felicidad en la organización correcta y adecuada del espacio político 85  Franco Petri Burgersdijk [Franciscus Burgersdicius]: Idea oeconomicae et politicae doctrinae (Leiden 1644) 6 y 33. 86  John Ehrenberg: Civil Society. The Critical History of an Idea (New York 1999). 87  Balthasar Keller [Balthasar Cellarius]: Politicae Succinctae (Jena 1664) 4–5. 88  Gebhart Theodor Meier: Aristotelis Politicorum analysis ac expositio usibus studiosorum (Helmstadt 1668) 16–18.

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y sus instituciones, la estructura que establezca y luche por mantenerla tiene que ser capaz de regular y ordenar todas las vidas y todas las tendencias hacia el fin de la política encauzando la existencia, las ilusiones, las inquietudes y los proyectos de los ciudadanos, delimitando el camino que debe seguir coordinando sus esfuerzos en un proceso de cooperación, que perfecciona y mejora al propio ser humano. Si la armonía social se rompe, la vida comunitaria está amenazada de disolución y a punto de extinguirse. Para Aristóteles el modelo social y comunitario fundamental, la pólis, había periclitado y cedido su hegemonía a un poder concentrado en una persona. A pesar de todo, en la Política no hay resignación, sino ilusión por reverdecer el patrón mejorado y depurado de los errores que lo condujo a su colapso. Lo importante es que la política se hace con seres humanos que se relacionan porque tienen aptitudes para ello, y buscan vías para propiciar la participación activa en los asuntos comunes en una síntesis vital en la que ciudadano y política se encuentran indisolublemente unidos y confundidos. La traducción por una especie de animal político no expresa suficientemente el profundo sentido de la frase. Se puede admitir siempre que se busque una justificación en el hecho de que la terminología de Aristóteles es muy clara: el hombre es una especie política, un ser gregario que se agrega en una comunidad ordenada bajo un dispositivo de mando y obediencia. En esa comunidad política el nexo de unión es un mecanismo de trato ordenado por medio del regimiento, de modo que en esa trama básica sólo hay gobernante y gobernados, que a su vez integran unidades más pequeñas que se cierran en la casa familiar, por debajo de la cual ya no hay nada más. Debe tenerse presente que la categoría teórica de sociedad es moderna y no se corresponde con las comunidades antiguas. Tampoco cabe describir al cuerpo político como sociedad, en realidad es una comunidad en la que y de la que todos participan. En rigor, la sociedad como espacio neutro de agregación de individuos indiferenciados es un resultado tardío de la civilización occidental, que tiene su origen cuando se asentó en las ciudades una nueva clase de hombre, el burgués, que crea su identidad únicamente con referencia a sí mismo y a su patrimonio. El término politikon aplicado al hombre significa que tiene las virtudes y las condiciones físicas y psíquicas necesarias para con-vivir con otros, pero tenerlas de forma pasiva no es suficiente para constituir una ciudad. Es preciso poner en juego las capacidades, las facultades, mediante el esfuerzo para desarrollarlas y la educación, que implica, de un lado, la acción de agentes exteriores, de otro, el empeño personal para aprender y dejarse guiar por alguien que sabe más, o conoce el camino, como Aristóteles expone.89 Para ser y vivir como animal es necesario sólo tener sensaciones de placer y dolor. Para ser animal social, político, cívico o retórico se exigen otras características: lenguaje inteligible para comunicarse, inteligencia para elaborar proyectos, 89  Aristóteles: Ética

a Nicómaco 1169b 16 y ss.

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entender y distinguir lo bueno de lo malo, lo justo de lo injusto. Estas cualidades permiten establecer la forma de convivencia y desarrollarla.90 Lo cual significa que el hombre es capaz de llevar a cabo tareas en común, con esfuerzos y medios coordinados, algo que el animal no puede. Aristóteles además introduce una novedad: el hombre adquiere el sentido moral sólo viviendo en sociedad, no es un regalo que le concede el nacimiento, sino una consecuencia de su condición de hombre que se va haciendo sociable y político en el transcurso de la vida. Estas ideas están expresadas en las citadas obras de Aristóteles91 y tienen su precedente en Platón,92 donde se sostiene que el origen de la familia y, por tanto, de la ciudad está estrechamente relacionado con la evolución histórica de las comunidades primigenias: la casa familiar y la aldea. El término final del proceso es la pertenencia a una pólis, que es una construcción humana, porque el hombre es el único que tiene las cualidades necesarias y exclusivas para constituirla, los animales carecen de estos atributos, por tanto, no pueden organizarse de esta manera93. ¿Es el término politikon propio del hombre y sólo se predica metafóricamente del resto de los animales? O más bien, ¿la definición aristotélica se refiere a una característica zoológica elemental común a los miembros de las especies gregarias que cooperan en una tarea común? El texto aristotélico no dice que los hombres sean los únicos animales sociales, sino que son animales sociales en mayor grado que otros animales.94 Frente a ciertas lecturas que consideran que el hombre es el único que posee logos, se debe subrayar lo tosco de estas lecturas: muchos intérpretes, al sostener que el hombre es el único animal social, incurren al menos en dos ideas equivocadas sobre el sentido de la afirmación aristotélica. Unos, encontrando en Aristóteles un magnífico aliado contra el individualismo liberal al que se oponen, mantienen la superioridad de la vida política sobre otros modos de vida.95 Pero esta interpretación de la política como un bien en sí mismo choca con las observaciones de Aristóteles al final de la Ética a Nicómaco y la Política, donde se afirma la superioridad del bios theoretikon frente al bios politikon. Otros, convirtiendo a Aristóteles en un determinista biológico, se apoyan en la afirmación de que »en todos existe por naturaleza el impulso ha90 Véase

Jaime Araos San Martín: La filosofía aristotélica del lenguaje (Pamplona 1999); Gianluca Sadun Bordoni: Linguaggio e realtà in Aristotele (Roma 1994); Anne Cauquelin: Aristote: le langage (Paris 1990); Walter Belardi: Il linguaggio nella filosofia di Aristotele (Roma 1975); Miriam Th. Larkin: Language in the Philosophy of Aristotle (The Hague 1971) 91  Aristóteles: Política 1280b 5 y Ética a Nicómaco 1167b 2 92  Platón: República 484d 93  Jean Robert: Aristotle and the Politics (New York-Abingdon 2009) 30–74. 94  Stephen S. Salkever: Aristotle’s Social Science. En: Essays on the Foundations of Aristotelian Political Science, ed. by Carnes Lord and David K. O’Connor (Berkeley 1991) 24–30. 95  Hannah Arendt: The Human Condition (Chicago 1958); John G. A. Pocock: The Machiavellian Moment. Florentine Political Thought and the Atlantic Republican Tradition (Princeton 2003) 550; Martha C. Nussbaum: The Fragility of Goodness: Luck and Ethics in Greek Tragedy and Philosophy (Cambridge 1986) 345–353, todos ellos incurren en esta lectura equivocada del texto aristotélico.

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cia tal comunidad«96 y no dudan en mantener que Aristóteles viene a decir que tenemos un impulso natural –biológicamente heredado– que nos lleva a vivir juntos.97 Sin embargo, para Aristóteles98 el fin de la política no es la vida en común, sino el vivir bien o llevar una vida excelente. No se trata pues de impulsos determinados biológicamente, sino de inclinaciones potenciales modificables de acuerdo con la experiencia, que se adquiere gracias a que en el fundamento del vivir bien, y no del simple vivir, existe una tendencia biológica y, por tanto, natural propia y exclusiva del hombre. En definitiva, que el hombre sea un animal social no es resultado ni de la superioridad de la vida política sobre otros modos de vida ni fruto de un impulso biológico necesario. Para Aristóteles la política no es ni un fin en sí misma ni algo inevitable, sino que es el modo más razonable de organizar la pluralidad de inclinaciones y necesidades que conforman nuestra herencia biológica, una actividad fruto de nuestro deseo de vivir bien. Los seres humanos son los únicos que tienen capacidad para sentir lo que es mejor para ellos y ordenar sus vidas de acuerdo con esto. Sólo desde estos supuestos es posible comprender el alcance de este texto aristotélico. Se ha optado por seguir la traducción común, pero el sentido de la frase apunta hacia que la naturaleza no hace nada que no se pueda comprender y explicar. En este sentido, la inteligibilidad para Aristóteles se configura como un proceso al que se accede por conocimiento de las causas –material, formal, eficiente y final– tal como se las explica en sus lecciones de filosofía primera.99 En este sentido, podemos poner a modo de ejemplo, cómo las cuatro causas tienen relación con los problemas que plantea la teoría política: – La causa material, aquello de lo que está hecho algo, por ejemplo, »el bronce es la causa de la estatua«,100 y así también la reunión en tanto pura agregación lo mismo que las casas serían la causa material de la ciudad.101

 96  Aristóteles: Política

1253a 29–30. una severa crítica a esta posición, véase Allan Gotthelf: Aristotle’s Conception of Final Causality. En: Review of Metaphysics 30 (1976) 226–254; Martha C. Nussbaum: Aristotle on Teleological Explanation. En Aristotle’s De Motu Animalium: Text with Translation, Commentary, and Interpretative Essays (Princeton 1978) 59–106; David W. Balme: Aristotle’s Biology Was Not Essentialist. En: Archiv für Geschichte der Philosophie 62 (1980) 1–12; Ryan Middleton: The Death and Life of the Polis. Political Naturalism and Natural Polis in Aristotle`s Politics (Kingston 2008) 39–61.  98  Aristóteles: Política 1280b 39–1281a 4.  99  Aristóteles: Metafísica 994b 4–15. 100  Aristóteles: Metafísica 1013a 24–26. 101  Aristóteles: Política 1253a 18–29.  97  Para

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– La causa formal, aquello que lo lleva a ser algo, por ejemplo, »de la octava musical la relación de dos a uno y, en suma, el número«,102 y así también el gobierno constitucional sería una de las causas formales de la ciudad.103 – La causa eficiente sería aquello que impulsa o genera algo, por ejemplo, »el que aconsejó es causa de la acción y el padre es causa del hijo«,104 así también la ley (nomos) sería una causa eficiente del gobierno de una ciudad.105 – La causa final es el propósito o fin con arreglo al cual la cosa es lo que es, o llega a ser lo que es, por ejemplo, »del pasear es causa la salud ¿Por qué en efecto se pasea? Decimos para estar sanos«,106 y así también la pólis en tanto que una comunidad donde participan los hombres, sería la causa final de la convivencia ciudadana,107 y el ideal de bien vivir –to eu zen–,108pero asimismo la causa final del buen vivir en la comunidad política no sería la mera convivencia de individuos diferentes y jerárquicamente relacionados, sino la práctica de las buenas acciones.109 La marcada distinción entre casa110 y ciudad, sostenida sobre todo por aquellos intérpretes que afirman la superioridad de la vida política sobre otros modos de vida no es tal en Aristóteles, pues ambas contribuyen al fomento del vivir bien. 111 Para Aristóteles, el fin del hogar no es simplemente la procreación, pues »en la casa se encuentran, ante todo, los principios y las fuentes de la amistad, de la organización política y de la justicia«.112 Esto subraya la importancia de la familia, recinto donde, a través de la educación, se adquiere el sentido de identidad personal necesario para poder deliberar.113 Uno de los principales objetivos de la educación es preparar a los jóvenes para que puedan deliberar sobre lo que es justo e injusto, de modo que se conviertan en ciudadanos diligentes y autónomos, 102  Aristóteles: Metafísica

1013a 29. 1278b 8–10. 104  Aristóteles: Metafísica 1013a 31–32. 105  Aristóteles: Política 1280b 5–12. 106  Aristóteles: Metafísica 1013a 34–35. 107  Aristóteles: Política 1261a 24–25; 1280a 34–1280b 5. 108  Aristóteles: Política 1280b 39–40. 109  Aristóteles: Política 1281a 2–4. 110  El sentido del término oikia a hace referencia al conjunto de elementos que forman la heredad familiar y también tiene el sentido de morada familiar, más que de casa como elemento material de refugio para los seres humanos. 111  Stephen S. Salkever: Women, Soldiers, Citizens: Plato and Aristotle on the Politics of Virility. En: Polity 19/2 (1986) 232–253. 112  En este contexto, Aristóteles: Ética a Eudemo 1242a 22–b 1 donde subraya también la analogía entre casa y la polis como formas de convivencia que diferencian a los hombres de los otros animales. 113  Martha C. Nussbaum: Shame, Separateness, and Political Unity: Aristotle’s Criticism of Plato. En: Essays on Aristotle’s Ethics, ed. by Amélie O. Rorty (Berkeley 1980) 395–435; Arlene W. Saxonhouse: Family, Polity, and Unity: Aristotle on Socrates Community of Wives. En: Polity 15 (1982) 202–219; D. Brendan Nagle: The Household as the Foundation of Aristotle’s Polis (Cambridge 2006). 103  Aristóteles: Política

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es decir, capaces de gobernarse a sí mismos y de gobernar la ciudad.114 Tarea de los ciudadanos es pues juzgar qué diferencias potenciar y cuáles rechazar por ser perjudiciales. Poniendo en práctica la deliberación, los ciudadanos tratan de buscar el común acuerdo entre ellos, que da expresión a su pensar y a su sentir, comunicándoselo unos a otros, para poder desarrollar su vida en común. De este modo, las diferencias potencian el diálogo, el progreso social y la crítica en el marco de la pólis.115 Los comentaristas citados abarcan un lapso temporal que va desde el siglo XIII al siglo XVIII, cinco centurias en las que el mundo sufrió todo tipo de convulsiones y cambios. El horizonte político se transformó progresiva y radicalmente. El hombre unas veces interaccionó con él y otras no. En este tiempo se quebró la simbiosis entre lo ciudadano y lo político, y se solidifican en dos entidades que seguirán caminos diferentes y paralelos donde no habrá contacto ni encuentros. Para los europeos bajomedievales y los europeos del Renacimiento, del Humanismo y de la Ilustración lo político encalla en lo administrativo y en lo individual; lo ciudadano pierde toda proyección al operar sobre la vida y sobre las cosas porque el ciudadano no es para la ciudad, sino para sí mismo, es individuo. La noción de pólis que Aristóteles expuso y defendió se escindió en dos dimensiones constitutivas. De un lado, los habitantes y, de otro, la política. Esta quiebra permitió la aparición del binomino de lo privado frente a lo público, creando una doble dimensión de la ciudadanía que exigía al ser humano moverse en estos ámbitos diferenciados. Los autores que se han reseñado pretendieron con sus versiones del zoon politikon superar el individualismo y ampliar los límites del pensamiento y de la realidad política apoyándose en un pensador genial. Por un lado, trataron de ampliar el campo de lo político proclamando una ciudadanía menos restringida y miope; por otro lado, buscaron la forma de fundamentar las relaciones humanas en lo que de más humano encierra el modo de ser del hombre. El fundamento de ambos anhelos resultó ser la realidad primordial de toda proyección tanto social, política como religiosa: el hombre mismo. ¿Cómo es este hombre? ¿Qué es el hombre mismo? A esta pregunta nuestros autores no dieron respuesta, porque, y ahí radica la diferencia esencial y más profunda con Aristóteles, no consideran al hombre en cuanto sólo tal, que es la esencia del Humanismo, de lo que de humano posee, sino que buscan dimensiones parciales de la realidad humana y por eso ora es social, ora político, ora cívico, o todo a la vez sin distinción y sin orden. Este horizonte vital justifica la 114  Uno

de los precedentes de la moderna idea de autonomía kantiana está implícita en el ideal de la paideiva aristotélica Fred D. Miller: Aristotelian Autonomy. En: Aristotle and Modern Politics. The Persistence of Political Philosophy, ed. by Aristide Tessitore (Notre Dame 2002) 375–402; Nancy Sheman: Making a Necessity of Virtue. Aristotle and Kant on Virtue (Cambridge 1997) 325–330. 115  Stephen S. Salkever: Finding the Mean. Theory and Practice in Aristotelian Political Philosophy (Princeton 1991) 166–167.

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diversidad de traducciones e interpretaciones del texto, que no se pueden ordenar ni cronológica, geográfica, filosófica o culturalmente, porque cada autor percibe, dentro de la realidad y de la herencia del derecho romano, la frase de una manera determinada que influye en su traducción y planteamiento. Aristóteles marcó los límites del hombre: es un ser circunscrito a unas condiciones espaciales y temporales en las que despliega su existencia siendo él mismo y usando su logos común. El sentido del término logos en este pasaje es radicalmente opuesto a muchas interpretaciones actuales que convierten a Aristóteles en una especie de valedor de la teoría de los actos de habla. Para estos exegetas Aristóteles vendría a sostener que el logos tiene como propósito facilitar el intercambio de información entre las personas, reduciendo así su significado al de mera phone.116 El logos nos posibilita, en cambio, el descubrimiento, a través de la deliberación, de los medios y los fines con los que organizar nuestras vidas. Esta capacidad del logos es una potencialidad que puede desarrollarse o no, pues los seres humanos son capaces de vivir bien o de vivir mal. Sus comentaristas lo lanzaron al infinito, a la ausencia de límites, lo convirtieron en un ser fragmentario y soberbio. Soberbia deriva de superbia, es decir, super-bia pasar al otro lado de la vida, excederse, salirse de un campo propio donde se está seguro y se actúa con libertad. Los comentaristas se mueven entre un teocentrismo que aplasta al hombre y un antropocentrismo que desvía hacia sólo lo individual y concreto la existencia humana. La respuesta no está en una u otra postura, porque ambas lo que provocan son las oscilaciones en las versiones del zoon politikon, sino en admitir la limitación humana que surge de nuestro propio modo de ser sujeto a una evolución donde se realizan nuestros proyectos individuales y colectivos. Aristóteles quería rescatar la tríada armónica, equilibrada e inescindible que formaban pólis, polítes y politeía, que determinaban la vida del hombre en su dimensión humana, social y política. Los comentaristas viven, o creen vivir, la época en la que el logos y el hombre mismo condicionan todo el mundo humano. Ellos no podían llegar a una traducción exacta del término, tal como proponía en su texto, porque se encontraban inmersos en otro paradigma político, social, histórico y jurídico que condicionaba su planteamiento. Para todos las relaciones humanas eran binarias, es decir, estaban constituidas por el par cives y la civitas, relacionados y ordenados por una lex o ius que se impone al cives -que es un elemento civil y no político- por parte de un poder externo que garantizaba la vigencia, la operatividad, la interpretación y la aplicación de las normas. El cives 116  La

traducción de phone como sonido, aunque también se podría entender como voz, se justifica porque Aristóteles se refiere a los animales. Es preferible dar el sentido de algo no articulado y comprensible, y esto se corresponde con los sonidos que emiten los animales Aristóteles: Ética a Nicómaco 1170b 11–14 y otros autores como Isócrates: Sobre el cambio de fortunas 253–257 y Nicocles 50. El mismo Sócrates consideraba que el lenguaje era un requisito necesario para establecer la vida política, constituir la sociedad donde los hombres vivieran Jenofonte: Recuerdos de Sócrates 4.3.12.

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es fundamental para fundar y mantener el desarrollo de la civitas, invirtiendo de esta manera el orden griego, y el sentido de la frase de Aristóteles. En suma, el par cives-civitas se escinde de la Res publica como unidad político-social. La influencia de Cicerón a través de la lectura de su República fue inmensa porque en ella los medievales y los modernos encontraron resumidas las ideas fundamentales de Aristóteles aplicadas a un nuevo contexto político y social, que podía ser transportable a la situación que estaban viviendo ellos.117 Se puede decir que historia y política en Aristóteles están íntimamente unidas, no tanto para conocer de forma erudita un pasado que no existe, sino para comprender en toda su profundidad una dimensión fundamental y natural del modo de ser del hombre: su sociabilidad, es decir, el fin del hombre no sólo tiene sentido en el vivir, sino que se realiza totalmente en el convivir. Vivir y convivir son dos términos de un proceso histórico, biológico y político necesario que ha dado, se da y se seguirá dando en el tiempo y mientras que los hombres no encuentren una forma de estado, de gobierno para organizar la sociedad que sea perfecta, ideal e inmutable. Algo que la historia muestra que es imposible y que todavía estamos lejos de conseguir. Finalmente, el logos ha dejado de ser dialógico, y se ha convertido en individual y sirve para determinar, explicar y fundamentar los imperativos que brotan del ser humano como lo político, lo ciudadano, lo religioso y la libertad. En estos dos mundos no puede haber comunicación porque los nexos de unión, el logos y el hombre, tienen consideración y forman dos categorías diferentes. Por esta razón no se logra entender ambas palabras y se vierten al latín, la lingua franca del momento, según la posición y la intensidad que se manifiesta en cada época sobre lo político, social o civil. Es un caso más, y no es el único, de incomprensión y deformación de una frase genial de un pensador profundo y original que trató de restaurar en toda su pureza efervescente la conquista inmortal, básica y radical de que el ser humano construye su vida conviviendo.

117 

Cicerón: República 1, 10; 2, 69–70 y 3, 3. Y Horacio: Sátiras 1, 3, 103.

Richard Saage

Aristoteles-Kritik und frühneuzeitliche Modernisierung Von Morus’ Utopia zu Hobbes’ Leviathan Noch Mitte des 17. Jahrhunderts stellte Hobbes fest, in den Universitäten sei das Fach Philosophie, auf keine Autoritäten reduzierbar, nicht existent. Was dort gelehrt werde, sei vielmehr Aristotelistik.1 Doch diese selbst in der Frühen Neuzeit erstaunlich massive Hegemonie der Philosophie des Aristoteles, wie sie von der Scholastik weiterentwickelt wurde, wirft die Frage auf, ob jenseits der Schulphilosophie Breschen in ihr historisch gewachsenes Gefüge geschlagen und mit welchen Inhalten sie als alternative Angebote gefüllt worden sind. Diese Frage soll am Beispiel der Gesellschaftskonzeption Thomas Morus’ und Thomas Hobbes’ diskutiert werden. Es steht dabei das Problem im Vordergrund, ob deren Ansätze auf der Folie ihrer jeweiligen (impliziten oder expliziten) Aristoteles-Kritik »modernisierend« im Sinne eines nach vorn orientierten Bruchs mit der historisch überlieferten Erbschaft einer ständisch gegliederten Welt betrachtet werden können, die sich im erheblichen Umfang mit aristotelischen Argumenten legitimierte. Doch welche Alternativen konfrontierten Morus und Hobbes dem Gesellschaftsmodell des Aristoteles? Worin liegen deren Differenzen? Und sind angesichts der verändernden Kraft des utopischen und des individualistischen Wegs in die Moderne aristotelische Postulate obsolet geworden? Um diese komplexe Problemstellung konzeptionell in den Griff zu bekommen, gehe ich im Folgenden von einem methodologischen Ansatz aus, den man am besten mit dem Begriff »Modellanalyse«2 umschreibt. Zwar spielt für sie die kleinteilige philologische Analyse von zentralen Begriffen und Theorieteilen eine unverzichtbare Rolle, um deren semantischen Gehalt in ihrem zeitgeschichtlichen Kontext, aber auch in der diesen übersteigenden Bedeutung dechiffrieren zu können. Doch das eigentliche Erkenntnisinteresse geht über eine

1  An den Universitäten, so Hobbes, räume man dem Studium der Philosophie »keine andere Stelle ein als die einer Dienstmarkt der römischen Religion. Und da dort die Autorität des Aristoteles allein vorherrscht, ist dieses Studium nicht eigentlich Philosophie (deren Natur nicht von Autoren abhängt), sondern Aristotelistik. Und bis in die allerjüngste Zeit hatte sie für Geometrie überhaupt keinen Platz, da diese nur der strengen Wahrheit dient. Und hatte jemand durch seinen eigenen natürlichen Scharfsinn irgendeinen Grad von Vollkommenheit hierin erlangt, so wurde er gewöhnlich für einen Magier und seine Kunst für teuflisch gehalten« (Thomas Hobbes: Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates. Hg. und eingeleitet von Iring Fetscher. Übersetzung: Walter Euchner (Frankfurt a.M. 1984) 511). 2 Vgl. Walter Euchner: Demokratietheoretische Aspekte der politischen Ideengeschichte. In: Egoismus und Gemeinwohl. Studien zur Geschichte der bürgerlichen Philosophie, hg. von dems. (Frankfurt a.M. 1973) 9–46.

Archiv für Begriffsgeschichte · Sonderheft 12 · © Felix Meiner Verlag 2016 · ISBN 978-3-7873-2525-2

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rein immanente Textinterpretation hinaus. Im Kern idealtypisch ausgerichtet, verdichtet dieser Ansatz die fokussierten Textstellen zu einem Modell, in dem das Paradigmatische sozio-politischer Herrschaft und die in ihr dominierenden gesellschaftlichen Interessenlagen abbildbar sind, wie es sich in den Köpfen großer Denker niedergeschlagen hat. Dabei berücksichtigt die Modellanalyse im hier gemeinten Sinn immer auch die Fehlentwicklungen der Herkunftsgesellschaft der jeweiligen Autoren, denen sie ihr Modell politischer und gesellschaftlicher Herrschaft konfrontieren. So verstand Aristoteles das in seiner Politik entwickelte Oikos-Polis-Modell als Antwort auf die egalitären Tendenzen der attischen Demokratie, der er in ihren extremen Formen den Umschlag in die Tyrannis vorwarf.3 Morus’ Utopia ist nicht nur als eine Alternative zu den innen- und außenpolitischen Defiziten des Frühabsolutismus, sondern vor allem auch zu der Expropriation der Schicht der Pachtbauern im Rahmen der Einhegungsbewegung zu verstehen.4 Und Hobbes’ Leviathan lässt sich leicht als die friedensstiftende Antwort auf die das Gemeinwesen zerstörende Wirkung des englischen Bürgerkriegs von 1642 bis 1649 begreifen5, den er mit der Metapher des Behemoth kennzeichnete. 3  »Die Demokratien zunächst erleiden eine Umwandlung vorzugweise infolge des zügellosen Übermuts der Volksführer (demagogòs), indem diese teils durch die von ihnen auf eigene Faust den Wohlhabenden angehängten Prozesse, teils durch die Aufhetzung der ganzen Volksmenge gegen dieselben es dahin bringen, daß sie sich zusammenscharen; denn gemeinsame Furcht verbündet auch die äußersten Feinde« (Aristoteles: Politik. Nach der Übersetzung von Franz Susemihl bearbeitet mit Nummerierung, Gliederungen und Anmerkungen, hg. von Nelly Tsoluyopoulos und Ernesto Grassi (Reinbek bei Hamburg 1968) 172). Hinzu komme, dass der Großteil des Volks auf dem Land ansässig gewesen sei, das politische Geschehen sich aber in der Stadt abgespielt hat. In dieser Situation sei es für die Demagogen leicht gewesen, »sich zu Tyrannen aufzuwerfen. Das aber gelang ihnen allen, daß sie das Vertrauen des (in der Stadt lebenden, R.S.) Volkes besaßen, und das Vertrauen gründete sich auf den Haß gegen die Reichen« (Aristoteles: Politik, a. a.O. [Anm. 3] 173). 4  »›Das sind eure Schafe‹, sage ich, ›die so sanft und genügsam zu sein pflegten‹ jetzt aber, wie man hört, so gefräßig und bösartig werden, daß sie sogar Menschen fressen, Felder, Gehöfte und Dörfer verwüsten und entvölkern. Denn überall, wo in eurem Reiche feinere und daher bessere Wolle erzeugt wird, da sind hohe und niedere Adlige, ja auch heilige Männer, wie einige Äbte, nicht mehr mit den jährlichen Einkünften und Erträgnissen zufrieden, die ihren Vorgängern aus den Landgütern erwuchsen. Es genügt ihnen nicht, müßig und üppig zu leben, der Allgemeinheit nicht zu nützen, sofern sie ihr nicht sogar schaden; sie lassen ein Stück Land zur Bebauung übrig, sie zäunen alles als Weide ein, reißen die Häuser ab, zerstören die Dörfer und lassen gerade noch die Kirchen als Schafställe stehen, und, als ob die Wildgehege und Tiergärten bei euch noch zu wenig Ackerboden beanspruchten, verwandeln jene edlen Leute alle Ansiedlungen und alles, was es noch an bebautem Land gibt, in Wüsten« (Thomas Morus: Utopia. In: Der utopische Staat. Übersetzt und mit einem Essay »Zum Verständnis der Werke«, Bibliographie und Kommentar hg. von Klaus J. Heinisch (Reinbek bei Hamburg 1996) 26). 5  Hobbes erwähnt den Bürgerkrieg im Leviathan als das Schlimmste, was Menschen zustoßen kann, in 26 Textstellen: Das verdeutlicht bereits quantitativ, welche Bedeutung er ihm für seine Staatskonstruktion beimaß. Und, auf die theologische Dimension des englischen Bürgerkriegs von 1641 bis 1649 anspielend, sieht er die häufigste Ursache für seinen Ausbruch in »einer immer noch nicht zureichend gelösten Schwierigkeit, nämlich wie man gleichzeitig Gott und

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Auch wenn diese zeitgenössischen Krisenherde und die angebotenen Lösungsvorschläge stets mitzudenken sind, ist der Ausgangspunkt der folgenden Überlegung die Aristoteles-Kritik, die sich in den alternativen Modellen soziopolitischer Herrschaft bei Morus und Hobbes niederschlug. Zunächst stelle ich die wichtigsten Argumente vor, mit denen Morus und Hobbes den aristotelischen Ansatz kritisierten. In einem zweiten Schritt will ich die Differenzen aufzeigen, die signalisieren, in welchen Hinsichten sie über das aristotelische Modell »modernisierend« hinausgingen. Und in einem dritten Teil schließlich ist zu untersuchen, inwiefern die Versuche von Morus und Hobbes, aus dem Schatten des Aristoteles herauszutreten, in zwei sehr unterschiedliche Wege in die Moderne einmündeten. Es schließen sich einige Überlegungen über das Verhältnis der Philosophie des Aristoteles zu den genannten Modernisierungskonzeptionen an.

I. In Morus’ Utopia sucht man eine explizite Kritik an der aristotelischen Politik vergebens. Doch sie findet implizit im Rahmen einer modernisierenden Antiken-Rezeption statt. Hythlodeus, der Lobredner Utopias, erwähnt zwar auch die Schriften des Aristoteles. Doch der dominante Referenz-Autor ist Platon. Morus übernimmt Platons Kritik am Privateigentum6, der die herrschende Elite von ihm ausschließt: im Gegensatz zu Aristoteles, der die Vorstände der Gutsherrschaft, die Oikos-Despoten, mit der privaten Verfügung über Grund und Boden als einer Basisinstitution seines Gesellschaftsmodells zum Zweck der Selbstversorgung ausstattet. Aber Morus geht nun seinerseits in der Utopia noch einen Schritt über Platon hinaus: Er weitet das Gemeineigentum auf die Gesamtgesellschaft aus. Damit divergiert sein Modell von der aristotelischen Politik noch radikaler, als dies in Platons Politeia der Fall ist: Immerhin durften ihr zufolge die für das Wirtschaftsleben zuständigen Handwerker, Ackerbauern, Händler, Reeder usw. über Privateigentum verfügen.

den Menschen gehorchen könne, wenn sich ihr Befehle widersprechen« (Hobbes: Leviathan, a. a.O. [Anm. 1] 446). 6  In vielen Staaten »nennt jeder das sein Privateigentum, was er sich erworben hat. Aber so viele Gesetze auch Tag für Tag für Tag erlassen werden, sie genügen nicht, um einen jeden das, was er sein Privateigentum nennt, erwerben oder schützen oder genügend von fremdem Besitz abgrenzen zu lassen. Das zeigen ja leicht jene unzähligen, ebenso häufig entstehenden wie niemals endenden Streitigkeiten an. Wenn ich das, wie gesagt, bedenke, werde ich dem Platon besser gerecht und wundere mich weniger, daß er es verschmäht hat, solchen Leuten überhaupt noch Gesetze zu geben, die die gleichmäßige Verteilung aller Güter ablehnten. Denn das sah dieser kluge Mann leicht voraus, daß es nur einen einzigen Weg zum Heile des Staates gebe, nämlich die Verkündigung der Gleichheit des Besitzes, die schwerlich eingehalten werden kann, wo die einzelnen noch Privateigentum haben« (Morus: Utopia, a. a.O. [Anm. 4] 44).

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Weitere Differenzen zum aristotelischen Gesellschaftsbild kommen hinzu. Für Aristoteles war die menschliche Arbeit keineswegs minderwertig. Aber in der Hierarchie der Werte spielte sie eine untergeordnete Rolle: Diejenigen, die aufgrund ihrer Geburt zum Arbeiten verpflichtet sind, hätten nicht die Muße, um in der Polis als vollentwickelte Menschen über das bonum commune zu diskutieren und es in konkrete Politik umzusetzen.7 In Morus’ Utopia ist dagegen die anthropologische Prämisse suspendiert, dass die einen zum Arbeiten und die anderen zum Befehlen geboren sind: Tendenziell müssen alle arbeiten.8 Adel und Klerus, die sich sehr wohl auf die anthropologische Ungleichheit der Menschen im Sinne des Aristoteles berufen konnten, verlieren in Utopia ihren hervorge­hobenen Status, weil auch sie durch Arbeit zur materiellen Reproduktion der utopischen Gesellschaft beitragen müssen. Aristoteles sah im Übrigen die Sklavenarbeit als eine selbstverständliche Grundlage einer wohlgeordneten Gesellschaft an. Für Morus dagegen ist sie in Utopia eine strafrechtliche Maßnahme als Folge eines Kapitalverbrechens ohne substantielle volkswirtschaftliche Bedeutung.9 Es ist klar, dass unter solchen Bedingungen in Utopia von einer Ständegesellschaft nicht mehr die Rede sein kann, weil einer anthropologisch begründeten Hierarchisierung des gesellschaftlichen Lebens die aristotelische Grundlage entzogen ist.

7  »Hier ist nun aber unsere Untersuchung auf die beste Verfassung gerichtet, das aber ist diejenige, durch welche der Staat am meisten glückselig (eudaìmon) wird. Glückseligkeit endlich (…) ist ohne Tugend unmöglich und hieraus ergibt sich denn, daß in dem aufs schönste verwalteten Staat, dessen Bürger gerechte Männer schlechthin und nicht bloß bedingungsweise sind, dieselben weder das Leben eines Handwerkers (bànousos) noch das eines Kaufmanns führen dürfen, denn ein solches ist unedel und der Tugend (aretè) zuwider, und daß auch Ackerbauern diejenigen nicht sein dürfen, welche hier Staatsbürger sein wollen, denn es bedarf voller Muße (scholé) zur Ausbildung der Tugend und zur Besorgung der Staatsgeschäfte« (Aristoteles: Politik, a. a.O. [Anm. 3] 244). 8  »Ihr seht schon: es gibt dort keinerlei Möglichkeit zum Müßiggang und keinerlei Vorwand, sich vor der Arbeit zu drücken: keine Weinstube, keinerlei Bierschenke, nirgendwo ein Freudenhaus, keine Gelegenheit zur Verführung, keinen Schlupfwinkel, keine Lasterhöhle. Vor aller Augen vielmehr muß man seine gewohnte Arbeit verrichten oder seine Freizeit anständig verbringen« (Morus: Utopia, a. a.O. [Anm. 4] 63). 9  »Ihre Sklaven sind weder Kriegsgefangene – es sei denn, sie haben den Krieg selber geführt – noch Kinder von Sklaven, noch überhaupt solche, die sie bei anderen Völkern als Sklaven kaufen könnten, sondern entweder solche Leute, die bei ihnen infolge eines Verbrechens in die Sklaverei fallen oder die in ausländischen Städten wegen einer Untat zum Tode verurteilt wurden (…). Die verschiedenen Arten von Sklaven halten sie nicht nur beständig an der Arbeit, sondern auch in Fesseln; die eigenen Landsleute behandeln sie aber härter, weil sie diese für nichtswürdiger und für schwererer Strafe würdig halten, da sie trotz einer so hervorragenden Erziehung zur Rechtschaffenheit sich dennoch nicht von Verbrechen zurückhalten lassen« (Morus: Utopia, a. a.O. [Anm. 4] 80).

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Im Modell des Aristoteles geht die Polis aus individualisierten Oikos-Einheiten hervor10, die nach dem Prinzip der Selbstversorgung11, nicht nach dem Motiv der Chrematistik12 wirtschaften. Nur einige Produkte wie Salz, Gewürze etc. müssen über den Fernhandel bezogen werden. Die gesellschaftliche Integration obliegt der patrimonialen Mediatisierung widerstreitender Interessen im Oikos, deren Vorstände als Freie und Gleiche in der Polis das bonum commune diskutant ermitteln. Das Wirtschaftsmodell der Utopia lehnt zwar auch die Produktion für den Markt ab, ähnelt aber im Kern einer Planwirtschaft, deren Ziel nicht die Befriedigung der Bedürfnisse einer geschlossenen lokalen Hauswirtschaft, sondern die der Gesamtgesellschaft ist. Diese Volkswirtschaft funktioniert unter der Voraussetzung des gesamtgesellschaftlichen Gemeineigentums und der Abschaffung des Geldes nach drei Kriterien: 1. Alle Arbeitsressourcen müssen erschlossen werden. 2. Luxuskonsumtion ist verboten. 3. Wissenschaft und ihre Anwendung als Technik haben die Arbeitsproduktivität zu erhöhen. Wirtschaftliche Ungleichgewichte in dieser gebremsten Ökonomie ermittelt in Amaurotum, der Hauptstadt Utopias, eine zentralisierte statistische Behörde, die durch eine geplante Koordinierung die egalitäre Güterverteilung sichert.13

10 »Die für das gesamte tägliche Leben bestehende Gemeinschaft ist also naturgemäß das Haus (oikos) (…). Diejenige Gemeinschaft aber, welche zunächst aus mehreren Häusern zu einem über das tägliche Bedürfnis hinausgehenden Zweck sich bildet, ist das Dorf (kome), das am naturgemäßesten als Kolonie (aopikia) des Hauses (oikia) zu betrachten sein dürfte (…) Die aus mehreren Dörfern sich bildende vollendete Gemeinschaft nun aber ist bereits der Staat, welcher, wie man wohl sagen darf, das Endziel völliger Selbstgenügsamkeit (autàrkeia) erreicht hat, indem er zwar entsteht um des bloßen Lebens willen, aber besteht um des vollendeten Lebens willen« (Aristoteles: Politik, a. a.O. [Anm. 3] 9 f.). 11  »Nach diesem allen ist denn nun die eine Art von Erwerbskunst naturgemäß ein Teil der Hausverwaltungskunst, diejenige nämlich, deren Aufgabe es ist, einen Vorrat zu sammeln von Gegenständen, die notwendig zum Leben und nützlich für die staatliche und häusliche Gemeinschaft (koinonia) sind und die daher auch entweder schon vorhanden sein oder durch die Hausverwaltungskunst herbeigeschafft werden müssen. In diesen Dingen scheint auch der wahre Reichtum zu bestehen. Denn das zu einem zweckentsprechenden Leben genügende Maß eines solchen Besitzes geht nicht ins Unendliche, und von ihm gilt nicht, was Solon dichtete: ›Reichtum hat keine Grenze, die greifbar den Menschen gesetzt ist‹ (Aristoteles: Politik, a. a.O. [Anm. 3] 23). 12  »Es gibt noch eine Art von Erwerbskunst (ktetiké), die man vergleichsweise und mit Recht die Kunst des Gelderwerbs (chrematistiké) nennt und sie ist es, welche die Schuld daran trägt, daß es für Reichtum (ploutos) und Besitz (ktesus) keinerlei Grenze zu geben scheint«. (Aristoteles: Politik. (Anm. 3) 24. Nach Aristoteles ist eine Schatzhäufung um ihrer selbst willen verwerflich, weil sie unter allen Formen der Erwerbskunst »die widernatürlichste von allen« ist (Aristoteles: Politik, a. a.O. [Anm. 3] 28). 13  »Im Senat von Amaurotum (…) wird zunächst einmal festgestellt, was in den einzelnen Bezirken an Überfluß vorhanden ist und was, umgekehrt, irgendwo einen geringeren Ertrag gebracht hat. Sodann gleicht man unverzüglich den Mangel des einen durch den Überfluß des anderen aus. Und zwar geschieht dies unentgeltlich, ohne daß die Empfänger diejenigen, die etwas abgeben, entschädigen. (…) So ist die ganze Insel gleichsam eine einzige Familie« (Morus: Utopia, a. a.O. [Anm. 4] 64).

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Hier ist nicht der Ort, weitere Differenzen zu benennen. Es reicht die Feststellung, dass die Utopia des Thomas Morus, orientiert an einer modernisierten Variante der Politeia des Platon, gravierend über das aristotelische Modell hin­ ausweist: An die Stelle der in Europa immer noch vorherrschenden Ständegesellschaft tritt eine Sozietät, die sich nicht hierarchisch vertikal über abgestufte Seinsqualitäten integriert, sondern horizontal unter funktionalen Gesichtspunkten: Wirtschaftliche, soziale, kulturelle und politische Subsysteme bedingen auf egalitärer Grundlage einander und formieren so das gesellschaftliche Ganze. Dem entspricht bei Morus das Muster der geplanten Idealstadt, welche die Symbolik der Seinsqualitäten hinter sich lässt und sich an geometrischen Mustern ausrichtet.14 Das entscheidende Symbol Utopias ist nicht das Himmlische Jerusalem, sondern die utopische Insel, die nach dem Vorbild eines naturwissenschaftlichen Experiments funktioniert: Nach außen von Fremdeinflüssen abgeschottet, folgt das ideale Gemeinwesen konstruktiven Prinzipien, die genau die Defizite vermeiden, unter denen die europäische Herkunftsgesellschaft leidet. Doch die Frage ist, wie sich etwa 150 Jahre später die mühsam der Hegemonie des aristotelischen Weltbildes abgerungenen Spielräume entwickelten und mit welchen gesellschaftlichen Inhalten sie in ihrer Orientierung geprägt wurden, ohne in eine idealisierte Vergangenheit auszuweichen. Wer diese Frage stellt, stößt auf einen Autor, der wie kaum ein zweiter die modernisierende Denkrichtung des individualistischen Naturrechts seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts prägte: Thomas Hobbes.

II. Es ist eine alte Beobachtung in der Geschichte der politischen Ideen, dass immer dann, wenn neue Denkhorizonte erschlossen werden, für die es noch keine präzisen Begriffe gibt, nicht selten Bilder eine Rolle spielen, welche das anvisierte denkerische Neuland charakterisieren. Genauso war es bei Morus, als er sich entschloss, ein utopisches Gegenbild zu der in England bereits in der Auflösung befindlichen aristotelisch legitimierten Ständeordnung zu entwerfen. Bei Hobbes spielt zwar auch noch die Metaphorik des künstlichen Tieres, des Leviathan, eine bedeutende Rolle. Doch im Kern formulierte er seine Aristoteles-Kritik in begrifflich präzisen Kategorien ebenso wie die sozio-politische Alternative, die er der traditionellen Gesellschaft konfrontierte. Hobbes’ Aristoteles-Kritik wird 14 

»Amaurotum (…) liegt an dem sanften Abhang eines Berges. Der Grundriß der Stadt ist fast quadratisch. (…) Die Straßen sind zweckmäßig angelegt: sowohl günstig für den Verkehr, als auch gegen die Winde geschützt. Die Häuser sind keineswegs unansehnlich. Ihre lange und blockweise zusammenhängende Reihe übersieht man von der gegenüberliegenden Häuserfront aus. Die Fronten der Häuserblöcke trennt eine zwanzig Fuß breite Straße. An der Hinterseite zieht sich, jeweils den ganzen Block entlang, ein großer und durch die Rückseite der Blöcke von allen Seiten eingeschlossener Garten hin. (…) Der Überlieferung nach ist (…) der gesamte Plan der Stadt bereits von Utopos (dem Gründungsvater, R.S.) selbst festgelegt worden« (Morus: Utopia, a. a.O. [Anm. 4] 52).

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in dem Maße explizit, wie sie an deren wissenschaftstheoretischen Prämissen ansetzt und daraus sozio-politische Konsequenzen zieht, die sich in entscheidenden Aspekten von denen der Utopia des Thomas Morus unterscheiden. Ins Visier seiner Kritik gerät vor allem der Begriffsrealismus des Aristoteles. Allgemeinen Begriffen wie Körper, Zeit, Ort, Materie, Form, Essenz, Subjekt, Substanz, Akzidenz, Gewalt, Akt, endlich, unendlich, Quantität, Qualität, Bewegung, Handlung, Erleiden etc. entspreche keine Realität; sie seien lediglich konventionelle Absprachen zur Ermöglichung intersubjektiver Kommunikation. Wer sich über diese Einsicht hinwegsetze, laufe Gefahr, sich in die Sphäre haltloser Spekulationen jenseits der natürlichen Vernunft zu begeben, die ihre empirisch abgesicherten Denkoperationen in der Sprache der Mathematik bzw. der Geometrie artikuliere.15 Hobbes’ konsequenter Nominalismus hatte methodische Konsequenzen, die unvereinbar mit der Entelechie des Aristoteles waren. Diesem zufolge tragen alle anorganischen und organischen Naturdinge ihren Zweck in sich selbst. Eine Pflanze ist auf Wachstum, ein Stein aufs Fallen hin angelegt. Hobbes dagegen wies diese teleologische Option schroff zurück. Er stellte ihr die resolutiv-kompositorische Methode16 gegenüber, die im ersten Schritt die nicht mehr teilbaren Elemente des Gemeinwesens, die isolierten Gleichen und Freien im vorstaatlichen Naturzustand, resolutiv freilegt, um sie dann in einem zweiten Schritt durch einen Vertrag kompositorisch wieder zusammenzuführen. Mit diesen methodologischen Prämissen ist zugleich die Grundlage für das Profil eines Gemeinwesens gelegt, das Hobbes zufolge den höchsten Wert menschlichen Zusammenlebens überhaupt garantiert: den inneren und äußeren Frieden. Denn im Gegensatz zu Aristoteles ist dessen Ziel nicht das »gute Leben«, sondern das schlichte Überleben. Diese Leitvorstellung ist anthropologisch fundiert. Nach Aristoteles ist der Einzelne als zoòn pòlitikòn aufgrund der conditio humana teleologisch auf Herrschaft bezogen: Er partizipiert an ihr in dem Maße, wie seine jeweilige Vernunftpotenz dies ermöglicht: Bei den einen schwach ausgeprägt, deren Bestimmung das Dienen ist, befähigt sie die anderen in der Polis zur tugendhaften Herrschaft, weil sie im Vollbesitz ihrer vernünftigen Fähigkeiten sind. Herrschaft ist also als Ausfluss der Natur des Menschen zugleich selbst Naturprodukt.17 15  Vgl. Hobbes: Leviathan, a. a.O. [Anm. 1]

510–514. aus den Elementen, aus denen eine Sache sich bildet, wird sie auch am besten erkannt. Schon bei einer Uhr, die sich selbst bewegt und bei jeder etwas verwickelten Maschine kann man die Wirksamkeit der einzelnen Teile und Räder nicht verstehen, wenn sie nicht auseinandergenommen werden und die Materie, die Gestalt und die Bewegung jedes Teils für sich betrachtet wird. Ebenso muß bei der Ermittelung der Rechte des Staates und der Pflichten der Bürger der Staat zwar nicht aufgelöst, aber doch gleichsam als aufgelöst betrachtet werden, d. h. es muß richtig erkannt werden, wie die menschliche Natur geartet ist, wieweit sie zur Bildung des Staates geeignet ist, und wie die Menschen sich zusammentun müssen, wenn sie eine Einheit werden wollen« (Thomas Hobbes: Vom Bürger. Vom Menschen. Eingeleitet und hg. von Günter Gawlick (Hamburg 1959) 67 f.). 17  »Hiernach ist denn klar, daß der Staat zu den naturgemäßen Gebilden gehört und daß der 16  »Denn

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Hobbes macht die Gegenrechnung auf. Für ihn ist der Mensch im Kern ein Egoist, der vor allem sein Eigeninteresse verfolgt. Er ist nicht auf Herrschaft angelegt, sondern im Gegenteil: Im Naturzustand in einen bellum omnium in omnes18 verwickelt, muss er im Interesse des Überlebens Herrschaft über einen Vertrag aller mit allen erst künstlich schaffen, um die Regeln festlegen zu können, nach denen die Einzelnen im politischen Gemeinwesen miteinander ko­ operieren. Nicht das teleologische Prinzip des Aristoteles ist für ihn zielführend, sondern die bereits erwähnte, am naturwissenschaftlichen Erkenntnismodell seiner Zeit ausgerichtete resolutiv-kompositorische Methode. Der Staat ist kein natürliches Phänomen, sondern das Kunstprodukt verständiger Egoisten. Die tödliche Konkurrenz bewegt die ursprünglich Gleichen und Freien im Naturzustand erst im Medium eines Vertrages zur Vergesellschaftung, d. h. zum Eintritt in ein kompositorisches Artefakt: den Staat.19 Aber auch im Staat haben die Einzelnen bei Hobbes einen anderen Stellenwert als bei Aristoteles. Im Oikos kommt es aufgrund der unterschiedlichen Partizipation an der im Kosmos verankerten lex aeterna zu einer Herrschaftspyramide, an deren Spitze die Oikos-Despoten stehen und an deren Basis die Sklaven ihr Leben fristen. Die gesellschaftlichen Konflikte sind in diesen hierarchischen Strukturen gleichsam weitgehend entschärft und geben den Raum der Polis frei, in dem die Oikos-Despoten ihren herrschaftsfreien Diskurs über das bonum commune zu führen vermögen. Bei Hobbes dagegen ist die Gesellschaft im Kern individualisiert: der Kampf aller gegen alle bleibt wie im Naturzustand bestehen; nur erfolgt er jetzt im Rahmen der Gesetze des Leviathan, des »starken Staates«. Diese konkurrenzbezogene Grundkonstellation steht im schroffen Gegensatz zum aristotelischen Verhaltenskodex: Prangerte dieser die Chrematistik, d. h. die Schatzhäufung als krasse Fehlentwicklung an, welche die Tür zu einem »guten Leben« zuschlage, und verbannte er entsprechend den Markt und das Mensch von Natur ein nach der staatlichen Gemeinschaft strebendes Wesen (zoòn politikòn) ist; und derjenige, der von Natur und nicht durch zufällige Umstände außer aller staatlichen Gemeinschaft lebt, ist entweder mehr oder weniger als ein Mensch (…)« (Aristoteles: Politik, a. a.O. [Anm. 3] 10). 18  »In einer solchen Lage ist für Fleiß kein Raum, da man sich seiner Früchte nicht sicher sein kann; und folglich gibt es keinen Ackerbau, keine Schiffahrt, keine Waren, die auf dem Seeweg eingeführt werden können, keine bequemen Gebäude, keine Geräte, um Dinge, deren Fortbewegung viel Kraft erfordert, hin- und herzubewegen, keine Kenntnis von der Erdoberfläche, keine Zeitrechnung, keine Künste, keine Literatur, keine gesellschaftlichen Beziehungen, und es herrscht, was das Schlimmste von allem ist, beständige Furcht und Gefahr eines gewaltsamen Todes – das menschliche Leben ist einsam, armselig, ekelhaft, tierisch und kurz« (Hobbes: Leviathan, a. a.O. [Anm. 1] 96). 19  Hobbes sieht bekanntlich für die Staatsgründung einen Vertrag zugunsten eines Dritten vor. Die Vertragsformel lautet: »Ich autorisiere diesen Menschen oder diese Versammlung von Menschen und übertrage ihnen mein Recht, mich zu regieren, unter der Bedingung, daß du ihnen ebenso dein Recht überträgst und alle ihre Handlungen autorisierst« (Hobbes: Leviathan, a. a.O. [Anm. 1] 134).

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ihm zuzuordnende Konkurrenzverhalten aus seiner Oikos-Wirtschaft, so steht sie bei Hobbes im Mittelpunkt. Der Wert eines Menschen sei der Preis, den er nach dem Gesetz von Angebot und Nachfrage für sich erzielen kann. Die Ehre, ein hoher Wert in der aristotelischen Lehre, wird durch den Stellenwert ersetzt, den jemand aufgrund seines Marktwertes für sich reklamieren kann.20 Das unbegrenzte Streben nach Macht ist durchaus vereinbar mit der Gier, von der sich Marktteilnehmer bei der Verfolgung ihrer Interessen leiten lassen. Auch wenn Hobbes, wie gezeigt, von einem Paradigma ausging, das dem Stand der zeitgenössischen Naturwissenschaften verpflichtet war, ist nicht auszuschließen, dass stillschweigend in seine politische Physik Prämissen der entstehenden possessive market society Englands im 17. Jahrhundert eingegangen sind.21

III. Fraglos haben die Utopia des Thomas Morus und der Leviathan des Thomas Hobbes eines gemeinsam: Sie treten aus dem Schatten der geistigen Hegemonie des Aristoteles heraus. Gemeinsam ist ihnen ferner, dass sie diesen Schritt im Zeichen eines hochgradigen Konstruktivismus tun: Morus bildet die alternative Gesellschaft im Denkbild der Utopia ab, die er als fiktive Alternative den Fehlentwicklungen seiner Gesellschaft konfrontiert. Und Hobbes’ Konstruktivismus findet seinen Ausdruck in der resolutiv-kompositorischen Methode. Doch diese beiden Varianten des Konstruktivismus gehen von unterschiedlichen Prämissen aus: Morus wies den Weg in eine kollektive und Hobbes in eine individualistische Moderne. Welche Auswirkungen hatte diese Differenz auf ihre konkurrierenden Gesellschaftsmodelle? Und vor allem: Ist der Aristotelismus tatsächlich, wie es scheint, zwischen diesen Alternativen zerrieben worden? Oder konnte er eine Rolle bei der Selbstkorrektur des kollektiven und des individualistischen Ansatzes spielen? Die Differenz der Muster, die Morus und Hobbes ihrer Herkunftsgesellschaft im 16. und 17. Jahrhundert konfrontierten, wird deutlich bei ihrem Versuch, das Verhältnis des Einzelnen zum Staat zu bestimmen. Bei Morus erhält das Individuum seine entscheidenden Prägungen durch die ihn wie Ringe überlappenden 20 »Die Geltung oder der Wert eines Menschen ist wie der aller anderen Dinge sein Preis. Das heißt, er richtet sich danach, wieviel man für die Benützung seiner Macht bezahlen würde und ist deshalb nicht absolut, sondern von dem Bedarf und der Einschätzung eines anderen abhängig. Ein fähiger Heerführer ist zur Zeit eines herrschenden oder drohenden Krieges sehr teuer, im Frieden jedoch nicht. Ein gelehrter und unbestechlicher Richter ist in Friedenszeiten von hohem Wert, dagegen nicht im Krieg. Und wie bei anderen Dingen, so bestimmt auch bei den Menschen nicht der Verkäufer den Preis, sondern der Käufer. Denn mag jemand, wie es die meisten Leute tun, sich selbst den höchsten Wert beimessen, so ist doch sein wahrer Wert nicht höher, als er von anderen geschätzt wird« (Hobbes: Leviathan, a. a.O. [Anm. 1] 67). 21  Vgl. Crawford B. Macpherson: The Political Theory of Possessive Individualism. Hobbes to Locke (Oxford 1962) 9–106.

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Institutionen des wohlgeordneten Gemeinwesens: Es kann keine legitimen Interessen entwickeln, die nicht durch das Filter des erziehenden, versorgenden und die Lebenswelt der Menschen organisierenden Staates hindurch gegangen sind. Hobbes’ resolutiv-kompositorische Methode verfährt umgekehrt. Ausgangspunkt sind die ursprünglich Gleichen und Freien im vorstaatlichen Naturzustand, die, wie bereits betont, über einen Vertrag die staatlich sanktionierten Normen erst garantieren, unter denen sie im Gemeinwesen interagieren können. Die Interessen der Einzelnen, vor allem in Gestalt der Verwertung ihres Eigentums, sind bereits vor der Konstituierung des Staates ausgebildet. Das Gemeinwesen trägt dem dadurch Rechnung, dass es, obwohl es das Privateigentum erst konstituiert, sich einer Intervention in das Wirtschaftsleben weitgehend enthält, während Morus auf der Grundlage des Gemeineigentums die zentral gelenkte Planwirtschaft in Utopia einführt. Doch auch die anthropologische Fundierung des kollektiven und des individualistischen Wegs in die Moderne kann unterschiedlicher kaum sein. Bei Morus gelingt das utopische Experiment nur dann, wenn das utopische Gemeinwesen durch Erziehung und durch die prägende Kraft dazu geeigneter Institutionen einen Neuen Menschen hervorbringt, der, von seinen egoistischen Neigungen befreit, in der Lage ist, das a priori vorgegebene Gemeinwohl zu erkennen und auch praktisch umzusetzen. Diese Ineinssetzung geht so weit, dass für eine Sphäre der Privatheit kein Raum bleibt. Zwar wird die patriarchalische Familie nicht abgeschafft. Aber sie ist als Agentur des Staates von diesem weitgehend instrumentalisiert. Demgegenüber bleiben die Individuen bei Hobbes auch im verfassten Staat das, was sie bereits im Naturzustand waren: egoistische Nutzenmaximierer. Allerdings können sie ihre besitzindividualistischen Bestrebungen nur im Rahmen der Gesetze verfolgen, die ihnen der »starke Staat« vorgibt. Doch entscheidend ist, dass er einen Bereich im Interesse dieses Individualismus freigibt: Die Verwertung des Privateigentums, die Erziehung der Kinder, die Wahl der Wohnung etc. ist nicht Angelegenheit des Staates, sondern der privaten Initiative der Bürger überlassen.22 Diese wenigen Hinweise mögen genügen, um die unterschiedlichen Pfade in die Moderne anzudeuten, die von Morus’ Utopia und von Hobbes’ Leviathan ihren Ausgang nahmen. Ihre Spuren lassen sich bis in die Gegenwart hinein verfolgen. Ex post und in der Perspektive einer gewissen Abstraktionshöhe betrachtet, sind die gemeinsamen Schnittmengen zwischen dem utopischen Modell bei Morus und dem der Herrschaftsordnungen des sowjetischen Typs nicht zu übersehen. Hat nicht in beiden Gesellschaftsbildern die Politik Priorität gegenüber der Wirtschaft und die bürokratische Bevormundung den Vorrang vor den individu22  »Die Freiheit eines Untertanen ist daher auf die Dinge beschränkt, die der Souverän bei der Regelung ihrer Handlungen freigestellt hat: so zum Beispiel die Freiheit des Kaufs und Verkaufs oder anderer gegenseitiger Verträge, der Wahl der eigenen Wohnung, der eigenen Ernährung, des eigenen Berufs, der Kindererziehung, die sie für geeignet halten, und dergleichen mehr« (Hobbes: Leviathan, a. a.O. [Anm. 1] 165).

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ellen Grund- und Menschenrechten? Besitzt nicht in beiden Ansätzen die kollektive Planbarkeit der gesellschaftlichen Prozesse einen höheren Stellenwert als die individuelle Spontanität und Kreativität? Und hat nicht das utopische Inselmotiv eine Entsprechung im Eisernen Vorhang als Symbol und Realität des Versuchs, sich vom Rest der Welt abzuschotten? Aber auch das dem Muster des Hobbesschen Leviathan zu Grunde liegende Paradigma des modernen Naturrechts23 hat, zumal in der westlichen Welt, die Verfassungswirklichkeit aller Staaten geprägt, deren politische Systeme als repräsentative Demokratien die Krisen des 20. Jahrhunderts überdauerten. Denn die autoritäre Form, die Hobbes dem modernen Naturrecht gab, kann seinen individualistischen Ursprung nicht verwischen. Von ihm ausgehend, sind - wie John Locke und Jean-Jacques Rousseau zeigten - auch liberale und demokratische Ausprägungen von Regierungssystemen möglich, die ohne zentrale Axiome des individualistischen Naturrechts nicht funktionieren können. Durch den Herrschafts- und Gesellschaftsvertrag konstituiert sich die Gesellschaft zum Staat. Doch dies geschieht in ihren liberalen Varianten in einer Weise, dass die ursprünglich Gleichen und Freien zwar fundamentale Rechte auf den Staat übertragen, sich aber gleichzeitig individuelle Grund- und Menschenrechte vorbehalten. Institutionelle Vorkehrungen wie Gewaltenteilung, regelmäßige Wahlen und unabhängige Gerichte haben die Aufgabe, diese Sphäre der Privatheit vor willkürlichen Eingriffen des Staates zu schützen.

IV. Ist die Philosophie des Aristoteles der große Verlierer im Spannungsfeld zwischen den beiden geschichtsmächtigen Ansätzen des utopischen und des individualistischen Wegs in die Moderne? Oder anders gefragt: Geht das Gesellschaftsmodell des Aristoteles in seiner Rolle als Legitimationsbeschaffer ständischer Sozialstrukturen auf, die längst erodiert und zu historischen Zeugen einer vormodernen Welt geworden sind? Ich zögere, diese Fragen mit einem eindeutigen »Ja« zu beantworten. Zwar kann kaum bestritten werden, dass auch in den klassischen politischen Ideen gesellschaftliche Interessen eingegangen sind. So legitimierte das aristotelische Gesellschaftsmodell über viele Jahrhunderte sozio-politische Herrschaftsformen der europäischen Antike und des abendländischen Mittelalters, die es so nicht mehr gibt, weil sie seit dem Abfall der Niederlande von der spanischen Krone in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts von einer Serie umwälzender Revolutionen destruiert worden sind. Aber der 23  Walter Euchner hat eine gültige Unterscheidung zwischen dem traditionellen und modernen Naturrecht im Blick auf die Ordnung der Natur, auf die naturrechtliche Erkenntnistheorie, auf die Verbindlichkeit des Naturrechts und auf das Verhältnis von Naturrecht und politischer Ordnung vorgelegt. Vgl. hierzu: W. Euchner: Naturrecht und Politik bei John Locke (Frankfurt a.M. 1979) 14–42.

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Rang politischer Ideen wie die des Aristoteles zeichnet sich gerade dadurch aus, dass sie einen überschießenden Gehalt hervorgebracht haben, der nicht auf die sozialen und politischen Interessenkonstellationen reduzierbar ist, von denen sie einst in Anspruch genommen wurden. Ist es möglich, dass im Licht eines solchen »überschießenden« Gehalts Aspekte der Politik des Aristoteles eine überraschende Aktualität als Korrektive der utopischen und der individualistischen Modernisierungsstrategie erlangen können? Morus’ selbst hätte sich auf die Kritik beziehen können, die Aristoteles an Platon übte. Durch dessen Gesellschaftskonzeption gehe ein polarisierender Riss: Auf der einen Seite stünde die politische Elite der Wächter und Philosophen, die unter kommunistischen Verhältnissen lebe, aber alle politische Macht kontrolliere. Auf der anderen Seite befände sich die große Masse der Bevölkerung, die den gesellschaftlichen Reichtum hervorbringe, aber von der politischen Macht ausgeschlossen sei. Das Gemeineigentum der politischen Elite minimiere also nicht gesellschaftliche Spannungen, sondern steigere sie, ja, es bedrohe den gesellschaftlichen Zusammenhalt.24 Im Resultat ähnlich argumentiert Morus gegen den Lobredner Utopias, den Intellektuellen Hythlodeus. Zwar vermeidet Utopia dadurch den sozio-politischen Antagonismus, dass das Gemeineigentum die Gesamtgesellschaft umfasst. Doch läuft die kommunistische Aufhebung des Mein und Dein nicht auf einen tristen Egalitarismus25 hinaus? Bewirkt die Abschaffung aller Ränge nicht die Lähmung jeglicher Initiative? Ist die Negation des Eigentums an einer Sache, die andere von ihr ausschließt, nicht die Ursache endloser Streitereien? Fördert die totale Daseinsvorsorge des Staates nicht die Indolenz der Einzelnen und damit die wirtschaftliche und kulturelle Stagnation?26 24 

Im Falle der Einführung des Gemeineigentums, so argumentiert Aristoteles gegen Platon, würden notwendig »in einem Staat zwei Staaten entstehen und noch dazu zwei in feindlichem Gegensatz zueinander stehende, da ja Sokrates die Wächter nur zu einer Art Besatzung und die Bauern, Handwerker (technites) und was noch hier her gehört zu Bürgern (polites) macht. Und ferner würden ja so Klagen, Prozesse und alle jene anderen Übel, die er den Staaten zur Last legt, ebensogut auch hier vorkommen« (Aristoteles: Politik, a. a.O. [Anm. 3] 47 f.). 25  »Mir kam nun zwar manches in den Sinn, was mir an den Sitten und Gesetzen dieses Volkes (der Utopier, R.S.) überaus unsinnig erschienen war, nicht nur an der Art der Kriegsführung, am Gottesdienst, an der Religion und noch anderen ihrer Einrichtungen, sondern vor allem auch an dem, was die eigentliche Grundlage ihrer ganzen Verfassung bildet, nämlich an ihrem gemeinschaftlichen (kommunistischen, R.S.) Leben und der Lebensweise ohne jeden Geldumlauf; denn allein schon dadurch wird aller Adel, alle Erhabenheit, aller Glanz und Würde, alles, was nach allgemeiner Ansicht den wahren Schmuck und die wahre Zierde eines Staatswesens ausmacht, vollständig ausgeschaltet« (Morus: Utopia, a. a.O. [Anm. 4] 109). 26  So wendet Morus gegen die Einrichtungen Utopias ein, ihm scheine dort, »wo alles Gemeingut ist, ein erträgliches Leben unmöglich. Denn wie soll die Menge der Güter ausreichen, wenn sich jeder vor der Arbeit drückt, da ihn keinerlei Zwang zu eigenem Erwerb drängt und ihn das Vertrauen auf fremden Fleiß faul macht? Aber selbst wenn die Not ihn antreibt und ihm dann kein Gesetz erlaubt, sich das, was er erworben hat, als Eigentum zu sichern, wird man dann nicht zwangsläufig beständig mit Mord und Aufruhr rechnen müssen? Wenn zudem noch das Ansehen der Behörden und die Achtung vor ihnen geschwunden ist, dann kann ich mir nicht

Aristoteles-Kritik und frühneuzeitliche Modernisierung

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Doch auch Hobbes’ Konzeption des kontraktualistisch begründeten autoritären Staates weist Defizite auf. Der Staat, so Hobbes, könne seiner Funktion als Friedensstifter nach innen und außen nur dann genügen, wenn er das absolute Meinungsmonopol zwar nicht im privaten, wohl aber im öffentlichen Sektor des Gemeinwesens innehabe. Aber dadurch, dass er sich aller institutionalisierter Kontrollen der Kritik staatlicher Meinungsbildung begibt, ist es für ihn fast unmöglich, politische Fehlentwicklungen zu erkennen und zu korrigieren. Was Hobbes von Aristoteles hätte lernen können, ist dessen Vorstellung, dass im hellen Licht der Polis die Vollbürger als Gleiche und Freie erst über einen diskutanten Prozess des Abwägens und der Reflexion definieren, in welche Richtung die Politik gehen soll. Nicht die hermetische Abschottung des autoritären Willensbildungsprozess empfiehlt Aristoteles, sondern die Offenheit des Diskurses und des schließlichen Konsenses im herrschaftsfreien Raum der Polis. Die Politik des Aristoteles, so möchte ich zusammenfassend mein Referat schließen, ist in zweierlei Hinsicht für die europäische Modernisierung in ihrer kollektiven und individualistischen Spielart bedeutsam geworden: Einerseits war seine Philosophie der geistig-intellektuelle Hegemon, der jene Kritik beförderte und inspirierte, die erst den Durchbruch neuer Legitimationsmuster im Wandel begriffener gesellschaftlicher Formationen seit dem 16. Jahrhundert ermöglichte. Andererseits enthält sie aber auch »überschießende Gehalte«, die bis auf den heutigen Tag geeignet sind, als kritische Korrektive modernisierender Dynamiken zu wirken. Der Politik und Ethik verbindende Ansatz des Aristoteles erinnert uns nicht nur daran, dass das Politische keineswegs nur Machtkampf und Interessenkonflikt ist. Er verdeutlicht auch, dass das »gute Leben« als regulatives Prinzip nur in einem offenen kommunikativen Raum möglich und keineswegs ausschließlich durch sozialtechnische Arrangements »herstellbar« erscheint.

einmal ausdenken, was bei solchen Menschen, zwischen denen es keinen Unterschied gibt, an deren Stelle treten könnte« (Morus: Utopia, a. a.O. [Anm. 4] 45 f.).

Christian Schäfer

Das Gesetz des Handelns Die aristotelische Handlungstheorie im Lex-Traktat des Domingo de Soto Das Werk, um das es im Folgenden gehen soll, Domingo de Sotos De iustitia et iure, erscheint im Jahr 1553 inmitten der hitzigen Debatten um die Rechtfertigung der spanischen Eroberung und Kolonisierung der Neuen Welt.1 De Soto war 1550/51 Mitglied des Gremiums, vor dem Bartolomé de Las Casas und Juan Ginés de Sepúlveda in der berühmten sogenannten Gran Disputa de Valladolid die unterschiedlichen Standpunkte über die Legitimität der Spanischen Kolonialpolitik und ihrer Rechtstitel mit größter Deutlichkeit vorgebracht hatten und gegen den jeweils anderen zur Durchsetzung zu bringen bemüht gewesen waren. All das ist am besten zu verstehen vor dem Hintergrund der mit hohem argumentativem Aufwand geführten Bemühungen der Spanischen Spätscholas­ tik seit Francisco de Vitoria, insbesondere den Naturrechtsbegriff, aber auch genereller den Begriff des Rechts und der sogenannten facultates morales, der individuellen Rechtsansprüche, also des objektiven Rechts und des subjektiven Rechte, wie wir heute sagen würden, mit Eindeutigkeit und philosophischer Verbindlichkeit neu zu bedenken. De Sotos De iustitia et iure stellt nun, wegen der Gunst der Veröffentlichungsumstände einerseits2 und der Qualität der vorgelegten Argumentation andererseits, in den Augen der Zeitgenossen einen für lange Zeit maßgeblichen Höhepunkt in der spätscholastischen Literatur um die Bestimmung des Rechtsbegriffs dar. Die intensive Beschäftigung mit dem Rechts- und Gesetzesbegriff in der Spanischen Spätscholastik und angesichts der drängenden kolonialethischen Fragen kann unter anderem als Antwort auf eine geschichtliche Herausforderungs­ situation gedeutet werden, die aus mindestens zwei konstellativen Vorgaben erwachsen war: Zum einen hatten sich spätestens seit dem 11. Jahrhundert mit dem kanonischen und dem zivilen Recht zwei eigene, voneinander perspektivisch grundsätzlich unabhängige Gesetzessysteme herauszubilden begonnen. So stellt etwa bereits im 13. Jahrhundert Aegidius Romanus fest, dass es genau besehen kein extensionales Unterscheidungsmerkmal zwischen beiden gebe, also 1  Belegverweise

und Zitate aus De iustitia et iure nehmen hier und im Folgenden Bezug auf die Ausgabe: Fratris Dominici Soto De Iustitia et Iure, Libri decem (Salamanca 1573). Die Seitenzahlen der Belegangaben beziehen sich auf diese Ausgabe. 2  De Vitorias entsprechende Relectiones hingegen, die heute als maßgeblich angesehen und ihrer ideengebenden Originalität wegen geschätzt werden, kursierten bis in die 70er Jahre des 16. Jahrhunderts fast ausschließlich in zahlenmäßig stark begrenzten handschriftlichen Kopien; vgl. dazu Merio Scattola: La virtud de la justicia en la doctrina de Domingo de Soto. In: Anuario Filosófico 45 (2012) 313–341, insbesondere 314. Archiv für Begriffsgeschichte · Sonderheft 12 · © Felix Meiner Verlag 2016 · ISBN 978-3-7873-2525-2

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keinen abtrennbaren Eigenbereich, der eines dieser Rechtssysteme eigenständig und unverwechselbar in eindeutiger Abgrenzung zum anderen zu identifizieren helfe. Wie das zivile Recht erstrecke sich auch das kirchliche Recht über die Bereiche von Ehe und Familie, Verwaltungsangelegenheiten, Finanzen und Vertragsdingen aller Art, und beide Gesetzessysteme kennen ein Strafrecht, eine Insti­tutionenlehre, etc., und das bemerkenswerterweise, obwohl beide bestimmte Grundsätze teilen, die sie doch als demselben Genus zugehörig ausweisen: ad impossibile nemo tenetur, pacta sunt servanda, cessante causa cessat effectus, und wie sie alle lauten mögen. Was sich bei Aegidius Romanus so andeutet, ist im 16. Jahrhundert dann eine offensichtliche, aber eben erklärungsbedürftige Tatsache: Die beiden Rechtssysteme entsprechen zwei voneinander unterschiedenen und nicht aufeinander rückführbaren, eben autonomen Perspektiven auf das Gesamt der Wirklichkeit, das heißt einer geistlichen und einer weltlichen Perspektive auf die Welt als ganze, oder doch zumindest auf die menschliche Lebenswelt in ihrer Gesamtheit. Wenn es sich aber um solche grundsätzlichen und nicht mehr aufeinander rückführbaren Positionierungen handelt, von denen aus die beiden Rechtssysteme eine Normierung durch verbindliche Regeln gewährleisten sollen, wie kann man dann in beiden Fällen des weltlichen und des geistlichen Rechts und ihrer Gesetze überhaupt noch von »Recht« und »Gesetz« sprechen, ohne einer Äquivokation anheimzufallen? Vor diesem Hintergrund verlangte der Begriff der lex und des ius dringend Klärung. Eine ähnliche Klärung war aber dann insbesondere auch in Bezug auf das zweite historische Anstoßproblem, das sich bei den Spanischen Spätscholastikern immer wieder findet, vonnöten: Die Frage nach den Rechtstiteln für die Eroberung und Kolonisierung von bis dato nicht bekannten Ländern und Völkern. Hier wird einerseits die Differenzierung in die beiden perspektivisch eigenständigen Gesetzessysteme des weltlichen und des kirchlichen Rechts deutlich, insbesondere bei den Denkern, die sich dem Problem stellen, ob – und wenn ja warum – es möglich sein könnte, solche Rechtstitel nach kirchlicher Rechtslogik geltend zu machen, nicht aber aus weltlicher oder umgekehrt.3 Darüber hinausgehend ergab sich die Frage, wie die autochthonen rechtlichen Regelungen der fremden Völker, die weder vom Römischen Recht noch vom Gesetz Mose oder Christi etwas wussten, einzuordnen waren: als anerkennenswerte Rechtssysteme sui generis? Gab es die Möglichkeit, die Vielfalt dieser Rechtstraditionen gelten zu lassen, und wo war die Grenze zu ziehen, die etwa militärische Interventionen oder Missions- und Handelsbeschränkungen aus kultureller Rücksichtnahme zuließ? Auch hier bedurfte die Frage einer Beantwortung, ob überhaupt und wenn ja, unter welchem Aspekt alle positiven Ausformungen von Rechtssystemen und Gesetzestraditionen anderer Kulturkreise miteinander verglichen 3  Vgl. die entsprechende Argumentation bei Francisco de Vitoria in seiner Relectio de indis (Francisco de Vitoria: »De indis/Über die Indianer«. In: Vorlesungen (Relectiones): Völkerrecht, Politik, Kirche. Bd. 2, hg. von Ulrich Horst, Heinz-Gerhard Justenhoven und Joachim Stüben (Stuttgart 1997) 411–423).

Das Gesetz des Handelns

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werden durften und ob es einen gemeinsamen Grundstock – etwa in einem Naturrecht – all dieser historisch voneinander unabhängigen Ausformungen rechtlicher Regelungen gebe. Es ist in diesem Zusammenhang durchaus bemerkenswert, dass sich Domingo de Soto und die anderen Spätscholastiker keineswegs zunächst auf den traditionellen Weg begeben, eine Kluft zwischen nomos und physis aufzumachen und die für eine Bewertung maßgeblichen Zusammenhänge ausschließlich in der physis zu suchen, um den nomos für alles Partikuläre und Relativistische haftbar zu machen. Vielmehr suchen sie eine gemeinsame Grundlage im Gesetzesbegriff selber – freilich nicht, ohne diesen Gesetzesbegriff eben genau in der physis zu verankern, wie noch am Beispiel des bei de Soto Gesagten zu sehen sein wird. De Soto legt dementsprechend in den Anfangsquaestionen von De iustitia et iure wie es sich gehört eine Bestimmung dessen vor, was unter lex grundsätzlich zu verstehen sei. Diese Anfangspassagen des Werkes sind als eine philosophische Bemühung de Sotos anzusehen, prinzipiell zu klären und zu erklären, was die – um es einmal vorsichtig so auszudrücken – Bedingungen der Möglichkeit dessen sind, dass wir überhaupt qualifiziert von »Gesetz« oder »Recht« sprechen können.4 Es geht also um eine grundlegende Definition des lex-Begriffs, die es erlauben soll zu verstehen, warum wir kirchliches wie weltliches Recht sowie alle partikulären Ausformungen von Rechtssystemen und Rechtstraditionen gleichermaßen als »Recht« ansehen können, ohne in eine Äquivokationsfalle zu geraten. Es wird zu sehen sein, dass de Soto (wie viele andere auch) auf ein anthropologisches Grunddatum ausweicht, um diesem Problem begegnen zu können: Die psychologische Betrachtung der allgemeinmenschlichen Möglichkeiten, sich in Entschlussfassung und Anweisung an sich selbst zum geregelten Handeln zu bestimmen, also die Vernunft als Gesetzgeber für das Handeln richtig erkennen zu können, bietet die Grundlage dafür, systematisch den Begriff des Gesetzlichen überhaupt an der Wurzel zu erfassen. Seine Definition der lex entwickelt de Soto aus den Vorgaben der Rechtsund Gesetzeslehre bei Thomas von Aquin (S.th. I–II qq. 90–108, insbesondere q. 90). De Soto ergänzt diese thomasische Vorgabe jedoch auffallend oft durch Verweise, die über das bei Thomas Gesagte hinaus Aristoteles zusätzlich als Ge4  Hier und im Folgenden wird, da jede weitere Differenzierung für den vorliegenden Zusammenhang nichts austrägt, der Begriff »Recht« entweder als Einzelrecht im Sinne einer facultas moralis verstanden, oder, und zwar öfter, als ein geschlossenes System von Gesetzen. Die Erläuterung des Gesetzesbegriffs wird daher als klärend für die konstitutiven Elemente des Rechts auch als grundlegend für die Definition des Rechtsbegriffs angenommen. Für eine allgemeine Grundlegung der Gedanken de Sotos zu diesem Problemkreis sei hier verwiesen auf die prinzipiellen Erwägungen bei M. Scattola: Naturrecht als Rechtstheorie: Die Systematisierung der ›res scholastica‹ in der Naturrechtslehre des Domingo de Soto. In: Die Ordnung der Praxis. Neue Studien zur spanischen Spätscholastik, hg. von Frank Grunert und Kurt Seelmann (Tübingen 2001) 21–48; M. Scattola: La virtud de la justicia, a. a.O. [Anm. 2]; Florencio Hubeñák: Domingo de Soto en el contexto de su época. In: La ley natural como fundamento moral y jurídico en Domingo de Soto, ed. por Juan Cruz Cruz (Pamplona 2007) 17–50.

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währsmann nennen. Einer dieser Fälle soll im Folgenden exemplarisch besprochen werden, um einen Casus der Aristotelesrezeption in den Diskussionslagen der Spanischen Spätscholastik vor Augen zu führen. Das wird in zwei Schritten geschehen: Der erste widmet sich einer kurzen Rekonstruktion der Definition der lex im Gesetzestraktat von de Soto. Im zweiten wird die Frage nach der Verbindung gestellt, die de Soto bei dieser Definition zum aristotelischen Denken ziehen möchte. Denn diese Bezugnahme scheint auf den ersten Blick keineswegs nötig oder auch nur besonders einsichtig zu sein: Es fällt auf, dass de Soto in seiner einleitenden Sichtung philosophisch tauglicher Autoritätenzitate bei der Gesetzesdefinition keine Parallelstelle aus Aristoteles stützend anführen kann und die pseudo-aristotelische Rhetorica ad Alexandrum heranziehen muss,5 um zunächst eine gemeinsame Basis für seine eigene Definition und einen »aristotelischen« Wortlaut aufbieten zu können.6 Dies ist jedoch zunächst nur als eine eher rhetorische Handbewegung zu werten, mit der de Soto auf einen gesättigten Grundbestand althergebrachter Lehren zum Gesetzesbegriff verweist, um das Feld für sein Thema in ausgewiesener Gelehrsamkeit vorzubereiten. Umso dringlicher wird sich vor diesem Hintergrund aber die Frage stellen: Welchen Sinn und Wert haben de Sotos folgende Verweise auf Aristoteles?

I.  De Sotos Definition der lex Ausgangspunkt für de Sotos Überlegungen zum lex-Begriff in der Quaestio 1 von De iustitia et iure ist die folgende Definition (q. 1, a. 1; S. 6):

5 

De Soto, De iustitia et iure q. 1, a. 1: Sicut et illa [scil. definitio, CS] in Aristotelis in Rhetoricis ad Alexandrum, cap. De genere deliberativo. Lex est communis civitatis consensus, quae scriptis praeceperit quomodo unumquoque agendum sit. […] Igitur, si vastam eius amplitudinem quam late patet spectes, Lex est nihil aliud quam quaedam rationis ordinatio et praeceptio in commune bonum, ab eo, qui curam reipublicae gerit, promulgata. »Wie auch jene Definition in der Rhetorik für Alexander, im Kapitel über das deliberative Genus [besagt]: Ein Gesetz ist eine allgemeine Übereinstimmung der Bürgerschaft und dient in schriftlicher Abfassungsform als Vorschrift dafür, wie sich jeder zu verhalten habe. […] Deshalb, in Anbetracht der vollkommen offensichtlichen Bedeutungsbreite:« [es folgt die Gesetzesdefinition de Sotos, die nachstehend in diesem Beitrag zitiert und behandelt wird]. 6  Die wenigen eindeutigen Textbelege zum Problemkreis aus den aristotelischen Werken bietet und bespricht Albrecht Dihle: Der Begriff des Nomos in der griechischen Philosophie. In: Nomos und Gesetz. Ursprünge und Wirkungen des griechischen Gesetzesdenkens, hg. von Okko Behrends und Wolfgang Sellert (Göttingen 1995) 117–134.

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Also: »Das Gesetz ist nichts anderes als eine bestimmte [1] Anordnung und Vorschrift der Vernunft, [2] am Gemeinwohl ausgerichtet und [3] von demjenigen, dem die Sorge um das Gemeinwesen obliegt, [4] erlassen«, wie man vielleicht übersetzen könnte. Aus dieser Bestimmung, die sich stark an die Definition des Rechts bei Thomas von Aquin (S.th. I–II, q. 90, a. 4) anlehnt, ergibt sich auch der innere Aufbau der gesamten Quaestio 1 von De iustitia et iure. Dieser Aufbau geht aus von der Ermittlung der Gattungszuweisung – das Gesetz ist eine Anordnung oder Vorschrift der Vernunft – (behandelt in Artikel 1); die Quaestio findet dann über die Erörterung von Zweck/Zielüberlegungen (in Artikel 2) und die Diskussion des Urheberproblems als Konstituenten der lex-Definition (in Artikel 3) abschließend zu Feststellungen über den Gesetzeserlass als viertem Definiens der lex (in Artikel 4). Die Ergebnisse des jeweils vorangehenden Artikels gehen dabei in die Definitionsleistung des nachfolgenden als grundlegend ein. Die Darstellungsmethode gehorcht somit einer Anordnung a maiore ad minus. Tatsächlich geht de Soto hier, wie noch zu sehen sein wird, für die Gesetzesdefinition vom »Paradigma« der aristotelisch-thomasischen allgemeinen Handlungstheorie aus, um dann schrittweise bis zum Spezifikum des (rechtswirksam gefassten) Gesetzes in der notwendigen öffentlichen Erlassform zu gelangen. Das Zustandekommen und der »Sinn« von Gesetzen haben also bei de Soto dieselben definierenden Phasen wie das Zustandekommen und der Sinn des Handlungsentschlusses beim Individuum und bilden diesen sozusagen im Großen nach. Um dies besser zu verstehen, muss vor allem auf den 1. Artikel und die für alles Folgende grundlegende Diskussion der Genuszuweisung der lex (De genere definitionis) eingegangen werden: Die Ausgangsfrage für diese Grundsatzüberlegung greift den Parallelismus des Zustandekommens von Handlungsentschlüssen und Gesetzeserlassen auf und lautet: Ist die lex Sache des Willens oder des Intellekts? Im Hintergrund steht die aristotelisch-scholastische Überzeugung, dass Verstandestätigkeit und Strebetätigkeit beide rationalen Vermögen entsprechen, die Strebetätigkeit also nicht unter die vernunftlosen, noch nicht einmal unter die unvernünftigen Regungen fällt. Aristoteles gibt dies in Nikomachische Ethik 1139a dadurch vor, dass er für die Handlungskonstitution die voluntativen Vermögen von Wahl und Streben mit den »verstandesmäßigen« von vernünftigem Denken und Reflexion in Verbindung bringt, woraus sich die geradezu bekenntnishafte Formel für die scholastischen Denker der aristotelischen Tradition ergab, dass der Wille ein rationales Streben, ein vernünftiges Auf-etwas-aus-sein, benennt (so Thomas von Aquin in S.th. I–II, q. 6, a. 2, ad 1: voluntas nominat rationalem appetitum).7 De Soto wird in radikalisierender Aufnahme dieses Gedankens später eine eigene Linie verfolgen, die das Willentliche sehr dezidiert dem Verstandesmä7  Der Wille als rationaler appetitus ist somit, nach Candace Voglers (auf den Worten Michael Thompsons aufbauenden) griffiger Definition, ein Aspekt der »concept-involving endorientation«, derer der Mensch als Vernunftwesen fähig ist. Vgl. Candace Vogler: Reasonably vicious (New Haven 2009) 31.

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ßigen unterordnet, doch stellt er aufgrund dieser eben genannten autoritativen Vorgaben zunächst einmal nur fest, dass die lex, weil erlassförmig, klar ersichtlich Sache des Intellekts ist: patentissimum est rem esse intellectus (S. 7). Er reflektiert damit ein weiteres aus Thomas von Aquin bekanntes Adagium, nämlich imperare est actus rationis, S.th. I–II, q. 17, a. 1 (wozu später noch Näheres). Das wird von de Soto mit Hinweis darauf erklärt und gefestigt, dass es sich bei der lex um ein (geistiges) Erfassen von Handlungsansprüchen und gleichzeitig um ein mit diesem Erfassen einhergehendes handlungsleitendes Vorschreiben dreht (um ein monstrare, praecipere, ordinare), wie dies (nämlich erfassen, erlassen und vorschreiben) nur der Verstand kann (der Wille ist nämlich zwar in seiner Weise durchaus initiativ, aber nie leitend tätig, wird auf S. 9 nachgereicht, er ist ein appetitus oboediens rationi). Der Gesetzeserlass ist also Verstandessache, und der Verstand steht leitend vor dem Wollensvermögen; es geht um die rechte Beurteilung einer Sachlage, um die daraus entspringende Einsicht, dass Regelungsbedarf besteht und um die Feststellung, wie die entsprechende Regelung oder zu erreichende Ordnung auszusehen habe. Beurteilen, einsehen, feststellen und anordnen obliegen aber dem Verstand, wie de Soto ausführt (nam est regula actionum, quae in finem dirigit, quod solius est oculatae rationis munus; ad quem finem voluntatem, quae caeca potentia est, ducit; ergo rationis functio est legem ponere; S. 7). Was bei de Soto hier nun zugrundeliegt, ist tatsächlich die thomasische Handlungstheorie aus S.th. I–II qq. 11–17. In ihr arbeitet Thomas bestimmte Vorgaben aus der aristotelischen Moralpsychologie zu einer systematischen Ablauflogik des Handlungsentschlusses aus. Der Verstand, intellectus, kommt demnach gleichsam in einer vernunftinneren Dialogsituation mit dem zweiten rationalen Vermögen, dem Willen, zu dem Punkt, an dem die Entschlussreife gewonnen ist. Es geht danach aber noch darum, das Beschlossene auch zur Durchführung anzuordnen. Anordnen jedoch ist nun einmal Sache des Verstandes. Die lex reflektiert also nicht nur eine Auffassung des intellectus davon, was ist, sondern ebenfalls davon, was zu tun ist, was ein praktisches Urteil miteinschließt: was das consilium (bei Aristoteles in der Nikomachischen Ethik, wie noch des Näheren zu sehen sein wird: die euboulia) betrachtet und das iudicium (bei Aris­ toteles: die synesis) bewertet, wird durch den Willen gewählt. Dies wird dann im Verstand von seinem »Klugheit« (prudentia) genannten Vermögen vom Indikativ in den Imperativ übersetzt: Tu es (dies), vermeide es (dies). Diese Anordnung ist die Stufe der gesetzhaften Fassung, die de Sotos Darstellung zur Einlösung ihres Zwecks erreichen wollte. Soweit also die Handlungstheorie der »privaten lex«, das heißt des handlungsgenerierenden Selbstgesetzgebungsvorgangs des Individuums. Das Ganze lässt sich in folgendem Schema der thomasischen Handlungstheorie gemäß S.th. I–II, q. 11–q. 17 zusammenfassen:8 8 

Vgl. dazu Christian Schäfer: Thomas von Aquins gründlichere Behandlung der Übel (Berlin 2013) 258. Die Darstellung folgt dem Schema bei Daniel Westberg: Right Practical Reason.

Das Gesetz des Handelns

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A bsichtsbildung : q. 11 u. 12

Überlegung

Zurategehen (consilium) [V] q. 14 Zustimmung (consensus) [W] q. 15 Gewinnung der Entschlussreife

E ntscheidung

Umsetzung

Urteilen (iudicium) [V] q. 13 Wahl (electio) [W] q. 13

(Selbst)Befehl (imperium) [V] q. 16 Durchführung (usus) [W] q. 17

Umsetzung (actus imperati)

– Das erklärt also zunächst die Verortung des imperium in der Handlungstheo­ rie: In einem ersten Schritt geschieht die Zweckerfassung mit entsprechender Absichtsbildung; Überlegung (wo eine solche nötig ist und die Absicht nicht schon eine sofortige intuitive Sicherheit des Ermessens vorleistet) und Entscheidung bringen das Handlungsvorhaben zur Entschlussreife; schließlich wird im finalen Schritt der Umsetzung das Beschlossene zur Durchführung angeordnet, und zwar dies in der Doppelbedeutung von »befehlen« und »in Ordnung bringen«, die das Wort ordinare, »anordnen«, zulässt. Dies im Blick geht dann alles Folgende ganz schnell, indem de Soto die individuelle innerpsychische Ablauflogik der Handlungsregelung ins Soziale transferiert: Sobald die Verstandesmaßgabe »Tu es (dies), vermeide es (jenes)« aufgrund einer vorhergegangenen Überlegung und Beschlussfassung durch eine öffentlich machthabende Instanz in einer ihrer Machtbefugnis entsprechenden Weise habitualisiert wird (z. B. schriftlich erlassen oder deklaratorisch ausgerufen wird), spreche man eigentlich erst von lex, so de Soto, der mit dieser Feststellung nun in aller denkbaren Knappheit auch am Ziel seiner Ausführungen über Aristotle, Action, and Prudence in Aquinas (Oxford 1994) 131. Im Schema indiziert [V] die vorangehenden Verrichtungen des Verstandes und [W] die sie aufgreifenden des Willens.

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den rationalen Grundcharakter der lex angekommen ist (S. 9). Sie ist tatsächlich, wie in der Anfangsdefinition bereits vorentworfen, eine aus vernünftiger Überlegung gewonnene Anordnung/Vorschrift, die aus einem Bedenken des Guten hervorgeht und von der zuständigen Instanz veranlasst wird. Der rationale Charakter des Willens besteht demnach bei de Soto – anders als bei vielen der »klassischen« Scholastiker, die dem Willen eine weitergehende rationale Kompetenz zusprechen – vor allem darin, auf den Verstand als diese veranlassende Instanz hören und ihm folgen zu können. Beleg dafür ist die Kernpassage, in der de Soto die lex schließlich als »ganz offensichtlich Sache des Verstandes« definiert: Das Gesetz »ist nämlich eine Handlungsregel, die zum Ziel hinführt, was zu tun Aufgabe der zum Sehen befähigten Vernunft ist, die den Willen als blindes Vermögen diesem Ziele auch zuführt. Das Gesetz zu erlassen entspricht also einer Verstandesfunktion” (nam est regula actionum, quae in finem dirigit, quod solius est oculatae rationis munus; ad quem finem voluntatem, quae caeca potentia est, ducit; ergo rationis functio est legem ponere). Gefestigt und zusammengefasst wird diese Genuszuweisung der lex an die Verstandestätigkeit an selber Stelle dann auch noch in einem Dreisatz: Ma Mi Co

Legis munus est praecipere et prohibere (= imperare) (Aufgabe des Rechts/Gesetzes ist es vorzuschreiben und zu verbieten) Imperare est rationis (zu befehlen ist Verstandessache) Lex a ratione elicitur (das Recht wird vom Verstand veranlasst)

Der Mittelsatz imperare est rationis ist tatsächlich aus dem lex-Traktat des Thomas von Aquin so übernommen (S.th. I–II, q. 90, a. 1, ad 3) und stellt wiederum so etwas wie ein scholastisches Adagium dar. Es stimmt mit dem Grundsatz der thomasischen Handlungstheorie überein, dass das imperium als eine Form des ordinare, des Ordnung Schaffens für das Handeln, Sache des Verstands ist, nicht des Willens, obwohl auch dieser ein rationales Vermögen darstellt (S.th. I–II, q. 17, a. 1). Im Text von De iustitia et iure verwendet de Soto (ähnlich wie Thomas von Aquin, auf den er hier nochmals Bezug nimmt) dann ratio aber neben dem synekdochetisch weiten Sinn, der (terminologisch korrekt) den Willen als Vernunftvermögen miteinschließt, gerne im synekdochetisch engen (eher konventionalen) Sinn als Synonym von intellectus, spricht also von imperare als einem actus rationis, ohne dass dies – genau des synekdochetischen Gebrauchs wegen  – den vorherigen Aussagen, der Wille sei ein rationales Vermögen und das imperare sei nicht Sache des Willens, widerspräche; de Soto folgt darin dem Wortgebrauch bei Thomas, der intellectus und ratio je nachdem getrennt und als eines behandeln kann.9

9 

So deutlich etwa in De malo q. 8, a. 3 (Sunt autem in nobis duo principia voluntarii actus, scilicet ratio sive intellectus, et appetitus: haec enim sunt duo moventia, ut dicitur in III De anima, et precipue quantum ad actus proprios hominis).

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Interessant also, wie de Soto die Vorgabe einlöst, eine Definition der lex auf eine Basis zu stellen, die breit und sicher genug ist, um die verschiedenen Ausformungsweisen von Gesetz und Recht gleichermaßen stützen und erklären zu können: De Soto rekurriert auf die Handlungstheorie als Grundlegung für eine Sicherung der Definition und somit auf ein anthropologisches Grunddatum – den imperium-Bestandteil beim Zustandekommen der Handlungsausführung –, das das allgemeine überkulturelle und vorhistorische Fundament für das Verständnis des Gesetzes gleichsam »am eigenen Leib« und semper, ubique, ab omnibus erfahrbar macht. Wer weiß, was reflektiertes Handeln ist, der weiß aus Erfahrung und Selbstanalyse, was Gesetzgebung heißt und bedeutet.

A.  Weitere Definitionselemente der lex Nun wäre es durchaus reizvoll, weitergehend entlang des Textes von De iustitia et iure Schritt für Schritt aufzuzeigen, wie de Soto auch die anderen Elemente seiner lex-Definition mit Rückgriff auf die Vorgaben der Handlungs- und Moraltheorie des Thomas von Aquin entwickelt (also das Ziel des Gesetzes, die positionis forma, usw.). Es müssen hier aber dazu einige wenige Bemerkungen genügen. Sie sollen insbesondere festigend zeigen, dass de Soto seine Gesetzestheorie nicht auf die Anordnung reduziert – dies würde sie entgegen aller Beteuerungen, dass das Gesetzliche als Sache des Intellekts zu verstehen sei, stark in Richtung der von ihm bekämpften voluntaristischen Entwürfe rücken lassen, in denen der Erlasswille ausschlaggebend für die Definition und Anerkennung der lex ist. Die Artikel 2 bis 4 der Quaestio sichern daher innerhalb des vorgegebenen handlungstheoretischen Rahmens die Verbindung der lex zu Überlegung und Urteilskraft, indem sie auf Zielerwägung, Erkenntnis des Guten und Bedenken der Handlungsregel Bezug nehmen. Die Sicherung des Gesetzes auf naturrechtlicher Basis, die in Artikel 1 mit der Verankerung alles Gesetzhaften in der Handlungstheorie und somit in der gemeinmenschlichen Vernunftstruktur begonnen hatte,10 wird in diesen Artikeln also fortgeführt, emphatisch bestätigt und erweitert: 10  Dies ist auch aufschlussreich dafür, wie das Naturrechtliche hier zu verstehen sein soll. Tatsächlich folgt de Soto auch an dieser Stelle der Vorgabe des Thomas von Aquin, der in seinen Schriften des Öfteren erkennen lässt »wie die lex naturalis, das Naturgesetz, denn aufzufassen ist: Nämlich nicht so sehr als den Dingen der Welt inwendiges Verhaltensmuster, als ausschlaggebende ›Natur der Dinge‹, woraus man den natürlichen Lauf der Welt abzulesen und wonach man sich zu richten habe. Sondern eher, wenn auch keineswegs im Gegenteil, sondern vielmehr als in entscheidender Weise ergänzend dazu, aus dem Verständnis der Natur des Menschen. Diese ist […] in der Vernunftförmigkeit eines Lebewesens zu sehen. Das Verhalten nach dem Naturgesetz ist also das Verhalten nach der Maßgabe der Vernunft, und zwar im Hinblick darauf, dass es eine – zum Wenigsten analoge – Gleichförmigkeit der Arten von Vernunft gibt, auch derjenigen, die die Natur der Dinge bedingt und die man sapientia divina nennt. Die eigene Vernunfttätigkeit ermöglicht und erweist also eine Oikeiosis, eine moralisch relevante Be-

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Die Diskussion der Teleologie der lex findet sich in Artikel 2. De Soto stellt fest, dass das Ziel der in Artikel 1 so festgestellten lex im eigentlichen Verwendungssinne das bonum commune ist. Dass es ein Gut, ein bonum, ist, ergibt sich allein schon aus dem normativen Anspruch des Gesetzlichen. Mit dessen Allgemeinanspruch verhält es sich so: Es gibt eine logische Hinordnung des Partikularen aufs Ganze (wie eines imperfectum auf das perfectum) und daraus ergibt sich, dass das Gesetz zwar für jeden Einzelnen gilt und deklaratorisch auf ihn ausgerichtet ist, dem Sinne nach aber aufs Ganze geht und systematisch auf dieses ausgerichtet ist (in commune bonum debet subditos promovere; S. 11).11 Auch daraus ersieht man einmal mehr, dass das Erlassen des Gesetzes als Tätigkeit des Verstandes zu werten ist: Sich an einem Ziel auszurichten, ist nämlich etwas dem Verstand Eigentümliches (rationis est enim ordinare ad finem, sagt Thomas von Aquin in S.th. I–II q. 90 a. 1 und beruft sich dabei auf Aristoteles, der diesen Gedanken im zweiten Buch der Physik vorformuliert). So ergibt sich aus den Ergebnissen der ersten beiden Artikel ein erster Definitionsbestand für die lex. In de Sotos Worten aus dem 3. Artikel lautet dieser Definitionssockel: Das Gesetz ist eine Regel, die zum Gemeinwohl ausrichtet (lex est regula dirigens in commune bonum). Aus diesem Grundbestand ergibt sich gleich anschließend (bei de Soto noch im selben Definitionssatz) die Identifizierung der zuständigen Autorität für den Erlass der so gefassten lex: Es ist das (politische, jedenfalls aber mindestens soziale und in sozialen Strukturen verfasste) Gemeinwesen, dessen eigentliches Bestehensziel genau dieses bonum commune ist.12 Aus dem Skopus und der Genuszuweisung ergibt sich also für die lex die kompetente Urheberschaft der res publica (in ihrem legitimen Repräsentanten). Der vierte Artikel weist dann auf den letzten fehlenden Definitionsbestandteil hin: Ein Gesetz hat keine verordnende Kraft ohne öffentlich gemacht, das heißt offiziell als solches verordnet und als verbindlich für die Mitglieder der betreffenden Rechtsgemeinschaft erklärt worden zu sein, und so ist das Gesetz erst dann als solches anzusehen, wenn es auch allgemein zugänglich erlassen wurde heimatung, in der Welt als der Natur der Dinge« (C. Schäfer: Thomas von Aquins gründlichere Behandlung der Übel, a. a.O. [Anm. 8] 234). 11 Das bonum commune wird in diesem Artikel von de Soto übrigens in auffälliger Weis­e an den felicitas-Begriff angeschlossen. In seiner »irdisch relevanten Variante« wird das bonum commune dann als quietus tranquillusque et pacificus reipublicae status definiert, der eben diese felicitas zu garantieren und zu fördern bemüht ist (S. 11). Es gilt aber nach de Soto auch: Die lex als die erste (»prima«, wohl dem Rang nach zu verstehen als »vornehmliche« und »vor­nehmste«) Anleitungsregel menschlichen Handelns sollte aber auch zur Höchstform der Glückserfüllung anleiten: Das bonum commune muss in Funktion des finis sumpremus der summa beatitudo stehen (S. 11). 12  De Soto macht hier die Unterscheidung von Entstehungsgrund und Bestehensgrund von Staatswesen aus dem ersten Buch der aristotelischen Politik (1252b) deutlich, das in den kolo­ nial­ethischen Diskussionen des spanischen 16. Jahrhunderts eine herausragende Rolle spielte; so etwa, wenn er sagt: dirigere autem in commune bonum proprium est reipublicae, cuius eiusmodi bonum proximuns finis est: ergo penes ipsam tantum, ac penes illum qui eius habet curam potestas est ferendarum leges (S. 12).

Das Gesetz des Handelns

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(nulla lex ullum habet vigorem legis ante promulgationem. Sed […] tunc instituitur, dum promulgatur). Der Beleg (probatio) dafür aus der Wesensbestimmung des Gesetzseins selbst (natura ipsius legis) ist: Das Gesetz ist die Richtschnur und das Maß unserer Handlungen13 und es wäre als solche unbrauchbar und sinnlos, wenn es nicht auf die Handlungssubjekte anwendbar wäre oder auch nur Anwendung fände. Die Anwendung, das heißt hier die Freigabe als Maß und Ausrichtungsregel, ist im Fall der lex aber die Veröffentlichung in Erlassform, wie aus den Ergebnissen von Artikel 1 (die Definitionsbestandteile von imperare und ordinare), Artikel 2 (das Bestimmungselement des öffentlich-gemeinschaftlichen Guten) und Artikel 3 (das Definitionselement der Erlasszuständigkeit des Gemeinwesens) hervorgeht.14

B.  De Sotos Bezugnahme auf Aristoteles Es bietet sich unter einem anderen Blickpunkt als ebenfalls und genauso reizvoll wie die detaillierte Betrachtung der einzelnen Artikeldiskussionen an, die weiter aufbauende Darstellung an diesem Punkt nicht zu vertiefen, weil de Soto gerade im Zusammenhang seines Rückgriffs auf die thomasische Handlungstheorie im Artikel 1 eine interessante Bemerkung einstreut, die einen anderen für die Betrachtung lohnenswerten Aspekt ins Spiel bringt. In einer längeren Abwehr voluntaristischer Positionen (mit den typischen Diskussionsbeispielen wie dem Isaak-Opfer etc.), die seinem eigenen, dem Ansatz nach an Thomas inspirierten Konzept der caeca voluntas, die »sehend gemacht werden« muss, um die rationale Wahl treffen zu können, entgegenlaufen, kommt de Soto nämlich in einem so nicht zu erwartenden Rückgriff auf die aristotelische Klugheitstheo­ rie in Buch VI der Nikomachischen Ethik zu folgendem zusammenfassenden Schluss. Es ist dabei beachtenswert, dass de Soto hier wie anderswo keineswegs Thomas von Aquin oder andere christliche Aristoteliker als Gewährsmänner heranzieht, sondern in vielen Fällen eben den unmittelbaren Rückbezug und argumentativen Halt in den Texten des Aristoteles sucht, wie hier im Text der Nikomachischen Ethik Buch VI: Die Kritiker des Thomas von Aquin in dieser Frage der Handlungstheorie vergessen, so de Soto, »dass dies alles keine Erfindung von Thomas ist, sondern voll und ganz eine Lehre des Aristoteles darstellt. Denn im sechsten Buch, Kapitel zehn, der Nikomachischen Ethik unterscheidet er drei Vermögen des praktischen Verstands, nämlich die euboulia als die Fähig13  Mit

den Worten lex quaedam regula est et mensura actuum, secundum quam inducitur aliquis ad agendum vel ab agendo retrahitur, definiert Thomas in S.th. I–II, q. 90, a. 1 das Gesetz; vgl. zur Anwendung dieser Definition auch S.th. I–II, q. 95, a. 1 und a. 2. Zum Ganzen auch Maximilian Forschner: Thomas von Aquin (München 2008) 122–125. 14  Konzis zusammengefasst von de Soto mit den Worten: Est enim regula et mensura nostrarum actionum. Regula autem, nisi operantibus applicetur, vana est. Applicari autem nequit nisi per eius notitiam. (S. 14).

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keit, richtig mit sich zu Rate zu gehen, das heißt herauszufinden, welche Mittel dem Handlungsziel wohl dienlich sind. […] Dann die synesis, die von den Lateinern als Scharfsinnigkeit bezeichnet wird, also die Fähigkeit, korrekt zu urteilen. […] Und daneben bedarf es letztlich noch einer Verrichtung der Klugheit, nämlich des Befehlens, worin die praktische Vernunft sich von der spekulativen unterscheidet.«15 De Soto weist also im oben gegebenen Schema des Handlungsaufbaus die Einzelschritte folgenden Aspekten des Klugheitstraktats aus der Nikomachischen Ethik zu: S. th. I-II, q. 11 – q. 17:

Überlegung

E ntscheidung

Umsetzung

15 

Zurategehen (consilium) q. 14 Zustimmung (consensus) q. 15

Urteilen (iudicium) q. 13 Wahl (electio) q. 13

(Selbst)Befehl (imperium) q. 16 Durchführung (usus) q. 17

De Sotos Entsprechungs­ verweis auf NE:

euboulia (NE VI 9)

synesis (NE VI 10)

phronesis (NE VI 5 ff.)

Das Zitat im Ganzen lautet: […] non esse eius [scil. Thomae] inventum, sed plenissimam atque constantissimam sententiam Aristotelis. 6 Ethicae cap. 10 distinguit nempe tres virtutes intellectus practici, scilicet eubuliam, qui est virtus bene consultandi, hoc est indagandi media ad finem accomodata. […] et synesim quam Latini vocant sagacitatem: quae est virtus recte iudicandi. Sunt nempe qui ingenio acuti sunt ad disquirendum media, non tamen ita iudicio valent, ut illis inventis recte de optimo sentient. At praeter hos requeritur postremus prudentiae actus qui est imperium, in quo differt ratio practica ab speculativa. Illa nempe quia non ordinatur ad opus precise habet duos actus, qui sunt discurrere et ordinare; practica vero insuper opus habet imperio, ad quod praecedentes duo actus ordinantur. Et ideo Aristoteles ait inter omnes hunc esse summum et perfectissmum ad quo potissimum prudentia nominatur virtus.

Das Gesetz des Handelns

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Die Frage danach, warum de Soto hier auf eine Einbindung des Aristoteles unter namentlicher Nennung besteht, führt m.E. über den Text von De iustitia et iure hinaus und verweist auf eine umfassendere Diskussionslage im 16. Jahrhundert, die im Folgenden dargestellt sein soll.

II.  De Sotos Positionierung bezüglich der Frage von Textautoritäten Im Zusammenhang mit seiner Differenzierung des islamischen und lateinischchristlichen Umgangs mit Traditionsübernahmen im Mittelalter hat Rémi Brague zwei grundsätzliche Modelle herauszuarbeiten versucht, die hier einmal zur Unterscheidung der Positionen in der spanischen Aristotelesrezeption des 16. Jahrhunderts übernommen sein sollen, da diese Differenzierung mutatis mutandis dafür gute Dienste leisten und für de Sotos Bezugnahme auf Aristoteles in De iustitia et iure eine gebrauchsfertige Auslegungshilfe darstellen kann. Brague unterscheidet ein Modell der »inclusion« von einem der »digestion«, ein Modell der »Hereinnahme« oder »Einschließung« von einem Modell der »Einverleibung« oder »Anverwandlung«, so könnte man vielleicht vorsichtig deutend übersetzen.16 Die Vereinnahmung oder Einschließung behält das tradierte Gedankengut so unverändert wie nur möglich bei und behandelt es mitunter geradezu museal  – Brague spricht illustrierend von einem Harzgussverfahren, das etwas Bewahrenswertes in einem möglichst transparenten Medium unverändert beibehält, in seinem Moment »einfriert«, ähnlich wie ein Bernstein einen Insektenkörper aus Urzeiten. Gerade dieser unangetastete Zustand macht es dann als Studienobjekt so interessant. Dieses Modell fügt das Tradierte also der eigenen Betrachtung als unangetastetes Versatzstück (meist als Referenzobjekt einer Überlegung) oder als wörtlich und möglichst auch dem Sinn nach original belassenes Fundament hinzu. Die Einverleibung dagegen greift das Traditionsgut sinngemäß auf und macht es sich eher stoffwechselartig verwertend und umwandelnd zu eigen (daher der physiologische Anklang bei »digestion« – eigentlich ja »Verdauung«). Texten gegenüber verhalten sich diese beiden Aufgriffsvarianten wie Kommentar zu Paraphrase, gedanklich wie strikte Bewahrung und schützende Auslegung im Sinne korrekter Textauffassung zu freier Aktualisierung und (mitunter kritisch) weiterführender Interpretation. Vielleicht lässt sich ohne verzeichnende Übertreibung sagen, das eine Modell ziele eher auf das Verstehen des Textes ab, das andere eher auf das Verständnis des Lesers. (Beide Modelle können sich übrigens auch bei ein und demselben Autor finden: So geht Thomas von Aquin etwa in der Summa contra Gentiles eher »digestionistisch« mit der Philosophie des Aristoteles um, im Gegensatz zu seinem Kommentar zu Aristoteles’ Peri hermeneias, wo er eher »inclusionistisch« vorgeht.) 16  Vgl. Rémi

Brague: Au moyen du moyen âge (Paris 2006) 187–204.

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Diese beiden Typen des Umgangs mit autoritativem Schriftgut lassen sich, immer ceteris paribus gesehen, in den Diskussionen der Spanischen Spätscholastik deutlich erkennen: Es gibt, gerade was die aristotelischen Schriften angeht, Verfechter des Hereinnahme-Modells, Vertreter der freien Aktualisierung17 – aber eben auch eine dritte Position der Verweigerung einer Bezugnahme auf Aristoteles. Diese dritte Position, die ich im vorgegebenen Rahmen der von Brague vorgeschlagenen Nomenklatur folgerichtig einmal als »exclusion« bezeichnen möchte, hat ihre Vertreter insbesondere in Fragen der Bezugnahme auf die ethischen und politischen Schriften des Aristoteles gefunden und ist daher für den hier verhandelten Text de Sotos von Bedeutung. Die drei grundsätzlichen Positionierungen zu Wert und Verwertbarkeit der aristotelischen Texte in der iberischen Philosophie des 16. Jahrhunderts kann man in folgender Weise exemplarisch durchgehen und dabei einige Hauptvertreter Revue passieren lassen:

A.  Die »inclusionistische« Herausforderung Insbesondere aus den italienischen Humanistenschulen kam die Favorisierung einer »inclusionistischen« Lesart der aristotelischen Schriften. Juan Ginés de Sepúlveda, der Kontrahent von Las Casas in der Gran Disputa de Valladolid, hatte eine prägende Ausbildung am Spanischen Kolleg von Bologna erhalten, pflegte Kontakte zu maßgeblichen Aristotelikern in Oberitalien und war später zudem im Umkreis des Medici-Papstes Klemens VII. mit den Humanistenkreisen in Rom in engere Verbindung gekommen. Sepúlveda war ein penibler Aristoteles-Übersetzer und -Kommentator – seine kommentierte lateinische Übersetzung der aristotelischen Politik gilt unter zahlreichen Experten nach wie vor als vorbildlich. So sollte nach Sepúlvedas Ansicht ein gelehrter Umgang mit dem Gedankengut des Aristoteles nicht darin aufgehen, seine allgemein und formelhaft tradierten und mitunter nie selbst nachgelesenen Lehren wie freies Gemeingut oder wie eine Art »Steinbruch« für eigene Thesenbildung zu gebrauchen; vielmehr sollte gerade eine so hohe Autorität wie Aristoteles textnah gelesen und interpretiert werden, wie das ja die eigene Vorgehensweise Sepúlvedas ist.18 17 

Der Umgang mit dem autoritativen Textmaterial ist in der Spätscholastik freilich keineswegs als ganz und gar einheitlich anzusehen. Gute Argumente scheinen z. B. dafür zu sprechen, den Umgang, den der Text der aristotelischen Werke in der Schule von Coimbra – und generell bei den Jesuiten des 16. und anfänglichen 17. Jahrhunderts – erfährt, anders als in der »digestionistischen« Tendenz der Salmantiner, als historischen Beleg einer »inclusion« werten zu dürfen (vgl. Alison Simmons: Jesuit Aristotelian Education. In: The Jesuits. Cultures, Sciences, and the Arts 1540–1773, ed. by John W. O’Malley, Gauvin Alexander Bailey and Steven J. Harris (Toronto 1999) 522–537, insbesondere 523–527). 18 Vgl. dazu die entsprechenden Ausführungen in C. Schäfer: Ad usum Leopoldi. Der Rechts- und Gesetzesbegriff in Sepúlvedas Democrates-Dialogen. In: Kontroversen um das

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Während Sepúlveda selbst in seinen Schriften also ein ums andere Mal den philologisch ungenauen und rein auf die Sache, nicht auf den Wortlaut des Textes bedachten Umgang der spanischen Dominikaner, einschließlich des von ihm wenig geschätzten de Soto, mit Aristoteles beklagte, warf ihm die Gegenseite vor, er verwende in seinen philologisch akkuraten Argumentationen die Texte des Aristoteles ungefiltert und ohne sie den veränderten geschichtlichen Gegebenheiten und den christlichen Wahrheiten anzupassen.19 Im Endeffekt kreiste die Diskussion aber immer wieder darum, ob ein inhaltlich korrektes Verständnis eines Gedankens die weitere Auseinandersetzung mit der einmaligen Textform, in der er autoritativ vorlag, überflüssig machen konnte oder nicht. Das Problem wird vielleicht noch deutlicher in der kontrastierenden Betrachtung der diesen beiden widerstreitenden Auffassungen insgesamt entgegengesetzten Position, die im Folgenden näher betrachtet werden soll.

B.  Die »exclusion« als Herausforderung Was Denker wie Sepúlveda, nicht ganz zu Unrecht, darüber – d. h. über ein »digestionistisches« Aneignungsverfahren – hinausgehend fürchteten, war eine Ausklammerung oder einen Ausschluss, eine »exclusion« des aristotelischen Denkens aus den philosophischen und theologischen Debatten, die im Sinne des zeitgenössischen Protestantismus den rancidus philosophus ganz aus den ethischen und religiösen Begründungsdiskursen herausnehmen wollte.20 Im schärfsten dazu denkbaren Gegensatz schreibt Sepúlveda in seiner Darlegung des Naturrechts und der daraus abzuleitenden politischen Lehren über die Rolle des Aristoteles: »Ich will damit zu verstehen geben, dass man ein Urteil über das Naturrecht nicht allein in christlichen Denkern und Evangelientexten suchen soll, sondern auch bei den heidnischen Philosophen, die in bester und scharfsinnigster Weise über die Natur der Dinge Überlegungen angestellt sowie über die Sitten und alle möglichen staatstheoretischen Angelegenheiten gehandelt haben. […] Nun stehen diesen Philosophen nach allgemeiner Anerkennung Platon (dem Augustinus dem Vorzug gibt) und Aristoteles voran, dessen Vorgaben […] mit solcher Recht/Contending for Law. Beiträge zur Begriffsgeschichte von Vitoria bis Suárez, hg. von Kirs­ tin Bunge, Stefan Schweighöfer und Anselm Spindler (Stuttgart 2012) 69–92. 19  Vgl. ebd., insbesondere S. 91 f. 20  Vgl. dazu das entsprechende, mit zahlreichen plakativen Beispielen belegte Kapitel bei Wolfgang Welsch: Der Philosoph. Die Gedankenwelt des Aristoteles (Paderborn 2012) 11–42. Interessant die detaillierte und gut belegte Studie von Jan Rohls: Der Aristotelismus an den reformierten Ausbildungsstätten. In: Wolfenbütteler Renaissance-Mitteilungen 34 (2012/13) 65–83; Rohls kann als Fallstudie für die protestantische Grundhaltung anhand der reformierten Bildungsstätten überzeugend aufzeigen, dass die »exclusion« des Aristoteles vor allem die Bereiche der Metaphysik und der Ethik betraf (diese dann jedoch gänzlich), während etwa die Logik auch hier weiterhin maßgeblich blieb.

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Einhelligkeit und ungeteilter Zustimmung von seiner Nachwelt aufgenommen wurden, dass sie jetzt schon weniger als Worte dieses einzelnen Philosophen, als vielmehr allen Gelehrten als Gemeingut an Grund- und Lehrsätzen schlechthin gelten.«21 Diese Worte richtet Sepúlveda in seinem Traktat Democrates Secundus oder Über die gerechten Gründe des Kriegs (gegen die Indios) an einen Gesprächspartner, der die (in Sepúlvedas Augen) protestantoide Gegenposition in dieser Frage vertritt. Tatsächlich ist das aber auch für die innerspanisch-katholische Diskussion von Bedeutung, wenn man sich etwa vor Augen hält, was Bartolomé de Las Casas im dritten Buch seiner Historia de las Indias erzählt. Las Casas berichtet dort von einer seiner frühen Zusammenkünfte mit Kaiser Karl V. im Jahr 1519. Bereits damals hatte ein Gegner von Las Casas in der Indiofrage vor dem Kaiser während eines Streitgesprächs über die spanische Eroberungspolitik die aristotelische Lehre von der natürlichen Sklaverei vertreten. Las Casas aber habe vor dem Kaiser eine gewissermaßen »exclusionistisch« zu nennende Position eingenommen und entgegnet: Diese aristotelische Lehre sei mit ebenso großer Vorsicht zu genießen wie jede Aussage eines Heiden, der seit gut 2000 Jahren in der Hölle brenne.22 Bartolomé de Las Casas selbst bediente sich zwar in seinen Schriften bekanntlich wiederholt des Aristoteles zur Argumentbildung; doch tat er dies dann – und viel weniger ablehnend als in der autobiographischen Episode von 1519 – in frei verwertender Aufnahme im Sinne des »digestion«Verfahrens, wofür die ewige Seligkeit des Aristoteles keine Rolle spielte. Las Casas schreckte aber eben von Fall zu Fall auch nicht vor »exclusionistischen« Positionierungen in Bezug auf Aristoteles zurück. Das taten andere ebenfalls nicht: Juan Ginés de Sepúlveda (um noch einmal auf ihn zurückzukommen) unterhielt auch eine Briefkontroverse mit dem Theologen Pedro Serrano über das Thema. Serrano hatte eine Schrift zum ersten Buch der Nikomachischen Ethik vorgelegt und im Vorwort dem Leser als caveat die Lektüreanweisung gegeben, der Tatsache eingedenk zu sein, dass die großen Philosophen der Antike trotz aller Tiefe und Scharfsinnigkeit ihrer Aussagen nicht der ewigen Glückseligkeit teilhaftig werden konnten und somit als Philosophen mit ihren Lehren das Ziel allen menschlichen Handelns nicht einlösen konnten.23 Sepúlveda entgegnet entrüstet auf diesen »exclusionistischen« Vorstoß, nicht zuletzt übrigens mit dem Argument, dass diese Aussage dem Wortlaut bei Thomas von Aquin (und anderen Autoritäten) diametral entgegenstehe.24 21  Juan

Ginés de Sepúlveda. Obras Completas. Vol. 3: Demócrates Segundo, ed. por Alejandro Coroleu Lletget/Apología en favor del libro Sobre las justas causas de la Guerra, ed. por Antonio Moreno Hernández y Ángel Losada (Pozoblanco 1997) 48 (Übersetzung C. Schäfer). 22  Vgl. Bartolomé de las Casas: Historia de las Indias. Vol. 3, ed. por Agustín Millares Carlo (Mexiko 21965) 343. 23  Vgl. Brief 115 (an Pedro Serrano, vom 10. Mai 1554). In: Juan Ginés de Sepúlveda. Obras Completas: Epistolario. Vol. 9.2, ed. por Ignacio J. García Pinilla y Julián Solana Pujalte (Pozoblanco 2007) 332–340. 24 Die von Aristoteles und anderen heidnischen Philosophen erreichte rationale Aner-

Das Gesetz des Handelns

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C.  Die »digestion« als Interpretationshaltung Die in der Spanischen Spätscholasik numerisch und qualitativ stärkste Positionierung ist aber die, eine »digestion« der aristotelischen Vorlagen zu favorisieren, also einen Umgang ad senusm und gleichsam »im aristotelischen Geist« mit typischen Themenvorlagen und Problembehandlungsansätzen aus den aristotelischen Schriften und der aristotelesfreundlichen Tradition. Die bedeutendsten dominikanischen Repräsentanten des spätscholastischen Denkens im 16. Jahrhundert, vor allem der Archeget der »Schule von Salamanca« Francisco de Vitoria, wollten den aristotelischen Wortlaut keineswegs als im Sinne einer »inclusion« verbindlich ansehen, wenn es um für das Handeln maßgebliche praecepta ging, sondern eben als (im positiven wie negativen Sinne) allgemeine, wenn auch dann sehr ernstzunehmende, philosophische Vorgabe für eine systematische Bewältigung von moralischen, rechtsphilosophischen und politiktheoretischen Fragen und Problemen.25 Es war diese Haltung, die von »inclusionistischer« Seite, wie etwa von den Humanisten vom Schlage Sepúlvedas, dem spätscholastischen Ansatz als zu laxer, zu generalisierter Umgang mit dem aristotelischen Textmaterial angekreidet wurde. Wie positioniert sich Domingo de Soto in der Frage von »inclusion«, »diges­ tion« und »exclusion« von antiken Vorlagetexten? Er ist, wie aus seinen Schriften deutlich zu ersehen, sicher keiner, der eine »inclusion« im Umgang mit den Texten der alten Philosophen praktiziert oder favorisiert (in der Tat ist er einer derer, die Sepúlveda deswegen angreift). Die Bezugnahme in De iustitia et iure auf Aristoteles als plenissima atque constantissima sententia, also als klar nachlesbare Lehrvorgabe für Thomas in der Handlungstheorie, ist nun aber mehr als nur eine rhetorische Handbewegung, etwa um die dargebotene Lehre durch einen Anciennitätsverweis zu adeln. Vielmehr geht es de Soto an dieser Stelle anscheinend um mindestens zweierlei. Erstens, einer Haltung der »exclusion« gegenüber Aristoteles zu wehren: Aristoteles ist nach wie vor in seinen Lehren kenntnis eines einzigen Gottes, der die Welt solchermaßen erhält und lenkt, dass die Erkenntnis seines Lenkungswillens jeder Vernunft offensteht, kann nämlich nach Sepúlveda unter Umständen durchaus den Glauben an Christus heilswirksam ersetzen. Sepúlveda verweist zum Beleg auf Thomas von Aquin, der »über denselben Lehrgegenstand folgendermaßen handelt: ›Wenn aber einige Heiden, denen keine Offenbarung zuteil wurde, das ewige Heil erlangten, so nicht ohne jeden Glauben in den Heilsmittler, da sie, wenn schon nicht ausdrücklich, so doch implizit über den Glauben an die göttliche Vorsehung verfügten, wenn sie annahmen, dass Gott gemäß der ihm genehmen Mittel der Erlöser der Menschen ist‹. Deswegen dürfen wir annehmen, dass die antiken Philosophen, so sie Gerechtigkeit übten, und die anderen rechtschaffenen Männer von philosophischer Erziehung auch einen Glauben an Christus den Heilsmittler hatten und durch die Beachtung des Naturrechts auch vor der Ankunft Christi gerettet werden konnten […].« (J. G. de Sepúlveda: Democrates Secundus, a. a.O. [Anm. 21] 80 (Übersetzung C. Schäfer); das Thomas-Zitat ist aus S.th. II–II, q. 2, a. 7). 25  Vgl. dazu Antonio Enrique Pérez Luño: La polémica del Nuevo Mundo (Madrid 21995) 192–193, sowie, speziell zu de Sotos Aristoteles-Interpretation, Mauricio Beuchot: La querella de la Conquista (Mexiko/Madrid 21997) 44.

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genau zu lesen und ernstzunehmen – dazu gleich mehr im Fazit. Zweitens aber: Man kann sich auch als »digestionist« nicht am Wortlaut des Aristoteles vorbeistehlen; sonst geschieht einem dasselbe wie den Kritikern, die offenbar dem Thomas von Aquin eine übertrieben intellektualistische Handlungstheorie anlasten wollen und ihn für diese Innovation dann auch tadeln. Die sollten sich durch den genauen Blick in die Originalschriften des Aristoteles belehren lassen, woher der Gedanke genommen ist und mit welchen bleibend gültigen Argumenten er dort vorgebracht wird. Aristoteles ist, ohne explizit eine eigene Naturrechtstheo­ rie formuliert zu haben, durch seine Lehre von einer jeder menschlichen Vernunftstruktur entsprechenden Handlungspsychologie für de Soto ein Garant für seine an Thomas von Aquin normierte naturrechtliche Grundlegung des Gesetzlichen in der Vernunftstruktur des Menschen.26 Schließlich aber wird noch eine Lanze für die »digestionistische« Textbehandlung gegen »inclusionistische« Anwürfe gebrochen. Was für puristische »inclusionisten« wie eine von aller aristotelischen Grundlage abgekoppelte »digestion« eines allgemeinen scholastischen Gedankens aussehen mag, erweist sich bei richtiger Durchdringung als plenissima et constantissima sententia des antiken Philosophen, möchte de Soto den Kritikern entgegenhalten.

III. Fazit De Soto favorisiert (und praktiziert) in seinen Schriften einen freien Umgang mit dem Text des Aristoteles. Doch nimmt er als »digestionist« eine vermittelnde Haltung gegenüber der »inclusionistischen« Position ein, während er Versuche einer »exclusion« des Aristoteles ganz ablehnt. In diesem Fazit sei nun gezeigt, dass diese Haltung bezüglich der Frage nach der Maßgeblichkeit der aristotelischen Texte eine allgemeinere Haltung de Sotos in der Frage nach dem Umgang mit autoritativem Textmaterial überhaupt exemplifiziert. Dafür gibt es ein klares Indiz: Im Jahr 1546 befindet sich Domingo de Soto auf dem Konzil von Trient, wo in der Sitzung von April bis Juni die Frage der lectio biblica diskutiert wird – die Frage also, ob, wie es die Partei der italienischen Humanisten als Antwort auf die protestantische Herausforderung verlangte, das kritischphilologische Bibelstudium an den Originaltexten zum verbindlichen, ja zum Hauptbestandteil der theologischen Ausbildung erklärt werden solle. De Soto plädiert dafür, die lectio biblica durchaus forciert zu betreiben, wendet sich aber letztlich gegen die Annahme von deren Unabdinglichkeit für das Theologiestu26  Der ergänzende Hinweis sei erlaubt, dass die Psychologie des Aristoteles, und insbesondere die des dritten Buchs von De anima, in der Spanischen Spätscholastik immer gesteigerte Beachtung gefunden hat; vgl. C. Schäfer: ›Freedom‹ oder ›Liberty‹? Der freie Mensch in der (spät)scholastischen Deutung von Aristoteles’ De anima. In: Politische Metaphysik. Die Entstehung moderner Rechtskonzeptionen in der Spanischen Spätscholastik, hg. von Matthias Kaufmann und Robert Schnepf (Frankfurt a.M. u. a. 2007) 85–105.

Das Gesetz des Handelns

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dium und gegen den Anspruch, die lectio biblica als mit der lectio scholastica für die Theologie gleichrangig betrachten zu wollen.27 De Soto argumentiert, die systematisch-deduktiv gewonnenen Wahrheiten des philosophischen Denkens seien dem, was Theologie will und soll, näher und wesentlicher als die philologischen Richtigkeitserweise der lectio biblica, so ehrwürdig deren Behandlungstexte auch seien. In einer Für-und-Wider-Bilanzierung, die phasenweise den ermüdenden Diskussionen in den heutigen Kontroversen zwischen analytischen und hermeneutischen Philosophieansätzen gleicht, lässt de Soto dem philologisch-»inclusionistischen« Umgang mit autoritativem Textbestand zwar eine Berechtigung zukommen, erklärt die philosophische »digestion« in der Reflexion der christlichen Wahrheiten aber zum Hauptgeschäft des Theologen. De Soto bezieht damit eine für die Spanische Spätscholastik im Großen und Ganzen typische Position: Der autoritative Text, sei es nun einer des Aristoteles oder ein biblischer, verlangt danach, in philosophischer Behandlung und Verhandlung klar und semper, ubique, ab omnibus rational durchdringbar gemacht zu werden, nicht in philologischer Akkuratesse der zeit- und umständeverpflichteten textlichen Originalkonservierung. Genau das ist auch der Maßstab des Umgangs mit Aristoteles in De iustitia et iure.

27  Zur Rolle de Sotos auf dem Konzil und zu seiner schriftlich in der methodenerklärenden Praefatio seines Großwerks De natura et gratia (Venedig 1547 und, besser zugänglich, Salamanca 1577) detaillierter ausgeführten Stellungnahme zu Fragen der philologischen und philosophischen Behandlung autoritativer Texte vgl. die reich belegte Studie von Juan Belda Plans: Domingo de Soto y la defensa de la teología escolástica en Trento. In: Scripta Theologica 27 (1995) 423–458.

Arbogast Schmitt

Zur Grundlegung der Ethik in einer ›Kultur des Gefühls‹ bei Aristoteles Eine verlässliche Begründung sittlich richtigen Verhaltens zu haben, ist ein Anliegen, das von sehr Vielen geteilt wird. Ob eine solche Begründung tatsächlich möglich ist, scheint allerdings in der Sichtweise von Positionen, die sich als ›modern‹ verstehen, eher zweifelhaft. Bestenfalls gelten Lösungen in einer Beschränkung auf praktische Bereiche für möglich, und nur soweit sie sich auf einen Konsens unter den Gliedern einer Gemeinschaft stützen. Auch Aristoteles betont, dass es für Probleme der Ethik keine wissenschaftliche Beweismöglichkeit gibt (NE 1094b11–95a13). Dennoch ist er von der Möglichkeit einer rationalen Begründung ethisch richtigen Verhaltens überzeugt und versucht zwischen sicher erschließbaren Begründungsvoraussetzungen und praktischen Einzelentscheidungen zu differenzieren. Da er zugleich das eigentliche Ziel allen sittlichen Handelns darin sieht, dass jeder einzelne Mensch das ihm mögliche höchste und dauerhafte Glück findet, ist seine Ethik auch in vielen gegenwärtigen ›Diskursen‹ präsent. Aristoteles gilt ›immer noch‹ als attraktiver Gesprächspartner. Trotz dieser Attraktivität scheint es den meisten aber kaum möglich, das Konzept seiner Ethik grundsätzlich zu akzeptieren. Maßgeblich für diese Zurückhaltung sind vor allem zwei in der Tradition der Moderne (seit der Renaissance) ausgebildete Grundurteile, einmal über das Verhältnis der Moderne zur Philosophie der Antike im Allgemeinen, zum zweiten über die Hauptaufgabe jeder Ethik. In der Perspektive einer modernen Ethikbegründung erscheint die Aristotelische Ethik als eine ›materiale‹, an objektiven und objektiv erkennbaren Werten orientierte Ethik,1 die einer skeptisch-kritischen Reflexion entbehrt oder nicht zureichend genügt. Vom Blick auf die von sehr vielen ethischen Positionen der Moderne geteilte Einschätzung der Aufgabenstellung einer Ethikbegründung her gesehen, gilt die Konzentration auf das Glück des Einzelnen als problematisch, da man von einer Ethik grundsätzlich erwarte, dass das einzelne Subjekt sein persönlich-privates Glücksstreben zurückstelle, um sich für ein »Handeln zugunsten anderer«2 zu entscheiden. 1  Der

Hauptansatzpunkt, Aristoteles eine solche, in der Neuzeit v. a. von Husserl, Scheler und Nicolai Hartmann vertretene Ethik, zuzuschreiben, ist, dass es bei ihm noch den ›Glauben‹ an ein ›höchstes Gut‹ gebe. Dieses ›höchste Gut‹ wird allerdings überaus häufig mit einem Stoischen ›summum bonum‹ verwechselt. S. das Folgende. 2  Ausführlich begründet diese lange tradierte Position neu Peter Stemmer: Handeln zugunsten anderer. Eine moralphilosophische Untersuchung (Berlin/New York 2000); zu Kant und seinem Verhältnis zu Positionen der antiken Stoa, von der diese Auffassung von Moral grundArchiv für Begriffsgeschichte · Sonderheft 12 · © Felix Meiner Verlag 2016 · ISBN 978-3-7873-2525-2

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Folgt man dem Aristotelischen Text in seinen Ethiken im Einzelnen findet man noch etliche weitere Abweichungen von gegenwärtig noch als möglich geltenden Positionen. Mit einigen dieser Abweichungen soll sich die folgende Untersuchung beschäftigen. Im Zentrum sollen aber nicht nur diese Abweichungen stehen, sondern die Frage, ob sich trotz dieser Abweichungen ein plausibles Ethikkonzept bei Aristoteles ermitteln lässt.

Erste Abweichung: Der Bereich der Moral ist nicht der Bereich der Pflicht, sondern der Bereich von Lust und Unlust Für die antike Stoa, aber auch für viele neuzeitliche Ethikauslegungen (insbesondere für Kant und die ihm folgenden gegenwärtigen Ethikdiskurse) ist der Bereich der Moral der Bereich eines der Pflicht folgenden Handelns. Der Einzelne soll lernen, von sich selbst abzusehen und sich uneigennützig den Bedürfnissen der Allgemeinheit zu widmen. Beim Handeln der Lust folgen zu wollen, ist eine ethisch falsche Einstellung, auch wenn die Freude an der Erfüllung der Pflicht als ein erwünschter Nebeneffekt gelten kann. Diese Freude an der Erfüllung der Pflicht ist aber klar unterschieden von der Lust oder Unlust an jeweils einzelnem Handeln. Auch ein mitleidiges Handeln etwa soll nicht der Lust an einer Selbsterfüllung oder gar einem Selbstgenuss dienen, sondern es soll ganz auf den anderen und auf die Pflicht, ihm Hilfe zu leisten, ausgerichtet sein. Von dieser Sichtweise her muss es als merkwürdig, ja verfehlt erscheinen, dass Aristoteles die ›ethische areté‹, d. h. das sittlich beste Verhalten, dem Bereich von Lust und Unlust zuweist: »Es ist der Bereich von Lust und Unlust, in dem sittlich gutes Verhalten (areté) entsteht. Denn um der Lust willen handeln wir schlecht, und aus Unlust unterlassen wir das Gute. Deshalb muss man gleich von der Kindheit an, wie Platon sagt, dazu angeleitet werden, Lust und Unlust so zu empfinden, wie es sein soll. Das nämlich ist die richtige Erziehung« (1104b8–13). […] »Denn das Angenehme und Schöne […] ist das, um dessentwillen alle alles tun« (11010b9–11). »Es scheint besonders in unserer Natur zu liegen, dass wir die Unlust meiden und die Lust suchen« (1157b17). Bereits diese noch ganz elementaren Aussagen von Aristoteles zeigen die Differenz zu einer an der Pflicht orientierten Moral und geben zugleich den Ansatz, die aus deren Sicht geübte Kritik an seiner ›egoistischen‹ Ethik zu korrigieren. Dass er die Moral in die Dimension der Lust verlegt, ja der Erziehung oder Bildung der Lust sogar die Entstehung der besten Form sittlichen Handelns, die gelegt ist, vgl. Ulrike Santozki: Die Bedeutung antiker Theorien für die Genese und Systematik von Kants Philosophie (Berlin/New York 2006) 179–191 (mit viel Belegmaterial).

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areté,3 zuschreibt, unterscheidet Aristoteles z. B. von Kant, der in der Lust, die für ihn allerdings vor allem zur Sinnlichkeit gehört, die ›Ursache allen Übels‹ für den Menschen sieht: »Das Passive der Sinnlichkeit, das wir doch nicht ablegen können, ist eigentlich die Ursache alles des Übels, was man ihr nachsagt. Die innere Vollkommenheit des Menschen besteht darin, dass er den Gebrauch seiner Vermögen in seiner Gewalt habe, um ihn seiner freien Willkür zu unterwerfen. Dazu aber wird gefordert, dass der Verstand herrsche, ohne doch die Sinnlichkeit (die an sich Pöbel ist, weil sie nicht denkt) zu schwächen: weil es ohne sie keinen Stoff geben würde, der zum Gebrauch des gesetzgebenden Verstandes verarbeitet werden könnte.«4 Für Kant ist die Sinnlichkeit mit der zu ihr gehörenden Lust ›Pöbel, weil sie nicht denkt‹, und deshalb bloßer Stoff für den Verstand, der sich durch sie nicht verwirren lassen darf. Er soll sie ›in seiner Gewalt haben‹, damit er ›herrschen‹ kann. Als Gefährdung dieser Herrschaft, d. h. als Bedrohung der Selbstbestimmtheit des freien Menschen ist die (sinnliche) Lust Ursache all des Übels, das man ihr – seit Jahrhunderten – nachsagt. Diese freie, von keinem Gefühl verwirrte Selbstbestimmtheit ist schon für die antike Stoa das Signum des zu sich selbst, weil zu Verstand gekommenen Menschen. Cicero lässt im dritten Buch seiner Schrift De finibus bonorum et malorum Marcus Porcius Cato die Lehre der Stoa vortragen. Die Entstehung der Moral beschreibt dieser Cato als eine Loslösung von natürlichen Neigungen, von dem, ›was man liebt‹ und als Erringen der Einsicht in die universalen Pflichten des Menschen. Ausgangspunkt ist die Überzeugung, es sei eine empirische Grundtatsache, dass der Mensch mit dem Bestreben, sich selbst zu erhalten, geboren werde. Dieses Selbsterhaltungsstreben führe dazu, dass er das, was dieser Erhaltung dient, liebe, das ihr Abträgliche meide. Sobald der Mensch aber zu Verstand und zu einem reflexiven Innewerden (simul autem cepit intelligentiam vel notionem potius) dieses naturgegebenen Strebens komme und er die allgemeine Ordnung sehe – dass nicht nur er als einzelnes Individuum, sondern dass alle Lebewesen nach Selbsterhaltung streben – werde er diese ›Ordnung und Sympathie‹ (ordo et concordia – von allen mit allem) weit höher schätzen als alles das, was er zuerst geliebt habe (multo eam pluris aestimavit quam omnia illa, quae prima dilexerat). Deshalb erkenne er mit der Vernunft, dass in dieser universalen Ordnung das höchste sittliche Gut (summum bonum) liege. Alles, was den Menschen

3  Es war lange üblich, areté mit ›Tugend‹ zu übersetzen. Das ist nicht grundsätzlich falsch, obwohl Aristoteles areté nicht auf sittliches Handeln einschränkt (s. das Folgende), aber es verwischt den Unterschied zu einer Pflichtenethtik, mit der der Begriff häufig verbunden wird. Der deutsche Ausdruck ›Bestheit‹ ist auch nicht glücklich, aber wenigstens sachlich richtig. 4  Vgl. Kant: Anthropologie in pragmatischer Absicht, BA 31.

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am Anfang mit Lust erfüllt habe, müsse daher aufgegeben und dem Ziel, dieses höchste Gut zu erreichen, d. h. der Pflicht, untergeordnet werden.5 Diese Einsicht der Vernunft in das ›höchste Gut‹ ist die Grundlage für die auch bei Kant noch lebendige Unterscheidung von Pflicht und Neigung. Sie lieferte auch für Cato die Begründung für die Vertreibung der (allerdings epikureisch, d. h. rein sinnlich verstandenen) Lust aus der Moral: »Die Lust, mein Brutus, […] wäre schamlos, wenn sie die Tugend bekämpfen oder das Angenehme über das Sittliche stellen […] wollte. Wir wollen deshalb die Lust ziehen lassen und ihr den Befehl geben, sie solle in ihren Bereichen bleiben.«6 Das primum movens dieser lustfeindlichen Ethikkonzeption ist der Wille, die freie Selbstbestimmung der Vernunft nicht durch blinde, weil ohne Prüfung des Verstandes zustande gekommene Gefühle verwirren zu lassen. Zu einem summum bonum, zu einem auch sittlich höchsten Gut, wird dieses Streben nach freier Verfügung der Vernunft über sich selbst durch die reflexive Einsicht, dass diese freie Selbstbestimmtheit etwas ist, was allen in gleicher Weise zusteht. Der Mensch, der mit einem Selbsterhaltungswillen zur Welt kommt, kann diesen Willen nur verwirklichen, wenn er ihn auch allen zugesteht und er seine eigene Freiheit so einschränkt, dass die der anderen daneben bestehen kann. Durch diese Einsicht wird die Neigung zur Pflicht, das individuelle Streben nach Selbsterhaltung zu einem universalistischen Gebot. Die Einsicht in dieses Gebot ist die Grundlage der ›Hochschätzung‹ (aestimatio) d. h. der ›Würde‹ (dignitas) des Menschen. Sie besteht in dem Bewusstsein des Rechts aller, sich selbst zu erhalten, zu lieben und selbstbestimmt zu leben. Es ist klar, dass von dieser Sichtweise her die Aristotelische Zuweisung der Moral an den Bereich von Lust und Unlust als beinahe unverständlich erscheinen muss. Formuliert man diese Unverständlichkeit aus, stößt man allerdings auf eine Voraussetzung, die Aristoteles offenkundig nicht teilt: auf die Überzeugung von der Irrationalität der Gefühle, die Kant aus eben diesem Grund sogar als sozial niedrig einordnet. Sie sind »Pöbel«. 5 

Vgl. Cicero: De finibus bonorum et malorum, III, § 21; dazu immer noch grundlegend: Maximilian Forschner: Die stoische Ethik (Stuttgart 21995) 142–160; vgl. jetzt auch Robert Bees: Die Oikeiosislehre der Stoa (Würzburg 2004). Philipp Schmitz: »Cato peripateticus« - stoische und peripatetische Ethik im Dialog: Cic. Fin. 3 und der Aristotelismus des ersten Jahrhunderts v.Chr. (Berlin 2014), macht den Versuch, diese Stoische Ethikkonzeption als aristotelisch geprägt zu erweisen. Die Belege sind aber oft verfehlt. So bezieht er die Stoische Selbstliebe (Cic. De fin. III, §§ 16–17), die eindeutig natural gemeint ist, auf die Selbstliebe bei Aristoteles. Noch weiter vom Text ab führt der Beleg aus III, § 65, wo Cato von einer voluptatum abundantia spricht und sie zum Beweis dafür nimmt, dass nicht einmal sie den Menschen das Streben, in geselliger, d. h. staatlicher Gemeinschaft zu leben, nehmen würde. So wenig wünsche der Mensch ein Leben in Einsamkeit zu führen. Der Hinweis auf die Abundanz an Lüsten dient nur dazu, das menschliche Grundbedürfnis nach staatlicher Gemeinschaft zu begründen, er bringt keine Rechtfertigung von evtl. guten Lüsten. 6  vgl. bei Cicero ebd. III, § 1.

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Im Unterschied dazu spricht Aristoteles von einer Bildung oder Erziehung der Gefühle (sc. von Lust und Unlust). Die von Platon übernommene Maxime, man müsse schon die Kinder so erziehen, dass sie lernen, Lust und Unlust so zu empfinden, wie es sein soll (hos de-i), präzisiert er mehrfach, insbesondere bei der Behandlung der Frage, weshalb das sittlich beste Verhalten (areté, die ›Tugend‹) als eine Mitte zwischen Extremen gesucht werden müsse.7 Auch mit dieser Forderung hat er aber schon die alten Stoiker gegen sich aufgebracht. Die Vorstellung, man könne ein großes Gefühl, einen Affekt wie etwa den Zorn, durch Vernunft auf ein richtiges Maß (›Metriopathie‹) zurückbringen, schien z. B. Seneca absurd. Wirklicher Zorn hört nicht auf die Vernunft, denn er duldet kein Maß (modum sibi adhiberi non patitur). Wenn er aber kein Maß duldet, ist er auch keiner Erziehung oder Bildung fähig, man darf ihn von Anfang an auf keine Weise in sich zulassen.8 Mit dieser Kritik an der ›Aristotelischen‹ ›Metriopathie‹ (der Begriff kommt bei Aristoteles gar nicht vor,9 er gehört in die Affekttheorie der Skepsis10) hat Seneca eine große, teilweise bis in die Gegenwart reichende Wirkung erzielt. Man meint, Aristoteles habe ähnlich wie manche Chöre oder Dienerfiguren in der griechischen Tragödie zum Maßhalten aufgerufen: Man solle nur nicht zu sehr zürnen, nicht zu heftig lieben, usw.11

 7  Aristoteles

ist, wie er selbst betont (z. B. Metaphysik 1030a27f), nicht immer kleinlich auf einen Wortgebrauch bedacht, der immer gleich eindeutig ist. Wichtiger sei es, so zu sprechen, dass das Gemeinte klar sei. So bezeichnet er auch in der oben zitierten Stelle Lust und Unlust als Quelle schlechten Handelns, um gleich darauf zu betonen, dass es deshalb auf eine Erziehung der Gefühle ankomme. Nicht die Lust überhaupt, sondern ihre unkultivierten Formen sind Ziel seiner Kritik. Dass die beste Form der Lusterfahrung mit der Verwirklichung guten Handelns zusammenfällt und deshalb ein höchstes Ziel ist, erläutert er in seinen Ethiken immer wieder. S. das Folgende.  8 Vgl. Seneca: De ira, hg., und übersetzt von Jula Wildberger (Stuttgart 2007) I, § 9; vgl. ähnlich z. B. Epistulae morales, hg. von François Préchac, übersetzt und eingeleitet von Manfred Rosenbach (Darmstadt 22011) ep. 85, 3.  9  Diogenes Laertios schreibt 5,31 Aristoteles diese Lehre zu. Ähnlich wie Seneca (vgl. z. B. auch Epist. mor. 85,3) verbindet sie auch Cicero mit den Peripatetikern. Vgl. Tusculanen 4,38 (immer aber ohne Verwendung des Begriffs ›Metriopathie‹). 10 Vgl. z. B. Sextus Empiricus: Adversus Mathematicos, 11, 19–20; Plutarch: Adversus Colotem, 1122A-F; Übersetzungen in: Anthony A. Long und David N. Sedley: Die hellenistischen Philosophen (Stuttgart/Weimar 2000) 20 f. und 537. Als einen allgemeinen Zug der Skepsis erklärt Jahn Rohls: Geschichte der Ethik (Tübingen 21999) im Kapitel über die Skepsis S. 81–84, bes. S. 82, die ›Metriopathie‹. 11  Vgl. z. B. die Amme im Hippolytos von Euripides, die angesichts der heftigen Liebe ihrer Herrin Phaidra bittet: »Maßvolle Liebesgefühle (metrias philias) sollten die Menschen nur gegeneinander empfinden und nicht bis in die Tiefe der Seele; und leicht zu lösen sollten die Bande der Liebe sein; VV. 253–256. Eine bei den Chören der Tragödie beliebte, oft gebrauchte Formel ist: ›Nur nicht zuviel!‹ (medén agán, lateinisch: ne quid nimis!); eine ganze Geschichte dieser ›Maßethik‹ bietet Uwe Backes: Politische Extreme. Eine Wort- und Begriffsgeschichte von der Antike bis zur Gegenwart (Göttingen 2006) (zu Aristoteles vgl. v. a. S. 234 ff.)

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Einer solchen Einstellung fehlt, so denken viele, die Fähigkeit, große Gefühle zu empfinden oder zu verstehen. Wirklich große Gefühle überrennen den Verstand, denn Gefühle, die man mit verständiger Überlegung auf ein mittleres Maß eingrenzen kann, sind kleine, biedere Gefühle. In der jüngeren Aristoteles-Forschung hat man zu Recht herausgearbeitet, dass das, was Aristoteles unter der ›richtigen Mitte‹ (to méson) versteht, weit entfernt von einem solchen verständigen Maßhalten ist. Die richtige Mitte ist eine genaue Mitte, etwas, das schwer zu treffen ist, aber dann, wenn es getroffen ist, für einen optimalen Zustand, eben für einen Zustand der areté, der ›Bestheit‹, sorgt.12 Aristoteles spricht von areté nicht nur bei sittlichen ›Bestheiten‹, also bei dem, was wir Tugend nennen. Er verweist darauf, dass es auch beim Auge eine areté gibt oder beim Pferd. Diese areté wird erreicht, wenn etwas sein érgon optimal erfüllt, ein Auge, wenn es gut sieht, ein Pferd, wenn es beim Laufen, beim Tragen des Reiters oder beim Standhalten vor dem Feind seine jeweilige Aufgabe gut erfüllt (NE 1106a15–21).13 Érgon bezeichnet nicht genau dasselbe wie das deutsche ›Werk‹, weil Aristoteles ihm auch einen aktiven Sinn gibt (s. v. a. EE 1219a13 ff.). Érgon steht bei ihm oft für die aktive Verwirklichung einer dýnamis, eines Vermögens oder einer Fähigkeit. So erfüllt das Auge sein érgon, wenn es die Fähigkeit zu sehen wirklich vollzieht, das Pferd, wenn es seine Fähigkeit zu laufen wirklich ausübt. Synonym mit érgon verwendet Aristoteles daher oft enérgeia, den aktiven Vollzug eines ›Werks‹. Er spricht aber auch in einem resultativen Sinn von enérgeia, etwa wenn er das Haus als ein sképasma, als einen Schutz gegen Wetter usw. versteht. Versteht man die areté des Pferdes beim Laufen als ›Mitte‹ (méson) zwischen ›zuviel und zuwenig‹ (NE 1106b20), zwischen ›Übermaß und Mangel‹ (hyperbolé, élleipsis, NE 1106b17), ist klar, dass damit nicht ein maßvoller Galopp gemeint sein kann, sondern die Mitte zwischen einer zu schwach ausgebildeten und einer übertrieben und dadurch sturzanfällig ausgeübten Lauffähigkeit, also diejenige Form des Laufens, die das Pferd optimal beherrscht – vom langsamen Trab bis zum schnellsten Galopp.14 12 Vgl.

Ursula Wolf: Über den Sinn der Aristotelischen Mesoteslehre. In:Aristoteles. Die Nikomachische Ethik, hg. von Otfried Höffe (Berlin 1995) 83–108 (mit einer ausführlichen Diskussion der Forschung). Vgl. bes. noch Richard Bosley, Roger A. Shiner und Janet D. Sisson: Aris­totle, Virtue and the Mean, ed. by dens. (Edmonton 1995) Apeiron 25, 4). Wirklich durchgesetzt hat sich die Einsicht, dass die Mitte für Aristoteles ein Bestzustand ist, nicht. Selbst Ursula Wolf deutet diese Interpretation nur an, hält aber nicht daran fest. 13  Der leichteren Lesbarkeit zuliebe setze ich die Quellenangaben aus der Nikomachischen und der Eudemischen Ethik, sowie den Magna Moralia (die ›Große Ethik‹) in Klammern in den Text: NE= Nikomachische Ethik, EE= Eudemische Ethik, MM= Magna Moralia. 14  In der Eudemischen Ethik gibt Aristoteles eine Liste mit Beispielen für die richtige Mitte. Eines dieser Beispiele ist die Reihe: (intellektuelle) Gerissenheit, Naivität (oder Einfältigkeit), praktische Klugheit (panourgía, euétheia, phrónesis). Dass die phrónesis keine Mitte im Sinn eines gleichen Abstands von den Extremen ist, ist vielleicht evident. Ähnlich etwa die Reihen: aufgeblasener Stolz, Kleingeistigkeit, Großer Sinn, oder Tollkühnheit, Feigheit, Tapferkeit. Der

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Das Beispiel veranschaulicht auch noch eine weitere Unterscheidung, auf die es Aristoteles an dieser Stelle ankommt: Die Mitte zwischen zuviel und zuwenig bezieht sich nicht auf die bloße Fähigkeit zu etwas, etwa zum Laufen, sondern auf die ausgebildete Fähigkeit, auf das, was Aristoteles eine héxis, einen Habitus nennt. Das Pferd kommt mit der Fähigkeit (dýnamis) zum Laufen auf die Welt, diese dýnamis muss aber ausgebildet werden zu einer Fertigkeit, die das Pferd beherrscht und deshalb jederzeit verwirklichen kann. Erst dieser ausgebildeten Fähigkeit kann das Prädikat der areté, der ›Bestheit‹ zugesprochen werden. In seiner Psychologie erläutert Aristoteles den gleichen Unterschied an der menschlichen Fähigkeit, eine Sprache zu sprechen. Erst wenn sie ausgebildet ist, ist sie ein Vermögen, eine héxis, über die der Mensch frei und jederzeit verfügen kann, und dies natürlich nur, wenn sie gut ausgebildet ist.15 Beim Sehen fällt dieser Unterschied nach Aristoteles weg. Wir können, sobald wir sehen können, dieses Können auch vollziehen, es muss nicht erst erlernt werden. Deshalb gibt es beim Wahrnehmen unmittelbar eine Mitte zwischen zuviel und zuwenig, etwa zwischen Schwachsichtigkeit und Überempfindlichkeit gegen Licht oder Farbe. Auch diese Mitte ist nicht ein mittelmäßiges Sehen, sondern ein optimales Sehen. Es ist méson kai áriston (NE 1106b22): die Mitte und das Beste. Bei der sittlichen ›Bestheit‹ (areté) betont Aristoteles aber ausdrücklich, dass sie eine ausgebildete Fähigkeit sein muss. Wenn er sie als ein Mittleres zwischen einem Zuviel und einem Zuwenig beschreibt, zielt er auch in diesem Bereich, d. h. im Bereich von Lust und Unlust, auf einen Bestzustand. Ihrer begrifflichen Bestimmung nach sei die sittliche areté zwar ein Mittleres, ihrem Wert nach aber ein Höchstes, ein Gipfel (akrótes, NE 1107a8). Beispielhaft verweist er auf ›sich fürchten, mutig sein, zürnen, mitleidig sein‹ (NE 1106b18–20). Furcht und Mitleid sind für ihn die spezifisch tragischen Gefühle, bei denen er in seiner Poetik ausdrücklich erklärt, wie sie in der ›schönsten‹ Tragödie beim Zuschauer erzeugt werden (Poetik 1452b28–53a1216). Wenn man einen Menschen zeigt, der an sich gut ist, aber angesichts einer außergewöhnlichen Herausforderung einen Fehler macht, dessen Folgen weit schlimmer sind, als es dem Fehler entspricht, die also ›unverdient‹ (Poetik 1453a4) sind, und wenn dieser Fehler von der Art ist, dass man zugleich begreift, wie groß die Gefahr ist, dass man ihn auch selbst begehen würde, dann, so ist seine Ansicht, entstehen Mitleid und Furcht in ihrer intensivsten und zugleich angemessensten Tapfere bietet nicht ein Mittelmaß zwischen Feigheit und blinder Tollkühnheit, sondern er ist – wie etwa große Helden bei Homer wie Achill, Diomedes oder Hektor, genau so tapfer, wie er ›im Wissen um seine Kampfkraft‹ (vgl. z. B. Ilias 6,112; 8,174; 11, 287; 15, 487; 16, 270; 17,185) in der Lage ist, dem Gegner standzuhalten, ohne ihn oder sich zu überschätzen oder zu unterschätzen. 15 Vgl. De anima II,5, 417a22–417b2; vgl. dazu Wolfgang Bernard: Rezeptivität und Spon­ taneität der Wahrnehmung bei Aristoteles (Baden-Baden 1988) 54 ff. 16 Vgl. dazu ausführlich A. Schmitt: Aristoteles: Poetik, übersetzt und erläutert (Berlin 22011) 476–510.

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(metrion) Form. Denn man empfinde dann Mitleid mit dem, der ein großes Unglück tatsächlich nicht verdient, und man empfinde Furcht vor einem großen Unglück, das einen auch selbst treffen könnte (ebd. 1453a4–13). Hektor in Homers Ilias z. B. hat, seit Achill sich im Streit mit Agamemnon vom Kampf zurückgezogen hat, mit seinem Heer in drei Tagen die Griechen beinahe ins Meer getrieben. Als am Abend des dritten Kampftages Achill wieder auf dem Schlachtfeld erscheint, will Hektor den Sieg, den er fast schon in Händen hält, nicht verlieren und will sich nicht hinter die sicheren Stadtmauern zurückziehen. In einer mitreißenden Ansprache überredet er auch seine Soldaten, im Feld zu bleiben (Ilias 18, vv. 285–313) Der Leser, dem Homer von diesem Verhalten Hektors erzählt, weiß im selben Augenblick, dass Hektor Achill nicht gewachsen sein und ihm unterliegen wird. Er hat deshalb eine andere Furcht als Hektor selbst, denn er begreift, dass Hektor mit seiner Entscheidung nicht nur sich, sondern die ganze Stadt in den Untergang stürzen wird. Er fürchtet daher das, was auch Hektor in dieser Situation wirklich fürchten sollte. Er hat eine Furcht, die einem richtigen oder richtigeren Urteil folgt und die eben deshalb größer ist als das, was Hektor im Taumel des Siegesrausches fürchtet. Der Leser der Ilias weiß aber auch, dass Hektor fast 10 Jahre lang Troja vor dem Untergang bewahrt hat, weil er aus der Kenntnis der Unüberwindbarkeit Achills die richtigen Folgerungen gezogen und sich einem offenen Kampf nicht gestellt hatte. Hektor war der Mann, der mehr als alle anderen durch Urteilskompetenz und Charakterfestigkeit in der Lage war, diesen Fehler zu vermeiden. Für den mitdenkenden und mitfühlenden Leser mussten die schrecklichen Folgen, die sich aus Hektors Fehler ergaben, unverdient erscheinen. Er konnte sich deshalb nicht moralisch über diesen Hektor erheben, sondern musste Mitleid mit ihm fühlen, ja erkennen, dass er seinen weit kleineren Gefahren weit mehr als er ausgesetzt wäre. Homer, auf den sich Aristoteles bei seiner Analyse des Tragischen besonders häufig bezieht, bietet so auch literarische Beispiele für die Bedeutung, die ein mitdenkendes Begreifen für die Entstehung großer Gefühle haben kann.17 Aristoteles war überzeugt, dass der Besuch vieler Tragödien eine ›éducation sentimentale‹ bewirken könne. Der Zuschauer wird dabei häufig mit einer Diskrepanz zwischen einem subjektiv als groß empfundenen und einem wirklich großen Gefühl konfrontiert. Etwa wenn er mit anhört, wie Ödipus den gesuchten Mörder des Laios verflucht, ohne zu wissen, dass er sich selbst verflucht; oder wenn Antigone den Bruder beerdigt und sich dabei darüber hinwegtäuscht, wie schwer ihr der Weg zum Grab fallen werde. In fast allen diesen Fällen kennt der

17  Vgl. dazu etwas ausführlicher A. Schmitt: Große Gefühle. Zwei Grundformen ihrer Darstellung und Deutung in antiker Literatur und Philosophie. In: Poetik wider Willen. Festschrift für Wolfgang Riedel, hg. von Jörg Robert und Friederike Felicitas Günther (Würzburg 2012) 137–146.

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Zuschauer die wirklich große Bedrohung, der sich die Handelnden unwissentlich aussetzen und fürchtet mehr um seinen Helden als dieser um sich selbst.18 Ein solches Vorauswissen ist aber nicht notwendig für diesen Effekt. Wer etwa liest oder sieht, wie Goethes Egmont in Brüssel bleibt, obwohl er weiß, dass der für seine gnadenlose Härte bekannte General Alba mit einem Heer in Anmarsch ist, ahnt mit großer Sicherheit, dass Egmont geradewegs auf seinen Tod zugeht. Auch hier fürchtet der Leser oder Zuschauer das Richtige, und das Richtige ist die wirklich große Gefahr. Diese Beispiele machen immerhin einen Zusammenhang von Erkenntnis und großen Gefühlen plausibel. Aristoteles jedenfalls ist überzeugt, dass das méson kai aristón, die richtige Mitte, die zugleich das Beste ist (NE 1106b22), bei Gefühlen dann erreicht werde, wenn die Gefühle nicht blind oder irrational sind, und auch nicht unmittelbar und spontan, sondern wenn man darauf achte: wann ›man ein Gefühl der Lust oder Unlust haben soll‹, worüber, gegenüber welchen Personen, auf welches Ziel es gerichtet ist (z. B. auf welche Rache), und auch wie, von welcher Art ein Gefühl sein soll (NE 1106b21–23). Das nämlich sei das Sig­ num der areté; des besten Zustands eines Gefühls.19 Gefühle, die auf einem solchen Weg entstehen (oder im Lauf der Zeit ›erzogen‹ werden), stellen also eine Mitte dar, die ein Bestzustand ist, weil sie ihre Bestimmtheit vom Logos hat (areté … horisméne logó, 1107a1). Anders als Kant fordert Aristoteles daher nicht eine Unterwerfung der Gefühle unter den Verstand, sondern dass sie mit ihm übereinstimmen oder zusammenstimmen (symphoneín tó lógo, 1119b15 f.). Es dürfte deutlich sein, dass Aristoteles’ Zuweisung sittlich guten Verhaltens an Gefühle, die einer richtigen Erkenntnis ihrer Gegenstände folgen, eine Form der Rationalität der Gefühle voraussetzt, die verschieden sein muss von der Rationalität, die in Gefühlen nur ein blindes Material für das Denken sehen kann. Die Frage nach der Differenz, die hier vorzuliegen scheint, soll uns im nächsten Abschnitt beschäftigen.

18 

Zur Interpretation der beiden Tragödien vgl. A. Schmitt: Innere und äußere Wahrscheinlichkeit im König Ödipus oder: Über Ödipus in uns. In: Ethos und Form der Tragödie, hg. von Niklas Bender, Max Grosse und Steffen Schneider (Heidelberg 2014) 1–62; A. Schmitt: Bemerkungen zu Charakter und Schicksal der tragischen Hauptpersonen in der ›Antigone‹. In: Antike und Abendland 34 (1988) 1–16. 19  Eine umfassende Darstellung der Aristotelischen Gefühlstheorie zusammen mit einer kritischen Auseinandersetzung mit der älteren und neueren Forschung bietet Michael Krewet: Die Theorie der Gefühle bei Aristoteles (Heidelberg 2011).

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Zweite Abweichung: Das Gefühl hat keinen eigenen Ursprung, den der Verstand nicht kennt, sondern ist ein Begleitphänomen verschiedener Arten zu denken Kant stellt in seiner Preisschrift von 1763 fest: »Man hat es in unseren Tagen allererst einzusehen angefangen: dass nämlich das Vermögen, das Wahre vorzustellen, die Erkenntnis, dasjenige aber, das Gute zu empfinden, das Gefühl sei, und dass beide ja nicht miteinander müssen verwechselt werden« (A 97 f.). Auch wenn die Einsicht, die Kant für die Mitte des 18. Jahrhunderts beansprucht, nicht ganz neu und jedenfalls lange vorbereitet war,20 sie wirkt bis in die Gegenwart weiter und gehört zu den Selbstverständlichkeiten, die fast nicht mehr hinterfragt werden. In hunderten Journalen für den Alltag wird man über die Probleme belehrt, die aus dem Gegeneinander von Verstand und Gefühl entstehen. Die Fragestellung ist meist dieselbe, es geht darum, ob man mehr dem Gefühl (oder gar dem Bauch) oder dem Verstand folgen solle. Auch in wissenschaftlichen Großprojekten21 und in vielen Einzeluntersuchungen steht diese Frage im Zentrum – mit der Tendenz, eher dem Gefühl, dem Herz, der Intuition oder dem Bauch den Vorzug zu geben, ohne dass die Unsicherheit über die Verlässlichkeit solcher unmittelbarer Erfahrungen ganz zum Verschwinden gebracht werden konnte. In aller Regel wird dabei ein ›analytischer‹ Verstand einem unmittelbar das Ganze erfassenden Gefühl entgegengesetzt. Aufschlussreich ist eine neuere Untersuchung Rüdiger Ilgs, zu der Psychologie heute im Januar 2006 unter dem Titel: Warum wir auf das Bauchgefühl hören dürfen. Neueste Forschungen entschlüsseln das Rätsel des Gehirns eine Rezension brachte. Rüdiger Ilg22 unterscheidet wie üblich das ›sequenzielle analytische Denken‹ als ›Kopfentscheidung‹ vom ›Bauchgefühl‹ oder der ›Intuition‹, denen er eine ›Mustererkennung‹ zuschreibt, die automatisch in uns ablaufe. Als ›neu‹ soll hier gelten, dass das, was seit langem als Ganzheitserfahrung diskutiert wird, als Mustererkennung gedeutet und in psychologischen Tests nachgewiesen wird. Bemerkenswert an dieser ›Entschlüsselung‹ ist, dass sie etwas wiederentdeckt, womit die Auseinan20  Die im 18. Jahrhundert neu entdeckte Dreiteilung der Seele in Denken, Fühlen und Wollen hatte einen wichtigen Vorläufer in der sogenannten ›Mittleren Stoa‹, deren Rezeption ohne Frage für die Neuentdeckung mitverantwortlich war. Vgl. dazu M. Krewet: Die stoische Theorie der Gefühle. Ihre Wirkmacht. Ihre Aporien (Heidelberg 2013) 114–122; vgl. dort auch die Darstellung der Wirkungsgeschichte der Stoischen Gefühlstheorie in der Neuzeit, S. 279–473. 21  Vgl. z.B die am Max Planck-Institut für Psychologie in Berlin betriebenen Projekte. Eine wichtige Dokumentation gibt die in viele Sprachen übersetzte Monographie von Gerd Gigerenzer: Bauchentscheidungen: Die Intelligenz des Unbewussten und die Macht der Intuition (München 2007). 22  Vgl. Rüdiger Ilg: Neurale Mechanismen ›intuitiver‹ Prozesse – Eine funktionelle kernspintomographische Untersuchung der impliziten Wahrnehmung semantischer Kohärenz (Diss. München 2004).

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dersetzung mit Aristoteles in der Renaissance eingesetzt hatte. In einer Untersuchung über den Intellekt (1555) kritisiert der durch seine ›Entdeckungen‹ zur Syphilis berühmt gewordene Girolamo Fracastoro Aristoteles, weil er zu der Frage, wie aus ›subnotional‹ rezipierten, dem Begriff vorhergehenden Mustern rationale Begriffe entwickelt werden können, nichts Rechtes gesagt habe (non plane dixit).23 Diese kritische Feststellung Fracastoros hat ihre Richtigkeit. Man findet keine Erklärung zu dem Prozess, in dem aus vorbegrifflichen Ganzheitserfahrungen das bewusste Denken seine Begriffe bildet, bei Aristoteles. Für den Philologen ist diese Feststellung aber von methodischer Bedeutung, denn sie formuliert den Erwartungshorizont, in dem Aristoteles offenbar von seinen Interpreten gesehen wird. Fracastoro geht wie viele nach ihm davon aus, das Denken beginne mit einer Art ›unmittelbarer Bekanntschaft‹ (immediate acquaintance24) mit den Dingen, durch die auf eine noch unaufgeklärte, passiv rezeptive Weise das Ding im Gesamt seiner ›Gestalt‹ (oder eben als ein vorbegriffliches Muster) und in der Präsenz seiner Wirkung auf das Gefühl gleichsam empfangen wird. Die Aufgabe des Denkens selbst ist dann die nachträgliche ›Aufklärung‹ des ›unbefleckt Empfangenen‹25 durch Zerlegung (Analyse) in einzelne Teile oder Elemente und deren vom Denken selbst hergestellte Verbindung, die zu einer ›deutlichen Vorstellung‹ des unmittelbar Erlebten führt. Man kann die oben zitierte Äußerung des noch vorkritischen Kant gut zum Ausgangspunkt einer genaueren Bestimmung des Verhältnisses zwischen dieser Erwartung und der von Aristoteles vertretenen Position nehmen. Kant unterscheidet das Denken als ›Vorstellung des Wahren‹ vom Gefühl als ›Empfinden des Guten‹ und bietet damit noch ein Zwischenglied zwischen dem, was seither ›Gefühl‹ heißt, und dem, was Aristoteles als Gefühl der Lust oder Unlust beschreibt. Denn die Lust bezieht sich in aristotelischer Auslegung auf einen Aspekt an etwas Erkanntem, auf den Aspekt, unter dem es als subjektiv gut oder schlecht erfahren wird. Er rechnet die Lust also zum Denken selbst, genauer zu einem mit ihm unmittelbar verbundenen Aspekt, er unterscheidet aber diesen Lustaspekt an etwas Erkanntem von einer bloßen Vorstellung von etwas, was mit Lust oder Unlust verbunden ist. Diese Unterscheidung dient dazu, nicht Denken und Gefühl voneinander zu trennen, sondern zu zeigen, dass Vorstellung und Denken nicht dasselbe sind. 23  Vgl.

dazu Thomas Sören Hofmann: Dimensionen des Erkennens bei Girolamo Fracastoro. In: Vivarium 41 (2003) 144–174. 24  Für eine neuere Erklärung und Festigung dieser erkenntnistheoretischen Grundposition vgl. Bertrand Russell: Logic and Knowledge (London 1956) 41–56. 25  Mit dieser theologischen Metapher charakterisiert Merold Westphal die ›sinnliche Gewissheit‹ bei Hegel. Vgl. M. Westphal: Hegels Phänomenologie der Wahrnehmung. In: Materialien zu Hegels ›Phänomenologie des Geistes‹, hg. von Hans Friedrich Fulda und Dieter Henrich (Frankfurt 1973) 90.

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Bei der Vorstellung verweist Aristoteles darauf, dass man sich vorstellen könne, was man wolle. Die Gedächtniskunst z. B. benutze diese Möglichkeit, indem sie rät, sich etwas bildlich vor Augen zu stellen (sc. damit man es sich besser einprägt). Beim Meinen – das ist für ihn die noch unkontrollierte Form des Denkens, die er aber zur Dimension des Denkens zählt – sei das grundlegend anders. Denn man könne nicht meinen, was man wolle, denn sobald man eine Meinung gebildet habe, sei sie wahr oder falsch (und ob das der Fall ist, liege nicht mehr in unserer Hand). Außerdem – und das ist das für unsere Fragestellung Ausschlaggebende, seien mit dem Meinen notwendig Gefühle verbunden: »Sich etwas vorzustellen, liegt in unserer Hand, wann immer wir wollen (man kann sich ja etwas vor Augen stellen, wie es die Gedächtniskünstler tun und sich dabei ein Bild machen), etwas zu meinen aber, liegt nicht bei uns, denn es ist notwendig entweder wahr oder falsch. Außerdem: Wenn wir meinen, dass etwas bedrohlich oder furchtbar ist, empfinden wir sofort ›den Schmerz‹ mit, genauso wie ›wir uns umgekehrt‹ bei etwas Ermutigendem ›wohl fühlen‹.26 Beim Vorstellen verhalten wir uns dagegen genauso, wie wenn wir das Furchtbare oder Ermutigende auf einem Bild betrachten.« Kant sagt zwar: »denken kann ich, was ich will, wenn ich mir nur nicht selbst widerspreche« (Kritik der reinen Vernunft B XXVII), man kann diese Behauptung aber tatsächlich nur aufrechterhalten, wenn man unter Denken ›sich eine Vorstellung machen‹ versteht. So ist man z. B. vollkommen frei, sich vorzustellen, man schwebe gerade über die Erde. Die einzige Einschränkung dieser Freiheit ist, dass man eine solche Vorstellung nicht zugleich haben und nicht haben kann. Denn wenn man sich vorstellt, wie man vergeblich in die Höhe springt, hat man eben eine andere Vorstellung. Das, was Aristoteles sagen möchte, erläutert er an einer Meinung über die Sonne. Wenn man meint, die Sonne sei nur zwei Fuß groß, dann geht es nicht nur darum, dass man diese Meinung nicht zugleich haben und nicht haben kann. Eine solche Meinung ist vielmehr von sich her entweder wahr oder falsch, und diese Qualität einer Meinung liegt nicht in der Verfügung des Meinenden. Er kann sich eine falsche Meinung bilden. Ob diese Meinung aber wahr oder falsch ist, liegt nicht bei ihm.27 In ähnlicher Weise versteht Aristoteles auch Gefühle als eine Qualität des Meinens selbst. Wenn einem etwas entgegen kommt und man meint, dass es einen bedrohe, dann fürchte man sich unmittelbar wegen eben dieser Meinung. Die übliche Auslegung, das Denken sei kalt und ohne Gefühle, liege an der Verwechslung von Denken (Meinen, Urteilen, Einsehen) mit dem Vorstellen. Denn beim Vorstellen verhalte man sich nicht anders als beim Betrachten von Bildern. 26  De anima 427b14–22; vgl. die analoge Aussage zur Wahrnehmung: De anima 413b23 f.: »Wo es Wahrnehmung gibt, da gibt es auch Schmerz und Lust; und wo es diese gibt, da gibt es notwendig auch Begierde«. 27 Vgl. De anima 428b1–9.

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Und da kann man sich das Scheußlichste, Bedrohlichste, Empörendste ohne jede Gefühlsbeteiligung ansehen. Dass die unterschiedliche Bedeutung von Vorstellung und Meinung für die Entstehung von Gefühlen durch Aristoteles auf psychologisch guter Beobachtung beruht, kann man vielfach bestätigen.28 Die bloße Vorstellung von etwas, was Gefühle in uns auslösen kann, erzeugt diese Gefühle nicht, wenn wir nicht auch begreifen, dass etwas Vorgestelltes bedrohlich, empörend, beschämend, liebreizend usw. für uns ist. So laufen Kinder, aber auch unerfahrene Erwachsene sehenden Auges großen Gefahren entgegen, weil sie deren Bedrohungspotential nicht erfassen. Umgekehrt fürchten sich Kinder in Filmen, die Schreckliches zeigen, weil sie meinen dieses Schreckliche bedrohe sie (oder einen Liebling, mit dem sie sich identifizieren) gerade, während der Erwachsene, der weiß, dass dieses Schreckliche nur eine erzeugte Vorstellung ist, ohne jede Angst bleibt. Aristoteles hat also eine Begründung dafür, weshalb Denken keine Gefühlsrelevanz zu haben scheint. Diese Begründung gilt auch für in der Neuzeit entwickelte Begriffe von Denken, für die Denken eine Repräsentation von Wahrgenommenem ist.29 Repräsentation meint eine verdeutlichte Anschauung. Das in der Wahrnehmung unmittelbar ganz Aufgenommene muss in seinen einzelnen Elementen deutlich und klar in einer Vorstellung vereint werden. Eine solche Repräsentation ist immer noch eine, wenn auch ausgezeichnete Form des Vorstellens und hat deshalb keine eigene Gefühlsrelevanz. Alle diejenigen Erkenntnisse dagegen, die man sich in einer Repräsentation verdeutlichen oder ›bewusst machen‹ kann, Wahrnehmungen, Meinungen, Urteile, haben eine Gefühlsrelevanz. Wer etwas schmeckt, dem schmeckt es auch oder es schmeckt ihm nicht. Man kann etwas nicht sehen, hören, riechen, ohne dass das Gesehene, Gehörte usw. einem angenehm oder unangenehm ist. Man kann aber auch nicht meinen oder urteilen, dass man von jemandem gerade ungerecht behandelt werde, dass man sich gerade vor jemandem blamiere usw., ohne dass man sich ärgert oder schämt. Fragt man etwas genauer, was an diesen Erkenntnissen ausmacht, dass sie mit Gefühlen verbunden sind, ist die Aristotelische Antwort noch eben die, die auch Kant in seiner Charakterisierung der Gefühle gegeben hat: Es ist nicht die Erkenntnis von etwas überhaupt, sondern der Aspekt, unter dem etwas Erkanntes gut oder schlecht, angenehm oder unangenehm für den Erkennenden ist, und zwar hier und jetzt. Ob etwas beschämend ist oder nicht, ist eine Frage, 28 

Vgl. zum Folgenden M. Krewet: Die aristotelische Theorie der Gefühle (Heidelberg 2011) 125–147; 436–464; vgl. auch A. Schmitt: Die Moderne und Platon (Stuttgart 22008) 339–380. 29 Vgl. dazu A. Schmitt: Wie aufgeklärt ist die Vernunft der Aufklärung? Eine Kritik aus aristotelischer Sicht (erscheint Heidelberg 2016); vgl. auch schon ders.: Konkretes Denken. Zur emotionalen und praktischen Bedeutung des Wissens im Platonismus und Aristotelismus. In: Wissen und Bildung in der antiken Philosophie, hg. von Christof Rapp und Tim Wagner (Stuttgart/Weimar 2006) 287–304.

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die man wissenschaftlich so gut es möglich ist, beantworten muss. Diese Art der Beschäftigung mit ihr führt nicht zu einem Gefühl der Scham. Wer aber meint, dass er jetzt gerade mit einer bestimmten Handlung sein Ansehen bei jemandem, bei dem ihm dies wichtig ist, beschädigt hat, der schämt sich.30 Aber er schämt sich auch nur, wenn seine Meinung nicht einfach darauf gerichtet ist, dass sein Verhalten beschämend war, sondern dass dieses Beschämende etwas für ihn Schädliches, Ungutes ist. (Man kann sehr wohl erkennen, dass man sich beschämend verhalten hat, aber darin nichts erkennen, was einem schaden könnte oder dürfte). Man kann zunächst einmal festhalten: Gefühle entstehen nach Aristoteles aus einer Erkenntnis (durch welches Vermögen auch immer) dessen, was am Erkannten gut oder schlecht für den Erkennenden ist, und zwar aus der direkten Erkenntnis dieses Guten oder Schlechten hier und jetzt. Denn in einer (immer nachträglich) zu deutlichem Bewusstsein gebrachten Vorstellung hat dieses Gute oder Schlechte keine Gefühlsrelevanz mehr. Die Bedeutung der Gefühle für die Moral muss deshalb durch eine Auseinandersetzung um die Bedeutung dieses Guten für den handelnden Menschen ermittelt werden.

Dritte Abweichung: Anfang und Ausgangspunkt der Moral ist nicht das objektiv, sondern das subjektiv Gute Die Nikomachische Ethik beginnt mit dem Satz: »Jedes praktische Können und jedes methodische Vorgehen, in gleicher Weise alles Handeln und Sich-Entscheiden scheint nach einem bestimmten Guten zu streben. Deshalb ist ›gut‹ richtig bestimmt als das, wonach alles strebt« (NE 1094a1–3). Diese einleitenden Sätze sind der Grund dafür, dass Aristoteles von vielen eine sogenannte ›materiale‹ Ethik zugeschrieben wird. Er soll der Meinung gewesen sein, es gebe ein für alle gleich gültiges objektives Gut oder objektive Werte, und es seien eben diese Werte, die alle in ihrem Handeln auch anstrebten. Aristoteles macht aber einen klaren Unterschied zwischen einem Gut, das wirklich gut für einen Handelnden ist, und einem Gut, das ihm nur so zu sein scheint (NE 1113a15 f.) »Dass unser Wünschen zielgerichtet ist, ist gesagt, ›dieses Ziel‹ scheint den einen das ›wirklich‹ Gute, den anderen das scheinbar Gute zu sein« (NE 1110a15 f.) 30 

Dass Handeln etwas ist, was sich immer auf etwas Einzelnes bezieht, ist eine von Aristoteles immer wieder formulierte Einsicht. Vgl. z. B. NE 1147a3 f.

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und nur von dem letzteren behauptet er, dass seinetwegen »alle alles tun« (pántes práttousin pánta, 1110b9–11): » »Weil sie meinen, etwas sei gut für sie (dokoúntos agathoú charin), tun alle alles« (Politik 1252a331). Erst dieser subjektive Begriff von ›gut‹ kann als evidenter Ausgangspunkt der Ethik gelten. Im Rahmen einer Aristotelischen Begrifflichkeit kann man ihm axiomatischen und analytischen Charakter zusprechen. Als analytisch kann man diesen Ausgangspunkt verstehen, weil Aristoteles ausdrücklich Handeln und ›etwas einem anderen vorziehen‹ (prohaireisthai, Metaphysik 1025b24 f.) gleichsetzt. Denn man kann nicht etwas einem anderen vorziehen, ohne dieses andere irgendwie für besser zu halten. Man steht auf und bleibt nicht liegen, man hilft jemandem und denkt nicht nur an sich selbst oder man verweigert jemandem die Hilfe, usw., immer weil es einem irgendwie besser zu sein scheint, das eine und nicht das andere zu tun. Ein Begriff des Guten ist also im Begriff des Handelns ›analytisch‹ mit enthalten. Als axiomatisch kann dieser Ausgangspunkt gelten, weil man ähnlich wie beim Widerspruchssatz dem, der ihn bestreitet, nachweisen kann, dass er sich auch dabei auf ihn stützt. Auch der, der mit voller Absicht Böses tun will und dies vielleicht sogar als seine charakterliche Grundhaltung anstrebt, muss es vorziehen, Böses statt Gutem zu tun. Er muss offenkundig einen Vorteil für sich im Tun des Bösen erkennen, sonst würde er es nicht vorziehen. Analoges gilt auch, wenn jemand sich selbst Böses antun, etwa sich verletzen oder gar sich töten will. Auch er muss sich für dieses Handeln entscheiden. Er muss, wenn er freiwillig aus dem Leben scheiden will, es für besser halten, nicht weiter zu leben, als ein Leben mit unerträglichen Schmerzen oder in Unehre (und dergleichen mehr) zu führen. Dass alles Handeln sich nach einem Guten richtet, ist also zwar nicht beweisbar, aber es ist ›axiomatisch‹ bei jedem Akt, in dem man handelt, vorausgesetzt. Der Ausgangspunkt einer Reflexion auf die Bedingungen ethischen Handelns ist von Aristoteles so gewählt, dass er, wie er selbst sagt, von einer allgemeinen Zustimmung ausgehen kann. Er hat aber noch einen zweiten Vorzug. Über das Gute, von dem ein Handelnder (nur) meint, dass es gut für ihn sei, meint er im Augenblick des Handelns, dass es wirklich gut für ihn sei. Deshalb zieht er es ja vor, weil es ihm (für sich selbst) besser als etwas Anderes zu sein scheint. Das bedeutet, dass über das, was wirklich gut für einen ist, niemand getäuscht sein will. Die reflexive Klarheit über diesen Aspekt des Strebens nach dem Guten bietet die Legitimation und die Grundlage, nach den Bedingungen zu fragen, was das wirklich Gute für den handelnden Menschen ist und wie es erreicht werden kann.

31 

Diesem Satz kommt überdies besondere Bedeutung zu, denn es ist ein Einleitungssatz in die Disziplin der Politik. Viele solcher Einleitungssätze bei Aristoteles haben geradezu axiomatischen Charakter.

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Vierte Abweichung: Die ›Substanz‹ des Menschen bildet nicht ein aller Veränderung unverändert ›Zugrundeliegendes‹, sondern ein bestimmtes Können ›Das‹ Gute für den Menschen zu suchen, setzt voraus, dass man weiß, was der Mensch ist. Der Anspruch, ein solches Wissen zu besitzen, scheint einem kritisch reflexiven Denken als eine dogmatische Naivität. Auch in Bezug auf das Wissen vom Menschen gibt es daher einen breit geteilten Erwartungshorizont, aus dem heraus die Aristotelische Lehre vom Menschen beurteilt wird. Grundlage für diese Erwartung ist, dass man ein Wissen vom Menschen habe, wenn man seine ›Substanz‹ kenne. Und als Substanz gilt – in der Diktion Kants – das Beharrliche im Wechsel der Erscheinungen: »Also ist in allen Erscheinungen das Beharrliche der Gegenstand selbst, d. i. die Substanz (phaenomenon), alles aber, was wechselt, oder wechseln kann, gehört […] zu ihren Bestimmungen« (KrV B 208/A 184). Für diese Auffassung beruft sich auch Kant auf den common sense, auf den man sich weithin auch heute noch berufen könnte: »Ich finde, dass zu allen Zeiten nicht bloß der Philosoph, sondern selbst der gemeine Verstand diese Beharrlichkeit, als ein Substratum alles Wechsels der Erscheinungen, vorausgesetzt haben, und auch jederzeit als ungezweifelt annehmen werden, nur daß der Philosoph sich hierüber etwas bestimmter ausdrückt, indem er sagt: bei allen Veränderungen in der Welt bleibt die Substanz, nur die Akzidenzien wechseln« (ebd.). Dass es ein zuverlässiges Wissen von der – so gedeuteten – Substanz gibt, unterliegt in der Philosophie der Neuzeit, verstärkt sein John Locke, einem berechtigten Zweifel.32 Diese Substanz ist der Erfahrung nicht zugänglich. Sie ist vielleicht aus gewissen messbaren Eigenschaften, den sogenannten ›primären Qualitäten‹ erschließbar, was sie an sich selbst ist, muss Hypothese bleiben. Schreibt man diese Auffassung auch Aristoteles zu und stellt fest, dass er ein Wissen vom Wesen des Menschen für möglich hält, ja überzeugt ist, dieses Wissen sei sicherer zu gewinnen als über empirische Erfahrungen, kann seine Lehre nur als ein durch die Geschichte überholter naiver Realismus beurteilt werden. Für den Philologen sind diese Zuschreibungen allerdings erstaunlich. Denn Aristoteles beginnt die sogenannten Substanzbücher seiner Metaphysik (VII, VIII, IX) gleich im dritten Kapitel von Buch VII mit einer kritischen Auflösung dieses Substanzbegriffs. Ich kombiniere im folgenden Bericht der Prägnanz der Darstellung wegen das kritische Kapitel VII, 3 mit der positiven Wesensbestimmung aus VIII, 2.

32  Vgl.

John Locke: An Essay Concerning Human Understanding, ed. by Peter H. Nidditch (Oxford 1975) II, 4, 18.

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Bei der Suche nach dem Wesen eines sinnlich wahrnehmbaren Gegenstandes liege es nahe, so beginnt Aristoteles, nach dem ›Zugrundeliegenden‹ (hypokeímenon = subiectum) zu suchen, das im Wechsel der Erscheinungen identisch bleibt und dem alle Akzidenzien zukommen. Nehme man aber alle Akzidenzien weg, und konzentriere sich auf das, was nach der Abstraktion von allen wechselnden Akzidenzien erhalten bleibt, bleibe nichts Bestimmtes und Bestimmbares übrig, nicht einmal eine quantitative Ausdehnung. Auch Länge, Breite, Tiefe existierten ja nicht für sich selbst, sondern seien immer Eigenschaften an etwas, sie können also nicht für sich selbst Substanz sein. Dass das ›Substratum alles Wechsels der Erscheinungen‹ unerkennbar ist, musste man Aristoteles also nicht beweisen. Deshalb sagt er, in dieser Weise die Substanz von etwas zu ermitteln, heiße nach der Materie zu fragen (Metaphysik VII, 3, 1029a1–21). Dass man in seinem Sinn nach der Substanz auf ganz andere Weise fragen muss, belegt seine Analyse der Gegenstandserkenntnis am Beispiel des Hauses (VIII, 2). Ein Haus besteht z. B. aus Ziegeln, Holz und Stein. Diese bleiben erhalten, auch wenn das Haus zerstört wird. Man könnte sie also für das hypokeímenon tais metabolaís, für das dem Wechsel zugrundeliegende ›Subjekt‹ (hypokeímenon, 1041a33) halten. Wenn man aber bei Ziegel, Holz und Stein angelangt ist, hat man den Gegenstand verloren, denn aus diesen Materien kann auch vieles andere als ein Haus bestehen. In diesem Sinn sind sie auch in Aristotelischer Begrifflichkeit Materie (hýle), etwas (relativ) Unbestimmtes gegenüber einem Bestimmten (dem Haus). Aber auch durch die Anordnung, durch das, was man meist als ›Form‹ bezeichnet, gelange man nicht zu einem Wissen von dem, was ein Haus zu einem Haus macht. Denn auch hier kann die Erfahrung lehren, dass auch die Struktur, die Anordnung und Formung des Materials keine hinreichende ›Wesensbestimmung‹ bieten kann: Es gibt auch Häuser ohne Spitzdach und Spitzdächer, die nicht zu Häusern gehören. Auch das, was wir als ›Form‹ (auch bei Aristoteles) bezeichnen, ist also noch zu unbestimmt, um eine zureichende Aussage über das, was ein Haus ist, zu machen. Auch sie gehört also zur hýle (Materie). Wenn man sich im Prozess der Erfahrung sicher sein will, dass der Gegenstand, den man in seinen sichtbaren Erscheinungsformen vor sich hat, tatsächlich ein Haus ist, müsse man sich auf sein érgon oder seine enérgeia richten, d. h. auf die Aufgabe, die dieser Gegenstand erfüllt. Schon eine vorläufige Meinung über diese Aufgabe, etwa, dass ein Haus ein ›geschlossener Raum als Obdach für Sachen und Personen‹ (1043a16f; Übers. Slezak) ist, reicht hin, um bestimmte Phänomene, gleichgültig, aus welchem Material und in welcher Form sie gebaut sind, als Haus zu identifizieren. So wird man nicht nur europäische Häuser mit Spitz- oder Flachdächern, sondern auch ein Iglu als Haus erkennen (1043a6–8). Deshalb stellt Aristoteles fest, für die Erforschung des wesentlichen Seins eines sinnlich erfahrbaren Gegenstands (pros ten zétesin tes ousías tes aisthetés) müsse man beachten, dass es ›dem Eidos‹, und das heißt, seiner enérgeia zukomme (1043b1 f.). Er formuliert auch grundsätzlich und allgemein:

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»Alles wird nach seiner (aktiven) Leistung und dem Vermögen dazu definiert (oder: bestimmt)« (pánta de to érgo hóristai kai te dynámei, Politik 1253a23). Es ist angesichts dieser und vieler ähnlicher Formulierungen bei Aristoteles keine Frage, dass er das Wesen eines Gegenstands nicht in dem sucht, was im Wechsel der Erscheinungen identisch beharrt und, weil es nicht für sich selbst erkennbar ist, nur spekulativ erschlossen werden kann, er macht die Erkenntnis des wesentlichen Seins vielmehr davon abhängig, dass man begreift, was etwas kann und leistet, von seiner dýnamis und enérgeia. Angesichts der allgemeinen Gültigkeit, die er für alles, wovon man ›das, was es ist‹ ermitteln möchte, beansprucht, ist es nicht fraglich, dass sich auch die Frage nach dem Wesen des Menschen auf die enérgeia oder das érgon des Menschen richten muss. In den Kapiteln I, 6 der Nikomachischen und II, 1 der Eudemischen Ethik gibt Aristoteles eine hypotýposis, eine grobe Skizze seines Ethikkonzepts und stützt sich dabei gerade auf das (in der Forschung sogenannte) ›Ergon-Argument‹.33 In der Forschung werden sehr viele kritische Einwände gegen dieses ›Argument‹ vorgebracht – man kritisiert die Übertragung der Beobachtung, dass es in bestimmten Einzelfällen ein érgon gibt, etwa beim Flötenspieler, Bildhauer, bei Auge, Hand, Fuß, auf ein ›Gesamtergon‹ beim Menschen, außerdem scheint das ›Argument‹ von metaphysischen34 oder naturphilosophischen35 Voraussetzungen abzuhängen (usw.). Die Diskussion dieser Einwände würde den Rahmen eines kleinen Beitrags sprengen. Deshalb möchte ich nur noch ein paar allgemeine Bemerkungen dazu machen, was es bedeutet, dass das ›Ergon-Argument‹ für Aristoteles ein Kriterium für die Erkenntnis des wesentlichen Seins von etwas ist, und danach am konkreten Beispiel der Selbstliebe als einer höchsten Form der Verwirklichung des eigenen érgons eines Menschen zu begründen versuchen, weshalb seine Herleitung sittlich guten Verhaltens aus diesem ›Argument‹ zumindest eine hohe Plausibilität hat. Mehr als Plausibilität beansprucht das ›Ergon- Argument‹ so, wie es Aristoteles in den Ethiken benutzt, grundsätzlich nicht. Eine strikte erkenntniskritische Herleitung kann man nur in der Metaphysik und den Zweiten Analytiken finden.36 Der zentrale Gedanke, auf den ich hier nur verweisen kann, ist, dass 33  Vgl. Deborah Achtenberg: The Role of the Ergon -Argument in Aristotle’s Nicomachean Ethics. In: Essays in Ancient Greek Philosophy IV: Aristotle’s Ethics, ed. by John P. Anton and Anthony Preus (Albany 1991) 59–72; vgl. im selben Band Alfonso Gómez-Lobo: The Ergon-Inference, S. 43–57; vgl. auch Ursula Wolf: Aristoteles’ ›Nikomachische Ethik‹ (Darmstadt 2002) 40–45. 34  Vgl. z. B. Terence H. Irwin: The Metaphysical and Psychological Basis of Aristotle’s Ethics. In: Essays on Aristotle’s Ethics, ed. by Amélie Oxenberg-Rorty (Berkeley 1980) 35–53. 35  Eine Widerlegung dieses Einwands gibt Philipp Brüllmann: Ethik und Naturphilosophie. Bemerkungen zu Aristoteles’ Ergon-Argument (EN I 6). In: Archiv für Geschichte der Philosophie 94, hg. von Christoph Horn, Camilla Serck-Hanssen und Christia Mercer (Berlin 2012) 1–30 (mit guten Argumenten, allerdings verbunden mit nicht immer einsichtiger Kritik an Aris­oteles). 36  Eine Herleitung aus den Texten versuche ich in: Wie aufgeklärt ist die Vernunft der Aufklärung? Eine Kritik aus aristotelischer Sicht (Heidelberg 2016).

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ein érgon immer die Verwirklichung von etwas Möglichem ist, und dass dieses Mögliche nur mit dem Verstand begriffen werden kann. Wenn etwas z. B. die Fähigkeit, sich zu bewegen, ausüben oder – in einer Evolution – entwickeln soll, muss es sich u. a. geradeaus oder im Kreis oder in einer Mischung aus beiden Bewegungsarten bewegen können. Diese Möglichkeiten, sich zu bewegen, kann man sich aneignen, die Fähigkeit, sie auszuüben, kann sich entwickeln, die Möglichkeiten selbst sind reine Möglichkeiten, die man begreifen kann und die sich in ihrem begrifflichen Sein auch nicht verändern (höchstens für den, der sie ungenau erkennt). Dass die Beine eines Lebewesens die Fähigkeit haben, sich zu bewegen und diese Fähigkeit als ihr érgon ausüben können, hat seinen Grund darin, dass sie eine Auswahl aus den Grundmöglichkeiten von Bewegung (gerade, im Kreis, usw.) verwirklichen. In diesem Sinn kann man grundsätzlich sagen, dass érgon die Verwirklichung von etwas Möglichem bezeichnet. Auf der Ebene empirischer Wahrscheinlichkeit, auf die sich Aristoteles in den Anfangskapiteln seiner Ethiken beschränkt, findet man aber im Vorgehen empirischer Wissenschaften auch heute viele vergleichbare Annahmen, auch wenn sie oft nicht thematisiert werden. Denn auch heutige Naturwissenschaftler stützen sich, wenn sie etwa Auge, Hand, Fuß an einem Lebewesen erkennen wollen, nicht einfach auf die Beobachtung von Materien und deren phänomenale Anordnung. Wie könnte man sonst überhaupt das Auge von Muscheln erkennen? Es besteht aus anderen Materien in anderer Anordnung als Linsenaugen. Erkannt wird es nicht über phänomenale Gemeinsamkeiten, sondern durch Begreifen, was die Muschel kann und leistet: Auch sie kann hell und dunkel und Farben unterscheiden. Wer diese Leistung bemerkt, hat einen Ausgangspunkt für die empirisch beobachtende Erforschung, wie die Kammmuschel diese Leistung erbringt. Bei der Suche nach der Erkenntnis, was der Mensch ist, hat die Orientierung am érgon als Kriterium auch eine reflexive Komponente. Betrachtet man den Menschen von den Akten her, zu deren Ausübung er fähig ist, wäre der skeptische Einwand merkwürdig, man könne nur spekulativ erschließen, aber nicht erkennen, welche Fähigkeiten der Mensch ausüben kann. Dass wir gehen können, wahrnehmen, meinen, fühlen, wollen können, usw., können wir an uns selbst erfahren, auch wenn wir die Gründe, die diese Fähigkeiten möglich machen, noch nicht erkannt haben. Der Blick auf das érgon hat noch einen weiteren Vorzug (der gut geeignet ist, den Einwand, Aristoteles habe einzelne érga unterschiedlicher Menschen unzulässig auf einen ›Gesamtergon‹ des Menschen ausgedehnt, zu entkräften). Betrachtet man etwas, z. B. ein Haus oder ein Auge, unter dem Aspekt, welches érgon es erfüllt und wie es dies tut, bezieht man sich weder auf seine materiellen Teile noch auf deren Anordnung, sondern man betrachtet alle diese Einzelmomente mit Blick auf die Frage, wie sie zur Erfüllung eines bestimmten Werks, etwa zur Erzielung einer bestimmten Schutzfunktion oder zur Unterscheidung von Farben, zusammenwirken, wie sie also eine funktionale Ordnung bilden, bei der die Teile untereinander und zum Ganzen eine Einheit bilden.

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Die Beispiele Auge, Hand, Fuß, die Aristoteles benutzt, beziehen sich auf Teile des Körpers, von denen bereits in dieser Dimension ziemlich klar ist, dass sie als funktionale Teile des ganzen Körpers aufgefasst werden müssen. Man kann das érgon des Fußes nicht für sich erklären. Denn er bewegt sich nicht aus sich selbst, und könnte in einer möglichen Selbständigkeit nur sinnlose Bewegungen machen. Es ist also nur als Teil eines Ganzen erklärbar. Dass diese Hinordnung auf das Ganze auch eine wesentliche Bedingung für die einzelnen seelisch möglichen Akte (enérgeiai) ist, kann man besonders gut an Aristoteles’ Behandlung der Selbstliebe erkennen.

Fünfte Abweichung: An die Stelle des Gegensatzes von Egoismus und Altruismus tritt die Suche nach der besten Form des Egoismus Obwohl Aristoteles mit der Lehre von der richtigen Mitte, die ein moralisch gutes Verhalten suchen und bewahren sollte, ein Höchstmaß, einen ›Gipfel‹ (akrótes, NE 1107a8) menschlichen Handelns aufzeigen wollte, war diese Lehre schon den alten Stoikern abschreckendes Beispiel für ein kleinliches, biederes Denken. In diesem ungünstigen Licht, als rate Aristoteles dazu, möglichst nur kleine, leicht vom Verstand zu beherrschende Gefühle zu haben, stand diese sogenannte ›Metriopathie‹ lange Zeit. Von einer uneingeschränkten Rehabilitation kann nicht einmal heute die Rede sein. Eben dieser zum Mittelmaß ratende Aristoteles vertritt aber an zentralen Stellen seiner Ethiken37 ein Lob der Selbstliebe, – und sieht in ihr den Höhepunkt sittlich guten Verhaltens – das gerade für den guten, braven Bürger nicht annehmbar sein kann. Sittlich gut handeln, kann niemals heißen, seinem Egoismus zu dienen, es verlangt ja gerade, von sich abzusehen und allein den Bedürfnissen der anderen zugewendet zu sein. Selbst diejenige Form der Selbstliebe, die die Stoiker für naturgegeben halten, den amor sui, mit dem jedes Lebewesen geboren wird, damit es seinem Streben, sich zu erhalten, zugetan ist (naturalis amor salutis suae38), ist für sie eine naturale Neigung, kein moralisches Gebot, das erst aus der Einsicht der Vernunft in das summum bonum, das für alle gleich gilt, seine moralische Qualität erhält. Aristoteles dagegen sagt von der Selbstliebe, sie sei keine besondere einzelne areté, sondern das beste Verhältnis, das der Mensch zu sich haben kann, und dadurch das ›genaue Maß‹, an dem alles andere sittliche Verhalten gemessen wird (NE 1166a13 f.), ja in dem es seinen Grund hat (1168b4–6). 37  Vgl. v. a. Nikomachische Ethik IX, 4, 1166a1–b29 und IX, 8, 1168a28–69b2; Eudemische Ethik VII,6, 1240a8–41a1; in den Magna Moralia vgl. v. a. 1212a28-b23. 38  Vgl. Seneca: Epistulae morales 121, § 20; vgl. auch Ep. 85, 15 (Gerade der 85. Brief verdeutlicht die Differenz zwischen dem amor naturalis und einem moralischen Gebot radikal, weil er sie auf das Problem des Selbstmords anwendet).

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Aristoteles vertritt diese Meinung aber nicht, weil ihm die auch zu seiner Zeit übliche Verurteilung einer allein auf sich bezogenen egoistischen Selbstliebe nicht bekannt gewesen wäre. Er setzt sich ausdrücklich mit diesen Auffassungen auseinander und deckt auf, dass dieser auch in seinem Sinn zu verurteilende Egoismus eine Fehlform der Selbstliebe ist (1168a28–35). Ein Ausgangspunkt für die Ermittlung der richtigen Weise der Selbstliebe ist für ihn die Frage, wie man überhaupt eine Liebe zu sich selbst haben kann. Lieben und geliebt werden sei normalerweise auf zwei ›Personen‹ verteilt, auf einen der liebt und einen der geliebt wird (EE 1240a14 f.; NN 1166a30–b2). Dass man sich selbst liebend zuwenden kann, zeigt also, dass der Mensch in gewisser Weise ein geteiltes Wesen ist (EE 1240a20). Grund dafür ist, dass der Mensch ein endliches Wesen ist und auch seine seelischen Vermögen nur in einer durch den Körper geteilten Weise ausüben kann. Wir erkennen nicht alles auf einmal, sondern müssen uns vieles der Reihe nach erschließen, und wir erkennen nicht alles mit ein und demselben Vermögen. Aris­toteles nimmt mit Platon vor allem drei Grundunterschiede unter diesen Vermögen an: das Wahrnehmen, das Meinen und das rationale Denken im strengen Sinn.39 So wie man mit dem Auge nicht hören kann, weil Sehen und Hören verschiedene Vermögen sind, die sich verschiedener körperlicher Organe bedienen, so kann man auch das, was Gegenstand der Meinung ist, nicht wahrnehmen. Denn beim Meinen richtet man sich nicht mehr auf die sinnlichen Erscheinungsformen von etwas – sie zu erkennen ist Sache der Wahrnehmung – sondern auf das, was dieses ›Phänomen‹ kann und leistet, eben auf sein érgon. Wenn man aber (nur) meint, dass Wein schädlich ist, kennt man die Gründe nicht und muss sich beim Arzt Rat holen. Obwohl das Vermögen, sich eine Meinung zu bilden, von Aristoteles schon zu den rationalen Vermögen im weiteren Sinn gerechnet wird, spricht er dem Meinen eine selbständige Erkenntnisfähigkeit ab, es muss noch auf den Verstand und dessen Fähigkeit, die Prämissen und Gründe einer Meinung zu erkennen, ›hören‹. Aristoteles unterscheidet deshalb zwei auf die Vernunft zu hören fähige Vermögen, die Wahrnehmung und das Meinen, von der Vernunft selbst, die nicht nur versteht, was sie erkennt, sondern auch die Gründe aus eigenem Vermögen erschließen (das tut die diánoia = ratio) und einsehen (das leistet der nous = intellectus) kann (NE I,13, 1102a23–1103a10). Da mit diesen Vermögen anders als mit der Vorstellung unmittelbar Lust und Unlust verbunden sind, behandelt sie Aristoteles nicht als reine Erkenntnisvermögen, sondern als mögliche Lebensformen (bíoi, 1095b11–1197a15).

39  Auf diese Unterschiede beruft er sich auch bei der Erklärung der ›drei Lebensformen‹ in der Ethik (vgl. v. a. NE I,3, 1095b14–1096a10); zur Begründung dieser Dreiteilung der von verschiedenen Erkenntnisformen abhängigen unterschiedlichen Willensformen bei Platon vgl. A. Schmitt: Gerechtigkeit bei Platon. In: Anthropologie in Antike und Gegenwart, hg. von Diego De Brasi und Sabine Föllinger (Freiburg 2015) 279–328.

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Auf diese Lebensformen bezieht er sich auch bei der Beschreibung der Fehlformen der Selbstliebe. Wer nur seinen sinnlichen Lüsten lebe, oder wer sich selbst alle chrémata (Besitz und Geld) zuzuteilen versuche, oder wer nur auf Ehre und Ruhm aus sei, der werde zurecht als einer, der nur sich selbst liebt (phílautos), getadelt (NE 1168b22 f.). Denn solche Menschen lebten nur der Gier oder der Ehrsucht und führten insgesamt ein Leben, das nicht auf die Vernunft höre (álogos ist nicht irrational!). Dass Aristoteles bei dieser Kritik egoistischen Verhaltens mit Zustimmung rechnen konnte und rechnen kann, muss man festhalten. Denn diese Zustimmung steht in Widerspruch zu der sehr verbreiteten Kritik an seinem ›Intellektualismus‹, d. h. seiner Behauptung, das eigentliche Ziel und Glück des Menschen be­ stehe in einem Leben nach der Vernunft. Da ein Widerspruch in der Regel auf ein Fehlurteil hindeutet, muss man ihn bei der Interpretation aufzulösen versuchen. Denn der Grund des negativen Urteils über die Fehlformen egoistischer Selbstliebe ist bei Aristoteles nicht, dass er die Lüste, die aus der Sinnlichkeit oder aus dem Genuss der Ehre kommen, ablehnt. In seiner sogenannten Lustabhandlung im 10. Buch der Nikomachischen Ethik ordnet er der Wahrnehmung genauso wie dem Denken eine vollendete Höchstform von Lust zu. Wenn die Wahrnehmung in bester Verfassung und auf das ›schönste ihr zugängliche Objekt‹ (sc. des Sehens, Hörens, usw.) gerichtet sei, dann sei dies eine ›vollendete Tätigkeit‹ (NE 1174b14–23). Allgemein stellt er fest, dass es unter den sinnlichen Begierden und Lüsten auch »der Gattung nach ›schöne‹ und wertvolle« gebe (NE 1148a22–24 und ff.). Grund für die Ablehnung der Lüste der Sinnlichkeit und ebenso der Ehrsucht gibt es vielmehr nur, wenn diese sich verselbständigen und gewissermaßen wie vom Körper losgelöste Füße agieren, wie sie wollen. Dann tritt ein Zustand des Streits oder des inneren Aufstands der verschiedenen Seelen-›Teile‹ gegenein­ ander ein: »Sie begehren das eine, wollen das andere und entscheiden sich nicht für das, was gut für sie wäre, sondern für die Lust, auch wenn sie schädlich ist (NE 1166b7–10). Der eine Teil empfindet Unlust, weil ihm etwas abgeht, der andere empfindet Lust, und so zieht der eine hierhin, der andere dorthin, als wollten sie ›den ganzen Menschen‹ in Stücke reißen« (NE 1166b19–22). Den Gegensatz zu diesem inneren Aufruhr bildet die richtige Form der Selbstliebe. Sie besteht nicht in einer Herrschaft des Verstandes, der alle Sinnlichkeit niederhält, um sich in seiner ungeschmälerten Selbstbestimmtheit und Freiheit zu genießen, sondern, wie Aristoteles sich ausdrückt, darin, dass er mit sich selbst (sc. mit allen seinen seelischen Aktmöglichkeiten) in einer Meinungsgemeinschaft lebt (homognomoneí) und so ›mit der ganzen Seele‹ (katá pásan ten psychén) nach dem, was gut für ihn ist, strebt (NE 1166a13 f.). Auch wenn Aristoteles bei der ersten Einführung der drei Lebensformen (bíoi) Menschen, die allein der Sinneslust frönen, ein Sklavendenken zuschreibt, weil sie einem Leben wie die Tiere den Vorzug gäben (NE 1095b10 ff.), verweist

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er bereits gegen Ende des ersten Buches auf einen zentralen Unterschied: Im Gegensatz zu den Tieren, die allein ihren Wahrnehmungen leben müssen, hat der Mensch das Vermögen, auch dann, wenn er seine Wahrnehmungen betätigt und sich in ihnen bewegt, auf die Vernunft zu hören. Dieses ›Hören-Können‹ wird, insbesondere, weil das Prädikat álogos, das Aristoteles der Wahrnehmung zuweist, als ›irrational‹, statt als ›unvernünftig‹ (= nicht selbständig, aus sich selbst heraus vernünftig), gedeutet wird, unterschätzt. Es verweist darauf, dass sich der Mensch auch beim Wahrnehmen seines Verstandes bedienen kann. Dieses Hören auf die Vernunft ist nicht dasselbe wie die auch in den Akten des Wahrnehmens selbst mitwirkende Vernunft, über die nach Aristoteles auch Tiere verfügen. Wenn ein Hund seine Hütte als sein Haus, wo er ruhen und schlafen kann, erkennt, begreift er mehr als ihm das Auge, die Nase und der Tastsinn zeigen können. Aber der Verstand in der Wahrnehmung ist, wie Thomas von Aquin schön formuliert hat, eine »ratio ligata«, ein Verstand, der an die Leistungsmöglichkeiten der Wahrnehmung gebunden ist (bzw. der, sofern er sich auf das Wahrnehmen stützt, sich selbst bindet). Aristoteles’ berühmtes Beispiel ist die Sonne, die die Wahrnehmung von sich aus immer als klein sehen wird (de anima 428b2–9), genauso wie die Zunge den Wein immer so empfinden wird, wie sie ihn empfindet, z. B. als süß. Aber der wahrnehmende Mensch kann sich dabei des Verstandes bedienen und auf den Arzt hören, weil er wissen kann, dass die Wahrnehmung von sich aus keinen Beitrag dazu mehr leisten kann, in welchem Maß der Wein gut für ihn ist. Den Weg zu diesem Hören auf den Verstand hat Aristoteles ausführlich bei der Behandlung der Unbeherrschtheit (Buch 7 NE) diskutiert und weist auch im Kapitel über die Selbstliebe darauf zurück. Er führt über die Präsenz der größeren Lust. Sie wird dadurch ermöglicht, dass das Gut, das der Verstand erkennt, über die Vorstellung der Wahrnehmung präsent gemacht werden kann, als habe sie es im Augenblick vor sich.40 Die Lust auf ein gutes Glas Wein wird den nicht verführen, dem die Lust am Bestehen einer wichtigen Prüfung unmittelbar vor Augen steht. Dieses ›Vor-Augen-Stellen‹ kann die Vorstellung auch schon lange Zeit vor der Prüfung leisten und so der größeren Lust zum Sieg verhelfen. 40 

Eine genaue Erklärung dieses Vorgangs gibt Aristoteles in De motu animalium, vgl. v.  a. 702a8 ff. Dort begründet er, dass von den psychischen Strebe- oder Willensformen der Körper in einen zur Veränderung bereiten Zustand versetzt werde (etwa durch das ›Kochen des Blutes‹, heute würde man z. B. von Adrenalinausschüttungen sprechen). Die Willensformen ihrerseits würden von der Vorstellung, die etwas Angenehmes oder Unangenehmes präsent macht, angeregt, während die Vorstellung ihre Inhalte entweder vom Denken oder von der Wahrnehmung erhalte. Vgl. dazu Viviana Cessi: Erkennen und Handeln in der Theorie des Tragischen bei Aris­ toteles (Frankfurt a.M. 1987) 136–142, 162–167; vgl. dazu auch Martha C. Nussbaum: Aristotle’s ›De motu animalium‹ (Princeton 1978) z. St., und siehe jetzt auch die sorgfältige, aber sehr auf die physiologischen Aspekte konzentrierte Kommentierung durch Klaus Corcilius: Aristoteles. De motu animalium. Introduction, new Greek Text (ed. by Oliver Primavesi), translation, short commentary (Hamburg 2015) z. St; vgl. auch ders.: Streben und Bewegen. Aristoteles’ Theorie der animalischen Ortsbewegung (Berlin/New York 2008).

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Dasselbe gilt auch für Lüste aus der ›politischen‹ Lebensform, die auf Ehre, Gerechtigkeit, insgesamt auf alles, was zur Verwirklichung des eigenen érgons dient, ausgerichtet ist. Odysseus z. B. sitzt in seinem Palast und empört sich heftig über die Niedertracht seiner Dienerinnen, die er mit ansehen muss. Aber über seinen Zorn, sie sofort zu bestrafen, siegt die größere Lust, der Wille, seinen Sieg über die Freier nicht zu gefährden. Bei Homer ist dieser Sieg, der wie ein Sieg des Verstandes über den Zorn aussieht, anschaulich als Sieg einer mit dem Verstand verbundenen größeren Lust beschrieben. Wie ein Mann, so erzählt er, der vor einem Ziegenmagen sitzt, der schon von Fett trieft und wunderbar duftet, und der es nicht abwarten kann, bis er durchgebraten ist, so stand ihm der Wunsch, die Freier zu besiegen, vor Augen (Odyssee 20, 1–30). Es ist nicht die Lust an einem guten Glas Wein und allgemein an einer sinnlichen Lust, die der Verstand unterdrückt, sein Einwirken bezieht sich nur auf den Augenblick und das Ausmaß, in dem sie eine größere, für den ganzen Menschen wichtige Lust behindert. Das Gleiche gilt für Lust und Unlust aus dem ›politischen Bios‹. Aristoteles verurteilt z. B. den Zorn nicht so vernichtend wie Seneca, er zeigt sogar besonders viel Verständnis für ihn und akzeptiert in jedem Fall den berechtigten Zorn (NE VII,7, 1149a21–1150a9). Aber er sucht die Übereinstimmung auch der Zorneserregung mit dem für den ganzen Menschen Guten – wie es Homer bei seinem Odysseus schildert. Allgemein kann man also festhalten, dass jede Lebensform dann ihr Recht hat, wenn sie mit dem Verstand übereinstimmt, d. h. wenn sie Lust oder Unlust empfinden dem Gegenstand gegenüber, bei dem man sie empfinden soll, zu der Zeit, in dem Ausmaß, auf die Weise, in der man sie empfinden soll, usw. (s. oben.). Die richtige Form der Selbstliebe ist gerade auf diese Art der Lusterfahrungen gerichtet, und das heißt: auf ihren besten Zustand, in dem die jeweilige Tätigkeit von der größten Lust begleitet ist. Diesen Tätigkeiten, denen diese Lüste folgen, wendet sich der, der sich selbst – als Ganzen – wirklich liebt, zu. Daraus folgt zwingend, dass er sie auch anerkennt und ein freundschaftlich liebendes Verhältnis zu ihnen einnimmt. Auch wenn Aristoteles in der reinen Erkenntnistätigkeit die beste und lustvollste Verwirklichung des Menschseins sieht (NE X,7), gerade in der Abhandlung über die Selbstliebe betont er zugleich mit der Feststellung, dass das ›rationale Vermögen‹ (to dianoetikón = das, was denken kann, 1066a16 f.) das ist, was das individuelle Sein (hóper hékastos eínai dokeí)41 eines Menschen ausmacht, dass diese Selbstliebe für alle Verwirklichungsformen des Menschseins das Bes­te will und auch tut, – es ist ja dieses Tun auch mit der größten Lust verbunden.

41  Noch strikter schränkt Aristoteles wenige Zeilen später (1166a21f.) und noch einmal in IV,8 (1168b–69a3) das, was die Individualität eines Menschen ausmacht, auf das Sich-leiten durch den nous ein, darin bestehe das, was ein Einzelner in erster Linie ist, und das eben sei das, was ein sittlich guter Mensch am meisten liebe.

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Auch der, der ein ›politisches‹ Leben wählt, findet durch die Übereinstimmung mit dem aus sich selbst selbständig erkennenden Vermögen, dem nous, in der von ihm gewählten Lebensform höchstmögliche Lust.42 Das Gleiche gilt auch für ein an sinnlichen Lüsten orientiertes Leben, das durch das Hinhören auf die Vernunft ein Höchstmaß an ›reinen und schönen‹ Lüsten genießen kann. Dass Aristoteles diesen drei Lebensformen nicht denselben Rang zuerkennt, ist nicht zu bestreiten. Da die vermeintliche Abwertung anderer, praktischerer Lebensformen durch ihn aber gerade in einer Optimierung der Qualität wie der Freude an ihnen besteht, kann von einer Verachtung oder Unterdrückung keine Rede sein. Aus seinen Ausführungen lässt sich nicht folgern, nur der Intellektuelle, der akademisch Gebildete, könne ein sittlich guter Mensch sein. Das ist auch deshalb nicht richtig, weil die Orientierung an einer Leitung durch den nous darauf bezogen ist, wie der handelnde Mensch sein Glück findet. Im 7. Buch der Politik wendet Aristoteles große Mühe auf den Nachweis, dass der theoretische Mensch kein Müßiggänger ist, gerade er sei in bestem Sinn aktiv und für das Ganze tätig. Die Klärung dieser Probleme ist komplex und kann hier nicht abschließend durchgeführt werden. Die vorausgegangene Interpretation wichtiger Schlüsseltexte sollte aber wenigstens plausibel machen, dass ein moralisch gutes Verhalten für Aristoteles in der bestmöglichen und mit der größtmöglichen Lust vollzogenen Selbstverwirklichung des Menschen in allen seinen ihm möglichen Lebensformen besteht. Im Unterschied zu einer Moral, die erst in einer möglichst weitgehenden Selbstaufgabe und der gänzlichen Hinwendung zu einem ›Handeln zugunsten anderer‹ ihre sittliche Qualität zu erreichen meint, hat die Aristotelische Begründung der Moral in der bestmöglichen Selbstverwirklichung und einer lustvollen Liebe zu dieser Lebensform einen nicht unerheblichen Vorzug: den Vorzug der Aufrichtigkeit. Auch der aufopferungsvollsten Hingabe eines ganzen Lebens für andere Menschen kann man am Ende nachweisen, dass diese Aufopferung doch im Dienst der Selbstzufriedenheit und des Selbstgenusses gestanden haben könnte. Dieses Problem entsteht bei Aristoteles in keiner Weise. Er akzeptiert als Grundvoraussetzung, dass jeder das Beste für sich selbst will und dies auch genießen will. Gerade diese beste Art von Egoismus führt aber, das ist der Kern seiner Analyse, dazu, dass ein Mensch seine besten Seiten entwickelt und vervollkommnet und so für sich selbst ein guter Mensch und eben dadurch auch zu einem guten Mitglied der menschlichen Gemeinschaft wird.

42  Vgl. v. a. das Kapitel X, 8 der Nikomachischen Ethik. Die vielen Probleme und Einwände gegen die ›Zweitrangigkeit‹ eines praxisbezogenen Lebens und ihr Verhältnis zum besten Menschsein bei Aristoteles können hier nicht behandelt werden. Die obige Erklärung versucht die Einwände aber dadurch zu berücksichtigen, dass sie eine positive Deutungsmöglichkeit darstellt.

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Der Weg zu diesem ›Bestzustand‹ des Einzelnen führt über eine Erziehung und Kultivierung der Gefühle. Sie muss, wie Aristoteles von Platon übernimmt, in früher Kindheit einsetzen. Aber es ist keine Erziehung der Strenge oder gar der Unterdrückung. Das, was eine gute Erziehung leisten muss, ist ›das wirklich Angenehme schmecken zu lehren‹. Das setzt nicht nur eine (oft kritisierte) Unterscheidung eines wirklich Angenehmen von nur scheinbar Angenehmem voraus, sondern mehr noch eine Hinführung auf Erfahrungen mit dem Angenehmen. Man muss auf es aufmerksam gemacht werden – oder selbst darauf aufmerksam werden – und in es eingeübt werden oder sich einüben. Mit Bedürfnissen, die nur erfüllt werden müssen, kommt man nach Aristoteles nicht auf die Welt. Selbst den Genuss bestimmter Speisen muss man erlernen, noch viel mehr gilt das für ›höhere Bedürfnisse‹ etwa an guter Literatur, Musik, Malerei, Philosophie usw. Ist das Ziel einer solchen Bildung des Gefühls erreicht, gilt, wie Aristoteles allgemein formuliert: »Wer richtig handelt, wird im Leben auch Schönes und Gutes gewinnen. Denn das Leben solcher Menschen ist von sich her lustvoll. … Bei vielen liegt das Lustvolle in Widerstreit (mit dem richtigen Handeln). Für die, die das Schöne lieben, ist lustvoll, was wirklich lustvoll ist. […] Denn niemand ist gut, der nicht auch Freude an gutem Handeln hat.« (NE 1099 a10–21) Auch wenn Aristoteles am Ende seiner Ethik mit einer gewissen Strenge feststellt, dass ›die Vielen‹ nicht leicht für ein solches Leben zu gewinnen sind, weil sie nicht einmal eine Vorstellung von einem schönen und wirklich angenehmen Leben haben, da sie nie den Genuss davon erfahren haben (ágeustoi óntes, NE 1079b15) und deshalb noch einmal betont, wie wichtig es sei, von früher Jugend an durch Einüben daran zu gewöhnen, Lust und Unlust zu empfinden, wie es sein soll (1079b24–31), kann man vielleicht doch feststellen, dass das Sich-Einüben in die größere Lust als Voraussetzung sittlich guten Handelns, eine wirklichkeitsnähere und jedenfalls sympathischere Ethikbegründung ist als die Forderung nach einem gänzlichen Absehen von sich selbst in einer Ethik, die erst dort vorhanden zu sein scheint, wo der Einzelne ganz von sich und seinem eigenen Streben nach Glück abzusehen in der Lage ist.

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Zum Kaufmann bei Aristoteles und im Spanien der Frühen Neuzeit Im Spanien der Frühen Neuzeit führte der Handel mit der Neuen Welt zu einer neuen Bedeutung des Kaufmanns. Verglichen mit der Antike waren Menge und geographischer Umfang des Warenaustauschs gestiegen. Im Folgenden soll daher die Frage gestellt werden, inwieweit antike Einschätzungen revidiert wurden. Zunächst werden die Zusammenhänge zwischen ökonomischer Theorie, Tugendlehre und Gesellschaftsstruktur bei Aristoteles in Erinnerung gerufen, bevor dann die entsprechenden Positionen einiger spanischer Theoretiker der Frühen Neuzeit vorgeführt werden. Aristoteles unterscheidet zwischen dem Besitzerwerb und der Besitzverwaltung, also der Haushaltsführung. Der Unterschied sei dem zwischen der Herstellung des Weberschiffchens und der Webkunst vergleichbar. Ein reichlicher Vorrat von Gütern ist für die staatliche und häusliche Gemeinschaft erforderlich und die damit verbundene Erwerbstätigkeit ist naturgemäß. Nicht naturgemäß aber sei eine andere Art der Beschaffungskunst, die der Auffassung ist, Reichtum und Besitz sei keine Grenze gesetzt. Wenn z. B. Schuhe nicht zum Tragen, sondern zum Tauschen verwendet werden, ist das so lange naturgemäß, wie nützliche Dinge gegen nützliche getauscht werden, also z. B. Wein gegen Getreide. Zu kritisieren sei jedoch die Ökonomisierung der Medizin und der Kriegskunst, bei der die eigentlichen Aufgaben, den Sieg zu erringen oder die Gesundheit wiederherzustellen, zu Mitteln werden, um Gewinn zu erzielen. Bei der gewinnsüchtigen Erwerbskunst, unterstützt durch den Gebrauch des Münzgeldes und durch die Fachkenntnis, von wo und wie durch Warenumschlag der größte Gewinn zu erzielen ist, steht nämlich der Wunsch, Reichtum und Geld zu vermehren im Vordergrund. »Bei dieser Form von Reichtum, der durch die gewinnsüchtige Erwerbsweise aufgehäuft wird, gibt es keine Begrenzung.«1 Daher versuchen alle, die gewinnbringender Tätigkeit nachgehen, ihr Geld bis ins Unendliche zu vermehren. Das Fehlen von Grenzen bemängelt Aristoteles hier ebenso wie bei der Übersteigerung ausschweifender Genüsse. Erwerbskunst ist also immer dann abzulehnen, wenn sie auf grenzenlosen Gewinn aus ist. Die extremste und verwerflichste Variante ist für Aristoteles der Geldverleih gegen Zinsen, da hier das Geld nicht seinem ursprünglichen Zweck gemäß, nämlich der Erleichterung des Warenumschlages zu dienen, verwendet werde, sondern der Gewinn aus dem Münzgeld selbst stamme: »Zins ist aber Geld gezeugt von Geld. Daher ist auch diese Form von Erwerb am meisten wider die Natur.«2 1  Aristoteles: Politik, hg. und 2 

übers. von Eckart Schütrumpf (Hamburg 2012) 21.

Ebd. 21.

Archiv für Begriffsgeschichte · Sonderheft 12 · © Felix Meiner Verlag 2016 · ISBN 978-3-7873-2525-2

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Geld als Mittel, das alles, was untereinander ausgetauscht wird, quantitativ vergleichbar macht, hält Aristoteles für sinnvoll, da es z. B. der Berechnung dient, wie viele Schuhe einem Haus oder einer bestimmten Menge von Lebensmitteln gleichkommen. »Geld macht also wie ein Maß alle Dinge kommensurabel und stellt dadurch eine Gleichheit unter ihnen her. Denn ohne Austausch wäre keine Gemeinschaft und ohne Gleichheit kein Austausch und ohne Kommensurabilität keine Gleichheit.«3 Geld ist aber auch ein Mittel zur Tugend. Der Freigebige braucht es, um freigebig zu sein, der Gerechte, um Empfangenes zu vergelten.4 Derartige theoretische Ausführungen unterscheidet Aristoteles von der Betrachtung der Gesellschaft, die er ohne Wertung und systematisierend anschließt. Bei der Erwerbskunst sei es allgemein von Vorteil, die Arten von Vieh zu kennen, um zu wissen, welche Tiere am rentabelsten sind und den größten Gewinn abwerfen. Entsprechendes gilt hinsichtlich Ackerbau, Bienenzucht oder Gewinnung von Holz. Im Geschäftsverkehr zwischen Menschen unterscheidet er drei Arten: Handel, Geldverleih und Lohnarbeit. Beim Handel erzielt der Fernhandel mit Schiffen wegen des größeren Risikos höhere Einnahmen als das Feilbieten von heimischen Waren. Dass auch Philosophen wirtschaftlichen Erfolg haben können, obwohl es ihnen darauf nicht ankommt, belegt Aristoteles mit Thales, der aus astronomischen Berechnungen eine reiche Olivenernte abgeleitet hatte und daher schon im Winter billig Ölpressen anzahlte und mietete, die er dann zur Erntezeit teuer vermieten konnte, da er das Monopol dafür hatte.5 Was sind die Tugenden des Kaufmanns? Die Tugend definiert Aristoteles als Habitus. Wie beim Künstler sei in den gut ausgeführten Werken Übermaß wie Mangel zu vermeiden und die Mitte einzuhalten, weil das Schlechte zum Unbegrenzten und das Gute zum Begrenzten gehört.6 Das bedeutet bei Geldangelegenheiten: »In Geldsachen, im Geben wie im Nehmen, ist die Mitte Freigebigkeit, das Übermaß und der Mangel Verschwendung und Geiz, und zwar so, daß beide Fehler beide Extreme aufweisen, jedoch umgekehrt zueinander. Der Verschwender gibt zu viel und nimmt zu wenig; der Geizige dagegen nimmt zu viel und gibt zu wenig.«7 Mit zunehmender Befriedigung der Begierden und steigender Zahl von Genüssen wird die Vernunft ausgeschaltet und ein maßvolles Verhalten unmöglich.8 Daher erscheint der Verschwender durch seine fehlende Enthaltsamkeit mit zahlreichen Untugenden behaftet. Freigebigkeit ist dagegen die richtige Tugend im Umgang mit dem Reichtum. So werde demjenigen Dank und höheres Lob zuteil, der gibt, nicht dem, der nimmt.9 Der falsche Gebrauch 3  Aristoteles:

Nikomachische Ethik, nach der Übers. von Eugen Rolfes bearb. von Günther Bien (Hamburg 1995) 114. 4  Ebd. 252. 5  Vgl. Aristoteles: Politik, a. a.O. [Anm. 1] 26 f. 6  Aristoteles: Nikomachische Ethik, a. a.O. [Anm. 3] 35. 7  Ebd. 36. 8  Ebd. 72. 9  Ebd. 74.

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beim Geben und Nehmen führt zum Geiz, den ein Zuwenig im Geben oder ein Zuviel im Nehmen charakterisiert. Als Beispiele für das Zuviel im Nehmen nennt Aristoteles Wucherer, die kleine Summen zu hohen Zinsen ausleihen. Ihren guten Ruf opfern sie der Gewinnsucht, die zum Hauptziel wird. Dabei gibt es eine Steigerung vom Geiz des Falschspielers oder Räubers bis zur Verruchtheit des Gewaltherrschers, der aus Habgier Städte verwüstet und Tempel beraubt.10 Zudem ist die Gewinnsucht ein Gegenstück zur Gerechtigkeit. Denn in der Reihe der Ungerechten nennt Aristoteles den Gesetzesübertreter, den Habsüchtigen, der andere übervorteilt, und den Feind der Gleichheit. Das Gleiche erscheint als die Mitte zwischen dem Zuviel und dem Zuwenig, zwischen Vorteil und Nachteil. Es erscheint als rechtens, wenn man nicht gewinnt, also mehr erhält als man hatte, und nicht verliert, also weniger erhält als man hatte, sondern nach wie vor nach Kauf und Verkauf das Gleiche hat.11 Wie ist die Position des Kaufmanns in der Gesellschaft zu sehen? Wenn Aris­ toteles Stände unterscheidet, hat der Kaufmann seinen eigenen Platz in der Reihe von Bauern, Handwerkern, Handelsleuten, Tagelöhnern und Wehrstand. Als Handelsleute bezeichnet er diejenigen, die sich mit Verkauf und Kauf, Großund Kleinhandel befassen.12 Früher seien Kaufleute Sklaven oder Fremde gewesen. Sie seien deswegen nicht zu Bürgern mit Staatsämtern zu machen, da ihnen die nötige Ungebundenheit und Muße fehle.13 Kaufleute werden also bei Aristoteles eher an den Rändern und nicht im Kern der Gesellschaft angesiedelt. Dass sie so reich werden können wie Fürsten, wirkt sich eher negativ aus. Denn nicht Reichtum und Überfluss ermöglichen Tugenden. Man kann auch, ohne über Land und Meer zu herrschen, tugendhaft handeln. Wenn die dazu nötigen Mittel vorhanden sind, haben es Privatleute leichter als Fürsten. Aristoteles zitiert Solon, der diejenigen für glücklich hält, die mit mäßig vielen äußeren Gütern die schönsten Taten verrichtet und maßvoll gelebt hätten.14 Schließlich wirkt sich für die Beurteilung des Kaufmanns auch negativ aus, dass seine Erwerbskunst auf Geld und Waren ausgerichtet ist und nicht auf ein durch Denken geprägtes Leben. Letzterem aber verleiht Aristoteles den höchsten Rang: »Und so muß denn die Tätigkeit Gottes, die an Seligkeit alles übertrifft, die denkende Tätigkeit sein. Eben darum wird aber auch von menschlichen Tätigkeiten diejenige die seligste sein, die ihr am nächsten verwandt ist.«15 Resümierend bleibt festzuhalten: Zwar ist der Kaufmann in der Aristotelischen Gesellschaftstheorie ein notwendiges Element. Allerdings erscheint er oft in negativem Licht. Ihm fehlt die nötige Muße für die denkende Tätigkeit. Als Sklave oder Fremder gehört er nicht zu den Stützen der Gesellschaft. Da er 10 

Ebd. 79.

11  Aristoteles: Nikomachische

Ethik, a. a.O. [Anm. 3] 109 f. 139.

12  Aristoteles: Politik, a. a.O. [Anm. 1] 13 

Ebd. 93, 272.

14  Aristoteles: Nikomachische 15 

Ebd. 253.

Ethik, a. a.O. [Anm. 3] 254.

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meist reich ist, ist er selten tugendhaft. Seine gewinnsüchtige Erwerbskunst lässt alles zu Mitteln werden, um Gewinn zu erzielen. Das gilt bei der Zinsnahme wie bei der Ökonomisierung der Medizin. Hier wie beim ausschweifenden Genießen des Reichtums, das gerade beim Kaufmann als naheliegend gesehen wird, gibt es keine Grenzen oder eine bewusste Beschränkung auf ein mittleres Maß. Übermaß und Mangel, Verschwendung und Geiz dominieren, nicht die Freigebigkeit als Tugend und mittleres Maß. Das Zuviel im Nehmen und Zuwenig im Geben charakterisiert den Wucherer, der zum Prototypen des negativ gezeichneten Kaufmanns wird. Schließlich wird die Überlegenheit des Philosophen gegenüber dem Kaufmann dadurch deutlich, dass Thales keine Schwierigkeit hat, durch den Erfolg bei einer Art Optionsscheinspekulation zu demonstrieren, dass er normalerweise als Philosoph nicht kaufmännisch denkt, es aber kann, wenn er will. Im Folgenden soll gefragt werden, ob diese Aristotelischen Positionen noch im spanischen 16. Jahrhundert vertreten werden oder ob sich Veränderungen ergeben. Inwieweit letztere auch durch scholastische Ergänzungen des Thomas von Aquin bedingt sind, soll nur am Rande thematisiert werden. Betrachtet werden sollen vor allem der 1556 in Salamanca veröffentlichte Comentario resulutorio de cambios des Martín de Azpilcueta und die 1569 ebenfalls in Salamanca erschienene Suma de tratos y contratos des Tomás de Mercado. Azpilcueta, der in seinem Werk Ehre und Seelenheil der Kaufleute, »de tal principal y honrada gente«16, verteidigen will, war Moraltheologe und Kirchenrechtler. Als Schüler Francisco de Vitorias gehörte er zur Schule von Salamanca, die grundlegende Erkenntnisse zum Natur- und Völkerrecht sowie zur Ökonomie hervorbrachte. Auch Tomás de Mercado gehörte dieser Schule an. Er war Dominikaner, lebte in Sevilla, Mexiko und Salamanca und konzipierte sein Werk für Kaufleute, denen er klarmachen wollte, dass ihre Tätigkeit nicht unvereinbar sein muss mit Tugend und der Erlangung des ewigen Seelenheils.17 Die fehlende Einhaltung der Mitte durch Selbstbeschränkung war es, die Aristoteles dem Kaufmann vorwarf. Daraus leitete er Habgier, Gewinnsucht, Geiz, Wucher und Anhäufung von Reichtümern ab, wobei letztere den moralischen Verfall verstärkten. Was Azpilcueta und Mercado dagegenstellen, soll im Folgenden18 in drei Schritten gezeigt werden: Zunächst sei mit Blick auf das Gemeinwohl eine Parallele aufgezeigt zwischen dem schlechten Kaufmann und dem Tyrannen. Dann sei zwischen theoretischer Konzeption des Kaufmann­ wesens und der Realität in der Praxis unterschieden. Schließlich wird mit Blick

16 

Martín de Azpilcueta: Comentario resolutorio de cambios, hg. von Alberto Ullastres Calvo und Luciano Pereña (Madrid 1965) 105. 17  Vgl. Tomás de Mercado: Suma de tratos y contratos, hg. von Nicolás Sánchez-Albornoz (Madrid 1977) 50. 18  Dabei wird auf einige Belege aus der Bachelorarbeit von Franziska Mormann zurückgegriffen. Franziska Mormann: Das Idealbild des Kaufmanns in ausgewählten Traktaten des 16. Jahrhunderts in Spanien (Bachelorarbeit, ohne Veröffentlichung, Münster 2013).

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auf die Idee von der Mitte in der Tugendlehre der pretium iustum als Korrektiv möglicher Untugenden vorgestellt. Bekanntlich unterscheidet sich der gute Herrscher vom Tyrannen dadurch, dass sich ersterer am Gemeinwohl orientiert und letzterer am Eigeninteresse. Entsprechendes gilt nach Mercado auch für den Kaufmann seiner Zeit: »ya el ser mercader no es ser hombre deseoso del bien de su patria, como antes, sino muy amante de su dinero y codicioso del ajeno.«19 Gewinnstreben und Habgier nämlich seien es, die den Kaufmann Maß und Mitte vergessen und das Gemeinwohl dem Eigennutz opfern ließen. In der theoretischen Analyse des Staates werden dem Kaufmann sinnvolle Funktionen zugeschrieben, die ihn als notwendiges Mitglied der Gesellschaft erscheinen lassen. Negative Zuschreibungen treten vor allem in der Betrachtung konkreter Fälle in der Praxis auf. Dies zeigt schon die Darstellung der Anfänge, die mit der Angabe von Sinn und Zweck verbunden ist. Den Ursprung der Kaufmannstätigkeit situiert Mercado nicht wie Aristoteles in einen hypothetischen Urzustand, sondern in die Zeit nach der biblischen Sintflut, nach der bestimmte Gegenstände in ganzen Regionen fehlten oder Mangelware waren. In dieser Situation entstand der Tauschhandel und mit ihm das Geld: »inventaron el mercar y vender por su precio, apreciando y avaluando cada cosa por sí, según que podía servir al hombre, e hicieron precio común y general de todas la plata y el oro.«20 In dieser Frühzeit also wird der Handel offensichtlich noch als frei von späteren Pervertierungen in der Praxis gesehen. Kaufleute waren nach Mercado in früheren Zeiten angesehene Leute. Solon und Hippokrates werden als Beispiele für einstmals berühmte Kaufleute angeführt. Auf ihren Reisen hätten sie Erkenntnisse gewonnen über Land und Leute, fremde Sprachen und andere Herrschaftsformen kennengelernt, die sie nach der Rückkehr in ihre Heimatländer gewinnbringend nutzen konnten.21 Zu den legitimen Zielen der Kaufmanns­ tätigkeit zählt Mercado die Versorgung des Gemeinwesens mit Waren, die sonst nicht vor Ort sind. Ein moderater Gewinn als Entgelt erscheint dabei durchaus legitim. Zwei weitere untergeordnete Ziele betreffen die Gewinne, von denen ein Teil freigebig den Armen zu geben ist und ein weiterer Teil als Reichtum der standesgemäßen Versorgung des Hausstands zugeführt werden darf.22 Wenn die Arbeit des Kaufmanns in der Versorgung des Gemeinwesens mit anderswo bereits existierenden Waren besteht, dann zeigt sich, dass der Kaufmann Gegenstände weder produziert noch verarbeitet. Hier bezieht sich Mercado auf die eingangs zitierte Stelle bei Aristoteles. Der Kaufmann verkauft unverändert dieselben Waren, die er zuvor eingekauft hat, an einem anderen Ort oder zu einer anderen Zeit zu einem höheren Verkaufspreis.23 Azpilcueta recht19  T. de

Mercado: Suma de tratos y contratos, a. a.O. [Anm. 17] 72. Ebd. 46. 21  Vgl. ebd. 127 ff. 22  Vgl. ebd. 52 f. 23  Ebd. 51 f. 20 

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fertigt pauschal den Lohn des Kaufmanns, den er nicht wegen eines konkreten Tauschgeschäfts verdiene, sondern für die gesamte Arbeit, die im Hintergrund steht. Ebenso werde der Richter nicht für ein Urteil und der Priester nicht für eine Predigt entlohnt, sondern für die gesamte Tätigkeit.24 Festzuhalten ist, dass nicht die Kaufmannstätigkeit als solche verwerflich ist, dass aber nach Mercado in den meisten Fällen in der Praxis der Kaufmann Gott und das Jenseits vergisst, was dann zu einem zügellosen Leben führt.25 Wenn keiner der Kaufleute übervorteilt wird, dann sind die Verträge gerecht und naturrechtlich gerechtfertigt.26 Das Kaufmannswesen als solches ist also nach Mercado sinnvoll. Wenn Untugenden als Begleiterscheinungen auftreten, dann ist dies nicht zwangsläufig aus der Theorie abzuleiten.27 Welche Tugenden soll der Kaufmann haben und wie kann er Untugenden vermeiden? Mercado stattet den Kaufmann mit den Kardinaltugenden aus, die die Fürstenspiegel auch für den Herrscher vorsahen. Er soll sich durch Klugheit, Tapferkeit, Mäßigung und Gerechtigkeit auszeichnen. Bei Verletzung der Gerechtigkeit wird nach Thomas von Aquin der Kaufmann zum Betrüger und Wucherer, der Fürst zum Tyrannen.28 Auch bei Mercado ist für den Kaufmann die Gerechtigkeit zentral. Soll sie doch dafür sorgen, dass jeder das erhält, was ihm zukommt.29 Sie wirkt sich als justicia conmutativa auf alle Handelsverträge aus, sorgt für Ausgleich und verhindert Übervorteilungen.30 Weitere praktische Verhaltensregeln fügt er hinzu. So rät er dem Kaufmann zur Bescheidenheit, da die Zurschaustellung von Prunk und Reichtum Zweifel an seiner Redlichkeit aufkommen lassen könnte – ein Rat, den in ähnlicher Weise Max Weber im protestantischen Kontext gefunden hat. Des Weiteren sollen sich Kaufleute nach Mercado Schwören und zu vieles Reden abgewöhnen. Sie sollen hingegen freigebig Almosen geben, da diese als Korrektive gelten könnten, wenn das Gewinnstreben einmal übermäßige Erfolge hatte. Dass die Kaufmannstätigkeit in erster Linie eine diesseitige und praktische ist, soll dadurch ausgeglichen werden, dass Kaufleute ebenso eindringlich durch Lektüre frommer Bücher, durch den Messebesuch und durch einen guten Beichtvater für ihr Seelenheil sorgen.31 Geiz lässt sich also durch Freigebigkeit und eine übermäßig praxisorientierte Tätigkeit durch geistige Beschäftigung ausgleichen und so die Gesamtbilanz einer mittleren Position zuführen.

24  Vgl. M. de Azpilcueta: Comentario 25  Vgl. T. de 26 

resolutorio de cambios, a. a.O. [Anm. 16] 30–31. Mercado: Suma de tratos y contratos, a. a.O. [Anm. 17] 48.

Ebd. 36.

27  Vgl. ebd. 51. 28 Werner Goez: Das Ringen um den »gerechten Preis« in Spätmittelalter und Reforma­ tionszeit. In: Der »Gerechte Preis«. Beiträge zur Diskussion um das »pretium iustum«, hg. von Johannes Herrmann (Erlangen 1982) 26. 29  T. de Mercado: Suma de tratos y contratos, a. a.O. [Anm. 17] 34. 30  Vgl. ebd. 38. 31  Vgl. T. de Mercado: Suma de tratos y contratos, a. a.O. [Anm. 17] 87.

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Diese in der Ethik gewünschte mittlere Position ist es auch, die der Kaufmann durch Gegensteuern zu erstreben hat. So heißt es bei Aristoteles: »Der Mäßige hält in diesen Dingen die Mitte ein. An den Ausschweifungen, die den Unmäßigen zuhöchst erfreuen, erfreut er sich nicht, eher ekeln sie ihn; sodann erfreut er sich an unerlaubten Dingen überhaupt nicht und an erlaubten nicht übermäßig.«32 Dieses mittlere Maß wird nun beim Kaufmann an den Begriff der Gerechtigkeit geknüpft. Was das Gerechte bei einem Handel ist, das erscheint Mercado als zentrales Wissen für den Kaufmann. Beim Handel nicht zu wissen, »lo que es lo justo y que es su contrario, es no entender nada de él.«33 Und schließlich wird die Vorstellung von der Gerechtigkeit auch auf den Preis übertragen, der für eine Ware anzusetzen ist. Als erstrebenswert erscheint ein pretium iustum. Der pretium iustum bewegt sich zwischen einem Minimalpreis und einer preislichen Obergrenze, dem precio barato und dem precio riguroso. Den dazwischen liegenden mittleren Preis nennt Mercado precio moderado oder mediano. Azpilcueta bezeichnet ihn als precio justo und macht ihn abhängig von der Einschätzung durch kluge Leute, deren Kriterien er allerdings nicht angibt. Mercado dagegen macht den Nutzen einer Ware, also das, was man später den Gebrauchswert nennt, zu einem Kriterium für die Festlegung des Preises. In Amerika zum Beispiel waren Gold und Silber vergleichsweise billig, da sie dort weniger gebraucht wurden als Eisen und Leinen. An anderer Stelle plädiert Mercado insbesondere bei Grundnahrungsmitteln, Bekleidung und Unterkunft für eine vom Staat verordnete Festlegung des Preises. Derartige Festlegungen würden zwar die kaufmännische Initiative lähmen, aber auf der anderen Seite Willkür und Habgier der Kaufleute beschränken und damit der Moral dienen. Mercado fügt hinzu, dass staatliche Fixierungen der Preise dem Gemeinwohl und deren Fehlen dem gewinnsüchtigen Kaufmann dienen.34 Auch Azpilcueta plädiert in Einzelfällen für staatliche Intervention. Er schlägt vom Staat eingesetzte Geldverleiher vor, die sich an einen vorgegebenen Zinssatz zu halten haben. So würde dem Beruf des Geldverleihers der Makel des zügellosen Wucherns entzogen.35 Denn Wucher sieht Azpilcueta überall dort, wo der precio justo nicht eingehalten wird. Zwischen den Vertragsparteien soll Gleichheit herrschen, »igualdad entre lo que la una parte da o haze, y entre lo que la otra da o haze.«36 Azpilcueta unterscheidet beim Geld drei Funktionen: Es dient erstens als Maßeinheit für Waren, die gekauft oder verkauft werden. Zweitens kann Geld gegen anderes Geld gewechselt werden, z. B. großes Geld für Kleingeld oder ausländisches gegen einheimisches Geld. Wirtschaftlich weniger interessant ist das Geld, wenn es z. B. Pfand für Gläubiger, Mittel der Ostentation von Reich32  Aristoteles: Nikomachische

Ethik, a. a.O. [Anm. 3] 70. Mercado: Suma de tratos y contratos, a. a.O. [Anm. 17] 18. 34  Vgl. ebd. 63 ff. 35  Vgl. M. de Azpilcueta: Comentario resolutorio de cambios, a. a.O. [Anm. 16] 29–34. 36  Ebd. 41. 33  T. de

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Christoph Strosetzki

tum, wenn es Kleidungsschmuck oder Hilfsmittel bei der Zubereitung heilsamer Tinkturen ist. Bei Knappheit ist Geld mehr wert.37 So kann Geld am Anfang einer Verkaufsmesse im Wert sinken, wenn viele Kaufleute ihr Geld abgeben und wenige es ausgezahlt bekommen wollen. Wenn dann am Ende der Wert steigt, da alle nur ihr Geld haben möchten und keiner einzahlt, regelt dies für Azpilcueta das, was man heute den freien Markt nennen würde. Ob der gerechte Preis durch staatliche Festsetzung oder durch die freien Marktkräfte zu erzielen ist, wurde bereits im Mittelalter diskutiert. Schließlich hatte schon das 12. Jahrhundert einen Fernhandel, der bezüglich einiger Produkte von Schottland bis Hinterindien, von Portugal bis Mittelrussland und von Skandinavien bis Schwarzafrika reichte.38 Für Thomas von Aquin bildete sich der gerechte Preis aus dem Spiel von Angebot und Nachfrage ohne Manipulationen durch staatliche Eingriffe und durch Monopole.39 Dabei sei der gerechte Preis Schwankungen unterworfen, weil sich je nach Ort und Zeit auch die Preise ändern. Die entgegengesetzte Position übernehmen Nominalisten wie Johannes Gerson oder Gabriel Biel, die für eine Festsetzung des Preises durch die Obrigkeit plädieren. Freilich habe diese dabei den allgemeinen Bedarf, die Gesamtwarenmenge und den Warenmangel zu berücksichtigen.40 Wie der Markt funk­ tioniert, erklärt der Spanier Domingo Bañez: »Sucht die Ware nach dem Käufer, ist dies einer der Gründe dafür, daß die Preise sinken; suchen die Käufer nach Waren, so steigen die Preise.«41 Mercado und Azpilcueta konnten sich also ebenso an mittelalterlichen Autoren wie an Aristoteles orientieren. Dort allerdings, wo Aristoteles die verbreitete Moralverletzung durch die Kaufleute kritisiert, führen die Spanier die Lehre vom pretium iustum als Korrektiv ein und weisen theoretisch dem Kaufmannswesen eine sinnvolle Funktion im Gemeinwesen zu. Der Kaufmann hat das Gemeinwesen mit Waren zu versorgen, die sonst nicht vor Ort sind. Ebenso aber wie der Staat in der Praxis durch einen Tyrannen korrumpiert werden kann, der sein Eigeninteresse in den Mittelpunkt stellt, kann er durch einen gewinnsüchtigen und zügellosen Kaufmann Schaden nehmen. Daher sind für den Kaufmann die Kardinaltugenden ebenso wichtig wie für den Fürsten. Besondere Bedeutung hat die Gerechtigkeit, die, an den Preis geknüpft, den Kaufmann zur Mäßigung bewegen kann. Auch kann dem unbegrenzten Expandieren des Kaufmanns durch freigebige Almosen, durch Lektüre oder fromme Beschäftigung gegengesteuert werden. Bei der Festlegung des Preises werden schließlich als Möglichkeiten die Berücksichtigung des Nutzens, die Fixierung durch den Staat 37  Vgl.

ebd. 22–23; vgl. Alberto Ullastres Calvo: »Las ideas económicas de Martín de Azpilcueta«. In: Martín de Azpilcueta: Comentario resolutorio de cambios, hg. von dems. und Luciano Pereña (Madrid 1965) LXXXI–LXXXVI. 38  Werner Goez: Das Ringen um den »gerechten Preis«, a. a.O. [Anm. 28] 22. 39  Ebd. 24. 40  Ebd. 27. 41  Zit. nach ebd. 32.

Zum Kaufmann bei Aristoteles und im Spanien der Frühen Neuzeit

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und als dritte Möglichkeit das Spiel der Kräfte des freien Markts vorgeschlagen. Erstrebenswert ist ein pretium iustum, der Gleichheit, Gerechtigkeit und Tugend garantiert. Autoren wie Mercado und Azpilcueta verteidigen den Kaufmann gegenüber traditionell vorgebrachten Beschuldigungen, bekräftigen seine gesellschaftliche Bedeutung und moralische Dignität, wobei sie dem bereits im Mittelalter erörterten Begriff des pretium iustum eine zentrale Stellung zuweisen.

Plotins Schriften in zwölf Bänden Die Pionierleistung von Richard Harder, Rudolf Beutler und Willy Theiler, in den Jahren 1930–1937 die erste kommentierte deutsche Gesamtausgabe erarbeitet zu haben (seit 1956 mit griechischem Text), gilt nach wie vor als Standardwerk, insbesondere hinsichtlich der Zählung und Anordnung der 54 einzelnen Enneaden.

»Una edición revolucionaria« El Comercio

Die Schriften 1–54 der chronologischen Reihenfolge (Enneaden). Je sechs Text- und Anmerkungsbände sowie Anhang und Indices. Anhang: Porphyrios, Über Plotins Leben und über die Ordnung seiner Schriften, sowie Indices (verbunden mit einem Überblick über Plotins Philosophie und Lehrweise). Griechisch–deutsch Philosophische Bibliothek 211a–215c und 276 Zusammen 3.041 Seiten. 978-3-7873-1709-7 Leinen (auch einzeln erhältlich)

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