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German Pages 395 [396] Year 2023
Jan-Niklas Meier Erzählen im Pen-and-Paper-Rollenspiel
Narratologia
Contributions to Narrative Theory Edited by Fotis Jannidis, Matías Martínez, John Pier, Wolf Schmid (executive editor) Editorial Board Catherine Emmott, Monika Fludernik, José Ángel García Landa, Inke Gunia, Peter Hühn, Manfred Jahn, Markus Kuhn, Uri Margolin, Jan Christoph Meister, Ansgar Nünning, Marie-Laure Ryan, Jean-Marie Schaeffer, Michael Scheffel, Sabine Schlickers
Band 84
Jan-Niklas Meier
Erzählen im Pen-and-PaperRollenspiel Produktion – Rezeption – Didaktik
Zugl.: Bielefeld Univ., Diss. 2021
ISBN 978-3-11-078894-5 e-ISBN (PDF) 978-3-11-078898-3 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-078900-3 ISSN 1612-8427 Library of Congress Control Number: 2022950655 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2023 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Integra Software Services Pvt. Ltd. Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Vorwort Die vorliegende Studie ist eine leicht überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im Mai 2021 von der Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft der Universität Bielefeld angenommen wurde. Wenngleich das Schreiben auf den ersten Blick eine gar einsame und isolierende Tätigkeit sein mag und das Gefühl der Isoliertheit im finalen Schreibprozess durch eine globale Pandemie noch verstärkt wurde, so hätte ich diese Arbeit nicht ohne die Untersützung einiger Personen verfassen können, denen ich im Folgenden danken möchte. Meiner Erstbetreuerin Prof.’in Dr. Ulrike Preußer möchte ich von ganzen Herzen für die unnachgiebige Unterstützung danken: Liebe Ulrike, vielen Dank für die stetige Ermutigung und dein wertvolles Feedback, deine Diskussionsfreude, dein immer offenes Ohr und die Vermittlung der Einstellung, dass Fan-Sein und intensiver wissenschaftlicher Austausch Hand in Hand gehen können. Zum Dank bin ich auch meinem Zweitbetreuer Prof. Dr. Stephan Packard verpflichtet: Lieber Stephan, danke, dass du dein fachliches Wissen und deine (Rollenspiel-)Erfahrung mit mir geteilt und in den richtigen Momenten die richtigen Fragen gestellt hast. Danken möchte ich zudem den vielen lieben Kolleg/-innen, die mich bei meiner Dissertation oder auf dem Weg dorthin unterstützt und begleitet haben: Katja Bremer, Dr. Markus Engelns, Prof. Dr. Walter Erhart, Daniel Milne-Plückebaum, Leonard Moritz, Carolin Obermeier, Prof. Dr. Rolf Parr, Björn Redecker, ao. Prof. Dr. Evan Torner, Prof. Dr. Jan-Noël Thon, Katharina Scheerer, Sandra Siewert sowie den Teilnehmenden des literatur- und mediendidaktischen Kolloquiums an der Universität Bielefeld und des medienwissenschaftlichen Kolloquiums der Universität zu Köln. Danke für die intensiven Diskussionen, die hilfreichen Ratschläge und auch für die Momente, in denen man den Dissertationsstress einmal vergessen konnte. Ohne die Studierenden der Universität Bielefeld, die sich bereit erklärt haben, ihre Rollenspielsitzungen aufzeichnen zu lassen und sie mir als Datengrundlage zur Verfügung zu stellen, wäre diese Studie wohl eine ganz andere geworden. Ich danke allen Teilnehmenden herzlich für die Unterstützung, Offenheit und die Möglichkeit, neue und spannende Einblicke in verschiedene Rollenspielpraktiken zu erlangen. Für die reibungslose und unkomplizierte Betreuung in der finalen Phase der Publikation möchte ich vor allem Myrto Aspioti vom DeGruyter-Verlag danken sowie Gesa Steinbrink, die das Schlusslektorat übernommen hat. Zuletzt sind da noch die zahlreichen Personen, denen ich einfach nur dankbar dafür bin, dass sie da sind und waren, und die ich hier in Gänze gar nicht aufzählen kann. Danken möchte ich meinen Eltern Heide und Thomas, die mich stets unterstützt und an mich geglaubt haben, auch wenn es vielleicht nicht immer so klar war, was ich da eigentlich genau an der Uni mache. Auch Artur, https://doi.org/10.1515/9783110788983-202
VI
Vorwort
Daniel, Graf, Malte und Markus gilt mein Dank, ohne die ich wahrscheinlich gar nicht zu meinem Thema gefunden hätte. Für die stetige Ermutigung, den Rückhalt und die Unterstützung danke ich Jenni, die wesentlichen Anteil am Beginnen und Gelingen der Arbeit hatte.
Inhaltsverzeichnis Vorwort
V
1 1.1 1.2 1.3 1.4
Einleitung 1 Rollenspiele und Erzähltheorie Rollenspiele und Didaktik 7 Erzähltheorie und Didaktik 9 Zielsetzung, Methodik, Aufbau
12
2 2.1 2.2 2.3
Mindset, Gattung, Medium? 20 Das Rollenspiel als make-believe Das Rollenspiel als Spielgattung Das Pen-and-Paper-Rollenspiel
21 25 31
3 3.1 3.1.1
Ludische Prozessualität im Pen-and-Paper-Rollenspiel Spiele im Spiegel erzähltheoretischer Konzepte 36 Rollenspiele in den Spieldefinitionen der frühen Game Studies 36 Rollenspiel-Fantheorie 39 Erzähltheoretischer Zugang 42 Modellierung: Ludische Prozessualität und narrative Rezeptionsangebote 48 Konzepte der digitalen Ludonarratologie 49 Das Spielsystem 51 Setting und Szenario 60 Zusammenfassung 66
3.1.2 3.1.3 3.2 3.2.1 3.2.2 3.2.3 3.3 4 4.1 4.1.1 4.1.2 4.2 4.2.1 4.2.2 4.2.3 4.2.4 4.2.5
3
35
Erzählerische Kommunikation im Pen-and-Paper-Rollenspiel Eigenschaften kommunikativer Prozesse im Pen-and-Paper-Rollenspiel 73 Performativität 77 Improvisation und Inszenierung 85 Modellierung der Erzählkommunikation 87 Autor- und Rezipientenschaft 91 Narrative Instanzen 93 Konstruktion und Rezeption von storyworlds 100 Andere kommunikative frames und ihr Einfluss auf die Narration 103 Zusammenfassung 108
70
VIII
5 5.1 5.1.1 5.1.1.1 5.1.1.2 5.1.1.3 5.1.2 5.1.2.1 5.1.2.2 5.1.3 5.1.3.1 5.1.3.2 5.1.3.3 5.1.4 5.1.4.1 5.1.4.2 5.1.4.3 5.1.5 5.1.5.1 5.1.5.2 5.1.5.3 5.1.5.4 5.2 5.2.1 5.2.1.1 5.2.1.2 5.2.1.3 5.2.1.4 5.2.2 5.2.2.1 5.2.2.2 5.2.3
Inhaltsverzeichnis
Strategien und Parameter des Erzählens im Pen-and-Paper-Rollenspiel 111 Strategien des Erzähldiskurses 113 Erzählposition 114 Narrative Ebenenverhältnisse 115 Beteiligung der Erzählinstanz am Erzählten 117 Erzählposition verschiedener narrativer Instanzen 119 Erzählperspektive 122 Formen der Perspektivierung 124 Erzählperspektive der Spielleitenden-Erzählinstanz 130 Wissensvermittlung und Informationsvergabe 135 Informationslenkung durch Spielleitende 137 Informationsdestabilisierung und -begrenzung 140 Affektsteuerung durch die Wissens- und Informationsvergabe 150 Präsentation von Rede und mentalen Prozessen 155 Stimmliche Präsenz der zitierten Figurenrede 156 Formen der figuralen Gedankenrede 162 Formen der narratorialen Rede 164 Zeitgestaltung 166 Zeitpunkt des Erzählens 166 Ordnung 167 Dauer 171 Frequenz 175 Parameter des Erzählinhalts 176 Elemente der Handlung 177 Narrative Ereignisse 177 Geschehen und Geschichte 185 Handlungslogik 189 Serialität 192 Semantische Ordnung und thematische Struktur 193 Analyse semantischer Ordnungen in Rollenspiel-Regelwerken 196 Semantische Ordnungen als Settingelemente 201 Figuren 204
Inhaltsverzeichnis
5.2.3.1 5.2.3.2 5.2.3.3 5.2.4 5.2.4.1 5.2.4.2 5.3 6 6.1 6.1.1 6.1.2 6.1.3 6.2 6.2.1 6.2.2 6.3 7 7.1 7.2 7.3 7.4 7.5 7.6 8 8.1 8.2 8.3
Spielfunktionale Elemente der Figurenentwicklung Das Figurenbewusstsein als Indikator für Narrativität Figurenkonstitution im Spielprozess 213 Raum 216 Narrativer und ludischer Ereignisraum 216 Semantisierung des Raumes 221 Zusammenfassung 222
206 208
Literar-ästhetisches Verstehen im Rollenspielprozess 226 Ästhetische Illusion und die Konstruktion einer intersubjektiven storyworld 234 Konsistenzbildung als illusionsstiftende Strategie 241 Reichhaltigkeit als illusionsstiftende Strategie 247 Transtextuelle Referenzen als illusionsstiftende Strategien 251 Narrative und figurale Immersion 263 Emotionale Involviertheit als illusionsstiftende Strategie 266 Perspektivität als illusionsstiftende Strategie 271 Zusammenfassung 277 Pen-and-Paper-Rollenspiele und literarisches Lernen 282 Grundaspekt Erzählen 288 Teilbereich 1: Umgang mit Fiktionalität 298 Teilbereich 2: Aufdecken von Wissenskorrespondenzen und -differenzen 304 Teilbereich 3: Auseinandersetzung mit populärer Kultur 307 Teilbereich 4: Empathie und Perspektivübernahme 312 Zusammenfassung 319
8.3.1 8.3.2
Rollenspiele im Literaturunterricht 322 Dramenpädagogik und szenische Interpretation 325 Computerspieldidaktik 330 Skizzierung eines methodischen Konzeptes: Pen-and-Paper-Rollenspiele im Literaturunterricht 335 Die literarische Pen-and-Paper-Rollenspieladaption 337 Game-based learning mit Pen-and-Paper-Rollenspielen 340
9
Fazit
344
IX
X
Inhaltsverzeichnis
Literaturverzeichnis
353
Transkriptionssymbole Personenregister
375
Spielregister
379
Sachregister
381
373
1 Einleitung Neues zu erleben und zu erfahren und der Wunsch, unterhalten zu werden, stellen zentrale anthropologische Grundbedürfnisse dar, die zugleich Motor für die menschliche Entwicklung sind. Es ist auffällig, dass Menschen diese Bedürfnisse auch dann befriedigen können, wenn sie sich in Situationen befinden, in denen andere über ihre Erlebnisse berichten. Noch auffälliger scheint es, dass Zeit, Energie und Emotionen für diese Kommunikationssituationen aufgebracht werden, wohl wissend, dass die dargestellten Erlebnisse von anderen Menschen erfunden wurden. Wenngleich es auf den ersten Blick naheliegend erscheint, sich Aktivitäten zu widmen, die größeren Einfluss auf das eigene Leben haben, sehen Menschen dennoch gute Gründe, sich mit derartigen imaginierten Erlebnissen auseinanderzusetzen. Es bieten sich Potenziale, diese Erlebnisse als Erfahrungen kognitiv und emotional zu verarbeiten, ein Sinnbedürfnis zu befriedigen, „das auch den Umgang mit der Vergänglichkeit und der Angst vor einer kontingent erscheinenden Wirklichkeit einschließt“ (Wolf 2002, 32), und Möglichkeiten für das simulierende Imaginieren und Probehandeln zu eröffnen. Als zentrale Form der kommunikativen Vermittlung von Erlebnissen und Erfahrungen hat sich das Erzählen herausgebildet, dessen wahrscheinlichster Ursprung im Mündlichen liegt (vgl. Wolf 2002, 36). Mündliches Erzählen lässt sich als stimmlich-somatische, im „Hier-und-Jetzt“ (Olhus 2017, 76) realisierte kommunikative Gattung verstehen, als Bündel verschiedener diskursiver Praktiken, durch die „in Interaktion mit einem oder mehreren Zuhörern vergangene oder fiktive Ereignisse/ Vorgänge“ (Olhus 2017, 76) versprachlicht werden. Die Sprachwissenschaft betrachtet diese narrativen Praktiken vor allem im Kontext alltagssprachlicher Situationen, dies sowohl in privaten (Familie, Freundeskreis) als auch in institutionellen Settings (Arbeit, Therapie, Unterricht, Behörden usw.). Aus literatur- und medienwissenschaftlicher Perspektive lässt sich das mündliche Erzählen vor allem in Gestalt spezifischer künstlerisch-darstellender Erzählereignisse betrachten, wie beispielsweise der Epenerzählung oder auch dem folkloristischen oral storytelling (vgl. Fludernik 2002 [1996], 43). Solche Erzählgattungen lassen sich vor allem in primär oralen Kulturen finden und dienen nicht nur der Unterhaltung, sondern auch der Wissensspeicherung (vgl. Ong 2016 [1987], 132). In der gegenwärtigen westlichen Kultur, in der Schrift und aufgezeichnetes Bewegtbild zentrale Aufgaben jener Erzählereignisse übernommen haben, gewinnt vor allem ihr Status als künstlerische Darstellung an Bedeutung. In neuerer Zeit lässt sich eine Weiterentwicklung derartiger Erzählgattungen im Bereich der Gesellschaftsspiele ausmachen: Hier ist es das Pen-andPaper-Rollenspiel, das das mündliche Erzählen mit dem regelbasierten Spiel in eine produktive Verbindung bringt. https://doi.org/10.1515/9783110788983-001
2
1 Einleitung
Verkürzt lassen sich Pen-and-Paper- oder Tabletop-Rollenspiele (engl.: tabletop role-playing game, kurz TRPG)1 als Spielform definieren, in der die Beteiligten die Rolle von Figuren übernehmen und ihr Handeln mittels mündlicher Kommunikation darstellen und ausspielen. Einer oder eine der Beteiligten übernimmt zumeist die Rolle des Spielleiters/der Spielleiterin und beschreibt verschiedene Situationen, in denen die Figuren interagieren können (vgl. Grouling Cover 2010, 168). Spielleitende regeln darüber hinaus die Anwendung eines Spielsystems während des Spielprozesses, das herangezogen wird, um den Ausgang einzelner Interaktionen zu bestimmen (vgl. Bowman 2010, 11). Die Kombination aus dem Ausspielen der Figur und der Situationsbeschreibung ermöglicht es den Teilnehmenden, je nach Rezeptions- und Spielpräferenz das dargestellte Geschehen als Erzählung wahrzunehmen. Damit lässt sich das Pen-and-Paper-Rollenspiel unter anderem als „collaborative storytelling game“ (Bienia 2016, 153) begreifen, das aufgrund seiner Strukturierung verschiedene Beziehungen zu anderen Erzählformen und -medien herstellt. Wenngleich einige Versuche existieren, das Erzählen in Pen-and-Paper-Rollenspielen näher zu beschreiben und zu kategorisieren (vgl. Grouling Cover 2010; Mackay 2001; Schmidt 2012), findet sich noch kein konsistentes narratologisches Modell, das die erzählerische Kommunikation sowie zentrale narrative Praktiken systematisiert. Kollaboratives Erzählen im Speziellen, aber auch mündliches Erzählen im Allgemeinen wollen jedoch gelernt sein. Die Erzählerwerbsforschung geht davon aus, dass sich die Erzählkompetenz als Teilbereich einer allgemeinen sprachlichen Kompetenz (vgl. Becker 2017, 336) im frühkindlichen Alter ausbildet. Gerade die Entwicklung von Phantasiegeschichten ist dabei eng an andere Formen der Fiktionalisierung gebunden, beispielsweise das Kinderspiel, in dem reale Handlungsmuster imaginativ stereotypisiert und generalisiert werden (vgl. Becker 2017, 340). In der medialen Sozialisation wird der Erzählerwerb zudem durch angeeignete narrative Repertoires gesteuert (vgl. Dehn et al. 2014), die durch die verschiedenen Erfahrungen, die die Menschen mit unterschiedlichen fiktional-narrativen Darstellungen machen, erlangt werden. Die Erzählkompetenz, die die Fähigkeit des eigenen (sprachlichen) Erzählens umfasst, ist nicht das Einzige, was Menschen für den kompetenten Umgang mit Erzählungen benötigen. Genauso entscheidend ist es, Erzählungen unter verschiedenen Bedingungen und Voraussetzungen zu verstehen. Verstehen bedeutet dabei nicht nur das grammatikalische Decodieren von Zeichen, sondern kann in verschiedenen Situationen, in denen wir mit narrativen Darstellungen in Berührung kommen, auch als selbstreflexive und sinndeutende Tätigkeit beschrieben werden –
In Deutschland haben sich zudem Begriffe wie Fantasy-Rollenspiel oder Tischrollenspiel herausgebildet (vgl. u. a. Flöter 2018, 14; Pappe, 2011, 7; Walter 2014, 186).
1.1 Rollenspiele und Erzähltheorie
3
eine Position, die gerade von literaturwissenschaftlichen und -didaktischen Ansätzen vertreten wird. Das Erzählen erscheint hier als künstlerisch-ästhetischer Akt, der in seiner Rezeption immer Räume zum individuellen Imaginieren, Interpretieren und Bewerten bereithält. Diese Räume zu nutzen, erfordert in gleicher Weise wie das Erzählen selbst gewisse Kompetenzen, die im Umgang mit künstlerischdarstellenden Erzählungen, aber auch anderen künstlerischen Formen erworben werden. Dass die Erzählung in der Förderung dessen, was die Literaturdidaktik summierend als literarische Kompetenz bezeichnet, eine besonders Stellung einnimmt, zeigen neuere literaturdidaktische Ansätze, die sie als zentrale Größe in Modellen literarischen Lernens verorten (vgl. u. a. Boelmann und König 2021, 16). Die literarische Erzählung gilt hier als Ausgangspunkt, um verschiedene Teilbereiche literarischen Verstehens zu fördern, sei es die Perspektiven literarischer Figuren nachzuvollziehen, die (sprachlich-)ästhetischen Gestaltungsformen zu erkennen, die Fiktionskompetenz auszubilden oder die eigene Vorstellungsbildung zu fördern. In einer narratologischen Betrachtung gemeinsamer Erzählereignisse, wie sie das Pen-and-Paper-Rollenspiel bereithalten kann, können derartige Verstehensprozesse offenlegt werden, was vor allem im komplexen Wechselspiel aus narrativer Rezeption und Produktion begründet liegt. Aufgrund dieses Wechselspiels ist es nicht ausreichend, lediglich äußere Eigenschaften der Kommunikation sowie die narrativen Praktiken zu systematisieren, die im Spielprozess des Pen-and-PaperRollenspiels auftreten, sondern auch die Verstehensoperationen auf den Grund zu gehen, die die Teilnehmenden des Spiels externalisieren. Hieraus ergibt sich zugleich ein Ansatzpunkt für eine literaturdidaktische Konzeptualisierung des Penand-Paper-Rollenspiels, der das Erzählen als zentralen Aspekt des literarischen Lernens auffasst. Das Untersuchungsfeld bietet somit eine produktive Verknüpfung zwischen Narratologie und Literaturdidaktik, der im Rahmen des vorliegenden Bandes nachgegangen werden soll.
1.1 Rollenspiele und Erzähltheorie Als Form des Gesellschaftsspiels lässt sich das Pen-and-Paper-Rollenspiel als analoges Spiel klassifizieren, ein Begriff, der im interdisziplinären Feld der Game Studies in Abgrenzung zum digitalen Spiel entwickelt wurde. Analogen Spielen, zu denen auch Brett- und Kartenspiele gezählt werden können (vgl. Booth 2021, 4), ist gemein, dass sie zum einen erst durch die Aktivität von Menschen zustande kommen, die als „computational platform“ (Torner 2021) für die Verarbeitung und Realisierung verschiedener Spielhandlungen fungieren. Zum anderen werden zur Durchführung des Spiels physisch präsente Materialien benötigt, um zentrale Darstellungs- und Spielzustände abzubilden (vgl. Torner 2021).
4
1 Einleitung
Das Pen-and-Paper-Rollenspiel, das Anfang der 1970er Jahre zuerst in spezifischen Fan- und Subkulturen Anklang fand, stellt kein isoliertes, neuartiges Spielkonzept dar; es entstand vielmehr aus der Modifikation und Erweiterung etablierter Spielformen, die gleichzeitig an andere mediale Gattungen und Genres anbindbar waren (vgl. Deterding und Zagal 2018a, 29). Die umfangreiche Forschung, die bereits zur Geschichte des Themenfeldes erfolgt ist (vgl. Appelcline 2014a [2013]; 2014b [2013]; 2014c [2013]; 2014d [2013]; Hillenbrand und Lischka 2014; Mona 2007; Peterson 2012; Peterson 2018), verortet das Pen-and-Paper-Rollenspiel als Abkömmling der historischen Kriegssimulation (Wargame) mit thematischen Anleihen aus der ab Ende der 1960er Jahre populären Fantasyliteratur. Das Spielsystem Dungeons & Dragons (Gygax und Arneson 1974) wird hierbei als Prototyp des Pen-and-PaperRollenspiels angesehen (vgl. White et al. 2018, 64), wenngleich zur selben Zeit weitere Experimente zwischen den Formen des Spiels und der Fantasyliteratur existierten (vgl. Peterson 2018, 60–61). Der Ablauf der frühen Pen-and-Paper-Rollenspiele orientiert sich stark am taktik- und konfliktgeprägten Ablauf der Wargames, der sich insbesondere durch ein umfassendes Kampfregelsystem auszeichnet. Zentrales Ziel ist die Erkundung unterirdischer Räumlichkeiten (dungeons), in denen Spielende zwar kollaborativ agieren, jedoch zumeist kämpferisch gegen die in den Räumen auftauchenden Gegner vorgehen müssen (vgl. Appelcline 2014b [2013], 347–348). Mit den ab Mitte der 1970er Jahre immer zahlreicher publizierten Regelbüchern und Ergänzungsbänden wird dieser zunächst sehr zentrierte Blick zunehmend erweitert. Spiele wie Empire of the Petal Throne (Barker 2000 [1987], Erstausgabe: 1975) oder Chivalry & Sorcery (Simbalist und Backhaus 2000, Erstausgabe: 1977) entwickeln komplexe fiktive Welten, in denen sich die Spielfiguren bewegen können. Hieran knüpfen ab den 1980er Jahren zahlreiche populäre Medienfranchises mit Titeln wie Marvel Super Heroes (Grubb 1986), The Doctor Who Role Playing Game (Wheeler et al. 1985) oder Ghostbusters (Petersen et al. 1986) an und werben damit, dass Fans mit dem Rollenspiel ihre eigenen Erzählungen in der transmedialen storyworld des Franchises erleben können. So titelt das 1987 von West End Games publizierte Star Wars – The Roleplaying Game: In this game you and other players take the part of characters in the Star Wars universe; you decide how your characters act. A „gamemaster“ describes what you see, establishes the plot, and acts as referee. Together, you create your own Star Wars saga as you play. (Costikyan 1987, Klappentext)
Ausgehend von dieser Entwicklung manifestieren sich verstärkt ab den 1990er Jahren Spielstile innerhalb der Rollenspiel-Fankultur, die weniger am (konflikt-) simulierenden Aspekt des Pen-and-Paper-Rollenspiels, sondern mehr daran interessiert sind, die Spielhandlung erzählerisch auszugestalten. Diese Entwicklung
1.1 Rollenspiele und Erzähltheorie
5
unterstützen ebenfalls verschiedene Rollenspielpublikationen, die einen derartigen Spielstil fördern (vgl. Bowman 2010, 108), so zum Beispiel die Subform der storygames (vgl. Costikyan 2011, 190; Appelcline 2014a [2013], 408), die sich ab der Jahrtausendwende etablieren. Storygames legen ihren Fokus auf ein narrativ orientiertes Spiel und eine schnelle Erlernbarkeit, da sie zumeist nur mit einer geringen Zahl an Spielregeln auskommen (vgl. Appelcline 2014a [2013], 407). Die 1980er Jahre lassen sich als Hochzeit des Pen-and-Paper-Rollenspiel beschreiben (vgl. Appelcline 2014a [2013], 351), in denen die Spielform auch Einfluss auf andere populärkulturelle Formate, insbesondere auf die Entwicklung digitaler Spiele, ausübt.2 Ab Ende der 1990er ist es unter anderem wiederum der sich rasch entwickelnde Videospielmarkt (vgl. Hillenbrand und Lischka 2014, 27), der diesen Erfolg entscheidend bremst. Ungeachtet dessen existiert bis heute eine internationale Fankultur, die nicht nur auf die Rollenspiele der marktführenden Spieleverlage zurückgreift,3 sondern aufgrund neuer digitaler Publikationsformate auch eine eng vernetzte Independent-Szene unter sich versammelt (vgl. Appelcline 2014a [2013], 410). Aus narratologischer Perspektive stellt die Beschäftigung mit Formen des Spiels eine Herausforderung dar. Gerade Medien wie das Computerspiel, in dem Erzählen und Spielen Hand in Hand gehen, stehen einer klassischen Konzeptionen
1975 – unmittelbar nach der Veröffentlichung von Dungeons & Dragons – entstanden erste Bestrebungen, das Spiel auf einem Computer zu implementieren. In der unbenannten Adaption, die auf dem PLATO-System spielbar ist, erkunden Spielende mit ihrem Avatar unbekannte Räumlichkeiten und treffen immer wieder auf Gegner, die stark an die Monster aus Dungeons & Dragons angelehnt sind. Ziel ist es, durch das Besiegen dieser Gegner 20.000 Erfahrungspunkte anzusammeln (vgl. Schules et al. 2018, 115). Weitere Adaptionsversuche erschienen mit DND und Don Daglow’s Dungeon noch im selben Jahr (vgl. Wolf 2012, 140). Auch das Computerspiel Adventure, das Mitte der 1970er Jahre publiziert wurde, steht in einer Entwicklungslinie mit den analogen Penand-Paper-Rollenspielen (vgl. Aarseth 1997, 98–99). Adventure steht hierbei für die Ausbildung eines spezifischen Genres und ist an einem eher narrativen Entwicklungspol der Computerspiele angesiedelt (vgl. Salter 2014, 19). Der Einfluss der Pen-and-Paper-Rollenspiele ist nicht nur an der Gestaltung des virtuellen Raums erkennbar, sondern auch an speziellen Spielmechaniken, wie zum Beispiel der Charaktergenerierung und Konfliktstrukturierung (vgl. Grouling Cover 2010, 41). Das Genre des Adventurespiels, das sich im Rahmen dieser Adaptionsversuche herausbildete, markiert gleichzeitig den Anfang der Entwicklung der Spielgattung Rollenspiel, unter der sich sowohl digitale als auch analoge Spielformen versammeln (vgl. Kap. 2.2). Das Spiel Dungeons & Dragons ist bereits seit den 1970er Jahren Marktführer (vgl. Appelcline 2014b, 348), in verschiedene Sprachen übersetzt worden und mittlerweile in fünfter Edition beim Verlag Wizards of the Coast erschienen. Entgegen dem auch internationalen Erfolg von Dungeons & Dragons hat sich in Deutschland das Spiel Das Schwarze Auge (Kiesow und Kramer 1984) etabliert, das als bewusstes Konkurrenzprodukt im Jahr 1984 entwickelt wurde und bis heute hierzulande Marktführer ist.
6
1 Einleitung
von Narrativität, die von einer im Vorhinein festgelegten Struktur narrativer Ereignisse ausgeht, entgegen (vgl. Engelns 2014, 37–38). Aus diesem Grund werden gerade narratologische Ansätze, die sich eng an einer schriftlich-literarischen Erzähltheorie orientieren, im sich um die Jahrtausendwende herausbildenden interdisziplinären Feld der Game Studies mehrheitlich abgelehnt. Neuere erzähltheoretische Konzeptionen zum Erzählen in Computerspielen (vgl. u. a. Backe 2008; Domsch 2013; Engelns 2014; Thon 2015) berücksichtigen den Einfluss der Spielenden auf die Erzählung insofern, als sie nicht nur die narrative Anlage des Spiels, sondern auch die Anforderungen seiner Rezeption einbeziehen. Im Fokus der narratologischen Diskurse im Bereich der Game Studies stehen vor allem digitale Spiele. Dies wird unter anderem durch die neuen und immer komplexeren Formen des Erzählens im Computerspiel begünstigt, die sich im Rahmen des technologischen Fortschritts entwickeln. Die Analyse anderer Spielformen firmiert als Randphänomen, das auch in den Beiträgen anderer Disziplinen der Game Studies nur begrenzt berücksichtigt wird (vgl. Booth 2021, 6–7; Woods 2012, 5). Für eine Betrachtung der narrativen Praktiken im Pen-and-Paper-Rollenspiel bedeutet dies, dass ein gänzlich neuer narratologischer Zugang entwickelt werden muss, der dessen kommunikativen und ludischen Elementen gerecht wird. Hierfür lassen sich einerseits die Theorien der digitalen Ludonarratologie fruchtbar machen, andererseits müssen auch die medialen und (erzähl-)kommunikativen Unterschiede analoger und digitaler Spiele berücksichtigt werden. Aus diesem Grund ist es notwendig, auch sprach- und performanzbasierte Theorien des Erzählens für die eigene Modellbildung heranzuziehen. In diesem Kontext weniger auf linguistische Erzähltheorien als auf fiktionaldarstellende, an Mündlichkeit orientierte Narratologien (Theater, Erzählperformances usw.) zurückzugreifen, lässt sich auch durch eine weitere Ausdrucksform begründen, die Einfluss auf die Entwicklung des Pen-and-Paper-Rollenspiels hatte (vgl. Mackay 2001, 64). Dies wird insbesondere durch den englischsprachigen Begriff role-playing game verdeutlicht: Er enthält neben dem Begriff game einen Bezug zum regelbasierten Spiel und gleichzeitig durch play einen Verweis auf eine Art der imaginativen Verortung, die auch in anderen kulturellen Kontexten Anwendung findet.4 Ausgangspunkt derartiger imaginativer Rollenspiele bildet das Kinderspiel, in dem sowohl fiktive als auch soziale Rollen stereotypisierend und generalisierend übernommen und erprobt werden. Kinderspiele lassen sich
Wenngleich fiktionale Erzählungen immer eine imaginative Verortung verlangen (vgl. Ryan 1991, 22), indem die Rezipierenden die dargestellten fiktiven Ereignisse nicht primär unter Wahrheitsbedingungen bewerten, gibt es einen Unterschied zwischen dieser Art des Imaginierens und einem imaginativen Verkörpern (vgl. Ryan 1980, 409), wie sie im imaginativen Rollenspiel gefordert wird (vgl. Kap. 2.1).
1.2 Rollenspiele und Didaktik
7
in ähnlicher Weise wie Rituale als kulturübergreifende Praktiken charakterisieren, in denen mit Blick auf die imaginative Verortung eine Form von Rollenspiel praktiziert wird (vgl. Bowman 2010, 74). Als künstlerische Ausdrucksform findet das imaginative Rollenspiel vor allem im Theater seine Anwendung. Hier lässt es sich als Technik begreifen, die die Schauspielenden nutzen, um sich imaginativ in ihre Rolle zu versetzen. Im Zuge seiner theatralen Anwendung findet das Rollenspiel Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts Eingang in pädagogische Kontexte.
1.2 Rollenspiele und Didaktik In allgemeindidaktischer Perspektive werden Rollenspiele gezielt dazu genutzt, die sozialen und kognitiven Kompetenzen der Teilnehmenden zu fördern. Dies betrifft einerseits die Möglichkeit, sich in das Handeln, Denken und Empfinden anderer Personen einzufühlen (vgl. Günther 2019, 2) und dies in einem gesicherten Raum zu erproben. Hieraus erwachsen andererseits Potenziale, die Konfliktbewältigung, die Auseinandersetzung mit Ängsten, die Kommunikationskompetenz sowie die Kreativität und Spontaneität zu fördern. Die Literaturdidaktik erweitert diese allgemeinen Kompetenzbereiche um spezifische Fähigkeiten, die sich aus der imaginativspielenden Auseinandersetzung mit einem literarischen Text ergeben. So begreift Kaspar H. Spinner das szenische Rollenspiel als Ausprägung der imaginativen Perspektivübernahme: Szenisches Spielen heißt, sich in der Imagination in eine Figur zu verwandeln: Man experimentiert damit, ein anderer zu sein. Aber man spielt im anderen immer auch sich selbst. Die Grenzen zwischen Ich und anderem werden durchlässig; das Spielen wird so zu einem Erprobungsfeld für Perspektivenübernahme und für das Ausloten der eigenen Identität. Man versucht sich in Rollen, geht dem Wunsch nach, die Beschränkung auf das eigene Ich mit den inneren und äußeren Zwängen zu überwinden, und spiegelt sich selbst in imaginierten Figuren. (Spinner 2001, 5)
Zugleich bedeutet szenisches Spiel, auch Distanz zu sich selbst einzunehmen, gerade wenn Rollen verkörpert werden, die nicht dem eigenen Selbstbild entsprechen. Es entstehen dabei Möglichkeiten, über die dargestellten Handlungen und Gefühle zu reflektieren, deren Annahme im gesicherten Rahmen des Probehandels weniger belastend wirken kann (vgl. Spinner 2001, 5). Das Rollenspiel stellt zudem einen Ort dar, an dem ästhetische Erfahrungen verhandelt und ins Spiel gebracht werden können (vgl. Abraham 2008b, 94). Indem diese nicht nur mental vollzogen, sondern auch sprachlich und körperlich dargestellt werden, lässt es sich als handlungs- und produktionsorientierter Ansatz im Literaturunterricht begreifen (vgl. Spinner 2010a, 311). Derartige Ansätze gehen von der rezeptionsästhetischen Prämisse aus, dass auch das produktionsorientierte Handeln das Verstehen literari-
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1 Einleitung
scher Texte fördert, indem Leer- und Unbestimmtheitsstellen, die der Text bietet, imaginativ und interpretativ gefüllt werden können (vgl. Spinner 2010a, 312). Aufgrund dieser Potenziale für das literarische Lernen finden sich die Methoden des szenischen oder literarischen Rollenspiels auch in den Bildungsstandards aller Schulformen im Fach Deutsch wieder. Hier steht die Umsetzung literarischer Vorlagen im Mittelpunkt, die das Rollenspiel hauptsächlich im Kompetenzbereich Sprechen und Zuhören verorten (vgl. Geneuss 2019, 51). Die imaginative Form des Rollenspiels wird im Pen-and-Paper-Rollenspiel ermöglicht, indem die Rolle einer fiktiven Figur übernommen wird, die im Spielprozess durch zumeist sprachliche Kommunikationshandlungen ausgespielt werden muss. Aus historischer Perspektive ist das Pen-and-Paper-Rollenspiel auch an andere theatrale Fanpraktiken anbindbar, so zum Beispiel das Mittelalter-Reenactment, in dem Figuren innerhalb eines auf historischen Grundlagen beruhenden Settings verkörpert werden (vgl. Bowman 2010, 44). Die weitreichenden didaktischen Potenziale, die das Spiel bietet, wurden bislang nur oberflächlich beleuchtet und vor allem innerhalb eines erfahrungsbasierten Lernens identifiziert (vgl. Hammer et al. 2018b, 290), das sich aus der problemorientierten Struktur des Rollenspiels ergibt. Die Präsentation spielinterner Konflikte und Probleme, die die Spielenden lösen müssen, kann dabei zur Steigerung intrinsischer Motivation führen (vgl. Hammer et al. 2018b, 285) und spricht Bereiche der Problemlösekompetenz (vgl. Bowman 2010, 82), des Probehandelns (vgl. Schmidt 2012, 356) sowie der Kreativitätsförderung (vgl. Schmidt 2012, 360) an. Zudem fördert der Austausch der Teilnehmenden soziale und kommunikative Kompetenzen (vgl. Schmidt 2012, 359). Gerade weil das Pen-and-Paper-Rollenspiel sich durch seine Kommunikationssituation eher dem theatralen und literarischen Rollenspiel annähert, erweist sich ein derartiger Blick auf die allgemeindidaktischen Potenziale als nicht ausreichend, wenn man die literar-ästhetischen Erfahrungen, die das Spiel bietet, für eine literaturdidaktische Konzeption nutzbar machen möchte. Obwohl im Penand-Paper-Rollenspiel nie direkt literarische Vorlagen nachgespielt werden, scheinen die imaginativ-involvierenden und immersiven Rezeptionsmodi, die Erzählung und Figurenübernahme im Spielprozess eröffnen, Formen (literar-) ästhetischer Verstehensprozesse anzubieten. Dies deuten speziell verschiedene kunstpädagogische Ansätze an, die bereits zum Pen-and-Paper-Rollenspiel erschienen sind. So begreift Gero Pappe (2011, 13) das Pen-and-Paper-Rollenspiel als ein Format, das es erlaubt, „bereits vorhandene kulturelle Elemente als Ausgangspunkt einer ästhetischen Produktion zu verwenden“. Laura Flöter (2018, 114–115), die eine ausführliche Studie zum Verhältnis zwischen Spielenden und deren Figuren im Rollenspiel vorlegt, sieht das ästhetische Potenzial aufgrund der immersiven Angebote, die die Rezeption mit sich bringt. Gerade die Gestaltung und das Ausspielen
1.3 Erzähltheorie und Didaktik
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der Figur eröffne nach Flöter (2017, 191) hierbei eine Möglichkeit zur „ästhetisch überformten Identitätsarbeit“. Dass das Pen-and-Paper-Rollenspiel ästhetische Erfahrungsprozesse in Gang setzen kann, bestätigen auch die Forschungsbeiträge innerhalb der Game Studies. Daniel Mackay (2001, 129) betrachtet die Auseinandersetzung mit der fiktiven Welt, in der sich die gespielten Figuren bewegen, als zentrales Moment des Rollenspielprozesses, der ein ästhetisches Erfahren bereithält. Sarah Lynne Bowman (2018, 387) versteht darüber hinaus das Verhältnis zwischen Spieler/-in und Figur als ästhetische Dopplung, die durch die enge Beziehung während des Spiels erzeugt wird. Folgt man der Auffassung Spinners (2010b, 95), dass es im Literaturunterricht nicht nur um das Aneignen von Wissen und Fähigkeiten geht, sondern zugleich den Schüler/-innen die Möglichkeit geboten werden soll, ästhetische Erfahrungen zu machen, lässt sich begründen, warum sich gerade das Pen-and-Paper-Rollenspiel für literaturdidaktische Zugriffe eignet. Hier treten imaginative Formen des Rollenspiels mit den verschiedenen Ausprägungen des Erzählens zusammen und eröffnen einen weiten Möglichkeitsspielraum literarischer Lernpotenziale, der sich von einer involvierenden Rezeptionserfahrung bis hin zu strukturellen Aspekten der Produktion von Erzählungen erstreckt. Ausgangspunkt all dieser Potenziale ist die Erzählung selbst, die im Spielprozess von den Teilnehmenden konstruiert wird. Sie enthält gleichermaßen involvierende Angebote wie Momente der Irritation, die vor allem durch die unkonventionelle Ausprägung der erzählerischen Kommunikation geschaffen werden. Dass sich sowohl Immersion als auch Irritation förderlich auf das literar-ästhetische Erfahren auswirken, wird seitens der Literaturdidaktik immer wieder betont (vgl. Winkler 2015, 158–159; Spinner 2010b, 95; Abraham 2008a [2005], 15–16). Es gilt im Folgenden, diese Möglichkeiten herauszuarbeiten und mit den bereits etablierten Modellen und Begrifflichkeiten der literaturdidaktischen Forschung in Beziehung zu setzen.
1.3 Erzähltheorie und Didaktik Da das Erzählen als zentraler Ursprung literaturdidaktischer Potenziale des Penand-Paper-Rollenspiels angesehen wird, erscheint es sinnvoll, das Verhältnis von Erzähltheorie und Literaturdidaktik genauer zu bestimmen. Wenngleich die Erzählung einen bedeutenden Platz in der Literaturdidaktik einnimmt, wurde der Begriff bisher wenig operationalisiert; eine Ausnahme bildet lediglich die Nutzbarmachung narratologisch-analytischer Fachbegriffe (vgl. u. a. Leubner und Saupe 2017). Eine stärkere Operationalisierung ist vor allem in Bezug auf die Rezeption von narrativen Darstellungen erforderlich, um so an die zumeist aus
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Rezeptionsperspektive entwickelten Modelle literarischen Lernens anzuknüpfen. Dieser eher theoretische Ansatz, der zwischen Fachdidaktik und narratologischer Theorie zu verorten ist, erweist sich als hilfreich, um spezielle Verarbeitungsprozesse offenzulegen, die in der Rezeption von Erzählungen eintreten. Auch wenn derzeit viele literaturdidaktische Forschungsarbeiten auf die empirische Überprüfung der Modelle literarischer Lernprozesse ausgerichtet sind, ist ein Blick auf diese Verarbeitungsprozesse insbesondere für die theoretische Absicherung der grundlegenden Modellbildung relevant. Ab Mitte der 1980er Jahre finden sich in der Erzähltheorie verstärkt Ansätze, die das Erzählen aus rezeptions- und kognitionstheoretischer Perspektive betrachten. Im Zentrum steht hier die Forderung, nicht nur zu eruieren, wie Geschichten erzählt werden, sondern auch, wie Geschichten gehört oder gelesen werden (vgl. Eder 2008b, 281). Eine derartige Analyse sollte nicht auf einer idealisierten Rezeptionssituation beruhen, sondern vielmehr die Charakteristika und Prozesse freilegen, die ein narrativer Text zur Aktivierung und Lenkung seiner Rezipierenden nutzt. Die Kognitionswissenschaft bietet hierfür verschiedene theoretische Instrumente, um diese mentalen Prozesse, die bei der Rezeption einer narrativen Darstellung eintreten, zu beschreiben und zu modellieren. Sie begreift Kommunikation und ihre Rezeption als „active, constructive, rationally motivated, and cognitively guided processes of information processing that are anchored in human physicality and experience“ (Eder 2008b, 283) und sieht mentale Prozesse als fundamentale und unverzichtbare Erklärung für soziales (semiotisches) Handeln an (vgl. Eder 2008b, 283). Diese Prozesse lassen sich zum einen auf einer makrostrukturellen Ebene verorten, auf der die rahmenden Bedingungen und mentalen Strukturen der narrativen Rezeption modelliert werden, zum anderen auf einer Mikroebene, auf der die spezifische Zeichenstruktur des narrativen Textes und seiner in der Rezeption zu deutenden Signale betrachten werden, die die auf der Makrostruktur verorteten Prozesse steuern (vgl. Fludernik 2002 [1996], 237). Es deutet sich dabei an, dass Narrativität nicht nur in der Anlage eines Gegenstandes begründet liegt, sondern ebenso in der Tätigkeit, den Text als Erzählung zu rezipieren (vgl. Fludernik 2002 [1996], 237). Das Heranziehen kognitiver Theorien ist häufig dem Vorwurf ausgesetzt, nur geringe Aussagekraft über die realen kognitiven Prozesse, die sich bei der Rezeption narrativer Darstellung ergeben, zu besitzen, insbesondere deshalb, weil die entwickelten Modelle nicht empirisch abgesichert werden. Im Rahmen der Entwicklung einer kognitiven Literaturtheorie entgegnet Marcus Hartner diesem Vorwurf auf folgende Weise: Angesichts dieses ergänzenden Charakters ist es sinnvoll, kognitive Literaturtheorien als Orientierungskonzepte mit Werkzeugcharakter zu verstehen, die sich losgelöst von ontologi-
1.3 Erzähltheorie und Didaktik
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schen Geltungsambitionen in den pluralistischen Methodenkanon einer postklassischen Literaturtheorie einreihen. Aus diesem Grund kann es nicht darum gehen, wissenschaftsphilosophisch unangreifbare Theorieverbindungen zwischen empirischen und hermeneutischen Ansätzen herzustellen; das Ziel besteht vielmehr in der Entfaltung kognitiv inspirierter Konzepte, die eine potentiell produktive Änderung des Blicks auf einzelne Texte und übergreifende Phänomene ermöglichen und sich dennoch harmonisch in ein breiteres psychologisches Verständnis von Text- und Literaturrezeption einfügen. (Hartner 2012, 54–55)
Kognitive Modelle werden also vornehmlich aufgegriffen, um narrative Welten und ihre Darstellungen in Bezug auf die mentalen Faktoren ihrer Rezeption zu begreifen und somit einen produktiven Einblick in die Verarbeitungsprozesse von Erzählungen zu erlangen. Für die Literaturdidaktik ist diese Orientierung an den spezifischen Verarbeitungsprozessen wichtig, um die Ausdifferenzierung von Teilbereichen zu begründen, die das literarische Lernen bedingen. Dass gerade auch die kognitiven Faktoren der literarischen Rezeption (und möglicher anschließender Produktion) Einfluss auf die literaturdidaktische Modellbildung nehmen, lässt sich sowohl an der Auslegung des Kompetenzbegriffes als auch anhand von Konzepten literarischen Verstehens belegen (vgl. Winkler 2015, 157; Boelmann 2013, 87; Schilcher und Pissarek 2013, 18).5 Die Beschäftigung mit dem Pen-and-Paper-Rollenspiel eignet sich in besonderem Maße dazu, narrative Verarbeitungsprozesse und ihre Anbindung an literaturdidaktische Theorien zu erproben. Dies liegt zum einen darin begründet, dass die komplexe Verbindung von Spiel und Erzählung eine rezeptionstheoretische Fundierung erfordert, um zu analysieren, welche Rezeptionsangebote sich daraus für die Spielenden zur Herstellung von Narrativität bieten. Zum anderen erlaubt der Kommunikationsprozess im Pen-and-Paper-Rollenspiel nicht nur, die narrativen Rezeptionsangebote zu identifizieren, sondern auch den Umgang mit diesen Angeboten nachzuvollziehen. Dies liegt daran, dass die narrative Darstellung selbst erst im Verlauf des Spielprozesses konstruiert wird, die Teilnehmenden also aufgefordert sind, ihre Rezeptionseindrücke produktiv umzusetzen, um so den Erzählprozesses fortzuführen. Damit können in einer narratologischen Analyse, die auch die kognitive Verarbeitung einbezieht, nicht nur die strukturellen Marker eruiert werden, welche die narrative Rezeption anregen und steuern, sondern auch die kommunikativen Anschlusshandlungen analysiert werden, die Aufschluss über konkrete narrative Verarbeitungsprozesse bieten.
Wenngleich zum jetzigen Zeitpunkt noch keine übergreifende Studie zu kognitiv-narrativen Verarbeitungsprozessen in der Literaturdidaktik vorliegt, finden sich einige Forschungsarbeiten zu den Teilbereichen literarischen Lernens, die Bezüge zu kognitiven Theorien herstellen. Hervorzuheben ist in diesem Kontext die Arbeit von Florian Rietz (2017), der sich dem Aspekt der Perspektivübernahme unter kognitionstheoretischer und narratologischer Perspektive nähert.
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1.4 Zielsetzung, Methodik, Aufbau Auf Basis der vorangegangenen Ausführungen macht sich die der vorliegende Band zum Ziel, ein narratologisches Modell des Pen-and-Paper-Rollenspiels zu entwickeln und die Potenziale, die es für literarische Lernprozesse bietet, unter Berücksichtigung seiner narrativen Besonderheiten zu konkretisieren. Dabei stehen speziell die narrativen Verarbeitungsprozesse im Fokus, die als zentraler Ausgangspunkt für ein literar-ästhetisches Verstehen angesehen werden. Die Modellierung des Erzählens im Pen-and-Paper-Rollenspiel als Schritt, der einer literaturdidaktischen Untersuchung vorgelagert ist, ist nötig, da die vornehmlich im angloamerikanischen Bereich verortete Rollenspielforschung noch kein konsistentes narratologisches Modell vorgelegt hat. Insofern ist David Schmidt (2012, 231) zuzustimmen, dass das Pen-and-Paper-Rollenspiel eine Prüfung für die etablierte Erzähltheorie darstellt, da es sich aufgrund seiner erzählprozessualen Besonderheiten nur schwer an klassische Erzählformen anbinden lässt. Neuere Ansätze ludonarratologischer Forschung zum Computerspiel (vgl. Backe 2008; Engelns 2014; Thon 2015), zum Erzählen in mündlich-künstlerischen Formen (vgl. Marlar Lwin 2020) und zur Theaternarratologie (vgl. Horstmann 2018b) entwickeln verschiedene Lösungswege, denen das Potenzial inhärent ist, die komplexen Strukturen und Strategien des Erzählens im Pen-and-Paper-Rollenspiel in ein konsistentes Modell zu überführen. Für die Entwicklung eines solchen narratologischen Modells des Pen-andPaper-Rollenspiels ist es aufgrund der erst im Vollzug konstruierten narrativen Darstellung erforderlich, den Spielprozess selbst zu betrachten. Da die Erzählung von den Teilnehmer/-innen erst im Vollzug des Spiels entwickelt wird, kann der narrativen Anlage anhand exemplarischer Beobachtungen konkreter Spielsitzungen auf den Grund gegangen werden. Neben der Einbeziehung anderer publizierter Materialien, die das Pen-and-Paper-Rollenspiel umgeben (Regel- und Quellenwerke, Szenariopublikationen), ist es für eine narratologische Theoriebildung unabdingbar, den Spielprozess selbst zu untersuchen, da hier nicht nur Aussagen über den Erzählinhalt getroffen werden, sondern auch darüber, wie die erzählerische Vermittlung gestaltet ist. Wie auch andere Formen des Gesellschaftsspiels kommen Pen-and-PaperRollenspiele erst durch die Interaktion menschlicher Akteure zustande, sie sind nach Goffman (1961, 17) als „focused gathering“ oder „encounter“ zu verstehen, also als „type of social arrangement that occurs when persons are in one another’s immediate physical presence“.6 Für die narratologische Analyse ergibt sich daraus die
Unter anderem bedingt durch Let’s Plays auf Streamingportalen sowie soziale Kontaktbeschränkungen, die während der Coronapandemie in den Jahren 2020 und 2021 herrschten, lässt
1.4 Zielsetzung, Methodik, Aufbau
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methodische Herausforderung, dieses flüchtige Ereignis in eine fixierte mediale Repräsentation zu überführen, um so ein stabiles und translokales Forschungsobjekt zu generieren (vgl. Bergmann 2011, 490–491). Aus diesem Grund wurde sich – in Anlehnung an die Methoden der empirischen Sozialforschung – für ein qualitatives Erhebungsverfahren entschieden, das einen materialgestützten Zugang zum Erzählprozess im Pen-and-Paper-Rollenspiel erlaubt. Im Rahmen mehrerer universitärer Lehrveranstaltungen, die zwischen 2017 und 2019 an der Universität Bielefeld abgehalten wurden, erhielten die Teilnehmenden die Möglichkeit, eine Rollenspielsitzung durchzuführen und diese nach Zustimmung videografieren zu lassen. Sieben Gruppen mit jeweils drei bis sechs Personen im Alter von 19 bis 35 Jahren erklärten sich bereit, an der Studie teilzunehmen. Es handelte sich mehrheitlich um Gruppen, die zum Zweck der Erhebung ein neues Spiel begannen beziehungsweise gänzlich neu gegründet wurden, lediglich eine Gruppe stellte eine Sitzung aus einem laufenden Kampagnenspiel zur Verfügung. Die Teilnehmenden besaßen zum Zeitpunkt der Erhebung unterschiedliche Vorerfahrungen mit Pen-and-Paper-Rollenspielen, die sich im Bereich von gänzlichen Einsteiger/-innen bis zu langjähriger Erfahrung in unterschiedlichen Spielgruppen bewegte. Den Spielgruppen war freigestellt, welches Spielsystem sie für die Sitzung wählen, auch die Vorbereitung (Regellektüre, Figurenentwicklung, Szenarioplanung) wurde – sofern es nicht Teil des eigentlichen Spiels war – eigenverantwortlich übernommen. Die Sitzungen wurden mit einer Kamera aufgezeichnet, die bei zwei Gruppen um eine zusätzlich parallel stattfindende, externe Audioaufzeichnung ergänzt wurde. Die sieben Videoaufzeichnungen, die den Korpus dieser Studie bilden, kommen auf eine Gesamtlänge von etwa 25 Stunden. Im Anschluss an die Aufzeichnung wurden die Daten gesichtet und aufbereitet. Da die Interaktion der Teilnehmenden im Pen-and-Paper-Rollenspiel maßgeblich aus mündlicher Kommunikation (Mimik und Gestik inbegriffen) besteht, wurde sich hier dafür entschieden, sich an den Kriterien der Aufbereitung und Auswertung von Gesprächsdaten zu orientieren, die im Bereich der ethnomethodologischen Konversationsanalyse sowie der linguistischen Gesprächsforschung entwickelt wurden (vgl. u. a. Deppermann 2008 [1999]). Nach einer ersten Sichtung wurde das Material auf Basis von Gesprächsinventaren und Sichtungstabellen organisiert, zur Orientierung wurden Time-Code-Tabellen entwickelt, die im Verlauf der weiteren Sichtungen mehrfach überarbeitet wurden. Hieraus ergab
sich in Teilen der Rollenspielfankultur ein Ausweichen auf digitale Kommunikationsplattformen feststellen. Die unmittelbare physische Präsenz, von der Goffman schreibt, wird hier mithilfe von auditiven beziehungsweise audiovisuellen Kommunikationstechnologien auf eine unmittelbare digitale Präsenz verlagert.
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sich die Auswahl einzelner Spielsequenzen, die einer detaillierteren narratologischen Analyse unterzogen wurden. Im weiteren Verlauf der Auswertungen wurden die aufgezeichneten Videodaten in Schriftform transkribiert. Die Transkription ist eine gängige Praxis der empirischen Sozialforschung, die es erlaubt, flüchtige Sinneseindrücke, die bei der Rezeption von Bild- und Tondaten entstehen, zu fixieren und so durch mehrmalige Rezeption und systematische Verschiebung des Aufmerksamkeitsfokus Sinneseindrücke zu sammeln und zu einer strukturierten Darstellung zusammenzufügen, die um ein Vielfaches informationshaltiger und dauerhafter ist als der einzelne Wahrnehmungsvorgang. (Hartung 2011, 483)
Wenngleich das Transkript in der Gesprächsforschung aufgrund der Zugänglichkeit und Aussagekraft im wissenschaftlichen Diskurs gängiges Mittel ist, gesprächsbezogene Fragestellungen materialgestützt zu bearbeiten, bedeutet die Überführung gesprochener Sprache in Schrift zumeist Selektion und Reduktion (vgl. Deppermann 2008 [1999], 46). Die Gesprächsforschung entwickelte daher in Form von standardisierten Transkriptionssystemen Möglichkeiten der orthografischen Notation und Annotation, um Sprachvarianten und nichtlautliche Verfahren sichtbar zu machen (vgl. Bergmann 2011, 496). Da ein exaktes Abbild des mündlichen Gesprächs in Schriftform dabei nicht erreichbar ist, plädiert Arnulf Deppermann dafür, Transkriptionsentscheidungen möglichst transparent zu machen. Das Interesse der Gesprächsforschung liegt in der Untersuchung von Prinzipien der kommunikativen und sprachlichen Ressourcen, in der „Menschen ihren Austausch gestalten und dabei die Wirklichkeit, in der sie leben, herstellen“ (Deppermann 2008 [1999], 9). Dieses Untersuchungsinteresse bilden auch die gängigen Transkriptionssysteme der Gesprächsforschung ab, indem auch kleinere sprachliche Nuancen wie Pausen, Längen oder Betonungen sichtbar gemacht werden können. In der interdisziplinären Auseinandersetzung mit Transkriptionsdaten wird in neuerer Zeit diskutiert, inwieweit solch tiefgehende Annotationen für die Beantwortung der eigenen Fragestellungen nützlich sind oder ob eine derart feinkörnige Transkription zu einer Überkomplexität und daraus resultierenden Unleserlichkeit eines Transkripts führen kann (vgl. Dresing und Pehl 2017, 9). Auch Deppermann (2008 [1999], 47) verweist im Falle der Transparenz von Transkriptionsentscheidungen auf mögliche Detaillierungen eines Transkriptionssystems, die für die eigene Analyse irrelevant erscheinen können. Er entwickelt in diesem Kontext die allgemeine Regel des Auflösungsniveaus: „Das Auflösungsniveau des Transkripts muß mindestens eine Abbildungs- bzw. Beschreibungsebene detaillierter sein als das Auflösungsniveau, auf dem der Untersuchungsgegenstand definiert ist.“ (Deppermann 2008 [1999], 47)
1.4 Zielsetzung, Methodik, Aufbau
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Überträgt man diese Regel auf den hier anvisierten Forschungsgegenstand sowie die damit zusammenhängenden Entscheidungen, die die Auswahl des Transkriptionssystems betreffen, lässt sich konstatieren, dass das Erkenntnisinteresse weniger der Untersuchung kommunikativer und sprachlicher Ressourcen sowie der Konstruktion der (sprachlich konstruierten) Wirklichkeit im Pen-and-Paper-Rollenspiel gilt. Wenngleich eine solche Ausrichtung, die das Pen-and-Paper-Rollenspiel als soziales Kommunikationsereignis kennzeichnet, durchaus produktiv und möglich erscheint (wie die Arbeiten von Fine (2002 [1983]) und auch Herbrik (2011) zeigen), soll es in der vorliegenden Studie vor allem um die Gestaltung und Entwicklung der dem Spielprozess erwachsenen Erzählung gehen. Dies begründet auch den Rückgriff auf die Theorien der vor allem literaturwissenschaftlich geprägten Narratologie, die ein deutlich präziseres Beschreibungsinstrumentarium für die Struktur und den Aufbau einer (fiktionalen) Erzählung haben, als beispielsweise andere, gerade im Falle der empirischen Sozialforschung naheliegendere Theorien, wie die linguistische Erzählforschung oder die soziologische Narrationsanalyse. Diese theoretische Ausrichtung bedingt auch die Entscheidung für ein Transkriptionssystem, das sich vornehmlich an Kriterien der Einfachheit sowie der subjektiven und intersubjektiven Reliabilität orientiert (vgl. Dresing und Pehl 2017, 9) und nach den Grundlagen der Gesprächsforschung als Basistranskript klassifiziert werden kann (vgl. Bergmann 2011, 496). Ausgewählt wurde ein von Udo Kuckartz (2016 [2012], 166–171) konzipiertes Transkriptionssystem, das auf Basis der Transkriptionsregeln Gail Jeffersons (1984) entwickelt wurde. Es handelt sich um eine wörtliche Transkription (nicht lautsprachlich, nicht zusammengefasst), bei der Dialekte möglichst genau ins Hochdeutsche übersetzt wurden. Die Sprache wurde dabei leicht geglättet, Satzform, bestimmte und unbestimmte Artikel, Partikel etc. wurden beibehalten, auch wenn sie Fehler enthalten. Hinzugefügt wurde eine Markierung von Stimmmodulationen („…“), die das Verstellen und Verändern der Stimme sowie die Artikulation durch klangliche, lautliche und zeitliche Parameter umfasst. Die Einschätzung einer Modulation wurde in Bezug auf den quantitativ bestimmbaren sprachlich-artikulatorischen Ausdruck der einzelnen Teilnehmenden getroffen.7 Es fand zudem eine begrenzte Transkription nicht-sprachlicher Bestandteile der Kommunikation statt, allen voran gestischer und mimischer Verfahren sowie von Spielhandlungen, die die Interaktion mit den am Spieltisch vorhandenen Materialien (Bücher, Würfel, Stifte, Spieldokumente) betreffen. Begrenzt ist diese Transkription einerseits, da gerade die sprachliche Überführung von Gestik und Eine tabellarische Aufstellung der Transkriptionssymbole findet sich in Kapitel 11. Alle ausgewählten Sequenzen, die in diesem Buch analysiert werden, können in einem gebündelten Anhang unter folgendem Link abgerufen werden: https://www.degruyter.com/document/isbn/ 9783110788983/html.
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Mimik häufig mit einer Reduktion des eigentlichen kommunikativen Gehalts einhergeht. Eine solche Überführung dient also immer nur als Illustration und ersetzt nicht den Interpretationsprozess am Videomaterial. Andererseits wurde sich aufgrund der Teilnehmendenzahl vor allem auf das Handeln der Sprechenden konzentriert. Zur Übersichtlichkeit wurden deswegen einige mögliche spielrelevante Handlungen, die im Stillen geschahen, wie beispielsweise das Schreiben von Notizen auf den eigenen Spieldokumenten oder das Nachschlagen in Büchern, nicht transkribiert, solange es nicht während einer Sprachhandlung geschah oder direkt mit einer kommunikativen Handlung darauf verwiesen wurde. Neben den aufgezeichneten Sitzungen, die den maßgeblichen Teil des Analysekorpus bilden, wird auch eine begrenzte Zahl an Rollenspielmaterialien, wie Regelwerke und Szenariopublikationen, berücksichtigt. Wenngleich die Auswertung dieser Materialien einen geringeren Platz in dieser Studie einnimmt, erscheint die Integration für die narratologische Modellbildung dennoch notwendig.8 Denn solche Materialien sind zum einen während der Vorbereitung der Spielgruppe obligatorisch, da Teile der im Spielprozess zu konstruierenden Erzählung auf Basis dieser Materialien im Vorhinein festgelegt werden. Zum anderen lässt sich auch während des Spielprozesses eine Präsenz dieser Materialien feststellen, da die Teilnehmenden direkt auf sie zugreifen, um beispielsweise Texte aus ihnen vorzulesen. Nachdem die narratologische Modellbildung abgeschlossen ist, wird sie aus rezeptions- und kognitionstheoretischer Perspektive mit bestehenden Theorien und Konzepten der Literaturdidaktik verknüpft. Wenngleich am Ende dieses Bandes ein didaktischer Ansatz skizziert wird, beruht der literaturdidaktische Kern vornehmlich auf theoretischen Überlegungen, die bewusst zunächst keine Anbindung an die methodische Praxis aufweisen. Für diese Eingrenzung wurde sich aufgrund der zu leistenden narratologischen Erschließung und Modellbildung entschieden, die zwingend vor der didaktischen Übertragung geschehen muss. Die Studie hat demnach nicht zum Ziel, konkrete Unterrichtsvorschläge oder Kompetenzmodelle zu entwickeln, die in der Praxis empirisch überprüft werden sollen, sondern Perspektiven für verschiedene Lernkonstellationen zu eröffnen. Aus diesem Grund wird ein Zugang genutzt, der nicht auf spezifische Lehr- und Lernsettings zugeschnitten ist, sondern den Begriff des literarischen Lernens möglichst weit fasst. Es geht folglich sowohl um institutionelle Unterrichtsformen als auch um Lernprozesse, die in gänzlich unterschiedlichen Situationen vollzogen werden können. Diese Ausrichtung folgt einem von unterrichtlichen Settings entkoppelten Konzept
Zu einem detaillierteren Blick auf die Bedeutung von Materialien im Rollenspiel vgl. Bienia (2016).
1.4 Zielsetzung, Methodik, Aufbau
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literarischen Lernens, das sich auch unbewusst während der nicht geleiteten Rezeption literarischer Texte einstellen kann (vgl. Boelmann 2015, 67). Auf Basis dieser Zielsetzungen ergeben sich folgende drei Leitfragen: Erstens muss erschlossen werden, durch welche Strategien und Angebote Narrativität im Pen-and-Paper-Rollenspiel geschaffen wird und wie sich die kommunikative Struktur auf die Produktion und Rezeption narrativer Darstellungen auswirkt. Dazu werden zunächst die kommunikativen und ludischen Grundstrukturen sondiert, um daraus ein Modell des Erzählens im Pen-and-Paper-Rollenspiel zu entwickeln. Darüber hinaus werden verschiedene inhaltliche und vermittlerische Strategien herausgearbeitet, auf die die Beteiligten während des Spielprozesses zurückgreifen. Zweitens sollen, ausgehend von den Spezifika des rollenspielerischen Erzählprozesses, die Potenziale für das literarische Lernen bestimmt werden. Die Erzählung selbst wird als Grundstruktur angesehen, die durch die besondere Kommunikationssituation im Rollenspiel bestimmte Anforderungen an die Teilnehmenden stellt, die wiederum produktiv für die literarische Bildung genutzt werden können. Drittens – und dies stellt die argumentative Schnittstelle zwischen den ersten beiden Leitfragen dar – werden die narrativen Verarbeitungsprozesse im Penand-Paper-Rollenspiel in den Blick genommen, die sich zwischen der narrativen Rezeption und Produktion einstellen. Auf der Grundlage dieser Prozesse werden zudem Verstehensoperationen identifiziert, die vor allem bei der Rezeption literarischer Medien zum Tragen kommen. Die These lautet hier, dass die Strategien und Strukturen des Erzählens im Pen-and-Paper-Rollenspiel zur ästhetischen Illusionsbildung anregen und so literarische Kommunikations- und Verstehensprozesse in Gang setzen, die sich literaturdidaktisch nutzbar machen lassen. Mit der formulierten Zielsetzung und den sich daraus ergebenden Leitfragen geht die Studie in folgenden Argumentationsschritten vor: In Kapitel 2 wird das Pen-and-Paper-Rollenspiel definiert und von anderen Spielformen abgegrenzt. Zunächst ist es erforderlich, die bereits erfolgte Differenzierung zwischen der Spielform des Rollenspiels und einer rollenspielerischen Imaginationshaltung zu präzisieren (vgl. Kap 1.2). Durch einen fiktionstheoretischen Definitionsansatz soll das Rollenspiel als Imaginationshaltung genauer untersucht werden, um Beziehungen zur Spielform herzustellen. Weiterhin wird das Pen-and-Paper-Rollenspiel innerhalb der Spielgattung des Rollenspiels verortet, um strukturelle ludische Eigenschaften auszumachen. Mit der anschließenden Definition des Pen-and-Paper-Rollenspiels werden zum einen sein medialer Status präzisiert und zum anderen grundlegende Elemente definiert, die den Ursprung für die Strukturierung des angestrebten Modells bilden können. In Kapitel 3 wird mit der Betrachtung der ludischen Prozessualität ein zentrales Element des Pen-and-Paper-Rollenspiels fokussiert, um die Beziehung zwischen Spiel und Erzählung zu beleuchten. Im ersten Teil dieses Kapitels stehen Diskurse
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im Zentrum, die dem narrativen Potenzial von Spielen im Allgemeinen und speziell im Rollenspiel nachgehen. Anschließend werden auf Basis dieser Diskurse zentrale Herausforderungen definiert, die sich für die Analyse der narrativen Elemente von (Rollen-)Spielen ergeben. Daran anknüpfend wird ein narratologischer Zugang entwickelt, der diesen Herausforderungen gerecht wird. Da bereits in der Computerspielforschung narratologische Zugänge existieren, die das Verhältnis von Spiel und Erzählung berücksichtigen, werden diese im zweiten Teil des Kapitels als Ausgangspunkt für die weitere Modellbildung etabliert. Mit Blick auf die zentralen Realisierungsebenen Spielsystem, Setting und Szenario (vgl. Engelns 2014) ist es erforderlich, diese Zugänge gemäß den strukturellen Eigenschaften des Pen-andPaper-Rollenspiels zu modifizieren. Es wird zu zeigen sein, dass die ludischen Prozesse in stetiger Abhängigkeit von den kommunikativen Prozessen im Rollenspiel stehen und letztere den zentralen Transformationsort von ludischen Prozessen in eine narrative Darstellung bilden. Aufgrund dessen wird sich in Kapitel 4 intensiv mit der Struktur der Kommunikationsprozesse im Pen-and-Paper-Rollenspiel auseinandergesetzt. Zunächst werden generelle Eigenschaften des Kommunikationsprozesses und zentrale Bedeutungsrahmen der Kommunikation identifiziert. Im Anschluss daran wird ein Modell narratologischer Kommunikation entwickelt, das den kommunikativen Besonderheiten im Rollenspiel gerecht wird. Dabei wird nicht nur die kommunikative Strukturierung des Erzählprozesses in die Modellbildung einfließen, sondern ebenfalls die Rezeption der narrativen Darstellung theoretisiert. In Kapitel 5 werden konkrete Strategien des Erzählens anhand des Datenkorpus versammelt. In diesem Kontext werden einerseits die inhaltlichen Aspekte fokussiert, die unter anderem an der Überführung ludischer Elemente in den Erzählprozess beteiligt sind, andererseits wird auch zu klären sein, wie die Teilnehmenden im Rollenspiel erzählen. Ein Blick auf die Vermittlung der Erzählung erscheint deswegen produktiv, weil die Herausforderungen, die der narrative Prozess mit sich bringt, auch auf Mikroebene nachzuweisen sind. In Kapitel 6 werden das in Kapitel 4 entwickelte Modell des Erzählens sowie die in Kapitel 5 herausgearbeiteten narrativen Strategien aus rezeptions- und kognitionstheoretischer Perspektive re-evaluiert, um so einen genaueren Einblick in die narrativen Verstehensprozesse zu erhalten. Diese Verstehensprozesse verweisen zugleich auf mögliche Rezeptionseffekte, die sich im Vollzug des Pen-andPaper-Rollenspiels einstellen können. Im Vordergrund stehen konkret die Verfahren der Illusions- und Immersionserzeugung, die von den Teilnehmer/-innen durch unterschiedliche Strategien ausgelöst werden. Ein solcher Rezeptionsmodus eröffnet Möglichkeiten des literarischen Verstehens, welche das Pen-and-Paper-Rollenspiel in die Nähe anderer literarischer Erzählungen stellt.
1.4 Zielsetzung, Methodik, Aufbau
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Ausgehend von diesen narrativen und literar-ästhetischen Verstehensprozessen wird in Kapitel 7 ein Bezug zu literaturdidaktischen Positionen hergestellt. Ansatzpunkt bietet die Modellierung literarischer Bildung, in der das literarische Verstehen einen zentralen Platz hat. Die Erzählung, die im Pen-and-Paper-Rollenspiel konstruiert wird, ist eine Grundkonstante, die unterschiedliche Formen literarischen Lernens bereithält. Neben den Herausforderungen, die bei der Rezeption und Produktion von Erzählungen eine Rolle spielen, sind dies die Formen der Fiktionskompetenz, des Umgangs mit spezifischen Wissensbeständen, des Aushandelns populärer Stoffe sowie der Empathie und Perspektivübernahme. Im letzten Kapitel wird auf Grundlage der benannten Potenziale für literarische Lernprozesse der Frage nach einer methodischen Implikation nachgegangen. Mit Blick auf verschiedene methodische Zugänge zum szenischen Spiel sowie zum Computerspiel werden unterschiedliche Herausforderungen versammelt, die bei der Entwicklung eines methodischen Konzeptes berücksichtigt werden müssen. Am Ende des Bandes werden schließlich anhand von zwei methodischen Vorschlägen Möglichkeiten zur Einbeziehung des Pen-and-Paper-Rollenspiels in literaturdidaktische Settings diskutiert.
2 Mindset, Gattung, Medium? Zur Definition und Abgrenzung des Begriffs (Pen-and-Paper-)Rollenspiel Bereits in den frühen Beiträgen der Fankultur herrscht Uneinigkeit über die Bestimmung des Begriffs Rollenspiel, was nicht nur auf seine weitreichende Verwendung in anderen kulturellen und sozialen Kontexten, sondern auch auf seinen Hybridstatus zwischen Spiel und Erzählung zurückzuführen ist. Spielformen des Rollenspiels ergeht es insofern ähnlich wie anderen medialen Konfigurationen und Dispositiven im Zeitalter der Postmoderne und der Medienkonvergenz: Sie werden vermischt, zerstückelt und erweitert, eine Grenzziehung scheint dabei nicht mehr möglich. Im folgenden Kapitel soll eine definitorische Annäherung an den Begriff Pen-and-Paper-Rollenspiel erfolgen, um ihn vor dem Hintergrund verwandter oder sich integrierender Spielformen zu kontextualisieren. Michael Hitchens und Anders Drachen (2009, 5) stellen zwei definitorische Ansätze zum Begriff ‚Rollenspiel‘ heraus: zum einen als Spielgattung, zu der unterschiedliche Formen digitaler und analoger Spiele aufgrund ihrer ähnlichen Gestaltung von Spielmechaniken, Spielzielen oder thematischen Schwerpunkten gerechnet werden können; zum anderen als Aktivität, die „in various social and cultural arenas“ (Hitchens und Drachen 2009, 5) praktiziert wird. Rollenspiel wird hier als Praktik verstanden, die sich in einer besonderen Haltung zu bestimmten Gegenständen ausdrückt. Die Forschung beschreibt dieses Verhalten als „mindset“ (vgl. Heliö 2004, 70–71; Montola 2012, 114), als Form des Imaginierens mit spielhafter oder dramatischer Absicht (vgl. Heliö 2004, 70), die nicht zwingend auf die Existenz eines formalen Spielsystems setzt, sondern in verschiedenen sozialen und kulturellen Situationen Anwendung findet (vgl. Montola 2008, 22). Aus dieser Haltung könne sich nach Satu Heliö (2004, 70–71) gleichzeitig eine narrative Rezeptionsperspektive entwickeln. Rollenspiele sind also nach dieser Auffassung weniger als Erzählungen zu begreifen, sondern eher als Aktivität, in der Potenziale für eine narrativ-involvierende Rezeption geschaffen werden (vgl. Hitchens und Drachen 2009, 6). Ähnliche Definitionsansätze verfolgen auch Mike Pohjola (2004, 89) der das Rollenspiel als „immediated character immersion“ beschreibt, sowie Mäkelä et al. (2005), die Rollenspiel als „immersion to an outside consciousness (,a character‘) and interaction with its surroundings“ verstehen. Diese Definitionen betonen vor allem die imaginative Tätigkeit der Rollenspielaktivität, die sich immer auf das Hineinversetzen in eine uneigene Position in Gestalt einer Figur oder einer Person bezieht. Daneben stellt Markus Montola (2012, 117) die Existenz einer imaginierten Welt heraus, die im Prozess des Rollenspiels erschaffen wird: „Role-playing is an interactive process of defining and re-defining the https://doi.org/10.1515/9783110788983-002
2.1 Das Rollenspiel als make-believe
21
state, properties and contents of an imaginary game world.“ Gerade letztgenannte Eigenschaft, die das imaginäre Erzeugen einer fiktionalen Ebene während der Rollenspielaktivität umfasst, evoziert eine Nähe zu Formen des make-believe, worauf auch Sebastian Deterding und José P. Zagal (2018b, 2) verweisen.
2.1 Das Rollenspiel als make-believe Deterding und Zagal (2018b, 2) definieren das Spiel (play) als einen Grundpfeiler der Spielgattung Rollenspiel, wobei mit Spiel weniger ein auf formalisierten Regeln aufgebauter Prozess gemeint ist, sondern eher ein in allen menschlichen Kulturen sowie bei vielen tierischen Spezies vorkommendes Phänomen, in dem bestimmte Verhaltensweisen autotelisch erprobt, transformiert und verhandelt werden. Als Beispiel für ein solches, von Roger Caillois (1982, 36) als paidia bezeichnetes Spiel kann das imaginative Kinderspiel gelten, das nach Kendall Walton (1990, 11–12) ebenfalls als make-believe-Situation angesehen wird: In ihrer gemeinsamen Spieltätigkeit vereinbaren Kinder Regeln über die Beschaffenheit bestimmter Objekte und Personen, indem sie sie als Platzhalter und Vorgabe für das Imaginieren und somit als Generator fiktionaler Wahrheiten klassifizieren (vgl. Walton 1990, 51). Diese von Walton (1990, 51) so bezeichneten „props“ werden im Erschaffungsprozess nicht selten durch sprachliche Operatoren markiert (,Lass uns so tun als ob … ‘; vgl. Ryan 1991, 23). Wenn Partizipierende in einem solchen game of make-believe also so tun, als sei ein Haufen Erde ein Kuchen (vgl. Abb. 1), dann erschaffen sie eine zweite Bedeutungsebene, nach Marie-Laure Ryan (1991, 24–25) eine fiktive1 Welt, in der bestimmte Wahrheitsbedingungen herrschen.2
Die folgenden Ausführungen orientieren sich an der Fiktivität-/Fiktionalitätsunterscheidung von Nickel-Bacon et al. (2000, 270): „Wir behalten im Folgenden den Begriff der Fiktion als Oberbegriff bei. Den Begriff der Fiktionalität verwenden wir als Werkkategorie (und synonym mit engl. Fiction). Einzelne Inhalte bezeichnen wir als fingiert oder fiktiv, so dass wir Fiktionalität bzw. Fiction als pragmatische und Fiktivität als semantische Kategorie verwenden. Diese beiden Kategorien sind logisch voneinander unabhängig, Fiktivität können wir in fiktionalen wie in nonfiktionalen Werken konstatieren.“ Im Rückgriff auf die Mögliche-Welten-Theorie soll davon ausgegangen werden, dass Realität nicht nur die Summe aller empirisch erfahrbaren, sondern ebenso aller imaginierbaren Welten darstellt. Diese Welten werden im letztgenannten Fall durch bestimmte Operatoren mit propositionalem Potenzial geschaffen. Ausgehend von den modallogischen Theorien Kripkes (1963) und Lewis’ (1978) waren es vor allem Pavel (1986), Doležel (1998) und Ryan (1991), die diese Theorie für die (literaturwissenschaftliche) Erzähltheorie nutzbar machten.
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2 Mindset, Gattung, Medium?
Gemeinsam einen Haufen Erde formen B tut so als ob und lädt A ein, so zu tun als ob
A tut so als ob und lädt B ein, so zu tun als ob
AW
TRW
A´
Gemeinsam einen Kuchen backen
B´
Abb. 1: Kommunikative Struktur von games of make-believe (Ryan 1991, 96).
Durch die Teilnahme an der make-believe-Situation wird ein „fictional recentering“ (Ryan 1991, 72) vollzogen, in dem Partizipierende die durch die fiktive Welt erzeugte Realität als real anerkennen, wohl wissend, dass diese nicht der empirisch erfahrbaren Realität entspricht.3 Analog zu Abb. 1 lässt sich diese Situation aus Ryans formalisierter Version folgendermaßen beschreiben: 1. 2. 3.
Players select an actual object x – the prop – and agree to regard it as a virtual object x1. Players imagine themselves as members of the virtual world in which x1 is actual. The actions the players perform with the prop count as actions performed with x2. An action is legal when the behavior it entails is appropriate for the class of objects represented by x2. A legal action generates a fictional truth. (Ryan 2015 [2001], 75–76)
Alle Handlungen, die Partizipierende infolge dieses Spiels vollziehen, erfordern damit keine sprachlichen Operatoren, die Fiktionalität anzeigen, und werden in der Regel im Indikativ geäußert, sodass der Anschein von Faktizität vermittelt wird (vgl. Ryan 2010, 14). Walton (1990, 11) überträgt das Konzept des make-believe zudem auf die darstellende Kunst, insbesondere auf Gegenstände, die eine fiktionale Bedeutungsebene erschaffen: „Representational works function as props in such games, as dolls and teddy bears serve as props in children’s games.“ Während das Kunstwerk nun durch seine Inhalte vorgibt, was imaginiert werden soll, vollziehen Rezipierende diesen Imaginationsprozess, indem sie sich aktiv zur dargestellten fiktiven Welt positionieren und diese (für den Moment) als real begreifen (vgl. Zipfel 2014, 103–104). Im Unterschied zur Erde-Kuchen-Analogie im Kinderspiel las-
Diese Handlung ist mit dem im deutschen Raum verwendeten Begriff des Fiktionsvertrags gleichzusetzen, der ebenso das Verhältnis bestimmter Kontexte einer Darstellung mit der Vorstellung von Fiktionalität verbindet (vgl. Horstmann 2018a, 6).
2.1 Das Rollenspiel als make-believe
23
sen sich diese Formen des make-believe dabei eher als „existencially creative“ (Pavel 1986, 49) beschreiben, da nicht alle Gegenstände, die in der fiktiven Welt auftauchen, eine realweltliche Entsprechung besitzen.4 Somit lässt sich beispielsweise die Rezeptionsäußerung, dass man gänzlich von einer Erzählung eingenommen ist, als Umschreibung für dieses aktive psychologische Partizipieren an einem game of make-believe bezeichnen, in der die Erzählung als prop fungiert (vgl. Doležel 1998, 11). Die Formen der imaginativen Partizipation an make-believe-Handlungen lassen sich genauer differenzieren: Die minimalste Position gegenüber der dargestellten fiktiven Welt ist die Partizipation aus einer reflexiven Grundhaltung, in der fiktionale Wahrheitsaussagen realisiert und anerkannt werden (vgl. Lutas 2015, 206). Bereits diese Position differiert von einer reinen Betrachtungsposition („onlooker“; Walton 1990, 209), die nicht imaginierend, sondern eher beobachtend agiert und dabei die fiktionalen Regeln nicht annimmt. Die Maximalposition der Partizipation ist eine immersive Perspektive, in der die Teilnehmenden sich selbst in dieser fiktiven Welt verorten. Ein solches de-se-Imaginieren from the inside vollzieht sich in dieser Position aus der Innenperspektive und kann die Imagination von Wahrnehmungen, aber auch von bestimmten Eigenschaften betreffen (vgl. Walton 1990, 31). Dabei lässt sich diese Position weiterhin zwischen dem Transfer der eigenen Person sowie der Einnahme der Perspektive einer in der fiktiven Welt beheimateten Instanz differenzieren. In beiden Fällen wird eine doppelte Kommunikationsstruktur erschaffen, wobei eine Kommunikationsebene in der empirischen Realität und eine zweite in der fiktionalen Welt verortet ist. Eine derartige Kommunikationsstruktur findet auch innerhalb der fiktionalen Erzählkommunikation Anwendung, worauf David Lewis verweist:5 Here at our world we have fiction j; told in an act a of storytelling; at some other world we have an act a’ of telling the truth about known matter of fact; the stories told in a and a’ match word for word, and the words have the same meaning. (Lewis 1978, 40)
Für das Verhaltensdispositiv des Rollenspiels ist eine derartige de-se-Partizipationsposition obligatorisch: Mit der Übernahme einer wie auch immer gearteten Perspektive auf einer fiktionalen Ebene generieren Partizipierende also fiktionale Wahrheitsaussagen, die als „prescription or mandate in some context to imagine something“ (Walton 1990, 39) im game of make-believe fungieren. Da das Rollenspiel
Während im erwähnten Kinderspiel konkrete Gegenstände als Objekte im make-believe identifiziert werden, ist auch eine Variante vorstellbar, in der keine Entsprechungen existieren, so beispielsweise beim Schattenboxen oder in der Vorstellung, dass man von einem Drachen verfolgt werde (vgl. Pavel 1986, 49). Siehe Kap. 4.2.
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2 Mindset, Gattung, Medium?
zumeist aus Interaktionen zwischen mehreren Teilnehmenden besteht (vgl. Peterson 2012, 520), kann man es als kollaboratives „group project“ (Dadlez 2015, 313) eines make-believe-Spiels sehen, in dem die Regel gilt, dass jede/-r Partizipierende in der eigenen Rolle Entscheidungsmacht über die Interpretation des Verhaltens einer fiktionalen Entität besitzt (vgl. Henriksen 2004, 112–113). Somit erscheint die von David Schmidt (2012, 29) aufgestellte Begriffsdefinition des Rollenspiels als „Spielform, bei der von Teilnehmern Rollen mit spezifischen Eigenschaften übernommen werden“, als zu weit gefasst und führt, wie auch Flöter (2018, 4) betont, zu einer Verwässerung des Konzeptes: Sinnvoll ist eine klare Abgrenzung der von Erving Goffman (1974) theoretisierten soziologischen Rollentheorie, indem die Erzeugung einer fiktionalen Ebene als notwendig anerkannt wird. Auf dieser können zwar ebenfalls soziale Rollen ausgehandelt werden, das hat jedoch primär Auswirkung auf die Ordnung der fiktiven Realität. Sekundäre Rückwirkungen dieses game of make-believe sind jedoch nicht von der Hand zu weisen und gewinnen vor allem in den sozialen oder kulturellen Sphären an Bedeutung, in denen die Tätigkeit des Rollenspiels als Methode unter einem spezifischen Verwendungszweck appliziert wird, wie zum Beispiel in therapeutischen oder didaktischen Settings. Im Laufe des zwanzigsten Jahrhunderts haben sich hier verschiedene Ansätze und Techniken herausgebildet, die Martin Lensch (2003) in drei Großformen unterteilt: Das Protagonistenspiel, das Großgruppenspiel und das literarische Rollenspiel. Das Protagonistenspiel findet verstärkt in der Psychotherapie seine Anwendung und basiert auf dem von Jakob Levy Moreno entwickelten Konzept des Psychodramas (vgl. Günther 2019, 9–10). Hier stehen die von einem Gruppenmitglied als belastend erlebten Situationen im Mittelpunkt, die präsentiert, von den Beteiligten szenisch rekonstruiert und weitergespielt werden. Diese Form des Rollenspiels lässt sich auf das Stegreiftheater zurückführen (vgl. Schmidt 2012, 41) und dient der Konfrontation mit dysfunktionalem Verhalten sowie dem Herausarbeiten spezifischer Bewältigungsstrategien (vgl. Bowman 2010, 88). Wenngleich im Psychodrama stets der oder die Therapeut/-in als Spielleitung zugegen ist, wird das Ausspielen der Situationen sowie die Erarbeitung der Lösungsstrategien von der Gruppe selbst vorangetrieben. Im Großgruppenspiel, das ebenfalls in pädagogischen und therapeutischen Settings zum Einsatz kommt, wird ein gemeinsames Thema oder Motiv als Ausgangspunkt für das Rollenspiel bestimmt. Die Teilnehmenden agieren im Gegensatz zum Protagonistenspiel, in dem immer nur einer oder eine den Schwerpunkt bestimmt, gleichrangig. Es werden Themen gewählt, „die für die psychosoziale, moralische oder kulturelle Entwicklung der Gruppe als maßgeblich gelten können“ (Lensch 2003). Eine Sonderform des Großgruppenspiels stellt das Planspiel dar, das zur Simulation „(konfliktträchtiger) Aufgaben, Situationen und Prozesse“
2.2 Das Rollenspiel als Spielgattung
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(Günther 2019, 11) herangezogen wird. Die Gruppenmitglieder übernehmen die Rollen der Vertreter/-innen verschiedener Institutionen, mit dem Ziel, komplexe Systeme zu modellieren und dadurch ein besseres Verständnis ihrer Inhalte zu erlangen (vgl. Geneuss 2019, 37). Da das Planspiel nicht immer die Rollenübernahme konkretisiert, wie es sowohl im Protagonistenspiel als auch im Großgruppenspiel der Fall ist, kann man es eher als Randphänomen betrachten. Das Großgruppenspiel und das Protagonistenspiel beschäftigen sich zumeist mit der Modellierung sozialer Wirklichkeit und lassen sich daher als soziales Rollenspiel bestimmen (vgl. Denk 2010, 491). Das literarische Rollenspiel, das in der Literaturdidaktik auch als szenisches Spiel bezeichnet wird (vgl. Denk 2010, 491), umfasst hingegen didaktische Ansätze, die sich auf die theatrale Umsetzung literarischer Texte beziehen. Damit nähert sich das literarische Rollenspiel stark der ursprünglichen Form theatraler Rollenspieltechniken an, legt den Fokus aber nicht nur auf die konkrete Aufführungssituation, sondern auch auf den Entstehungsprozess, der von einer Lehrkraft angeleitet und begleitet wird. Das szenische beziehungsweise literarische Rollenspiel im Literaturunterricht steht in der Tradition dramendidaktischer Konzepte zur Schauspielausbildung, wie dem Improvisationstheater (vgl. Chudoba 2008, 53; Spinner 2001, 8). In Form künstlerischer Darstellung kann das Theater somit ebenso als ein Ort rollenspielerischer make-believe-Situationen fungieren. In einer Theateraufführung lässt sich eine Doppelung derartiger Situationen feststellen, die zwei verschiedene Typen des make-believe repräsentieren (vgl. Zipfel 2014, 113): zum einen in der reinen Rezeptionshaltung des Publikums, das in verschiedener Weise das fiktive Geschehen auf der Bühne interpretiert und imaginiert (vgl. Zipfel 2014, 114), zum anderen in Gestalt der Schauspielenden, die die Rolle von Figuren innerhalb der fiktionalen Realität einnehmen. Diese Position kann als Rollenspiel vollzogen werden, was jedoch vornehmlich von den Partizipationsstrategien der Schauspielenden abhängt. Es ist hier durchaus vorstellbar, aus der maximal immersiven Partizipationsstrategie das Spiel zu vollziehen, weiterhin ist aber auch eine distanziertere Perspektive zur dargestellten Figur denkbar, aus der Partizipierende das individuelle Selbstbild in Hinblick auf mögliche Publikumsreaktionen entwickeln (vgl. Walton 1990, 248).
2.2 Das Rollenspiel als Spielgattung Neben den definitorischen Positionen, die das Rollenspiel als Verhaltensdispositiv beschreiben, existiert eine weitere Gruppe von Ansätzen, in der das Rollenspiel
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2 Mindset, Gattung, Medium?
vornehmlich als formal beschreibbare Spielgattung6 verstanden wird, die bestimmte strukturelle Merkmale besitzt. Diese Auslegung des Rollenspielbegriffs entfernt sich somit vom paidia-orientierten Spielbegriff, wie er beispielsweise auf das Kinderspiel angewandt werden kann, und tendiert eher zu einer im Spektrum des ludus (vgl. Caillois 1982, 36–37) verorteten Definition, welche die formale Regelhaftigkeit und Problemorientierung einer spielhaften Tätigkeit stärker in den Blick nimmt. Gerade der Bezug zum make-believe wird jedoch auch in diesen Definitionsansätzen nicht selten hergestellt; so beschreibt Lisa Padol (2013) die Gattung des Rollenspiels als „make-believe with rules“, ungeachtet dessen, dass auch paidia-Formen des Spiels zumindest implizit Regeln für die Gestaltung einer fiktiven Welt verhandeln. Auch Jesper Juuls (2005, 13) Feststellung, dass gerade moderne Gesellschafts- und Computerspiele nicht selten neben den explizit formulierten Spielregeln auf make-believe-Situationen setzen, referiert auf eine mögliche Verbindung von formaler Spielebene und fiktionaler Imaginationstätigkeit. Montola (2012, 119) verweist in diesem Zusammenhang darauf, dass eine zusätzliche fiktionale Bedeutungsebene mittels eines Rollenspiels als make-believe auch in Spielen wie Talisman (Harris 1983), Squad Leader (Hill 1977) oder Schach evoziert werden könne. Er betont überdies, dass Spiele der Gattung Rollenspiel eine derartige Imaginationshaltung fördern, wenn nicht fordern (vgl. Montola 2012, 199). Spiele dieser Gattung ordnen sich somit gemäß ihrer Ausprägung zwischen paidia und ludus ein (vgl. Montola 2008, 29), was die Zweiteilung der unterschiedlichen Definitionsansätze erklären mag. In der neueren Forschung wird die Definition Mackays als brauchbare Annäherung an die Strukturelemente der Spielgattung Rollenspiel angesehen (vgl. Flöter 2018, 21; Grouling Cover 2010, 10; Hitchens und Drachen 2009, 8): I define the role-playing game as an episodic and participatory story-creation system that includes a set of quantified rules that assist a group of players and a gamemaster in determining how their fictional characters’ spontaneous interactions are resolved. These performed interactions between the players’ and the gamemaster’s characters take place during individual sessions that, together, form episodes or adventures in the lives of the fictional characters. (Mackay 2001, 4–5)
Der Begriff der Spielgattung wurde entgegen dem in der Computerspielforschung präsenten Begriff des Genres gewählt (vgl. u. a. Beil 2015), da nach Mundhenke (2018, 12) Gattungen vor allem nach der Repräsentation und der Rezeption, genauer nach dem Wie des Weltbezugs und der Rezeption fragen. Eine Spielgattung umfasst somit eher formale Kriterien und weniger inhaltlich fixierte Kategorien wie Figurenbestände, Erzählsituationen oder bestimmte Anordnungen. Dieser Gattungsvorstellung folgt auch Ascher (2021, 17), die das Rollenspiel als Form betrachtet, „ein Set an Konventionen, Regeln und (Spiel-)Mechaniken – […] die mit beliebigem Inhalt (Fantasy, Science-Fiction etc.) gefüllt werden kann“.
2.2 Das Rollenspiel als Spielgattung
27
Mackay sieht als übergreifende ludische Strukturmerkmale vor allem ein „set of quantified rules“ sowie eine Gruppe Partizipierender, die sich in Spielende und „game master“ (Spielleiter/-in) unterteilt. Auf eine ähnliche Zweitteilung verweisen auch Hitchens und Drachen, die mindestens einer, aber nicht allen Personen aus dem Kreis der Partizipierenden eine mögliche Spielleitungsrolle zugestehen (vgl. Hitchens und Drachen 2009, 16). Die Spielenden nehmen im Rollenspiel die Rolle fiktiver Figuren („fictional characters“) ein. Als kommunikative Artefakte entstehen sie „durch die intersubjektive Konstruktion von Figurenvorstellungen auf der Grundlage fiktionaler Texte“ (Eder 2008a, 68) im Rahmen kommunikativen Handelns. Figuren in digitalen und analogen Spielen lassen sich jedoch nicht nur als fiktive Entitäten, sondern genauso als Spielelemente auffassen und entwickeln somit ein komplexes Zusammenspiel unterschiedlicher Funktionen und Bedeutungen. Die Computerspielforschung begreift die Figurenrepräsentation daher als dreigliedrige Konstrukte: Als Teil einer Erzählung werden Spielfiguren als fiktive Wesen verstanden, die sich durch verschiedene körperliche, mentale und soziale Eigenschaften auszeichnen. Als Teil einer Simulation fungieren Figuren als Spielelemente, denen spezifische ludische Funktionen und Eigenschaften zugeschrieben werden (vgl. Thon und Schröter 2014, 48). Im Computerspiel treten sie häufig als Schnittstelle auf, die es Spielenden erlaubt, mit der Spielwelt zu interagieren sowie Spielziele zu erreichen. Schließlich lassen sich Figuren in Spielen auch als kommunikative Darstellungen begreifen, also als Formen der Selbstrepräsentation in möglichen sozialen Räumen, die ein Spiel eröffnet, wie es zum Beispiel im Rahmen eines Multiplayerspiels der Fall ist (vgl. Thon und Schröter 2014, 48). Für die Gattung des Rollenspiels scheint gerade diese kommunikative Ebene von Bedeutung, da nach der Definition Mackays Spiele dieser Gattung als Gesellschaftsspiele konzipiert sind. Gerade in solchen Spielen, in denen Figuren durch die Stimme und/oder den Körper der Spielenden repräsentiert werden, entsteht eine symbiotische Relation zwischen fiktiver Figur und Selbstrepräsentation des/der Spielenden, die durch soziale Faktoren gerahmt ist (vgl. Bowman und Schrier 2018, 401–402). Wenngleich sich die Typologie der drei Repräsentationsebenen, die Thon und Schröter (2014) am Beispiel digitaler Spiele entwickelt haben, auch auf analoge Spiele übertragen lässt, erscheint es relevant, den ebenfalls von der Computerspielforschung entwickelten Avatar-Begriff zu beleuchten, in dem diese Ebenen der Repräsentation zusammenlaufen. Denn sofern man diesen Begriff auch für analoge Rollenspiele nutzbar machen will, wie es beispielsweise Flöter (2017; 2018) am Gegenstand des Pen-and-Paper-Rollenspiels tut, müssen Definitionen, die Avatare als „grafische[n] Stellvertreter“ (Beil 2012, 11) von Spielenden sehen, in Bezug auf die unterschiedlichen medialen Ausdrucksformen der Spielgattung verworfen werden. Denkbarer wäre es in diesem Fall, Avatare in Anlehnung an
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Alison McMahan (2003, 74) als „textual or graphic representations“ zu verstehen, wobei der Textbegriff insofern erweitert werden muss, als er auch die performative Darstellung von Figuren während Rollenspielveranstaltungen miteinschließt (vgl. Torner und Jara 2018, 270; vgl. Kap. 4.2.2). Während ein Teil der Spielenden die Rolle von Figuren übernimmt, treten einzelne Spielende in die Rolle der Spielleitung. Eine spielleitende Person verwaltet die Spielregeln und entscheidet nach Mackays Definition ebenso, wie die spontanen Interaktionen der von den anderen Spielenden gespielten fiktiven Charaktere aufgelöst werden. Den Spielleitenden steht somit innerhalb des fiktionalen makebelieve eine Sonderrolle zu, die festlegt, „what is fictionally or make-believedly the case“ (vgl. Dadlez 2015, 311–312). Auf diese strukturelle Zweiteilung des Rollenspiels als Spielgattung verweisen ebenfalls Deterding und Zagal: Role-playing games is a word used by multiple social groups to refer to multiple forms and styles of play activities and objects revolving around the rule-structured creation and enactment of characters in a fictional world. Players usually individually create, enact, and govern the actions of characters, defining and pursuing their own goals, with great choice in what actions they can attempt. The game world usually follows some genre fiction theme and is managed by a human referee or computer. There are often rules for character progression, tasks, and combat resolution. (Deterding und Zagal 2018a, 46)
Unterschiede in dieser Definition liegen zunächst in der Ausfüllung der Rolle der Spielleitenden: Während Mackays Definitionsansatz das Rollenspiel als eine aus menschlicher Interaktion bestehende Aktivität kennzeichnet, erweitern Deterding und Zagal die Dimension der Spielgattung auf den digitalen Bereich, indem sie auch Computern die Rolle als Spielleiter zugestehen und somit das Computerspielgenre des Rollenspiels im Spektrum dieser Gattung verorten. Im Gegensatz zur vorangegangenen Definition verzichten Deterding und Zagal jedoch darauf, der Gattung explizit die Erzeugung von Narration zuzuschreiben, wie es Mackay tut, indem er das Rollenspiels als „story-creation system“ klassifiziert. Hiermit wird vornehmlich dem besonderen Status des Rollenspiels als make-believe Rechnung getragen: Während fiktional-darstellendes Erzählen grundsätzlich als makebelieve identifiziert werden kann, in dem Rezipierende so tun, als ob der von dem oder der Autor/-in verfasste Text der Diskurs einer fiktiven Erzählinstanz ist, der Grundlage für eine imaginative Rezeptionstätigkeit bietet (vgl. Ryan 2010, 13), können im rollenspielerischen make-believe lediglich das Potenzial zur narrativen Rezeption aktiviert und die Handlungen aus narrativer Perspektive interpretiert werden. Spielen der Gattung Rollenspiel kann durchaus zugerechnet werden, eine fiktive Welt als übergreifendes Strukturelement zu erzeugen, deren Interpretation als narrative Darstellung jedoch vornehmlich (je nach individueller Spielform) durch medieneigene, implizite und explizite Rezeptionsanweisungen sowie
2.2 Das Rollenspiel als Spielgattung
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eine individuelle Rezeptionshaltung gesteuert wird. Damit soll Mackays Definitionsansatz nicht verworfen, sondern dahingehend modifiziert werden, dass die Spielgattung Rollenspiel neben dem notwendigen Strukturmerkmal, eine fiktive Welt zu konstruieren, die Handlungen in dieser Welt in eine Narration zu überführen ermöglicht.7 Vertreter der Gattung Rollenspiel besitzen darüber hinaus unterschiedliche Potenziale, die imaginative Aktivität des Rollenspiels zu realisieren, was neben der individuellen Rezeptionshaltung der Beteiligten vor allem durch die medialen und konfigurativen Eigenschaften der jeweiligen Spiele bedingt ist. Hitchens und Drachen (2009, 16) sehen die Interaktionsmöglichkeiten der gespielten Figur in einem Spektrum zwischen konfigurativer und interpretativer Involvierung, die durch die Handlungsoptionen mit der Spielwelt geschaffen wird. Greg Costikyan (2011, 191) beschreibt diese konfigurativen Handlungsoptionen als Grade der Improvisation, wobei sich vor allem Spiele mit einer höheren Improvisationsmöglichkeit Formen der Theatralität annähern. Zu diesen zählen Formen des Live Action Role-Playing Games (Larp), wie das dem skandinavischen Raum entstammende Nordic Larp, in dem die Beteiligten körperlich schauspielernd agieren und durch wenige Regelund Spielmechaniken eingeschränkt sind (vgl. Harviainen et al. 2018, 98–99). Darüber hinaus sind Free-Form (vgl. Costikyan 2007, 12) oder Systemless (vgl. Hitchens und Drachen 2009, 10) Role-Playing Games zu nennen, in denen ebenfalls keine formalen Regelsysteme existieren, sondern lediglich unterschiedliche Formen der Autoritätsverteilung innerhalb der Spielgruppe vorherrschen, welche die Ratifizierung der fiktionalen Sprechakte regeln. Am anderen Ende des Spektrums konfiguraler Optionalität und daraus resultierender Improvisationsmöglichkeiten stehen die Computer-Rollenspiele, besonders ihre Singleplayer-Versionen, in denen Spielende in einem vergleichsweise engen vordefinierten Rahmen agieren. Dieser Rahmen wird durch das substrukturell konzipierte Regelsystem des Spiels definiert, das sowohl Spiel- als auch Darstellungsregeln impliziert. Der Computer als spielleitende Instanz berechnet die im Spielprozess getroffenen Entscheidungen auf Basis der vordefinierten Regeln und präsentiert Spielenden das Ergebnis als eine Veränderung innerhalb der fiktiven Spielwelt. Computerspielwelten lassen sich nach Markus Engelns (2014, 109) in interaktive und simulierte Welten einteilen: Simulierte Welten entstehen aufgrund einer unmittelbaren Ergebnisberechnung der getroffenen Entscheidungen der Spielenden direkt im Spielprozess, interaktive Welten präsentieren lediglich vorgefertigte Handlungsoptionen, für
Da Mackay sich nur begrenzt zum Narrationsbegriff äußert, den er in seiner Definition von „story-creation system“ heranzieht, ist es nötig, ihn durch eine erzähltheoretische Fundierung stärker zu kontextualisieren. Dies soll in Kapitel 3.1.3 geschehen.
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die sich entschieden werden muss, um im Spiel voranzuschreiten. Als Beispiel für die letztgenannte Spielform seien die frühen Rollenspiel-Textadventures genannt, in denen Spielende nur durch die Eingabe vordefinierter Handlungsmöglichkeiten das Spiel fortsetzen konnten. Textadventures lassen sich als hypertextuelle Narrationen beschreiben, in denen Spielenden Räume und Gegebenheiten mittels kleinerer geschriebener Textbausteine präsentiert werden. Mithilfe von Eingabebefehlen, die im Computer durch einen linguistischen Parser interpretiert werden, kann eine Entscheidung getroffen und durch die verschiedenen Räumlichkeiten navigiert werden (vgl. Aarseth 1997, 100). Derartige Textadventures evozieren eine Nähe zu einer Grenzform der Gattung, den Rollenspiel-Spielebüchern, die aus einem in gedruckter Form vorliegenden Hypertext sowie einem integrierbaren Regelsystem zur Konfliktresolution und Charaktergenerierung bestehen (vgl. Zagal und Lewis 2015, 2). Auch hier werden den Spielenden kleinere Textabschnitte präsentiert, an deren Ende Entscheidungen über den Fortgang der Narration getroffen werden können. Je nach gewählter Entscheidung müssen die Spielenden auf eine vorgegebene Buchseite weiterblättern, auf der sich ein weiterer Textabschnitt befindet, der an den vorangegangenen anschließt. Als Grenzform erscheinen diese Spielebücher insofern, als sie keine spielleitende Instanz innehaben, die überwacht, ob die Regeln befolgt werden, und auf die Entscheidungen des/der Spielenden reagiert. Rezipierende müssen folglich diese Rolle selbst übernehmen und neben dem Befolgen der Regeln den Zugriff auf alle Ergebnisse potenzieller Handlungsoptionen begrenzen, indem sie strikt der vorgegebenen, nicht-linearen Struktur des Spielebuches folgen. Dessen ungeachtet weisen derartige Spielebücher und Rollenspiel-Textadventures ein hohes narratives Potenzial auf, da Rezipierende hypertextuelle Verknüpfungshandlungen bestimmter narrativer Textpassagen leisten. Eine weitere Variante der Computer-Rollenspiele stellen Mehrspielervarianten wie Massively Multiplayer Online Role-Playing Games (MMORPGs) dar, die in ihrer strukturellen Gestaltung den Singleplayer-Rollenspielen ähneln, jedoch aufgrund der Beteiligung mehrerer Spielender, die sich in einer auf einem OnlineServer verorteten Spielwelt begegnen, in den Potenzialen unterscheiden, wie die Aktivität des Rollenspiels realisiert wird: Auf sogenannten RPG-Servern wird von Teilnehmenden gefordert, mit anderen Spielenden mittels einer Chat-Funktion im make-believe zu interagieren. Derartige Praktiken zeigen, dass eine narrative Erfahrung nicht allein auf Spielebene geschaffen, sondern auch innerhalb der Kommunikation zwischen den Beteiligten erzeugt werden kann. Das Pen-and-Paper-Rollenspiel ordnet sich in der Mitte des vorgestellten Spektrums zwischen ludus und paidia und der damit einhergehenden konfigurativen Optionalität innerhalb der Spielgattung Rollenspiel ein und bildet den historischen Ausgangspunkt für alle der Gattung zugehörigen Varianten.
2.3 Das Pen-and-Paper-Rollenspiel
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2.3 Das Pen-and-Paper-Rollenspiel „Für eine grundsätzliche Orientierung im Themenbereich Rollenspiel ist wichtig, dieses in allen seinen Erscheinungsformen zunächst als Medium zu begreifen“, eröffnet Flöter (2018, 4) ihre Diskussion des Begriffs Rollenspiel. Wie bereits geklärt wurde, lässt sich das Rollenspiel einerseits als Haltung gegenüber fiktionalen Gegenständen sowie andererseits als Spielgattung begreifen. Bedeutet dies, dass zumindest die Spielform des Pen-and-Paper-Rollenspiels als Medium identifiziert werden kann? In Anlehnung an Mackays Definition der Spielgattung Rollenspiel beschreibt Jennifer Grouling Cover das Pen-and-Paper-Rollenspiel als a type of game/game system that involves collaboration between a small group of players and a gamemaster through face-to-face social activity with the purpose of creating a narrative experience. By game/game system I wish to convey the importance of the system of rules behind a TRPG. (Grouling Cover 2010, 168)
Drei entscheidende Größen kennzeichnen diesen definitorischen Ansatz: Erstens das Vorhandensein eines formalen Spielsystems, zweitens eine interaktive Komponente, die in der „face-to-face social activity“ aus kommunikativen Handlungen besteht und durch das Regelsystem gerahmt ist, sowie drittens das Ziel der Erzeugung einer narrativen Erfahrung. Im Zusammenspiel aus Regelsystem und Interaktivität ergibt sich weiterhin die Notwendigkeit der Kollaboration zwischen den Beteiligten sowie eine gattungstypische Festlegung einer spielleitenden Person, deren zentrale Aufgabe es nach Regine Herbrik ist, durch geschickte Lenkung der Narration und durch wechselnde Übernahme derjenigen Figuren der Geschichte, die nicht von einem Spieler geführt werden, die Motivation der Spieler (zum Beispiel durch enigmatische Elemente) aufrecht zu erhalten, als Moderator die Redezüge der Teilnehmer zu koordinieren und als Übersetzer zwischen den einzelnen Perspektiven der Figuren zu vermitteln. (Herbrik 2011, 21)
Eine weitere Eigenschaft, die sich aus dem Zusammenspiel von Regelsystem und Interaktivität ergibt, lässt sich als Prozessualität beschreiben, die sich ebenso in den kommunikativen Aushandlungsprozessen in der Gruppe der Beteiligten manifestiert (vgl. Walter 2014, 186). Prozessualität kommt im Sinne Niklas Luhmanns zustande, wenn „konkrete selektive Ereignisse zeitlich aufeinander aufbauen, aneinander anschließen, also vorherige Selektionen bzw. zu erwartende Selektionen als Selektionsprämisse in die Einzelselektion einbauen“ (Luhmann 1987, 74). Die im Rollenspiel stattfindenden ludischen und kommunikativen Prozesse sind folglich als sequenzielle Operationen zu verstehen, die aufeinander aufbauen und in Beziehung zueinander treten. Ian Bogost (2006, 3) sieht diese Prozessuali-
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2 Mindset, Gattung, Medium?
tät (procedurality) als Eigenschaft kultureller Artefakte die auf sogenannte unit operations setzen, „modes of meaning-making that privilege discrete, disconnected actions over deterministic, progressive systems“.8 Als Beispiel für die kommunikative Prozessualität kann ein nach White et al. (vgl. 2018, 65–66) exemplifizierter Verlauf angeführt werden: Innerhalb der Kommunikation des Pen-and-Paper-Rollenspiels werden i. bestimmte Ereignisse, Geschehnisse und Umstände innerhalb der fiktiven Welt als wahr deklariert, ii. Konflikte oder Uneinigkeiten gelöst, die diese Wahrheiten betreffen und iii. somit ein unter den Partizipierenden möglichst widerspruchsfreies Verständnis über die fiktive Welt aufrechterhalten. Spielleitende besitzen in diesem Prozess folglich eine Revisionsfunktion, d. h. sie prüfen und verifizieren die Aussagen der anderen Beteiligten basierend auf dem fiktionalen und ludischen Regelsystem (vgl. Dadlez 2015, 312). Im Rahmen dieser kommunikativen Prozessualität spielen die von den anderen Beteiligten geführten Figuren eine Rolle, eine die Spielgattung kennzeichnende Komponente, die Grouling Cover in ihrem Definitionsansatz unterschlägt: Players typically each create and then control a fictional character within a shared fictional game world, maintaining character information (possessions, specific abilities, etc.) on a piece of paper commonly called a character sheet. Player characters’ abilities are generally quantified (e.g. strength is 15, driving skill is 12). […] Players verbally describe what they want their characters to do, and the referee tells them the results of those actions – typically using a combination of improvisation and the game’s rules, where dice are often used to determine the outcome of certain actions. (Deterding und Zagal 2018a, 27)
Die von Deterding und Zagal adressierten Spielregeln verdeutlichen die Verbindung zwischen der kommunikativ-prozessualen und der ludisch-prozessualen Ebene, die gleichzeitig durch eine materielle Komponente, wie beispielsweise Würfel, Spielkarten oder Wahrscheinlichkeits- und Punktetabellen, gekennzeichnet ist. Die „narrative experience“ (Grouling Cover 2010, 168) ergibt sich folglich aus dem Resultat der (fiktionalen) kommunikativen sowie ludischen Prozesse, die Bogost (2006, 9) versteht dabei jedes Medium als mehr oder weniger konfiguratives System, das aus einem Arrangement ineinandergreifender unit operations besteht. Jedoch setzen sich unit operations nicht nur aus den formalen Eigenschaften eines Artefaktes zusammen, sondern umfassen ebenso Prozesse der interaktiven Bedeutungsgenerierung. Somit wählt Bogost (2006, 14) einen deutlich offeneren Zugang als beispielsweise Espen Aarseth (2001), der mit seinem Konzept des Cybertextes vor allem spezifische mediale Systeme beschreibt, die konfigurale Eigenschaften besitzen und die Rezipierenden zum Handeln anregen. Mit seinem Konzept der Ergodizität, die in Kapitel 3 genauer beleuchtet werden soll, beschreibt Aarseth eine zentrale konfigurale Eigenschaft ludischer Systeme.
2.3 Das Pen-and-Paper-Rollenspiel
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innerhalb der Interaktion zwischen den Beteiligten untereinander und innerhalb des Spielsystems aktiviert werden. Geben Prozessualität sowie das Vorhandensein eines Spielsystems und einer möglichen fiktional-narrativen Deutungsebene nun einen Hinweis auf die Medialität des Pen-and-Paper-Rollenspiels? Folgt man einer vornehmlich technisch-materiell orientierten Mediendefinition, lässt sich alleinig festhalten, dass Pen-and-Paper-Rollenspiele den Primärmedien (vgl. Pross 1972, 10–11) zugerechnet werden, die keiner technischen Hilfsmittel zur Übertragung bedürfen und gleichzeitig trotz einer Verarbeitungsfunktion keinerlei Möglichkeit zur Speicherung ihrer Inhalte besitzen (vgl. Kittler 1993, 8). Gerade für einen erzähltheoretischen und literaturdidaktischen Zugang erscheint ein derartiger Medialitätsbegriff als nicht ausreichend, da eine technisch-materielle Komponente wenig Auskunft über die transportierten Botschaften und Inhalte gibt und zugleich das mündliche Erzählen, das aufgrund seiner Unmittelbarkeit keine technologische Unterstützung benötigt, im Rahmen einer narratologischen Mediendefinition berücksichtigt werden muss (vgl. Ryan 2014, 28). Wie Booth (2021, 9) konstatiert, kommen analoge Spiele erst zustande, wenn menschliche Spielende mit ihren Spielmaterialien interagieren, was ebenfalls für eine Definition des medialen Status des Pen-andPaper-Rollenspiels berücksichtigt werden muss. Neben der technologischen Komponente integrieren multidimensionale Mediendefinitionen (vgl. Thon 2016, 41) eine kommunikative und eine kulturelle Ebene (vgl. Rajewsky 2002, 7; Schmidt 2008, 149). Die kulturelle Dimension umfasst dabei vor allem die Abgrenzbarkeit verschiedener Medien. Medienspezifika unterliegen einem historischem Wandel und beruhen in erster Linie auf Konventionen (vgl. Thon 2016, 43), wobei sich distinktive Medieneigenschaften immer im Zusammenspiel mit anderen Medien konstituieren (vgl. Rajewsky 2002, 35). Dies führt dazu, dass bestimmte Medien sowohl technisch-materielle als auch semiotische Eigenschaften teilen können, jedoch von einer Kultur als unterschiedlich bezeichnet werden (vgl. Ryan 2006, 23–24). Aus kommunikativer Perspektive stellen Medien semiotische Systeme dar, die ihre Nachrichten über verschiedene Ausdruckskanäle transportieren (vgl. Thon 2016, 42), wobei konventionell zwischen sprachlichen, visuellen und auditiven Zeichen differenziert wird (vgl. Schmidt 2008, 144). Insbesondere diese Dimension wurde von der Narratologie aufgegriffen und erweitert. Ryan (2006, 26) verweist in diesem Kontext auf vier Kategorien, die narrative Medien klassifizierbar machen: Die raum-zeitliche Ausdehnung, die kinetischen Eigenschaften, also die Statik und Dynamik des narrativen Textes, die Zahl semiotischer Ausdruckskanäle, die zur Narration beitragen können, sowie die Priorität der semiotischen Ausdruckskanäle. Mit dieser Taxonomie kann für das Pen-and-Paper-Rollenspiel in semiotischkommunikativer Hinsicht festgehalten werden, dass es gemäß seiner Prozessua-
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2 Mindset, Gattung, Medium?
lität eine temporale Ausdehnung besitzt, eine Narration sich also erst im Vollzug dynamisch entwickelt. Der priorisierte Ausdruckskanal ist dabei die gesprochene Sprache, es können jedoch auch andere semiotische Kanäle verwendet werden, so beispielsweise geschriebene Sprache sowie visuelle, auditiv-musikalische, olfaktorische und gustatorische Zeichen (vgl. Walter 2014, 186). Aufgrund der Unmittelbarkeit der Vermittlung und der Notwendigkeit des Handelns menschlicher Akteur/-innen lassen sich Parallelen im Medialitätsverständnis zwischen Pen-and-Paper-Rollenspiel und dem Theater ausmachen. Auch im Falle des Theaters kann man zwischen einer fest umrissenen Kunstform und einem weit gefassten „Modell von Wirklichkeitserfahrung […], das nicht nur der Kunst, sondern auch anderen Bereichen der Kultur zugrunde liegt“ (Friedrich und Kramer 2008, 67), differenzieren. Geht es in der Theaternarratologie um die Frage der Medialität, wird sich weniger für einen technisch-materiell definierten, sondern vermehrt für einen weit gefassten kommunikativ-semiotischen Ansatz entschieden, in dem das Theater als kognitiver „frame of reference“ (Horstmann 2018b, 41–42) angesehen wird, der durch den spezifischen Gebrauch bestimmter semiotischer Systeme gekennzeichnet ist.9 Dabei kann nach Sabine Friedrich und Kirsten Kramer (2008, 71) Theatralität als komplexes mediales Dispositiv verstanden werden, „als relationales Gefüge […], wobei sich je nach historischem und kulturellem Kontext unterschiedliche Relationierungen der Teilaspekte ergeben“. In diesem Sinne soll das Pen-and-Paper-Rollenspiel ebenso als mediales Dispositiv identifiziert werden, das sich aus den Teilaspekten des regelbasierten Spiels und einer bisher noch nicht näher definierten fiktional-narrativen Komponente zusammensetzt, die im Rahmen kommunikativer und ludischer Prozessualität in ein Verhältnis gebracht werden. Es können unterschiedliche Relationierungen zwischen diesen Teilaspekten existieren, die je nach kulturellem, historischem, aber auch sozialem Kontext differieren und durch die materiellen Gegebenheiten und die damit zusammenhängenden medialen Praktiken beeinflusst werden. Um sich den narrativen Potenzialen des Pen-and-Paper-Rollenspiels analytisch zu nähern, gilt es zu beachten, dass sich die sinnstiftenden ludischen und kommunikativen Prozesse wechselseitig bedingen und aufeinander aufbauen. Es ist folglich nötig, beide Prozessformen zu betrachten, um Aufschluss über verschiedene narrative Strategien und Strukturierungen zu erhalten. Um sich mit den ludischen Elementen des Rollenspiels zu beschäftigen, ist ein geeigneter narratologischer Zugang erforderlich, der im Folgenden innerhalb der ludisch-prozessualen Modellbildung entwickelt werden soll.
Diesen Ansatz deutet auch Grouling Cover (2010, 55) an, indem sie das Pen-and-Paper-Rollenspiel als „medium in that it is a tool for creating and telling stories“ definiert.
3 Ludische Prozessualität im Pen-and-PaperRollenspiel Da Pen-and-Paper-Rollenspielen seitens der Forschung die Möglichkeit zugerechnet wird, narrative Darstellungen zu erzeugen, ist es bedeutsam, die gattungskennzeichnenden ludischen Elemente zu betrachten und ihre Rolle bei der Konstruktion einer narrativen Darstellung zu präzisieren. Dass Rollenspiele gänzlich unterschiedliche Strategien des Erzählens nutzen, zeigt ein flüchtiger Blick auf die einzelnen Gegenstände: Spielebücher, denen gemeinhin eine narrative Gestaltung attestiert wird (vgl. Meifert-Menhard 2013, 49; Zagal und Lewis 2015, 2), orientieren sich deutlich an schriftlich-literarischen Erzählstrategien und reduzieren die ludischen Elemente auf einzelne Situationen, in denen Rezipierende Entscheidungen treffen oder Spielmechaniken abhandeln müssen. Viele MMORPGs integrieren hingegen nach dem Vorbild anderer Computerspiele narrative Ereignisdarstellungen (vgl. Thon 2015, 113–114), die jedoch je nach Spielpräferenz von den Spielenden auch ignoriert werden können. Dies passiert besonders dann, wenn man derartige Spiele kompetitiv spielen möchte und deshalb stärker die strategischen Elemente des Spiels als seine fiktiven Bestandteile fokussiert (vgl. Mäyrä 2017, 282). Für eine Narratologie des Pen-and-Paper-Rollenspiels ergibt sich das Problem, dass das Verhältnis von Spiel und Erzählung erst während der Spielsitzung selbst von den Teilnehmenden konstituiert wird, nämlich im Rahmen der kommunikativen und ludischen Prozesse, die von ihnen vollzogen werden. Die Auseinandersetzung mit den ludischen Prozessen und ihrem Einfluss auf das Erzählen muss sich daher folgenden Herausforderungen stellen: Zum einen muss ein geeigneter erzähltheoretischer Zugang gefunden werden, um das Verhältnis von Erzählung und Spiel näher beschreiben zu können. Dies wird in Kapitel 3.1 geleistet, in dem verschiedene Diskurse betrachtet werden, die dieses Verhältnis thematisieren, um herauszuarbeiten, welche Bedingungen ein solcher narratologischer Zugang erfüllen muss, wenn er die strukturellen Eigenschaften von Spielen im Allgemeinen und von Pen-and-Paper-Rollenspielen im Speziellen adäquat abbilden möchte. Hierauf aufbauend sollen in Kapitel 3.2 etablierte narratologische Zugänge aufgegriffen, geprüft und modifiziert werden, um ein ludonarratologisches Strukturmodell für das Pen-and-Paper-Rollenspiel zu entwickeln, das vor allem die ludischen Prozesse betrachtet, die für die narrative Darstellung von zentraler Bedeutung sind.
https://doi.org/10.1515/9783110788983-003
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3 Ludische Prozessualität im Pen-and-Paper-Rollenspiel
3.1 Spiele im Spiegel erzähltheoretischer Konzepte Das zu Beginn skizzierte Beispiel, welches das diverse Verhältnis von Spiel und Erzählung in verschiedenen ludischen Formen des Rollenspiels herausstellt, verweist auf eine allgemeine Grundsatzdiskussion, die die narratologische Beschäftigung mit Spielen begleitet. Dieser Konflikt, der sich zentral im erzähltheoretischen Diskurs über Computerspiele manifestiert, stellt die Frage und die Forderung nach geeigneten Zugängen, die die strukturellen Eigenschaften sowie den Umgang mit Spielen berücksichtigen. Argumentationslinien dieses Diskurses sollen im Folgenden rekapituliert werden, um die spezifischen Herausforderungen, die das Verhältnis von Spiel und Erzählung mit sich bringt, klar zu benennen. Da er sich vornehmlich im Bereich der digitalen Spiele verortet, sollen überdies Diskurse der Fankultur des Pen-and-Paper-Rollenspiels miteinbezogen werden, um weitere zentrale Eigenschaften zu eruieren, die den Vollzug des Spiels bedingen. Diese Eigenschaften und Herausforderungen werden anschließend zusammengeführt und dienen als Ausgangspunkt für die Entwicklung eines geeigneten narratologischen Zugangs.
3.1.1 Rollenspiele in den Spieldefinitionen der frühen Game Studies In der Computerspielforschung ist nicht selten von einer „Gründungsdiskussion“ (Hennig 2017, 28) im Feld der sich um die Jahrtausendwende etablierenden Game Studies die Rede, gekennzeichnet durch zwei Positionen, die sich bezüglich der Frage nach der spiel- und erzählstrukturellen Anlage des Computerspiels entgegenstehen. Während die narratologische Position die Relevanz narrativer Strukturen in Computerspielen betont und somit für einen erzähltheoretischen Analyseansatz plädiert, erkennt die sogenannte ludologische Position einen signifikanten Unterschied zwischen Spielen und anderen (narrativ-darstellenden) Medien, der unter anderem das Spannungsfeld von aktivem Spielen und passivem Rezipieren betrifft. Sie sieht das Feld der Game Studies als eine „independent academic structure“ (Aarseth 2001), die Computerspiele im Rekurs auf kulturwissenschaftliche Theoretiker wie Roger Caillois (1982) und Johan Huizinga (1987 [1956]) auf ihre formalen ludischen Qualitäten hin untersucht. Die Ludologie attestiert dem Spielen ein Potenzial zur Simulation, die zwar aufgrund der Integration spezifischer struktureller Elemente, wie zum Beispiel Figuren, Ereignissen und Welten, Ähnlichkeiten mit narrativen Darstellungen aufweise, jedoch eine „alternative semiotic structure“ (Frasca 2003, 221–222) abbilde. Gonzalo Frasca (2003, 223–224) grenzt in diesem Kontext den Simulationsbegriff deutlich von traditionellen medialen Darstellungen ab und charakterisiert Computerspiele als Maschinen, die auf Basis von Regeln Zeichen generieren, um bestimmte Zustände zu modellieren. Simulationen besitzen
3.1 Spiele im Spiegel erzähltheoretischer Konzepte
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demnach die Fähigkeit, ein Ursprungssystem durch ein anderes System abzubilden, was auf der Berechnung „von Ereignissen und Gegenständen nach vorgegebenen mathematischen Regelwerken“ (Engelns 2014, 112–113) beruht. Obwohl die Ludologie dagegen argumentiert, Computerspiele mit narrativen Darstellungen gleichzusetzen (vgl. Juul 1998), negieren einige ihrer Vertreter/-innen nicht, dass Spiele narrative Elemente in sich tragen können. Dennoch folgen einige Positionen innerhalb der Game Studies der Ansicht, dass das Erzählen nicht das zentrale Merkmal sei, sondern eine optionale Eigenschaft darstelle (vgl. Eskelinen 2001; Frasca 2003, 222). Neben einer teils fragwürdigen Auffassung von Narrativität fallen hier ebenfalls normative Argumentationstendenzen ins Auge, die die Frage nach der Qualität von narrativen Darstellungen in Computerspielen stellen und sich nicht selten mit deskriptiven Position vermischen (vgl. Aarseth 2012, 130). Neuere Ansätze, die sich mit der Aufarbeitung dieser Diskurse beschäftigen, sehen den Konflikt zwischen Narratologie und Ludologie vornehmlich als Gründungsmythos an (vgl. Aarseth 2019), der zwei zentrale Anliegen des sich etablierenden Feldes der Game Studies nur oberflächlich tangiert: Einerseits verdeutlichen die frühen Beiträge der Game Studies das wissenschaftspolitische Bestreben, ein eigenständiges Forschungsgebiet zu etablieren und sich von anderen (Teil-)Gebieten zugunsten finanzieller Förderungschancen und eigens geschaffener Stellen zu emanzipieren (vgl. Thon 2015, 113). Andererseits äußern sie die teils nicht unbegründete Kritik an der unreflektierten Übertragung narratologischer Kategorien auf das Spiel und die damit einhergehende Gefahr, dass andere konstitutive Elemente ausgeblendet werden (vgl. Aarseth 2012, 129; Engelns 2014, 23).1 Als Reaktion auf das letztgenannte Anliegen entwickelten sich ab den frühen 2000er Jahren vermittelnde narratologische Ansätze, die sowohl die spiel- als auch die erzählstrukturellen Elemente sowie deren Verhältnis zueinander betrachten. Die generelle Auffassung dieser Ansätze bestätigt die Einwände der Ludologie, dass klassische narratologische Theorien, wie sie beispielsweise vom französischen Strukturalismus für die Literatur entwickelt wurden, der spezifischen Medialität von Spielen nicht gerecht werden (vgl. Ryan 2006, 97). Gleichzeitig argumentieren sie jedoch gegen die verbreitete Praxis ludologischer Beiträge, Computerspiele gegen ‚traditionelle‘ Medien wie Film und Literatur abzugrenzen. Diese Abgrenzung liegt vor allem darin begründet, dass Erzählen in vielen anderen Kontexten präsent ist (vgl. Ryan 2006, 187–188), und somit der von Juul (2001) proklamierte Einwand, dass beispielsweise filmische Erzählungen nicht ohne Probleme auf
Dies betrifft ebenso die Kritik am Nutzen einer Analyse, die weniger die struktural präsenten Elemente einer Narration in Spielen betrachtet, als vielmehr die eigene, narrativierte Interpretation des Spielverlaufs darlegt; laut Aarseth (2004, 365) ein „intellectual waste of time“.
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3 Ludische Prozessualität im Pen-and-Paper-Rollenspiel
Spiele übertragen werden können, generell für den Transfer von Narration von einem Medium auf das andere gelte (vgl. Jenkins 2004, 6). Weiterhin betont unter anderem Henry Jenkins (2004, 3), dass es bei einer narratologischen Betrachtung von (Computer-)Spielen nicht darum gehe, sie in Gänze als Narration zu begreifen, sondern nach narrativen Elementen auf örtlich beschränkter Ebene zu fahnden. Neben der Etablierung des eigenen Forschungsfeldes bestand ein Desiderat der frühen Game Studies darin, den Forschungsgegenstand definitorisch näher zu bestimmen. Frühe Ansätze knüpfen durch die Entwicklung formal-deskriptiver Spieldefinitionen an die kulturwissenschaftlich orientierten Theorien Caillois’ (1982) und Huizingas (1987 [1956]) an. Sie richten sich vornehmlich auf das Computerspiel und berücksichtigen analoge Spiele, so auch Pen-and-Paper-Rollenspiele, nur begrenzt. Mit seinem Classic Game Model entwickelt Juul (2003; 2005) eine medienunabhängige Definition des Spiels: A game is a rule-based formal system with a variable and quantifiable outcome, where different outcomes are assigned different values, the player exerts effort in order to influence the outcome, the player feels attached to the outcome, and the consequences of the activity are optional and negotiable (Juul 2003, 35).
In ähnlicher Weise verfahren auch Katie Salen und Eric Zimmerman (2004, 80), die das Spiel im Sinne Caillois’ als geschlossenes System bezeichnen, in dem Spielende in einen künstlich erschaffenen Konflikt geraten, der durch eine Regelstruktur gerahmt ist und in einem quantifizierbaren Ergebnis endet. Beiden Ansätzen ist gemein, dass sie das Pen-and-Paper-Rollenspiel – anders als Spiele, die unter diese allgemeine Definition fallen – als Grenzfall betrachten, der nicht gänzlich durch diese formalen Definitionen abgebildet wird: So betonen Salen und Zimmerman (2004, 81), dass Rollenspiele kein quantifizierbares Endergebnis lieferten, weil Spiele dieser Gattung im Prinzip unendlich fortsetzbar seien. Juul (2005, 43) merkt an, dass die Regeln des Rollenspiels nicht festgelegt seien, da eine Spielgruppe diese während des Spielverlaufs beliebig verändern könne. Montola (2012, 51) entgegnet auf die erste Anmerkung, dass nicht nur Pen-and-Paper-Rollenspiele, sondern einige Computerspiele, wie zum Beispiel MMORPGs oder Wirtschaftssimulationen, ebenfalls kein quantifizierbares Endergebnis besäßen, da auch sie unendlich fortführbar seien (vgl. Montola 2012, 113–114).2 Zudem existierten auch im Sport Spielformen, in denen Regeln von menschlichen Schiedsrichter/-innen interpretiert werden müssen, sodass auch hier keine endgültige Aussage über die Kodifizierung
So ist es beispielsweise in der Spielereihe The Sims (Maxis 2000) möglich, das Spiel fortzuführen, auch nachdem der eigens erstellte Charakter sowie seine Familie bereits gestorben sind, indem man neue Bewohner/-innen in das erbaute Haus einziehen lässt.
3.1 Spiele im Spiegel erzähltheoretischer Konzepte
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eines Regelsystems getroffen werden könne. Zu dieser letzten Beobachtung lässt sich anmerken, dass Pen-and-Paper-Rollenspiele nicht selten in ihren Regelwerken betonen, über Regeln zugunsten des Spielspaßes zu verhandeln; insofern werden sie vielfach als Richtlinien vermittelt, was sie in der Tat von streng formalisierten Regelsystemen unterscheidet (vgl. Fine 2002 [1983], 115–116; Flöter 2018, 25). Dass der Vollzug des Pen-and-Paper-Rollenspiels flexibel gestaltet werden kann, stellt eine ludologisch-formale Spieldefinition auf den Prüfstand, worauf auch Juul (2005, 53) verweist. Wie Deterding und Zagal (2018a, 19) akzentuieren, sei es schon allein aufgrund seines bedeutenden Einflusses auf andere Gattungen und Spielformen nicht sinnvoll, das Pen-and-Paper-Rollenspiel gänzlich aus einer Spieldefinition auszuklammern.
3.1.2 Rollenspiel-Fantheorie Während sich die Game Studies vornehmlich auf das Computerspiel konzentrieren und das Pen-and-Paper-Rollenspiel aufgrund der Schwierigkeit, es formal zu beschreiben, allenfalls als Randphänomen ansehen, versucht sich die RollenspielFanszene schon früh daran, Vorgänge und Phänomene zu theoretisieren, die Partizipierende während ihrer Spielsitzungen beobachten. Diese para-akademische (vgl. Torner 2018, 191–192) Forschung etablierte sich, um die eigene Spielerfahrung durch das Modellieren und Testen verschiedener funktionsbasierter Theorien zu verbessern, und profitierte besonders davon, dass schon seit den 1970er Jahren ein enger Dialog zwischen Spielentwickler/-innen und Spielenden stattfand (vgl. Appelcline 2014b [2013], 350). Ähnlich wie in den Ansätzen der ludologischen Position in den Game Studies lassen sich dabei zwei unterschiedliche Diskurstendenzen identifizieren (vgl. Torner 2018, 201–204), von denen die erste durch eine normative und die zweite durch eine deskriptive Perspektive charakterisiert ist: Gerade frühe para-akademische Diskurse zeichnen sich nicht selten durch eine normative Komponente aus (vgl. Pappe 2011, 57), die einerseits die korrekte Interpretation der Regeln betrifft, was ein Zeichen für die Verunsicherung der Teilnehmenden aufgrund der proklamierten Verhandelbarkeit des dargelegten Regelwerkes sein mag. Andererseits wurde die Frage nach dem vermeintlich ‚richtigen‘ Weg Rollenspiele zu spielen gestellt, worauf auch Gary Alan Fine in seiner 1983 erschienenen soziologischen Analyse der US-amerikanischen Rollenspiel-Fanszene verweist: D & D [d.i. Dungeons & Dragons] players can be divided into two groups, those who want to play the games as a game and those who want to play it as a fantasy novel, i. e., direct escapism through abandonment of oneself to the flow of play as opposed to the gamer’s indirect escapism-the clearcut competition and mental exercise any good game offers. (Fine 2002 [1983], 207)
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3 Ludische Prozessualität im Pen-and-Paper-Rollenspiel
Diese von Fine beschriebene Oppositionsbildung verdeutlicht einen normativen Konflikt innerhalb der Fanszene, den Evan Torner (2018, 193) mit Verweis auf John Strang als „role-playing-vs.-roll-playing“-Debatte bezeichnet, also die Frage, ob es im Pen-and-Paper-Rollenspiel darum geht, in der Rolle einer Figur zu spielen oder Handlungen simulativ auszuwürfeln. Durch diese Debatte wird zuallererst ein Bewusstsein für die historischen Vorläufer des Rollenspiels evident, das gleichzeitig Ausdruck der unterschiedlichen Rezeptions- und Spielpräferenzen ist, die mit diesen einhergingen: Das Wargame, das die Entwicklung des Pen-andPaper-Rollenspiels maßgeblich beeinflusste (vgl. Kap. 1.1), favorisiert ein strikt an den Regeln orientiertes Spiel, während durch die mögliche Tätigkeit des makebelieve eher Anknüpfung an künstlerisch-theatrale Vorläufer gefunden wurde.3 Die zweite theoretische Position innerhalb der para-akademischen Diskurse widmet sich ebenfalls diesem Grundkonflikt, entfernt sich aber von einer normativen Ausrichtung und bemüht sich, durch eine deskriptive Herangehensweise Lösungen für derartige Spielpräferenzen zu finden. Genereller Ansatzpunkt ist die Auffassung, dass Spielende mit unterschiedlichen Erwartungshaltungen an das Pen-and-Paper-Rollenspiel herantreten, was sich während des Spiels durch verschiedene Spielstile manifestiert. Auf Basis dieser Beobachtung entwickelten sich innerhalb der Fanszene verschiedene Modelle von Spielertypen, die sich vor allem ab Beginn der 1990er Jahre durch Fanzines sowie Internetforen verbreiteten. Das Threefold-Model, das von den User/-innen eines Usenet-Forums entwickelt wurde, stellt an dieser Stelle einen bedeutenden Ansatz dar, der die Präferenzen von Rollenspielenden in drei Großkategorien einteilt: Laut dem Threefold Model differieren Spielstile zwischen einer dramatistischen,4 einer simulationistischen und einer gamistischen Priorität, wobei Spielende mit erster Präferenz Wert auf eine fesselnde Erzählung legen, die im Laufe des Spiels entfaltet wird. Als simulationistisch lässt sich eine Präferenz beschreiben, die als realistisch empfundene Handlungen in der fiktiven Welt anstrebt, die innerhalb des Gefüges des Beschriebenen nachvollziehbar erscheinen. Eine gamistische Präferenz bezieht sich schließlich auf das Interesse, Herausforderungen zu lösen, beispielsweise Rätsel oder Kämpfe, denen durch strategisches Spiel begegnet wird (vgl. Grouling Cover 2010, 170).
Der Einfluss der Wargames zeigt sich auch in der Rolle der Spielleitenden: Diese agierten in der frühen Entwicklungsphase der Pen-and-Paper-Rollenspiele teils explizit markiert als Schiedsrichter/innen (vgl. Mason 2004, 6), was in stark konkurrenz- oder wettkampfbasierten Spielstilen mündete (vgl. Schmidt 2012, 298). Der Begriff des Dramatischen wird hier nicht in Bezug auf eine literatur- und kulturwissenschaftliche Theoriebildung gebraucht, sondern von der Fankultur als kolloquiale Umschreibung einer Spielerfahrung genutzt, die auf die Rezeption einer spannungsgeladenen Erzählhandlung setzt.
3.1 Spiele im Spiegel erzähltheoretischer Konzepte
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Diese grundlegende Unterscheidung wurde bis um die Jahrtausendwende in verschiedenen Internetforen diskutiert und weitergeführt, wobei sich vor allem auf der Internetseite The Forge,5 die zu großen Teilen von Spielentwickler Ron Edwards verwaltet wurde, einer ausgiebigen theoretischen Beschäftigung mit dem Rollenspiel gewidmet wurde. In den von Edwards publizierten Artikeln findet einerseits eine Weiterentwicklung der im para-akademischen Diskurs präsenten theoretischen Modelle statt, so zum Beispiel in Gestalt der GNS-Theorie, die die vom Threefold Model entwickelten Spielertypologien präzisiert (vgl. Edwards 2001); andererseits werden weitere den Spielprozess beeinflussende Faktoren, wie beispielsweise soziale und ästhetische Präferenzen, integriert, die Edwards bei der Konzeption seines Big Models niederlegt (vgl. Torner 2018, 195).6 Edwards erweitert diese zumeist spielenden- sowie spielgruppenbezogenen Modelle entscheidend durch die Beobachtung, dass auch Rollenspielsysteme eine bestimmte Agenda haben, die die jeweiligen Spielpräferenzen stören, aber auch fördern können. In seinem in der Fankultur einflussreichen Aufsatz „System Does Matter“ (Edwards 2004) zeigt er, dass verschiedene Spielsysteme durch die Implementierung oder das Auslassen spezifischer Spielmechaniken einen eher narrativistischen Spielstil fördern, der primär am Erleben einer spannenden Erzählung interessiert ist, und gleichzeitig Schwierigkeiten bei der Befriedigung anderer Spielpräferenzen bereiten können. Edwards (2003) erkennt an anderer Stelle zudem einen „shift to Narrativist play“, der stark durch die Spielpublikationen ab den 1980er Jahren beeinflusst wurde. Während im englischsprachigen Raum die Diskussion zwischen Spielenden und Spielentwickelnden fortgeführt wurde, die neben Internetbeiträgen auch offizielle Verlagspublikationen zur Rollenspieltheorie hervorbrachten,7 migrierte sie in Skandinavien um die Jahrtausendwende in den akademischen Bereich, wenngleich auch hier der enge Bezug zur Fankultur weiterhin aufrechterhalten wurde: In den Manifesten der Meilahti und der Turku School wurden zwei Konzepte entwickelt, die an kontemporäre Diskurse, die in den Game Studies geführt wurden, anknüpfen. Die Turku School sieht das Rollenspiel als Aktivität, die gegenstands- und medienunabhängig realisiert werden kann und theoretisiert neben den durch das Threefold Model entwickelten Spielendentypologien einen immersionistischen Spiel-
Die Artikel sowie Forendiskussionen der Seite sind unter der URL http://www.indie-rpgs.com/ about/ (28. Mai 2020) abrufbar. Diese Typen der Spielpräferenz wurden mittlerweile auf andere Gattungen des Rollenspiels angewandt, so beispielsweise im Fall der MMORPGs oder der MUDs (vgl. Mäyrä 2017, 282). So veröffentlichte Gary Gygax mit Role-Playing Mastery (1987) selbst einen Ratgeber mit Tipps für das Spielleiten. Weiterer Verlagspublikationen bekannter Autor/-innen, wie Robin’s Laws of Good Game Mastering (vgl. Laws 2002), folgten dem selben spielleitungsbezogenen Schwerpunkt.
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stil („eläytyminen“; Pohjola 2003). Ein derartiger eläytyjist8-Rollenspielstil entwickele das größte Potenzial, Emotionen zu erfahren, und erweitere das Spiel somit um eine künstlerisch-ästhetische Dimension: „Eläytyjist role-playing is the best currently existing method for creating experiences and emotions, and allow [sic!] you to see things from a truly personal point of view“ (Pohjola 2003). Die Meilahti School gründete sich im Rahmen der jährlich stattfindenden Knudepunkt-Convention, die gleichzeitig als Initial der Entwicklung des Nordic Larps gilt. Sie sieht das Rollenspiel als das, was in „interaction between players or between player(s) and gamemaster(s) within a specified diegetic framework“ (Stenros 2004, 75) geschaffen werde. Das Produkt dieser Interaktion wird hierbei in Anlehnung an die strukturalistische Literatur- und Kulturtheorie als Rollenspieltext bezeichnet, der sowohl die gesprochene Sprache als auch andere Ausdrucksformen sowie Spielmaterialien enthalten kann. Gerade durch den Begriff der Diegese wird an klassische narratologische Theorien angeknüpft und zugleich durch den erweiterten Textbegriff die Basis für eine semiotische Analyse geschaffen.
3.1.3 Erzähltheoretischer Zugang Der von der Meilahti School für das Pen-and-Paper-Rollenspiel etablierte Begriff der Diegese, der in ähnlicher Weise wie in der strukturalistischen Erzähltheorie Genettes als Welt oder „Universum“ (Genette 2010 [1994], 183) spezifiziert wird, impliziert die Frage nach einem geeigneten narratologischen Zugang, um die narrativen Elemente eines Pen-and-Paper-Rollenspiels zu beschreiben. In seiner Gattungsdefinition bezeichnet Mackay (2001, 4) das Rollenspiel als „story-creation system“, was in Kapitel 2.2 als die Möglichkeit, fiktionales Handeln in eine Erzählung zu überführen, übersetzt wurde. Für eine narratologische Betrachtung ist der Begriff der Erzählung jedoch zu ungenau und erfordert daher einer Präzisierung, um die narrative Anlage, den Erzählprozess sowie die Rezeption – nach Grouling Cover als „narrative experience“ (2010, 168) bezeichnet – voneinander abzugrenzen. Werner Wolf (2002, 42) zufolge lässt sich die narrative Anlage von „Medien und Werk(teil)en“ als Narrativität bezeichnen, genauer als „multifaktorielle, graduierbare Differenzqualität“, die auf bestimmten, im Folgenden näher einzugrenzenden Faktoren beruht. Der Prozess des Erzählens umfasst die Realisierung des kognitiven Schemas des Narrativen, das durch Narrativität gekennzeichnet ist, in Gestalt von Narrationen (vgl. Wolf 2002, 42). Die konkrete
Die direkte Übersetzung aus dem Suomi lautet hier „sich hineinversetzen“ oder „sich einfühlen“, was einen Bezug zum in Kapitel 6.2 entwickelten Begriff der figuralen Immersion herstellt.
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Manifestation von Narrationen soll als narrative Darstellung bezeichnet werden, die das Schema des Narrativen durch bestimmte Strategien der Vermittlung realisiert. Die Rezeption einer narrativen Darstellung und das darin eingeschlossene Identifizieren des Schemas des Narrativen führt zu spezifischen Verstehensprozessen, die nachfolgend betrachtet werden sollen. Wolf (2002, 42) merkt an, dass Narrativität auch innerhalb bestimmter Teile eines Werkes oder einer Darstellung realisiert werden könne, was im Falle des Pen-and-Paper-Rollenspiels durch die Verbindung ludischer Prozesse mit narrativfiktionalen Kommunikationsprozessen denkbar erscheint. Es ist zudem sinnvoll, einen erzähltheoretischen Zugang zu wählen, der neben einer reinen Zentrierung auf das Spiel ebenso die rezeptionale Anlage der Spielenden berücksichtigt, und zwar in ähnlicher Weise, wie ihn beispielsweise Jenkins (2004, 3) auch im Fall der Computerspiele vorschlägt. Damit kann dem Einwand Rechnung getragen werden, dass bei Spielenden nicht immer Interesse daran besteht, eine Narration zu verfolgen und/oder zu produzieren, was durch die möglichen Spielpräferenzen im Penand-Paper-Rollenspiel angedeutet wird. Ausgehend von der Beobachtung, dass verschiedene Medien auf unterschiedliche Weise erzählen, nutzen vor allem gegenwärtige narratologische Arbeiten im Bereich der Computerspiele (vgl. u. a. Backe 2012; Engelns 2014; Thon 2015) einen transmedial-narratologischen Zugang, der dieser teils rezeptionsorientierten Perspektive gerecht werden soll. Grundannahme dieses Zugangs ist, dass Narrativität kein medienspezifisches Phänomen darstellt, sondern medienunabhängig realisiert werden kann (vgl. Thon 2016, 35–36). Mit Bezug sowohl auf narrative Darstellungen verschiedener Medien als auch auf das Erzählen in der Alltagskommunikation entwickelt David Herman eine prototypische Definition von Narrativität, die durch vier basale Elemente bestimmt wird: A representation that is situated in – must be interpreted in light of – a specific discourse context or occasion for telling. (ii) The representation, furthermore, cues interpreters to draw inferences about a structured time-course of particularized events. (iii) In turn, these events are such that they introduce some sort of disruption or disequilibrium into a storyworld involving human or human-like agents, whether that world is presented as actual or fictional, realistic or fantastic, remembered or dreamed, etc. (iv) The representation also conveys the experience of living through this storyworld-influx, highlighting the pressure of events on real or imagined consciousnesses affected by the occurrences at issue. Thus – with one important proviso – it can be argued that narrative is centrally concerned with qualia, a term used by philosophers of mind to refer to the sense of „what it is like“ for someone or something to have a particular experience. The proviso is that recent research on narrative bears importantly on debates concerning the nature of consciousness itself. (Herman 2009, Preface)
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Mit dem ersten Element seiner Definition verweist Herman (2009, 17) auf die kommunikative Situiertheit narrativer Anlässe und Darstellungen, die zuallererst auf Zeichen basieren und durch bestimmte Kontexte gerahmt und beeinflusst sind. Diese Zeichen bieten Hinweise („cues“; Herman 2009, 17) auf potenzielle inhaltliche und syntaktische Elemente, die Rezipierende dazu bewegen können, die dargelegte kommunikative Struktur als narrativ zu begreifen. Wolf (2002, 42) präzisiert diesen Vorgang, indem er diese Elemente als Narreme beschreibt, „inhaltliche ‚Hohlformen‘ und ‚Syntaxregeln‘“, die ein „multifaktorielles kognitives (Makro-)Schema“ aktivieren, „das durch Narrativität gekennzeichnet und auf lebensweltliche Erfahrung wie Artefakte verbaler und nicht-verbaler Art anwendbar ist“. Herman klassifiziert die Sequenzialität als zweite prototypische Eigenschaft von Narrativität, was auch in klassischen Definitionen von ‚Erzählung‘ als entscheidendes Kriterium gewertet wird. So definiert Horace Porter Abbott (2008 [2002], 13) Narration als „the representation of events or a series of events“, wie sie auch Seymour Chatman (1975, 295) als zweigliedriges Konstrukt, bestehend aus story („the chain of events“) und discourse („the set of actual narrative ‚statements‘“), beschreibt. Diese Sequenzialität, verbunden mit einer narrativen Konsequenzialität, sorgt vornehmlich für eine Differenzierung zu anderen Diskursformen, so zum Beispiel Berichten (vgl. Herman 2009, 18). Das dritte Element der prototypischen Definition von Narrativität bezieht sich auf das für die transmediale Erzähltheorie bedeutsame Konzept der storyworld, das die beiden ersten Elemente zusammenführt. So stellen gerade inhaltliche Narreme, wie Orte, Ereignisse und Figuren, zentrale „Bausteine des Narrativen“ (Wolf 2002, 46) für die Aktivierung kognitiver Schemata dar, die gleichzeitig die Grundelemente einer storyworld bilden (vgl. Herman 2009, 17). In ihrer Definition von Narrativität setzt Ryan die storyworld als zentrales Element narrativer Darstellungen: A narrative text must create a world and populate it with characters and objects. Logically speaking, this condition means that the narrative text is based on propositions asserting the existence of individuals and on propositions ascribing properties to these existents. The world referred to by the text must undergo changes of state that are caused by nonhabitual physical events: either accidents („happenings“) or deliberate human actions. These changes create a temporal dimension and place the narrative world in the flux of history. The text must allow the reconstruction of an interpretive network of goals, plans, causal relations, and psychological motivations around the narrated events. This implicit network gives coherence and intelligibility to the physical events and turns them into a plot. (Ryan 2004, 8–9)
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Das an die Mögliche-Welten-Theorie angelehnte Konzept Ryans (vgl. Thon 2016, 64) schafft Anknüpfung an die in Kapitel 2 entwickelten Begrifflichkeiten, indem einem narrativen Text Potenziale zugerechnet werden, Wahrheitsaussagen („propositions“; Ryan 2004, 8) aufzustellen, die grundlegende Elemente der storyworld festlegen. Neben dieser vornehmlich räumlich geprägten ersten Kategorie verweist die zweite Kategorie auf eine zeitliche Ebene, die eintretende Veränderungen innerhalb dieser storyworld als notwendig konstatiert. Entscheidend ist zudem die dritte Kategorie, welche die Erzeugung eines „interpretive network“ (Ryan 2004, 8) umfasst, das eine zusätzliche Komplexitätsebene aus räumlichen, zeitlichen und kausalen Beziehungen hinzufügt. Die einzelnen lokalen Veränderungen, die durch die physischen und auf „deliberate human actions“ (Ryan 2004, 8) basierenden Ereignisse hervorgerufen werden, werden hier in ein globaleres Konstrukt der storyworld überführt (vgl. Thon 2016, 70). Die Handlungen von Menschen oder menschenähnlichen Figuren, die auf Motivationen, Ziele und andere kausale Verbindungen verweisen, erwähnt Herman in seiner vierten Kategorie von Narrativität: Diese werde nur dann erzeugt, wenn die dynamischen Ereignisse in der storyworld durch mindestens ein menschliches oder menschenähnliches Bewusstsein erlebt oder erfahren werden (vgl. Herman 2009, 21). Die Kennzeichnung als „interpretive network“ (Ryan 2004, 9) deutet zudem auf eine Eigenschaft der Sequenzialität dynamischer Ereignisse hin, auf die auch Schmid (2014 [2005], 5) in Bezug auf narrative Geschehensmomente verweist: Es ist nicht selten mit einer Interpretationstätigkeit des/der Rezipierenden verbunden, aufeinanderfolgende Geschehnisse in eine kausale Relation zu bringen, solange der Text diese nicht expliziert. Eine weitere durch die transmediale Erzähltheorie hervorgebrachte Eigenschaft von storyworlds ist das Vorhandensein bestimmter Leerstellen innerhalb der Welt, die eine Rezeptionsaktivität erfordern und eine „Bestimmungslücke“ (vgl. Iser 1994, 284) darstellen, die von Rezipierenden durch ihre Vorstellung gefüllt wird. Diese Rezeptionstätigkeit unterscheidet sich von der vorher dargestellten Interpretation bestimmter Kausalitätsbeziehungen dadurch, dass sie in kognitiver Hinsicht weniger auf die Interpretation der Darstellung zielt, als vielmehr Verstehensleistungen betrifft.9 Eine derartige Eigenschaft verweist darauf, dass die Rezeption einer narrativen Darstellung immer an die Entwicklung von Vorstellungsbildern („images“; vgl. Ryan 2004, 12) geknüpft ist und der Konstruktionsprozess einer storyworld somit auch eine mentale Modellbildung umfasst (vgl. Thon 2016, 74–75). In Anknüp Wenngleich Interpretieren und Verstehen im allgemeinen Rezeptionsprozess von narrativen Darstellungen eng miteinander verbunden sind, soll an dieser Stelle mit Eder (2008a, 104) Verstehen als das „unproblematische Erfassen der fiktiven Welt“ und Interpretieren als „die bewusste Anwendung voraussetzungsreicherer mentaler Schemata“ begriffen werden.
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fung an die Theorie fiktiver Welten vollzieht sich dieser produktive Rezeptionsprozess vor allem innerhalb verschiedener Interferenzbildungsprinzipen, wie beispielsweise dem Principle of Minimal Departure (dt.: Prinzip der minimalen Abweichung; vgl. Thon 2014a, 447): This law-to which I shall refer as the principle of minimal departure-states that we reconstrue the central world of a textual universe in the same way we reconstrue the alternate possible worlds of nonfactual statements: as conforming as far as possible to our representation of AW [d.i. Actual World]. We will project upon these worlds everything we know about reality, and we will make only the adjustments dictated by the text. When someone says „If horses had wings they would be able to fly“, we reconstrue an animal presenting all the properties of real horses, except for the presence of wings and the ability to fly. We perform the same operation when we read about a flying horse in a fairy tale, when a child tells us „Last night I dreamed about a flying horse“, and when a poet writes about the flying horse of imagination. (Ryan 1991, 51)
Diese Projektion realweltlichen Wissens auf die Leerstellen der storyworld umfasst nicht nur die Referenz auf Entitäten, die in der realen Welt existieren, sondern ebenso Beziehungen zu anderen Texten, in denen ähnliche Entitäten auftreten (vgl. Seibel 2014, 230–231).10 Ein weiteres Kohärenzbildungsprinzip stellt das Principle of Charity (dt.: Prinzip des wohlwollenden Verständnisses; vgl. Packard et al. 2019, 76) dar, das zum Tragen kommt, sofern durch verschiedene fiktionale Propositionen eine logisch-paradoxe Situation entsteht, die Rezipierende dazu verleitet, bestimmte Wahrheitsaussagen über die storyworld zu ignorieren (vgl. Thon 2016, 84–85; Walton 1990, 183).11 Im Sinne der Rezeptionstheorie Wolfgang Isers (1994, 38), die den literarischen Text als Interaktion zweier Pole sieht, von dem der eine den „vom Autor geschaffenen Text“ und der andere die „vom Leser geleistete Konkretisation“ umfasst, lässt sich die Konstruktion von storyworlds im selben Maße verstehen, wie Jens Eder (2008a, 402) die Rezeption fiktiver Welten begreift: „Jede fiktive Welt ist […] ein kommunikatives Artefakt, das durch die intersubjektive Bildung mentaler Reprä Ein genauerer Blick auf diese Referenzstrukturen innerhalb der Rezeptionsprozesse im Penand-Paper-Rollenspiel soll in Kapitel 6 erfolgen. Somit lässt sich in diesem Kontext noch weiter zwischen Formen logischer Paradoxa differenzieren, die aufgrund konkurrierender Wahrheitsaussagen eine internale Inkohärenz der storyworld selbst suggerieren, sowie externalen Formen, die vor allem die Medialität des Gegenstandes und dessen Darstellungskonventionen betreffen. Entgegen dem von Juul (2014, 173–175) hervorgebrachten Einwand, dass sich das Computerspiel einer logischen Konsistenzbildung verwehrt, weil sich die Regeln und die dargestellte Welt in einem teils widersprüchlichen Verhältnis zueinander befinden, stellt für Thon (2016, 106) dieses Merkmal die spezifische Medialität des Gegenstandes heraus. Eine derartige Inkohärenz bedeutet jedoch nicht, dass diese Inkonsistenz auch für die durch Computerspiele dargestellten storyworlds gelte.
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sentationen mithilfe fiktionaler Texte entsteht.“ Die intersubjektive Kommunizierbarkeit bezieht sich in diesem Zusammenhang auf die normativen Vorgaben des narrativen Textes selbst, „also nur auf die Denotate und intersubjektiven Konnotate eines Signifikanten […] oder auf abweichende, erweiterte oder verengte Bedeutungen dann, wenn der Texte selbst diesem solche zuschreibt“ (Nies 2013, 70). Durch die Hervorhebung der mentalen Repräsentation entfernt sich das hier vorgestellte Konzept der storyworld demnach vom Begriff der Diegese, wie ihn Genette (2015 [1996], 260) verwendet, der lediglich die „räumlich-zeitliche Welt“ betrachtet, in der sich die Geschichte ereignet, und sich damit eher auf die im Text dargestellten Informationen bezieht.12 Die zentrale Auffassung der transmedialen Erzähltheorie ist also, dass alle dargestellten Welten, die narrativ repräsentiert werden, storyworlds erschaffen, unabhängig davon, durch welches Medium oder welche Diskursform sie realisiert werden (vgl. Thon 2016, 61). Unbeachtet bleibt jedoch die gerade bei digitalen und analogen Spielen häufige Beobachtung, dass verschiedene mediale Gegenstände Narrativität begrenzter als andere realisieren können (vgl. Ryan 2006, 4).13 Betrachtet man dies vor dem Hintergrund der bereits dargelegten Prämisse, das Narrative als ein „kulturell erworbenes und mental gespeichertes kognitives Schema“ (Wolf 2002, 29) zu begreifen, das durch bestimmte Stimuli aktiviert wird, ist es vorstellbar, dass manche Medien durch ihre semiotische Anlage nicht auf den vollen Fundus realisierbarer Narreme zurückgreifen können. So sieht Wolf Narrativität als graduierbares Phänomen an und beschreibt drei verschiedene Typen medialer Gegenstände, die die Potenziale werksseitiger Narrativität skalar umreißen: zum einen „geschichtendarstellende, genuin verwendbare Medien“, die die Basiselemente prototypischer Narrativität vollends erfüllen, zum anderen „narrationsindizierende“ (Wolf 2002, 95) Medien, die Narrativität „parasitär, d. h. über intermediale Referenzen“, evozieren sowie „quasi-narrativ verwendbare“ (Wolf 2002, 96) Medien, die in ihrem medieneigenen Realisierungspotenzial nur Analogiebildungen zur Narration schaffen. Will man die Erzeugnisse der letzten beiden Gruppen trotz ihrer teils geringen werksseitigen narrativen Realisie-
In der Filmwissenschaft wurde der Theoriekomplex um den Begriff der Diegese in neuerer Zeit um die Aktivität des Diegetisierens erweitert, die derartige Rezeptionsaktivitäten umfassen soll (vgl. Hartmann 2007; Orth 2016, 81). Da diese Aktivität gerade von Hartmann (u. a. 2007, 56) stark an die Filmrezeption gebunden ist, soll von der weiteren Verwendung abgesehen werden. Diese Bewertung Ryans (2006, 4) anhand spezieller Qualitätsmarker („media are not equally gifted“) soll an dieser Stelle etwas relativiert werden: Es soll nicht darum gehen, einzelne mediale Gegenstände anhand ihrer Fähigkeit zur Realisierung von Narrativität zu bewerten, sondern vielmehr die generelle Aussage getroffen werden, dass Medien aufgrund ihrer Anlage Narrativität unterschiedlich realisieren.
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rungsmöglichkeiten als Narration begreifen, wird zu einem bestimmten Grad eine rezipierendenseitige Narrativierung erforderlich. Wie Wolf (2002, 95) betont, ist dies auch bei Medien mit hohem werkseigenen narrativen Potenzial notwendig, worauf auch Monika Fludernik (2002 [1996], 25) am Beispiel radikal inkonsistenter Erzählliteratur verweist.14 Um gerade bei quasi-narrativen Artefakten nicht der häufig vorgebrachten Kritik anderer erzähltheoretischer Strömungen anheim zu fallen, willkürlich allen Objekten das Potenzial zum Erzählen zuzuweisen, sei hier auf den generell sinnvollen Vorschlag Ryans (2006, 10–11) verwiesen, zwischen Objekten zu unterscheiden, die narrativ sind, also gezielt durch ihre semiotische Anlage auf die Aktivierung kognitiver Schemata des Narrativen setzen, und Objekten oder Tätigkeiten, die das Potenzial zur Narrativität besitzen, also so gestaltet sind, dass Rezipierende in einem kognitiven Prozess bestimmte Elemente in Narreme übersetzen und so eine Narrativierung vollziehen. Während im ersten Fall klar von einer (durch Rezipierende nicht immer genau rekonstruierbaren) Intention auf Produzierendenseite ausgegangen werden kann, eine Narration zu erschaffen, ist dies bei letztgenannten Übersetzungsprozessen nicht der Fall.
3.2 Modellierung: Ludische Prozessualität und narrative Rezeptionsangebote Die transmediale Erzähltheorie ist primär deswegen geeignet, den Einfluss ludischer Prozesse auf die narrative Gestaltung zu untersuchen, da sie einerseits Begrifflichkeiten für die Analyse narrativer Gegenstände bereithält, andererseits jedoch auch die Rezeption dieser Gegenstände im Blick hat. Wenngleich sie aufgrund ihrer medienunabhängigen Ausrichtung auch den Einwänden früher Beiträge der Game Studies Rechnung trägt, ergibt sich in der Betrachtung von analogen Spielen ein methodisches Problem: Mit Ausnahme einer Studie von Anne Sullivan und Anastasia Salter (2017), die sich dezidiert mit narrativen Brettspielen beschäftigt, existiert bisher noch kein systematisiertes ludonarratologisches Modell, das das Verhältnis von spielerischen und narrativen Elementen in analogen Spielen betrachtet.15 Im Gegen-
Fludernik (2002 [1996], 202‒203) bezieht sich in diesem Kontext vor allem auf postmoderne Erzähltexte, die verschiedene Strategien narrativer Inkonsistenz integrieren, beispielsweise die narrativen Inkompetenzen einer Erzählerfigur, die zyklische Kurzschlussstruktur narrativer Handlungen („the cyclical short-circuit structure of some plots“) sowie transgressive, narrative Ebenensprünge. Dies lässt sich unter anderem dadurch erklären, dass umfassende modellbildende Studien zu analogen Spielen in den Game Studies eher unterrepräsentiert sind, da der Fokus deutlich stär-
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satz zu digitalen Spielen und den meisten Brettspielen setzt sich das Pen-and-PaperRollenspiel gemäß der in Kapitel 2 entwickelten Definition nicht nur aus ludischen, sondern ebenfalls aus notwendigen kommunikativen Prozessen zusammen, die Einfluss auf die Anlage von Narrativität sowie das Erzählen selbst haben. In diesem Kapitel soll daher in einem ersten Schritt der Einfluss der ludischen Prozesse auf das Erzählen beleuchtet und ein Modell entwickelt werden, das diesen Einfluss unter Berücksichtigung der ludischen Struktur des Rollenspiels greifbar macht. Dafür werden zunächst ludonarratologische Konzepte, die für das Computerspiel entwickelt wurden, vorgestellt und geprüft, um sie im Anschluss für die eigene Modellbildung nutzbar zu machen.
3.2.1 Konzepte der digitalen Ludonarratologie Die rezipierendenseitige Narrativierung, wie sie am Ende von Kapitel 3.1.3 skizziert wurde, markiert einen zentralen Kritikpunkt der ludologisch orientierten Game Studies an einer narratologischen Betrachtung von Computerspielen. So verweisen Juul (2001) und Markku Eskelinen (2001) darauf, dass man Spielhandlungen aufgrund ihrer temporalen Sequenzialität genauso wie andere dynamische Prozesse immer nacherzählen könne. Dabei wählen sie in ihrer Argumentation beispielhaft verschiedene Computerspiele, die sehr wenige bis keine werksseitigen narrativen Realisierungen besitzen.16 Im folgenden Unterkapitel soll es hingegen um solche Ansätze der Ludonarratologie gehen, die Spiele betrachten, denen durch ihre semiotische Anlage zumindest eine narrationsindizierende Qualität inhärent ist, indem sie narrative Schemata aktivieren. Gemäß der Beobachtung, dass Spiele in seltenen Fällen vollständig narrative Darstellungen entwickeln, sondern eher ein Angebot zur narrativen Rezeption erschaffen, soll Jan-Noël Thons (2015, 111) Auffassung gefolgt werden, weniger zu hinterfragen, ob (Computer-)Spiele erzählen, als „besser zu verstehen, auf welche Weise sie narrativ sein können“. ker auf digitalen Spielen liegt. Woods (2012, 8) verweist darauf, dass analoge Spiele lediglich häufig dazu genutzt werden, Gestaltungsbezüge zu digitalen Spielen herzustellen. Derartige Kritik resultiert vor allem aus den stark narrativierten Interpretationen einiger Theoretiker/-innen, die dem Computerspiel hohes narratives Potenzial zuweisen: So deutet Murray (1997, 143–144) unter anderem das Spiel Tetris als sowjetisches Narrativ über das streng organisierte Leben der US-Bevölkerung in den 1990er Jahren. Ryan (2001, Anm. 7) identifiziert diese Aussage zu Recht als eine weit interpretierte, rezipierendenseitige Narrativierung der Spielhandlung, wenn sie Spielenden mit ähnlich großer Phantasie genauso zugesteht, Tetris als die Arbeit eines Sklaven zu verstehen, dem von einem sadistischen Meister befohlen wird, eine nie endende Mauer zu bauen.
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Betrachtet man narrative Elemente in digitalen sowie analogen Spielen als Rezeptionseinladungen, scheint es nachvollziehbar, dass Spiele Passagen enthalten können, in denen die narrative Struktur nicht im Fokus der Rezipierenden steht (vgl. Thon 2009, 4). Dies hat gleichzeitig auf die Konstruktion der storyworld Einfluss: Der Konstruktionsprozess ist insofern optional, als die Spielenden die Möglichkeit einer narrativen Rezeption ignorieren können, indem sie beispielsweise die ins Spiel eingefassten narrativ-darstellenden Elemente nicht beachten oder überspringen (vgl. Thon 2016, 129–130).17 Dies betrifft nicht nur die (Re-)Konstruktion eines Plots, sondern ebenso andere Bereiche einer storyworld. Spielende, die hingegen die narrativen Rezeptionsangebote annehmen, befinden sich folglich in einem komplexen Verstehensprozess, der nicht nur das fortlaufende Zusammenfügen möglicher, explizit als narrativ markierter Elemente des Spiels umfasst, sondern auch die Überführung ludischer Handlungen in die storyworld erfordert. Unter Berücksichtigung dieser Verschiedenheit möglicher Elemente einer storyworld differenziert Engelns (2014, 205–244 u. 245–274) zwischen zwei Achsen narrativer Rezeptionsangebote: erstens einer syntagmatischen Achse der Handlung, die vor allen Dingen jene Rezeptionsangebote zusammenfasst, die die Plotkonstruktion betreffen, sowie zweitens die paradigmatische Achse der Topoi, die das zentrale thematische Material des Spiels abbildet. Die Achse der Handlung enthält drei Typen narrativer Rezeptionsangebote, die Engelns mit den Begriffen der Historisierung, der narrativen Mitte sowie der Konsequenz beschreibt. Die Historisierung ist ein narratives Rezeptionsangebot, das die zeitliche Dynamik der storyworld umfasst und Elemente betrifft, die im eigentlichen Spielprozess nicht dargestellt, sondern nur referiert werden. Durch die Formen der Historisierung soll diese Darstellungsebene die Spielhandlung um „vergangene Ereignisse erweitern und umfangreiche soziokulturelle Gestaltungsbedingungen und Szenarioelemente als Ergebnisse historischer Prozesse darstellen“ (Engelns 2014, 321–322). Das Angebot der narrativen Mitte ist im Gegensatz dazu enger an den Spielprozess gebunden und übernimmt die zentrale Funktion, Ereignisse des Spielprozesses in Ereignisse einer chronologischen wie kausalen Handlung zu transformieren. Immer dann, wenn Ereignisse des Spielprozesses als Ereignisse der Handlung rezipierbar sind, etabliert ein Spiel zugleich eine narrative Mitte, die den Spiel-
Gerade im Bereich der Computerspiele existieren mittlerweile Formen, die die narrative Handlung stark in den Mittelpunkt stellen und somit eine narrative Rezeptionshaltung fordern. Gleichzeitig setzen diese Spiele auf nur geringe ludische Herausforderungen, um diesen Rezeptionsprozess nicht durch längere Spielpassagen zu unterbrechen.
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prozess als Agens der Handlung funktionalisiert. Dabei sind vor allem jene Elemente von Interesse, die Eingang in die Achse der Handlung finden, genauso wie jene Elemente, die ausgeklammert bleiben. (Engelns 2014, 322–323)
Als ‚Konsequenz‘ bezeichnet Engelns die Konklusion der beiden vorangegangenen Typen und bilanziert die Ereignisse auf der Ebene der narrativen Handlung derart, dass zentrale Plotfragen gemäß der Leistung des Spielenden narrativ interpretiert werden. Somit ist die Konsequenz „jener Moment, der die durch die narrative Mitte bereits getroffene Auswahl spielprozessualer Ereignisse kausal mit der Historisierung verknüpft und anschließend maßgeblich auf seine rein handlungsorientierte Funktion hin bewertet“ (Engelns 2014, 323).18 Auf der Achse der Topoi finden sich zwei Typen der narrativen Rezeptionsangebote, die Engelns als topischen Pool sowie als Isotopie bezeichnet. Der topische Pool beschreibt „die Gesamtheit aller noch vereinzelten, für sich selbst stehenden thematischen Potentiale des Spiels“, wohingegen Isotopien diese vereinzelten Potenziale zu einem Themenbereich vernetzen, um den „Eindruck von Sinnstiftung und Gemeinsamkeit“ (Engelns 2014, 324) zu erwecken. Das letzte narrative Rezeptionsangebot, der „Narrative Ursprung“, verbindet die Achse der Topoi und die Achse der Handlung „zu einem sinnstiftendenden, ganzheitlichen narrativen Aussagesystem“ (Engelns 2014, 324) und kulminiert nach Engelns nicht selten in Form einer Figurisierung, beispielsweise in Gestalt einer Machtfigur, einer Erzählerfigur oder eines Feindbildes.
3.2.2 Das Spielsystem Engelns’ Typologie scheint auf den ersten Blick geeignet, um sie vom digitalen auf das analoge Spiel zu übertragen. Unterschiede ergeben sich jedoch vor allem in Bezug auf das Strukturmodell, auf dem diese Typologie beruht. Aus diesem Grund ist es notwendig, die (spiel-)strukturellen Ebenen im Pen-and-Paper-Rollenspiel herauszuarbeiten und diese dem digitalen Spiel gegenüberzustellen. Da in diesem Kapitel die ludische Prozessualität und ihr Einfluss auf die sich ergebende narrative Darstellung im Vordergrund steht, wird im Folgenden zunächst auf das Spielsystem des Pen-and-Paper-Rollenspiels eingegangen, das den Ausgangspunkt jeglicher ludischen Prozesse darstellt.
Engelns (2014, 323) verweist explizit darauf, dass dieses Rezeptionsangebot nicht die Bilanzierung des Spielprozesses oder der spielerischen Leistung (beispielsweise in Form eines Gewinnens oder eines Highscore) bedeuten muss, sondern vielmehr als Entlohnung des oder der Spielenden für die Rekonstruktion der narrativen Handlung anzusehen ist.
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Das Spielsystem, das einem Pen-and-Paper-Rollenspiel zugrunde liegt, umfasst eine definierte Menge an Regeln und Handlungen, die Beteiligte während des Vollzugs nutzen, um ludische Prozesse zu initiieren. Es wird durch ein zumeist schriftliches Regelwerk konstituiert, das die Teilnehmenden sowohl zur Vorbereitung als auch während des Spielprozesses verwenden. Die Regeln eines Pen-and-Paper-Rollenspiels bestehen aus einer Anzahl von Festlegungen, die Relevanz für den Ablauf und die Voraussetzungen des Spiels haben. Unter ihnen existieren verschiedene funktionale Relationen, bezeichnet als Spielmechaniken, die für die Spielenden eine bevorzugte oder empfohlene Möglichkeit darstellen, innerhalb des Spielsystems zu agieren (vgl. Björk und Holopainen 2003, 5). Regeln und Spielmechaniken verweisen darüber hinaus auf bestimmte Entscheidungen und Schwerpunktsetzungen der Spieleentwickler/-innen im Spieldesign, die wiederum dafür genutzt werden können, Spiele mit ähnlichen Merkmalen zu Spielgattungen oder -genres zusammenzufassen. Diese nach Staffan Björk und Jussi Holopainen (2009, 411) als „Game Design Patterns“ bezeichneten Designentscheidungen erlauben die semi-formalisierte Beschreibung wiederkehrender statischer und dynamischer Elemente innerhalb eines Spielsystems. Mit Bezug auf Whitson John Kirk III. (2009) sollen folgende typische game design patterns für Pen-and-Paper-Rollenspiele definiert werden: i. Konfliktresolution (vgl. Kirk 2009, 13–33): Dieses Spielelement, das Pen-andPaper-Rollenspiele von den Wargames übernahmen, kann in Situationen hinzugezogen werden, in denen das Endergebnis der Handlung einer Spielfigur unsicher ist oder es zu einer Auseinandersetzung („Contest“; vgl. Kirk 2009, 13–19) innerhalb der Spielwelt kommt. Resolutionsmechaniken basieren in der Regel auf Wahrscheinlichkeitswerten (vgl. Schmidt 2012, 260) und werden durch Zufallsgeneratoren, wie Würfel (vgl. Dormans 2006, 3), geprüft. Verschiedene Rollenspielsysteme können dabei eine Vielzahl an Resolutionsmechaniken integrieren, wobei sich gerade kampflastige Systeme besonders stark dieser Patterns bedienen (vgl. Neuenschwander 2008, 192; Schmidt 2012, 61). ii. Charaktererstellung (vgl. Kirk 2009, 36–83): Das Führen einer Spielfigur stellt ebenso ein konstitutives Merkmal des Rollenspiels dar. Diese Figur wird bereits vor dem Spielprozess auf Basis des Regelsystems von den Spielenden erstellt (vgl. Bowman und Schrier 2018, 396). Zentrale Elemente können die Auswahl bestimmter Charakterklassen, Attribute und Fähigkeiten betreffen. iii. Fundamental Gauge Patterns (vgl. Kirk 2009, 87–107): Als gauge (dt.: Maßeinheit) bezeichnet Kirk (2009, 4) einen festgelegten Wert (zumeist eine Zahl), die mit einer Bezeichnung verbunden ist. Gauges regeln die Vergleichbarkeit unterschiedlicher (Figuren-)Eigenschaften und bilden Ränge oder Ressourcen ab, auf die Spielende (beispielsweise im Fall der Abhandlung einer Resolutionsmechanik) zugreifen können.
3.2 Modellierung: Ludische Prozessualität und narrative Rezeptionsangebote
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iv. Belohnungsstrukturen (vgl. Kirk 2009, 117–132): Belohnungsstrukturen werden vor allem als Bilanzierung bestimmter Spielhandlungen eingeführt und können sowohl den Erfolg als auch den Nicht-Erfolg dieser Handlungen betreffen (vgl. Kirk 2009, 117–125). Derartige Strukturen werden vor allem aus der von Salen und Zimmerman (2004, 80) hervorgebrachten Eigenschaft appliziert, dass Pen-and-Paper-Rollenspiele kein quantifizierbares Endergebnis haben beziehungsweise in der Formulierung ihrer Spielziele relativ unspezifisch sind (vgl. Neuenschwander 2008, 189). Ludische Belohnungselemente, wie Erfahrungspunkte, die die Weiterentwicklung der Spielfiguren betreffen (vgl. Björk und Zagal 2018, 332), dienen vor allen Dingen dazu, eine ludische Motivation zu generieren. v. Rollenspielerische, narrative und strukturelle Regeln (vgl. Kirk 2009, 133–163): Derartige Regeln betreffen zentral die Abhandlung des Spielprozesses sowie die angeschlossenen kommunikativen Handlungen, zum Beispiel bestimmte erforderliche Abläufe im Erzählen, die Aktivität des Rollenspiels und die Strukturierung des geschriebenen Regelwerkes. Sie können ebenso die Kompetenzen und Rechte von Spielleitenden betreffen (vgl. Kirk 2009, 112). Wie Björk und Zagal (2018, 327) betonen, stellt neben der Charaktererstellung und entwicklung insbesondere die Konfliktresolution ein konstitutives, wiederkehrendes Element innerhalb verschiedener Rollenspielsysteme dar. Die Kombination aus einem auf Zufall basierenden Prüfmechanismus und Wahrscheinlichkeitswerten repräsentiert damit ein signifikantes simulatives Element eines Pen-and-PaperRollenspiels (vgl. Schmidt 2012, 260), das Rollenspielsysteme aufgrund ihres notwendigen Vollzugscharakters in die Nähe ergodischer Systeme rückt (vgl. Torner und Jara 2018, 269). In seiner Theorie zur Cybertextualität sieht Espen Aarseth Ergodizität als Eigenschaft nicht-linear organisierter Systeme, die die notwendigen Handlungen von Nutzer/-innen beschreibt, den Gegenstand in ein rezipierbares Format zu überführen: During the cybertextual process, the user will have effectuated a semiotic sequence, and this selective movement is a work of physical construction that the various concepts of ‚reading‘ do not account for. This phenomenon I call ergodic, using a term appropriated from physics that derives from the Greek words ergon and hodos, meaning ‚work‘ and,path‘. In ergodic literature, nontrivial effort is required to allow the reader to traverse the text. If ergodic literature is to make sense as a concept, there must also be nonergodic literature, where the effort to traverse the text is trivial, with no extranoematic responsibilities placed on the reader except (for example) eye movement and the periodic or arbitrary turning of pages. (Aarseth 1997, 1–2)
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3 Ludische Prozessualität im Pen-and-Paper-Rollenspiel
Aus der beschriebenen Eigenschaft der Ergodizität resultiert folglich ein dynamischer Prozess: Durch die Handlungen von Nutzer/-innen (beispielsweise in Form einer Selektionstätigkeit) reagiert das ergodische System mit einem Rückkopplungseffekt (vgl. Engelns 2014, 40–41), aus dem der mögliche Zugriff auf neue Elemente resultiert. Das Pen-and-Paper-Rollenspiel ist insofern ergodisch, als die Teilnehmenden aufgefordert sind, aktiv zu handeln und zu entscheiden, um das Spiel überhaupt durchzuführen (vgl. White et al. 2018, 64). Für das Spielsystem bedeutet dies, dass wiederholbare Elemente integriert werden (zum Beispiel Spielmechaniken), auf die Spielende Einfluss nehmen können. Im Spielsystem selbst, das durch das Regelwerk eines Rollenspiels festgelegt ist, sind diese Elemente nicht nach einer festgelegten Abfolge angeordnet, sondern modular organisiert. Die konkretisierte Abfolge ergibt sich letztlich durch den ludischen Prozess (vgl. Engelns 2014, 95), in dem Spielende wiederholt mit den Elementen des Spielsystems konfrontiert werden und diese durch ihr Handeln beeinflussen. Aarseth (1997, 48) etabliert das Konzept der Ergodizität unter anderem deshalb, um sich vom Begriff der Interaktivität, der oft unreflektiert benutzt wird, zu distanzieren („To declare a system interactive is to endorse it with a magic power“). Er bezieht sich in diesem Kontext auf ein soziologisches Konzept, das Interaktivität als das Agieren und Reagieren zweier menschlicher Kommunikationspartner/-innen begreift (vgl. Meifert-Menhard 2013, 55), was beidseitige Responsivität fordert. Gerade das Computerspiel kann eine derartige Ausprägung der Interaktivität nach gegenwärtigem technologischen Stand nicht realisieren, da die Responsivität des Systems auf eine vorher festgelegte Menge an (Re-)Aktionen begrenzt ist (vgl. Boelmann 2015, 106). Wenngleich einige Versuche unternommen wurden, die Begriffe der Interaktivität und der Ergodizität im Falle des Computerspiels zusammenzuführen (vgl. Meifert-Menhard 2013, 57; Ryan 2015 [2001], 161), muss diese strengere Trennung, wie sie Aarseth vorschlägt, für das Pen-and-Paper-Rollenspiel aufrechterhalten werden: Denn hier begegnen sich ergodisch-ludische Prozesse, die durch das Spielsystem initiiert werden, sowie generisch menschliche, interaktive Kommunikationsprozesse während des Spielvollzugs. Der von Aarseth entwickelte Begriff der Ergodizität, der durch eine Vielzahl ludonarratologischer Beiträge aufgegriffen wird, richtet sich zentral auf die Struktur und Organisiertheit bestimmter Systeme. Aarseth (1997, 1–2) setzt den Begriff mit Textualitätskonzepten in Bezug, was evoziert, dass die Elemente, mit denen Nutzer/-innen im Spiel- oder Rezeptionsprozess interagieren können, auf gewisse Weise fixiert und festgelegt sind. Im Fall des Pen-and-Paper-Rollenspiels sind diese Elemente zwar als schriftlich niedergelegtes Regelwerk kodifiziert, jedoch deutlich weniger stark an eine konkrete Performanz gebunden: Dies liegt nicht nur an der generellen Verhandelbarkeit der Spielregeln im Rollenspiel, wie es Juul (2005, 43) innerhalb seiner formalen Spieldefinition betont, sondern ebenfalls an den kommuni-
3.2 Modellierung: Ludische Prozessualität und narrative Rezeptionsangebote
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kativen Prozessen, die initiieren, das Spielsystem heranzuziehen.19 Diese erfordern die kleinschrittige kommunikative Interaktion der Beteiligten, die festlegen, wann und wie eine Spielregel oder -mechanik angewendet und wie ihr Ergebnis situationsgerecht interpretiert wird. Somit ist dieser Prozess nicht nur ergodisch, sondern ebenso interaktiv, da die Partizipierenden responsiv-kommunikativ aufeinander reagieren. Diese Form der kleinschrittigen kommunikativen Interaktion im Rahmen ludischer Prozessualität soll an folgendem Beispiel aus einer Spielsitzung illustriert werden, in dem ein Kampf spielerisch abgehandelt wird. S6: Dungeons and Dragons 1 S6.3: Kampfhandlung SL:
Xe: Wa: SL: Xe: SL: Xe: SL: Xe: SL: Xe: SL: Xe: SL:
Und Rot ist ein bisschen (.) sturer und der tri-und versucht nochmal ((würfelt)) oh. (3.0) Und äh mit einer Siebzehn trifft [er dich wahrscheinlich?]((Blickt zu Xe)) [Ja.] ((SL würfelt)) Oh. Zwei Schaden. Zwei? Zwei. Okay. So (.) vielleicht so (.) äh-so ganz leicht am Bein vorbei so die Wade aufgekratzt. [Und Dys du bist wieder dran.] [((Lachend))Ja ich schieße gleich mal zurück ne?] ((Würfelt)) Pew- Ja es ist so pew pew pew pew. ((Beat-Geste mit Zeigefingern)) Vierzehn. Ja trifft. ((Würfelt)) Drei. Sehr gut. (3.0) 02:01:56‒02:02:20
Dass die Anwendung von Spielregeln kommunikativ ausgehandelt wird, ist nicht nur im Vergleich zum digitalen Spiel einzigartig. Auch in anderen analogen Spielformen, wie beispielsweise Brett- und Kartenspielen, ist in den Spielregeln klar definiert, wann eine Regel hinzugezogen wird.
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3 Ludische Prozessualität im Pen-and-Paper-Rollenspiel
Die Spielleiterin (SL) vollführt zu Beginn einen Angriff eines Nicht-Spieler/-innenCharakters20 („Rot“). Durch die Überleitung „und der tri-und versucht nochmal“ initiiert sie die Durchführung einer Spielmechanik. Es folgt ein Würfelwurf sowie die Berechnung eines Wertes, den die Spielleiterin als möglichen Treffer auf die von Spielerin Xenia (Xe) geführte Figur Dys interpretiert („Und äh mit einer Siebzehn trifft [er dich wahrscheinlich?]“). Nach Xenias Bestätigung folgt ein weiterer Würfelwurf, der das Ausmaß des Treffers bestimmen soll. Das Ergebnis, „Zwei Schaden“, überführt die Spielleiterin im Anschluss von einer ludisch-numerischen Ebene auf die Ebene der fiktiven Welt, indem sie die Verletzung genauer beschreibt („ganz leicht am Bein vorbei so die Wade aufgekratzt“). Hiermit endet die ludische Sequenz der Spielleiterin, die die Möglichkeit zum Handeln an Xenia weitergibt (sie verweist hier auf Xenia mit dem Namen ihrer Spielfigur: „[Und Dys du bist wieder dran.]“). Auch Xenias Handlungen, die mit ihrer Figur ebenfalls einen Angriff durchführt, folgen nach demselben Muster. Diese Form der Kampfhandlung, die innerhalb des Spielsystems von Dungeons & Dragons vollzogen wird, verdeutlicht die im Vorhinein beschriebene kleinschrittige Abfolge und Berechnung spielrelevanter Variablen. Auffällig daran ist zudem die stark formalisierte Struktur dieses Prozesses, der von der Spielleiterin kommunikativ organisiert wird; kennzeichnend sind hier Kommentierungen, direkte Ansprachen oder Zeigegesten, um die zentrale Spielhandlung (hier: Würfeln und Berechnen) kommunikativ zu rahmen. Dieses Ineinanderlaufen genuin-interaktiver und ergodisch-ludischer Prozesse stellt einen zentralen Unterschied zur Anlage des Systems eines Computerspiels dar, das sich durch seine „strikte Regelhaftigkeit“ (Engelns 2014, 104) auszeichnet. Nach Engelns (2014, 132) besteht das Computerspiel aus drei Ebenen der Realisierung: Die primäre Ebene umfasst das Spielsystem, das alle Ereignisse und Objekte im Spiel „simulativ und virtuell realisiert“. Gemäß dem von Hans-Joachim Backe (2008, 357) beschriebenen Strukturmodell des Computerspiels beinhaltet diese Ebene die Regeln der Spielwelt und zeichnet sich durch ihre potenziell unerschöpflichen Handlungsmöglichkeiten aus, „da keine Einschränkungen außer den Parametern der Spielwelt gelten“. Die zweite Realisierungsebene konstruiert das Setting des Spiels. Es integriert die spielprozessual relevanten Elemente der ersten Realisierungsebene und recodiert sie darüber hinaus in die gestalterischen (auditiven und visuellen) Informationen, die von den Spielenden rezipiert werden können (vgl. Engelns 2014, 135).
Als Nicht-Spieler/-innen-Charakter (NSC) soll in Folge im Gegensatz zum Spieler/-innenCharakter (SC) eine Figur verstanden werden, die in der fiktiven Welt eines Pen-and-PaperRollenspiels existiert, jedoch nicht von den Spielenden verkörpert wird. Sollte diese Figur mit den Spieler/-innen-Charakteren im Spielverlauf in Interaktion treten, wird sie von den Spielleitenden verkörpert und ausgespielt.
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Die tertiäre Realisierungsebene fungiert als zentraler Ort zur Realisierung von Narration, Motiven, Soziokulturellem, Szenarien und Themen (vgl. Engelns 2014, 137). Nicht alle Ereignisse und Objekte der tertiären Ebene sind dabei auf der primären Ebene realisiert. Die zweite Realisierungsebene dient als Schnittstelle zwischen der ersten und dritten Ebene, da diese die auf mathematisch-empirischen Regeln basierenden Elemente der ersten Realisierungsebene integriert und dazu bestimmte Datenmodule realisiert, die wiederum auf narrative und empirische Weltsysteme referieren (vgl. Engelns 2014, 132). Diese Weltsysteme dienen folglich auf tertiärer Realisierungsebene als Ausgangspunkt, um bestimmte Rezeptionsangebote zu organisieren, die in der Rezeption in eine storyworld überführt werden können. Gerade die erste Realisierungsebene scheint im Pen-and-Paper-Rollenspiel nur teilweise gegeben: Das im Computerspiel auf dieser Ebene beschriebene Spielsystem generiert Ereignisse und Objekte, basierend auf den durchgeführten mathematischen und formallogischen Operationen, und hält zugleich in Form eines Pools bestimmte Datenmodule bereit, die der Realisierung jeweiliger simulativer und virtueller Weltsysteme dienen. Ohne diese vom Computer durchgeführten Berechnungsoperationen können keine spielprozessual relevanten Informationen auf zweiter Ebene recodiert werden, um sie den Rezipierenden als visuelle oder auditive Zeichen zu präsentieren. Im Vollzug des Pen-and-Paper-Rollenspiels ist diese Ebene hingegen wesentlich sporadischer präsent, da durch die Ko-Präsenz der Teilnehmenden Interaktivität und Responsivität zu jedem Zeitpunkt gewährleistet sind.21 Kommunikative Handlungen und ludische Operationen müssen folglich nicht im Vorhinein präzise festgelegt werden. Die sporadische Präsenz des Spielsystems soll im Folgenden durch zwei Beispiele illustriert werden. Im ersten Beispiel aus dem Szenarioband Die Zuflucht (Don-Schauen 2008b), der im Rahmen des Rollenspiels Das Schwarze Auge (EA: Kiesow und Kramer 1984) veröffentlicht wurde, wird eine Regel zur Bestimmung des Ansehens („Rangwert“) einer Spielfigur auf einem Ritterturnier eingeführt: Benutzen Sie folgende Faustregel, um die Einstufung Ihrer Helden einzuschätzen: Ausschlaggebend ist zunächst einmal, ob ein Held adlig ist und welchen Adelstitel er trägt. Bei
Das quantitative Verhältnis zwischen den verschiedenen Ebenen des Rollenspiels ist schwer zu ermitteln, da sich je nach Regelwerk und Spielgruppe unterschiedliche Herausforderungen und Präferenzen ergeben können. Aus historischer Sicht lässt sich ein Trend zur Eingrenzung der spielsystemischen Ebene feststellen, was insbesondere durch den narrativist shift in den Regelwerken begünstigt wird (vgl. Edwards 2003). Mittlerweile haben sich im Bereich der Brettspiele die sogenannten Dungeoncrawler etabliert, eine Ausprägung der Gattung des Rollenspiels, in der die spielsystemische Ebene dauerhaft präsent ist und in der Regel keine fiktionale Kommunikation betrieben wird.
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exotischen Adelstiteln müssen Sie einschätzen, ob von Kolburg ihn kennt, ansonsten ordnet er jeden unbekannten Titel als gleichbedeutend mit Rittern ein. Bei gleichem Titel entscheidet der Sozialstatus, wobei Andergaster grundsätzlich so behandelt werden, als wäre ihr SO [d.i. Sozialstatus] 2 Punkte höher, während alle irgendwie ‚barbarisch‘ wirkenden Kämpfer (also auch Novadis und Thorwaler) einen Abzug von 2 Punkten erleiden. Weitere Modifikationen können Sie nach dem Verhalten der Helden vergeben: Bei besonders ritterlich wirkenden Kämpfern können Sie einen Bonuspunkt vergeben, bei solchen, die sich nicht zu benehmen wissen, einen Punkt abziehen. Wenn jetzt noch bei mehreren Personen Gleichstand herrscht, dann wählen Sie nach Gutdünken. Bei allen Meisterpersonen, bei denen der Rangwert (RW) eine Rolle spielt, ist er jeweils angegeben. (Don-Schauen 2008b, 16)
Im Regeltext werden verschiedene Faktoren genannt, die den Rangwert einer Spielfigur bestimmen können. Einige Faktoren beruhen auf festgelegten Eigenschaften der Figuren, zum Beispiel die Herkunft oder ein Adelstitel, andere auf dem Verhalten, das sie während des Turniers an den Tag legen („ritterlich“/„solche[ ], die sich nicht zu benehmen wissen“). Auffällig ist, dass der Regeltext weniger mit starren Festlegungen arbeitet, sondern den Spielleitenden überlässt, wie Regeln angewendet und ausgelegt werden. Marker hierfür sind zum einen Begriffe wie „Faustregel“, die die Regel weniger als Festsetzung denn als Richtlinie semantisiert. Zum anderen findet sich ein klarer Verweis auf die Entscheidungsfähigkeit der Spielleitenden, die die Spielfiguren „einschätzen“ müssen, um sie zu bewerten, und bei Gleichstand „nach Gutdünken“ entscheiden können. Im Spielprozess ist es folglich den Spielleitenden überlassen, ob und wie sie die Regel einsetzen und die jeweiligen Faktoren interpretieren. Diese Beziehung zwischen schriftlich niedergelegtem Regeltext und der konkreten Anwendung der Regel innerhalb der Performanz ist typisch für das Pen-and-Paper-Rollenspiel, was durch die formalisierten Spieldefinitionen der Ludologie bestätigt wird (vgl. Kap. 3.1.1). Im Gegensatz zum Computerspiel ist hier nicht eine prädeterminierte und mathematisch codierte Organisations- und Beziehungsstruktur nötig, um Responsivität zu garantieren. Durch den Einfluss der menschlichen Spielenden, die den Einsatz und die Auslegung der Regeln während des Spielprozesses bestimmen, wird das Spielsystem deutlich flexibler gestaltet. Neben dieser flexiblen Anwendung lässt sich am folgenden Auszug aus einer Spielsitzung exemplarisch zeigen, wie spielprozessuale Sequenzen sprachlich initiiert werden. In diesem Beispiel werden die magischen Auswirkungen einer musikalischen Darbietung verhandelt, die die von Romina (Ro) geführte Spielfigur auf einem Fest aufführt.
3.2 Modellierung: Ludische Prozessualität und narrative Rezeptionsangebote
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Pathfinder 1 S4.1: Gemeinsame Planung SL:
Ro:
SL:
Ro: SL:
Ro: SL:
Ro:
Etwas das du machen kannst (.) wenn du willst. (3.0) Äh::::m ja? ((schaut auf seinen Laptop))(3.0) Also möchtest du eine Performance starten das kannst du gerne tun. Ja:. Ich fange an äh:: Gitarre zu spielen? Un:d ich sehe dass die Menschen sich um mich herum versammeln? Un:d ähm: (.) sie sind sehr [froh darüber haben] [Mach doch mal] eine: äh Probe auf Auftreten. (.) Mit Saiteninstrumenten. (…) Okay. (1.0) Dann habe ich Einundzwanzig. Mhm? (.) Also zuallererst einmal ja: (.) die: äh Leute beobachten dich (.) werden aufmerksam auf dich (.) beobachten dich ja dann machst deine äh deine M-deine Musikgeschichte (.) ((reißt die Augen auf, zeigt in Richtung Pa)) "spielt gar nicht schlecht. Gar nicht schlecht." (2.0) Dir werden tatsächlich vier Goldstücke zugeworfen, (.) ((lachend)) wie so ein Straßenmusiker halt ((Ro lacht)) Ähm (.) wenn du möchtest kannst du äh dann das dann in deine: entsprechende (.) Barden(.) Musikperformance also die magischen übernatürlichen Komponenten umwandeln? Mhm? Dann machen die Leute jetzt Rettungswürfe, (3.0) und mehr oder weniger werden sie dann bezaubert sein. ((Raschelt mit Würfeln)) (1.0) Eher weniger. Mal gucken.(.) Das Charisma deines Charakters ist glaube ich Sechzehn richtig? ((Ol zeigt auf Ros Charakterdokument))(3.0) >Ja.< 00:20:36‒00:23:38
Der Spielleiter (SL) schlägt Romina zu Beginn eine Handlungsmöglichkeit vor („wenn du willst“/„das kannst du gerne tun“), die Romina durch die beschriebene Handlung ihrer Spielfigur („Ich fange an äh:: Gitarre zu spielen?“) annimmt. In dem Moment, in dem Romina aus der Handlungssphäre ihrer geführten Figur heraustritt, um die Reaktion des Publikums zu beschreiben („ich sehe dass die Menschen sich um mich herum versammeln? Un:d ähm: (.) sie sind sehr [froh darüber haben]“), unterbricht sie der Spielleiter, um den Erfolg ihrer Aufführung zu überprüfen. Er initiiert dabei einen ludischen Prozess („[Mach doch mal] eine: äh Probe auf Auftreten. (.) Mit Saiteninstrumenten.“), um eine derartige Bewertung vornehmen zu können. An dieser Stelle vollzieht sich der Übergang von der
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reinen Kommunikationssituation in eine ludische Interaktion: Romina würfelt und ermittelt aus ihren Figurenwerten, dass sie ein Ergebnis mit dem Wert 21 erzielt hat. Der Spielleiter greift dieses Ergebnis auf und beschreibt die Reaktion des Publikums („spielt gar nicht schlecht. Gar nicht schlecht.“). Die Transformation illustriert folglich die Rückkehr von der Anwendung der Spielregeln sowie der mathematischen Berechnung des Erfolges innerhalb des Spielsystems auf die Ebene der fiktionalen Kommunikation, die sich gemäß dem Würfelergebnis verändert. Dieser Übergangspunkt verdeutlicht zum einen die kommunikative Interaktivität, die durch die Responsivität der Beteiligten erzeugt wird, zum anderen jedoch auch den ludisch-ergodischen Prozess, der durch das Würfeln, die Berechnung und Interpretation des Ergebnisses im Gespräch vollzogen wird. Die folgende Interaktion zwischen Romina und dem Spielleiter verläuft nach einem ähnlichen Muster: Auch hier wird Romina eine Handlungsmöglichkeit vorgeschlagen („wenn du möchtest kannst du äh dann das dann in deine: entsprechende (.) Bardenmusikperformance also die magische übernatürliche Komponenten umwandeln?“), die sie annimmt. Anschließend beginnt der Spielleiter, die herangezogene Spielmechanik zu benennen („Dann machen die Leute jetzt Rettungswürfe“) und die Auswirkungen auf die fiktive Welt zu beschreiben („und mehr oder weniger werden sie dann bezaubert sein. (1.0) Eher weniger.“). Gerade das letzte Beispiel zeigt, dass das Spielsystem folglich nur in bestimmten Momenten des Spielprozesses konsultiert wird, nämlich dann, wenn es eine/-r der Teilnehmenden vorschlägt oder bestimmt. Dies unterstreicht die von Montola (2008, 29) formulierte Beobachtung, dass sich Rollenspiele im Spektrum der von Caillois beschriebenen Begriffe des paidia und des ludus bewegen. In manchen Situationen erscheint das Rollenspiel – nicht nur aufgrund seiner Möglichkeit zum make-believe – eher als freies Spiel, während ein herangezogenes Spielsystem sich an formalisierte Spielformen im Sinne eines ludus annähert.
3.2.3 Setting und Szenario Gibt nun das Vorhandensein eines variabel zu realisierenden Spielsystems den Ausschlag, sich gänzlich von dem Modell spielstrukturierender Ebenen im Pen-and -Paper-Rollenspiel zu lösen? Ein erneuter Blick auf die Regelwerke verdeutlicht, dass diese nicht nur Informationen über das Spielsystem beinhalten. So beschreibt David Jara (2014, 42) drei zentrale Elemente, aus denen sich das Regelwerk eines Pen-and-Paper-Rollenspiels zusammensetzt: Informationen über die Spielregeln (also das Spielsystem); paratextuelle Elemente, die Hinweise auf transtextuelle Be-
3.2 Modellierung: Ludische Prozessualität und narrative Rezeptionsangebote
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ziehungen und mögliche Gestaltungen einer Narration liefern können,22 sowie Informationen über das Setting. Der Settingbegriff wird sowohl in den para-akademischen Diskursen als auch in den Forschungsbeiträgen der Game Studies sehr ambivalent genutzt. Britta Neitzel (2000, 78), die diesen Begriff für ihre Untersuchung von Computerspielerzählungen verwendet, sieht das Setting als „Welt, in der sich die Vorkommnisse und Handlungen abspielen“, und verortet es im Sinne Chatmans als Teil einer Narration, der die Gegebenheiten definiert, in die die Geschehnisse eingebettet sind.23 Von einer derartigen Konzeption des Settingbegriffs soll im Folgenden jedoch abgesehen werden, und zwar nicht, um sich von der klassischen Erzähltheorie zugunsten einer transmedialen Erzähltheorie abzukehren, die durch den storyworld-Begriff ohnehin eine räumliche Komponente integriert, sondern weil Rollenspiel-Regelwerke ihre Informationen vornehmlich beschreibend statt erzählend präsentieren.24 Nach Chatman (1990, 9) erfüllen Beschreibungen die Funktion, Eigenschaften von Dingen erfahrbar und vorstellbar zu machen, „[t]hey ‚portrait‘, ‚depict‘, or ‚represent‘“. In Anlehnung an die Textlinguistik sieht er Beschreibungen und Erzählungen aus globaler Perspektive als zwei unterschiedliche Texttypen, wenngleich beide Typen auf lokaler Ebene in enge Beziehungen treten können (vgl. Chatman 1990, 15). So finden sich in Erzählungen mitunter größere deskriptive Teile, die notwendig sind, um die Eigenschaften und Gegebenheiten der fiktiven Welt festzulegen. Genette (1976, 7) wiederum geht dabei so weit, Beschreibungen als „ancilla narratiensis [the handmaiden of the narration]“ zu klassifizieren, die im literarischen Text in der Regel immer Erzählungen untergeordnet sind. Dieser Auffassung widersprechen Chatman und auch Bal (1981, 100–101), die Beschreibungen als autonome Konstrukte begreifen, die auch ohne narrative Elemente existieren können.
Diese transtextuellen Beziehungen sollen in Kapitel 6.1.3 genauer analysiert werden. Chatmans Narrationsbegriff orientiert sich zwar an einer eher klassischen Konzeption, indem er Narrativität im Rahmen der Sequenzalität des darstellenden Mediums als Zweiteilung einer vermittelnden discourse-Ebene und einer story-Ebene begreift, die sich aus einer Kette von Ereignissen („chain of events“; Chatman 1975, 295) zusammensetzt. Er untergliedert diese storyEbene jedoch noch einmal in events und existents, wobei letztere Kategorie die Figuren und das Setting integriert (vgl. Chatman 1975, 295). Ausnahmen bestätigen hier die Regel: So wird die dem Rollenspiel Castle Falkenstein (Pondsmith 1996) zugrunde liegende Spielwelt aus der Perspektive eines Reisenden beschrieben, der durch ein Dimensionstor in diese Welt gezogen wurde. Seine Eindrücke über die Welt berichtet er seinem Freund Mike in einer Briefkorrespondenz. Auch das Regelwerk des Rollenspiels The Extraordinary Adventures of Baron Munchausen (Wallis und Rayyan 2016 [2008]) wird aus der Perspektive eines Ich-Erzählers beschrieben, der behauptet, einst Baron Münchausen selbst getroffen und das vorliegende Spiel von ihm erklärt bekommen zu haben.
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Regelwerke vieler Pen-and-Paper-Rollenspiele lassen sich als deskriptiver Text definieren, da sie im Sinne Bals (1981, 122) vornehmlich referenzielle, enzyklopädische Informationen über eine fiktive Welt übermitteln.25 Sie selektieren und präsentieren „statische Situationen, beschreiben Zustände, zeichnen Bilder oder Porträts, stellen soziale Milieus dar oder typologisieren natürliche wie soziale Phänomene“ (Schmid 2014 [2005], 6) und integrieren folglich keine Zustandsveränderungen, die gemäß den von Herman (2009, 18) und Ryan (2006, 8) proklamierten Narrativitätsdefinitionen einen Bezug auf ein und denselben narrativen Agenten beziehungsweise keine enge Kausalität durch Similarität oder Kontrast zu anderen dargestellten Zuständen haben (vgl. Schmid 2014 [2005], 6).26 Der Settingbegriff, den Engelns innerhalb seines Strukturebenenmodells des Computerspiels entwickelt, löst sich von narratologischen Konzepten, da auch nicht-narrativen Spielen zugeschrieben wird, ein Setting zu etablieren. Nach dieser Definition ist das Setting „als Gesamtheit aller gestalterischen De- und Recodierungen von Elementen der Spielwelt anzusehen, seien dies nun mathematische Operationen oder Formgebungen von Gegenstanden und Figuren“ (Engelns 2014, 135). Das Setting umfasst also Verfahren, die Elemente des Spielsystems mit Elementen eines dem Spiel zugrunde liegenden Szenarios auf der zweiten Realisierungsebene der Spielstruktur verbinden. Als Szenario soll mit Engelns (2014, 399) „die Gesamtheit aller gestalterischen Vorgaben, anhand derer die mathematischen Operationen der primären Realisierungsebene auf der sekundären Ebene eine Gestalt oder ein Design mit Konnotationen der tertiären Realisierungsebene erhalten“, definiert werden. Dass diese Auslegung des Settingbegriffs ebenso auf das Rollenspielregelwerk anwendbar ist, zeigt die exemplarische Betrachtung eines Regeltextes des Spiels Star Wars – The Roleplaying Game (Costikyan 1987). Rules: Ships and Personal Combat Ships rarely fire at characters – but it does sometimes happen. TIE Fighters occasionally strafe ground targets, for example. A ship firing at a character is always firing at short range (because a single human wouldn’t even be visible to a gunner firing at a ship gun’s medium range). However, characters are
Textpassagen, die sich dem Texttyp der Erzählung annähern, sind von Regelwerken jedoch nicht ausgeschlossen; sie sind mitunter deutlich paratextuell markiert und erfüllen weniger die Funktion einer Settingbeschreibung als die eines metaframings (vgl. Jara 2014, 42). Wenn an dieser Stelle mit Rekurs auf Schmid von statischen Situationen die Rede ist, heißt dies nicht, dass Beschreibungen keine Bewegungen darstellen können (vgl. Bal 1981, 132). Diese Bewegungen haben jedoch keine erkennbare narrative Kontiguität und Kausalität, sodass sie nicht als narrativ relevante Zustandsveränderung interpretiert werden können.
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much smaller than the normal target for a ship’s gun; the difficulty is usually 20. Roll the ship’s fire control and the gunner’s skill dice as normal; the target may dodge. Ship weapon damage codes are scaled differently from hand weapons. An X-Wing’s laser cannon has a damage code of 60 – but it’s a lot more than 1D more powerful than a blaster rifle (damage code of 50). Ship weapon die codes are designed for comparison with ship hull codes – not with character strength codes. If, for some reason, a ship fires at a character and hits him, double the die code before rolling (60 becomes 120). The character still rolls strength (and armor) dice normally. (Costikyan 1987, 65)
Der Regeltext beschreibt eine Konfliktresolutionsmechanik, die im Kampf zwischen Raumschiffen und Figuren zur Anwendung kommt. Einleitend wird eine derartige Konfrontation als selten beschrieben, die dennoch – gerade innerhalb einer Kampfsituation mit „TIE Fighters“ – möglich erscheint. Nachfolgend werden Reichweitenbedingungen zwischen Angreifer und Ziel sowie eine erhöhte Schadenswirkung der Raumschiffe durch ihre stärkeren Laserkanonen genannt. Gerade der letzte Absatz verbindet dabei mathematische Zahlenwerte und Szenarioelemente (so beispielsweise „An X-Wing laser cannon has a damage code of 50“) in Form einer für das Pen-and-Paper-Rollenspiel typischen fundamental gauge pattern (vgl. Kap. 3.2.2). Der Absatz illustriert folglich ein Verfahren des Settings, dessen zentrale Aufgabe ebendiese Verknüpfung spielprozessual relevanter Elemente mit den gestalterischen Elementen des Szenarios beinhaltet. Neben den Textabschnitten, die spielsystemische Elemente mit den fiktiven Elementen des Szenarios verknüpfen, finden sich in Rollenspielregelwerken zudem Passagen, die als reine Szenariobeschreibungen gedeutet werden können. Der folgende Ausschnitt aus dem Regelwerk des Pen-and-Paper-Rollenspiels Vampire: The Masquerade (Achilli und Webb 2011) fungiert als Einleitung in die dem Spiel zugrunde liegende World of Darkness: The world of Vampire is a dark reflection of our own. The shadows loom longer here, and the night is more reluctant to yield today. Corruption runs rampant, from the government through private corporations and into the various subcultures that revel in these culturally bankrupt times. It is a world of contrasts, of haves versus have-nots. It all looks very much like the real world, as seen through an extremely stylized filter that turns up the contrasts between dark and light. The technology is the same as ours right now, but the people who use it are different – darker, in personality and motive – and that changes how the world functions. (Achilli und Webb 2011, 13)
Im Gegensatz zum vorher erörterten Regeltext werden in diesem Beispiel keine spielprozessual relevanten Elemente mit einer Szenariogestaltung verbunden. Zentrale Funktion dieses Abschnitts ist es, das Szenario selbst zu etablieren, das in Gestalt einer fiktiven Welt die Basis für mögliche Settingelemente liefert. Schrier et al.
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(2018, 359) bezeichnen aus diesem Grund Rollenspielregelwerke als „world books“, die neben den Informationen über das Spielsystem ebenso eine fiktive Welt konstruieren. Diese Konstruktion einer fiktiven Welt stellt das zentrale Gestaltungselement des Szenarios dar, die innerhalb eines Rollenspielregelwerkes geleistet wird. Da das Rollenspielregelwerk seine Informationen deskriptiv vermittelt, erscheint die hier konstruierte fiktive Welt als Welt, die durch ihre Darstellung keine storyworld erzeugt (vgl. Wolf 2012, 198; Zipfel 2014, 111). Derartige Weltenbeschreibungen sind demnach vielmehr Taxonomien, die das Wissen über die Welt in enzyklopädischer Form präsentierten (vgl. Schrier et al. 2018, 359). Dieses Wissen folgt dabei zumeist den von Mark J.P. Wolf (2012) aufgestellten Kategorien zur Weltenkonstruktion. Als gestalterische Basis dienen die zentralen infrastrukturellen Elemente Raumverortung, Zeitverortung und Figuren, die als existenzieller Ursprung einer Welt gesehen werden können (vgl. Wolf 2012, 154–155).27 Da gerade diese basalen infrastrukturellen Elemente, auf die Wolf referiert, an die zentralen Kategorien von Narrativität anbindbar sind, ist es denkbar, die fiktive Welt in eine Narration zu überführen, schon allein aus dem Grund, dass allen fiktional-narrativen Darstellungen eine mehr oder weniger definierte fiktive Welt zugrunde liegt (vgl. Doležel 1998, 54). Gerade die Elemente der fiktiven Welt, die im Setting mit den spielprozessual relevanten Operatoren des Spielsystems verbunden werden, liefern während des Spiels die nötige Konkretisierung der Figurenkonstellation sowie der Raum- und Zeitverortung und ermöglichen, Spielhandlungen in Narreme zu überführen. Dass diese Elemente konkretisiert werden müssen, verweist bereits indirekt auf die Rolle der Setting- und Szenarioinformationen des Regelwerkes im Spielprozess. Ähnlich wie es bei der Integration des Spielsystems der Fall ist, müssen Setting und Szenario von den Beteiligten mittels ihrer kommunikativen Handlungen in den Vollzug des Pen-and-Paper-Rollenspiels eingebracht werden. Eine Überführung von Szenario- und Settingelementen des Regelwerkes in den Spielprozess tritt also erst dann ein, wenn Beteiligte diese aktiv durch ihre kommunikativen Handlungen realisieren. Das folgende Beispiel illustriert einen Fall, in dem die durch das Regelwerk konstituierten Szenarioelemente im Spielprozess aufgegriffen werden:
Eine ähnliche Konzeption entwickeln auch Klastrup und Tosca (2004, 412), die sich jedoch stärker auf digital repräsentierte Welten innerhalb eines transmedialen Erzählsystems bezieht. Sie differenzieren zwischen den Kategorien des Mythos („the establishing conflicts and battles of the world, which also present the characters of the world“) des Topos („the setting of the world in a specific historical period and detailed geography“) sowie des Ethos („the explicit and implicit ethics of the world and (moral) codex of behaviour, which characters in the world are supposed to follow“).
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S1: Shadowrun 1 S1.3: Nach dem Kampf SL:
Ad: SL:
Da:
Äh habt ihr das gelesen in Köln Düsseldorf Dortmund dieser ganze Bereich ist quasi zu einem riesigen globalen Gebiet zusammengewachsen, Ist es das jetzt nicht schon? ((Ch, Da und Be lachen)) Ja es ist (.) auch noch (.) dichter zusammengewachsen sozusagen es ist quasi alles also eine der größten Städte der Welt tatsächlich (.) ähm wenn man das so nennen kann weil man gar nicht so genau weiß wo ist die eine Stadt wo ist die andere Stadt. (1.0) Un:d Megaruhrpott. (2.0) 01:35:49‒01:36:26
Der Spielleiter (SL) vermittelt seiner Spielgruppe hier eine Information über die fiktive Welt, in der die Spielhandlung stattfindet. Diese basiert auf dem Regelwerk des Rollenspiels Shadowrun (EA: Babcock, III. et al. 1989), dessen Szenario auf einer dystopischen, mit phantastischen Elementen angereicherten Weltenkonstruktion beruht (vgl. Schmidt 2012, 176–177), die auch Referenzobjekte der realen Welt integriert (hier: „Köln Düsseldorf Dortmund“). Durch „habt ihr das gelesen“ bezieht sich der Spielleiter auf Informationen über dieses Szenario, die im Regelwerk schriftlich festgehalten wurden. Die Verwendung des Perfekts verweist in diesem Kontext auf eine mögliche Vorbereitung vor Beginn der eigentlichen Spielsitzung. Regelwerke üben damit auf die sich im Spiel ergebene storyworld einen vorgelagerten Einfluss aus: Sie werden von den Beteiligten im Vorhinein rezipiert und vorbereitend genutzt, um einen Rahmen für mögliche Spielhandlungen zu erzeugen. Im Spielprozess selbst kann das Regelwerk ebenfalls dazu verwendet werden, nicht nur die Spielregeln, sondern auch die Elemente der fiktiven Welt nachzuschlagen.28 Ihm kommt also in diesem Fall eine kanonische Funktion zu (vgl. Schrier et al. 2018, 358–359), da in ihm die Propositionen dieser Welt kodifiziert niedergeschrieben sind. In Bezug auf mögliche narrative Rezeptionsangebote konstituiert es somit zentrale Elemente einer narrativen Architektur (vgl. Jenkins 2004; MeifertMenhard 2013, 47), die die Entwicklung und Gestaltung möglicher storyworlds im-
Rafael Bienia betont, dass gerade der Rückgriff auf Spielmaterialien eine entscheidende Komponente im Rollenspielprozess darstellt und sieht die Materialität des Rollenspiels als dritte konstituierende Säule neben Spiel und Erzählung (vgl. Bienia 2016, 14).
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3 Ludische Prozessualität im Pen-and-Paper-Rollenspiel
plizieren.29 Ob und wie diese Architektur nun in der Spielsitzung realisiert wird, hängt sowohl von der Rezeptionshaltung als auch von den Kommunikationshandlungen der Teilnehmenden ab.
3.3 Zusammenfassung Betrachtet man die ludischen Prozesse im Pen-and-Paper-Rollenspiel aus narratologischer Perspektive, ergeben sich drei zentrale Herausforderungen, die primär die Auswahl eines geeigneten narratologischen Zugangs bedingen: Erstens ist es bedeutsam, Spiele als eigenständige Formen zu betrachten, die zwar potenziell narrative Darstellungen erzeugen können, aber nicht müssen. Narrativität stellt folglich eine optionale Eigenschaft dar, die zumeist in enger Beziehung zu den ludischen Elementen des Spiels steht. Diese Beziehung muss notwendigerweise für die Entwicklung eines narratologischen Zugangs berücksichtigt werden. In den konstituierenden Diskursen und Publikationen der Game Studies findet das Pen-and-Paper-Rollenspiel nur wenig Berücksichtigung. Die in diesem Feld entwickelten formalen Spieldefinitionen (vgl. Juul 2003; Salen und Zimmerman 2004) sehen es zumeist als Randphänomen an, was unter anderem an der Verhandelbarkeit seiner Spielregeln liegt; eine Eigenschaft, die es zwischen regelund zielorientierten Spielformen (ludus) und freierem Spiel (paidia) verortet (vgl. Montola 2012, 103). Hieraus ergibt sich eine zweite Herausforderung, die sich bereits früh entwickelt, wie auch die para-akademischen Diskurse hervorheben: Aufgrund ihrer Variabilität können Pen-and-Paper-Rollenspiele auf ganz unterschiedliche Weise gespielt werden, was einerseits durch die individuellen Spielpräferenzen der Teilnehmenden, andererseits rückwirkend durch verschiedene Rollenspielpublikationen beeinflusst wird, die spezielle Spielstile fördern. Die in Kapitel 2 aufgegriffenen Definitionen (vgl. u. a. Flöter 2018, 41–42; Schmidt 2012, 35; Grouling Cover 2010, 168), aber auch die Fandiskurse zeigen, dass eine Möglichkeit, Pen-and-Paper-Rollenspiele zu spielen, auf die Entwicklung einer narrativen Darstellung ausgerichtet ist. Eine sich daraus ergebene erzähltheoretische Perspektive, die nicht nur die narrativen Eigenschaften in den Blick nimmt, sondern auch darauf zielt, wie rezipiert wird, fordert die Entwicklung eines narratologischen Zugangs, der die Rezeption von Erzählungen berücksichtigt. Auf eine derartige Ausrichtung verweisen auch die narratologischen Konzeptionen zu digitalen Spielen, wenngleich das Pen-and-Paper-Rollenspiel aufgrund seiner erst im
Strategien, die die Gestaltung dieser Architektur betreffen, sollen in Kapitel 4.2 näher betrachtet werden.
3.3 Zusammenfassung
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Spielprozess konkretisierten narrativen Darstellung, die sowohl die Annahme als auch die Produktion narrativer Rezeptionsangebote umfasst, den Fokus auf die Durchführung des Spiels deutlich stärker fordert. In dieser Hinsicht stellt sich der Zugang der transmedialen Erzähltheorie als geeignet heraus, der neben einer medienunabhängigen Definition von Narrativität auch die Rezeption narrativer Darstellungen berücksichtigt. In den strukturellen Unterschieden zwischen Pen-and-Paper-Rollenspielen und anderen analogen und digitalen Spielformen liegt die dritte Herausforderung für die Entwicklung eines geeigneten narratologischen Zugangs. Wenngleich die narratologische Beschäftigung mit Computerspielen geeignete Modelle hervorgebracht hat (vgl. u. a. Backe 2008; Engelns 2014), um den Einfluss von ludischen Prozessen auf die narrative Darstellung zu beschreiben, ergeben sich aus den medialen Eigenschaften zentrale Unterschiede, die bei der Übertragung dieser Modelle auf das Pen-and-Paper-Rollenspiel beachtet werden müssen. So stellt Engelns’ (2014) Modell des Erzählens in Computerspielen zentrale narrative Rezeptionsangebote heraus, die sich vornehmlich auf den Einfluss von Spielstrukturen auf die inhaltlichen Elemente einer Erzählung beziehen (Figuren, Räume, Ereignisse, Themen); eine Übertragung auf das Pen-and-Paper-Rollenspiel erscheint hier denkbar, sofern man davon ausgeht, dass Rollenspiele die basalen Kriterien von Narrativität (vgl. Herman 2009) erfüllen. Engelns’ Modell integriert in seiner strukturellen Beschreibung jedoch eine technisch-materielle Komponente, deren Transfer auf das Pen-andPaper-Rollenspiel nicht vollends gegeben ist. Der zentrale Unterschied ergibt sich aus der Beschaffenheit des Kommunikationsvorgangs, der das Erzählen und Spielen maßgeblich prägt. Das digitale Spiel fordert gemäß seiner computergestützten Realisierung eine auf mathematischen Operationen basierende Datenstruktur, die sowohl das Spielsystem als auch einzelne narrative Elemente präzise festlegt, um auf die Handlungen der Spielenden zu reagieren (vgl. Aarseth 1997, 11; Engelns 2014, 95–100). Im Pen-and-Paper-Rollenspiel handeln die Teilnehmenden im Rahmen einer face-to-face-Kommunikation – Responsivität als Eigenschaft von Interaktivität ist folglich gewährleistet, solange die Teilnehmenden bereit sind, miteinander zu kommunizieren. Andere Materialien, wie Würfel, Stifte oder schriftliche Dokumente, werden in diesem Kommunikationsprozess handelnd eingebracht. Um mit diesen Materialien bedeutungsvoll zu interagieren und die sich aus dieser Interaktion ergebenden ludischen Prozesse zu vollziehen, ist eine Strukturierung erforderlich, der sich die Teilnehmenden während des Rollenspiels bewusst sein müssen. Diese Struktur wird durch das Regelwerk geschaffen, das dem jeweiligen Pen-and-Paper-Rollenspiel zugrunde liegt, und lässt sich mit den von Engelns entwickelnden Realisierungsebenen in digitalen Spielen in Beziehung setzen: Das Spielsystem wird im Regelwerk durch verschiedene Regeln und Spielmechaniken konstituiert, wobei im Pen-and-Paper-Rollenspiel häufig auf game patterns der Kon-
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3 Ludische Prozessualität im Pen-and-Paper-Rollenspiel
fliktresolution sowie die Erstellung und Entwicklung von Spielfiguren zurückgegriffen wird (vgl. Björk und Zagal 2018, 327). Das Szenario legt zentrale Eigenschaften der fiktiven Welt fest, in der die Rollenspielerzählung stattfindet. Das Setting verbindet einzelne Elemente der fiktiven Welt mit den Mechaniken und Regeln des Spielsystems und legt dadurch mögliche Schwerpunkte innerhalb der Spielhandlung fest (vgl. Bowman 2010, 25; Dormans 2006, 4). Die Lektüre des Regelwerkes ist dem eigentlichen Spielprozess vorgelagert und dient der Vorbereitung. Da das Befolgen der Regeln im Pen-and-Paper-Rollenspiel je nach Spielpräferenz variiert, fungieren die Teilnehmenden als Filter für den Transfer konkreter Setting-, Szenario und Spielsystemelemente in den Spielprozess. Nur das, was die Teilnehmenden gemäß ihrer eigenen Präferenz und dem Ergebnis ihrer Lektüre der Regelmaterialien einbringen, ist Teil des eigentlichen Spielprozesses. Dies hat Konsequenzen für die Realisierung aller drei Ebenen während der Spielhandlung: Zum einen wird die spielsystemische Ebene erst dann realisiert, wenn Teilnehmende durch ihre kommunikativen Handlungen eine Spielhandlung initiieren. Weiterhin wird das dem Regelwerk zugrunde liegende Szenario erst dann aufgegriffen, wenn Beteiligte aktiv Elemente innerhalb einer fiktionalen Kommunikationshandlung reproduzieren, erweitern oder anpassen. Zum anderen wird das Setting vor allem dann expliziert, wenn Teilnehmende mittels ihrer Kommunikationshandlungen eine Interpretation der Spielergebnisse leisten. Diese Transformationshandlung ist für den Einfluss ludischer Prozesse auf die sich ergebende narrative Darstellung von Bedeutung. Während im Computerspiel diese Transformation allein durch die Entscheidung geprägt ist, das Angebot einer narrativen Rezeption anzunehmen, impliziert eine aktiv vollzogene Transformation im Pen-and-Paper-Rollenspiel bereits, dass eine derartige Annahme stattgefunden hat. Dass Teilnehmende bestimmte ludische Handlungen in eine Erzählung überführen, ist somit Ausdruck einer narrativen Rezeptionshaltung, die auf die Entwicklung einer narrativen Darstellung ausgerichtet ist. Es zeigt sich demnach, dass gerade die Kommunikationshandlungen der Teilnehmenden einen entscheidenden Beitrag zur Etablierung einer fiktiven Welt sowie zur Transformation ludischer Prozesse in eine Erzählung leisten. Aus diesem Grund wird im folgenden Kapitel der Fokus auf die Eigenschaften der Kommunikation im Pen-and-Paper-Rollenspiel gelegt, um darauf aufbauend ein narratives Kommunikationsmodell zu entwickeln, das im Rahmen der skizzierten Herausforderungen einer narratologischen Theoriebildung auch die Ebene der Rezeption berücksichtigt. Den ludischen Prozessen, die im Pen-and-Paper-Rollenspiel vollzogen werden, soll jedoch ebenso Rechnung getragen werden: Sie beeinflussen die erzählerische Vermittlung, indem sie der Kommunikation eine zusätzliche Strukturierungsebene hinzufügen, die Einfluss auf die narrative Kommunikation hat. Zugleich prägen sie auch den Erzählinhalt, worauf das von Engelns konzipierte ludonarratologische
3.3 Zusammenfassung
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Modell hinweist. Die Achse der Handlung zielt zentral auf die Handlungs- und Ereignisentfaltung , darin inbegriffen sind die Entwicklung von Figuren und Erzählräumen; die Achse der Topoi wiederum zielt auf Themenstrukturen, die sich innerhalb der semantischen Ordnung der Erzählung entwickeln. Diese inhaltlichen Einflüsse sollen in Kapitel 5.2 expliziert werden.
4 Erzählerische Kommunikation im Pen-and-Paper-Rollenspiel Die in Kapitel 2.3 aufgestellte Definition begreift das Pen-and-Paper-Rollenspiel als Verschränkung ludischer und kommunikativer Prozesse, die in seinem Vollzug in Verbindung treten. Im vorangegangenen Kapitel wurde gezeigt, dass die ludische Prozessualität durch den ergodischen Charakter der Spielsysteme geschaffen wird, indem Rückkopplungseffekte durch das Handeln der Spielenden erzeugt werden. Kommunikative Prozessualität entwickelt sich hingegen durch die interaktiven (sprachlichen) Kommunikationsprozesse; Pen-and-Paper-Rollenspiele zu spielen, fordert die aktive Partizipation der Teilnehmenden und ist durch ein responsives Agieren und Reagieren auf die Handlungen der Mitspielenden gekennzeichnet. In Kapitel 3 wurde zudem darauf hingewiesen, dass aufgrund verschiedener Spielpräferenzen und Spielsysteme Erzählen zuallererst als Angebot gestaltet ist, das aus der Rezeptionshaltung sowie den Handlungen der Teilnehmenden entstehen kann. Aus diesem Grund müssen ebenso andere kommunikative Ebenen oder Ordnungsstrukturen im Pen-and-Paper-Rollenspiel existieren, die im Folgenden herausgearbeitet werden sollen. In Anknüpfung an die Erzählforschung des russischen Formalismus (vgl. u. a. Tomaševskij 1985) verweisen die klassisch-strukturalistischen Erzähltheorien auf eine Zweiteilung der Erzählung in histoire und discours (vgl. Todorov 1966), verkürzt dargestellt als die Unterscheidung zwischen dem „Was“ und dem „Wie“ einer Narration (Martínez und Scheffel 2016 [1993], 25). Die Ebene der histoire umfasst hierbei die durch einen Text erzählte Geschichte und setzt sich aus den Ereignissen, Figuren und Schauplätzen einer Narration zusammen, damit vornehmlich den Kategorien, die eine storyworld zentral konstituieren. Die discours-Ebene umfasst nach Tzvetan Todorov (1966, 126) die Strategien der erzählerischen Vermittlung, was impliziert, dass ein und dieselbe Geschichte auf gänzlich unterschiedliche Art und Weise vermittelt werden kann. Für einige neuere Einführungswerke in die Narratologie (vgl. u. a. Lahn und Meister 2016 [2008]) sowie Theorien, die sich mit Formen erzählerischer Darstellung jenseits der Literatur beschäftigen (vgl. u. a. Horstmann 2018b; Kuhn 2011) ist hierbei vor allem die kommunikative Dimension der narrativen Vermittlungsinstanzen relevant, die Genette (2010 [1994], 137–139) im Bereich des discours unter der Kategorie „Stimme“ verortet. Die erzählerische Kommunikation als eigenständigen Phänomenbereich zu betrachten und sich somit für eine „Trias“ (Lahn und Meister 2016 [2008], 71) der Dimensionen der Erzählkommunikation, Diskurs- und Inhaltsebene zu entscheiden, ist insofern sinnvoll, als eine erzählende Instanz eine konstitutive Eigenschaft der narrativen Vermittlung darstellt (vgl. Lahn und Meister 2016 [2008], 71). Im Hinblick auf den Untersuchungshttps://doi.org/10.1515/9783110788983-004
4 Erzählerische Kommunikation im Pen-and-Paper-Rollenspiel
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gegenstand ist es unumgänglich, diese kommunikative Dimension gesondert zu betrachten, da Kommunikation hier durch verschiedene Ordnungsstrukturen gerahmt wird, wovon die Erzählung nur eine mögliche ist. Es soll daher in diesem Kapitel zentral um die Modellbildung der Erzählkommunikation im Pen-and-Paper -Rollenspiel gehen, ehe im anschließenden Kapitel 5 die verschiedenen Strategien und Parameter des Diskurses (discours) und des Erzählinhalts (histoire) betrachtet werden. Das Pen-and-Paper-Rollenspiel zeichnet sich durch eine komplexe Kommunikationsstruktur aus: Die Teilnehmenden kommunizieren in der Regel mündlich und gemeinsam, sodass sich Sprecher/-innen- und Zuhörer/-innenpositionen stetig im Wechsel befinden. Zugleich übernehmen sie zu Teilen die Rolle von fiktiven Figuren, deren Handeln sie fortlaufend beschreiben. Wenngleich einige Anteile der im Spielprozess stattfindenden Kommunikation womöglich bereits im Vorhinein geplant worden sind, entwickelt sie sich nicht nur aufgrund von Zufallswürfen, sondern auch wegen der spontanen Äußerungen der Spielenden teilweise ungeplant und fordert von den Beteiligten an gewissen Stellen Spontaneität und Improvisation. Um die erzählerische Kommunikationssituation zu modellieren, ist es nicht ausreichend, Rollenspielerzählungen aufgrund der Tatsache, dass sie primär mündlich realisiert werden, den Formen des alltäglichen Erzählens zuzuordnen und sie nach (sozio-)linguistischen Parametern zu beschreiben, die beispielsweise von William Labov und Joshua Waletzky (1997) oder Uta M. Quasthoff (1980) vorgeschlagen wurden. Zwar weisen Erzählungen in Pen-and-Paper-Rollenspielen aufgrund ihrer KoKonstruiertheit und Interaktivität durchaus Ähnlichkeiten zu Formen des Erzählens in der Alltagskommunikation auf, doch sind sie im Gegensatz dazu durch verschiedene inszenatorische Ordnungsstrukturen gerahmt, wovon die Klassifikation als Spiel die offensichtlichste, von der sozialen Wirklichkeit abzuhebende Struktur darstellt. Pen-and-Paper-Rollenspielerzählungen orientieren sich aus diesem Grund an stärker formalisierten, weniger spontanen (vgl. Fludernik 2002 [1996], 43) Ausprägungen mündlichen Erzählens, zum Beispiel Formen mündlichen Geschichtenerzählens, wie es in vielen primär oral orientierten Kulturen praktiziert wird (vgl. Ong 2016 [1987], 11). Eine derartige Erzählung stellt ein speziell geplantes Kommunikationsereignis dar, in dem ein oder eine Erzähler/-in einer Gruppe eine mehr oder weniger vorbereitete Geschichte vorträgt und hierbei nicht selten auch das Publikum durch Anregungen und Nachfragen zur Interaktion animiert (vgl. Marlar Lwin 2020, 2). Nicht ausreichend erscheint es zudem, die Pen-and-Paper-Rollenspielerzählung aufgrund ihrer in Kapitel 2 beschriebenen medialen Eigenschaften und möglichen implizierbaren make-believe-Aktivitäten mit dem theatralen oder dem dramatischen Erzählen gleichzusetzen und ihr dadurch relativ unreflektiert künstlerische
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4 Erzählerische Kommunikation im Pen-and-Paper-Rollenspiel
oder gar literarische Qualität zuzuschreiben.1 Auch in diesem Fall gibt es Ähnlichkeiten in der Konstruktion einer Narration: Sowohl das Theater als auch das Pen-andPaper-Rollenspiel erzeugen aufgrund einer fehlenden medialen Speicherfunktion vornehmlich Narrationen, die als „ephemer, unwiederholbar oder singulär“ (Horstmann 2018b, 49) beschrieben werden können. Weiterhin charakterisieren sich die Erzählungen des Pen-and-Paper-Rollenspiels ebenso wie die Theatererzählungen als „performed narratives“ (Jahn 2001, 675), also als Menge performativer Akte, die gleichzeitig als Akte darstellenden Erzählens interpretiert werden können (vgl. Hühn und Sommer 2009, 236). Begreift man das Theater gemäß der Definition Jan Horstmanns (2018b, 3) als „Darstellung von Geschehnissen oder Ereignissen durch einen oder mehrere Schauspieler vor einem Publikum, das aus mindestens einem Zuschauer besteht“, wird ein differenter Aspekt der Adressierung herausgestellt, der die Erzählkommunikation entscheidend betrifft: Während die Theatererzählung immer an ein Publikum adressiert ist, sind Partizipierende am Pen-and-PaperRollenspiel Darstellende und Zuschauende zugleich (vgl. Schmidt 2012, 247). Die Erzählung ist dadurch nicht primär an Außenstehende gerichtet und hat in ähnlicher Weise wie das Spiel eine autotelische Funktion (vgl. Deterding und Zagal 2018b, 2). Selbst das Improvisationstheater, das Gunter Lösel (2013, 49) als Infragestellung klassischer theatraler Formen versteht, hält die Trennung von Publikum und Produzierenden aufrecht, wenngleich den Zuschauenden ein stärkerer Beitrag zukommen kann, gestaltend auf die Aufführung einzuwirken, als es in anderen theatralen Formen üblich ist. So lässt sich auch hier eine Nähe zur Rollenspielerzählung feststellen, jedoch insbesondere mit Blick auf die Erzählkommunikation keine Deckungsgleichheit in den charakteristischen Aspekten herstellen, was die Entwicklung eines gänzlich neuen erzählkommunikativen Modells erforderlich macht.
Hierzu sind zwei Anmerkungen nötig: Mit der Anknüpfung an postklassische und transmediale Erzähltheorien lässt sich anbringen, dass Erzählen nicht nur in der literarischen Großgattung der Epik realisiert werden kann, sondern auch gattungs- bis medienübergreifend. Chatmans (1975, 310) Unterklassifizierung erzählerischer Modi in „telling“ und „showing“ verdeutlicht, dass die aristotelische Trennung von mimesis und diegesis keine Aussage über das narrative Potenzial eines Textes liefert. Dramatische und epische Texte unterscheiden sich also nicht durch die Differenz Erzählung/Nicht-Erzählung, sondern durch einen eher dramatischen beziehungsweise einen eher epischen Erzählmodus (vgl. Horstmann 2018b, 8). Darüber hinaus ist es wichtig, zwischen dem Erzählen in der Gattung des Dramas und dem Dispositiv des Theaters zu unterscheiden: Zwar kommt es häufig vor, dass ein Theaterstück auf einer Dramenvorlage basiert, doch ist gerade im postmodernen Theater weniger davon auszugehen, dass eine Aufführung exakt den Vorgaben des Dramentextes folgt (vgl. Horstmann 2018b, 81). Man kann in diesem Fall also eher von einem Adaptionsprozess sprechen, in dem das erzählerische Material vom geschriebenen Text in andere semiotische Systeme überführt wird.
4.1 Eigenschaften kommunikativer Prozesse im Pen-and-Paper-Rollenspiel
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Pen-and-Paper-Rollenspielnarrationen lassen sich – so ist zusammenfassend festzuhalten – in das weite Feld eines primär mündlich realisierten Erzählens einordnen und nähern sich aufgrund inszenatorischer, aber auch kommunikativer Aspekte, die im Folgenden näher betrachtet werden sollen, künstlerisch-darstellenden Narrationen anderer Medien und medialer Dispositive an. In diesem Sinne sind Pen-and-Paper-Rollenspiele eine Übergangsform zwischen natural realisierten Schemata des Narrativen, wie sie in der alltäglichen Konversation auftreten, und institutionalisierten Formen des (literarischen/künstlerischen) Erzählens (vgl. Fludernik 2002 [1996], 10).2
4.1 Eigenschaften kommunikativer Prozesse im Pen-and-Paper-Rollenspiel Da bisher wenige Studien zur narrativen Kommunikation im Pen-and-PaperRollenspiel, aber auch in anderen mündlichen Erzählformen abseits der Alltagskommunikation existieren (vgl. Marlar Lwin 2020, 28), soll in einem ersten Schritt der Fokus auf die allgemeine Kommunikation im Rollenspiel gerichtet werden, um zentrale Eigenschaften und Strukturen ausfindig zu machen. 1983 veröffentlichte Gary Alan Fine eine soziologisch-ethnomethodologische Studie, in der er anhand von Feldbeobachtungen die Fanszene der Rollenspielenden sowie die Kommunikationsprozesse während des Spiels untersucht. Er sieht das Pen-and-Paper-Rollenspiel als soziales Ereignis, in dem Spielende eigene Imaginationen und Wissensbestände im Rahmen eines ludischen Regelsystems kreativ verhandeln (vgl. Fine 2002 [1983], 2). Die Kommunikation innerhalb dieses Ereignisses ist durch verschiedene Ordnungsstrukturen gekennzeichnet, die Fine mit dem von Goffman (1986 [1974]) etablierten Konzept des framings kategorisiert: Frames stellen spezifische Interpretationsschemata dar, die Akteur/-innen
Fludernik (2002 [1996], 34) begreift die Prozesse der Naturalisierung als Strategien, die im Falle einer Narrativierung genutzt werden, um ungewöhnliche oder unbekannte narrative Formen mit bekannten Strukturen zu synchronisieren und somit eine kognitive Entlastung herbeizuführen. Derartige Übersetzungsprozesse, die sich aus verschiedenen kognitiven Parametern speisen (vgl. Fludernik 2002 [1996], 32–33), betreffen unter anderem auch die Interpretationsprozesse literarisch-künstlerischer Narrationen, die ebenso nach Möglichkeit auf naturale Schemata abgeleitet werden (vgl. Fludernik 2002 [1996], 35). Fludernik (2002 [1996], 39) sieht die Entwicklung von narrativer Oralität zur Literalität als Kontinuum, ausgehend von mündlich-spontanen Erzählsituationen, über die formalisierte mündliche Dichtung, bis hin zu geschriebenen Erzählungen. Die Prozesse der Naturalisierung im Pen-and-Paper-Rollenspiel sollen in Kapitel 6 diskutiert werden, inklusive der Frage, inwieweit sie sich als Übergangsform zwischen mündlichen und institutionalisierten Formen des Erzählens verortet.
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4 Erzählerische Kommunikation im Pen-and-Paper-Rollenspiel
in bestimmten Situationen abrufen, um Handlungen und Aktivitäten situationsgerecht deuten zu können (vgl. Goffman 1986 [1974], 21). Aus kognitionstheoretischer Perspektive repräsentiert der frame ein Metakonzept, das die Anwendung bestimmter anderer Konzepte regelt (vgl. Wolf 2010, 3–4), so beispielsweise die Aktivierung schematischer Modelle, die spezifische Handlungssettings, Rollen und Rollenbeziehungen sowie Partizipierende enthalten können, oder ereignisbasierte Scripts, die aus kognitiv gespeicherten, modellhaften Handlungsabläufen bestehen (vgl. Sinding 2005, 590–591). Frames können in der Kommunikation in vielerlei Hinsicht aktiviert werden, zum Beispiel durch spezifische kontextuelle Faktoren, in denen eine Kommunikation stattfindet, ebenso durch explizite Markierungen in einer Nachricht (vgl. Wolf 2010, 7). Das Pen-and-Paper-Rollenspiel als soziales Ereignis ist nach Fine (2002 [1983], 185) zunächst in den primären frame eingebettet, der nach Goffman (1986 [1974], 22–23) basale frame, in dem in unserer sozialen Lebenswelt interagiert wird. In der Kommunikation innerhalb dieses frames treten Partizipierende als Akteur/-innen eines lebensweltlichen Settings auf und deuten die an der Gesprächssituation Beteiligten als ebensolche Akteur/-innen. In der Rollenspielkommunikation umfasst dies beispielsweise Alltagsgespräche, die die Partizipierenden während des Spiels führen (vgl. Grouling Cover 2010, 96) sowie Planungs- oder Anschlusskommunikation der fiktionalen Kommunikation im Sinne einer Metakommunikation.3 Das Spiel beschreibt den zweiten von Fine identifizierten frame im Pen-andPaper-Rollenspiel, in dem die Beteiligten – im Gegensatz zu reinen Beobachtenden – ebenso als Spielende auftreten. Das Spiel stellt nach Goffman ein focused gathering dar, das an die Partizipierenden bestimmte Anforderungen stellt: For the participants, this involves: a single visual and cognitive focus of attention, a mutual and preferential openness to verbal communication; a heightened mutual relevance of acts; an eye-to-eye ecological huddle that maximizes each participant’s opportunity to perceive the other participant’s monitoring of him. (Goffman 1961, 16–17)4
Innerhalb dieses frames bezieht sich die Kommunikation der Spielenden zumeist darauf, die Spielregeln und Spielzüge zu verhandeln und umzusetzen sowie mit dem Spielmaterial (Würfeln, Spielfiguren, Spielplänen) umzugehen (vgl. Grouling Bereits an dieser Unterscheidung zwischen planender Kommunikation im primären frame sowie möglicher Planungsaktivitäten im nachfolgend dargestellten ludischen frame wird deutlich, dass eine derartige Einteilung der Kommunikation im Pen-and-Paper-Rollenspiel lediglich als Heuristik dienen kann, insbesondere deshalb, weil getroffene Zuordnungen gerade aufgrund der Formen des keyings nicht immer wie intendiert gedeutet werden können. Darüber hinaus wird der frame ‚Spiel‘ bewusst in der Metakommunikation gesetzt und erfordert initial von den Beteiligten, dass sie Signale austauschen können, um auf den spielerischen Charakter der folgenden Handlungen hinzuweisen (vgl. Lösel 2013, 252).
4.1 Eigenschaften kommunikativer Prozesse im Pen-and-Paper-Rollenspiel
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Cover 2010, 99). Die Eigenschaft des Spiels als focused gathering bedingt zudem, spielferne Einflüsse zu ignorieren oder zu minimieren. Diese Form der „boundary control“ (Harviainen 2012, 507) wird vor allem dann wahrnehmbar, wenn die Alltagskommunikation im primären frame einen für einzelne Partizipierende unerwünscht großen Raum einnimmt und infolgedessen angesprochen wird. Der dritte frame resultiert aus der Beobachtung Fines, dass Spielende im Penand-Paper-Rollenspiel nicht nur Spielfiguren führen oder manipulieren, sondern auch in bestimmten Situationen Figuren verkörpern (vgl. Fine 2002 [1983], 186). Diese Haltung, die auf die Aktivität des make-believe referiert, konstruiert eine fiktionale Kommunikationssituation, die zwei entscheidende Besonderheiten besitzt: Fiktionale Rede klassifiziert sich zuerst als kommunizierte Kommunikation (vgl. Jannidis 2002, 544; Martínez und Scheffel 2008, 226–227), in der ein in der realen Welt verorteter Sprecher/eine in der realen Welt verortete Sprecherin so tut, als sei er oder sie ein in einer fiktiven Welt verorteter Sprecher/eine in einer fiktiven Welt verortete Sprecherin, die mit einem fiktiven Adressaten/einer fiktiven Adressatin sprachlich handelt. Die doppelte Kommunikationssituation ergibt sich dadurch, dass der in der realen Welt verortete Sprecher/die in der realen Welt verortete Sprecherin einen realen Adressaten/eine reale Adressatin dazu einlädt, auch zu tun als sei er oder sie ein Mitglied der fiktiven Welt (Abb. 2).5 Indem diese Einladung angenommen wird, beginnt das game of make-believe und das inbegriffene „fictional recentering“ (Ryan 1991, 72), wie es bereits in Kapitel 2 beschrieben wurde. Das fictional recentering und das möglicherweise damit einhergehende Fehlen sprachlicher Operatoren, die Fiktionalität anzeigen, führt zu einer zweiten Besonderheit der Kommunikation in diesem frame: Es besteht die Möglichkeit, dass bestimmte Äußerungen und Handlungen, die im primären frame bedeutsam sind, im fiktionalen frame recodiert werden und eine andere Bedeutung haben. Dieser Fall tritt im Pen-and-Paper-Rollenspiel besonders aufgrund der Doppelung der Spre-
Das von Ryan entwickelte Modell widerspricht dabei den Prämissen der Searl’schen Sprechakttheorie: Entgegen der Ansicht, dass man durch die Realisierung fiktionaler Rede nicht nur so tut, als ob man etwas aussagt („pretend to make assertions“; Searle 1985, 69), wird hier die Konstruktion einer fiktiven Sprechinstanz angenommen, die in einer von der realen Wirklichkeit (AW) abgegrenzten fiktiven Welt verortet ist. Diese Annahme umgeht das Problem, dass in Formen fiktionalen Erzählens, die heterodiegetisch realisiert werden, nicht unbedingt klar wird, wer wem gegenüber Sprechakte vollführt. Searles Lösung, dass der/die reale Sprecher/-in so tue, als sei er oder sie der/die Erzähler/-in (vgl. Searle 1985, 71–72), erscheint nach Ryan (1991, 66) nicht ausreichend, da das Ausführen von Sprechakten immer ein logisches Subjekt erfordere. Aus diesem Grund geht sie davon aus, dass fiktionale Kommunikation eine vollständige Doppelstruktur enthält, in der zwei verschiedene Sprechende mit zwei verschiedenen Adressat/-innen auf verschiedenen ontologischen Ebenen miteinander kommunizieren.
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4 Erzählerische Kommunikation im Pen-and-Paper-Rollenspiel
Reale/-r Sprecher/-in tut so als ob er/sie sei:
Reale/-r Hörer/-in wird eingeladen so zu tun, als sei er/sie
AW
ein Mitglied der Welt, in der
TRW
ein/-e substituierte Sprecher/-in
[,die] Sprachhandlungen vollzieht, gegenüber
einem/-er substituierten Hörer/-in
Abb. 2: Fiktionale Kommunikation (Ryan 1991, 73).
cher/-innen-Instanz auf, gerade dann, wenn die Teilnehmenden sich gegenseitig adressieren (das Pronomen ‚Du‘ kann beispielsweise in diesem Kontext sowohl die reale Person als auch eine Person innerhalb der fiktionalen Kommunikation sein). Dieses Phänomen wird von Goffman als keying bezeichnet: I refer here to the set of conventions by which a given activity, one already meaningful in terms of some primary framework, is transformed into something patterned on this activity but seen by the participants to be something quite else. (Goffman 1986 [1974], 44–45)
Gerade weil eine konstruierte fiktive Welt von den Strukturen der sozialen und natürlichen Lebenswelt der Erschaffer/-innen im primären frame beeinflusst wird, lässt sich dieser frame als Grenze zwischen der realen Lebenswelt und der modellbildenden fiktionalen Ebene sehen (vgl. Wolf 2010, 26). Hierauf spielt auch Jurij M. Lotman (1972, 22) an, wenn er bestimmte (künstlerische) Artefakte als sekundäre modellbildende Systeme begreift, wobei „[s]ekundär im Verhältnis zur (natürlichen) Sprache“ meint, also zu Handlungen, die in einem primären frame getätigt werden. Aufgrund dieser Ähnlichkeitsbeziehung zwischen fiktionalem und primärem frame sind keyings in der Rollenspielkommunikation relativ häufig zu finden (vgl. Choy 2004, 58). Fine (2002 [1983], 196) merkt zudem an, dass Beteiligte innerhalb der Kommunikation extrem schnell zwischen den einzelnen frames wechseln. Dies macht es in vielen Situationen notwendig, kommunikative Handlungen gezielt als einem frame zugehörig zu markieren, sodass sie von den anderen Teilnehmenden wie intendiert interpretiert werden (vgl. Herbrik 2011, 138).6
Auf diese Markierungen, die auch Relevanz für die Konstruktion einer Narration besitzen, wird in Kapitel 4.2.4 eingegangen. Entscheidend ist hierbei die aufgrund des fictional recentering vollzogene Differenzierung zwischen primärem und fiktionalem frame.
4.1 Eigenschaften kommunikativer Prozesse im Pen-and-Paper-Rollenspiel
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Eine mögliche erzählerische Kommunikation im Pen-and-Paper-Rollenspiel findet im fiktionalen frame statt (vgl. Mäyrä 2017, 276). Um ein Erzählen zu realisieren, ist es notwendig, dass die Beteiligten mit ihren kommunikativen Handlungen in diesen frame narrative Strategien integrieren, die anzeigen, dass bestimmte Elemente der Fiktion als Narreme interpretiert werden sollen.7 Für die fiktionale Kommunikationssituation bedeutet dies, dass der/die Sprecher/-in, der oder die auf fiktionaler Ebene eingesetzt wird, als narrative Instanz gedeutet wird. Diese Interpretation wird auf kommunikativer Ebene dadurch gewährleistet, dass die zentrale kommunikative Funktion des Narrativen, der Fokus auf die „experientiality of an anthropomorphic nature“ (Fludernik 2002 [1996], 19), realisiert wird. Bezüglich der Eigenschaft der kommunizierten Kommunikation im fiktionalen frame ist entscheidend, dass die kommunikative Funktion dieser experientiality nicht mit der Funktion der Kommunikation zwischen realem/realer Sprecher/-in und realem/realer Hörer/-in gleichzusetzen ist. Sie ist gemäß dem allgemeinen „sozialen AusgerichtetSein des Menschen auf den anderen“ sowie dem „Erlebnishunger, [dem] Ausgerichtet-Sein auf das andere“ (Wolf 2002, 33), immer noch als Einladung zum Miterleben der auf der fiktionalen Ebene stattfindenden Kommunikation aus der Position der narrativen Instanz und somit als Darstellung des Erzählten zu verstehen.8
4.1.1 Performativität Für den Kommunikationsprozess im fiktionalen frame, der die Realisierung einer Narration ermöglicht, ist es außerdem entscheidend, die kommunikativen Handlungen, die in diesem frame getätigt werden, genauer zu bestimmen. Aufgrund der Nähe zum Theater wurde bereits der Begriff des „performed narrative“ (Jahn 2001, 675) herangezogen, um die fiktional-narrative Kommunikationssituation im Pen-and-Paper-Rollenspiel näher zu beschreiben. Hierauf verweist auch Mackay, wenn er die Konstruktion einer Narration im Rollenspiel in Abhängigkeit von einer notwendigen Performanz stellt: The role-playing game exhibits a narrative, but this narrative does not exist until the actual performance. It exists during every role-playing game episode, either as a memory or as an actual written transcription by the players or gamemaster. (Mackay 2001, 50)
Diese Strategien, die sowohl die Ebene der Vermittlung als auch des Erzählinhalts betreffen, werden in Kapitel 5 näher beleuchtet. Das Miterleben wird durch die generelle Erlebnisqualität des Spiels verstärkt, weiterhin auch durch die Thematisierung von Genres, „die dem Erlebnischarakter der Lektüre einen besonders hohen Stellenwert einräumen (Abenteuerliteratur, Fantasy, Science-Fiction etc.)“ (Herbrik 2011, 93).
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In ähnlicher Weise argumentiert auch Horstmann (2018b, 5), der die performative Narration im Theater als ein im Vorfeld unabgeschlossenes Produkt bezeichnet, dessen Erzählung „sich erst im interaktiven Akt der Aufführung [entfaltet]“. Mit diesem Fokus auf den Vollzugscharakter einer theatralen Aufführung nähert sich Horstmann Konzepten der Performativität an, wie sie in der Theaterwissenschaft entwickelt wurden. Erika Fischer-Lichte (2016 [2012], 45) sieht die Performativität der Theateraufführung darin begründet, dass performative Akte vollzogen werden, die sich als „selbstreferentiell und wirklichkeitskonstituierend“ darstellen: Sie tun das, worauf sie verweisen, und konstituieren auf diese Weise eine spezifische soziale und im Falle von Theateraufführungen zugleich ästhetische Wirklichkeit. Aufführungen sind daher stets als performativ zu begreifen. (Fischer-Lichte 2016 [2012], 45)
Mit dem Verweis auf das Konzept der performativen Akte bezieht sich FischerLichte unter anderem auf die Sprechakttheorie John L. Austins, der als Erster den Begriff der Performativität geprägt hat. Austin (2002 [1962], 63) sieht performative Äußerungen als Sprachhandlungen, „in denen wir etwas tun, dadurch daß wir etwas sagen oder indem wir etwas sagen“. Derartige Äußerungen zeichnen sich weniger dadurch aus, dass sie als wahr oder falsch bewertet werden können (vgl. Austin 2002 [1962], 63), sondern zeigen ein Handeln an, das unter bestimmten Gelingensbedingungen von den Partizipierenden angenommen wird. Austin benennt folgende notwendige Bedingungen, damit eine performative Äußerung glückt, die nicht nur durch sprachliche, sondern auch durch soziale und institutionelle Faktoren gerahmt ist: (A.1) Es muß ein übliches konventionelles Verfahren mit einem bestimmten konventionalen Ergebnis geben; zu dem Verfahren gehört, daß bestimmte Personen unter bestimmten Umständen bestimmte Wörter äußern. (A.2) Die betroffenen Personen und Umstände müssen im gegebenen Fall für die Berufung auf das besondere Verfahren passen, auf welches man sich beruft. (B.1) Alle Beteiligten müssen das Verfahren korrekt (B.2) und vollständig durchführen. (Γ.1) Wenn, wie oft, das Verfahren für Leute gedacht ist, die bestimmte Meinungen oder Gefühle haben, oder wenn es der Festlegung eines der Teilnehmer auf ein bestimmtes späteres Verhalten dient, dann muß, wer am Verfahren teilnimmt und sich so darauf beruft, diese Meinungen und Gefühle wirklich haben, und die Teilnehmer müssen die Absicht haben, sich so und nicht anders zu verhalten, (Γ.2) und sie müssen sich dann auch so verhalten. (Austin 2002 [1962], 64–65)
Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass eine performative Sprachhandlung nicht glückt, wenn die genannten Bedingungen nicht erfüllt werden. Nach FischerLichte (2016 [2012], 37–38) sind performative Sprechakte zudem selbstreferenziell,
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„insofern sie das bedeuten, was sie tun“. Aufgrund sozialer und institutioneller Faktoren sind sie weiterhin wirklichkeitskonstituierend, da sie die Wirklichkeit, von der sie sprechen, selbst herstellen. Gerade letztgenannte Eigenschaft wurde von kulturwissenschaftlichen Performativitätskonzepten aufgegriffen und erweitert. So verweist Fischer-Lichte (2016 [2012], 41–42) auf die Arbeiten Jacques Derridas und Judith Butlers, die davon ausgehen, dass performative Akte einerseits wiederholbar und dadurch modifizierbar sind und andererseits – darin liegt die besondere Bedeutung für die theatrale Adaptierbarkeit des Performativitätskonzeptes – nicht unbedingt nur sprachlich realisierbar sind, sondern ebenfalls durch körperliche Handlungen oder andere symbolische Systeme vollzogen werden können. Für das Pen-and-Paper-Rollenspiel stellt Herbrik die Bedeutung performativer Akte im Kommunikationsprozess heraus: Zum Fortgang des Spielgeschehens tragen über die vom Spielleiter geleistete Narration hinaus Handlungsbekundungen der Spieler bei, die mittels einer spezifischen Form performativer (Sprech-)Akte das Wirken, Denken und Wahrnehmen einer Spielfigur angeben und bestimmten Glückensbedingungen unterliegen. Geglückt ist ein derartiger performativer Akt insbesondere dann, wenn eine Ratifizierung durch den Spielleiter – durch eine affirmative Wiederholung, durch die Übersetzung in seine eigene Erzählperspektive, durch eine knappe bejahende Interjektion oder Geste und durch die den Erfolg der Aktion implizierende Beschreibung der Konsequenzen der Handlung – erfolgt. (Herbrik 2011, 206–207)
Wird mit Bezug auf das Pen-and-Paper-Rollenspiel weiterhin von einem performativen Erzählen ausgegangen, kann eine solch deutliche Trennung zwischen Narration und performativen Akten, die Herbrik hier vornimmt, nicht aufrechterhalten werden.9 Diese Trennung ist zum einen schwer zu begründen, da das Wirken, Denken und Wahrnehmen der Figuren gemäß der in Kapitel 3.1 vorgestellten Narrativitätsdefinition entscheidenden Einfluss auf die Konstruktion einer storyworld und der damit zusammenhängenden kommunikativen Funktion der experientiality hat. Zum anderen macht besonders die Fiktionalität der Narration inhärente performative Akte notwendig, worauf auch Lubomír Doležel verweist: We start our search by excluding one possible direction: fictional existence does not depend on the „truth“ of fictional sentences, because these sentences lack truth-value. The worldconstructing act cannot be identified with, or compared to, imaging speech acts, such as stating truth or falsehood, lying, imitating, or pretending. All these speech acts presuppose the independent existence of a world to which the corresponding sentences refer, fail to refer, or pretend to refer. Basing fictional semantics on any of the imaging speech acts means mis-
Dieser Einschätzung folgt auch Grouling Cover (2010, 89), wenn sie betont, dass „both constative and performative speech work to form the narrative“.
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sing the very nature of world making. Fictional texts can carry out the function of authentication precisely because they are exempt from truth-valuation; they are performative speech acts. (Doležel 1998, 146)
Aus der Position der realen Sprechenden lassen sich diese performativen Handlungen, die eine fiktive Welt konstituieren, initial nicht durch Wahrheitskonditionen bewerten. Sie erheben lediglich Wahrheitsansprüche gegenüber der fiktiven Welt („true in some fictional world or other“; Walton 1990, 34), was jedoch wiederum bedeutet, dass diese Wahrheiten in einem Schaffensakt zunächst definiert werden müssen.10 Diese Akte sind als performativ, das heißt als selbstreferenziell und wirklichkeitskonstituierend zu klassifizieren, wobei ihr Wirklichkeitsbezug die fiktive Welt betrifft. Entscheidend ist deshalb, dass derartige Handlungsbekundungen der Spielenden durch die realen Sprechenden innerhalb eines fictional recentering aus der Position der fiktiven Sprechinstanz getroffen werden. Die Existenz performativer Akte im Kommunikationsprozess des Rollenspiels wirft jedoch die Frage nach den Gelingensbedingungen dieser Akte auf, auf die auch Herbrik eingeht. Sie verweist dabei auf die Rolle der Spielleitenden, die eine Entscheidungsgewalt innehaben, bestimmte Handlungen zu ratifizieren und somit glücken zu lassen.11 Wie bereits in Kapitel 2 erwähnt, kommt Spielleitenden in dieser Funktion die Aufgabe zu, fiktionale performative Akte zu ratifizieren, indem geprüft wird, ob sie bestimmten bereits aufgestellten Wahrheitsaussagen der fiktiven Welt widersprechen. Doch auch andere Gründe, wie zum Beispiel der Verstoß gegen die Regeln des Spiels oder die soziale Dynamik der Spielgruppe (Sympathie oder Antipathie der Beteiligten untereinander) können Einflussfaktoren für das Gelingen performativer Akte sein.12
Walton (1990, 35) bezeichnet diese Schaffensakte als Propositionen, also als „fictional truths“, die bei Gelingen Handlungen in einer fiktiven Welt entlang von Wahrheitskonditionen bewertbar machen. Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf die definitorische Idealposition einer am Spiel beteiligten Person, die die Rolle der Spielleitung einnimmt. Die Diskurse in der Fankultur verdeutlichen, dass sich das Bild über das Verhältnis von Spielleitenden und Mitspielenden mit der Zeit gewandelt hat: Während anfänglich der oder die Spielleitende zum Teil als allmächtiges Oberhaupt betrachtet wurde (vgl. Schmidt 2012, 74), das den Mitspielenden eher wenig Handlungsfreiheit einräumt, wird in neueren Diskussionen klar dagegen argumentiert, Spielleitende als Gegner anzusehen, die ihre Mitspielenden besiegen wollen (vgl. Pappe 2011, 115). Eine entscheidende Rolle nimmt dabei ebenfalls die historische Entwicklung des Pen-and-Paper-Rollenspiels und die damit zusammenhängende Beschreibung in den Regelwerken ein: Hier wurden Spielleitende zu Beginn – in Anlehnung an die Wargames – als Schiedsrichter/-innen beschrieben; erst mit dem Aufkommen von Spielsystemen, die ihren Fokus stärker auf die narrative Gestaltung legten, wurden Begriffe wie ‚Autor‘ herangezogen (vgl. Mason 2004, 6). Auch die genannten soziale Aspekte werden auch in der Fankultur diskutiert. Um
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Die Möglichkeit, fiktionale performative Akte zu vollziehen, führt dazu, dass die Planung und Kontrolle des kommunikativen Prozesses den einzelnen Beteiligten immer wieder entzogen wird und andere in die Rolle der aktiv Handelnden treten. Fischer-Lichte (2016 [2012], 87) sieht darin eine wichtige Eigenschaft von Performativität und bezeichnet diesen Raum zur Mitbestimmung als agency. Im Kontext digitaler Spiele definiert Janet Murray (1997, 126) agency als „the satisfying power to take meaningful action and to see the result of our decisions and choices“ und sieht vor allem Spiele als Ort, der dieses Gefühl bei den Beteiligten hervorrufen kann (vgl. Murray 1997, 128–129). Murrays Definition von agency ist Ausgangspunkt zahlreicher, auch kritischer Auseinandersetzungen im Feld der digitalen Game Studies. Im Zentrum dieser Diskurse steht die Feststellung, dass Spiele aufgrund ihrer interaktionsbasierten Struktur zu Entscheidungen anregen, die sich im Spielprozess durch Handlungen der Spielenden ausdrücken, was Konsequenzen nach sich zieht (vgl. Domsch 2013, 60), weil dadurch neue Spielzustände entstehen. Das übergreifende Merkmal digitaler und analoger Spiele sind spielbasierte Entscheidungen, denn je nach Gestaltung können Spielende in zahlreichen Spielen dadurch Einfluss auf die sich entwickelnde Erzählung nehmen.13 Während in der frühen Auseinandersetzung mit dem agency-Begriff in Anlehnung an Murray argumentiert wurde, dass eine hohe Entscheidungsfreiheit auch zu einem erhöhten Gefühl der „satisfying power“ (Murray 1997, 126) führe, betonen andere Ansätze die Relevanz der Entscheidungsgewalt, die je nach Spielpräferenz erhöhte Gefühle der Wirkmächtigkeit mit sich bringen kann (vgl. Tanenbaum und Tanenbaum 2009). Wenngleich Spiele als dynamische Entscheidungssysteme beschrieben werden können (vgl. Domsch 2013, 10), entsteht agency – und dies trifft gerade auf Videospiele zu – im Rahmen vorher festgelegter Strukturen. Inwieweit die Spielenden mit ihren Entscheidungen Einfluss auf die bedeutungstragende Manipulation dieser Strukturen haben, liegt in den Designentscheidungen der Spielentwickler/-innen sowie den technischen Möglichkeiten des jeweiligen Mediums. In ähnlicher Weise argumentiert Souvik Mukherjee (2015, 156) dafür, agency nicht allein aufseiten der Spielenden zu verorten, sondern innerhalb eines interaktionalen Gefüges zwischen Spielenden und dem „machine alogrithm“. Agency lässt sich in diesem Kontext als „becoming active“ begreifen, als Nutzen der Handlungsoptionen „within a framework of the constraints imposed by the actions of
im Spiel soziale Konflikte der Beteiligten untereinander möglichst gering zu halten, wird teilweise dafür plädiert, einen Vertrag vor Spielbeginn zu verfassen, in dem wichtige Fragen des sozialen Miteinanders geklärt werden (vgl. Edwards 2001). Zu einer detaillierten Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten der Einflussnahme auf Erzählungen in digitalen Spielen siehe Domsch (2013).
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connected elements“ (Mukherjee 2015, 160). Mit dem Begriff des „machine alogrithm“ rekurriert Mukherjee deutlich auf die Programmstrukturen von Computern. Überträgt man seine Auslegung des agency-Begriffs auf Pen-and-Paper-Rollenspiele, gilt es zu bedenken, dass die Spielstruktur innerhalb der kommunikativen Interaktion der Beteiligten geschaffen wird (vgl. Kap. 3.2) und gänzlich andere Kriterien für eine strukturelle Offenheit und Entscheidungsmöglichkeiten bestehen (vgl. Domsch 2013, 10). Agency entwickelt sich hier aus dem Zusammenwirken des dem Spiel zugrunde liegenden Regelsystems und der Spielgruppe und lässt sich als Aushandlungsprozess begreifen, der zentral durch Spielleitende gesteuert wird. Spielenden bedeutungstragende Entscheidungen zu ermöglichen, wird als konstitutives Merkmal des (erzählerischen) Kommunikationsprozesses angesehen (vgl. Schmidt 2012, 276); diese Wirkmächtigkeit einzelnen Beteiligten hingegen nicht zuzugestehen, wird mit dem Ausschließen der Betroffenen aus dem Spiel- und Kommunikationsprozess gleichgesetzt (vgl. Hammer 2007, 74).14 Innerhalb des fiktionalen frames im Pen-and-Paper-Rollenspiel bedeutet das Zugestehen von Wirkmächtigkeit gleichzeitig, die Einflusssphäre und Berechtigung der Beteiligten festzulegen, wie sie Austin in Punkt A.2 der Gelingensbedingungen performativer Akte benennt. Diese mögliche Einflussnahme variiert stark nach Gruppenkonstellation, Spielpräferenzen sowie dem Rollenspiel zugrunde liegenden Regelsystem und kann an dieser Stelle lediglich spektrumsartig nachgezeichnet werden. Jessica Hammer (2007) entwickelt in diesem Zusammenhang eine Typologie verschiedener Ausprägungen der Wirkmächtigkeit sowie der Ratifizierung des Gelingens bestimmter Handlungen, die sie als authority15 beschreibt. Formen der
Im Umkehrschluss heißt dies, dass jedem oder jeder Beteiligten ein minimaler Grad an agency zugestanden werden muss, um im Pen-and-Paper-Rollenspiel mitzuwirken. Über das Maß des Einflusses wird seit je in der Fankultur diskutiert: Hier fallen zum Beispiel Begriffe wie „Railroading“ (Schmidt 2012, 291), wenn Spielleitende die Handlungsfreiheit der Spielenden zu sehr einschränken, oder „Meisterwillkür“ (entlehnt aus dem Spielsystem Das Schwarze Auge; Flöter 2018, 290), wenn Spielleitende Spielregeln bewusst brechen oder Situationen kreieren, die die Wirkmächtigkeit der Spielenden beschränken oder behindern. Hammer spielt an anderer Stelle mit dieser Begriffswahl darauf an, dass ein derartiges Zugeständnis gleichzeitig eine Machthierarchie innerhalb des Rollenspiels schafft. Machtstrukturen können jedoch zudem durch andere Faktoren, beispielsweise die soziale Struktur der Spielgruppe, gefestigt oder unterlaufen werden (vgl. Hammer et al. 2018a, 451). Dabei ist bedeutsam, dass die Machtverhältnisse je nach frame auch ineinander übergehen können: „In theory, the player who has the most social clout in the group, the player who is best at manipulating the game rules, and the player who plays the highest-status character could be three different people. However, in practice, these categories often bleed into one another. For example, skillful use of game rules might result in a player’s character’s becoming queen, while players who want favors from the in-game queen might treat her player differently in the social frame.“ (Hammer et al. 2018a, 451).
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authority umfassen zum einen im Allgemeinen explizit und implizit getroffene Regeln, die jegliche kommunikative Handlungen in allen frames der Kommunikation betreffen (vgl. Hammer 2007, 82). Dies können in einem primären frame generelle Regeln des sozialen Miteinanders sein oder im ludischen frame die Akzeptanz, das Spiel als focused gathering zu betrachten. Im fiktionalen frame bedeutet eine solche explizit oder implizit ausgehandelte authority die Einflussnahme auf bestimmte Elemente der fiktiven Welt/storyworld. So verweist Hammer darauf, dass häufig zwischen den Beteiligten im Rollenspiel geregelt ist, ob und welche Einflussmöglichkeiten Spielende auf die geführten Figuren der anderen Spielenden haben („That’s my character, so you can’t make her do the chicken dance“; Hammer 2007, 82).16 Zum anderen existiert eine Form der auferlegten authority („imposed authority“; Hammer 2007, 84), die durch das zugrunde liegende Rollenspielregelsystem geschaffen wird und auf der einige dieser implizit und explizit getroffenen Handlungs- und Kommunikationsregeln beruhen. Spielsysteme, wie sie in Kapitel 3.1.1 beschrieben wurden, können neben den reinen Spielregeln, die in der Kommunikation im ludischen frame relevant sind, auch Hinweise auf die agency beinhalten, die den Partizipierenden in Bezug auf verschiedene Handlungsbereiche zugestanden (oder verwehrt) wird, worauf Kirk (2009, 133–163) innerhalb seiner Kategorisierung der game patterns des Rollenspiels verweist.17 Darüber hinaus wird im beschriebenen Setting und Szenario auf die (Un-)Möglichkeit bestimmter Handlungen hingedeutet. Diese Informationen können den handelnden Partizipierenden als Orientierung im fiktionalen frame dienen, indem sie als kodifizierte Wahrheitsaussagen in den individuellen Spielprozess übernommen werden. Somit kann eine Ratifizierungsstrategie fiktionaler performativer Akte im Kommunikationsprozess sein, auf diese kodifizierten Aussagen im Regelwerk zu verweisen. Dieser Strategie steht die „framework agency“ (Hammer 2007, 76) gegenüber, eine von drei Formen der Wirkmächtigkeit, die Hammer in ihrer Typologie definiert. Mit der „framework agency“ wird die Möglichkeit eingeräumt, dass sich Beteiligte einer Rollenspielgruppe bewusst dagegen entscheiden, bestimmte, durch das Regelwerk kodifizierte Regeln in ihren eigenen Spielprozess einzubinden oder gänzlich neue Regeln (Hausregeln/„homebrews“; Hammer 2007, 76) zu ent-
Derartige Formen der Gegenrede werden zudem nicht selten mit Verweis auf die dem Spiel zugrunde liegenden Regeln und/oder vorher getroffenen Wahrheitsaussagen formuliert [„‚Doch, meine Figur (‚ich‘) kann das tun; die von mir angestrebte Spielhandlung stimmt mit den Gegebenheiten der vorgestellten Welt überein und ist daher durchführbar‘“; Herbrik 2011, 112]. Dass diese Handlungsbereiche auch im Laufe des Spiels wechseln können, wird beispielsweise durch die Spielregeln des Systems The Quiet Year (Alder 2013) illustriert: Reihum entscheiden Spielende hier, welche fiktionalen Wahrheiten in die Welt integriert werden.
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wickeln. Die Entscheidung, welche Regeln bewusst neu integriert oder ausgeschlossen werden, sorgt gerade in der Fankultur für kontroverse Diskussionen: Während vor allem Spielleitenden zugestanden wird, neue Regeln zu entwickeln, die beispielsweise vom kodifizierten System nicht abgedeckt werden, wird ein allzu willkürlicher Umgang mit diesen Regeln als Gängelei betrachtet, die den Spielspaß der Gruppe erheblich dämpfen kann (vgl. Gygax 1989, 61). Als zwei weitere Formen der agency definiert Hammer (2007, 77) die „character agency“ sowie die „participant agency“, die häufig in den dem Spiel zugrunde liegenden Regelwerken genauer erläutert werden. Erstgenannte bezieht sich auf den fiktionalen frame, indem sie den Einflussbereich der Figuren in der fiktiven Welt festlegt (vgl. Hammer 2007, 74). Figuren haben in der fiktiven Welt bestimmte Handlungsfähigkeiten und Eigenschaften, die sich aus den konfiguralen Elementen dieser Welt ergeben.18 In Verschränkung mit den Spielregeln existieren innerhalb dieser Menge bestimmte Fähigkeiten und Eigenschaften, die durch die Spielmechaniken des Regelsystems abgebildet werden. Gerade diese Eigenschaften haben für die abgehandelten performativen Akte im fiktionalen frame eine besondere Signifikanz, da ihre Gelingensbedingungen nicht nur durch den beziehungsweise die Spielleitende/-n ratifiziert werden müssen, sondern auch vom Vollzug der Spielmechanik abhängen. Die zweite Form, die „participant agency “ (Hammer 2007, 75–76), resultiert aus dem Wissen aller Beteiligten, dass es sich in Teilen der Kommunikation im Pen-andPaper-Rollenspiel um ein fiktionales make-believe mit einer möglichen konstruierbaren Narration handelt. Partizipierendenbezogene Wirkmächtigkeit verweist in diesem Fall zunächst auf die Frage, wie und in welcher Weise Beteiligte Kontrolle und Einfluss über beziehungsweise auf die fiktive Welt ausüben und welche Wahrheitsaussagen sie dadurch festlegen können. Des Weiteren kann dies den Kurs der Erzählung beeinflussen, einschließlich damit verbundener erwünschter ästhetischer Effekte, die die Wissens- und Informationsvergabe einer Narration auslösen kann (beispielsweise Spannungsempfinden o. Ä.; vgl. Flöter 2018, 91).19 Nicht nur durch das der Performativität eingeschriebene Konzept der agency, mit dem das eigene mitbestimmende Handeln und das durch einen Kontrollentzug eintretende Geschehenlassen (vgl. Fischer-Lichte 2016 [2012], 87) in einen Wechselprozess treten, sondern auch aufgrund der Arbitrarität der Ergebnisse des Spielprozesses wird der Kommunikationsprozess im Pen-and-Paper-Rollenspiel in weiten
Nach Doležel (1998, 32) bestehen narrative Welten aus drei zentralen Elementen: Der „world of states“, also einer Welt aus verschiedenen Zuständen und statischen Beziehungen, der „nature force“, also der Naturgesetze, die Veränderungen in die statischen Zustände der Welt bringen, sowie der „persons“, also Entitäten, die physikalische und mentale Eigenschaften besitzen. Diese Strategie wird nachfolgend in Kapitel 5.1.3.3 näher expliziert.
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Teilen unvorhersagbar. Fischer-Lichte (2016 [2012], 75) bezeichnet dieses Merkmal des Performativen als Emergenz, also als plötzliches Auftauchen von „etwas […], das vorher nicht gegeben war und aus den Elementen eines Systems, in dem es auftaucht, auch nicht abzuleiten ist“. Die sich ergebende performative Narration eines Pen-and-Paper-Rollenspiels erscheint insofern als singulär, als die Konstruktion der Narration weder a priori vorhergesagt (vgl. Torner und Jara 2018, 269) noch exakt wiederholt werden kann, nachdem sie einmal vollzogen wurde. Diese Emergenz fordert folglich von den Beteiligten, mehr oder weniger spontan-improvisierend im Kommunikationsprozess zu agieren (vgl. Meifert-Menhard 2013, 157).
4.1.2 Improvisation und Inszenierung Die Existenz emergenter performativer Prozesse bedeutet jedoch nicht, dass der fiktionale Kommunikationsprozess im Pen-and-Paper-Rollenspiel gänzlich zufällig verläuft: Eingangs wurde darauf hingewiesen, dass das Erzählen im Rollenspiel durch verschiedene Inszenierungsstrategien gerahmt ist. So betont auch Daniel Punday (2005, 128) die Existenz vorher festgelegter Elemente, die im Spielprozess kreativ und unvorhersehbar umgesetzt werden. Fischer-Lichte sieht in Bezug auf das Theater Emergenz als notwendige Eigenschaft von Performativität, die während der Aufführung vollzogenen performativen Prozesse jedoch eher als „Wechselspiel von Planung und Emergenz“ (Fischer-Lichte 2016 [2012], 76). Einer Aufführung gehe nicht selten eine Inszenierung voraus, „die bestimmten Regeln folgt, seien dies Spielregeln, eine Liturgie, ein Protokoll oder im Laufe von Probenarbeit fixierte Handlungsabläufe“ (Fischer-Lichte 2016 [2012], 55). Eine derartige Trennung von Aufführung und Inszenierung erscheint vor allem sinnvoll, um die Singularität Ersterer hervorzuheben und Zweitere als Konzept anzusehen, „das hinter der Menge aller Aufführungen einer Produktion steht“ (Horstmann 2018b, 17). Der Begriff der Inszenierung soll auch für das Pen-and-Paper-Rollenspiel übernommen werden, da auch hier der Performanz ein Vorbereitungs- und Planungsakt vorausgeht. Die Vorbereitung bezieht sich auf das Erlernen der Spielregeln, Planung ist vornehmlich im Rahmen fiktionaler Schaffensprozesse gefordert, die vor dem Spiel stattfinden, beispielsweise die Entwicklung der Figuren oder die Konzeption von Schauplätzen oder Ereignissen, die für die Handlung relevant sein können. Gerade Spielleitende arbeiten nach Mackay (2001, 31–32) häufig mit verschiedenen Rollenspielpublikationen (Regelwerke, Szenariomodule, Quellen- und Erweiterungsbände), die bereits einige Eigenschaften der fiktiven Welt festlegen, und selektieren hieraus bestimmte Elemente, die sie für die eigene, im Rollenspielprozess konstruierte Welt integrieren möchten. Gerade aufgrund dieses Zusammenspiels zwischen
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offiziell publizierten Texten und den selektierenden Tätigkeiten der Partizipierenden sieht Hammer (2007, 70) mögliche, im Rollenspielprozess entstehende Narrationen als Ergebnis einer dreifachen Autorschaft: Primäre Autorschaft entsteht durch Publikationen, die System, Setting und Szenario des zugrunde liegenden Rollenspiels festlegen. Sekundäre Autorschaft entwickelt sich durch die Inszenierungshandlungen, in der diese Ebenen im Hinblick auf eine geplante Spielsitzung selektiert und konkretisiert werden (vgl. Hammer 2007, 70, u. Kap. 3.3). Tertiäre Autorschaft entsteht im Spielprozess und betrifft das Aus- und Verhandeln der in den ersten beiden inszenatorischen Phasen der Autorschaft konstatierten Elemente. Die Beteiligten agieren mittels performativ-emergenter „moment-to-moment-choices“ (Hammer 2007, 71) und konstruieren im Prozess den Handlungsverlauf. Der Einfluss primärer und sekundärer Autorschaft auf diesen Prozess ist dabei jedoch auch während des Kommunikations- und Spielprozesses offensichtlich: Nicht selten werden hier Regelwerke konsultiert, um Nachfragen oder Unklarheiten zu klären, auch kommt es vor, dass Beteiligte umfassende Notizen in die Sitzung hineintragen, die sie in ihrer Vorbereitung verfasst haben (vgl. Herbrik 2011, 207; Mackay 2001, 52).20 Aufgrund spezieller Rollenspiele, die bewusst so konzipiert sind, dass sie ohne größere Vorbereitung spielbar sind, sowie die in Teilen der Fankultur vorherrschende Präferenz improvisatorischer Spielstile (vgl. Costikyan 2011, 189) ist es schwierig, das Verhältnis von vorausplanender Inszenierung und der aus der Emergenz entstehenden Notwendigkeit des Improvisierens während des Pen-and -Paper-Rollenspiels zu generalisieren. Analog zu Lösels (2013, 24–25) Klassifizierung von inszenatorischen und improvisatorischen Theaterformen lässt sich das Pen-and-Paper-Rollenspiel je nach Systemauswahl und Spielpräferenz innerhalb dieses Spektrums begreifen. Dennoch ist anzumerken, dass Reinformen nicht existieren können: Ein rein improvisatorisches Rollenspiel würde auf ein Regelsystem verzichten und somit weniger zu den Pen-and-Paper-Rollenspielen, als zur Gattungsausprägung der Systemless- oder Free-Form-Rollenspiele gezählt werden (vgl. Kap. 2.2). Ein rein inszenatorisches Rollenspiel, das beispielsweise an einem vorher festgelegten Ideal der Handlungsführung festhält, würde den Beteiligten nur eine geringe agency einräumen und sich wahrscheinlich eher den Formen des Theaters annähern. Auch die auf Zufallsgeneratoren basierenden Konfliktresolutionsmechaniken, die vielen Rollenspielen zugrunde liegen, wären einer derartigen Konzeption abträglich und würden eine vollständige Planung unmöglich machen.
Bergström (2010, 10) sieht gerade diese Vorbereitung und das Regelsystem als stabilisierendes Element des Pen-and-Paper-Rollenspiels an. Spielende können im Spielprozess immer wieder auf diese Elemente zurückgreifen, was ihren Handlungen eine gewisse Konsistenz verleihen kann.
4.2 Modellierung der Erzählkommunikation
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Während die in der Inszenierung entwickelten Elemente, die in den Vollzug des Pen-and-Paper-Rollenspiels einfließen, aufgrund ihrer vorher durchgeführten Planung ein Gefühl der Kontrolle über die fiktive Welt und ihre inbegriffene Narration vermitteln können, bedeutet Improvisation zumeist „De-Kontrolle“ (Lösel 2013, 124). Dennoch ist anzumerken, dass das Improvisieren nicht mit einer vollständigen Willkürlichkeit kommunikativer Handlungen einhergeht, sondern sich immer im Rahmen des vorher Kommunizierten bewegen muss:21 Improvisation wird dabei als Antwort auf die Umgebung betrachtet. Das Kriterium der Responsivität schließt bestimmte spontane Aktionen aus: Eine Handlung, die zwar unmittelbar, jedoch nicht als Antwort auf die jeweils aktuelle Umwelt erfolgt, kann demnach nicht als improvisiert gelten. Dieses Kriterium markiert demnach die Grenze zwischen spontanem Verhalten, das unter Umständen aus einem inneren Impuls entsteht und nicht zwingend einen Zusammenhang zur Umgebung haben muss. (Lösel 2013, 44)
Improvisation bedeutet nach Lösel also die Initiierung eines interaktiven Prozesses: Indem bereits getätigte Handlungen responsiv aufgegriffen werden, wird ein Angebot geschaffen, dass die anderen Beteiligten abermals aufnehmen können, um neue Angebote zu konstruieren. Dieser kommunikative Prozess, der zugleich einen impliziten Aufforderungscharakter zur Teilnahme hat, ist neben der ludischen Prozessualität eine kennzeichnende Eigenschaft des Pen-and-Paper-Rollenspiels. Die aus der Verschränkung dieser Prozesse hervorgehende performative Narration entsteht also zum einen aus der im Vorhinein geschaffenen inszenatorischen Festlegung eines Rahmens, in dem die Narration stattfinden soll (in Kap. 3.2 beschrieben als narrative Architektur). Zum anderen werden im Kommunikationsprozess diese rahmenden Elemente integriert, jedoch um improvisierte performative Handlungen, die auf diese Elemente referieren, ergänzt.
4.2 Modellierung der Erzählkommunikation Die Beobachtungen zur Kommunikation im Pen-and-Paper-Rollenspiel im Allgemeinen, speziell jedoch zur fiktionalen Kommunikationssituation, sollen nun genutzt werden, um ein Modell der Erzählkommunikation zu entwickeln. Wie
Dies korrespondiert mit der Beobachtung Cooks, der zwar dem Pen-and-Paper-Rollenspiel das Potenzial zuweist, unendliche Handlungsmöglichkeiten zu generieren, die jedoch aufgrund eines „unspoken agreement“ (Cook 2009, 100) der Beteiligten selten vollends ausgenutzt werden. Im Fall des gemeinsamen Erzählens besteht hier zumeist die unausgesprochene Vereinbarung, die Angebote, die Spielleitende gemäß ihrer geplanten Handlungsführung den Spielenden machen, nicht gänzlich zu ignorieren (vgl. Kap. 5.2.4).
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bereits in Kapitel 4.1 verdeutlicht, stellt der fiktionale frame den zentralen Ort dar, an dem eine narrative Darstellung realisiert wird. Damit geht einher, dass die in der doppelten Kommunikationssituation etablierte fiktive Sprechinstanz als narrative Instanz wahrgenommen wird (vgl. Igl 2017, 132), die eine Erzählung fiktiven Adressat/-innen vermittelt. Die kommunikative Funktion dieser Instanz ist somit vor allem eine darstellende, auf Ebene des realen Sprechers/der realen Sprecherin kommt neben einer appellativen Einladung zum make-believe auch eine Aufforderung zum Miterleben hinzu. Der erzählerischen Kommunikation im Pen-and-Paper-Rollenspiel wurde in der Forschung bisher nur wenig Beachtung geschenkt. So sieht Heliö (2004, 68) aufgrund der Optionalität der narrativen Rezeption keinen Anlass, im Pen-and-PaperRollenspiel von einem Erzähler auszugehen: „In role-playing games the narrator and the narratee are both quite lacking; there is no one for whom the story is told to, and neither is there a storyteller.“ Dieser Auffassung ist insofern nicht zuzustimmen, als Narration immer zugleich eine kommunikative Vermittlung einschließt. So bezeichnet Eder (2008b, 282) diese kommunikative Eigenschaft gleichzeitig als Brücke zu einer kognitiven Rezeptionstätigkeit: „Narration implies communication, communication implies reception, and reception implies cognition.“ Diese Beobachtung lässt sich ebenso umkehren: Wird durch bestimmte Angebote kognitiv das Vorhandensein narrativer Elemente angenommen, impliziert dies, dass diese Angebote rezipiert und somit gleichzeitig kommunikativ übermittelt wurden. Die folgende Modellbildung berücksichtigt diese Tätigkeit, indem sie von einer idealtypischen Kommunikationssituation ausgeht, in der alle Beteiligten diesen Prozess vollzogen haben. Als Entwicklungsgrundlage dient das Modell der literaturwissenschaftlichen Erzähltheorie (hier adaptiert nach Lahn und Meister 2016 [2008], 17), das die Doppelstruktur eines fiktionalen Kommunikationsmodells integriert (Abb. 3). Auch dieses Modell vollzieht die Trennung zwischen realen Produzierenden eines Textes und angenommenen Erzählinstanzen, indem es von einer NichtIdentität dieser beiden Entitäten ausgeht, „egal, wie zahlreich die Parallelen zwischen beiden auch sein mögen oder wie wenig der Erzähler konstruiert sein mag“ (Lahn und Meister 2016 [2008], 73). Der oder die reale Produzent/-in des Textes, auch bezeichnet als konkreter Autor/konkrete Autorin (vgl. Schmid 2014 [2005], 47), ist ebenso wie reale Lesende eine vom narrativen Text unabhängig existierende, reale Person. Obwohl diese beiden Entitäten nicht konkret zum Bestand des Werkes gehören (vgl. Jannidis 2002, 540), lassen sich insbesondere in Bezug auf den realen Autor/die reale Autorin Spuren im Text finden. Denn: Reale Autor/-innen besitzen bestimmte Kompetenzen im Erzählen und können letztlich nur das darstellen, was ihnen diese Kompetenz erlaubt.
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Reale/-r Autor/-in Autorinstanz Erzählinstanz Erzählende Figur
v Fiktive/-r Adressat/-in Adressateninstanz Leserinstanz Reale/-r Leser/-in Abb. 3: Modell der Erzählkommunikation (Lahn und Meister 2016 [2008], 17).
Auf fiktionaler Ebene kommuniziert die narrative Instanz mit einem/einer fiktiven Adressat/-in, die von den realen Lesenden zu unterscheiden ist. Innerhalb der Erzählung können weitere Erzählebenen konstruiert werden, beispielsweise, wenn eine im Erzähltext auftretende Figur einer anderen Figur etwas erzählt und somit eine Binnennarration geschaffen wird. Die Darstellung der storyworld ist hierbei an die narrative Instanz gebunden (vgl. Thon 2016, 151); wenn eine weitere, hypodiegetische Ebene geschaffen wird – beispielsweise durch eine Binnenerzählung – findet darüber hinaus die Konstruktion einer sekundären storyworld statt, die durch die intradiegetisch vorhandene, meist figurale Erzählinstanz erschaffen wird (vgl. Thon 2016, 155).22 Die literaturwissenschaftliche Erzähltheorie entwickelt zudem das Konzept einer impliziten oder abstrakten Autor- und Leserinstanz (vgl. Schmid 2014 [2005], 60–61), die sich aufgrund der räumlichen und zeitlichen Trennung von realen Autor/-innen und Leser/-innen in der Kommunikation durch ein schriftsprachliches Werk ergeben: Die implizite Autorinstanz, die von der Erzählinstanz zu unterscheiden ist, repräsentiert ein hypothetisches Konstrukt, das durch Spuren, die der Erzähltext liefert, von den realen Lesenden auf Grundlage der Lektüre des Textes konkretisiert werden kann (vgl. Schmid 2014 [2005], 61). Die implizite Leserinstanz repräsentiert hingegen einen vom Autor/von der Autorin konstruierten Entwurf
Hypodiegesen verweisen auf eine Hierarchisierung verschiedener Welten und Subwelten: Unterschieden werden soll hier zwischen einer (intra-)diegetischen primären storyworld, einer hypodiegetischen sekundären storyworld, einer hypo-hypodiegetischen tertiären storyworld usw. (vgl. Thon 2016, 50).
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potenzieller Leserschaft und ist deshalb nicht mit der fiktiven Adressateninstanz gleichzusetzen, an die sich die Erzählinstanz wendet. Diese unterstellte oder angenommene Leserschaft schlägt sich in der Textkonstruktion vor allen Dingen in sprachlichen Codes und ideologischen oder ästhetischen Normen nieder, die von Autor/-innen integriert werden, um das Werk für ein bestimmtes Publikum verstehbar zu machen (vgl. Schmid 2014 [2005], 68). Dies bedeutet jedoch nicht, dass diese Absichten in der realen Leserschaft verstanden werden beziehungsweise dass der intendierte Kreis der Lesenden auch wirklich den Text liest. Während in der literaturwissenschaftlichen Erzähltheorie die Nicht-Identität von Autor/-in und erzählender Instanz als „Konsens und terminologische Notwendigkeit“ (Igl 2017, 129) angesehen wird, erfordert die ontologische Gestalt der Erzählinstanz eine Präzisierung, die gerade bei der Übertragung dieses Modells auf andere literarische Gattungen und mediale Dispositive deutlich wird. Zentral betrifft dies die Frage, was exakt unter dem Begriff ‚Erzähler/-in‘ oder ‚Erzählinstanz‘ verstanden werden kann. Denn gerade durch die Zuschreibung einer Stimme, unter die Genette (2010 [1994], 137–139) eine derartige Instanz im Erzähldiskurs fasst, sowie aufgrund der Möglichkeit, auf bestimmte stabile Merkmale zurückzuschließen, die durch das sprachliche Verhalten aufgeworfen werden (vgl. Jannidis 2002, 547), besteht die Gefahr, diese Instanz zu anthropomorphisieren. Zwar sind Erzählungen, die durch eine mehr oder weniger präsente Erzähler/-innenfigur vermittelt werden, keine Seltenheit, doch selbst in der Erzählliteratur nicht durchgängig die Regel (vgl. Orth 2016, 53). Problematisch wird eine derartige Anthropomorphisierung in den Fällen, in denen Narrationen in anderen Medien und Gattungen betrachtet werden, die explizit die Existenz einer narratorialen Erzählsituation markieren müssen; so beispielsweise der Film, der eher als zeigendes („showing“) denn als sprachlich erzählendes („telling“) Medium begriffen wird (vgl. Kuhn 2011, 78). Da an dieser Stelle für die Notwendigkeit einer narrativen Instanz innerhalb eines Erzähltextes plädiert wird (vgl. Igl 2017, 130), ist nicht davon auszugehen, dass Medien wie der Film oder Gattungen wie das Drama erzählerlos realisiert werden, sondern durch eine narrative Instanz, „die nicht in Erscheinung tritt, die narrativen Funktionen aber dennoch erfüllt“ (Horstmann 2018b, 67). Die implizite Darstellung einer derartigen Instanz ist obligatorisch (vgl. Schmid 2014 [2005], 43), weil sie das Erzählen durch die Selektion und Präsentation bestimmter narrativer Elemente konstituiert und organisiert (vgl. Lahn und Meister 2016 [2008], 75; Weidle 2009, 228). Natalia Igl (2017, 137) sieht die Erzählinstanz aus diesem Grund als „linguistisch stets nachweisbares abstraktes Strukturprinzip narrativer Texte“ an und definiert sie wie folgt:
4.2 Modellierung der Erzählkommunikation
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Als ‚Erzählinstanz ‘ lässt sich damit die innertextuell verortete Sprecherposition bezeichnen, die den narrativen Diskurs in seiner Gesamtheit hervorbringt und von der die Bezugnahmen auf die erzählten Entitäten, Handlungen und Ereignisse ausgehen (vgl. Margolin 2011, 44). Das kognitiv-mentale Konstrukt ‚Erzähler‘ korrespondiert mit dieser in narrativen Texten gegebenenfalls in sich wiederum dynamisch entworfenen, d. h. perspektivisch aufgespaltenen innertextuellen Sprecherposition. (Igl 2017, 132)
Die Übertragung eines derartigen Modells auf andere Medien stellt darüber hinaus die Frage, inwieweit das Instanzenkonzept modifiziert werden muss, falls parallel durch verschiedene semiotische Ausdruckskanäle erzählt wird, sodass eine „Kopräsenz narrativer Instanzen“ (Schweinitz 2005, 93) entsteht. Mit Blick auf den Film differenziert Markus Kuhn (2011, 84–87) daher zwischen einer obligatorischen visuellen Erzählinstanz und einer oder mehrerer sprachlichen Erzählinstanzen, durch die die Narration vermittelt wird. Aufgrund der Vielzahl möglicher semiotischer Ausdruckskanäle und dadurch realisierbarer narrativer Instanzen wird vor allem in der Theaternarratologie von einem „superordinate narrative system“ (Weidle 2009, 225) ausgegangen, das diese Instanzen einsetzt und steuert. Horstmann hält ebenfalls in seinem theaternarratologischen Kommunikationsmodell an einem derartigen Systembegriff fest, löst sich jedoch gänzlich vom Instanzenbegriff. Dies ist insofern sinnvoll, als im Theater die von der Erzählinstanz zumeist besetzte extradiegetische Ebene ontologisch nicht wahrnehmbar ist, sondern lediglich eine Vermittlungsposition besitzt (vgl. Horstmann 2018b, 111). Relevanz erhält dieser Begriff weiterhin dadurch, dass die durch die verschiedenen Ausdruckskanäle vermittelte Theatererzählung als „Summe ihrer Teile“ begriffen werden kann, weil sie auf diese Weise Inhalte transportiert, „die durch einzelne Kanäle so nicht hätten erzählt werden können“ (Horstmann 2018b, 113). Diese grundsätzlichen Überlegungen zur Erzählkommunikation sollen für das erzählkommunikative Modell im Pen-and-Paper-Rollenspiel berücksichtigt werden, das im Folgenden entwickelt wird. Dabei spielt die Autor- und Rezipientenschaft eine besondere Rolle, die im anschließenden Kapitel diskutiert wird. Weiterhin relevant ist die Verortung und Gestalt möglicher Erzählinstanzen, die wiederum Aufschluss über mögliche rezipierbare Narrationen liefern.
4.2.1 Autor- und Rezipientenschaft Eine zentrale, eingangs bereits erwähnte Eigenschaft des Pen-and-Paper-Rollenspiels, die es von anderen performativen Formen wie dem Theater unterscheidet, betrifft seine fehlende Ausrichtung auf ein mögliches Publikum (vgl. Schmidt 2012, 249): Spiel und Narration werden nur innerhalb eines kleinen Kreises von Teilnehmenden produziert und rezipiert – es in ein präsentierbares Format zu übertragen, ist mit
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4 Erzählerische Kommunikation im Pen-and-Paper-Rollenspiel
zusätzlichen medialen Bearbeitungs- beziehungsweise Produktionsprozessen verbunden (vgl. Cook 2009, 98).23 Daran anknüpfend ergibt sich die Frage, wer letztlich die Autorschaft für eine Narration beanspruchen kann. In Kapitel 4.1 wurde bereits darauf verwiesen, dass alle Beteiligten je nach Gruppenpräferenz und Regelsystem mehr oder weniger Einfluss auf die fiktional-narrative Kommunikation ausüben können, weswegen es naheliegt, von einer kollektiven Autorschaft auszugehen (vgl. Schmidt 2012, 276). Daraus resultiert, dass Teilnehmende wechselseitig auch in die Rolle von Rezipierenden treten, wenn andere Teilnehmende Teile einer Narration produzieren. Aufgrund dieser Tatsache und der notwendigen face-to-face-Kommunikationssituation im Pen-and-Paper-Rollenspiel (vgl. Grouling Cover 2010, 168) kann man das inbegriffene Erzählen als ko-präsentes Erzählen klassifizieren, weil sich reale Autor/innen und Rezipient/-innen am selben Ort befinden. Angelehnt an die Strukturen mündlicher face-to-face-Kommunikation bedeutet Ko-Präsenz, dass auch hier Erzählen in kleineren Organisationssequenzen (turns) verläuft, an die die Beteiligten durch Selbstselektion mit ihren narrativen Beiträgen anknüpfen (vgl. Herman 2009, 47–48). Dabei ist entscheidend, dass das Aufrechterhalten dieser turns nicht zentral durch die Regeln der Alltagskommunikation organisiert ist, sondern – wie auch im Falle anderer inszenierter mündlicher Erzählsituationen (vgl. Fludernik 2002 [1996], 45)24 – teils eigenen Regeln folgt.25
Ein aktuell vermehrt auftretendes Phänomen sind die sogenannten Let’s Plays, die im Internet auf verschiedenen Video- und Streamingplattformen veröffentlicht werden. Die Ausrichtung auf ein zuschauendes Publikum bedeutet in diesem Fall einerseits eine stärkere Planung der einzelnen Sitzungen, die zumeist in einem festgelegten Zeitrahmen aufgenommen werden, und andererseits, dass die Zuschauenden einbezogen werden, beispielsweise durch Begrüßungs- und Verabschiedungssequenzen, Interagieren mit der Kamera sowie eine bühnenartige Gestaltung des Raumes, in dem sich die Spielgruppe befindet. Laut Fludernik (2002 [1996], 46) spielt besonders die Prägnanz einer mündlichen Alltagserzählung eine Rolle, in denen Sprechende „as fast as possible“ zum zentralen Punkt ihrer Narration kommen, um nicht die Aufmerksamkeit der beziehungsweise des Zuhörenden oder das Rederecht zu verlieren. In institutionalisierten, also geplanten mündlichen Erzählsituationen ist dies nicht der Fall, da durch spezielle Regeln einzelnen Beteiligten längeres Rederecht eingeräumt werden kann (vgl. Fludernik 2002 [1996], 57). Dies ist auch im Pen-and-Paper-Rollenspiel erkennbar, das nicht nur durch seine konventionelle Aufteilung in Spielleitende und Spielende, sondern durch spezielle Spielregeln derartige Rechte zugesteht. Aus diesem Grund ist die eingangs erwähnte Fokussierung auf sprachwissenschaftliche Erzähltheorien schwierig, da diese vor allem Phänomene der Alltagskommunikation untersuchen. Hierzu ergeben sich dennoch zwei divergierende Ansichten in Bezug auf fiktional-formalisierte, mündliche Erzählsituationen: Während Fludernik (2002 [1996], 34) diesen den deutlichen Einfluss der Alltagserzählung zuweist und in einer kognitiven Naturalisierung eine Entlastungsstrategie für die Narrativierung sieht, attestiert Olhus (2017, 76) derartigen Formen eher die Tendenz zu „kon-
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Ko-Präsenz bedeutet weiterhin, dass auch in dem Moment, in dem einer oder eine der Beteiligten das zentrale Erzählrecht beansprucht, die anderen Beteiligten an der Konstruktion der Erzählung partizipieren (vgl. Marlar Lwin 2010, 359) und beispielsweise durch bestimmte Signale – oder schon ihre alleinige Anwesenheit – das Erzählen beeinflussen. In dieser Eigenschaft sieht Horstmann das zentrale Merkmal performativen Erzählens verwirklicht: Das Differenzkriterium beim performativen Erzählen ist der Zuschauer, der durch seine leibliche Anwesenheit im Moment der Aufführung die Möglichkeit hat, die Narration zu beeinflussen und somit – wenn auch in der Regel in vergleichsweise geringem Maße – Autorfunktionen zu übernehmen. (Horstmann 2018b, 99)
Dies zeigt folglich, dass der erzählerische Kommunikationsprozess in theatralen Formen und auch im Pen-and-Paper-Rollenspiel kein linearer, sondern ein eher zirkulärer ist. Die erzählerische Kommunikation steht zu jedem Zeitpunkt im Wechselspiel zwischen Produktion und Rezeption, was nicht untypisch für die Formen der mündlich-performativ inszenierten Erzählung ist (vgl. Marlar Lwin 2020, 29). Aus diesem Grund erscheint ein lineares Erzählmodell, wie es bei anderen darstellenden Medien genutzt wird, nicht ausreichend, da im Rollenspiel Sender- und Empfängerrollen stetig wechseln. Durch die Ko-Präsenz der Beteiligten ergibt sich weiterhin, dass die Grenze zwischen der fiktionalen kommunikativen Doppelstruktur durchlässiger wird: Während die Rezipierenden klassischer Erzählmedien lediglich die Kommunikation auf fiktionaler Ebene miterleben und in der Regel nicht in Dialog mit dem/der realen Autor/-in treten, rücken diese Bereiche durch die mündliche Erzählsituation im Rollenspiel deutlich enger zusammen.
4.2.2 Narrative Instanzen Mit der Zirkularität des erzählerischen Kommunikationsprozesses im Pen-andPaper-Rollenspiel und der damit einhergehenden wechselnden Produzierendenund Rezipierendenrollen soll jedoch nicht das Konzept der Sprechpositionen aus dem literaturwissenschaftlichen Erzählmodell gänzlich aufgegeben werden.26 Wie
zeptioneller Schriftlichkeit“. Dies verdeutlicht die Position derartiger Erzählsituationen zwischen von Oralität und (künstlerischer) Literalität. Das Aufrechterhalten der Sprechpositionen soll mit Blick auf die terminologischen Unklarheiten einiger Forschungsarbeiten, die sich mit dem Erzählen in Pen-and-Paper-Rollenspielen beschäftigen, besonders betont werden. Diese Unklarheiten resultieren womöglich aus einer Beobachtung, auf die Fludernik (2002 [1996], 254) im Rückgriff auf die Gleichsetzung von Autor/-in und Erzählinstanz in der frühen Erzählliteratur aufmerksam macht: „Natural Narratology, furthermore, easily accommodates the well-known existential ambivalences of early narrative in which the narrator
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auch in anderen mündlich-fiktionalen Erzählsituationen wird weiterhin von der Trias reale/-r Autor/-in/Rezipient/-in/implizite/-r Autor/-in/Rezipient/-in und erzählerischer Vermittlungsinstanz ausgegangen (vgl. Marlar Lwin 2020, 51). Aufgrund einer fehlenden ontologischen Grenze zwischen dem Erzähltem, den realen Autor/innen und Rezipient/-innen scheint es auf den ersten Blick nicht sinnvoll, das Konzept der impliziten Autor- und Leserschaft weiter aufrechtzuerhalten, da es sich durch die Ko-Präsenz beider realer Individuen erübrigt, eine abstrakte Autor- oder Leserinstanz anzunehmen. Dennoch sind die Konstruktionsprozesse, die derartige Entitäten bedingen, auch im ko-präsenten Erzählen gegeben. Reale Autor/-innen konstruieren mit ihren erzählerischen Produkten immer eine angenommene, ideale Rezipientenschaft, ohne dass sie vollkommen sichergehen können, dass diese Einschätzungen auch auf die realen Rezipierenden zutreffen.27 Genauso können reale Rezipierende aus dem Erzählten ein subjektives Bild des Autors/der Autorin rekonstruieren. Diese Konstruktionen, die auf Interpretationen und Annahmen basieren, werden im Pen-and-Paper-Rollenspiel zumeist dadurch minimiert, dass sich die Teilnehmenden einer Spielgruppe oft schon vorher persönlich kennen, und zugleich die Möglichkeit besteht, in der Metakommunikation über mögliche Präferenzen und Annahmen zu diskutieren. Auch die Existenz narrativer Instanzen erweist sich als fragwürdig, da die Grenze zwischen realer und fiktionaler Kommunikationssituation aufgrund des fictional recentering der Teilnehmenden zu verschwimmen scheint. Während im schriftlich fixierten Erzählwerk Erzählinstanz und Figuren durch das schriftsprachliche Zeichensystem dargestellt werden und diese Grenze somit relativ leicht erkennbar ist, werden sie im Rollenspiel durch die leiblich anwesenden Teilnehmenden mitsamt ihrer menschlichen Stimme sowie ihres Körpers repräsentiert. Entgegen der Annahme David Schmidts (2012, 233), dass Autor/-innen und Erzähler/-innen
figure presents itself as a surrogate of the real author. Readers’ inclination to equate narrators with the authors of texts simply derives from an ingrained habit, acquired from their real-world experience, and this interpretative move is deliberately fostered by the design of much early fiction.“ Bezogen auf das Pen-and-Paper-Rollenspiel bedeutet dies analog, dass es aufgrund der Nähe zum mündlichen Alltagserzählen schwerfällt, Erzählinstanz und Autor/-in zu trennen, da beide mit derselben Stimme sprechen. Diese Trennung ist in fiktionstheoretischer Hinsicht jedoch unumgänglich, da aufgrund der kommunikativen Doppelstruktur Erzählsituationen konstruiert werden können, die homodiegetisch, also mittels einer Ich-Form, realisiert werden. Mit ‚Ich‘ ist in diesem Fall jedoch nicht der/die reale Sprecher/-in, sondern die fiktive Figur gemeint. In der Sprachwissenschaft hat sich für dieses Phänomen der Begriff des recipient design etabliert. Dieses Konzept geht davon aus, dass Sprechende in Alltagskommunikationen ihre Beiträge immer eng an ihre spezifischen Gesprächspartner/-innen anpassen (vgl. Sacks und Jefferson 1995, 438).
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eine Einheit bilden, wird davon ausgegangen, dass in jeglicher erzählerischer Äußerung im Pen-and-Paper-Rollenspiel eine Dialogizität28 beziehungsweise eine „Trialogizität“ (Horstmann 2018b, 88) der Stimmen vorherrscht. Diese vereint die Stimmen der realen Teilnehmenden, einer auftretenden (sprachlichen) Erzählinstanz sowie möglicher verkörperter Figuren. Eine derartige Parallelität dieser Stimmen erscheint vor allem deshalb nachvollziehbar, da das Erzählen an sich aufgrund seiner verschiedenen diegetischen Ebenen das Potenzial zur Gleichzeitigkeit bietet (vgl. Igl 2017, 139): Ein Wechsel in die Figurenrede – beispielsweise innerhalb einer Binnenerzählung – bedeutet demnach nicht, dass die extradiegetische Erzählinstanz abgelöst, sondern ein „Zugleich“ (Igl 2017, 139) beider Erzählstimmen erzeugt wird. Die Erzählinstanz tritt auf der Textoberfläche zwar in den Hintergrund, dennoch ist nicht anzunehmen, dass in der Tiefenstruktur Stimme und Wahrnehmung in einer Entität zusammenfallen, sondern eine „Überlagerung zweier Betrachterstandorte“ (Igl 2017, 139) eintritt. Horstmann (2018b, 8), der den Begriff der narrativen Trialogizität in seinem Modell der Erzählkommunikation im Theater entwickelt, geht aufgrund einer fehlenden wahrnehmbaren extradiegetischen Ebene in der Theaternarration von einer „‚metaphorischen‘ Stimme der vermittelnden Instanz bzw. der Mittelbarkeit“ aus und ersetzt den Instanzenbegriff durch das Konzept des narrativen Repräsentationssystems. Ein derartige extradiegetische Ebene, aus der eine Erzählinstanz die primäre storyworld konstruiert (vgl. Thon 2016, 155), ist im Rollenspiel hingegen gegeben, wie folgendes Beispiel illustriert. S7: Dungeons and Dragons 2 S7.2: Aufführung Zu: SL: Zu: SL: Zu:
Ich äh trete vor ihn mit gebührendem Abstand, Mhm? Ä:h nehme meinen Helm ab und klemme ihn mir unter dem Arm knie vor ihm nieder, Mhm? Und ä:h (.) begrüße ihn. "Heil eure Majestät (1.0) Berian den Zweiten." 03:44:11–03:44:30
Das Konzept der Dialogizität basiert auf Bachtins (1979) Überlegungen zur Stilistik der Rede im Roman. Er sieht die Erzählung als dialogisches Konstrukt, in dem verschiedene Stimmen und Redeweisen zusammenkommen, nicht nur in Gestalt wechselnder Entitäten, sondern in Form einer „inneren Dialogizität“ (Bachtin 1979, 176), als „zwei Schichten“, die sich überlagern: „In der Schicht des Erzählers, in seinem gegenständlich-semantischen und expressiven Horizont, und in der Schicht des Autors, der mit dieser Erzählung durch diese Erzählung gesprochen spricht.“ (Bachtin 1979, 202)
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Der Spieler Zuma (Zu) beschreibt zu Beginn des Ausschnitts die Handlung seiner Spielfigur, ehe er im letzten Teil durch das Verstellen seiner Stimme („Heil eure Majestät (.) Berian den Zweiten.“) eine zitierte Figurenrede markiert. Diese wird mit einer Inquit-Formel eingeleitet, die durch das verbum dicendi „begrüße“ gekennzeichnet ist. Die Präsenz der extradiegetischen Ebene zeigt sich besonders durch die narratoriale Rede, die bis zum Ende der Inquit-Formel stattfindet.29 Diese Rede ist lediglich Ausdruck des hervorbringenden narrativen Aktes der Erzählinstanz (vgl. Genette 2010 [1994], 148) und intradiegetisch nicht wahrnehmbar. Der Unterschied zwischen Extra- und Intradiegese wird durch die klare Markierung der zitierten Figurenrede ausgedrückt. Man kann also davon ausgehen, dass das klassische Ebenenverhältnis zwischen Extra- und Intradiegese im Pen-and-Paper-Rollenspiel konstruiert werden kann, wenngleich dieses Beispiel nur einen Möglichkeitsraum der Darstellung erzählter Rede abbildet.30 Der Unterschied zum Theater ist vor allem dadurch gegeben, dass im Pen-and-Paper-Rollenspiel lediglich die Stimme sowie die unmittelbare Gestik und Mimik einer Figur während des Sprechens übernommen werden kann, während im Theater die Möglichkeit besteht, Figuren zumeist gänzlich zu verkörpern. Dies erhöht den extradiegetischen Beschreibungsaufwand von Handlungen abseits des Sprechens, den Partizipierende im Erzählprozess leisten. Narration im Pen-and-Paper-Rollenspiel wurde im Rahmen dieser Ausführungen als primär mündliches Erzählen klassifiziert, was bedeutet, dass die Existenz einer sprachlich-mündlichen Erzählinstanz ein obligatorisches Merkmal der Erzählkommunikation darstellt. Mündliches Erzählen bezeichnet in enger Definition einen Prozess, der „stimmlich-somatisch“ im „Hier-und-Jetzt“ realisiert wird (Olhus 2017, 76). In weiterer Perspektive bezieht sich diese Form des Erzählens auf ein multimodales Konzept (vgl. Olhus 2017, 78), das in der Regel durch verschiedene semiotische Ausdruckskanäle realisiert wird (vgl. Horstmann 2018b, 5). Die Eigenschaft der Multimodalität ergibt sich unmittelbar dadurch, dass (verbal-)auditive und visuelle Zeichen zusammengeführt werden, die den mündlichen Erzählprozess charakterisieren. Damit verbunden sind verschiedene diskursprägende Verfahren, die nach Soe Marlar Lwin (2010, 361) verbale, vokale und visuelle Ausdruckselemente umfassen. Verbale Elemente beziehen sich auf die spezifische Art der Sprachverwendung und darin inbegriffene spezielle sprachliche Marker, die in den Erzählprozess eingebracht werden. Vokale Elemente betreffen die stimmlichen Aspekte, beispielsweise die Höhe
Auch wenn die homodiegetische Erzählinstanz der fiktiven Welt angehört, über die sie berichtet, unterscheidet sich ihre ontologische Position von den Figuren der storyworld: Sie befindet sich auf der Ebene des Erzählens (Exegesis), während sich die storyworld auf der Ebene des Erzählten verortet (Diegesis) (vgl. Lahn und Meister 2016 [2008], 78–79). Eine genauere Untersuchung der Präsentation von Rede und mentalen Prozessen soll in Kapitel 5.1.3 erfolgen.
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der Stimme, Lautstärke, Pausierungen, Interjektionen, emotionale oder emphatische Betonung einzelner Silben, sowie die Sprechgeschwindigkeit (vgl. Marlar Lwin 2010, 361–362). Ferner lassen sich auch Formen der nicht an Sprache gebundenen Lauterzeugung, wie beispielsweise Lautmalereien oder Geräuschimitationen, unter diese vokalen Formen des Ausdrucks fassen (vgl. Marlar Lwin 2020, 44–45). Zu visuellen Ausdruckselementen zählen die mimischen und gestischen Diskursverfahren, die während des Erzählprozesses realisiert werden. Marlar Lwin (2020, 46) differenziert die gestischen Diskursverfahren in mimisch-gestische, metaphorische, propositionale, deiktische und Beat-Gesten. Mimische Gesten beziehen sich auf die Bewegung der Hände und der Arme und haben einen engen formalen Bezug zum semantischen Gehalt der Sprachhandlung. Metaphorische Gesten sind in ähnlicher Weise wie die mimischen Gesten darstellend, verweisen jedoch auf abstrakte Konzepte oder Ideen. Propositionale Gesten sind Bewegungen mit Händen und Armen, die ungefähre Größen und Maßangaben nachbilden. Mit einer deiktischen Geste verweisen Sprechende auf Objekte in der Umgebung oder einen abstrakten Punkt in der Ferne. Beat-Gesten sind schließlich Bewegungen mit Händen und Armen, die zur Hervorhebung bestimmter Wörter oder Sätze genutzt werden, um diesen eine erhöhte Signifikanz zuzuweisen. Dass derartige Gesten auch in der Erzählkommunikation im Pen-and-Paper-Rollenspiel zu finden sind, zeigt Herbrik (2011, 175), indem sie die Rolle der propositionalen und metaphorischen Gesten für die Veranschaulichung bestimmter Vorgänge hervorhebt. Neben dieser veranschaulichenden Funktion gibt es jedoch weitere Gründe, Gesten in einen lautsprachlichen Kommunikationsprozess zu integrieren (vgl. Herbrik 2011, 181): Zentral sind hier vor allem sprachliche Ökonomieaspekte, Verbindlichkeit und Beständigkeit im Gegensatz zur flüchtigen Sprachhandlung, darüber hinaus die Ähnlichkeit und künstliche Präsenz der Geste in Bezug auf das fiktionale Kommunikationshandeln. Neben diesem multimodalen framework, das allein durch die mündliche Erzählsituation erzeugt wird, existieren weitere fakultative Ausdruckskanäle, die in erster Linie den mündlichen Erzählprozess unterstützen und somit diesem untergeordnet sind. Beispielsweise ist es möglich, geschriebene narrative Texte oder Bilder zu integrieren, die eine spezifische Form der Wissensvermittlung darstellen und/oder das mündliche Erzählen entlasten können (vgl. Herbrik 2011, 184). Ebenso bietet Musik narratives Potenzial, indem sie Spannung erzeugen oder Emotionen bei Rezipierenden wecken kann (vgl. Thon 2016, 72).31 Entscheidend ist hierbei, dass man dieses narrative Potenzial eher als kognitive Anlage zur Nar-
Eine weitere Möglichkeit des musikalischen Erzählens sind Leitmotive, die das Potenzial zur Narrativierung von Ereignishaftigkeit besitzen (vgl. Horstmann 2018b, 125).
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rativierung bestimmter Zustände begreift und weniger als Möglichkeit, narrationsinterne Ereignishaftigkeit zu erzeugen (vgl. Horstmann 2018b, 124). Gleiches gilt für olfaktorische und gustatorische Ausdrucksmittel, die auch im Pen-andPaper-Rollenspiel als „Imaginationshilfen“ (Walter 2014, 186) hinzugezogen werden können. Mit Ausnahme der geschriebenen narrativen Texte ist es mitunter schwierig, eine eigenständige narrative Instanz zu identifizieren, solange der Rückgriff auf andere semiotische Kanäle nur als Unterstützung des mündlichen Erzählens genutzt wird. Analog zu Kuhns Modellbildung der Erzählkommunikation im Film soll in diesen Fällen daher nur von einer untergeordneten Erzählinstanz ausgegangen werden, wenn eine Vermittlung und/oder Ereignishaftigkeit vorliegt (vgl. Kuhn 2011, 95).32 Sofern diese Voraussetzung nicht erfüllt wird, wird die Applikation dieser anderen semiotischen Ausdrucksmittel als Erweiterung des multimodalen framework eines mündlichen Erzählens aufgefasst.33 Aufgrund der kollektiven Autorschaft der Rollenspielnarration und der zumeist fehlenden Absprache über den Erzählinhalt sowie seiner Vermittlung wird zudem die Existenz mehrerer mündlicher Erzählinstanzen angenommen. Hierauf verweist auch David Schmidt (2012, 84), der Rollenspielnarrationen als gemeinsame Konstruktionen betrachtet, in denen nicht nur „ein einziger Erzähler als hervorbringende Instanz“ auftritt. Es existierten demnach mehrere Erzählinstanzen – nämlich so viele, wie es Teilnehmende an der jeweiligen Rollenspielsitzung gibt. Wie die jeweilige Instanz auf verschiedene Ausdruckskanäle jenseits der Verbalsprache mit den inbegriffenen visuell-gestischen und mimischen Ressourcen (oder der Etablierung weiterer Erzählinstanzen) zugreifen kann, ist dabei gruppenintern beziehungsweise je nach Rollenspielsystem geregelt.34 Wie es sowohl Horstmann (2018b, 48–49) für die Theateraufführung als auch Marlar Lwin (2010, 359) für die mündlich-inszenierte Erzählperformance vorschlagen, sollen gemäß den Prämissen der transmedialen Erzähltheorie die in der Rollenspielkommunikation hervorgebrachten Äußerungen als multimodaler Text definiert werden, der nicht nur das Produkt, sondern auch den Prozess der Produktion und
Dies bezieht sich zentral auf die von Wolf (2002) klassifizierten und von Ryan (2006, 20) aufgegriffenen semiotischen Typen oder Kunstformen Verbalität, Visualität und Musikalität, die Narrativität realisieren können, wobei das erzählerische Potenzial nach Reihe geringer wird. Dies bedeutet, dass visuelle Zeichen – wie Bilder – in den Prozess des mündlichen Erzählens integriert werden, die für sich allein keine Narration abbilden. Im mündlichen Erzählprozesses dient die Etablierung eines derartigen visuellen Kanals somit dazu, das Erzählen anzureichern, aber auch zu entlasten (vgl. Herbrik 2011, 184). Gerade der Zugriff auf verschiedene semiotische Kanäle jenseits der Stimme wird zumeist gruppenintern abgestimmt, sodass sich einzelne Kanäle nicht überlagern.
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Rezeption miteinschließt (vgl. Marlar Lwin 2020, 26). Diese Überlegungen werden auch in der Rollenspielforschung aufgegriffen: Padol (2013) bezeichnet den Rollenspieltext als „session itself“, der nicht nur die der Erzählkommunikation innewohnenden Elemente, sondern jegliches kommunikative Handeln, also auch die in den anderen kommunikativen frames hervorgebrachten Äußerungen, miteinschließt. Diese eher auf ethnografischen Prämissen beruhende Entscheidung (vgl. Stenros 2004, 77) betrifft vor allem die in Kapitel 3 aufgeworfene rezeptionale Optionalität (einzelner) narrativer Elemente. Wie Montola (2012, 87) feststellt, produzieren Teilnehmende eines Pen-and-Paper-Rollenspiels eher „snippets of narration“, also kleinere narrative Sequenzen, die im Laufe des Spielprozesses hervorgebracht werden. Diese Einheiten sind zuallererst durch die produzierendenseitige Intention geprägt, als narrativ gedeutet zu werden, und insofern durch bestimmte Strategien konstruiert, die den Rezipierenden nahelegen sollen, sie als narrativ zu verstehen. Dass dies letztlich mit allen narrativ-intendierten Äußerungen geschieht, ist nicht gesichert und hängt zu großen Teilen von der jeweiligen narrativen Kompetenz der Beteiligten sowie dem Willen, derartige Angebote narrativ zu interpretieren, ab. Weiterhin verweist Padol darauf, dass Elemente jenseits dieses Rollenspieltextes existieren und die Konstruktion des Textes beeinflussen können, jedoch nicht Teil von ihm sind. Sie bezieht sich in diesem Fall auf kommunikative Handlungen im fiktionalen frame, beispielsweise geheime Gespräche zwischen einzelnen Figuren, die nicht alle Teilnehmenden mithören (vgl. Padol 2013). Dies betrifft ebenso Hintergrundinformationen über Figuren, die Spielende zwar im Vorhinein entwickelt haben, jedoch möglicherweise nie in den Kommunikationsprozess einbinden. Sowohl Jaakko Stenros (2004, 76) als auch Montola (2012, 90) beobachten ebenfalls, dass bestimmte Elemente Teil einer Narration werden können, die niemals explizit im Kommunikationsprozess hervorgebracht werden. Montola (2012, 91) geht dabei sogar so weit, dass er dem erzählerischen Kommunikationsprozess im Rollenspiel den Status einer „first-person audience“ zuschreibt, und impliziert damit, dass die Kommunikation nicht unbedingt immer an andere Teilnehmende gerichtet ist, sondern teilweise auch an sich selbst. Montola spielt hier insbesondere auf nicht geäußerte Wissens- und Informationsbestände der Figuren an, die nur den Spielenden zugänglich sind, die diese Figuren verkörpern. Dies spricht erneut dafür, mehrere narrative Instanzen anzunehmen, deren Positionen zum Erzählten sich teilweise signifikant unterscheiden können. Rückwirkend heißt dies für die Erzählkommunikation, dass sich einzelne Narrationen nicht nur aus den externalisierten Äußerungen der Teilnehmenden, also dem physikalisch zumindest kurzzeitig präsenten Rollenspieltext, speisen. Demgegenüber kann jedoch nicht angenommen werden, dass die Beteiligten lediglich daran interessiert sind, eigene, höchst subjektive Erzählungen zu konstruieren, sondern weiterhin das gemeinsame Erzählen voranzutreiben.
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4 Erzählerische Kommunikation im Pen-and-Paper-Rollenspiel
4.2.3 Konstruktion und Rezeption von storyworlds Dass diese Differenz der Informations- und Wissensbestände der Erzählinstanzen, auf die Montola verweist, sich auf die Erzählkommunikation und die damit zusammenhängenden Rezeptionsprozesse auswirkt, soll an folgendem Beispiel erläutert werden. In der vorliegenden Spielsituation beschreibt Spieler Taurelias (Ta) seine Figur: Ta:
Ba: Ta:
Ich bin wahrscheinlich der Größte in der Runde, nochmal fünf Zentimeter mehr als du, bin relativ schlank, bin sehr gut gekleidet, richtig schicke Adelskleidung, einen dieser top modernen Hüte. ((lacht)) °Pissnelke. ((lacht)) Ähm ja. In der Brusttasche bewegt sich irgendwie so ein bisschen manchmal was, kann man aber noch nicht so genau sehen was das ist. Mhm ja, ansonsten trage ich keine Maske das scheint (unv.) ((alle lachen))35
Mittels seines ersten Redebeitrags führt Taurelias die von ihm gespielte Figur in die Handlung ein. Mit „man kann aber noch nicht so genau sehen was das ist“ werden die Informationen über diese Figur begrenzt, da die Erzählinstanz lediglich das vermittelt, was die anderen Figuren wahrnehmen können. Es ist darüber hinaus anzunehmen, dass Taurelias bereits weiß, was sich in der Brusttasche seiner geführten Figur befindet, da er aufgrund seiner participant agency auf die Innensicht der Figur zugreifen kann; das „noch“ deutet zudem an, dass diese Information im Laufe der weiteren Handlung offengelegt wird. Dieses Beispiel verdeutlicht die Existenz mehrerer Erzählinstanzen in der erzählerischen Kommunikation, die sich unterschiedlich zum Erzählten positionieren (vgl. Grouling Cover 2010, 32). Es ist dabei augenscheinlich, dass diese Positionierungen teils verschiedene storyworlds hervorbringen können: Taurelias’ Figur mag in einer externalisierten Form der storyworld, an der seine Mitspielenden partizipieren, durch die begrenzte Informationsvergabe eine gänzlich andere Rolle innerhalb des narrativen Aktantengefüges einnehmen, während sie in Taurelias’ storyworld aufgrund der vollständigen Kenntnis der Innensicht als Protagonist der Geschichte erscheint. Dies impliziert, dass die in der erzählerischen Kommunikation durch einen semiotischen Ausdruckskanal codierten narrativen Informationen um wei Dieser Auszug entstammt einer Aufzeichnung von Kim Schwarze, die sie im Rahmen ihrer noch unveröffentlichten Masterarbeit anfertigte. Informationen zum Transkript der Spielsitzung finden sich im Anhang. Vgl. Schwarze, Kim Aileen: Wissen und Wahrnehmung in Pen and PaperRollenspiel-Narrationen. Bielefeld 2019 (unv. Abschlussarbeit).
4.2 Modellierung der Erzählkommunikation
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tere, nicht artikulierte Informationen ergänzt werden können, bei denen es den Beteiligten freisteht, sie zu externalisieren. Theoretisch nähert sich diese Ausprägung mental entwickelter narrativer Informationen an das von Manfred Jahn (2008, 198) beschriebene Konzept der „internal stories“ an, also Narrationen, die mental gebildet werden und als möglicher Ausgangspunkt einer Externalisierung dienen können (vgl. Jahn 2008, 201). Die narrative Internalisierung, die nach Jahn (2008, 198) generell jeglicher Produktion von Narration vorausgeht, wird im Rollenspiel insofern modifiziert, als bewusst selektiert werden kann, welche narrativen Informationen externalisiert und welche eher genutzt werden, um die subjektive Konstruktion einer storyworld anzureichern. Anzumerken ist, dass diese subjektive Konstruktion einer storyworld von Verstehensprozessen abzugrenzen ist, die generell mit der Rezeption von Narration zusammenhängen, beispielsweise dem Füllen rezeptionaler Leerstellen oder dem Ignorieren bestimmter sich widersprechender Elemente. Derartige subjektive narrative Informationen besitzen demgegenüber propositionalen Gehalt, wobei der oder die Spielende, der oder die diese Figur verkörpert, gemäß seiner oder ihrer participant agency als Autor/-in dieser Informationen gilt. Für die Mitspielenden bedeutet dies, dass jene Informationen, die die Aspekte der Innensicht einer Figur betreffen, (zumeist) in ihrer Wahrheitskondition nicht angezweifelt werden können, wenn sie von der oder dem jeweiligen Spielenden zugeordneten Erzählinstanz externalisiert in die Erzählkommunikation eingebracht werden.36 Diese Eigenheit führt dazu, dass im Pen-and-Paper-Rollenspiel mehrere verschiedene storyworlds gleichzeitig erschaffen werden: zum einen höchst subjektive37 – also kognitiv individuelle – Versionen, die aus teilweise nicht externalisierten Informationen, aber ebenso aus exklusiven, textuellen Elementen geschaffen werden, welche nicht zum Rollenspieltext gezählt werden; zum anderen eine vornehmlich gemeinsam konstruierte, auf den externalisierten kommunikativen Handlungen des Rollenspieltextes basierende storyworld. Diese wird vor allem unter der Prämisse intersubjektiver Kommunizierbarkeit (vgl. Thon 2016, 54) konstruiert und dient als Anknüpfungspunkt erstgenannter, subjektiv-lokal repräsentierter storyworlds. Jenes intersubjektiv kommunizierbare Konstrukt, das auf der Darstellung der externalisierten, narrativ-intendierten Informationen beruht, bildet einen kommunikativen
Es kann jedoch in der Kommunikation innerhalb eines primären frames vorkommen, dass in der Reflexion der Erzählung eine Figurenhandlung, die auf einer Innensicht beruht, angezweifelt wird beziehungsweise im Rahmen der erzählerischen Logik als nicht nachvollziehbar erscheint. Der hier und im Folgenden (insbesondere in Kapitel 6) verwendete Begriff der Subjektivität soll gemäß Isers (1994, 20) Auslegung insoweit als kognitiv individuell verstanden werden, als er vornehmlich die Selektionsentscheidungen auf der Sinnebene des Textverstehens bezeichnet. Den Gegensatz bildet der Begriff der Intersubjektivität.
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Rahmen, um dessen Etablierung und Validierung alle Beteiligten, vor allem aber Spielleitende, bemüht sind (vgl. Schmidt 2012, 240). Die Validierung intersubjektiver Verstehensprozesse narrativer Informationen ist insofern bedeutsam, als sie zum reibungslosen Verlauf der (erzählerischen) Kommunikation im Pen-and-Paper-Rollenspiel beiträgt. Eine Kommunikation wird nicht nur dadurch erschwert, dass Beteiligte nicht immer sichergehen können, dass alle narrativ intendierten Aussagen von anderen als ebenso narrativ interpretiert werden können, sondern darüber hinaus durch die Kohärenzbildungsprozesse des rezeptiven Füllens spezifischer Leerstellen (Prinzip der minimalen Abweichung), die mit jeglicher Rezeption von storyworlds verbunden sind (vgl. Kap. 3.1.3). Derartige Prozesse können als Interferenzoperationen angesehen werden, in denen Rezipierende extratextuelles (Welt-)Wissen sowie intratextuelles Wissen mit den durch die narrative Darstellung vermittelten Informationen verbinden. Gerade in solchen Fällen, in denen diese Informationen mehrere Deutungen zulassen oder der Referenzrahmen des hinzuzuziehenden Wissens zu groß ist, können im gemeinsamen Erzählen Leerstellen die Kommunikation stören, sofern die interpretierte Leerstelle als Basis für weitere Erzählbeiträge genutzt wird. Um derartige Auslassungsphänomene genauer zu bestimmen, ist es sinnvoll, einen Blick auf die Typen von Leerstellen zu werfen und sie in Bezug auf ihre Relevanz und Funktion für den erzählerischen Kommunikationsprozess zu bewerten. Während die transmediale Erzähltheorie Leerstellen vor allem im Rahmen der mikrostrukturellen Interferenzbildungsprozesse betrachtet, hebt Iser (1994 [1976], 289) zudem die ästhetische Relevanz von Leerstellen hervor, die entscheidend zur Vorstellungsbildung beitragen: Leerstellen indes bezeichnen weniger eine Bestimmungslücke des intentionalen Gegenstandes bzw. der schematisierten Ansichten als vielmehr die Besetzbarkeit einer bestimmten Systemstelle im Text durch die Vorstellung des Lesers. Statt einer Komplettierungsnotwendigkeit zeigen sie eine Kombinationsnotwendigkeit an. Denn erst wenn die Schemata des Textes aufeinander bezogen werden, beginnt sich der imaginäre Gegenstand zu bilden, und diese vom Leser geforderte Operation besitzt in den Leerstellen ein zentrales Auslösemoment. Durch sie ist die im Text ausgesparte Anschließbarkeit seiner Segmente signalisiert. (Iser 1994 [1976], 284)
Nach Iser unterbrechen Leerstellen im fiktionalen Text die Textkohärenz und fordern Rezipierende heraus, durch eigene imaginative Selektionsentscheidungen diese Kohärenz herzustellen. Diese Selektionsentscheidung ist notwendig, um an die folgenden Textinformationen anschließen zu können. Iser knüpft mit dieser Auslegung des Leerstellenbegriffs an das von Roman Ingarden entwickelte Konzept der Unbestimmtheitsstelle an und differenziert damit zugleich die Auslassungsphänomene innerhalb fiktionaler Texte (vgl. Dablé 2012, 42). Nach Iser fordert die Leerstelle eine Kombination und Selektion zur Herstellung textueller Kohärenz,
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Ingarden geht es hingegen vornehmlich um die imaginative Komplettierung und Konkretisation bestimmter Lücken im fiktionalen Text (vgl. Dotzler 2010 [1999], 222). Während sich die Unbestimmtheitsstelle an den durch den Text vermittelten Informationen orientiert, existiert mit der Nullposition (vgl. Dotzler 2010 [1999], 222) eine dritte Form der Auslassung. Diese beschreibt mögliche imaginative Tätigkeiten, die jedoch nicht explizit an die durch den Text vermittelten Informationen anknüpfen und somit keine Aussage über den Wahrheitsstatus der imaginierten Gegenstände innerhalb der fiktiven Welt enthalten. Im Erzählprozess des Pen-and-Paper-Rollenspiels geraten diese verschiedenen Auslassungsphänomene miteinander ins Spiel, gerade wenn die einzelnen Teilnehmenden unterschiedliche Informationsstände über die storyworld haben oder mit ihren Erzählbeitragen an die imaginierten Bestände ihres mentalen Modells der storyworld anknüpfen. Gleichzeitig kann es auch geschehen, dass relevante narrative Informationen, die weniger explizit produziert werden, von den Beteiligten fehlinterpretiert werden (vgl. Loponen und Montola 2004, 41). Da derartige Widersprüche den weiteren narrativen und ludischen Spielprozess erheblich behindern können, besteht ein Interesse unter den Mitspielenden, eine Äquifinalität im Verstehen einiger narrativer Informationen herzustellen (vgl. Loponen und Montola 2004, 41; Montola 2012, 73). Dies führt dazu, dass die Beteiligten ihre eigenen Vorstellungen immer wieder kommunikativ abgleichen (vgl. Herbrik 2011, 24), wobei die Lesart der oder des Spielleitenden gemäß seiner oder ihrer Ratifizierungsrolle eine höhere Signifikanz aufweist (vgl. Stenros 2004, 76). Dieser Abgleich findet innerhalb des primären frames der Kommunikation statt und wird mittels „Nachfragen, gegenseitige[r] Paraphrasierungen, Differenzierungen und ähnliche[r] kommunikative[r] Strategien“ (Herbrik 2011, 109) vollzogen.
4.2.4 Andere kommunikative frames und ihr Einfluss auf die Narration Wie eingangs betont, wird die Narration innerhalb des fiktionalen frames der Kommunikation im Pen-and-Paper-Rollenspiel entwickelt. Grouling Cover (2010, 94) verweist jedoch darauf, dass auch kommunikative Handlungen, die in anderen frames vollzogen werden, die Ausgestaltung einer Narration beeinflussen können. Gerade die Abgleichstätigkeiten, die durch bestimmte Strategien im primären frame vollzogen werden, sind in diesem Fall relevant, da durch das gezielte Nachfragen oder Aushandeln bestimmter narrativer Informationen gleichzeitig mögliche Leerstellen der storyworld effektiv im fiktionalen frame gefüllt werden. Eine derartige Form der Metakommunikation (vgl. Mäyrä 2017, 273) ist allein aufgrund der Ko-Präsenz der Beteiligten und der Zirkularität des Erzählprozesses gewährleistet, in dem immer die Möglichkeit geboten wird, aus dem fiktionalen frame herauszutreten, um die
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Erzählkommunikation nicht mehr weiterzuführen, sondern stattdessen über den Prozess des Erzählens zu sprechen. Diese Möglichkeit nähert sich dem Konzept der Metalepse an und ist nicht untypisch für die Formen des performativen Erzählens (vgl. Horstmann 2018b, 92; Marlar Lwin 2020, 28). Das Konzept der Metalepse beschreibt nach Genette zwei Phänomene eines narrativen Ebenenübertritts: zum einen eine als narrative Metalepse (vgl. Genette 2010 [1994], 152) beschriebene Variante, bei der ein „Übergang von einer narrativen Ebene zur anderen“ vollzogen wird, zum anderen die Überschreitung der Intraund Extradiegese, die einen Übergang zwischen „der [Ebene], in der man erzählt, und der, von der erzählt wird“ (Genette 2010 [1994], 153), schafft. Die Gemeinsamkeit beider Phänomene liegt vor allem in dem Konzept der Transgression, dem Überschreiten einer ontologischen Grenze, die zwei ursprünglich voneinander getrennte Welten miteinander verbindet (vgl. Kukkonen 2011, 4). Metalepsen spielen demnach einerseits mit dem Effekt, dass sich die fiktive Welt, die im Akt des Erzählens geschaffen wird, verselbständigt; andererseits explizieren sie gerade im Fall der Überschreitung von der Intra- in die Extradiegese, dass die im Akt der fiktionalen Kommunikation geschaffene Welt ein Produkt einer Autorinstanz ist, also im Sinne eines Außens in Abhängigkeit zur realen Realität steht (vgl. Kukkonen 2011, 6). Neben der Art der Grenzüberschreitung lassen sich Metalepsen zudem nach ihrer Transgressionsrichtung differenzieren, sie können sowohl beim Übergang von einer hierarchieniedrigeren Ebene auf eine hierarchiehöhere Ebene auftreten (zum Beispiel, wenn sich Figuren an die Lesenden wenden) als auch umgekehrt (wenn eine Autorinstanz mit den Figuren kommuniziert). Während Genette (2010 [1994], 153) es lediglich andeutet, indem er auch der (Theater-)Aufführung eine metaleptische Qualität zuweist, explizieren neure Auseinandersetzungen mit der Metalepse, dass diese ein transmediales Phänomen darstellt, das je nach medialen Affordanzen verschiedene semiotische Qualitäten hat (vgl. Klimek 2009, 170; Wolf 2013, 116). Mit dem Verweis auf das Theater beschreibt Sonja Klimek (2009, 172) metaleptische Situationen, die eintreten, wenn Schauspielende aus der Rolle ihrer Figur treten und out of character sprechen: Auch diese Praktik entwickle eine „paradoxical transgression between the level of representation (the performance) and of what is represented (the play)“, wobei gerade die performative Erzählung durchaus leichter metaleptische Zustände schaffen könne, da es gerade bei der absteigenden Transgression von Intra- und Extradiegese nicht erforderlich ist, ein eigenes fiktives Ebenbild zu erschaffen (vgl. Klimek 2009, 173). Dies liegt vor allem in der in Kapitel 4.2.2 beschriebenen Trialogizität der Kommunikationsentitäten (vgl. Horstmann 2018b, 92) begründet, da im performativen Erzählen die Körper der realen Schauspielenden und der fiktiven Figuren in eine Einheit treten (vgl. Klimek 2009, 173). Aufgrund dieser Trialogizität sowie auf die in Kapitel 4.1 angespielte Möglichkeit des keyings innerhalb verschiedener frames ist eine derartige
4.2 Modellierung der Erzählkommunikation
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Grenzüberschreitung auch im Pen-and-Paper-Rollenspiel relativ einfach zu erreichen. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass es in vielen Situationen erforderlich ist, bewusst zu markieren, in welchem frame der Kommunikation die Handlung erfolgt (vgl. Herbrik 2011, 24). Das vorliegende Beispiel verdeutlicht eine derartige Situation, in der einzelne Teilnehmende unsicher sind, in welchem kommunikativen frame nun kommuniziert wird: S5: Pathfinder 2 S5.1: Einstieg Ve: SL: Ve: SL: Ve: SL: Ve: SL:
Wo ist mein Vogel eigentlich ist der bei mir? Nein nein du siehst ihn nicht. WO IST MEIN VOGEL ((deutet mittels Beat-Geste auf SL)) Fragst du das äh (.) IT oder? Ja klar. Okay. Wo ist mein Vogel. "Vielleicht haben wir den schon gegessen hahaha." 00:22:59‒00:23:09
Während der Spielleiter durch eine Stimmmodulation markiert, dass er im fiktionalen frame kommuniziert, („Vielleicht haben wir den schon gegessen hahaha.“), ist ihm das keying von Veronika (Ve) innerhalb ihrer zweiten Sprachhandlung nicht sofort klar. Er stellt die Frage, in welchem frame nun kommuniziert werde, indem er den in der Rollenspiel-Fankultur etablierten Terminus „IT“ (In-Time)38 nutzt, um sicherzugehen, dass der Satz durch die von Veronika verkörperte Figur getätigt wurde. Nachdem sie dies bestätigt, wiederholt Veronika die Aussage. Dieses Beispiel illustriert, dass die Kennzeichnung, in welchem frame nun kommuniziert wird, durch explizites Nachfragen, aber ebenso implizit durch eine klare sprachliche Markierung geschehen kann. Grouling Cover (2010, 98) klassifiziert weiterhin die Formen der narrativen Planung als Einflussfaktor innerhalb des primären frames auf die Narration. Mittels derartiger Planungssequenzen werden Möglichkeiten diskutiert, die das Figurenhandeln innerhalb der storyworld betreffen. Spielleitenden kommt hier die
„OT – Kurzform für Out-time oder auch Offtopic in Foren – bezeichnet alles, was außerhalb des Spielgeschehens liegt. IT – Kurzform für In-time (nein, nicht Intopic) – bezeichnet im Gegenzug alles innerhalb des Spielgeschehens.“ (Canius 2013).
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Aufgabe zu, Fragen der Spielenden über die Gegebenheiten zu beantworten und/ oder Handlungsvorschläge zu validieren. Im folgenden Beispiel möchte die von Spielerin Paulina (Pa) geführte Figur einen Taschendiebstahl auf einem Fest begehen, besitzt jedoch nicht die nötigen Talente, um diesen erfolgreich auszuführen. Spielerin Romina (Ro) hat daher eine Idee: S4: Pathfinder 1 S4.1: Gemeinsame Planung Ro: Pa: Ro: SL: Ro: Pa: Ro: SL:
Wenn du das nicht ausführen darfst vielleicht könnten wir das (.) zusammen ausführen. Wenn ich ihr helfe? Ich habe Oh ja. [Ich habe] nämlich Fingerfertigkeit? [Wenn](.) wenn du es hast du könntest das gerne versuchen. Ähm: s-((hustet)) [(unv.) Zwingend schnell,] [Dann zieht sie mir das] äh: immer aus den Taschen und (.) [gibt mir das] (.) heimlich. ((Ziehbewegung)) [Genau.] Ja (.) also ihr geht jetzt davon aus dass ihr irgendwie random zusammen rumlauft, ((Ro und Pa lachen)) 00:18:21–00:18:44
Durch den Gebrauch des Konjunktivs leitet Romina ein Möglichkeitsszenario ein, in dem sie Paulina beim Diebstahl unterstützt. Dass diese Sprachhandlung nicht im fiktionalen frame stattfindet, wird dadurch angedeutet, dass der Spielleiter (SL) direkt angesprochen und außerdem auf spielrelevante Eigenschaften der Figur verwiesen wird („ich hab nämlich Fingerfertigkeit“). Der Spielleiter ratifiziert diesen Vorschlag ebenfalls im Konjunktiv, entgegnet jedoch auf das vorgeschlagene weitere Vorgehen von Paulina mit einem Einwand („Also ihr geht jetzt davon aus dass ihr irgendwie random zusammen rumlauft“), den er mit Bezug auf die sich in der fiktiven Welt konstruierten räumlichen Verhältnisse (die Figur von Paulina und die Figur von Romina befinden sich nicht am selben Ort) ablehnt. Eine derartige Verwendung fiktionaler Sprache im Konjunktiv schafft genauso wie die Kommunikation im fiktionalen frame eine mögliche Welt, in der optionale Handlungen und Pläne gemeinsam diskutiert werden. Die Verortung dieser Welt ist jedoch nicht deckungsgleich mit der storyworld, die im fiktionalen frame konstruiert wird, sondern lokalisiert sich im primären frame in Gestalt einer hypothetisch-fiktiven Sprechsituation. Nach Felicitas Meifert-Menhardt (2013, 25) sind derartige Planungssituationen typisch für ergodisch-interaktive Narrationen, da diese zum aktiven Handeln
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auffordern und so Möglichkeitsräume kreieren, die von den Rezipierenden durch die imaginäre Simulation möglicher Entscheidungen erkundet werden können. Auch der ludische frame der Kommunikation beeinflusst die narrative Darstellung, wie es bereits in Kapitel 3.2 angedeutet wurde, gerade wenn die Elemente des Spielsystems in die Realisierungsebene des Settings überführt werden. Grouling Cover (2010, 94) sieht einen solchen Einfluss insbesondere in der Verwendung von Würfeln oder anderen Zufallsgeneratoren, die zumeist genutzt werden, um verschiedene Resolutionsmechaniken anzuwenden. Eine derartige Implikation von Würfelwürfen, die durch die Spielregeln festgelegt und zumeist von Spielleitenden initiiert werden (vgl. Pappe 2011, 40), stellen einen Kontrollverlust der Beteiligten über die storyworld dar (vgl. Bergström 2010, 11–12). Auf einen Zufallswurf folgt eine interpretative Überführung des Ergebnisses in die Narration, was durch folgendes Beispiel belegt werden kann. S1: Shadowrun 1 S1.2: Schlossknacken Da: Be: Da: Be: Da: Be: SL: Da: Be: SL: Ch: Be: Da: Be: SL:
Da: Be:
((Nimmt Würfel in beide Hände und schüttelt sie)) Ich bin zuversichtlich (3.0) ((würfelt)) .hh eine Hand voll Würfel. Fünf? (.) hier sind ganz [viele Vieren eine Drei] ((Da, Ch und Be ordnen die Würfel auf dem Tisch)) [Vier drei fünf] fünf, Eine Eins. Zwei drei Einsen, Drei Einsen. Drei Einsen? Oder ne zwei Einsen. Zwei. Zwei Einsen. Hier sind ganz viele [Vieren und Zweien und Dreien sind sie] [Und Dreien und das sind die ganzen Fünfen.] Das sind quasi (.) Also zwei Misserfolg [und vier Erfolg.] [Vier Erfolg.] Ja okay. Also du: äh: kriegest das Schloss auf, (.) aber du musst so ein bisschen: (.) rütteln um den Schl-den Dietrich wieder rauszukriegen so. Ähm: ((Reicht Be die geschlossene Hand)) Hm sorry. Ja ja alles gut kein Ding. 00:49:21–00:50:00
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Nachdem das Ergebnis innerhalb der Kommunikation im ludischen frame berechnet und resümiert wurde, beginnt der Spielleiter mit der Überführung des Ergebnisses, indem er eine Erzählrede implementiert. Dass das Ergebnis nicht unbedingt das bestmögliche war, wird dadurch ausgedrückt, dass die von Spieler David (Da) geführte Figur gewisse Probleme hat, einen von Benjamins (Be) Figur ausgeliehenen Dietrich aus einem Schloss, das er knacken will, zu entfernen. Den vom Spielleiter initiierten Übergang in den fiktionalen frame greift David auf, indem er mittels einer Figurenrede und unterstützter metaphorischer Geste den Dietrich an die andere Figur zurückgibt. Diese Transferhandlung wird durch das etablierte Setting des Rollenspiels begünstigt (vgl. Kap. 3.2.2): Allein dass im Beispiel ein Figurentalent existiert, das das Schlösserknacken simuliert, kann einen Anreiz darstellen, das Ergebnis des abgehandelten Spielzugs in die narrative Kommunikation zu übertragen.
4.2.5 Zusammenfassung Die hier benannten Eigenschaften der erzählerischen Kommunikation im Penand-Paper-Rollenspiel, die auf den in Kapitel 4.1 geschilderten Beobachtungen zur allgemeinen Kommunikation beruhen, kulminieren in folgendem Modell (Abb. 4), das gleichzeitig Kapitel 4.2 zusammenfasst. Die Beteiligten der Rollenspielsitzung (repräsentiert durch die Figuren an den vier Seiten der Grafik) treten in einen zirkulären Kommunikationsprozess, angezeigt durch die im Kreis angeordneten Pfeile. Zirkularität bedeutet eine stetig wechselnde Zuweisung von Sprechrollen und insofern die Produktion kleinerer kommunikativer (teils narrativ-intendierter) Sequenzen. Während von einer oder einem Beteiligten diese Produzierendenrolle ausgefüllt wird, treten die anderen Beteiligten in die Rolle von Rezipierenden, bis der oder die Produzierende ihren oder seinen turn beendet, um dann mit eigenen Kommunikationsbeiträgen die Produzierendenrolle zu beanspruchen. Aus allen so entstandenen kommunikativen Handlungen ergibt sich der Rollenspieltext T, der nur die allen Spielenden zugänglichen Informationen enthält. Alle weiteren Informationen, beispielsweise bewusst im Geheimen abgehaltene private Kommunikationen einzelner Beteiligter, sowie Informationen, die nicht externalisiert werden, sind nicht Teil dieses Textes, haben jedoch das Potenzial, in die gemeinsam entwickelte storyworld integriert zu werden. Der Text T wird primär durch mündliche Kommunikationshandlungen konstruiert, wobei Mündlichkeit ein multimodales framework beschreibt, das sich neben verbalsprachlichen Elementen ebenfalls aus stimmlichen, mimischen und gestischen Verfahren speist. Weiterhin können diese in die narrative Kommunikation eingebrachten Verfahren durch Ausdruckselemente anderer Zeichensysteme ergänzt werden,
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T
Abb. 4: Modell der Erzählkommunikation im Pen-and-Paper-Rollenspiel.
die für sich stehend kein oder wenig narratives Potenzial besitzen. Die Annahme nicht-mündlicher narrativer Instanzen innerhalb der Erzählkommunikation ist je nach Gruppenpräferenz denkbar, jedoch nicht obligatorisch. Sowohl die Figurenrede als auch die narrative Instanz werden gemäß der Doppelstruktur fiktionaler Kommunikation stimmlich realisiert. Dadurch werden innerhalb der erzählerischen Kommunikation verschiedene Kommunikationsebenen gleichzeitig geschaffen, was als Dialogizität beziehungsweise Trialogizität beschrieben werden kann: In der narrativen Kommunikation sprechen die Beteiligten mit ihrer eigenen Stimme, mit der Stimme einer extradiegetischen Erzählinstanz sowie zum Teil mit der Stimme einer Figur. Dieses Potenzial wird in der Grafik dadurch visualisiert, dass auf jeder Seite drei Figuren abgebildet sind. Aufgrund dieser Eigenschaft wird in der erzählerischen Kommunikation im Pen-and-Paper-Rollenspiel von mehreren narrativen Instanzen ausgegangen, wobei jede oder jeder am Erzählprozess Teilnehmende die Kontrolle über eine dieser Instanzen besitzt. Die bereits erwähnten, nicht öffentlich hervorgebrachten, teils internalen narrativen Informationen sprechen auch dafür, dass mehrere Erzählinstanzen existieren. Diese schaffen die Möglichkeit zur Konstruktion höchst individueller, lokaler storyworlds, die auf Grundlage der im Rollenspieltext integrierten narrativen Elemente, angereichert
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durch internale Informationen, gebildet werden (grau hinterlegte Kreise). Gemeinsame Basis der kommunikativen Interaktion unter den Spielenden bildet die nah am externalisierten Text konstruierte storyworld (Kreis um T), die unter der Prämisse einer intersubjektiven Kommunizierbarkeit entwickelt wird. Das Interesse am gemeinsamen Erzählen wird durch verschiedene metaleptische Prozesse ausgedrückt, in denen Vorstellungsinhalte mittels einer Metakommunikation abgeglichen und präzisiert werden. Aufgrund der Existenz mehrerer storyworlds kann man von bestimmten Hierarchisierungshandlungen der Beteiligten im Rezeptionsprozess ausgehen, die vornehmlich die Aushandlung privater und geteilter Wissensbestände betreffen.39
In Kapitel 6 sollen diese Aushandlungsprozesse erneut aufgegriffen werden, um sie aus rezeptions- und kognitionstheoretischer Perspektive genauer zu analysieren.
5 Strategien und Parameter des Erzählens im Pen-and-Paper-Rollenspiel Die theoretischen Überlegungen zu den prozessualen Elementen, die das Erzählen im Pen-and-Paper-Rollenspiel rahmen und strukturieren, sollen nun durch die Analyse konkreter Erzählstrategien und -parameter präzisiert werden. Die Annahme, dass der erzählerische Kommunikationsprozess von inszenatorischen Elementen geprägt ist, bedingt die Auswahl des Analysekorpus, da sowohl die Materialien als auch die Handlungen, die in der Vorbereitung der Spielsitzung zum Einsatz kommen, Einfluss auf die Entwicklung der Erzählung im Spielprozess selbst nehmen.1 Der Kategorisierung Hammers (2007, 70) folgend, die Autorschaft im Pen-and-PaperRollenspiel als dreigliedriges Konstrukt beschreibt, wird hier Analysematerial herangezogen, das mit diesen drei Ebenen korrespondiert. Für die Ebene der primären Autorschaft bedeutet dies, Regelwerke verschiedener Pen-and-Paper-Rollenspiele einzubeziehen, die den individuellen Spielprozess rahmen (vgl. Jara 2014, 52). Der Fokus der Analyse liegt hier auf der Anlage des Settings, des Szenarios sowie des Spielsystems und dem Einfluss dieser Realisierungsbereiche auf die Konstruktion narrativer Rezeptionsangebote. Anknüpfend an die Beobachtungen Karl Bergströms (2010, 11) und David Schmidts (2012, 265) wird der Frage nachgegangen, inwieweit diese reglementierenden Elemente die Form und den Inhalt der im Spielprozess entwickelten storyworlds beeinflussen, also wie die in den Regelwerken angelegten narrativen Angebote produktiv realisiert werden. Auf der Ebene der sekundären Autorschaft wird die Inszenierungstätigkeit der jeweiligen Spielgruppe in den Blick genommen, darunter beispielsweise die Figurenentwicklung sowie die Planung narrativer Ereignisse. Da eine derartige Vorbereitung auf die Rollenspielsitzung je nach Spielgruppe gänzlich unterschiedlich verlaufen kann und es möglich ist, dass sie lediglich mental vollzogen wird, ergibt sich ein Problem bei der Auswahl geeigneter Materialien auf dieser Ebene. Um eine Analyse dennoch anhand materiell präsenter Artefakte durchführen zu können, wurde sich entschieden, Szenariobände hinzuzuziehen. Diese modular aufgebauten, schriftlich fixierten Texte stellen vorgefertigte narrative Strukturen (Figuren, Schauplätze, Plots) bereit, auf die Spielleitende zugreifen können, um die eigene Vorbereitung auf die Spielsitzung zu erleichtern (vgl. Bowman 2010, 25). Neben diesen Strukturen enthalten sie zudem Hinweise auf mögliche Handlungsalternativen sowie die situations Auf die Relevanz der inszenierenden Elemente für die im Spielprozess entstehende Narration verweist auch Baßler (2010, 555): „Erhebliche Teile der Diegese stehen bereits vor Spielbeginn weitgehend fest, darunter die fiktive Welt mit ihren Eigenschaften, die fiktiven Helden mit ihren Eigenschaften sowie das Grundgerüst der Abenteuer-Narration.“ https://doi.org/10.1515/9783110788983-005
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gerechte Anwendung der Spielregeln. Derartige Szenariobände orientieren sich mitunter stark an den Setzungen der Rollenspielregelwerke und werden bei der Vorbereitung auf die Spielsitzung von Spielleitenden nach individuellen Interessen und Schwerpunktsetzungen angepasst (vgl. Pappe 2011, 35). Aus diesem Grund lassen sie sich eher im Grenzbereich primärer und sekundärer Autorschaft begreifen. Ein gänzlicher Verzicht auf solche inszenatorischen Materialien scheint jedoch nicht sinnvoll, da diese die Gestaltung des Erzählinhalts der jeweiligen Rollenspielsitzungen zentral beeinflussen. Dieser Bezug soll vor allem in Kapitel 5.2.1 näher beleuchtet werden, in dem die Szenariopublikation Escape from Farpoint (Ketchen 2019) analysiert wird, die gleichzeitig als Vorlage für eine aufgezeichnete Spielsitzung (S6) diente. Zudem sollen mit Die Zuflucht (Don-Schauen 2008b) und „Das Geheimnis des Schwarzwaldhofs“ (Heller 2012) zwei Szenariopublikationen der „in Deutschland am weitesten verbreiteten Spielsysteme“ (Schmidt 2012, 26) Das Schwarze Auge (EA: Kiesow und Kramer 1984) und Call of Cthulhu (EA: Petersen 1981) in den Analysekorpus integriert werden, die aufgrund ihrer Einsteigerfreundlichkeit derartige Inszenierungsprozesse besonders eindrücklich markieren. Es wird jedoch an dieser Stelle auch darauf verwiesen, dass zahlreiche andere Publikationsformen von Szenariomodulen und anderen Rollenspielmaterialen existieren. Aufgrund der Handhabbarkeit wurde das Korpus jedoch auf diejenigen Materialien beschränkt, von denen der größte Erkenntnisgewinn zu erwarten ist.2 Sieben aufgezeichnete Spielsitzungen (vgl. Kap. 1.5) bilden das Material für die Analyse der Ebene der tertitären Autorschaft, die den Konstruktionsprozess der Narration in einer Spielsitzung betrifft. Die Spielsitzungen wurden von verschiedenen Spielgruppen durchgeführt, die unterschiedliche Regelwerke nutzten.3 Diese bewegen sich im Rahmen kommerziell erfolgreicher Pen-and-Paper-Rollenspiele, wie beispielsweise Dungeons & Dragons (EA: Gygax und Arneson 1974), Pathfinder (EA: Bulmahn 2009) oder Shadowrun (EA: Babcock, III. et al. 1989), aber auch kleine-
Einen deutlich umfassenderen Blick auf die Materialien einer Rollenspielsitzung nimmt Bienia (2016, 14) ein, der Materialität neben Spiel und Erzählung als dritte entscheidende Größe im Rollenspiel sieht. Im Rahmen der Akteur-Netzwerk-Analyse sieht er nicht nur publizierte Regel- und Szenariobücher als zentrale Akteure, die die materiellen Praktiken der Pen-and-Paper-Rollenspielsitzung rahmen, sondern auch Charakterbögen, Spielleiterschirme und Battlemaps sowie abstraktere Entitäten wie Licht, Tische oder Stifte (vgl. Bienia 2016, 135–152). Eine tabellarische Aufstellung der Transkriptionssymbole findet sich in Kapitel 11. Alle ausgewählten Sequenzen, die in diesem Buch analysiert werden, können in einem gebündelten Anhang unter folgendem Link abgerufen werden: https://www.degruyter.com/document/isbn/9783110788983/html.
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rer Publikationen, wie Fiasco (Morningstar und Segedy 2016 [2009])4 oder How to be a Hero (How to be a Hero e.V. 2017). In Bezug auf die narrative Struktur oraler Erzählereignisse verweist Marlar Lwin (2020, 24) auf die Relevanz, sowohl die histoire- als auch die discours-Ebene zu berücksichtigen: Während die auf der Inhaltsebene dargestellten Elemente einer Erzählung als Potenzial angesehen werden, Narrativität zu etablieren, wird Narrativität selbst erst durch den multimodalen erzählerischen Vermittlungsprozess initiiert (vgl. Marlar Lwin 2020, 24). Aus diesem Grund sieht Fludernik (2002 [1996], 252) diese zwei Ebenen als kognitive frames eines „story schema (ACTION, fictional world)“ und eines „discourse schema (TELLING)“. Dem entsprechend soll auch in der Analyse der Erzählstrategien im Pen-and-Paper-Rollenspiel unterschieden werden: Während gerade die Texte primärer und sekundärer Autorschaft das Potenzial zur Anlage von Narrativität haben, wird dieses Potenzial in der Spielsitzung durch die konkrete Vermittlung realisiert. Ausgehend von der Annahme, dass nicht nur die Elemente des Erzählinhalts, sondern auch einige Kategorien erzählerischer Vermittlung transmedial realisiert werden können,5 folgt die Analyse den von Silke Lahn und Jan Christoph Meister (2016 [2008]) entwickelten Parametern des Erzählens. Diese unterteilen sich zum einen in die Strategien erzählerischer Vermittlung, zum anderen in die Parameter des Erzählinhalts.
5.1 Strategien des Erzähldiskurses Die Strategien des erzählerischen Diskurses umfassen die Erzählperspektive, die Wissensvermittlung und Informationsvergabe, die Präsentation von Rede und mentalen Prozessen sowie die Zeitgestaltung. Das folgende Unterkapitel 5.1.1 zur Erzählposition präzisiert die in Kapitel 4 formulierten Beobachtungen zur narrativen Instanz sowie zur narrativen Ebenenstruktur.
Wenngleich das Spiel Fiasco sowohl in der Forschung als auch in der Fankultur als Ausprägung einer neuen Untergattung der Rollenspiele – den „story games“ (vgl. Appelcline 2014a, 408) – angesehen wird, da es stark auf die Entwicklung einer geschlossenen narrativen Handlung ausgerichtet ist, erfüllt es dennoch die formalen Kriterien eines Pen-and-Paper-Rollenspiels: Es wird innerhalb einer Gruppe mittels face-to-face-Kommunikation vollzogen, es besitzt ein (rudimentäres) Regelsystem, und die Spielenden verkörpern Figuren, die in einer fiktiven Welt verortet sind. Anhand der Spielleitendenposition erkennt man jedoch, dass Fiasco – wie viele Independent-Spiele – zentrale Elemente der Pen-and-Paper-Rollenspiele subversiert, indem die Spielleitenden von Szene zu Szene zu einem/r neuen Spieler/-in oder einer Gruppe von Spielenden wechselt. Hierauf verweisen beispielsweise die Studien Thons (2014b), die die Darstellung von Subjektivität in verschiedenen Medien behandelt, sowie Dablés (2012), die narrative Leerstellenphänomene betrachtet.
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Zwei Parameter, die Lahn und Meister (2016 [2008], 112–203) in ihrer Untergliederung aufgreifen, sollen an dieser Stelle nicht thematisiert werden.6 Das „Erzählen über das Erzählen“ (Lahn und Meister 2016 [2008], 174–188) wurde bereits im Rahmen des Modells rollenspielerischer Erzählkommunikation behandelt. Aufgrund der Reduzierung einer impliziten Autorinstanz sowie des Vorhandenseins verschiedener kommunikativer frames ist die Metakommunikation ein fakultatives Element der Kommunikation im Pen-and-Paper-Rollenspiel. Dies bedeutet gleichzeitig, dass das Erzählen über das Erzählen generell möglich ist und keiner spezifischen Strategie der Vermittlung bedarf. Gerade weil das Erzählen im Rollenspiel zentral über die mündliche Kommunikation vollzogen wird, nähert sich die Kategorie des Erzählstils (vgl. Lahn und Meister 2016 [2008], 194–203) stark an die Bereiche der linguistischen Stilistik an, deren Berücksichtigung den Rahmen dieser Studie sprengen würde und deshalb außer Acht gelassen werden. Spezielle Phänomene, die einen Bezug zum literarischen Erzählen herstellen, sollen in Kapitel 6 dezidiert erörtert werden.
5.1.1 Erzählposition In Kapitel 4 wurde dafür plädiert, die Erzählinstanz, die die Genette’sche Erzähltheorie unter dem Begriff der ‚Stimme‘ als Teilbereich der Vermittlungsebene narrativer Texte behandelt, in die Modellbildung eines narrativen Kommunikationsmodells einfließen zu lassen, da ihr Vorhandensein eine fakultative Voraussetzung für die erzählerische Kommunikation darstellt. Innerhalb der Modellbildung wurde zunächst nur die Existenz dieser Instanz sowie die Grenze zwischen extra- und intradiegetischer Ebene nachgewiesen, auf die qualitativen Potenziale der Erzählinstanz wurde bisher nur begrenzt eingegangen. Im vorliegenden Kapitel werden daher die Begrifflichkeiten präzisiert und Gestaltungsmöglichkeiten einer erzählerischen Positionierung anhand exemplarischer Beispiele nachvollzogen. Thon (2016, 157) differenziert in diesem Kontext zwischen einer absoluten ontologischen Position der Erzählinstanz innerhalb der Hierarchie der erzählerischen Kommunikation sowie einer relativ ontologischen Position einer narrativen Instanz in Bezug auf das erzählte Geschehen. Beide Positionen werden im Folgenden thematisiert.
Anknüpfend an die gegenwärtigen Diskurse in der Rollenspielforschung (vgl. Herbrik 2011, 74) soll die Kategorie der erzählerischen Unzuverlässigkeit (vgl. Lahn und Meister 2016 [2008], 189–194) in das Kapitel zur Wissensvermittlung und Informationsvergabe integriert werden.
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5.1.1.1 Narrative Ebenenverhältnisse Anhand der Analyse einer Sequenz aus einer Rollenspielsitzung wurde in Kapitel 4.2.2 gezeigt, dass durch die narrative Trialogizität eine Gleichzeitigkeit der Stimmen vorliegt, die neben der Stimme des oder der realen Sprecher/-in ebenso die Stimme der Erzählinstanz (Extradiegese) sowie die Stimmen möglicher Figuren (Intradiegese) umfasst. Das Erzählen im Pen-and-Paper-Rollenspiel folgt den allgemeinen Grundsätzen der erzählerischen Kommunikation, sodass „jedes Ereignis, von dem in einer Erzählung erzählt wird, […] auf der nächst höheren diegetischen Ebene [liegt] zu der, auf der der hervorbringende narrative Akt dieser Erzählung angesiedelt ist“ (Genette 2010 [1994], 148). Dies bezieht sich auch auf mögliche hypodiegetische storyworlds (vgl. Thon 2016, 50), also Erzählungen innerhalb einer Erzählung: Auch sie werden von der nächsthöheren Ebene erzählt, im Fall einer storyworld zweiten Grades folglich von einer intradiegetischen Ebene. Aufgrund der terminologischen Unklarheiten, die der von Genette gewählte Begriff der Metadiegese mit sich bringt (,Meta‘ meint hier nicht das Erzählen über das Erzählen, sondern eine Binnengeschichte zweiten Grades; vgl. Schmid 2014 [2005], 80), soll mit Bezug auf aktuelle narratologische Arbeiten (vgl. Horstmann 2018b; Thon 2016) der Begriff der Hypodiegese den der Metadiegese ersetzen. Diese Modifikation erscheint gemäß der Kritik Bals und Rimmon-Kenans (vgl. Genette 2010 [1994], 229) insofern sinnvoll, als der Begriff der Metadiegese das Gegenteil dessen aussagt, was er eigentlich beschreiben will: Während die Vorsilbe ,meta‘ etwas Übergeordnetes beschreibt, sind Binnennarrationen vielmehr als eine innerhalb der primären storyworld verankerten Subwelt (vgl. Thon 2016, 50) aufzufassen. Dass dieses Ebenenverhältnis auch im Pen-and-Paper-Rollenspiel möglich ist, wird an folgendem Beispiel illustriert, in dem die Figuren der Spielgruppe eine künstlerische Darbietung inszenieren. S7: Dungeons and Dragons 2 S7.2: Aufführung Zu: SL: Zu: SL: Bi: Zu: Yo: Bi:
"Es begab sich zu einer Zeit (.) in (.) ferner ferner Vergangenheit (.) als dass ((Hebt die Hand)) Wird das ein Versdrama oder war der Reim zufällig. Ich kann es auch in: (.) Prosa für Euch vortragen. "Ne. ((Zeigt kurz in Richtung Zu))Dann nehme ich lieber Verse." ((Lacht)) Viel Spaß. ((Legt den Kopf auf den Tisch)) ((Lachend)) Ist das crank. Jetzt hat die geile Rede angefangen und ist schon fast wieder zu Ende.
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SL: Zu: SL: Zu:
Zu:
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"Es begab sich vor einer Zeit," ((bewegt die Hand in Kreisbewegungen)) "In fernster Vergangenheit. Mhm, „Als (.) ein Vater und ein Sohn. (.) Regierten (.) auf dem Elfenthron, (.)“ ((Be und Yo lachen))(4.0) "Doch beide waren unterschiedliches Geist (.) der eine oft-äh in den Walde reist (.) auf große Jagd er ging der andere nur (.) in der Bibliothek hing." 03:47:15–03:47:47
Der Spieler Zuma (Zu) markiert durch seine verstellte Stimme eine Figurenrede, mit der formelhaft in eine Erzählung übergeleitet wird („“Es begab sich zu einer Zeit”“). Der Spielleiter (SL) verkörpert indes die Figur eines Königs, dem diese Erzählung dargeboten wird. Durch das Nachfragen dieser Figur („Wird das ein Versdrama oder war der Reim zufällig.“) changiert die nachfolgende Erzählung (mit eingeschobenen Metakommentaren der Mitspielenden) zwischen einem Dialog innerhalb der primären storyworld (extradiegetisch vermittelt) sowie der hypodiegetischen storyworld, die durch die intradiegetische Erzählung der von Zuma verkörperten Figur geschaffen wird. Am Ende des Beispiels setzt Zumas Figur erneut mit der Geschichte an, und am letzten Redebeitrag erkennt man, dass die von ihm verkörperte Figur dem Wunsch des Königs gefolgt ist und die Geschichte nun in Versen weiterführt. Es zeigt sich hierbei, dass hypodiegetische storyworlds speziell dann konstruiert werden können, wenn eine Figur mittels direkter Rede Formen des Erzählens realisiert. Dass Figuren in Rollenspielnarrationen durch das eigene Erzählen eine hypodiegetische storyworld hervorbringen, erscheint auf den ersten Blick untypisch, da einzelne figurale Erzählinstanzen den hypodiegetischen Erzählvorgang übernehmen und somit wenig Raum für das gemeinsame Erzählen bleibt. Das Spektrum von Hypodiegesen umfasst jedoch ebenso die Repräsentation interner Welten („representation of internal worlds“; Thon 2014b, 76), also storyworlds, die durch dargestellte Halluzinationen, Erinnerungen, Phantasien oder Träume entwickelt werden. Die Konstruktion derartiger storyworlds wird je nach Rollenspielregelwerk durch offizielle Publikationen unterstützt: So integriert das auf dem StorytellingSystem (White Wolf-Verlag) basierende Spiel Changeling: The Lost (Skemp 2007) die Kunst der Oneiromachie, das Einwirken auf Träume. Das Regelwerk hält dabei einige Fähigkeiten und Regeln für das Agieren in Träumen bereit (vgl. Skemp 2007, 198–201), auf die die Spieler/-innencharaktere, die in Changeling: The Lost die Rolle von Wechselbälgern feeischen Ursprungs übernehmen, zurückgreifen können. Interessant an diesem Beispiel ist, dass durch das Betreten der Traumwelt die hypo-
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diegetische storyworld manchmal ihren internalen Status verliert, da nicht nur die Figur, die träumt, die erlebende Instanz ist, sondern alle Figuren, die in den Traum eingedrungen sind. 5.1.1.2 Beteiligung der Erzählinstanz am Erzählten Ein weiteres qualitatives Merkmal der Verortung einer Erzählinstanz betrifft ihre Stellung zum Erzählten, also die Frage, in welchem Maße diese Instanz am Geschehen beteiligt ist (vgl. Martínez und Scheffel 2016 [1993], 85‒89). Diese Kategorie fällt im Pen-and-Paper-Rollenspiel häufig mit der Bestimmung des Subjektes oder des beziehungsweise der Adressat/-in des Erzählens zusammen (vgl. Martínez und Scheffel 2008 , 89), was anhand des folgenden Beispiels illustriert wird: S5: Pathfinder 2 S5.1: Einstieg SL:
[Und] (.) euer Kopf pocht, und (.) ihr habt einen ((schmatzt)) (1.0) manche von euch haben einen seltsamen Geschmack im Mund, (.) und das erste was ihr dann wahrnehmt, (.) ist knatschendes Holz um euch herum, und (.) ihr merkt dass ihr euch leicht bewegt hoch und runter, (2.0) ihr alle seid (.) schon öfters auf Schiffen gewesen und merkt okay wir sind (.) ich bin auf einem Schiff. (1.0) Aber das Letzte an was ich mich erinnern kann ist dass ich nicht auf einem Schiff war. (1.0) Ihr (.) macht ein bisschen so die Augen auf, und (.) seht nichts als Schwärze (.) vor euch. Ihr müsst irgendwo (.) in einem Schiff drin sein. (2.0) Und ihr merkt alle,(.) ihr seid nicht allein. (1.0) Ihr hört noch andere vielleicht ein bisschen "aargh" ((fasst sich an den Kopf)) bisschen (.) stöhnen und (.) schwer atmen. Was tut ihr. (4.0) 00:10:13–00:11:09
An der vom Spielleiter (SL) produzierten narratorialen Rede fällt die gehäufte Verwendung der zweiten Person Plural auf, lediglich an einer Stelle, an der auf die Innensicht der Figuren verwiesen wird („und merkt okay wir sind (.) ich bin auf einem Schiff. (1.0) Aber das Letzte an was ich mich erinnern kann ist dass ich nicht auf einem Schiff war.“), wechselt das Pronomen in die erste Person. Dass Erzählinstanzen innerhalb einer vermittelten Narration die grammatische Person wechseln, ist nicht untypisch (vgl. Richardson 1994, 313) und erinnert auf den ersten Blick an das dialogische Erzählen in der face-to-face-Kommunikation. Der signifikante Unterschied besteht jedoch darin, dass die Position, aus der erzählt
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wird, von der Position, aus der wahrgenommen wird, abweicht. Eine derartige Form der stellvertretenden Darstellung einer Erfahrung („vicarious experience“; Fludernik 2002 [1996], 54) ist daher in der Alltagskommunikation selten. In fiktional-darstellenden Narrationen hingegen ist diese Erzählposition vor allem durch die Realisierung einer Erzählung in der dritten Person möglich. Wenig Aufmerksamkeit schenkt die Erzähltheorie jedoch Erzählungen in der zweiten Person, die ebenfalls dieses Potenzial bereithalten. Mit der Einführung der Begriffe des hetero- und homodiegetischen Erzählens entwickelt Genette eine Differenzierung der ontologischen Position der Erzählinstanz: Heterodiegetisches Erzählen tritt dann ein, wenn „der Erzähler in der Geschichte, die er erzählt nicht vorkommt, abwesend ist“. Das homodiegetische Erzählen beschreibt Narrationen, „in denen der Erzähler als Figur in der Geschichte, die er erzählt, anwesend ist“ (Genette 2010 [1994], 159). Mit dem Begriff der autodiegetischen Erzählung präzisiert Genette die Rolle dieser Figur: Homodiegetisches Erzählen wird autodiegetisch, wenn die Erzählinstanz gleichzeitig als Hauptfigur der Erzählung auftritt (vgl. Genette 2010 [1994], 159).7 Zudem bindet er das Begriffspaar homodiegetisch/heterodiegetisch an die realisierten Pronomina: […] die Entscheidung für ein Ich, um eine der Figuren zu bezeichnen, scheint mir mechanisch und unumgänglich zur homodiegetischen Beziehung zu führen, d. h. zu der Gewissheit, dass diese Figur der Erzähler ist; und umgekehrt, aber ebenso streng, impliziert die Entscheidung für ein Er, dass diese Figur nicht der Erzähler ist. (Genette 2010 [1994], 239)
Die Du-Perspektive scheint diese Konzeption zu unterlaufen (vgl. Fludernik 2002 [1996], 169), da sie die Frage nach der Positionierung der Erzählinstanz erschwert oder gar nicht beantwortet (vgl. Lahn und Meister 2016 [2008], 85). Brian Richardson (1994, 316) sieht als Standardfall eines Erzählens in zweiter Person, dass sich das Pronomen auf eine fiktive Figur bezieht, die gleichzeitig Protagonist/-in, Wahrnehmungsposition und das zentrale Bewusstsein des Textes darstellt. Vorstellbar sind jedoch auch Fälle, in denen die Erzählinstanz die fiktiven Lesenden einer Geschichte direkt adressiert, sich die Ansprache nun an eine extradiegetische Instanz richtet. Fludernik (2002 [1996], 154) verweist zudem auf Möglichkeiten, die als deiktisch leer erscheinen, bei denen nicht klar ist, ob sich die Anrede auf intra- oder extradiegetisch präsente Adressat/-innen richtet, da beide Möglichkeiten der Adressierung durch das Fehlen eines Anredesubjektes offengelassen werden. Diese Vari-
Diese Differenzierung kann in vielen Fällen problematisch sein, gerade wenn es um die funktionale Zuordnung homodiegetischer Erzählinstanzen als Nebenfiguren geht. Die verschiedenen Formen homodiegetischer Erzählpositionen differenzieren Lahn und Meister (2016 [2008], 81) mit Verweis auf die Typologie Lansers.
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anten einer Du-Erzählung sagen wenig über die vermittelnde Instanz aus, da es in beiden Fällen möglich erscheint, dass diese homodiegetisch ist, also Teil der storyworld, in der sich auch die angesprochene Figur bewegt, oder heterodiegetisch und somit nicht Teil dieser Welt (vgl. Fludernik 2002 [1996], 183). 5.1.1.3 Erzählposition verschiedener narrativer Instanzen Da verschiedene Erzählinstanzen im Pen-and-Paper-Rollenspiel auftreten können, ergeben sich innerhalb der Erzählung verschiedene Erzählpositionen, deren zentrale Unterschiede sich besonders in der Dichotomie von Spielenden und Spielleitenden verorten lassen. Aufseiten der Spielenden lässt sich die Erzählposition durch die ausgespielten Figuren genauer eingrenzen, wie folgendes Beispiel belegt: S4: Pathfinder 1 S4.1: Gemeinsame Planung Pa:
Ro: SL: Ro:
[((Lacht)) Okay.] Ähm ja ich bin ein Halbling klein barfuß (.) ja so achtzig Zentimeter groß, (1.0) ja. Und (.) bin äh habe einen Wanderrucksack auf, (.) und ja. Du siehst eben wie ich versuche (.) .h äh: erfolglos (.) ja was aus der Tasche zu ziehen. (1.0) Soll ich mich auch vorstellen? Du kannst dich gerne auch beschreiben. Okay. Ähm (.) Ja. Ich bin eine Elfe ich heiße Luana un:d ähm: da ich ziemlich groß bin größer als die Menschen-äh (.) hatte ich natürlich direkten Blick auf dich und habe das gesehen. Ähm (.) ja. ((Schaut auf das vor ihr liegende Dokument)) (1.0) Ich würde dir dann (.) dabei helfen und dir zeigen wie es richtig geht. 00:19:25–00:20:20
In dieser Gesprächssequenz, in der die Spielerinnen Paulina (Pa) und Romina (Ro) ihre Spielfiguren vorstellen, fallen zwei Besonderheiten auf: Zum einen vollziehen beide Spielerinnen einen performativen Akt, der durch „ich bin“ eingeleitet wird und festlegt, welche Rolle die Spielende im fiktionalen frame einnimmt. Für die folgende Kommunikation in diesem frame bedeutet dies, dass – sofern die Spielenden Pronomina der ersten Person nutzen – sie sich immer auf die in diesem performativen Akt entstandene Figur beziehen. Daraus ergibt sich für eine entstehende fiktionale Narration, dass die Erzählposition der jeweiligen Erzählinstanzen als autodiegetisch klassifiziert werden kann, da sie als Figur Teil der storyworld ist
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und aufgrund der möglichen Steuerung der Spielerin als Hauptfigur fungiert.8 Auffällig ist zum anderen der Wechsel der Pronomina in Paulinas Beschreibung („Du siehst eben wie ich versuche (.) äh: erfolglos (.) ja was aus der Tasche zu ziehen.“). Hier findet ein Wechsel in die Wahrnehmungsperspektive von Rominas Figur statt, der durch „du siehst“ eingeleitet wird und die Erzählposition dadurch verändert: Rominas Figur wird kurzzeitig zur zentralen Wahrnehmungs- und Bewusstseinsinstanz, ihre Sinnesseindrücke dienen gleichzeitig als narrativer Anknüpfungspunkt für ein mögliches Handeln, das von Paulina auch angenommen wird („Ich würde dir dann (.) dabei helfen und dir zeigen wie es richtig geht.“; Pa darauf: „Oh ja.“). An diesen Ausführungen zeigt sich, dass Spielende die Erzählung zumeist aus einer autodiegetischen Erzählposition realisieren, die das Potenzial zur Einnahme einer DuAdressierung der von den anderen Spielenden geführten Figuren haben. Aus einer heterodiegetischen Position zu erzählen ist jedoch möglich und überdies präferenzgesteuert, worauf auch David Schmidt (2012, 309) verweist. Im dieser Studie zugrunde liegenden Analysekorpus ist diese Präferenz jedoch nur bei einer Teilnehmerin festzustellen (Theresa, S5), die die heterodiegetische Erzählposition durchgehend realisiert. Im Rückblick auf die eingangs betrachtete narratoriale Rede eines Spielleiters lässt sich daraus schließen, dass die verwendeten Pronomina der zweiten Person (sowohl im Plural als auch im Singular) die im fiktionalen frame etablierten Figuren der jeweiligen Spielenden adressieren.9 Es ist nachvollziehbar, dass die in diesem Redeabschnitt geschilderten Erfahrungen und Sinneseindrücke die Innensicht dieser Figuren reflektieren. Der kurzzeitige Wechsel in die Ich-Perspektive unterstützt diese Annahme in Form einer eingeschobenen Gedankenrede. Hierfür spricht besonders, dass die Verwendung von Ich-Pronomina innerhalb der Rolle als Spielleiter/-in deiktisch leer erscheinen. Im Rahmen der fiktionalen Kommunikation führen Spielleitende im Gegensatz zu den Spielenden keine performativen Akte in der ers-
Dass die von den Spielenden geführten Figuren die Protagonist/-innen der Geschichte sind, lässt sich nach quantitativen Maßstäben bewerten: In allen dargestellten narrativen Ereignissen taucht mindestens eine von den Spielenden verkörperte Figur als handelnder Aktant auf. Dass die von den Spielenden geführten Figuren in diesem Aktantengefüge eine exponierte Rolle einnehmen, wird auch innerhalb der Begleit- und Regeltexte der Pen-and-Paper-Rollenspiele vermittelt: So werden die Figuren häufig als Held/-innen bezeichnet (vgl. Don-Schauen 2008b). Skov Nielsen (2013, 92) verweist darauf, dass die Du-Perspektive in fiktionalen Erzähltexten nicht immer eine Adressierung im Sinne einer Sprachhandlung darstellt. Auf diesen Einwand wird im Folgenden genauer eingegangen, an dieser Stelle jedoch soll der Begriff der Adressierung beibehalten werden.
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ten Person durch, die die Rollenübernahme einer Figur anzeigen.10 Hieraus resultiert eine heterodiegetische Erzählposition der Spielleitenden. In Bezug auf die Adressierung scheint eine derartige Konzeption auf den von Richardson (1994, 316) illustrierten Standardfall des Erzählens in der zweiten Person zu verweisen. Diese klare Zuordnung ist jedoch problematisch, was im Beispiel speziell durch die vom Spielleiter angeführte Frage „Was tut ihr?“ angedeutet wird: Adressiert diese Frage die Figuren innerhalb der Diegese, die Hörer/-innen dieser narratorialen Rede oder beide zugleich? Herman (1994, 397) führt mit dem Begriff der „double deixis“ eine Form der narrativen Adressierung der zweiten Person ein, die gerade letztgenannte Möglichkeit näher fokussiert. Doppelt deiktisch sind Adressierungen, die sich sowohl an eine fiktive Figur richten – Herman (1994, 381) bezeichnet diese Form der Adressierung als „horizontal“ – als auch an eine implizite Leserschaft, eine Adressierung, die Herman (1994, 381) als vertikal-apostrophisch beschreibt. Apostrophische Adressierungen bezeichnen im Allgemeinen die Hinwendung einer Sprechinstanz an die Hörer/-innen, im Speziellen existieren darüber hinaus Formen der Apostrophe, die die Performanz eines metafiktionalen Aktes fordern (vgl. Ensslin und Bell 2012, 52). Derartige Spezialformen lassen sich nach Jill Walker (2001, 38) weiter in fingierte Aufforderungen differenzieren, also solche, die von den Hörer/-innen nicht erfüllt werden können, und solche, die notwendig sind, um die erzählerische Kommunikation weiterzuführen. Während diese notwendig zu realisierenden Aufforderungen in der klassischen Erzählliteratur relativ selten sind, sind sie ein deutlicher Marker für interaktive und ergodische Erzählungen, wie beispielsweise Rollenspiele (vgl. Walker 2001, 40) sowie Formen der (digitalen) Hyperfiktion (vgl. Ensslin und Bell 2012, 52). Im Pen-and-Paper-Rollenspiel verortet sich zudem ein dritter Typ von Aufforderungen, nämlich solche, die optional realisierbar sind. Im konkreten Beispiel richtet sich „Was tut ihr?“ zwar an alle Teilnehmenden, es wird jedoch nicht zwingend gefordert, dass wirklich jeder oder jede beschreibt, was die eigene Figur tut beziehungsweise wie er oder sie auf die von dem oder der Spielleitenden beschriebenen Gegebenheiten eingeht. Aufforderungen wie „Was tut ihr?“ stellen im Pen-and-Paper-Rollenspiel daher eine explizite Markierung zur Performanz dar, die sowohl die fiktiven Figuren, insbesondere jedoch die Hörer/-innen betrifft. Diese sollen animiert werden, in die Rolle der Produzierenden zu treten, um durch ihre eigenen fiktionalen Kommunikationsbeiträge die Handlung weiterzuführen. Doppeldeiktische Äußerungen sind dabei Ausdruck der Trialogizität der rollenspielerischen Erzählkommunikation, die
Lediglich im Spiel Fiasco scheint sich die Grenzziehung aufzulösen: Hier wird sich zu Beginn jeder gespielten Szene entschieden, welche/welcher Teilnehmer/-in die Rolle einzelner Figuren verkörpert und/oder die Szene narrativ etabliert.
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Möglichkeiten des keyings und einer damit einhergehenden Verunklarung der Kommunikationsebene produktiv zur Mehrfachadressierung nutzen kann.
5.1.2 Erzählperspektive Eng mit der Erzählposition ist die Erzählperspektive verbunden, ein „Modus der Informationsregulierung, der auf der Wahl (oder Nicht-Wahl) eines einschränkenden ,Blickwinkels‘ beruht“ (Genette 2010 [1994], 118). Diese von Genette umschriebene Einschränkung wird von der Erzählposition beeinflusst, die das Geschehen unter bestimmten „Wahrnehmungsbedingungen“ (Lahn und Meister 2016 [2008], 115) aufnimmt und weitervermittelt. Mit „Blickwinkel“ meint Genette jedoch nicht nur die perzeptive Perspektive des Wahrnehmens, sondern integriert auch die Ebene des Wissens als Marker für eine realisierte Erzählperspektive. Dieses Spektrum aus Wissens- und Wahrnehmungsbeständen einer vermittelnden Erzählinstanz führt er in der Fokalisierung zusammen (vgl. Genette 2010 [1994], 121). Moritz Baßler charakterisiert die präsenten Erzählinstanzen im Pen-andPaper-Rollenspiel wie folgt: Die Geschichte selbst in ihrer endgültigen Form wird dann rein narrativ, in mündlichen Erzählakten hervorgebracht durch ein Zusammenspiel aus der auktorialen, heterodiegetischen Narration des Meisters und der intern fokalisierten homodiegetischen Narration der Mitspieler. (Baßler 2010, 555)
In Bezug auf die Erzählposition der narrativen Instanzen kommt Baßler zum selben Ergebnis, wie es im vorangegangenen Kapitel dargelegt wurde: Spielleitende (nach Baßler: „Meister“) erzählen aus einer heterodiegetischen Position, während die von den Spielenden geführten Instanzen (zumeist) aus homodiegetischer Position erzählen. Die Erzählperspektive der letztgenannten Erzählinstanzen beschreibt er als „intern fokalisiert“ (Baßler 2010, 555). Nach der Terminologie Genettes (2010 [1994], 121) charakterisiert sich eine interne Fokalisierung als Erzählsituation, in der die Erzählinstanz nicht mehr sagt, als die Figur weiß. Diese Kategorisierung mag auf den ersten Blick nachvollziehbar sein, da die von den Spielenden gespielten Figuren gleichzeitig als narrativer Reflektor für das Erlebte fungieren. Die im vorherigen Kapitel beschriebene variable Adressierung, auf die sowohl Spielleitende als auch Spielende im Erzählprozess zurückgreifen können, fordert jedoch eine weitere Präzisierung, da die Reinform der internen Fokalisierung lediglich eine einzelne Figur betrifft. Folgendes, bereits thematisiertes Beispiel soll dieses Problem illustrieren:
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S4: Pathfinder 1 S4.1: Gemeinsame Planung Pa:
[((Lacht)) Okay.] Ähm ja ich bin ein Halbling klein barfuß (.) ja so achtzig Zentimeter groß, (1.0) ja. Und (.) bin äh habe einen Wanderrucksack auf, (.) und ja. Du siehst eben wie ich versuche (.) . h äh: erfolglos (.) ja was aus der Tasche zu ziehen. (1.0) 00:19:25‒00:19:49
Die hier wiedergegebene Schilderung widerspricht der formulierten Einschätzung einer internen Fokalisierung, die an eine geführte Reflektorfigur gebunden ist: Paulinas (Pa) Erzählinstanz nimmt die Rolle einer Figur ein („ich bin ein Halbling“), vermittelt jedoch aus der Wahrnehmungsperspektive einer anderen Figur („Du siehst“). Nachdem Paulina sowie Spielerin Romina (Ro) ihre Figuren beschrieben haben, entwickelt sich folgender Dialog: S4: Pathfinder 1 S4.1: Gemeinsame Planung SL: Ro: SL:
Pa: SL: Pa: Ro:
(…) Also die ist tatsächlich sehr groß ein Durchschnittself ist glaube ich eins neunzig. Na ja. Aha. Aber nicht zu vergessen die K-Augen die Augen sehen riesig aus wegen den [Pupillen ((formt zwei Kreise mit beiden Händen, hält sie sich vor die Augen, lacht))] [Ähm (.)] dann gucke ich so [hoch ((reckt den Hals))] [Also die sch-die scheint] sich so ein bisschen: gesehen zu [haben?] Ja ja. Ich sehe das, (.) dass sie mich so anguckt (.) und "Ich kann ja versuchen die Leute abzulenken. (.) In der Zeit wo du ihnen die [Geldbörsen] klaust." 00:20:15–00:20:41
Nachdem er Informationen zum Aussehen der von Romina gespielten Figur ergänzt hat, die die physiologischen Besonderheiten der in der fiktiven Welt beheimateten Elfen thematisiert, deutet der Spielleiter (SL) an, dass der von Paulina gespielte Halbling Rominas Figur gesehen habe („[Also die sch-die scheint] dich so ein bisschen: gesehen zu [haben?]“). Paulina greift diese Information auf und beschreibt, dass ihre Figur dies bemerkt („Ja ja. Ich sehe das“). Hierdurch vermittelt
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die Erzählinstanz aus einer internen Fokalisierung („Ich sehe“) und dieses Mal über die Wahrnehmung der von ihr gespielten Figur. Dieses Beispiel illustriert folglich, dass auch Spielende mehrere Perspektiven einnehmen können, was vor allem durch die Anlage der Du-Adressierung ermöglicht wird. Genette (2010 [1994], 122) spricht in diesem Fall von einer variablen internen Fokalisierung, die eintritt, sobald in einer Erzählung die Fokalisierung von einer Figur zur nächsten wechselt. Bei genauerer Betrachtung der von Paulina realisierten Du-Perspektivierung fällt auf, dass sich diese nur auf Wahrnehmungsaspekte beschränkt und ähnlich wie ein filmisch gestaltetes Schuss-Gegenschuss-Verfahren den Fokus auf die von ihr verkörperte Figur legt. Da der Begriff der Fokalisierung neben Wahrnehmungsaspekten auch explizit Parameter des (Figuren-)Wissens miteinschließt, stellt er sich als zu unpräzise dar, um dieses Phänomen genauer zu beschreiben. 5.1.2.1 Formen der Perspektivierung Die Fokalisierung lässt sich als abstrakte Eigenschaft eines Textes auffassen, die vornehmlich relationale Aspekte der Wahrnehmungs- und Vermittlungsinstanzen abbildet (vgl. Igl 2017, 141) und dabei vor allem die restriktiven Elemente dieses Verhältnisses fokussiert (vgl. Skov Nielsen 2013, 76). Um die Erzählperspektive im Pen-and-Paper-Rollenspiel angemessen zu differenzieren, ist dieses Konzept nicht geeignet, was unter anderem daran liegt, dass die Begriffe des Wissens und der Wahrnehmung wenig präzise voneinander abgegrenzt werden (vgl. Horstmann 2018b, 185; Rietz 2017, 53; Schmid 2014 [2005], 103–104). Ein alternatives Modell der Erzählperspektive wird von Wolf Schmid vorgeschlagen: Er unterscheidet zwischen einer narratorialen und einer figuralen Perspektive, die eine Erzählinstanz einnehmen kann, um ein Geschehen darzustellen (vgl. Schmid 2014 [2005], 127). Diese binäre Opposition resultiert aus der generellen Zweiteilung der Sprechpositionen innerhalb einer Erzählkommunikation, die entweder die vermittelnde Instanz und ihre spezifische Perspektive oder die handelnden Figuren betreffen kann. Es bedeutet zudem, dass es in einem Erzähltext zwar Passagen geben kann, in dem diese Opposition neutralisiert wird, in der im Gegensatz zu Genettes Terminologie aber kein neutraler Fall der Perspektivvermittlung vorliegt (vgl. Schmid 2014 [2005], 128). Grundlage dieser Opposition bildet der Unterschied der Akte des Erfassens und des Darstellens eines Geschehens: Diese Unterscheidung ist deshalb erforderlich, weil ein Erzähler ein Geschehen anders darstellen kann, als er es erfasst oder erfasst hat. Wo eine solche Inkongruenz von Erfassen und Darstellen vorliegt, gibt der Erzähler nicht wieder, was und wie er selbst wahrgenommen hat, sondern reproduziert die Wahrnehmung einer oder mehrerer der erzählten Figu-
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ren. Solche Inkongruenz von Erfassen und Darstellen, die charakteristisch ist für fiktionales Erzählen und die im faktualen Erzählen nur ausnahmsweise begegnet, wird zum Merkmal der figuralen Narration, die in der europäischen Literatur seit der Empfindsamkeit zu einem Hauptmodus der Wirklichkeitsdarstellung geworden ist. (Schmid 2014 [2005], 121)
Schmid (2014 [2005], 122–123) entwickelt weiterhin fünf Parameter der Perspektivdarstellung, um die verschiedenen Ebenen der Wissens- und Wahrnehmungspositionen voneinander abzugrenzen: Als ersten Parameter benennt er die räumliche Perspektive, die die Stellung einer Instanz an dem Ort betrifft, von dem aus das Geschehen wahrgenommen wird. Die räumliche Perspektive erfüllt nach Schmid (2014 [2005], 123) als einziger der entwickelten Parameter „die Intension von Perspektive oder point of view im eigentlichen, ursprünglichen Sinne des Wortes“. Die ideologische Perspektive stellt den zweiten Parameter der Perspektivdarstellung dar. Im Sinne Schmids (2014, 123) meint hier Ideologie „verschiedene Faktoren, die das subjektive Verhältnis des Beobachters zu einer Erscheinung bestimmen: das Wissen, die Denkweise, die Wertungshaltung, den geistigen Horizont“. Diese ideologischen Faktoren beeinflussen die anderen Parameter der Perspektivdarstellung, da sie letztlich bedingen, welche Elemente des Geschehens Beobachtende fokussieren und vermitteln. Da die ideologische Perspektive jedoch ebenso durch explizite Wertungen innerhalb der Narration ausgedrückt werden kann, sieht Schmid (2014 [2005], 124) die Etablierung einer eigenen Kategorie als notwendig an. Die zeitliche Perspektive konstatiert sich durch das Verhältnis von Erfassen und Darstellen. Die Kategorie Zeit hat nach Schmid (2014 [2005], 124–125) an sich keine Bedeutung für die Gestaltung der Perspektive, mit Ausnahme der Veränderungen, die in der Diskrepanz des Erfassens und der Darstellung eines Geschehens liegt: Wenn sich eine größere zeitliche Distanz zwischen dem Erfassen eines Geschehens und seiner Darstellung ergibt, können daraus „Veränderungen im Wissen und Bewerten“ (Schmid 2014 [2005], 125) des Geschehens entstehen. Der Parameter der sprachlichen Perspektive (vgl. Schmid 2014 [2005], 125–126) spiegelt sich primär in der Darstellung des Erzählten wider. Dies betrifft vor allem „die Teilbereiche Lexik, Syntax und Sprachfunktion, weniger die Morphologie (wenn man von dem Fall falscher Grammatik als eines bewusst eingesetzten Merkmals zur Charakterisierung von Erzähler- oder Figurenrede absieht)“ (Schmid 2014 [2005], 125). Doch auch für das Erfassen spielt die sprachliche Perspektive eine Rolle, da „die Wirklichkeit in Kategorien und Begriffen aus dem semantischen System einer bestimmten Sprache“ wahrgenommen wird (Schmid 2014 [2005], 126). Als letzten Parameter definiert Schmid (2014 [2005], 126) die perzeptive Perspektive, die die für eine Erzählung relevanten Fragen „‚Mit wessen Augen blickt der Erzähler auf die Welt?‘ oder ,Wer ist für die Auswahl dieser und nicht anderer Momente des Geschehens für die Geschichte verantwortlich?‘“ beantwortet. Ein zentrales Merkmal der perzeptiven Perspektive sieht Schmid (2014 [2005],
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126) in der Fähigkeit zur Introspektion, die in fiktionalen Erzählungen sowohl einen narratorialen als auch einen figuralen Standpunkt einnehmen kann. Gerade für homodiegetische Erzählungen ist es darüber hinaus von Bedeutung, das Erfassen dieser Wahrnehmungsperspektive zu differenzieren: Eine homodiegetische Erzählinstanz kann zwischen dem von einem erzählten Ich Erfassten und dem von einem jetzigen erzählenden Ich Erfassten wählen. Schmid (2014 [2005], 127) betont, dass die perzeptive und die räumliche Perspektive zumeist zusammenfallen, verweist jedoch ebenso auf Fälle, in denen eine Erzählinstanz die räumliche Position einer Figur erzählt, ohne die Welt „mit den Augen der Figur wahrzunehmen“. Die Instanz hat dabei zwar die Fähigkeit zur Introspektion, blickt also in das Bewusstsein der Figuren, erzählt jedoch nicht durch das „Prisma“ (Schmid 2014 [2005], 126) der Figur. Diese Unterscheidung konstatiert Schmid auf Basis der von Boris Andrejewitsch Uspenskij entwickelten Theorie zur Erzählperspektive: Differenziert werden kann hier zwischen einer inneren erzählerischen Darstellung, die Wahrnehmung „der Welt mit den Augen oder durch das Prisma einer oder mehrerer der dargestellten Figuren“ (Schmid 2014 [2005], 115), sowie einer äußeren Darstellung „des Bewusstseins einer Figur vom Standpunkt eines Erzählers, der die Fähigkeit zur Introspektion besitzt“ (Schmid 2014 [2005], 115–116). Wenngleich Schmid Uspenskij attestiert, die Begriffe der Perspektive und der Introspektion nicht klar voneinander abzugrenzen, scheint es Fälle zu geben, in denen die Erzählinstanz zwar die räumliche Perspektive einer Figur einnimmt, jedoch nicht aus der perzeptiven Perspektive vermittelt, „also die Wahrnehmung der innersten Seelenregungen“ (Schmid 2014 [2005], 117) der Figur nicht gestaltet. Eine solche Konstellation ist in der betrachteten Figurenbeschreibung der Rollenspielteilnehmerin Paulina gegeben: Sie nimmt durch ihre Äußerung „Du siehst eben wie ich versuche (.) äh: erfolglos (.) ja was aus der Tasche zu ziehen“ kurzzeitig die räumliche Perspektive der von Romina gespielten Figur ein, verbleibt jedoch fortlaufend weiter in der perzeptiven Perspektive ihrer autodiegetischen Reflektorfigur. Für dieses Argument spricht vor allem, dass diese Reflektorfigur zentral neben einer Wahrnehmungsinszenierung für die Selektion der Momente des Geschehens verantwortlich ist. Dieser Aspekt lässt sich mit folgendem Beispiel genauer präzisieren, in dem die Figur des Spielers Walter (Wa) mit einschneidenden Veränderungen seiner Lebensumstände konfrontiert ist:
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S6: Dungeons and Dragons 1 S6.1: Einstieg SL: Wa: SL: Wa:
[Ähm (.)] Wacht langsam äh auch dein Charakter auf ((blickt in Richtung Wa)). [Wache ich auf.] Ja ich schaue ((blickt in die Luft)) ich mich da auch erst einmal um, [sehe] Bist wahrscheinlich auch so [ein bisschen schwach? gerade erst wieder zu dir gekommen] [Genau] genau ich realisiere quasi das ich jetzt (.) äh mein altes Leben hinter mir gelassen habe als (.) Barde und schöngeistiger (.) äh (.) äh Halbelf, und schaue mich erst einmal um, und äh (.) 00:06:55–00:07:03
Die Spielleiterin (SL) beschreibt zunächst das Geschehen, mit dem Walters Figur konfrontiert ist („Wacht langsam äh auch dein Charakter auf“/„Bist wahrscheinlich auch so [ein bisschen schwach? Gerade erst wieder zu dir gekommen]“). Dabei ist auffällig, dass sie durch den Begriff „wahrscheinlich“ Walter ein Angebot eines möglichen Zustands unterbreitet, auf das dieser mit seiner eigenen Beschreibung reagieren kann. Walter antwortet auf diese Zustandsbeschreibung, indem seine Figur sich umsieht, wechselt in seinem zweiten Redebeitrag jedoch in die perzeptive Perspektive, die aus dem bereits Ereigneten hervorgeht. Durch „ich realisiere“ wird eine Verarbeitung des Wahrgenommenen eingeleitet und auf ideologisch-perspektivischer Ebene reflektiert, dass er das Leben als „Barde und schöngeistiger […] Halbelf“ hinter sich gelassen hat. Dieser Geschehensmoment, der einen kurzen Blick auf die Innenperspektive der verkörperten Figur eröffnet, wird von Walter bewusst initiiert und mittels der von ihm eingenommenen Instanz in den erzählerischen Kommunikationsprozess eingebracht. Die Entscheidung, dass sich die Figur so fühlt, liegt bei Walter selbst: Er hat gemäß seiner participant agency das Erzählrecht, die Gedanken und Gefühle seiner Figur zu entwickeln. Die Innenperspektive wird an diesem Zeitpunkt nicht vollkommen wahllos offengelegt, da sie gleichzeitig den anderen Teilnehmenden relevante Informationen über den von Walter gespielten Charakter liefert. In einer anschließenden Figurenbeschreibung findet der Wechsel in die Perspektive einer anderen Figur statt:
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S6: Dungeons and Dragons 1 S6.1: Einstieg Wa:
SL: Wa:
Genau ich habe Instrumente bei mir du kannst vielleicht meine Laute erkennen und mein kleines äh Flötenetui ((zeigt an seine linke Hüfte)) wo noch meine restlichen Instrumente (.) äh drin sind, und äh (.) ja dir fällt meine zierliche (.) äh Statur auf, und ä:hm meine feinen Gesichtszüge ((zeigt in sein Gesicht)) also (.) dir wird äh (.) vielleicht wirst du von meiner Schönheit ähm (.) Geblendet ((hält den Handrücken an die Stirn, lacht)) Geblendet ((lacht)) 00:08:23–00:50:50
Zu Beginn schildert Walter einzelne Gegenstände, die seine Figur bei sich trägt. Durch „erkennen“ und „fällt […] auf“ wird eine räumliche Perspektivdarstellung eingeleitet, die sich gemäß der Du-Adressierung auf eine andere Figur bezieht. Diese räumliche Perspektive wird im Folgenden jedoch um ideologische Parameter ergänzt, indem die Schönheit von Walters Figur bewertet wird. Dieser Wechsel des Perspektivparameters lässt sich augenscheinlich nicht mit den vorangegangenen Ausführungen verknüpfen, da die von Walter eingesetzte Erzählinstanz neben der Introspektion auch durch das Prisma der anderen Figur erzählen kann, was einen Eingriff in die anderen Erzählrechte der Mitspielenden bedeuten würde. Auffällig ist hingegen die mehrfache Verwendung des Wortes „vielleicht“, was gemäß einer deiktischen Doppeladressierung auf zwei verschiedene Weisen interpretiert werden kann: Zum einen kann es als realisierte ideologische Perspektive der homodiegetischen Erzählinstanz selbst angesehen werden, die die eigene Interpretation des Aussehens der adressierten Figur nahelegt. Zum anderen lässt sie sich jedoch ebenso als metaleptisch-extratextuelle Adressierung deuten, die der anderen Spielerin eine Interpretation anbietet, die sie für ihre eigene Figur übernehmen kann. Derartige Angebote, aber auch die Realisierung des räumlichen Perspektivparameters selbst, sind im Analysekorpus häufig in Erzählpassagen von Spielenden zu finden, in denen das unmittelbare Handeln oder Aussehen der eigenen Figur beschrieben werden. Die Figur selbst erscheint dabei trotz dieser distributiven Perspektivverschiebung (vgl. Schmid 2014 [2005], 139) als Reflektor. Die Erzählinstanz kann auf alle Parameter der Perspektivdarstellung zurückgreifen und erzählt nicht nur vom Wahrnehmungsstandpunkt aus, sondern auch aus der Innenperspektive dieser Figur, was neben reinen räumlichen Wahrnehmungspattern („VIEWING“; Fludernik 2002 [1996], 173) ebenso ideologische und perzeptive Faktoren („EXPERIENCING“; Fludernik 2002 [1996], 173) beinhaltet. Der Wechsel in die Perspektive anderer Figuren wird lediglich auf das Sichtfeld der eigenen Figur beschränkt. Die
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Perspektive auf andere Figuren der Spielenden zu erweitern, wird nicht selten als Übergriffigkeit in die eigene agency verstanden und abgelehnt (vgl. Hammer 2007, 82). Dieser Eingriff in die Perspektive von Nicht-Spieler/-innen-Charakteren kann durch die Spielleitenden unterbunden werden, wie folgendes Beispiel illustriert: S4: Pathfinder 1 S4.1. Gemeinsame Planung SL:
Ro:
SL:
Etwas das du machen kannst (.) wenn du willst. (3.0) Äh::::m ja? ((Schaut auf seinen Laptop))(3.0) Also möchtest du eine Performance starten das kannst du gerne tun. Ja:. Ich fange an äh:: Gitarre zu spielen? Un:d ich sehe dass die Menschen sich um mich herum versammeln? Un:d ähm: (.) sie sind sehr [froh darüber haben] [Mach doch mal] eine: äh Probe auf Auftreten. (.) Mit Saiteninstrumenten. 00:21:36–00:22:49
Romina (Ro) nimmt hier den Vorschlag des Spielleiters (SL) an und beginnt eine musikalische Darbietung. Neben der Handlungsbekundung („Ja:. Ich fange an äh:: Gitarre zu spielen?“) wechselt sie anschließend zuerst in die räumliche Perspektive ihrer Figur („Un:d ich sehe dass die Menschen sich um mich herum versammeln?“) und dann in die ideologische Perspektive des Publikums („sie sind sehr [froh darüber“). Diese letzte Beschreibung wird vom Spielleiter unterbrochen, um eine „Probe auf Auftreten“ zu fordern. Dass diese Spielmechanik herangezogen wird, impliziert, dass es im Vorhinein noch nicht feststeht, wie der musikalische Auftritt der Figur verläuft. In der narrativen Übertragung der abgehandelten Spielmechanik wird jedoch ebenfalls deutlich, dass Romina mit der Einnahme der Publikumsperspektive eine Überschreitung ihrer participant agency vollzogen hat: S4: Pathfinder 1 S4.1. Gemeinsame Planung Ro: SL:
Okay. (1.0) Dann habe ich Einundzwanzig. Mhm? (.) Also zuallererst einmal ja: (.) die: äh Leute beobachten dich (.) werden aufmerksam auf dich (.) beobachten dich ja dann machst deine äh deine M-deine Musikgeschichte (.) ((reißt die Augen auf, zeigt in Richtung Pa)) "spielt gar nicht schlecht. Gar nicht schlecht." (2.0) Dir werden tatsächlich vier Goldstücke zugeworfen,
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(.) ((lachend)) wie so ein Straßenmusiker halt ((Ro lacht)) Ähm (.) wenn du möchtest kannst du äh dann das dann in deine: entsprechende (.) Barden(.) Musikperformance also die magischen übernatürlichen Komponenten umwandeln? 00:22:51–00:23:22 Auffällig an dieser narrativen Übertragung von Rominas Würfelergebnis ist hier, dass der Spielleiter die Reaktion des Publikums beschreibt. Auch er wechselt in die räumliche und perzeptive Perspektive der Zuschauenden („die: äh Leute beobachten dich (.) werden aufmerksam auf dich“) und beschreibt eine insgesamt positive Reaktion der Anwesenden („“spielt gar nicht schlecht. Gar nicht schlecht.”“). Obwohl diese Reaktion mit der von Romina intendierten Publikumsreaktion übereinstimmt, bekräftigt der Spielleiter seine eigene Autorität, indem er einerseits Romina die Kontrolle über den Verlauf der Narration durch einen notwendigen Würfelwurf entzieht und andererseits in seiner Rolle als Ratifizierungsinstanz die Reaktion mittels einer narratorialen Rede wiederholt. Dass er sich dieser beiden Effekte bewusst ist, bestätigen Äußerungen wie „Also zuallererst einmal ja:“ und „tatsächlich“, die sich auf Rominas ursprünglich beschriebene Reaktion des Publikums beziehen.
5.1.2.2 Erzählperspektive der Spielleitenden-Erzählinstanz Im Gegensatz zu den Spielenden, die Parameter der Perspektivdarstellung in einem engen, an ihre Reflektorfigur gebundenen Rahmen realisieren können, erweitert sich dieses Spektrum, wenn man die Rolle der Spielleitenden betrachtet. Baßler (2010, 555) charakterisiert die Perspektive der Spielleitenden-Erzählinstanz als auktorial. Diese Kategorie, die sich entgegen des ebenfalls von Baßler verwendeten Fokalisierungsbegriffs nicht zentral in der Theorie Genettes, sondern in der Typologie der Erzählsituationen nach Stanzel wiederfindet, beschreibt eine Narration, die sich durch „die Anwesenheit eines persönlichen, sich in Einmengung und Kommentaren zum Erzählten kundgebenden Erzählers“ (Stanzel 1993 [1964], 16) charakterisiert. Diese von Stanzel in seiner Monografie Typische Formen des Romans erarbeitete Definition wurde von ihm mit der Entwicklung seines Typenkreises der Erzählsituationen (vgl. Stanzel 2008 [1979], 85‒88) modifiziert. Hier beschreibt eine auktoriale Erzählsituation primär die Existenz einer Erzählinstanz, die durch eine „Allwissenheit suggerierenden Außenperspektive“ (Martínez und Scheffel 2016 [1993], 97) vermittelt und deren Seinsbereich nicht mit den in der Erzählung auftauchenden Figuren zusammenfällt. An diese Definition anknüpfend, klassifiziert Genette (2010 [1994], 245) die auktoriale Erzählsituation als „nicht-fokalisierte heterodiegetische Narration“.
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Wenngleich es in Bezug auf das Pen-and-Paper-Rollenspiel schwierig ist, Stanzels erste Definition einer auktorialen Erzählinstanz analytisch nachzuweisen, da durch die Ko-Präsenz der realen Autor/-innen innerhalb der erzählerischen Kommunikation die Grenzziehung zwischen Kommentaren der realen Personen und einer möglichen figurierten Erzählinstanz zu verschwimmen scheint, lässt sich hingegen am Beispiel einiger narrativer Redesequenzen von Spielleitenden der Frage der Allwissenheit weiter auf den Grund gehen. Gefolgt werden soll der Übertragung der auktorialen Erzählsituation in die Typologie Genettes: Wie bereits im vorangegangenen Kapitel dargelegt, kann man die von der Erzählinstanz des oder der Spielleitenden eigenommene Erzählposition als heterodiegetisch beschreiben, da – obwohl durch die Du-Adressierung zwar eine Figur der storyworld angesprochen wird – keine intradiegetisch präsente Reflektorfigur konstruiert wird. Als nicht-fokalisiert (oder Nullfokalisierung) klassifiziert Genette (2010 [1994], 120–121) eine Relation zwischen Erzählinstanz und Figur(en), in der „der Erzähler […] mehr weiß als die Figur, oder genauer, wo er mehr sagt, als irgendeine der Figuren weiß“. Was bedeutet dieser Wissensvorsprung der Erzählinstanz nun für die Perspektivkonstruktion? Im Kontext des von Wolf Schmid (2014 [2005], 127–128) entworfenen Modells wird zwischen narratorialer und figuraler Perspektive unterschieden. Es liegen also keine Momente innerhalb der Erzählung vor, in der nicht aus der Perspektive einer Erzählinstanz beziehungsweise einer Figur erzählt wird, obgleich die Markierung, aus welcher der beiden Perspektiven nun vermittelt wird, fehlen kann. Die von den Spielenden des Rollenspiels entwickelten Erzählbeiträge können sowohl narratorial als auch figural vermittelt sein: Narratorial, wenn mittels einer Erzählrede aus der Position der autodiegetischen Reflektorfigur gesprochen wird; figural, wenn beispielsweise die räumliche Perspektive einer anderen Figur durch eine Du-Adressierung eigenommen wird. Im Falle der Spielleitenden lassen sich ebenfalls figurale Perspektivierungen entdecken, nämlich dann, wenn aus der Perspektive einer (oder mehrerer) in der storyworld existenten Figuren erzählt wird: S6: Dungeons and Dragons 1 S6.1: Einstieg SL:
Okay. ((Beginnt vorzulesen)) Das Erste was ihr bemerkt ist der Geruch. Die Fahrt vom Festland in den stickigen Unterdecks der etretischen Galeone war eine tagelange Test-war ein tagelanger Test eurer Stärke. Eine schreckliche Mischung aus müden Körpern und ungepflegten Einrichtungen. Du glaubtest dass diese Bestrafung genug für deine Verbrechen war. Nichts was jetzt noch folgen würde (.) könnte so schlimm sein wie die Kloake die dich zu diesem
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Schicksal getragen hat. Als du wieder zu dir kommst (.) signalisiert dir Frischluft dass du nicht mehr an Bord der Galeone bist. An jedem anderen Tag wäre diese Erkenntnis eine wohltuende Erleichterung gewesen. Aber an diesem Tag signalisiert sie nur das Ende deiner schrecklichen Reise. Deine Strafe des Exils hat begonnen. Deine zweifelhafte neue Freiheit wurde an einem Ort der Gesetzlosen eingesetzt. (.) Als deine Augen sich endlich öffnen erkennst du langsam die Wahrheit. (.) Du hast dein altes Leben hinter dir gelassen und dein Untergang hat gerade erst begonnen. Willkommen (.) in den Badlands. (.) ((Blickt auf)) Und für euch die ihr das nunnatürlich wisst als Charaktere .hh die Badlands sind eine:-ist ein Ort in den Meeren vor dem Festland, (.) wo einige Inselketten sind? Und diese Inselketten sind (.) vor vielen Jahren durch ein magisches Experiment (.) von einem magischen Strom ((dreht ihren Stift in der Luft)) umgeben eine Art Wirbelsturm durch den ähm nu:r schwer gepanzerte Schiffe (.) durchkommen, (.) und äh das (.) das Festland, die Krone schickt dort ihre schw-die (.) Kriminellen hin was gleich auch nochmal im Text folgt (.) nur dass ihr es nochmal wisst. 00:00:54–00:02:33 Auffällig an dieser Erzählrede ist die Einnahme einer figuralen Perspektive mittels einer Adressierung in der zweiten Person. Entgegen den Möglichkeiten der Spielenden, eine Du-Perspektive lediglich räumlich beziehungsweise als Angebot zu realisieren, werden im vorliegenden Beispiel verschiedene Parameter der Perspektivdarstellung verwirklicht. Signifikant ist hierbei die Vermischung perzeptiver, räumlicher und ideologischer Parameter, die sich im Verlauf des Abschnitts abwechseln. So wird zu Beginn ein Geruch „bemerkt“ (perzeptiv) und im Anschluss über die Schwere der eigenen Strafe reflektiert („Du glaubtest dass diese Bestrafung genug für deine Verbrechen war“). Dann wird mit „Als deine Augen sich endlich öffnen erkennst du langsam die Wahrheit“ eine räumliche Perspektive angedeutet, die jedoch metaphorisch in einer ideologisch-perspektivischen Reflexion des Erlebten mündet. Auch die Wissensaspekte, die am Ende über den Ort, an dem sich die Figuren befinden, vermittelt werden („die ihr das nun-natürlich wisst als Charaktere“), sind Ausdruck einer ideologischen Perspektive. Weiterhin fällt ins Auge, dass die Adressierung von der Singular- in die Pluralform wechselt; es ist am Anfang nicht klar festgelegt, auf welche der am Ort der Handlung anwesenden zwei Spielenden-Figuren die vermittelte Adressierung zutrifft. Denkbar ist, dass die vermittelte narratoriale Rede entweder beide Figuren adressiert oder sie zumindest als Angebot gedacht ist, eine derartige Perspektive auf die eigene Figurenkonstruktion
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einzunehmen. Das anschließend geäußerte Wissen über den Handlungsort, über das beide Figuren verfügen, erscheint hingegen eher als Festlegung. Die allwissende Position der Erzählinstanz drückt sich folglich in diesem Beispiel nicht dadurch aus, dass sie Wissen präsentiert, über das keine der Figuren verfügt, sondern über die Breite und Tiefe der figuralen Perspektiven, die sie einnehmen kann. Die von dem oder der Spielleitenden konstruierten Erzählinstanzen haben Zugriff auf verschiedene Parameter der figuralen Perspektivdarstellung und können zugleich zwischen den Perspektiven einzelner Figuren wechseln. Gemäß der Definition der Nullfokalisierung Genettes ist Allwissenheit somit dahingehend gewährleistet, dass die Erzählinstanz durch den Wechsel in verschiedene figurale Perspektiven ein Mehrwissen generieren kann, über das einzelne Figuren nicht verfügen. Mit „Willkommen (.) in den Badlands“ wird im vorliegenden Beispiel die Spur einer figurierten, extradiegetischen Erzählinstanz angedeutet, die sich metaleptisch direkt an die Figuren wendet. Hinweise auf die Realisierung narratorialer Perspektivparameter lassen sich jedoch nicht eruieren, da die Narration eng im Perspektivfeld der Du-Adressierung verbleibt. Nach Schmid sind jedoch derartige Marker für eine narratoriale Perspektive nicht unbedingt nötig, da diese allein durch die Rede der Erzählinstanz selbst verwirklicht wird: Narratorial ist die Perspektive also nicht nur dann, wenn das Erzählen deutliche Spuren des Erfassens und Darstellens durch einen individuellen Erzähler trägt, sondern auch dann, wenn das Erzählen „objektiv“ zu sein scheint oder nur geringe Spuren einer Brechung der Wirklichkeit durch ein irgendwie geartetes Prisma enthält. Denn der Erzähler ist im Erzählwerk als Bedeutungsgeber immer präsent, und sei es nur durch die Auswahl der Geschehensmomente. (Schmid 2014 [2005], 128)
In diesem Kontext wird Allwissenheit also nicht nur durch die Möglichkeit geboten, dass der Zugriff auf verschiedene Perspektiven der Figuren erfolgen kann, sondern ebenso durch die Ordnung und Auswahl der Geschehensmomente selbst. Nach Stanzel (2008 [1979], 84) wird die Allwissenheit einer auktorialen Erzählinstanz speziell durch eine „Außenperspektive“ suggeriert, die im Gegensatz zur Innenperspektive eines personalen Reflektors steht. Dass eine solch starre Trennung zwischen den einzelnen Perspektivrealisierungen nicht haltbar ist, merkt auch Schmid (2014 [2005], 108–109) an. Der Eindruck einer Außenperspektive einer allwissenden Erzählinstanz wird vielmehr dadurch geschaffen, dass jene durch die Möglichkeit, beliebige figurale Perspektiven zu vermitteln, eine Form der Übersicht über das Geschehene einnimmt. Eine derartige Übersicht kann im Pen-andPaper-Rollenspiel auch durch andere Strategien erzeugt werden, was folgendes Beispiel illustriert. Dieser Text entstammt aus dem Szenarioband Die Zuflucht und ist dafür konzipiert, in einer Spielsitzung vorgelesen oder nacherzählt zu werden:
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5 Strategien und Parameter des Erzählens im Pen-and-Paper-Rollenspiel
Höret, Volk, höret! Freiherr Waldomir von Bärental gibt sich die Ehre, anlässlich des Traviabundes seiner Tochter Traverike von Bärental mit Ritter Ysgol von Tatzenhain eine große Turnei auszurufen. Ritter und Streiter aus aller Herren Länder seien aufgerufen, sich vom 12. bis zum 16. Praios auf der großen Wiese vor Burg Bärental zu Andrafall einzufinden, wo sie um Ruhm und Ehre gegeneinander streiten können. Auf die Sieger wartet neben einem Tanz mit der lieblichen Braut auch manch anderer wertvoller Preis. Doch auch, wer nicht von Rondras Gaben beseelt ist, möge an den großen Feierlichkeiten teilnehmen, denn die Turnei findet zeitgleich mit dem alljährlichen Andrafaller Volksfest statt. Es warten Gaukler und Spielleute, und sogar ein Jahrmarkt mit Händlern aus aller Herren Länder wird abgehalten. Also strömet herbei, ihr edlen Recken, eilet heran, ihr schönen Maiden, denn auf Burg Bärental gilt es, einen Traviabund zu feiern! So verkündeten es die Herolde auf den Märkten und Burgen des Landes, und sogar einige geschriebene Aushänge gab es an den Tempeln. Natürlich habt ihr diese Ankündigung voller Freude gehört, denn wo kann man besser Ruhm ernten als auf einem Turnier, auf dem Kämpfer von nah und fern ihre Kräfte messen? Und dazu noch ein Markt mit exotischen Händlern, abends Feste mit Musik, Tanz und Schlemmereien – das klingt einfach zu gut, um nicht dorthin zu gehen. So habt ihr also eure Siebensachen zusammengepackt, euch nach dem Weg erkundigt und seid frohen Mutes Richtung Andrafall gezogen. (Don-Schauen 2008b, 8)
Beginnend mit einer direkten figuralen Rede, wechselt diese Textpassage in die Adressierung der zweiten Person, um durch eine realisierte ideologische Perspektive die angekündigten Ereignisse zu bewerten. Relevant ist vor allem der Satz „So verkündeten es die Herolde auf den Märkten und Burgen des Landes, und sogar einige geschriebene Aushänge gab es an den Tempeln“, der den Eindruck einer Übersicht vermittelt. Es wird hier ein Wissen über die verbreitete Nachricht präsentiert, das von einzelnen Figuren schwerlich erfasst werden kann und somit auf eine narratoriale Perspektive verweist. Erst im Anschluss wird das Blickfeld der Erzählinstanz auf die handelnden Figuren erweitert. Die Eigenschaft der Allwissenheit in Bezug auf eine eingenommene figurale Perspektive bedeutet jedoch nicht, dass dieses Potenzial durchgehend von der von den Spielleitenden kontrollierten Erzählinstanz genutzt wird. Genauso wie es den Spielenden möglich ist, können Spielleitende Offenheiten und Angebote gestalten, die die Spielenden für ihre Figuren konkretisieren können. Folgendes Beispiel verdeutlicht eine derartige Offenheitsstelle: S2: Dieselpunk 1 S2.1: Einstieg SL:
Richtig gut. Genau. Du guckst aus dem Fenster erkennst mit einem Blick mit einem deinem fachmännischen Auge (.) dass es (.) Scrambler
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He: SL:
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Limousinen sind? ((He nickt kurz)) Die oft äh von den von der Regierung (.) äh: genutzt werden, (.) du erkennst direkt da sind mehrere Autos da müssen mehrere Leute drin gewesen sein ((Beat-Geste)) (.) es (.) wie gesagt masch-ähm ähm ähm Autos von-von der Regierung? Und denkst dir deinen Teil dazu. Hm. Okay? Muss ich jetzt handeln. ((Lacht)) [((Fr, Ga und Is lachen))] [Ja genau. Es hat ja] es hat [ja] laut (.) lautstark an deiner Tür äh: ge (.) geklingelt-geklopft. 00:15:53–00:16:27
Die Spielleiterin (SL) nimmt hier zunächst mittels einer Du-Adressierung die perzeptiv-räumliche Perspektive einer Figur ein, die von einer anderen Spielerin verkörpert wird. Sie betont dabei, dass die Autos, die die Figur sieht, von der Regierung sein könnten („Die oft äh von den von der Regierung […] genutzt werden“). Die Bewertung dieser Beobachtung, also die Realisierung einer ideologischen Perspektivdarstellung, lässt sie offen. „Und denkst dir deinen Teil dazu“ fungiert hier als Doppeladressierung, die einerseits statuiert, dass sich die beobachtende Figur Gedanken über diesen Vorfall macht, jedoch andererseits die Spielerin animiert, über die Beobachtung zu reflektieren und zu handeln. Diese Aufforderung wird im Anschluss – auf Nachfrage der adressierten Spielerin – nochmals expliziert. Dieses Beispiel verdeutlicht den variablen Status der von den Spielleitenden eingesetzten narrativen Instanz in Bezug auf die Vermittlung figuraler Perspektiven. Allwissenheit bedeutet in diesem Kontext nicht, dass jene Instanz immer ihre Möglichkeiten der Introspektion vollends nutzt, sondern gleichzeitig Leerstellen lässt, die von den Spielenden im Sinne einer narrativen Anschlusshandlung weiter präzisiert werden können. Da dieses Potenzial gleichzeitig die narratorialen Perspektivbestände betreffen kann, können diese Offenheiten ebenso eingesetzt werden, um die Informationsvergabe bewusst zu steuern.
5.1.3 Wissensvermittlung und Informationsvergabe Diese Diskrepanzen zwischen dem, was Erzählinstanzen potenziell wissen und vermitteln, aber ebenso, inwieweit das Wissen genutzt wird, das Spielenden durch die verschiedenen narrativen Instanzen vermittelt wird, soll im vorliegenden Kapitel genauer betrachtet werden. Anknüpfend an die vorherigen Überlegungen zur Erzählperspektive ergeben sich drei zentrale Betrachtungsebenen. Die erste betrifft die Strategien der Wissensvermittlung seitens einer Erzählinstanz: Gerade im Fall der von Spielleitenden eingenommenen narrativen Instanz, die zwar die Potenziale
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zur Allwissenheit besitzt, diese jedoch nicht immer realisiert, manifestieren sich verschiedene Formen der Vermittlung von Wissensbeständen, die nicht nur narrativ, sondern auch ludisch motiviert sein können. Die zweite Ebene verweist auf die generelle Möglichkeit der doppeldeiktischen Adressierung, die in Bezug auf die Wissensvermittlung ein Spannungsverhältnis zwischen intradiegetisch präsenter Figur und extradiegetischem Adressaten/extradiegetischer Adressatin erzeugt. Hieraus ergibt sich eine dritte Betrachtungsebene, die dieses Spannungsverhältnis in der Erzeugung von Rezeptionsaffekten in den Blick nimmt. Für die weiteren theoretischen Annäherungen ist es relevant, die Begriffe des Wissens sowie der Information, auf die auch Lahn und Meister verweisen, zu differenzieren: Mit Blick auf Erzählstrategien müssen wir zunächst zwischen den Begriffen ‚Wissen‘ und ‚Information‘ unterscheiden. Als Wissen gelten in der Regel interpretierte, das heißt auf ihren Bedeutungsgehalt oder ihre Relevanz hin ausgelegte Informationen. Informationen hingegen beschreiben einen Sachverhalt oder eine Eigenschaft; sie sind im strengen Sinne reine Daten, die erst noch ausgewertet werden müssen, um sinnhaft und nutzbar zu werden. (Lahn und Meister 2016 [2008], 165–166)
Die Interpretation von Informationen stellt eine Voraussetzung für den Prozess der Wissensaneignung dar. Betrachtet man die erzählerische Kommunikation aus der Perspektive der Wissensvermittlung, ergeben sich gemäß ihrer Doppelstruktur zwei Untersuchungsfelder: zum einen das Wissen, das die Erzählinstanz durch die Verarbeitung der erfassten Informationen an die Adressat/-innen im Erzählprozess vermittelt. Dieser Aspekt betrifft die Operationen des Erfassens und des Darstellens, die eng mit der Erzählperspektive zusammenhängen. In diesem Kontext spielt das relationale Verhältnis von figuralem und narratorialem Wissen eine Rolle, das im Sinne eines Fokalisierungsbegriffes auf die Restriktion bestimmter Wissensbestände zielt (vgl. Skov Nielsen 2013, 75–76). Zum anderen – und hierauf verweisen Lahn und Meister insbesondere – ist die Wissensvermittlung auch ein funktionaler Aspekt von Erzählungen im Allgemeinen: „Erzählen lässt sich folglich als Prozess beschreiben, in dem Informationen so kombiniert werden, dass daraus ein Wissen entsteht.“ (Lahn und Meister 2016 [2008], 166) Unter Rückgriff auf das eigene Weltwissen nehmen Rezipierende auf die Informationen einer narrativen Darstellung Bezug und eignen sich durch die subjektive Interpretation neue Wissensbestände an oder aktualisieren bereits bekanntes Wissen. Neben dieser Vermittlungs- und Aneignungsfunktion hat die Erzählung daher auch eine Speicherfunktion, die durch bestimmte mnemotechnische Verfahren – zum Beispiel Wiederholungen oder Versinnbildlichungen (vgl. Lahn und Meister 2016 [2008], 168) – realisiert wird. Gleichzeitig können durch die Lenkung der Informationsvergabe bestimmte ästhetische Affekte bei den Rezipierenden
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erzeugt werden (Spannung, Neugier, Überraschung; vgl. Lahn und Meister 2016 [2008], 167). 5.1.3.1 Informationslenkung durch Spielleitende Die Rollenspielforschung weist Spielleitenden vor allem deshalb eine große Kontrolle über die fiktive Welt zu, da diese durch eine gezielte Informationsvergabe die Handlung entscheidend beeinflussen können (vgl. Fine 2002 [1983], 117; Grouling Cover 2010, 92). In Bezug auf die intersubjektiv konstruierte storyworld bedeutet dies, dass die von Spielleitenden eingesetzten Erzählinstanzen gemäß ihrer Einflusssphäre deutlich auf die Selektion und Ordnung der jeweiligen Geschehensmomente einwirken. Damit ist eine Festlegung auf bestimmte Qualitäten der Elemente, also die Auswahl bestimmter Eigenschaften, die diesem Geschehen zugrunde liegen (vgl. Schmid 2014 [2005], 224–225), verbunden. Diese Selektionstätigkeit soll am Beispiel folgender Erzählrede belegt werden: S5: Pathfinder 2 S5.1: Einstieg SL:
Ve: SL:
(…) Ähm (2.0) Neben euch, äh:: als ihr dann (.) zum Heck geführt werdet befinden sich dort noch ein paar weitere Personen äh an Deck, ähm (.) das ist einmal ein: Haudegen mit (.) blauem Kopftuch, das ist er hier unten? ((Deutet auf einen ausgelegten Zettel)) Ihr könnt auf dem Bild ist es nicht zu sehen aber, der hat sein blaues Kopftuch ((fasst sich an den Kopf, zieht die Hand bis zum Ohr hinunter)) so ein bisschen (.) weiter auf der anderen heruntergezogen, und ihr seht auch ((bedeckt sein rechtes Ohr)) (1.0) da fehlt halt das Ohr? °Oh nein?° U::nd ähm der steht halt auch mit verschränkten Armen, ähm (.) sieht auch extrem angepisst aus und verschränkt auch so ein bisschen (.) die (.) zwinkert so ein bisschen mit den Augen zusammen, scheint sich auch noch nicht so besonders an das Licht gewöhnt zu haben, ähm:: des weiteren seht ihr eine Halblingsdame mit rotem Schal das ist die hier unten, ((deutet auf einen Zettel)) sie hat langes braunes Haar. Ähm: un:d (.) ihr seht halt dass sie die ganze Zeit ((blickt sich um)) .hh (.) .hhh (.) guckt auch nochmal zu de:m äh: Typen der sie hier hochgeholt hat ((faucht)) äh: scheint sich echt beherrschen zu müssen,(1.0) und äh (.) zuletzt eine sehr frivole Gestalt ihr seht
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einen weiteren Gnom, in ä::h (.) sehr auffälliger lilaner Kleidung, (.) ähm tatsächlich anscheinend bisher der Bestgepflegteste hier er hat einen schönen gezwirbelten Bart ((fährt mit beiden Händen mit einer Zwirbelbewegung an seiner Oberlippe entlang)) eine Augenklappe (.) ähm ein gepflegtes Gesicht. Wenn ihr näher hinseht ist er vielleicht auch ein bisschen gepudert? 00:24:56–00:26:24 Der Spielleiter (SL) beschreibt hier ein Geschehen, in dem die Spieler/-innenfiguren mit einer Gruppe weiterer Personen auf einem Schiff zusammentreffen. Es wird eine Figur („ein Haudegen“) sowie deren Handlung („steht halt auch mit verschränkten Armen“/„zwinkert so ein bisschen mit den Augen zusammen“) beschrieben. Außerdem werden dieser Figur weitere Eigenschaften zugeordnet, indem einzelne Details herausgegriffen werden: Das fehlende Ohr sowie seine Reaktion auf die Umgebung („sieht auch extrem angepisst aus“/„scheint sich auch noch nicht so besonders an das Licht gewöhnt zu haben“). Die mündliche Beschreibung des fehlenden Ohres wird zudem durch eine deiktisch-gestische Untermalung unterstützt, um das Aussehen der Figur durch eine visuelle Imaginationshilfe (Bild auf einem Zettel) näher zu charakterisieren. Dass genau diese Elemente des Geschehens aufgegriffen werden, liegt in der Selektionstätigkeit der vom Spielleiter eingesetzten Erzählinstanz begründet: So mag das fehlende Ohr eine Illustration der Figurencharakterisierung als „Haudegen“ sein und die Reaktion der Figur auf die Situation Ähnlichkeiten mit dem Schicksal der Spielenden-Charaktere hervorrufen, denn auch sie wurden einige Zeit vorher aus einem dunklen Raum an Deck des Schiffes geführt und mussten sich erst an das Licht gewöhnen. Derartige Selektionstätigkeiten hängen nach Schmid (2014 [2005], 227) eng mit der Perspektive zusammen, aus der das Geschehene erfasst wird. Marker einer spezifischen Perspektivdarstellung und einer narrativen Positionierung im angeführten Beispiel sind eine Adressierung in der zweiten Person Plural sowie eine räumliche und perzeptive Wahrnehmung. Dass hier das Erfasste durch das Prisma der Figuren auch verarbeitet wird, deutet das Verhalten der dargestellten Figur an, indem das Stehen mit verschränkten Armen und das Augenblinzeln als Reaktion auf das vorher Erlebte gedeutet wird. Die Realisierung der Figurenperspektive wird vornehmlich durch das Wort „scheint“ verdeutlicht, das die Interpretation des beschriebenen Verhaltens der gesehenen Figur in Teilen im Uneindeutigen belässt. Eine derartige Informationsvergabe durch das Prisma der Figuren findet sich im Analysekorpus häufig in den narrativen Sequenzen der Spielleitenden und stellt eine Form der Informationslenkung dar:
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S6: Dungeons and Dragons 1 S6.2: Shanty Town SL:
Xe:
Ihr seht (.) ä:h zu eurer Linken ((zeigt nach links)) einen: riesen Haufen (.) an was aussieht wie Abfälle? Dahinter s-erkennt ihr die: äh: die kleinen Häuser wo offenbar die Wohnquartiere der Stadt sind, (.) direkt vor euch ist ein hoher Turm (.) äh:m (.) weiter rechts ((zeigt nach rechts)) davon seht ihr ein weiteres hohes Gebäude, und dazwischen könnt ihr so ein bisschen (.) die Arena sehen wo offenbar immer noch ein Kampf stattfindet? Aber ihr könnt euch denken dass: vielleicht ein bisschen Aufruhr kommen würde wenn die beiden Wachen hinter euch .h da wieder hinko-da wieder zurückkommen und sagen irgendwie ja (.) die Gefangenen sind weg. ((Fasst mit der Hand an ihr Kinn deutet in die Runde)) [Was tut ihr.] [Wenn es denen auffällt]. Ähm (.) der Turm sieht der aus wie ein Wachturm oder ist das einfach ein Turm. 01:23:24–01:24:22
In ähnlicher Weise wie im vorangegangenen Beispiel erzählt die Spielleiterin (SL) durchgehend aus der Perspektive der von den Spielenden geführten Figuren. Sie setzt hier Marker für verschiedene Parameter der Perspektivdarstellung („erkennt“/„seht“/„könnt euch denken“). Durch die Selektion der verschiedenen Elemente, die hier im Blickfeld der Figuren liegen (Haufen/Wohnquartiere/Turm/ Arena), wird zugleich eine Lenkung der präsentierten Informationen und Wissensbestände vorgenommen. Die eingenommene figurale Perspektive vermittelt den Eindruck, dass dies die Elemente sind, die der Figur zentral auffallen. Wenngleich im Pen-and-Paper-Rollenspiel relativ offengehalten wird, wie Figuren in spezifischen Situationen handeln können, greift die Spielerin Xenia (Xe) eines der präsentierten Elemente auf, um innerhalb der Metakommunikation weitere Informationen über jenes zu fordern („der Turm sieht der aus wie ein Wachturm oder ist das einfach ein Turm“). Dies bestätigt die von Grouling Cover (2010, 92) formulierte Feststellung, dass Spielleitende insofern Kontrolle über die storyworld besitzen, als sie den Spielenden nur die Teile dieser Welt erfahren lassen, die sie präsentieren. Durch die Lenkung und Selektion der narrativen Informationen befinden sie sich daher in einer privilegierten Position (vgl. Montola 2008, 32) innerhalb der Spielgruppe, obgleich dieses Privileg nicht die volle Kontrolle über die Entwicklung der storyworld bedeutet. Entscheidend ist hierbei immer noch, wie Spielende diese Informationen interpretieren und mit ihren eigenen narrativen Kommunikationsbeiträgen an diese Präsentation anknüpfen.
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5.1.3.2 Informationsdestabilisierung und -begrenzung Im analysierten Beispiel schließt Xenia mit einer Frage an den Redebeitrag der Spielleiterin an, um die Beschaffenheit einzelner fiktiver Elemente zu klären. Derartige metakommunikative Fragen dienen vor allem dazu, ein intersubjektives Vorstellungsbild der storyworld herzustellen, und beeinflussen die nachfolgenden Handlungen der Teilnehmenden. Spielleitende sind jedoch nicht verpflichtet, alle Fragen vollständig zu beantworten. Dabei ist auffällig, dass auch in der Erzählkommunikation seitens der von den Spielleitenden eingesetzten narrativen Instanzen Strategien genutzt werden, die bewusst Vagheits- und Offenheitsstellen erzeugen. Eine bereits thematisierte Strategie ist die durch perspektivische Subjektivität erzeugte Destabilisierung von Informationsbeständen: S1: Shadowrun S1.2: Schlossknacken Be: SL:
[Ich find das schon ein bisschen] belastend mit dem Alarm Also es gibt-nein es wurde es wurde kein Alarm ausgelöst soweit ihr das sagen könnt, und (.) ihr seht in einem sehr schimmrig (.) äh: ausgeleuchteten Gang seht ihr quasi so (.).h ihr merkt so das ist wie so ein bisschen wie so ein Schachbrett ((hebt die Hände, bewegt sie abwechselnd nach unten)) diese: dieses Gang (.) äh dieses Gangsystem in diesen unteren Ebenen. 00:51:29–00:51:49
Der Spielleiter (SL) erzählt hier aus der Perspektive der von den Spielenden geführten Figuren und beschreibt eine Räumlichkeit, in die die Figuren im Laufe der Handlung eingebrochen sind. Benjamins (Be) Kommentar über einen möglichen Alarm wird vom Spielleiter unter perzeptiv-perspektivischer Darstellung aufgelöst: „nein es wurde es wurde kein Alarm ausgelöst soweit ihr das sagen könnt“. Wenngleich dem Spielleiter offensteht, mittels der narrativen Instanz definitives Wissen über einen möglichen ausgelösten Alarm zu präsentieren, verbleibt die Narration weiterhin in einer figuralen Perspektive und lässt die Möglichkeit offen, dass ein Alarm außerhalb der Wahrnehmung der Spielenden doch ausgelöst wurde. Diese Offenheit illustriert zum einen die Erzählposition und Perspektive der Spielenden und schafft eine Konsistenz der storyworld (es wird nur das vermittelt, was die Figuren tatsächlich wahrnehmen), zum anderen belegt sie das spannungserzeugende Potenzial, das eine reduzierte Informationsvergabe auslösen kann. Der Spielleiter interpretiert Benjamins Kommentar („[Ich find das schon ein bisschen] belastend mit dem Alarm“) als Reflexion des Erzählten und versucht, diesen Rezeptionseffekt durch eine erneute begrenzte Informationsvergabe zu verstärken.
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Derartige Destabilisierungen eröffnen zudem eine ludische Dimension. So wäre es vorstellbar, dass die Spielenden (und ihre Figuren) sich im vorangegangenen Beispiel nicht damit zufriedengeben, dass sie aktuell keinen Alarm wahrnehmen und der Sache genauer auf den Grund gehen wollen. Wie durch ludisches Handeln eine derartige Destabilisierung narrativer Informationen aufgelöst werden kann, soll an folgendem Beispiel gezeigt werden: S2: Dieselpunk 1 S2.1: Einstieg SL:
SL: He: SL: He:
SL: Ga: SL: He: SL: He: SL:
SL: He: SL: He: SL:
Genau okay. Du sitzt gemütlich in deinem Ohrensessel, liest ein Buch (.) auf einmal hörst du draußen Motorengeräusche, irgendwie fahren Autos vor, du hörst (.) Türen schlagen? Äh guckst aus dem Fenster siehst okay da kommt irgendwie jemand? Durch das Treppenhaus hörst du laute (.) äh Militärstiefel (.) die zu dir hochrennen, ((El, Fr, Ga, He und Is lachen)) Und es wird an deine es wird laut und eindringlich an deine Tür geklopft. Okay? Wie gehst du weiter vor. Also ich würde erst mal (.) versuchen aus dem Fenster zu sehen ob ich da (.) etwas erkennen kann (.) was das für Autos sind was das für Leute sind? Genau. Hast du: ähm Menschenkenntnis ode:r ((Lachend)) Nein? ((Alle lachen)) Aber ((lacht)) Okay du hast aber technisches Wissen. Ja:. Das heißt du könntest dir angucken (.) was das für Autos sind. Ja:. Genau da jetzt würfelst du einmal da am besten da in der Schale: (.) dann äh fliegen die nicht weg? Genau((He würfelt)) Würfelst du einmal, du hast? Also eine Zehn und eine Acht das sind Achtzehn, was hast du bei technisches Wissen? ((Schaut auf das vor ihr liegende Dokument)) Hundert. Also hast du einen kritischen Erfolg. U:h. ((Lacht, streicht sich eine Haarsträhne hinter die Ohren)) Richtig gut. Genau. Du guckst aus dem Fenster erkennst mit einem Blick mit einem deinem fachmännischen Auge (.) dass es (.) Scrambler Limousinen sind? ((He nickt kurz)) Die oft äh von den von der
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Regierung (.) äh: genutzt werden, (.) du erkennst direkt da sind mehrere Autos da müssen mehrere Leute drin gewesen sein ((Beat-Geste)) (.) es (.) wie gesagt masch-ähm ähm ähm Autos von-von der Regierung? Und denkst dir deinen Teil dazu. 00:14:49–00:16:22 Die Spielleiterin (SL) etabliert eine Szene, in der die von Heike (He) verkörperte Figur mit einer unerwarteten Situation („auf einmal“) konfrontiert wird. Die Informationen werden durch die Perspektive der Figur dargestellt und beziehen sich auf ein sich näherndes Auto und Personen, die „laut und eindringlich“ an die Wohnungstür klopfen. Heike knüpft an diese Darstellung an, indem sie die Handlung ihrer Figur beschreibt („Also ich würde erst mal (.) versuchen aus dem Fenster zu sehen“), und fordert, die dargebotenen Informationen zu präzisieren („was das für Autos sind was das für Leute sind?“). Die Spielleiterin eröffnet mit der Frage „Hast du Menschenkenntnis“, dass das Spielsystem herangezogen wird. Eine Würfelprobe auf „technisches Wissen“, die von Heike sehr gut bestanden wird („Also hast du einen kritischen Erfolg“/„Richtig gut“), führt zu einer Präzisierung der Informationen über eines der präsentierten Elemente („Autos“). Die Spielleiterin vermittelt weiterhin aus figuraler Perspektive, markiert das dargebotene Figurenwissen jedoch als weniger unklar. Das Erkennen „mit einem […] fachmännischen Auge“ unterstreicht die der Figur attestierte technische Kompetenz, die Heike ludisch mit ihrem Würfelwurf bestätigt hat. Somit hängt der Grad der Informationsvergabe durch die narrative Instanz nicht immer von der Kontrolle der Spielleitenden ab, sondern erfährt durch die ludische Komponente eine Emergenz. Herbrik (2011, 108) bezeichnet derartige Destabilisierungen figuraler Perspektiven als „eingeschränkt zuverlässige Erzähler“, die „zwar selbst keine Unwahrheiten hinsichtlich der zu bespielenden Welt“ verbreiten, jedoch bestimmte Details bewusst verschweigen. Gerade weil der Begriff des eingeschränkt zuverlässigen Erzählens eine Nähe zum narratologisch relevanten Konzept des unzuverlässigen Erzählens evoziert, sollen diese Konzepte zunächst voneinander abgegrenzt werden. Im Falle des unzuverlässigen Erzählens unterscheiden Lahn und Meister zwischen einer mimetischen, theoretischen und evaluativen Unzuverlässigkeit: Mimetische Unzuverlässigkeit liegt vor, wenn Informationen über Handlungsabläufe – im Zusammenspiel mit Figuren, Angaben zu Ort und Zeit etc. – oder Angaben über die konkrete Beschaffenheit der erzählten Welt widersprüchlich, zweifelhaft oder unzutreffend sind und die Widersprüche nicht anderweitig aufgelöst werden können. […]
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Theoretische Unzuverlässigkeit liegt vor, wenn die Aussagen des Erzählers in Bezug auf allgemeine Sachverhalte wenig angemessen oder unzutreffend sind. Evaluative Unzuverlässigkeit liegt vor, wenn Einschätzungen und Bewertungen des Erzählers, die sich auf die jeweilige erzählte Welt beziehen – wie Handlungselemente oder Figuren – nicht zu überzeugen vermögen. (Lahn und Meister 2016 [2008], 189–190)
Narrative Unzuverlässigkeit tritt in den Rollenspielerzählungen im Analysekorpus häufig in figuralen Perspektivdarstellungen auf. Sie ist vor allem dadurch relativ leicht zu identifizieren, dass die intersubjektiv konstruierte storyworld von mehreren narrativen Instanzen geschaffen wird, deren Wahrnehmungen durch Spielleitende ratifiziert werden können. Diese Ratifizierung wird dabei durch die Kommunikation in anderen frames vollzogen, was es den Spielenden erleichtert, die Unzuverlässigkeit zu bewerten. Ein Beispiel für eine derartige Unzuverlässigkeit stellt im Analysekorpus die Figur Kay dar, die von der Spielerin Theresa (S5) verkörpert wird: Der kindlichnaive Kay missinterpretiert das Verhalten seiner Widersacher in vielen Fällen als freundlich und spielerisch-herausfordernd, wohingegen die anderen Hauptfiguren zumeist unter den Schikanen ihrer Gegner leiden. In seiner Funktion als autodiegetische Erzählinstanz stellt sich Kay als evaluativ-unzuverlässig dar, da er Einschätzungen über einzelne Figuren äußert, die die von den anderen Spielenden geführten Figuren nicht teilen.11 Im Analysekorpus findet sich keine Form erzählerischer Unzuverlässigkeit seitens der heterodiegetischen Erzählinstanz, die von Spielleitenden eingesetzt wird. Eingeschränkt zuverlässig erscheint die Informationsvergabe dieser Instanz jedoch in Fällen, in denen Leerstellen (vgl. Kap. 4.2.3) im Rahmen der vermittelten Informationen gelassen werden, die imaginative Kohärenz- und Konkretisationsoperationen seitens der Spielenden fordern. Sie stellen somit nicht geäußerte, essenzielle (vgl. Orth 2016, 98–99) Informationen dar, deren Präzisierung eine narrative oder dramaturgische Relevanz aufweisen kann. Herbriks Ausführungen zur eingeschränkten Zuverlässigkeit nähern sich den von Nadine Dablé (2012) beschriebenen Leerstellentypen der Unbestimmtheit sowie der Auslassung an: Dieser Typus ist vornehmlich durch die „Partialität der gegebenen Informationen“ gekennzeichnet und bietet bereits einige Informationen, „die als Basis für die Ver Der Begriff der erzählerischen Unzuverlässigkeit scheint auf den ersten Blick im Falle des Penand-Paper-Rollenspiels schwerlich anwendbar, da die Teilnehmenden eine widerspruchsfreie, intersubjektiv konstruierte storyworld anstreben, die gleichzeitig durch mehrere Erzählinstanzen erschaffen wird. Da erzählerische Unzuverlässigkeit in der doppelten Kommunikationssituation vornehmlich an die narrative Instanz gebunden ist (vgl. Lahn und Meister 2016 [2008], 190), die von den realen Sprecher/-innen eingesetzt wird, ist es möglich, eine storyworld gleichzeitig aus einer zuverlässigen und einer unzuverlässigen Perspektive zu gestalten.
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vollständigung dienen und die somit steuernd auf die Konkretisation einwirken können“ (Dablé 2012, 112). Während in verschiedenen darstellenden Medien diese Leerstellen zwar rezeptional wahrgenommen werden können, jedoch wenig Möglichkeit besteht, sie valide zu füllen, kann im Pen-and-Paper-Rollenspiel durch das eigene Einwirken eine Konkretisierung der Informationen bewusst eingefordert werden. Der von Dablé (2012, 122) beschriebene Leerstellentyp der Auslassung zeichnet sich durch das Fehlen jeglicher Information aus. Dieser Mangel scheint jedoch im Kontext der sich entwickelnden Narration so relevant zu sein, dass es den Rezipierenden an einem bestimmten Zeitpunkt auffällt, „dass ihnen zur Vervollständigung der Story aus den Elementen des Plots relevante Hinweise vorenthalten werden“ (Dablé 2012, 122). Auch hier besteht für die Rezipierenden der meisten darstellenden Medien nur die Möglichkeit, diese Leerstelle durch subjektive Interpretationen zu füllen oder auf eine Auflösung der Leerstelle zu warten. Im Pen-and-PaperRollenspiel werden diese Auslassungen teilweise bewusst gesetzt, um eigenes Handeln zu motivieren. So ist es in bestimmten Fällen nötig, Leerstellen aufzudecken, um die Erzählhandlung weiterzuführen. In Einzelfällen ist eine derartige Auslassung von Informationen dramaturgisch relevant. Im Szenariomodul „Das Geheimnis des Schwarzwaldhofs“ (Heller 2012) werden die Hauptfiguren mit einer außerirdischen Lebensform konfrontiert, die Menschen verschlingt und klont. Auch die von den Spielenden geführten Figuren können Opfer dieses Wesens werden, was aus dramaturgischen Gründen zunächst verschwiegen werden soll: Wir empfehlen daher die zweite Alternative: Die Situation des Überwältigens und Verschleppens wird überhaupt nicht ausgespielt! Wenn also der Spieler ankündigt, sein Charakter suche das Klohaus auf, oder wenn sein Charakter allein in die Küche geht – dann tut der Spielleiter so, als wäre alles ganz normal und beschreibt, wie der Betroffene genau das macht, was er sich vorgenommen hatte. Kein Wort davon, dass jemand überwältigt und geklont wurde! Schließlich wissen die Klone das selbst nicht, warum sollte man es also den Spielern sagen? Dann regt sich auch kein Spieler darüber auf, dass das Ergebnis des Kampfes vorgegeben ist, da er nämlich erst in der allerletzten Szene des Abenteuers erfährt, dass er nicht mehr den „echten“ Charakter spielt. (Heller 2012, 387)
In diesem Fall soll die Auslassung gezielt als dramaturgisches Element implementiert werden, um durch die Informationsbegrenzung einen bestimmten Rezeptionseffekt am Ende der Geschichte zu erwirken. Diese Form der Auslassung grenzt an eine mimetische narratoriale Unzuverlässigkeit, da Informationen über den Handlungsverlauf – beispielsweise einen möglichen Kampf – inkorrekt dargestellt werden, wenn beschrieben wird, der Spielleiter tue so, „als wäre alles normal“ (Heller 2012, 387). Zugleich verdeutlicht das Beispiel das ludische Potenzial, das derartige Auslassungen erzeugen. Die implizite Aufforderung zum Handeln und das Wissen
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darüber, dass nicht immer alle Informationen sofort präsentiert werden, bewegt die Spielenden dazu, gezielt nach weiteren Informationen zu fragen. Neben der Destabilisierung und dem Auslassen von Informationen können die Teilnehmenden der Pen-and-Paper-Rollenspielsitzung die geforderten Informationen über bestimmte Sachverhalte auch verweigern. Wie bereits angeklungen, gleichen die Teilnehmenden ihre mentalen Konstruktionen der storyworld nicht selten in der Metakommunikation über das Erzählte ab, indem sie Einzelheiten nachfragen oder paraphrasieren (vgl. Herbrik 2011, 109). Dies bedeutet jedoch nicht, dass alle Teilnehmenden verpflichtet sind, die gewünschten Informationen zu äußern: S4: Pathfinder 1 S4.1: Goblins SL: Qu: SL: Ol: Qu: SL: Ro: Ol: Ro: Qu: SL:
Gut. Also? (.) ((Spielt ein Musikstück ab)) Sind das mehrere Goblins? ((Nickt)) Die kommen jetzt alle? Wissen wir wie viele? Schwer zu sagen. ((Horizontale Wedelbewegungen mit der Hand)) (3.0) Oh oh. Wir sind noch in der Kneipe hören wir das denn den Tumult? Du hörst doch eh nichts mehr. ((Lacht)) ((Ol lacht)) Bestimmt rennt ihr alle raus. ((Stellt die Musik aus)) We be goblins you be food. (.) Ja? Das hören alle. Den Knall einerseits aha da draußen passiert etwas und das Geschrei die Panik die ausbricht, 00:41:20–01:42:06
Vor dieser Gesprächssequenz deutete der Spielleiter (SL) an, dass eine Gruppe Goblins das Dorf, in dem sich die Spielenden-Figuren befinden, angreifen. Quentin (Qu) und Olga (Ol) stellen darauf drei Nachfragen, die das Ausmaß dieses Angriffes betreffen. Der Spielleiter beantwortet die Frage nach der Anzahl der angreifenden Goblins mit „Schwer zu sagen“ und begründet diese Informationsbegrenzung mit der eingeschränkten perzeptiven Perspektive der Figuren. Diese vernehmen den Angriff lediglich auditiv („Ja. Das hören alle“), nämlich durch einen „Knall“, das „Geschrei“ der Dorfgemeinschaft sowie ein Lied, das die Goblins singen. Dieses wird vom Spielleiter mittels einer Audioaufnahme im Moment der Vermittlung des Geschehens abgespielt.
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Eine derartige Informationsbeschränkung, die durch die figurale Perspektive begründet ist, tritt in den Rollenspielsitzungen des Analysekorpus häufig auf und wird auch von Spielenden genutzt. Im folgenden Beispiel lässt sich dieses Phänomen in einer Figurenbeschreibung der Spielerin Xenia (Xe) erkennen: S6: Dungeons and Dragons 1 S6.1: Einstieg Xe:
Also erstmal ich habe auf jeden Fall darauf aufgepasst ((hält beide Hände an die Seiten ihres Kopfes, führt sie nach vorne)) dass meine Kapuze sehr weit in meinem Gesicht hängt? Also (.) gesichtstechnisch ((winkt ab)) siehst du erst einmal gar nichts, (.) ähm (.) sowieso sehr verhüllt habe menschliche Größe, menschliche Form, aber genauer sehen kannst du erst einmal nichts. 00:07:31–00:07:47
Xenia markiert hier sehr deutlich die Informationsbegrenzung in Bezug auf das Aussehen ihrer Figur („siehst du erst einmal gar nichts“/„genauer sehen kannst du erst einmal nichts“). Sie erzählt aus der räumlichen Du-Perspektivierung einer anderen Figur und begründet diese einschränkende Informationsvergabe durch eine begrenzte Sicht jener Figur auf die eigene Figur. Durch diese Fokussierung auf die figurale Wahrnehmung verbleibt Xenia in Bezug auf die Konstruktion der intersubjektiven storyworld in einer Erzählhaltung, die das über die Figur geäußerte Wissen eng an die Wahrnehmung der anderen Figuren bindet, sodass den anderen Teilnehmenden nur die Informationen vorliegen, die auch ihre geführten Figuren erhalten. Dass dies nur eine Option ist, Wissensbestände zu vermitteln, soll folgendes Beispiel zeigen: S3: Fiasco 1 S3.1: Briefsendung No: La: No: La:
"Hm. (.) Nun (.) ja. Äh äh was wollt Ihr schreiben." ((Lachend)) "Muss ich dir das sagen Ihnen das sagen Maester?" "Nun äh (.) nun äh(.) wenn Ihr selbst schreiben könnt, nehmt das Pergament." ((Überreichungsgeste)) "Ja danke." ((Nimmt die Geste an)) "Ich wahre lieber das (.) Pergamentgeheimnis" ((lachend)) ((nimmt einen Stift in die Hand und führt Schreibbewegungen aus)) "Lieber" also im Geheimen. ((Blickt in die Runde, führt dann weiter Schreibbewegungen aus)) "Lieber Vater. (.) Nein ich streiche lieber noch einmal durch. Geehrter
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Vater. Auch wenn ich Sie noch ehren muss da Sie ja mein Vater sind, möchte ich Ihnen ganz (.) nein (.) mit ÄUßERSTER Freude mitteilen dass ich es zu Castle Black geschafft habe ich werde hier meinen Bruder befreien und wir werden und gegen uns gemeinsam gegen deinen Plan des Nicht-stuns, nicht Nichttuens so (.) ähm: wehren. (4.0) Grüße. Dein (.) ehelicher Sohn ((lachend)) Lennar Morrigan."(2.0)((Faltbewegung, Übergabegeste an No)) So. "Danke Maester für Pergament." 01:21:42–01:22:37 Die Figur von Lara (La) will einen Brief schreiben, dessen Inhalt sie jedoch vor Noels (No) Figur geheim halten möchte („“Ich wahre lieber das (.) Pergamentgeheimnis”“). Während sie in ihrem letzten Redebeitrag zu Beginn eine direkte Figurenrede innerhalb der primären storyworld äußert („“Ja danke.”“), wechselt sie infolge mit der Markierung „also im Geheimen“ in eine Gedankenrede, die den Inhalt des Briefes während des Schreibens rekapituliert. In diesem Fall erhalten die Mitspielenden ein Mehrwissen, das ihre Figuren nicht wahrnehmen, indem die Innensicht einer Figur durch Externalisierung in die intersubjektiv konstruierte storyworld integriert wird. Wenngleich diese Externalisierung eines Figurenwissens, über das lediglich die die Figur verkörpernden Spieler/-innen verfügen, in vielen Fällen freiwillig ist,12 kann es Gründe geben, dieses auch den anderen Spielenden mitzuteilen: Im Falle des von Lara geäußerten Briefinhalts ist eine Externalisierung insoweit notwendig, als sie den Brief an eine von Spieler Matteo verkörperte Figur schickt und diese den Brief in der nachfolgenden Szene erhält. Diese Differenz von Wissensbeständen führt zu einer zweiten Ebene der Informationsvergabe, die im Folgenden näher betrachtet werden soll. Derartige externalisierte Wissensbestände resultieren in einem Gefälle in der intersubjektiv konstruierten storyworld, gekennzeichnet durch eine Divergenz des Wissens zwischen den Spielenden und ihren geführten Figuren. Nach Fine (2002 [1983], 188–189) betrifft dies nicht nur ein Mehrwissen, das dadurch geschaffen wird, dass Spielende über Wissensbestände der storyworld oder das dem Rollenspiel zugrunde liegende Szenario verfügen, auf die die Figur keinen Zugriff hat, sondern auch Figurenwissen, das ein Spieler/eine Spielerin nicht besitzt, da er oder sie aus Gründen fiktionaler Unvollständigkeit (vgl. Kap. 6.1) nicht über das gesamte der Figur zugängliche Wissen über die fiktive Welt verfügt (vgl. Fine 2002 [1983], 192). Spielenden ist diese Divergenz zumeist be-
Gerade wenn Spielleitende nicht geäußerte Informationen über die Figuren benötigen, ist es erforderlich, dass Spielende Informationen teilen müssen, die sie vielleicht nicht preisgeben wollten (vgl. Montola 2008, 32).
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wusst (vgl. Herbrik 2011, 189), sodass teilweise verstärkt darauf geachtet wird, jeweilige Wissensbestände nicht zu vermischen. Dies wird teilweise explizit markiert: S6: Dungeons and Dragons 1 S6.1: Einstieg Wa:
Äh ich bin (.) ä:h (.) ja man sieht n-schon meine feingeistige Natur ich bin (.) wie gesagt ein (.) Barde das weißt du natürlich noch nicht ((zeigt auf Xe)) ähm? 00:08:13–00:08:20
Walter (Wa) liefert in dieser Beschreibung zwei Informationen über seine Figur: Zum einen, dass sie eine „feingeistige Natur“ sei, zum anderen, dass sie sich als Barde verdinge. Die erste Information wird durch Wahrnehmungsparameter markiert („man sieht n-schon“), wohingegen die zweite Information explizit als der anderen Figur nicht zugängliches Wissen („das weißt du natürlich noch nicht“) definiert wird. Es wirkt auf den ersten Blick paradox, dass Walter etwas äußert, was die Figur nicht weiß, doch erscheint diese Aussage vor dem Hintergrund einer doppeldeiktischen Adressierung als relevante Information, die an einen extradiegetischen Adressaten/eine extradiegetische Adressatin gerichtet ist. Walters Einschränkung, dass dieses Wissen „noch nicht“ gegenüber der Figur geäußert wurde, weist auf eine mögliche Relevanz für die weitere Handlung hin. Dieses Bewusstsein für die divergierenden Wissensbestände wird ebenso von den Szenariopublikationen aufgegriffen, und es werden Lösungsmöglichkeiten präsentiert, die Grenzen des Figurenwissens genauer auszuloten: Bei der ersten Begegnung mit dem Herold haben wir von Ihren Spielern eine Etikette-Probe verlangt. Dabei ist der Ausgang der Proben für den Fortgang des Abenteuers unbedeutend – es geht nur darum, die unterschiedlichen Stärken und Schwächen der Helden zu beleuchten. Vielleicht haben Ihre Spieler eine Vorstellung davon, wie sie sich einem Andergaster Herold gegenüber zu benehmen haben – aber ob die Helden das wissen, steht auf einem ganz anderen Blatt. Und dieses Blatt heißt Heldendokument. Etikette ist ein Spezialtalent – das heißt, dass nicht jeder Held dieses Talent überhaupt hat. Ein Held ohne dieses Talent ist deswegen aber nicht zwingend ungehobelt und unhöflich – er hat aber schlicht keine Ahnung von der richtigen Anrede, von Höflichkeitsfloskeln oder der richtigen Reihenfolge, wann wer angesprochen wird. Ein Held, der das Talent hat, die Probe aber nicht besteht, hat zwar grundlegende Ahnung von richtigem Benehmen, ist jedoch in diesem Augenblick verunsichert und kann sich nicht erinnern, wie er sich jetzt am besten zu verhalten hat. Wer die Probe hingegen geschafft hat, dem können Sie das im Text genannte Wissen zukommen lassen. (Don-Schauen 2008b, 10)
Der vorliegende Begleittext sieht das Spielsystem als Element, eine „Nivellierung“ (Herbrik 2011, 146) der unterschiedlichen Wissensstände der Spielenden, aber
5.1 Strategien des Erzähldiskurses
149
auch der Figuren herbeizuführen. Mittels einer „Etikette-Probe“ kann in diesem spezifischen Fall geklärt werden, inwieweit die Spielfiguren das Wissen über ein sozial angemessenes Verhalten haben, ungeachtet dessen, ob den jeweiligen Spielenden ein derartiges Verhalten bereits bekannt ist. Erst wenn diese Spielmechanik erfolgreich abgehandelt wurde, solle den jeweiligen Spielenden „das im Text genannte Wissen“ zukommen gelassen werden. Gerade das letzte Beispiel verdeutlicht, dass es nicht unwahrscheinlich ist, dass Spielende Informationen über die storyworld erhalten, die nur durch bestimmte Figuren wahrgenommen werden und/oder nur für einzelne Spielende bestimmt sind. So ist es vorstellbar, dass nur einzelne Teilnehmende die im vorangegangenen Beispiel vorgeschlagene Würfelprobe bestehen und die daraus hervorgehende Konsequenz nur die von ihnen geführten Figuren trifft.13 Obgleich es in vielen narrativen Darstellungen nicht untypisch ist, dass Rezipierenden ein Mehrwissen über die storyworlds vermittelt wird, beispielsweise in den Fällen, in denen mittels einer distributiven Perspektivdarstellung erzählt wird, erfordert diese Divergenz besondere Aufmerksamkeit der Teilnehmenden einer Rollenspielsitzung. Dies liegt vor allem darin begründet, dass sie trotz dieses Mehrwissens immer noch aus einer eingeschränkten figuralen Perspektive erzählen und somit deutlich zwischen eigenem und Figurenwissen differenzieren müssen, um die kausale Logik einer storyworld nicht zu gefährden. Denn obzwar die von Fine (2002 [1983], 188) geschilderte Beobachtung, „player, person, and character share a brain“, auch für die Narration gilt, da eine figurale Innenperspektive auch gänzlich internal konstruiert werden kann, so bricht ein metaleptischer Transfer von Figurenwissen über die storyworld zumeist mit der welteninternen Logik. Als Lösung bietet sich hier an, diese Wissensbestände bei der Gestaltung der eigenen narrativen Kommunikation bewusst auszublenden. Dem folgenden Beispiel ist ein Dialog zwischen dem Spielleiter (SL) und dem Spieler Aaron (Aa) vorausgegangen, in dem seine Spielfigur Topli mit einem beseelten Schwert gesprochen hat:
Hier entscheiden die Teilnehmenden, inwieweit Informationen nur an einzelne Spielende weitergegeben werden. Herbrik (2011, 190) verweist auf die den Spielfluss behindernde Handlung, immer den Raum zu verlassen, wenn einzelne Teilnehmende bestimmte Informationsbestände nicht mitbekommen sollen, doch bieten sich ebenso Möglichkeiten, durch den Wechsel des Kommunikationsmediums (beispielsweise durch Notizzettel) Informationen gezielt an einzelne Teilnehmende weiterzugeben.
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5 Strategien und Parameter des Erzählens im Pen-and-Paper-Rollenspiel
S7: Dungeons and Dragons 2 S7.3: Privatgespräch SL: Aa: Bi: Aa:
Ihr seht Topli redet kurz mit sich selbst, Hm Ich gehe zu Topli und sage alles klar bei dir? (1.0) Ja wir müssen (.) wir müssen unbedingt (.) ähm: (2.0) wir müssen unbedingt Lootik äh (1.0) finden. 02:54:57‒02:55:13
Der Spielleiter markiert den vorangegangenen Dialog, dem alle Spielenden folgen konnten, als subjektive Darstellung, die nur von der Figur Topli wahrgenommen wurde („ihr seht Topli redet kurz mit sich selbst“). Mit „ihr seht“ adressiert er die Figuren der anderen Spielenden und deutet durch „redet kurz mit sich selbst“ an, dass die anderen Figuren das Gespräch nicht mithören konnten. Birgit (Bi) berücksichtigt diese Setzung, indem ihre Figur Aarons Figur mit einer direkten Figurenrede anspricht („alles klar bei dir?“). Aaron entscheidet sich darauf, keine weiteren Informationen über die subjektive Erfahrung seiner Figur weiterzugeben und fasst mittels einer direkten Figurenrede das Ergebnis des vorangegangenen Dialoges zusammen: „wir müssen unbedingt Lootik äh (.) finden.“ 5.1.3.3 Affektsteuerung durch die Wissens- und Informationsvergabe Die letzte Betrachtungsebene der Wissens- und Informationsvergabe betrifft die Steuerung von Rezeptionsaffekten. Diese Affekte umfassen in Anlehnung an Lahn und Meister die Neugier- und Spannungserzeugung sowie die Sympathielenkung. Neugier stellt eine „grundsätzliche Motivation“ dar, warum Erzähltexte rezipiert werden, dazu „ein genuines Interesse an den Emotionen“, die durch diese Rezeption hervorgerufen werden können. Spannung lässt sich als „Kanalisieren der Neugier“ (Lahn und Meister 2016 [2008], 169–170) beschreiben und kann durch verschiedene Strategien innerhalb der Narration erzeugt werden, die Lahn und Meister (2016 [2008], 170) mit Roland Barthes unter die Kategorien der Auslassung, der Andeutung und der Überraschung zusammenfassen. Die Auslassung umfasst Erzählstrategien der bereits beschriebenen Unbestimmtheits- und Leerstellenbildung, die die Rezipierenden zur Sinnkonstruktion anregen. Im Pen-and-Paper-Rollenspiel kann diese die Spielenden zum Handeln anregen, indem sie ihre agency nutzen, um die Auslassungen durch die eigenen (Figuren-)Handlungen zu komplettieren. Dies kann in einigen Fällen dazu führen, dass Spielende einen für Spielleitende gänzlich unvorhersehbaren Weg wählen und beispielsweise Auslassungen präzisieren möchten, die nicht unbedingt relevant für die gespielte Handlung sind:
5.1 Strategien des Erzähldiskurses
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S1: Shadowrun 1 S1.2: Schlossknacken SL:
Da: SL:
Das siehst du erst mal nicht sieht alles relativ normal aus, aber sehr massiv. Also es ist schon (.) eine eine dicke Tür so. Ähm: und nach links geht halt der Gang erst mal nur weiter. Immer mal wieder eine Tür, Al-aber es sind schon Türen in-andere Türen in der Nähe von diesem Gang. Ja so am Gang so aber es sieht sehr also das ist so das unterste Stockwerk, ((horizontale Bewegung mit der linken Hand)) da wird nichts Wichtiges sein so. Das ist so wahrscheinlich die Putzräume: (.) irgendwelche Lager 00:44:17–00:44:43
Im Beispiel möchte Daniels (Da) Figur einen Gang erkunden, der Spielleiter (SL) beschreibt aus einer Du-Perspektivierung die Wahrnehmungseindrücke („Du siehst“), die durch eine perzeptiv-ideologische Bewertung ergänzt werden („sieht alles relativ normal aus“). Daniel entscheidet sich im Folgenden, der Information über verschiedene Türen, die im Gang gefunden wurden, nachzugehen. Der Spielleiter bestätigt, dass hier Türen zu finden sind, relativiert diese Information jedoch mit „Da wird nichts Wichtiges sein“. Wenngleich es ihm in diesem Fall freigestellt ist, die Informationen über die verschiedenen Räume im Gang zu präzisieren, werden sie vom Spielleiter gelenkt, um Daniel bei seinen weiteren Untersuchungen nicht zu weit vom geplanten Handlungsverlauf wegzuführen. Die Anmerkung, dass an diesem Ort „nichts Wichtiges“ sei, erscheint somit als Doppeladressierung, die sowohl eine perspektiv-ideologische Einschätzung der Figur sein kann als auch ein impliziter Hinweis an Daniel, eine Handlungsalternative zu wählen. Die Andeutung stellt den zweiten Typ der Spannungserzeugung dar, die durch Anspielungen oder Vorausdeutungen Erwartungen weckt (vgl. Lahn und Meister 2016 [2008], 170). Diese lassen sich im Pen-and-Paper-Rollenspiel weniger durch proleptische Handlungssequenzen als vielmehr durch explizite Markierungen erzeugen, die bestimmte Informationen über Figuren, Schauplätze oder Ereignisse betreffen. Am Beispiel der bereits oben vorgestellten Figurenbeschreibung der Spielerin Xenia kann man erkennen, dass sie ihrem Mitspieler Walter Informationen über das Aussehen ihrer Figur vorenthält:
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5 Strategien und Parameter des Erzählens im Pen-and-Paper-Rollenspiel
S6: Dungeons and Dragons 1 S6.1: Einstieg Xe:
Also erstmal ich habe auf jeden Fall darauf aufgepasst ((hält beide Hände an die Seiten ihres Kopfes, führt sie nach vorne)) dass meine Kapuze sehr weit in meinem Gesicht hängt? Also (.) gesichtstechnisch ((winkt ab)) siehst du erst einmal gar nichts, (.) ähm (.) sowieso sehr verhüllt habe menschliche Größe, menschliche Form, aber genauer sehen kannst du erst einmal nichts. 00:07:31–00:07:47
Durch die Markierung, dass Walters Figur „erst einmal nichts“ über das genaue Aussehen von Xenias Figur erfahren kann, wird ein Spannungsmoment erzeugt, da angedeutet wird, dass das Aussehen dieser Figur im späteren Verlauf der Handlung noch relevant sein könnte. Dass Walters Neugier geweckt wurde, zeigt sich im Laufe der Spielsitzung anhand des von seiner Figur geäußerten Bedürfnisses, zu sehen, wie Xenias Figur wirklich aussieht: S6: Dungeons and Dragons 1 S6.2: Shanty Town Wa: SL: Xe:
Wa: Xe:
[Vielleicht könntest] du mir erst mal dein Gesicht offenbaren. Damit ich überhaupt weiß mit wem [ich es hier zu tun habe.] [Mit was ich arbeite.] Ach (4.0) ich bin sehr still ((Beat-Geste, lachend)) für eine sehr lange Zeit. Also für so eine Minute oder so bin ich einfach stockstarr und starre so in die Gegend. (.) Bis ich dann irgendwann seufze und meine Kapuze ((greift mit beiden Händen in Richtung ihrer Schulter, bewegt die Hände zurück)) zurückziehe, und du siehst (.) eine einen Tiefling? (.) Also: (.) ähm mit Hörnern? ((Zeigt mit beiden Händen an die Seiten ihres Kopfes)) Und äh aber sehr halt ähm (.) also sehr blass (.) pinke: ((bewegt die Hände vor dem Gesicht)) Haut also fast menschenähnlich aber ein bisschen (.) zu: pink? Die Augen auch so (.) äh Haare ((deutet seitlich an ihrem Kopf vorbei)) schwarz gefärbt (.) um halt möglichst normal auszusehen und äh meine Hörner sind beide gebrochen (.) also die (.) fangen an sich so hier ((fährt mit beiden Händen an der Seite ihres Kopfes entlang)) ähm (.) zu-zu reinzudrehen? Mhm. Äh: das rechte Horn ist ziemlich nah an der (.) Basis ((zeigt auf die
5.1 Strategien des Erzähldiskurses
Wa: Xe: Wa: Xe:
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rechte Seite ihres Kopfes)) gebrochen, und das andere etwas weiter hinten ((zeigt auf die linke Seite ihres Kopfes)). Aber sind beide gebrochen Okay. (.) Oh das ist kein gutes Zeichen oder? Willst du nachfragen? Du kannst gerne nachfragen. Genau. Wie (.) [ja] [Du] weißt nur nicht WIE VIEL SIE DIR ERZÄHLT. ((Lacht)) 01:32:01–01:33:03
Xenia legt innerhalb dieser Figurenbeschreibung einige Informationen offen, die sie bislang nur angedeutet hatte. Die von ihr verkörperte Figur, die bis zu diesem Zeitpunkt stets verhüllt aufgetreten ist, offenbart sich als nicht-menschlicher „Tiefling“, der als besonderes Erkennungsmerkmal zwei gebrochene Hörner an seinem Kopf trägt. Diese Beschreibung, die durch die Information ergänzt wird, dass die Figur „stockstarr“ dasteht, impliziert, dass es weitere Elemente in ihrer Biografie gibt, die Grund für dieses Verhalten sind. Mit „das ist kein gutes Zeichen oder?“ bewertet Walter in der Metakommunikation das Aussehens der Figur, Xenia bietet im Folgenden an, dass Walters Figur „nachfragen“ könne. Dabei stellt sie den Erfolg jedoch in Frage: „Du weißt nur nicht wie viel sie dir erzählt“. Mit ihrer ersten vorausdeutenden Figurendarstellung nutzt Xenia die Überraschung als weitere Strategie der Spannungserzeugung. Überraschungen basieren auf Leerstellen, die Rezipierenden erst nachträglich bewusstwerden (vgl. Lahn und Meister 2016 [2008], 170). Das Überraschungsmoment in Xenias Beschreibungen liegt in der Gestalt der Figur, die zu Beginn mit „menschliche[r] Größe menschliche[r] Form“ beschrieben wird, von der sich jedoch herausstellt, dass sie kein Mensch, sondern ein gehörnter Tiefling ist. Ein weiteres Beispiel, das den Effekt der Überraschung nutzt, ist die ebenfalls bereits beschriebene Handlung des Szenarios „Das Geheimnis des Schwarzwaldhofs“, in dem die Hauptfiguren durch Klone ersetzt werden sollen. Durch die bewusst gesteuerte Auslassung, dass Figuren von einer außerirdischen Lebensform (im Szenario beschrieben als „Samen des Engels“) überwältigt und verschleppt werden, kann der Effekt der Überraschung in der finalen Szene der Handlung erzeugt werden: Hier sind wir an der eigentlichen Pointe des Abenteuers angelangt, dem für die Spieler hoffentlich unerwarteten Twist: Als die geklonten Charaktere auf einmal sehen, dass ihre „Originale“ im Samen liegen, gönnt der Spielleiter den Spielern den kurzen Moment der Überraschung, bevor er dann in hohem Tempo erzählt, dass nun auf einmal die Erinnerung der Klone komplett wiederkehrt (was zuvor in den Träumen ja nur Erinnerungsblitze waren) – sie erinnern sich, wie sie verschleppt und in den Samen gestoßen wurden, und
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5 Strategien und Parameter des Erzählens im Pen-and-Paper-Rollenspiel
wie sie als Klone aus diesem hervortraten. Die Spieler realisieren nun, dass die Charaktere, die sie zuletzt gespielt haben, nicht echt waren (was 1W2/1W6 STA kostet). (Heller 2012, 390)
Dieser „Moment der Überraschung“ wird mit dem Füllen weiterer Auslassungsund Unbestimmtheitsstellen der vorangegangenen Erzählung angebahnt und schafft letztlich eine Erklärung für die mysteriösen Phänomene, die sich im Zuge des Klonens ereigneten: Seltsame Träume mit „Erinnerungsblitzen“ sowie „Entzugserscheinungen“ (Heller 2012, 388), wenn sich die Helden zu weit vom Ort des Geschehens entfernen. Eine weitere Kategorie, die eng mit der Spannungserzeugung zusammenhängt, ist die Ebene der Informiertheit (vgl. Lahn und Meister 2016 [2008], 171–172), die insbesondere das relationale Verhältnis der Informationsvergabe fokussiert. Bereits erwähnt wurde das Informationsgefälle, das zwischen Spielenden und Figuren existiert. In Bezug auf die intersubjektiv konstruierte storyworld resultiert daraus zumeist ein Informationsvorsprung gegenüber den Figuren. Relevant ist jedoch darüber hinaus das Verhältnis der Spielenden untereinander. Das rollenspielerische Kommunikationsmodell legt nahe, dass es Spielenden möglich ist, höchst subjektive storyworlds zu entwickeln, die sich vor allem aus den Informationen, die die eigene Figur betreffen, speisen (vgl. Kap. 4.2.4). Spielende wissen somit meist mehr über ihre Figuren, als sie externalisieren, und können dazu dauerhaft weitere Informationen, die beispielsweise die Innensicht einer Figur betreffen, während des Spielprozesses hinzuzufügen. Diese Informiertheit über die Figur hat Einfluss auf mögliche Affekte, da der Einblick in die subjektiven Ziele und Bedürfnisse, der zu einem tiefen Verständnis der Persönlichkeit führt, ein mögliches Sympathieempfinden wecken oder verstärken kann (vgl. Eder 2008a, 682). In Relation zu den anderen Spielenden kann dieses Informationsgefälle zu gänzlich unterschiedlichen Bewertungen der Spieler/-innen-Charaktere innerhalb der subjektiven storyworld führen. Ein Sympathieempfinden ist dabei von der Informationsvergabe abhängig, aber auch von der Spannungserzeugung. Denn auch das Mitfiebern bei den Ereignissen, in die die als sympathisch empfundene Figur involviert ist, besitzt ein spannungserzeugendes Moment (vgl. Lahn und Meister 2016 [2008], 172).14
Wie diese empathische oder identifikatorische Beziehung zwischen Spieler/-in und Figur in kognitiver Hinsicht gestaltet ist, soll in Kapitel 6.2 näher thematisiert werden.
5.1 Strategien des Erzähldiskurses
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5.1.4 Präsentation von Rede und mentalen Prozessen In ihrem Kommunikationsmodell des Pen-and-Paper-Rollenspiels differenziert Grouling Cover (2010, 102) zwischen „in-character speech“ und „narrative speech“, die die zentralen Marker für Narrativität im oralen Kommunikationsprozess darstellen. Während in der Rollenspiel-Fankultur in-character im Gegensatz zum Begriff out-ofcharacter generell für das Reden und Handeln aus der Perspektive einer spezifischen Figur steht,15 präzisiert Grouling Cover (2010, 6) die Begrifflichkeit dahingehend, dass sie mit in-character das Ausspielen („acting-out“) einer Figur meint, indem die Figur mit anderen Figuren in (orale) Interaktion tritt („use of quotative markings“; Grouling Cover 2010, 94). „Narrative Speech“ meint hingegen das Reden durch Einsatz einer Erzählinstanz („DM narrates“/„player narrate“; Grouling Cover 2010, 94), wobei hier eine spezifische Perspektive/Adressierung realisiert werden kann. Diese Unterscheidung nähert sich an die narratologischen Kategorien der Präsentation von Rede an. Auch Schmid (2014 [2005], 142) unterscheidet zwischen Erzähl- und Figurenrede: Während die Erzählrede erst im Erzählakt realisiert wird, werden die Reden der Figuren „fingiert als vor dem Erzählakt existierend und in dessen Verlauf lediglich wiedergegeben“ charakterisiert. Wie Lahn und Meister (2016 [2008], 131) betonen, ist der Terminus ,Figurenrede‘ nicht nur auf die „wörtlichen Äußerungen der Figur bezogen“, sondern betrifft auch mentale Prozesse wie „Gedanken, Gefühle und Wahrnehmungen, die mitunter auch als ‚Gedankenrede‘ bezeichnet [werden]“. Sie unterscheiden zwischen drei Formen figuraler Rede, die sowohl für die äußere als auch die innere Rede zutreffen können: Zum einen skizzieren sie die „zitierte Figurenrede“, in der das, was die Figur sagt, als direkte Rede „authentisch“ wiedergegeben wird, zudem die „transponierte Figurenrede“, also die Übertragung einer direkten Rede in eine indirekte Form, sowie letztlich die „erzählte[n] Figurenrede“, in der die Erzählinstanz die eigentliche sprachliche Äußerung der Figur nicht exakt wiedergibt, sondern eine „zusammenfassende Wiedergabe“ (Lahn und Meister 2016 [2008], 129–131) im eigenen Sprachstil liefert. All diese Formen der Figurenrede lassen sich in den Äußerungen der Teilnehmenden einer Rollenspielsitzung wiederfinden. Das folgende Beispiel verdeutlicht das Spektrum der Möglichkeiten, auf das die Teilnehmenden zurückgreifen können:
Das Boardgame Geek RPG Glossary definiert den Begriff Out-of-Character auf zweierlei Weise: „1) An action or discussion made between GM [d.i. Spielleiter/-in] and Players not meant to be performed by characters in game. 2) An action that is not in line with the character’s personality.“ (wavemotion et al. 2009)
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5 Strategien und Parameter des Erzählens im Pen-and-Paper-Rollenspiel
S5:Pathfinder 2 S5.1: Einstieg Uw: SL: Uw: SL: Uw:
SL: Uw:
(2.0) Ja dann würd ich leise auffluchen. Weil (.) ich s- ich sehe nichts ich hab-hab keine Laterne ja. Also du willst leise was? Auffluchen. °Auffluchen.° Was flu-was fluchst du denn? Ähm.(2.0) Pff die-die muss doch hier irgendwo ver- verdammt also ich mein wenn ich- merke dass ich auf einem Schiff bin ich bin ja grad erst von einer Kaperfahrt zurück glaub- [ne?] irgendwie richtig. [Mhm] Äh wieder(.) ähm. (1.0) Ja und würde vermutlich den den vorherigen Käptn, (.) vielleicht ist der daran äh irgen- beteiligt, verf- also ich würd auf [ihn schimpfen fluchen.] 00:13:01–00:13:34
Uwe (Uw) nutzt zu Beginn eine erzählte Figurenrede, indem er zusammenfasst, dass die von ihm verkörperte Figur leise flucht, als sie den Verlust ihrer Laterne realisiert. Der Spielleiter (SL) fordert eine Präzisierung dieses Fluchens und somit eine Redewiedergabe, die sich an die ursprüngliche, konkrete Äußerung der Figur annähert. Uwe folgt dieser Aufforderung, indem er kurz einen Ausschnitt der zitierten Figurenrede wiedergibt („Pff die-die muss doch hier irgendwo ververdammt“), anschließend jedoch wieder in eine erzählte Figurenrede zurückkehrt („also ich würd auf [ihn schimpfen fluchen.]“). Dieses Beispiel illustriert den teils fließenden Übergang von einer narratorialen in eine figurale Rede, den Uwe stimmlich nicht markiert. Es verdeutlich damit den stark interferierenden Charakter der Narration, die den zentralen Ursprung der narrativen Dialogizität und Trialogizität repräsentiert.16 5.1.4.1 Stimmliche Präsenz der zitierten Figurenrede Gerade die Markierung einer dritten Stimme, die mittels zitierter Figurenrede realisiert wird, stellt ein beachtenswertes Phänomen im Pen-and-Paper-Rollenspiel dar. Wenngleich im Theater dauerhaft in dieser trialogischen Form kommuniziert wird
Hierauf baut das Text-Inferenz-Modell Schmids (2014 [2005], 143) auf, das in der Rededarstellung von einer Überlagerung von Figuren- und Erzählertext ausgeht. Auch dieses Modell knüpft an Bachtins (1979) Überlegungen zur Zweistimmigkeit einer Erzählung an.
5.1 Strategien des Erzähldiskurses
157
und die narrative Instanz, die diese Rede wiedergibt, eher mitgedacht wird, verwenden die Teilnehmenden des Rollenspiels verschiedene Markierungsformen, um die Rede der Figur von der Rede der Erzählinstanz abzugrenzen. Dies dient einerseits dazu, Missverständnisse in der Zuordnung des kommunikativen frames zu vermeiden, da aufgrund der von Grouling Cover (2010, 94) umschriebenen in-character speech im Gegensatz zum gedruckten Text kein „use of quotative markings“ möglich ist. Andererseits resultiert die Markierung aus der Präferenz einzelner Spielender, ihre Figuren durch eine stärkere körperlich-stimmliche Präsenz auszuspielen (im theatralen Sinne). Im folgenden Beispiel finden sich zwei Strategien, die die Teilnehmenden nutzen, um eine Figurenrede zu markieren: S3: Fiasco 1 S3.1: Briefsendung Ma: Jo: No: Ma: Jo:
((Hält die Hand über die Augen, blickt in die Luft)) "Was ist das dort in der Ferne." ((Blickt in die Luft)) Ein Rabe. "Mein Herr es ist ein Rabe." ((Lacht)) "Ein Rabe. Was macht ein Rabe hier in unseren Gefilden. Die haben hier nichts verloren." ((Gleitende Handbewegung, pfeifen)) Er trägt eine Botschaft. 01:26:19–01:26:59
In der erste Strategie der Markierung von Figurenrede verändert der Sprecher (No) seinen stimmlich-artikulatorischen Ausdruck deutlich wahrnehmbar, was im Transkriptionssystem durch die Markierung mit Anführungszeichen angezeigt wird.17 Der Begriff des stimmlich-artikulatorischen Ausdrucks beschreibt „situations- und stimmungsadäquat konventionalisierte Gestaltungweisen im Sprechschall, mit denen Sprecher u. a. Rollen-, Gruppen und Handlungsmuster realisieren“ (Bose 2010, 32), und ist durch verschiedene klangliche, lautliche sowie zeitliche Parameter geprägt (vgl. Bose 2010, 35–36). In einer Analyse verschiedener Formen des Kinderspiels stellt Ines Bose (2010, 53) heraus, dass Teilnehmende gerade in spielerischfiktionalen Handlungen den stimmlich-artikulatorischen Ausdruck gemäß ihrer
Markiert wurden hier Äußerungen, deren stimmlich-artikulatorischer Ausdruck sich in Relation zu Äußerungen, die in anderen kommunikativen frames getätigt werden, unterscheidet. Derartig markierte Äußerungen werden insofern als Modulation gesehen, als sie sich rein quantitativ bemessen von der Standardform des stimmlich-artikulatorischen Ausdrucks der jeweiligen Spielenden abheben (vgl. externer Anhang).
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5 Strategien und Parameter des Erzählens im Pen-and-Paper-Rollenspiel
verkörperten (sozialen) Rolle durch die Übernahme konventionalisierter Muster reproduzieren. Auffällig ist hierbei, dass sich diese Reproduktion durch eine deutliche Typisierung und Stilisierung auszeichnet, die „in sehr expressiver Form“ (Bose 2010, 53) vollzogen wird. Die Expressivität dieser Markierungen lässt sich am Beispiel der vorliegenden Rollenspielkommunikation durch die gehäuften Akzentuierungen verdeutlichen, die die Beteiligten während ihrer Figurenrede nutzen, aber auch durch andere Faktoren, wie eine bewegte Sprechtonhöhe sowie die Veränderung des Stimmklangs. Auch die spezifische Sprachverwendung verweist auf die Realisierung konventioneller Muster: Bose (2010, 54–55) führt am Beispiel der Freizeitinteraktion von Jugendlichen aus, dass derartige Muster nicht nur auf soziale Rollen verweisen, wie es häufig im Kinderspiel der Fall ist, sondern auch mediale Klischees oder Dialekte reproduzieren können. Anknüpfbar an mediale Vorerfahrungen ist dieses Beispiel nicht nur aus dem Grund, da das Ausspielen einer Figur dem Spielen einer Theaterrolle ähnelt, sondern ebenso, weil sich das dem Spiel zugrunde liegende Szenario in der fiktiven Welt der Buch- und Fernsehserie Game of Thrones verortet. Eine derartige Sprachverwendung zielt auf die Reproduktion konventioneller Muster, wie sie in der medialen Darstellung mittelalterlicher Sprache realisiert werden. Eine weitere Strategie der Markierung von Figurenrede, die gleichzeitig Ausdruck von erhöhter Expressivität und figürlicher Präsenz ist, besteht in der Hinzuziehung gestischer (und auch mimischer) Ausdrucksformen. So nutzt Jonas (Jo) im vorangegangenen Beispiel statt einer Modifikation seines stimmlich-artikulatorischen Ausdrucks lediglich eine Geste, um den Eintritt in die Figurenrede zu markieren. Während in diesem Beispiel die Gestik lediglich die Rede unterstützt, ist sie in anderen Fällen von bedeutungstragender Relevanz: S5: Pathfinder 2 S5.2: Auseinandersetzung SL:
Ve: SL: Ve:
Der Vogel fla-flattert ((flattert mit den Händen)) der Halbork macht irgendwie ((Griffbewegung, fauchen)) packt ihn gleich so am (.) am Hals und so ((kräht mehrmals)) ((blickt auf seine geschlossene Hand))(2.0) "Lässt du ihn vielleicht los?" ((Öffnet seinen Mund, führt die Hand langsam zum Mund)) "Der ist roh. Der ist KRANK. Ich würde den nicht essen. Den hat nicht einmal der Käptn bekommen weil er giftig ist." 02:26:23–02:26:43
5.1 Strategien des Erzähldiskurses
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Der Spielleiter (SL) eröffnet die Situation, indem er mittels einer Geste das Flattern eines Vogels sowie die Handlung einer Figur („Halbork“) beschreibt („packt ihn gleich so am Hals“). Veronika (Ve) markiert anschließend die Figurenrede durch eine Modifikation ihres stimmlich-artikulatorischen Ausdrucks („“Lässt du ihn vielleicht los?”“). Der Spielleiter vollführt daraufhin eine weitere Geste, die Veronika als Absicht des Halborks interpretiert, den Vogel zu essen. Dies drückt sie in einer erneuten Figurenrede aus („Ich würde den nicht essen.“). Dieses Beispiel verdeutlicht, dass Figurenreden im multimodalen framework des mündlichen Erzählens mit verschiedenen Strategien der Expressivität verbunden sind, die das Gesagte nicht nur unterstützen, sondern dazu die Möglichkeit zu einer eigenen Bedeutungsgenerierung bieten können. Somit zeigt sich, dass bei der Herstellung körperlicher Präsenz verschiedene gestische Signale im Rahmen der multimodalen Kommunikation genutzt werden: Diese können in Form von metaphorischen Gestern das Gesagte illustrieren (im Beispiel das Flattern der Vogels) oder tragen in Form propositionaler Gesten (im Beispiel das angedeutete Essen des Vogels) zur Bedeutungskonstitution bei. Auch andere gestische Realisierungsformen, wie sie in Kapitel 4.2.2 definiert wurden, sind vorstellbar, da die kommunikative Trialogizität nicht nur die sprachliche, sondern auch die figürlich-körperliche Präsenz betrifft. So können beispielsweise Beat-Gesten auch in Gestalt der Figur die figürliche Rede unterstützen und deiktische Gesten auf andere Objekte im Raum hindeuten. Dass eine solche Deixis nicht nur konkret präsente Entitäten betreffen kann, wie zum Beispiel die Körper anderer Spielender, zeigt folgendes Beispiel, in dem die Spielerin Lara (La) eine deiktische Geste verwendet, um auf eine Gruppe verschiedener Figuren mit unterschiedlichem fiktionalen Status zu deuten: S3: Fiasco S3.1: Briefsendung La:
Ma:
((Blickt auf Ma, lachend)) "KNAPPE. Siehst du hier jemanden ((deutet mit dem sich bewegenden Arm in den Raum)) der Cait Tite heißt." ((Blickt herum, zeigt auf Ke)) "Dort." 01:24:03–01:24:10
Lara modifiziert ihren stimmlich-artikulatorischen Ausdruck, um eine Figurenrede gegenüber einer von Matteo (Ma) dargestellten Figur zu markieren. Mittels einer deiktischen Geste deutet sie auf mehrere abstrakte Punkte im Raum, wobei das verwendete „hier“ sowohl auf die trialogisch-körperlich präsenten Figuren der anderen Spielenden zielen kann als auch auf mögliche andere fiktive Figuren innerhalb des fiktiven Raumes, die im Moment der Figurenrede nicht durch kon-
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krete props in der Wirklichkeit repräsentiert werden. Matteo greift diese deiktische Geste auf und zeigt auf die Spielerin Kerstin (Ke), genauer auf die im Moment der Figurendarstellung ebenfalls trialogisch-körperlich präsente Gestalt der von Kerstin gespielten Figur Cait Tite. Wenngleich eine figurale Rede immer mündlich geäußert wird, bedeutet die realisierte Redeform gleichzeitig das Herstellen körperlicher Präsenz, die die Teilnehmenden gemäß ihrer eigenen Präferenz neben anderen Strategien der Markierung (beispielsweise Inquit-Formeln) nutzen können. Diese bewusste Modifikation des stimmlich-artikulatorischen Ausdrucks, ergänzt und erweitert durch mimischgestische Verfahren, dient nicht nur als Markierung des kommunikativen frames, sondern auch dazu, Beziehungen und Zustimmung der Handlungen der anderen Teilnehmenden herzustellen (vgl. Bose 2010, 53–54). Zudem werden Modulationen teilweise direkt von Spielleitenden eingefordert, um die Involvierung der Teilnehmenden zu steigern (vgl. Herbrik 2011, 158), wie das Beispiel in Kapitel 5.1.4 illustriert: Hier verlangt der Spielleiter den bewussten Transfer von einer erzählten in eine zitierte Figurenrede. Die Bezeichnung als zitierte Figurenrede, die den Eindruck der Authentizität vermittelt, kann zur Einschätzung führen, dass das, was die Erzählinstanz als Figurenrede wiedergibt, exakt so von der Figur geäußert wurde. Hierauf spielt auch der Spieler Daniel (Da) innerhalb des folgenden Beispiels einer Metakommunikation an: S1: Shadowrun 1 S1.3: Nach dem Kampf Da: Ad: Da: SL: Ad: SL:
Ad:
[Sprichst du?] (1.0) Ich hab noch ne sprichst du überhaupt Deutsch? Weil das macht ja keinen Sinn der spricht der Typ auch noch Deutsch. Ich spreche Deutsch ist meine Muttersprache. [Ah okay.] [Mittlerweile] sprechen auch alle Deutsch oder Englisch. Also das ist [ja] [Englisch] auch? [Da habe ich mir jetzt zwei Punkte draufgegeben (.) dann verteile ich die um.] [Ja das lernt man schon in der Schule.] (2.0) Nein also (.) du hast eine Muttersprache und eine sch-andere Sprache die du lernst, deswegen passt es schon so, weil Deutsch deine Muttersprache ist aber (.) [auch du gebe ich ihr könnt aber auch] [Auf Englisch habe ich jetzt zwei Punkte] ((hebt zwei Finger)) damit ich Englisch überhaupt kann.
5.1 Strategien des Erzähldiskurses
SL:
Ad: Da: SL:
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Ja das ist voll okay. Also es-ihr könnt auch quasi davon ausgehen dass die Leute mit denen ihr redet Deutsch oder Englisch können [wenn jetzt einer nur Englisch oder so] Aber [Ach so okay.] Also also reichen auch meine englischen Sprachkenntnisse um mit Leuten (.) zu reden. Ihr könnt äh ihr könnt auch untereinander kommunizieren. Das machen wir jetzt nicht immer dass ihr sagt ich spreche auf Deutsch ich spreche auf Englisch so. Nur wenn ihr jetzt speziell Orkisch Elfisch sprecht und die anderen sollen irgendwas verstehen oder eben nicht verstehen oder Charakter der vorgegeben [hat kann ich nicht.] 01:38:02–01:38:48
Nach einem Gespräch mit einem Nicht-Spieler/-innen-Charakter fragt Daniel Adrian (Ad), ob die von ihm geführte Figur Deutsch sprechen könne, da die Unterhaltung ansonsten zu Verständnisschwierigkeiten geführt hätte. Nachdem Adrian dies bestätigt („Ich spreche Deutsch. Ist meine Muttersprache“), greift der Spielleiter (SL) die Frage auf und setzt fest, dass die Figuren der Spielenden davon ausgehen können, das andere Figuren der fiktiven Welt „Deutsch oder Englisch“ sprechen können. Die Markierung, in welcher Sprache nun gesprochen werde, solle jedoch im Folgenden nicht thematisiert werden („Das machen wir jetzt nicht immer“), mit Ausnahme der Fälle, in denen eine Sprache eingesetzt wird, um exklusiv mit bestimmten Figuren zu kommunizieren. Diese Festlegung repräsentiert ein generelles Phänomen auch anderer medialer Darstellungen, auf das Thon verweist: There may be no intersubjectively valid way to construct what these characters are „actually“ – or, rather, fictionally – saying in the represented storyworld, but it still seems clear, for example, that even though the English language is used for representing character speech, the characters in Louis Leterrier’s blockbuster film Clash of the Titans, Frank Miller’s graphic novel 300, or SCE’s action-adventure God of War are not represented as „actually“ speaking English, since the settings of all of these narrative works are easily recognizable as more or less strongly fictionalized versions of ancient Greece. (Thon 2016, 86–87)
Aufgrund der logischen Inkonsistenz, die der Darstellung geschuldet ist, sind Spielende aufgerufen, das Prinzip des wohlwollenden Verständnisses (vgl. Kap. 3.1.3) anzuwenden, um diese Inkonsistenz in der mentalen Konstruktion der storyworld bewusst zu ignorieren. Dies bedeutet im Rückschluss, dass auch die zitierte Figurenrede nicht vollends authentisch ist, sondern den Eindruck von Authentizität vermittelt, gerade in den Fällen, in denen konstatiert wird, dass innerhalb der storyworld gänzlich andere Sprachen gesprochen werden als die Sprache, in der die Erzählung
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5 Strategien und Parameter des Erzählens im Pen-and-Paper-Rollenspiel
vermittelt wird. Diese Eigenschaft verdeutlicht die trialogische Struktur der narrativen Kommunikation des Pen-and-Paper-Rollenspiels: Denn auch wenn die narrative Instanz durch die Realisierung einer Figurenrede den Eindruck vermittelt, gänzlich zurückzutreten, ist sie immer noch für die Vermittlung und Übersetzung dieser Rede gegenüber ihren Adressat/-innen zuständig (vgl. Lahn und Meister 2016 [2008], 129). 5.1.4.2 Formen der figuralen Gedankenrede Eine ähnliche Besonderheit besteht in der Realisierung der Gedankenrede, auf die bereits in Kapitel 5.1.3 eingegangen wurde. Wenngleich die innerweltliche Logik davon ausgeht, dass nur bestimmte Instanzen Zugriff auf die individuellen mentalen Vorgänge einer Figur haben, werden diese Vorgänge zum Teil in ähnlicher Weise geäußert wie Figurenreden, die innerhalb der storyworld von Figuren mit ihrer eigenen Stimme hervorgebracht werden. Analog dazu gelten die Möglichkeiten, die Lahn und Meister (2016 [2008], 135) der Präsentation mentaler Vorgänge in literarischen Texten zugestehen: Sowohl die zitierte, die transponierte als auch die erzählte Rede können auf die Gedankenrede übertragen werden. In Kapitel 5.1.3 wurde auf mögliche Diskrepanzen des Wissens von Spielenden und Figuren hingewiesen, die entstehen können, wenn mentale Vorgänge anderer Figuren externalisiert werden. Da sich die Markierung von Gedankenrede nicht von den Markierungsformen externalisierter Figurenrede unterscheidet, müssen andere Strategien genutzt werden, um eine Introspektion anzuzeigen. S7: Dungeons and Dragons 2 S7.3: Privatgespräch SL: Aa: SL: Aa: SL: Aa: SL: Aa: SL: Aa:
Der ((deutet mit seinem Stift in den Raum)) Typ hat doch bestimmt auch irgendwas damit zu tun. Wer? Der Typ hier. (3.0) Aber du siehst ja selbst er ist schwer zu überzeugen. Oder soll ich soll ich willst du mit ihm reden. Ich rede nur mit dir. Ich [meinte es auch jetzt] [Sieht der] SIEHT DER AUS FÜR DICH WIE EIN ZWERG? Nein Sieht der aus wie ein Auserwählter von Norin? Nein. Aber ich mei- ja okay in Ordnung. Dann werde ich das versuchen:
5.1 Strategien des Erzähldiskurses
SL: Aa: SL:
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Viel Erfolg. Danke. (4.0) Ihr seht Topli redet kurz mit sich selbst, 02:54:28–02:55:00
Die vorliegende Sequenz behandelt einen Dialog der von Aaron (Aa) gespielten Figur Topli mit einem magischen Schwert, das vom Spielleiter (SL) verkörpert wird. Bis auf eine besonders laute Äußerung seitens des Spielleiters („SIEHT DER AUS FÜR DICH WIE EIN ZWERG?“) finden sich keine signifikanten Marker für Expressivität beziehungsweise die Anzeige einer Figurenrede. In der Kommunikation lassen sich jedoch Zeichen erkennen, dass es sich um eine Gedankenrede handelt. So verweist der Spielleiter in Gestalt des sprechenden Schwertes darauf, dass dieses nur mit der Figur Topli reden könne („Ich rede nur mit dir.“), dazu markiert er durch eine Perspektivdarstellung der anderen wahrnehmenden Figuren („Ihr seht“), dass dieser Dialog auch nur von Topli selbst zu vernehmen war. Es handelt sich folglich um eine Darstellung von Subjektivität, die erst retroaktiv explizit als solche markiert wird. Eine derartige Darstellungsstrategie evoziert eine Nähe zu dem von Thon (2014b, 75) beschriebenen „(quasi-)perceptional overlay“, bei dem die Perspektive einer Figur eingenommen wird, ohne diese Wahrnehmungsperspektive deutlich zu markieren. Wenn Thon (2016, 53) dies mit dem Verweis auf den Film als konventionalisierte Strategie ansieht, um Unzuverlässigkeitseffekte zu erzeugen, repräsentieren derartige Einblicke in die subjektive Wahrnehmung einer Figur im Rollenspiel darüber hinaus eine kurzzeitige szenische Fokussierung auf einen einzelnen Mitspieler/eine einzelne Mitspielerin, der oder die in Interaktion mit dem oder der Spielleitenden tritt. Ein weiteres Beispiel der Darstellung von Gedankenrede stellt eine bereits in Kapitel 5.1.3 analysierte Szene dar, in der die Spielerin Lara (La) einen Brief „im Geheimen“ verfasst: S3: Fiasco 1 S3.1: Briefsendung La:
"Ja danke." ((Nimmt die Geste an)) "Ich wahre lieber das (.) Pergamentgeheimnis" ((lachend)) ((nimmt einen Stift in die Hand und führt Schreibbewegungen aus)) "Lieber" also im Geheimen. ((Blickt in die Runde, führt dann weiter Schreibbewegungen aus)) "Lieber Vater. (.) Nein ich streiche lieber noch einmal durch. Geehrter Vater. Auch wenn ich Sie noch ehren muss da Sie ja mein Vater sind, möchte ich Ihnen ganz (.) nein (.) mit ÄUßERSTER Freude mitteilen dass ich es zu Castle Black geschafft habe ich werde hier
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5 Strategien und Parameter des Erzählens im Pen-and-Paper-Rollenspiel
meinen Bruder befreien und wir werden und gegen uns gemeinsam gegen deinen Plan des Nicht-stuns, nicht Nichttuens so (.) ähm: wehren. (4.0) Grüße. Dein (.) ehelicher Sohn ((lachend)) Lennar Morrigan."(2.0)((Faltbewegung, Übergabegeste an No)) So. "Danke Maester für Pergament." 01:21:48–01:22:37 Lara verbleibt in dieser Sequenz dauerhaft in der zitierten Figurenrede, die aber nach der Markierung, dass der Brief im Geheimen verfasst werde (unterstrichen durch eine metaphorische Geste), in die Gedankenrede wechselt. Dass man innerhalb dieser Rede nicht den Briefinhalt vorgelesen bekommt, sondern mit den Gedanken konfrontiert wird, die sich die Figur während des Schreibens macht, wird vor allem durch die Kommentierungen deutlich, die die Figur bei der Grußformel und im Folgenden äußert („Nein ich streiche lieber noch einmal durch“/„ich Ihnen ganz (.) nein (.) mit ÄUßERSTER Freude“/„Nicht-stuns, nicht Nichttuens so“). Aus diesem Grund nähert sich die hier zitierte Gedankenrede den Formen des Bewusstseinsstroms an, in dem „rational nicht gesteuerte Bewusstseinsabläufe […] möglichst ‚authentisch‘ in all ihrer Inkohärenz“ (Martínez und Scheffel 2008, 66) wiedergegeben werden.
5.1.4.3 Formen der narratorialen Rede Die letzte realisierbare Redeform innerhalb der Erzählkommunikation im Rollenspiel ist die der narratorialen Rede, die immer dann auftritt, wenn keine Figur spricht. Sie manifestiert sich als interferierend, wenn die Rede einer Figur wiedergegeben wird, in allen anderen Situationen in Reinform. Grouling Cover (2010, 89) sieht den Unterschied zwischen in-character und narrative speech unter anderem darin, dass erstere deutlich performativer wirkt, wohingegen letztere stärkere konstitutive Anteile hat und zugleich als deutlicher Indikator für Narrativität erscheint. Wenngleich bereits in Bezug auf die Kommunikation im Rollenspiel (Kap. 4.1) argumentiert wurde, dass auch die Konstitution fiktionaler Propositionen als performativer Akt angesehen werden kann, werden in folgendem Beispiel Aspekte sichtbar, die den Eindruck eines hohen Grades an Narrativität erzeugen. S6: Dungeons and Dragons 1 S6.2: Shanty Town SL:
Okay. Äh:m (.) ihr habt jetzt (.) den: den Bereich der Käfige verlassen, (.) und kommt nun in: wirklich in die Shanty Town in: in die Stadt (.) auf der Insel Farpoint.
5.1 Strategien des Erzähldiskurses
Wa: SL:
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((Singt)) Oh Shanty [Town] Ihr seht (.) ä:h zu eurer Linken ((zeigt nach links)) einen: riesen Haufen (.) an was aussieht wie Abfälle? Dahinter s-erkennt ihr die: äh: die kleinen Häuser wo offenbar die Wohnquartiere der Stadt sind, (.) direkt vor euch ist ein hoher Turm (.) äh:m (.) weiter rechts ((zeigt nach rechts)) davon seht ihr ein weiteres hohes Gebäude, und dazwischen könnt ihr so ein bisschen (.) die Arena sehen wo offenbar immer noch ein Kampf stattfindet? Aber ihr könnt euch denken dass: vielleicht ein bisschen Aufruhr kommen würde wenn die beiden Wachen hinter euch .h da wieder hinko-da wieder zurückkommen und sagen irgendwie ja (.) die Gefangenen sind weg. ((Fasst mit der Hand an ihr Kinn, deutet in die Runde)) [Was tut ihr.] 01:23:21–01:24:15
Als zentrales Argument für die erhöhte Narrativität einer narrative speech sieht Grouling Cover (2010, 102) die Länge derartiger narratorialer Redeformen, was in der Kommunikation zwischen den Teilnehmenden mit einem längeren Rederecht einhergeht.18 Auch im vorliegenden Beispiel wird der Spielleiterin (SL) dieses längere Rederecht eingeräumt, unterbrochen wird sie nur durch eine assoziative Kommentierung des Spielers Walter (Wa), der jedoch keine weiteren Ansprüche auf das Rederecht anmeldet (beispielsweise durch eine weitere Unterbrechung). Beteiligten einer Kommunikation längere narrative Redepassagen zuzugestehen, stellt nach Fludernik (2002 [1996], 58) ein zentrales Merkmal des Übergangs vom oralen zum literarischen Erzählen dar, das besonders die Proliferation der Beschreibung eines narrativen Settings sowie seiner Aktanten begünstigt. Eine solch ausgiebige Beschreibung wird auch im vorliegenden Beispiel vorgenommen, zum einen durch deiktische Äußerungen, die eine raum-zeitliche Verortung konstatieren („jetzt“, „Dahinter“, „dazwischen“ usw.), zum anderen durch Nominalphrasen und Demonstrativpronomina („die Shanty Town“, „die kleinen Häuser“, „die Arena“), die die Elemente einer storyworld evozieren, in der sich die Rezipierenden verorten sollen (vgl. Herman 2009, 113–116). Zugleich lassen sich im Analysekorpus auch längere narratoriale Redebeiträge finden, die formelhafte Einleitungen für das Erzählen integrieren (beispielsweise in S2.1: „wir starten unsere Geschichte: damit“) und somit die Kommunikation explizit als narrativ markieren. Narratoriale Passagen fungie-
Diese Möglichkeit betrifft nicht nur längere Redepassagen von Spielleitenden, sondern kann im Analysekorpus beispielsweise ebenso in den Figurenbeschreibungen der Spielenden eruiert werden (vgl. auch Grouling Cover 2010, 102).
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5 Strategien und Parameter des Erzählens im Pen-and-Paper-Rollenspiel
ren also als Indikator für Narrativität, weil sie in zweierlei Hinsicht konstituierend wirken: Einerseits, um die nachfolgende Kommunikation als narrativ interpretierbar zu markieren, andererseits, um Bedingungen festzulegen, die den Rahmen der anschließenden Erzählakte definieren.
5.1.5 Zeitgestaltung Der Parameter der Zeitgestaltung lässt sich gemäß der strukturalistischen Erzähltheorie (vgl. Genette 2010 [1994], 17) in drei Kategorien einteilen: Erzählzeit (Rezeptionszeit), erzählte Zeit und der Zeitpunkt der Narration. Während die beiden ersten Kategorien die Zeitrelationen im Kontext der dargestellten Ereignisse der histoire und ihrer Vermittlung auf der discours-Ebene betrachten, betrifft der Zeitpunkt einer Narration das Verhältnis der Erzählung zu ihrem Kommunikationsakt. In ähnlicher Weise wie in der Theatererzählung (vgl. Horstmann 2018b, 138–139) ergeben sich diesbezüglich einige Besonderheiten, die vor allem mit dem Aspekt der liveness des performativen Erzählens einhergehen. Im Gegensatz zu produzierten Erzählungen, die erst nachträglich rezipiert werden, lässt sich die Erzählzeit im Pen-and-Paper-Rollenspiel einigermaßen genau bestimmen, da sie maximal die Zeit der abgehaltenen Spielsitzung umfasst. Im Gegensatz zur Theateraufführung (vgl. Horstmann 2018b, 143) lässt sie sich jedoch in keinem Fall mit der Zeit der Spielsitzung gleichsetzen, da in dieser nicht nur die narrative Kommunikation, sondern auch ludische und andere Formen der Alltagskommunikation realisiert werden. 5.1.5.1 Zeitpunkt des Erzählens Für das Erzählen im Theater verweist Horstmann (2018b, 140) in Bezug auf den Zeitpunkt der Narration darauf, dass dieser zumeist unmarkiert ist, da eine Markierung – beispielsweise durch verbalsprachliche Tempuswahl – fehlt. Im Pen-andPaper-Rollenspiel wird der Zeitpunkt des Erzählens durch die Präsensnarration der Erzählinstanz markiert, was in allen aufgezeichneten Sitzungen des Analysekorpus der Fall ist. Ein Erzählen im Präsens, wie es auch in der verbalschriftlichen Narration vorkommen kann, suggeriert Unmittelbarkeit, die in der Literatur jedoch nur annähernd stattfinden kann. Wie Genette (2010, 141) und Gerald Prince (1982, 27) betonen, ist das nachträgliche Erzählen hier der Regelfall, was häufig auch durch das Präteritum expliziert wird. Eine echte Gleichzeitigkeit, in der das Erzählen und das Erzählte im selben Moment stattfinden, lässt sich hingegen eher durch andere mediale Darstellungen realisieren, im Theater beispielsweise durch die Mauerschau
5.1 Strategien des Erzähldiskurses
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(Teichoskopie; vgl. Horstmann 2018b, 140) und in anderen simultan stattfindenden Erzählformen wie der Live-Reportage (vgl. Lahn und Meister 2016 [2008], 105). Auch im Pen-and-Paper-Rollenspiel findet ein gleichzeitiges Erzählen statt, und zwar nicht nur, weil die ergodischen Elemente des Spiels nur ein Erzählen zulassen, sobald sie eingetreten sind, sondern vor allem deshalb, weil erst das Erzählen über ein Geschehen dieses Geschehen aktiv hervorbringt. Dieses enge Verhältnis von Erzählen und Erzähltem wird zudem durch die Positionierung der Erzählinstanz beeinflusst. Gerade die Du-Perspektive in Verbindung mit einer Präsensnarration erweckt den Eindruck eines unmittelbaren Erlebens des erzählten Geschehens (vgl. Fludernik 2002 [1996], 169), indem die narrative Instanz den Figuren kommuniziert, was ihnen in diesem Moment widerfährt (vgl. Herbrik 2011, 91). Spielende, die diese Figuren verkörpern, verorten sich dabei in einem besonderen Verhältnis von Zeitlichkeit, die die Grenze zwischen Rezipient/-in und dem narrativen Aktanten aufzulösen scheint. Nicht nur durch ihre Stimme, sondern auch durch ihre Mimik und Gestik, mit der sie die Figur verkörpern, wird eine Trennung von „phänomenalem Leib und semiotischem Körper“ (vgl. Horstmann 2018b, 7–8) der Spielenden herbeigeführt, wobei sich nur letzterer in den raum-zeitlichen Strukturen der Geschichte verortet. Diese Besonderheiten des Zeitpunktes des Erzählens üben zwar Einfluss auf das Verhältnis von Erzählzeit und erzählter Zeit aus, bedeuten jedoch nicht, dass gängige narrative Strategien der Zeitgestaltung, wie sie andere darstellende Medien nutzen, gänzlich unmöglich sind. Diese relationalen Verhältnisse von Erzählzeit und erzählter Zeit sollen gemäß der strukturalistischen Erzähltheorie in die Kategorien Ordnung, Dauer und Frequenz (vgl. Lahn und Meister 2016 [2008], 147) unterteilt und im Folgenden betrachtet werden. 5.1.5.2 Ordnung Die zeitliche Ordnung der Erzählung betrifft die „Anordnung der Ereignisse oder zeitlichen Segmente im narrativen Diskurs“ (Genette 2010 [1994], 18). Wenn als Standardfall des Erzählens eine chronologische Ordnung denkbar ist, in der die Ereignisse in der Folge ihres Auftretens dargestellt werden, beschreibt Genette (2010 [1994], 18–19) mit dem Begriff der Anachronie umgestellte Elemente der Narration, die entweder nachträglich oder vorgreifend dargestellt werden. Diese werden als Analepse und Prolepse bezeichnet. Die Analepse ist eine Form der Anachronie, in der die narrative Instanz „nachholend berichtet, was sich früher ereignet hat“ (Lahn und Meister 2016 [2008], 147). Eine solche kann sowohl figural, also die Erinnerung einer Figur betreffend, als auch narratorial, die Erzählinstanz betreffend, realisiert werden (vgl. Lahn und
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5 Strategien und Parameter des Erzählens im Pen-and-Paper-Rollenspiel
Meister 2016 [2008], 148). Das folgende Beispiel enthält eine Analepse, die vom Spielleiter innerhalb seiner einführenden narratorialen Rede vollzogen wird: Shadowrun 1 S1.1: Einstieg SL:
Okay. .hh (.) ihr seid (.) eine Gruppe von Shadowrunnern. Wir schreiben das Jahr Zweitausend (1.0) Zweiundachtzig. Ähm: (.) ihr hattet vo:r einiger Zeit einen Auftrag zusammen gemacht, (.) der auch nur halblegaler Natur war (.) un:d der wurde erfolgreich beendet und ihr habt ihr gemerkt dass ihr als Gruppe eigentlich sehr sehr gut funktioniert (.) sodass ihr euch die Option offengehalten habt (.) im Laufe der Zeit nochmal Kollegen zu sein. Tatsächlich hatte dieser Auftrag Auswirkungen in der Unterwelt. (.) Ein gewisser Mr. Schmidt (.) ist auf euch aufmerksam geworden. Sodass ihr euch alle wieder versammelt habt da er eurer Fertigkeiten bedarf. (.) Ähm: (1.0) ihr habt alle eine Nachricht bekommen. (.) Und es ist Nacht (.) jetzt und die Nachricht klar das habt ihr alle schon gemacht, (.) dass ihr alle: (.) äh: dass du ((blickt Be an)) dein Auto dass du besitzt .hh 00:01:08–00:02:06
Im Beispiel wird sich aus einer narratorialen Position mit einer figuralen Perspektive an vergangene Ereignisse erinnert. Die Figuren der Spielenden, die sich vor dem Beginn der Erzählung bereits aufgrund eines Auftrags kannten, den sie „vor einiger Zeit“ zusammen beendet hatten, hatten ihre Fähigkeit, gut als Team zusammenarbeiten, bereits damals bemerkt („dass ihr als Gruppe eigentlich sehr sehr gut funktioniert“). Diese Analepse wird anschließend um eine weitere Rückblende ergänzt, die näher am geschilderten Geschehen liegt: Die Gruppenmitglieder haben „alle eine Nachricht bekommen“ und sich „alle wieder versammelt“. Im Gegensatz zur Analepse stellt die Prolepse einen Vorgriff auf Ereignisse dar; die narrative Instanz berichtet also „vorwegnehmend, was sich später ereignet hat“ (Lahn und Meister 2016 [2008], 146). Wie auch Lahn und Meister (2016 [2008], 146) für die Literatur konstatieren, ist die Prolepse im Rollenspiel selten, was nicht bedeutet, dass sie nicht möglich ist (vgl. Schmidt 2012, 76). Im Analysekorpus finden sich derartige Prolepsen vor allem für Handlungen, auf die die Spielenden keinen direkten Einfluss haben. Im folgenden Beispiel will die Figur des Spielers Younes (Yo) einen Ort erreichen, an dem eine Aufführung der anderen Spieler/-innen-Charaktere stattfindet:
5.1 Strategien des Erzähldiskurses
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S7: Dungeons and Dragons 2 S7.2.: Aufführung Yo: SL: Yo: Bi:
[°Wie lange brauche ich noch?°] Fünfundvierzig Minuten. Scheiße. ((Lachend)) Du verpasst das Stück. 03:46:43–03:46:51
Während die anderen Spielenden bereits mit der Theateraufführung beginnen, ist Younes’ Figur noch auf dem Weg. Mit der Auskunft, dass seine Figur noch 45 Minuten für ihre Reise benötigt, impliziert der Spielleiter (SL) durch eine Prolepse, dass diese die Aufführung verpassen wird. Spielleitende besitzen aufgrund ihrer Vorbereitung einen Überblick über den Verlauf der Handlung, bringen diesen Vorausblick jedoch innerhalb der betrachteten Daten nicht direkt in die erzählerische Vermittlung ein. Strategien, dennoch den Verlauf der Geschichte anzudeuten, sind zum Beispiel Visionen oder Träume, die den Figuren präsentiert werden. So ereilen die Spieler/-innen-Figuren im Szenario „Das Geheimnis des Schwarzwaldhofes“ (Heller 2012) seltsame Träume, sobald ihr Körper durch einen Klon ersetzt wurde. Diese stark subjektiv markierten Hypodiegesen lassen nur einen begrenzten Blick auf den weiteren Verlauf der Ereignisse zu. Die seltene Realisierung derartiger Anachronien hängt speziell mit dem Erzählprozess im Pen-and-Paper-Rollenspiel zusammen. Längere analeptische oder proleptische Passagen, an denen alle Teilnehmenden partizipieren, laufen entweder Gefahr, nicht an die Ereignisse der Basiserzählung anzuknüpfen oder den Spielenden ihre Wirkmächtigkeit in Bezug auf ihr Figurenhandeln zu entziehen. Spielleitenden würde es in einem solchen Fall nur möglich sein, den Spielenden ein bestimmtes Handeln vorzugeben, was je nach Spielgruppe einen Eingriff in die participant agency bedeuten könnte. Aus diesem Grund verorten sich Analepsen und Prolepsen zumeist in den Erzählreden einzelner Beteiligter und haben in der Regel wenig gestalterische Möglichkeit, solange sie unmittelbar an die Ereignisse der Basiserzählung anknüpfen. Wie das zuvor betrachtete Beispiel der narratorialen Rede eines Spielleiters zeigt (S1, S1.1), bietet sich aus diesem Grund ein höheres Potenzial für die Realisierung externer Analepsen (vgl. Genette 2010 [1994], 28) oder Prolepsen (vgl. Genette 2010 [1994], 41) an, also solche, die sich auf narrative Episoden beziehen, die vor oder nach der eigentlichen Basiserzählung eintreten. Lahn und Meister verweisen darüber hinaus auf eine dritte Ausprägung der Anachronie, die Genette in seinen Ausführungen nicht berücksichtigt: Die „Simu-
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lepse“ (Lahn und Meister 2016 [2008], 149), also das Erzählen multilinearer Handlungen. Während die Verfasser/-innen einräumen, dass multilineares Erzählen in der Literatur nur sukzessive in Form einer Linearisierung erfolgen kann, sodass die Erzählinstanz nach Schilderung des ersten Ereignisses einen zeitlichen Rückschritt machen muss, um das zweite, parallel stattfindende Ereignis zu erzählen, ermöglichen andere Medien, wie beispielsweise der Film und das Theater, durch split-screen-Techniken Handlungen auch parallel zu zeigen (vgl. Lahn und Meister 2016 [2008], 149). Das Pen-and-Paper-Rollenspiel offeriert beide Möglichkeiten. Zum einen können Teilnehmende gleichzeitig miteinander agieren, um beispielsweise Privatgespräche zwischen den geführten Figuren zu realisieren. Da dies gerade bei größeren Gruppen zu Kommunikationsschwierigkeiten führt, solange sich alle Beteiligten noch am selben Tisch befinden, werden zum anderen auch sukzessiv-linearisierte Vermittlungen vollzogen. Dies betrifft insbesondere die Fälle, in denen Spielleitende an beiden Ereignissen beteiligt sind oder den Ausgang beider Ereignisse vernehmen müssen, da sie relevant für den Fortgang der Erzählung sind. Das folgende Beispiel verdeutlicht, wie eine multilineare Ereignisführung strukturiert werden kann: S7: Dungeons and Dragons 2 S7.3: Privatgespräch Zu: SL: Zu: SL: Bi: SL: Bi: Yo: SL: Bi: SL: Bi: SL: (…) SL: Yo:
Kann ich auf den Vogel klettern? Von mir aus? Ä:hm (.) ich versuche auf den Vogel zu klettern. Er lässt dich klettern. Ich zaubere Charm Person. Auf ihn. Na- auf [den Elfen.] [Den Elfen] Ja bitte. Ja aDu zauberst, (.) warte. Zeig mal nochmal genau was der Zau-ber macht? Younes kannst du es gerade raussuchen? Suchst du den einmal für mich raus Younes ich habe kein Handy mit seitzTopli was machst du. ((liest vor)) This (.) Charm makes a human creature regr- you- at is-
5.1 Strategien des Erzähldiskurses
SL: Aa:
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Einmal den Zauber? ((deutet auf Yos Handy)) (2.0) Rettungswurf (.) u:nd (4.0) Mhm. ((würfelt)) Okay. Ich spreche zu Norin. 02:51:56–02:52:31
Die Spieler/-innen-Charaktere befinden sich in diesem Beispiel zwar am selben Schauplatz, vollziehen jedoch unterschiedliche Handlungen: Zumas (Zu) Figur möchte auf einen großen Vogel klettern, Birgits (Bi) Figur einen „Elfen“ bezaubern und Aarons (Aa) Figur zu seinem magischen Schwert („Norin“) sprechen. Der Spielleiter (SL) handelt diese Handlungsbekundungen sukzessive ab, indem er im Falle von Zuma im fiktionalen frame die Reaktion des Vogels beschreibt („er lässt dich klettern“), im ludischen frame der Kommunikation Younes (Yo) beauftragt, die spielerischen Auswirkungen des Zaubers „Charm Person“ herauszufinden, und anschließend Aaron im fiktionalen frame fragt, was seine Figur unternimmt („Topli was machst du.“). In der Zwischenzeit interpretiert er zudem einen Würfelwurf, der den Erfolg des Zaubers bedingt. Dieses Beispiel zeigt, dass ein Figurenhandeln im fiktionalen frame häufig eine Reaktion der Spielleitenden erfordert, was ein sukzessives Abhandeln der multilinearen Ereignisse nötig macht.
5.1.5.3 Dauer Als zweite Kategorie der temporalen Vermittlung ist die Dauer einer Erzählung zu nennen. Sie betrifft die Relation zwischen der erzählten Zeit und der Erzählzeit und lässt sich gemeinhin unter dem Begriff des Erzähltempos oder der Erzählgeschwindigkeit subsumieren (vgl. Lahn und Meister 2016 [2008], 152). Zentrale Kriterien, um das Erzähltempo zu bestimmen, sind einerseits die „Granularität der Informationen“ (Lahn und Meister 2016 [2008], 152), also wie detailliert die Ereignisse beschrieben werden. Je reichhaltiger die Informationen gestaltet sind, die zur Beschreibung der Elemente sowie der Stimmung oder Atmosphäre einer storyworld vermittelt werden, desto langsamer ist das Erzähltempo (vgl. Wolf 2012, 28). Andererseits sind auch bewusste Auslassungen, Dehnungen oder Raffungen Einflussfaktoren für die Erzählgeschwindigkeit, die die Erzählinstanz je nach Relevanz der präsentierten Ereignisse implementieren kann. Hieraus ergeben sich drei Kategorien für das Verhältnis von Erzählzeit und erzählter Zeit: Ein zeitdeckendes Erzählen liegt vor, wenn erzählte Zeit und Erzählzeit annähernd übereinstimmen (vgl. Martínez und Scheffel 2016 [1993], 42); dies ist zum Beispiel in der verbalen Narration in eher szenischen Erzählsequenzen der Fall, wenn Figuren direkt miteinander kommunizieren und die extradiegetische Erzählinstanz keine weiteren erzählerischen Einschübe und/oder Kommentare hinzufügt (vgl. Lahn und Meister 2016 [2008], 155). Zeitdehnendes Erzählen tritt auf, „wenn die für die Darstellung
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5 Strategien und Parameter des Erzählens im Pen-and-Paper-Rollenspiel
eines Ereignisses verwendete Erzählzeit – wie in einer Art Zeitlupe – deutlich länger ist als die Zeit, die das Ereignis selbst beansprucht“ (Martínez und Scheffel 2016 [1993], 46). Der Extrempunkt einer Zeitdehnung ist die Pause, in der kein Zeitvergehen innerhalb der storyworld erkennbar ist. Dies ist zum Beispiel bei längeren „Beschreibungen, Kommentaren oder Reflexionen“ (Martínez und Scheffel 2016 [1993], 47) der Fall. Als letzte Kategorie lässt sich das zeitraffende Erzählen benennen, das eintritt, wenn „die erzählte Zeit deutlich länger ist als die Erzählzeit“ (Lahn und Meister 2016 [2008], 154). Auch hier lässt sich mit der Ellipse eine Sonderform der Zeitraffung anführen, die für einen Zeitsprung im narrativen Text steht. Zeitraffendes Erzählen sowie Ellipsen treten häufig in Erzählungen auf (vgl. Lahn und Meister 2016 [2008], 152), da die einzelnen einer Handlung zugeordneten Ereignisse in der zeitlichen Dynamik der storyworld zumeist nicht lückenlos aufeinander folgen. Im Pen-and-Paper-Rollenspiel lassen sich alle der genannten Kategorien des Erzähltempos realisieren (vgl. Schmidt 2012, 76). So tritt ein zeitdeckendes Erzählen, bei dem sich Erzählzeit und erzählte Zeit deutlich annähern, in Erzählsequenzen auf, in denen ein szenischer Erzählmodus gewählt wird: S5: Pathfinder 2 S5.1: Einstieg Th: Ve: Th: Ve: Th: Ve: Th: Ve: Th: Ve: Th: Ve: Uw:
"Sag mal weiß jemand wo wir si:nd?" "We- wer spricht denn da überhaupt." "Also ich bin Kay. Und du?" "Ich bin Ronja." (3.0) "Dachte gerade das bringt Unglück wenn Frauen auf dem Schiff sind?" (2.0) "Das glaub ich nicht. (1.0) Das ist total bekloppt." Ne. (.) Ne (.) (1.0) "Na wenn du meinst, (2.0) aber- das war eben nicht Ronja oder- das warst nicht du oder." "Was meinst du?" "D-der g-gesagt hat dass dieser Käptn Schuld ist." "Hör ich mich an wie ein fluchender Mann?" "Ja deswegen ja." "Ja das war ich nicht" ((lacht)) ((Th lacht)) "Das war ich." 00:14:08–00:14:42
5.1 Strategien des Erzähldiskurses
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Das Beispiel enthält keine Einschübe der narrativen Instanz, da die Spielenden durchweg mit einer Modulation ihres stimmlich-artikulatorischen Ausdrucks arbeiten, die eine direkte Figurenrede markiert. Auch wenn das Gespräch einige Pausen enthält, die möglicherweise in der Kommunikation der Figuren innerhalb der storyworld gesetzt werden, findet ein zeitdeckendes Erzählen statt. Vor allem deshalb, weil das Gespräch mündlich realisiert wird und somit keine zusätzliche Zeitdiskrepanz innerhalb der Rezeption existiert, die die Erzählzeit beeinflussen könnte (beispielsweise unterschiedliche Lesegeschwindigkeiten), ist eine exakte Deckungsgleichheit anzunehmen. Zeitdehnungen und -raffungen werden im Rollenspiel ähnlich wie in anderen Erzählmedien einerseits aus narrativ-ökonomischen beziehungsweise handlungslogischen Gründen genutzt, sodass nur für die Erzählung relevante Aspekte abgehandelt werden, andererseits, da aufgrund von Beschreibungen oder spannungssteigernden Momenten das Geschehen bewusst langsam erzählt wird.19 Weiterhin sind beide Kategorien auch für die (spiel-)funktionalen Elemente des Pen-and-Paper-Rollenspiels von Bedeutung (vgl. Bowman 2010, 114–115). So sind Zeitdehnungen häufig in Situationen zu finden, in denen schrittweise Spielmechaniken abgehandelt werden müssen, beispielsweise in Kampfsituationen (vgl. Schmidt 2012, 76), die in vielen Rollenspielen durch komplexe Regelteilsysteme simuliert werden. Werden diese einzelnen Spielzüge mittels einer Transformationshandlung genauso kleinschrittig in die Erzählkommunikation überführt, kann hier von einer narrativen Zeitdehnung gesprochen werden. Am Beispiel eines durchgeführten Kampfes der Spielgruppe S6 (S6.3, s. externer Anhang) erkennt man, dass die Spielleiterin jede spieltechnisch relevante Aktion der Spielenden in eine narrative Beschreibung der Handlung überführt, um das Ergebnis der Würfelproben auch innerhalb der storyworld zu veranschaulichen. Dass ebendiese Beschreibungen, aber auch ein hinzugezogenes Spielsystem zu Unklarheiten über die in der storyworld vergangene Zeit führen können, illustriert folgendes Beispiel: S1: Shadowrun 1 S1.3: Nach dem Kampf Da:
Wie viel Zeit ist jetzt mittlerweile vergangen seit die von dem Fahrstuhl weggegangen sind?
Diese Einschätzung bezieht sich vor allem auf eine Spielpräferenz, die einen erzählerischen Stil favorisiert. Andere Stile oder Mischformen, die ein simulationistisches Spiel präferieren, integrieren nicht selten Handlungen und Geschehnisse, die nicht unmittelbar mit dem Fortschreiten einer Narration zu tun haben, sondern eher Vorgänge in der fiktiven Welt abbilden.
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SL: Da: SL: Da: Ch: SL: Be: SL:
Da:
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Also bisher im Gebäude war das so eine halbe f-Stunde vergangen und jetzt [quasi eigentlich] [Auf der Ebene] meine ich jetzt. Also auf der [Ebene,] [Also die Zeit] die ich zurückgeblieben bin. Dieser Kampf also wie lange der [Kampf gedauert hat.] [Zwei Minuten.] Ja [kann er ja ein bisschen näher] [Also bis ihr euch da so herangeschlichen ((hebt die Hände, zeigt die Handflächen)) habt bis der dann da gekommen ist der Mann] da war jetzt nicht so viel Zeit dazwischen. [Okay. Okay] Okay. Dann geht das ja noch. 01:32:05–01:32:27
Daniels Figur hat nicht am vorher stattgefundenen Kampf teilgenommen, der etwa 25 Minuten Spielzeit in Anspruch nahm. Eine Teilmenge dieser Zeit entfällt dabei auf die Erzählzeit, in der der Spielleiter die Handlungen der Figuren, die durch Würfelwürfe angedeutet werden, in eine Narration überführt. Daniel (Da) hat bis zu diesem Zeitpunkt keine Kommunikationsäußerungen im fiktionalen frame getätigt, sondern während der Simulation und Darstellung des Kampfes nur als Zuhörer agiert. Nach einer kurzen Spielpause leitet er die Frage ein, wie viel Zeit vergangen sei. Während der Spielleiter (SL) die Frage zunächst missinterpretiert und Daniel die vergangene Zeit innerhalb dieses Handlungsabschnitts mitteilt („Also bisher im Gebäude war das so eine halbe f-Stunde vergangen, und jetzt [quasi eigentlich]“), präzisiert der Spieler Christian (Ch) die Frage in Bezug auf die Dauer des Kampfes. Nach Aussage des Spielleiters habe dieser lediglich „2 Minuten“ gedauert, was ein zeitdehnendes Erzählen innerhalb der Beschreibung der Kampfhandlungen nahelegt. Mit „[Okay. Okay] Okay. Dann geht das ja noch“ verweist Daniel auf den Grund seiner Frage: Die Figuren müssen innerhalb der Handlung zu einer festgesetzten Uhrzeit an einem Treffpunkt erscheinen, um weitere Informationen für ihren Auftrag zu erhalten, und können sich keine größeren Zeitverzögerungen erlauben. Auch das zeitraffende Erzählen kann aus funktionaler Perspektive implementiert werden, was vor allem mit einem reibungslosen Verlauf des Erzählprozesses zu begründen ist. Alle Beteiligten, besonders Spielende, haben das Bedürfnis, ihre Handlungen bedeutungstragend und relevant für die Entwicklung der Narration zu gestalten (vgl. Hammer 2007, 75–76). Dass einzelne Spielende am Prozess des Erzählens nicht beteiligt sind, liegt nicht nur an einem Nicht-Zugestehen einer participant agency, sondern kann auch dadurch begründet sein, dass sie nicht zum Zuge kommen, ihre eigenen Ideen innerhalb der narrativen Kommunikation
5.1 Strategien des Erzähldiskurses
175
umzusetzen. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn Spielende Ereignisse ausspielen, an denen nur einzelne Figuren beteiligt sind. Um die kollektive Autorschaft, die die erzählerische Kommunikation begleitet, für alle Beteiligten in gerechter Weise zu gewährleisten, streben Spielleitende Spielsituationen an, in denen alle Teilnehmenden die Chance haben, zu agieren: S2: Dieselpunk 1 S2.1: Einstieg SL:
Jeweils hinter euch stehen drei der Wachmänner ((setzt mehrfach drei Finger auf den Tisch)) ihr wurdet alle abgeholt? ((Deutet mit geöffneten Händen kreisförmig auf die Gruppe)) Im ähnlichen Sinne? ((Lacht)) Vielleicht mit mehr mal mit mehr mal weniger ähm ähm: ((El, Fr, Ga, He und IS lachen)) Anwendung von Gewalt? Genau. Ihr äh kniet alle in diesem dunklen: ((Fährt mehrfach mit geöffneten Handflächen vor sich her)) Ort ähm (.) hinter euch stehen drei Wachmänner (.) vor euch ((deutet mit beiden Armen nach vorne)) steht frontal eine Limousine die die Scheinwerfer an hat und ihr werdet vom Licht geblendet. ((Lehnt sich mit geöffneten Handflächen leicht zurück)) 00:18:38‒00:19:03
Dieser narratorialen Rede ist eine Szene vorangegangen, in der die Spielleiterin (SL) und die Spielerin Heike (He) die Entführung einer Figur ausgespielt haben. Die Spielleiterin kürzt nun die folgenden Entführungssituationen der anderen Figuren signifikant ab. Sie setzt fest, dass alle Figuren „Im ähnlichen Sinne“ von den Wachmännern abgeholt wurden, manche „mal mit mehr mal weniger […] Anwendung von Gewalt“. Die Spielleiterin führt somit eine retrospektive Zeitraffung durch, um nicht mit jedem oder jeder der Teilnehmenden einzeln diese Szene durchzuspielen. 5.1.5.4 Frequenz Das vorliegende Beispiel grenzt an die dritte Kategorie der temporalen Gestaltung, die Kategorie der Frequenz. Die Frequenz einer narrativen Darstellung betrifft „das Verhältnis der Wiederholungshäufigkeit von Ereignissen“ (Lahn und Meister 2016 [2008], 156) und lässt sich wiederum in drei Kategorien untergliedern: In das singulative Erzählen, in dem ein Ereignis genauso oft erzählt wird, wie es sich ereignet hat; das repetitive Erzählen, in dem ein Ereignis öfter erzählt wird, als es sich ereignet hat; sowie das iterative Erzählen, in dem einmal erzählt wird, was mehrfach geschehen ist (vgl. Lahn und Meister 2016 [2008], 157–158).
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5 Strategien und Parameter des Erzählens im Pen-and-Paper-Rollenspiel
Im Pen-and-Paper-Rollenspiel stellt das singulative Erzählen den Standardfall dar, wenngleich aus oben genannten funktionalen Gründen nicht selten ein iteratives Erzählen favorisiert wird. Wie Lahn und Meister (2016 [2008], 158) betonen, bietet sich das repetitive Erzählen vor allem in Narrationen an, in denen multiperspektivisch erzählt wird. Aufgrund der Existenz mehrerer Erzählinstanzen, die bei der Konstruktion der intersubjektiven storyworld im Rollenspiel beteiligt sind, stellt sich diese Strategie vor allem bei der Darstellung unterschiedlicher Perspektiveinnahmen ein. Generell wird jedoch auch hier mit Zeitraffungen gearbeitet, um die bereits rezipierten Geschehnisse nicht unnötig in die Länge zu ziehen. So wird in der narrativen Sequenz der Gruppe S7 (S7.3), in der die Figur Topli mit einem verzauberten Schwert redet, das Ereignis für die anderen Spielenden wiederholt. Während der Dialog mit dem Schwert mittels einer direkten Figurenrede vollends ausgespielt wird, liefert der Spielleiter anschließend mit „Ihr seht Topli redet kurz mit sich selbst,“ eine sehr verkürzte Version dieses Ereignisses.
5.2 Parameter des Erzählinhalts In Anlehnung an Lahn und Meister (2016 [2008]) ergeben sich für die Betrachtung der histoire-Ebene im Pen-and-Paper-Rollenspiel folgende Parameter: Die Handlung und, darin eingeschlossen, die handlungskonstituierenden Geschehens- und Ereignismomente (vgl. Martínez und Scheffel 2016 [1993], 113‒116), das Thema, die Figuren sowie die räumliche Situierung. In Anknüpfung an die in Kapitel 4 erfolgte Differenzierung zwischen dem Vollzug des Rollenspiels und verschiedenen Vorbereitungstätigkeiten, die unter dem Begriff der Inszenierung zusammengefasst werden, ist davon auszugehen, dass gerade die vorher festgelegten inhaltlichen Elemente die Konstruktion der storyworld im Spielprozess signifikant beeinflussen. So verweist unter anderem Baßler (2010, 554–555) auf die Bedeutung dieser Inszenierungshandlungen, indem er Spielleitenden den „Entwurf eines Abenteuers, das die Helden [d.i. Figuren] zu bewältigen haben“, zuschreibt. Im Falle der Spielenden charakterisiert er zudem die Figurenerschaffung als „ersten Spielschritt“, der vor der eigentlichen Spielsitzung geleistet werden muss. Da gerade die Elemente des Erzählinhalts – also Figuren, Ereignisse und Schauplätze – nach Definition der transmedialen Erzähltheorie zentrale konstituierende Kategorien einer storyworld darstellen, ist es notwendig, die Faktoren ihrer Konstruktion auch in der Inszenierung zu analysieren. Es bietet sich zudem an, die in Kapitel 3.2 entwickelten ludonarratologischen Begrifflichkeiten heranzuziehen, um den Einfluss der ludischen Elemente auf die Konstruktion der storyworld nachzuweisen. Die folgenden Unterkapitel beschäftigen sich mit vier für das Pen-and-Paper-Rollenspiel zentralen Parametern des Erzählinhalts: Der
5.2 Parameter des Erzählinhalts
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Handlung und ihren konstituierenden Einheiten und Strukturierungen, der semantischen Ordnung und dem thematischen Material, den Figuren und ihrer Konstruktion in der Inszenierung sowie den verschiedenen Funktionen des erzählten Raumes.
5.2.1 Elemente der Handlung Der Begriff der Handlung setzt sich je nach erzähltheoretischer Fundierung aus unterschiedlichen Einheiten zusammen. Lahn und Meister (2016 [2008], 218) sehen das Ereignis und das Geschehnis als Basiselemente, die auffällige beziehungsweise unauffällige Zustandsveränderungen beschreiben. Die undifferenzierte Gesamtheit aller Geschehnisse und Ereignisse wird als Geschehen definiert, wobei die Geschichte eine Teilmenge des Geschehens ist, „die für die Bedeutungsabsicht des Erzähltextes relevant ist“ (Lahn und Meister 2016 [2008], 218). Die Geschichte umfasst somit in der Regel alle Ereignisse, aber nicht alle Geschehnisse. Im Folgenden sollen diese vier Elemente vor dem Hintergrund der Eigenheiten des Pen-and-Paper-Rollenspiels beschrieben werden. In Kapitel 5.2.1.1 wird das Geschehnis vom Ereignis unterschieden, um anschließend Markierungsformen und Techniken zur Konstruktion von Ereignissen und Ereignishaftigkeit herauszuarbeiten. Daraufhin wird in Kapitel 5.2.1.2 die Entwicklung der Geschichte näher beleuchtet, um das Verhältnis von Inszenierung und Vollzug des Spiels genauer zu fassen. Anschließend (Kap. 5.2.1.3) wird mit der Handlungslogik ein Blick auf die „Organisationsprinzipien“ (Lahn und Meister 2016 [2008], 226) der Handlung geworfen, um einerseits Beziehungen zu genretypischen Formen des Erzählens herzustellen und andererseits den Einfluss ludischer Prozesse auf die Handlungslogik zu untersuchen. Zuletzt (Kap. 5.2.1.4) wird mit der Serialität ein handlungsübergreifender Aspekt betrachtet, der sich im Rahmen der zeitlichen Situiertheit der Rollenspielsitzung als typisch darstellt. 5.2.1.1 Narrative Ereignisse Die elementare Einheit der narrativen Handlung stellt das Ereignis dar, das eng mit dem Begriff der Zustandsveränderung verbunden ist. Im Gegensatz zu dem von Lahn und Meister (2016 [2008], 216) beschriebenen Geschehnis stellt das Ereignis eine markierte Zustandsveränderung dar, eine Veränderung, die „nach Lage der Dinge nicht erwartet werden konnte oder mit [deren] Ausbleiben man gerechnet oder zumindest darauf gehofft hatte“ (Lahn und Meister 2016 [2008], 217). Dieser Ereignisbegriff konstituiert sich aus zwei erzähltheoretischen Zugängen: erstens aus Lotmans raumsemiotischer Theorie, die das Ereignis als „die Ver-
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setzung einer Figur über die Grenze eines semantischen Feldes“ (Lotman 1972, 332) definiert. Lotman sieht das Ereignis als „kleinste unzerlegbare Einheit des Sujetaufbaus“ (Lotman 1972, 329), wobei er das Sujet als Handlungsablauf (vgl. Lotman 1972, 341) sowie als „ein bestimmtes semantisches Feld, das in zwei sich ergänzende Teilmengen gegliedert ist“ (Lotman 1972, 290) beschreibt. Den Übergang von einer Teilmenge des semantischen Feldes in die andere bildet die Zustandsveränderung des Ereignisses. Anknüpfend an diese Konzeption sieht Anita Schilcher (2013, 201) das Ereignis als „Verstoß gegen die Regularitäten eines Textes bzw. als Verletzung eines Gebots oder Verbots“. Einen zweiten Zugang zum Ereignisbegriff bietet Wolf Schmid, der das Ereignis ebenso als Zustandsveränderung begreift, diese jedoch nicht so eng an die Verletzung von Normen oder Geboten innerhalb einer storyworld knüpft: Das Konzept des Ereignisses wird hier etwas weiter gefasst als bei Lotman. Ein Ereignis ist nicht notwendig die Verletzung einer Norm. Es besteht nicht notwendig in der Abweichung von dem in einer gegebenen narrativen Welt Gesetzmäßigen, dessen Vollzug die Ordnung dieser Welt aufrechterhält. Die Grenze braucht nicht ein Verbot zu bedeuten. Ein Ereignis kann auch darin bestehen, dass eine Figur eine neue Erkenntnis macht, ein falsches Verständnis revidiert, sich zu neuen Werten bekennt, ihre Lebensweise ändert. (Schmid 2014 [2005], 14)
Schmid (2014 [2005], 14) benennt zwei zentrale Grundbedingungen für das Eintreten narrativer Ereignisse: Erstens muss die Zustandsveränderung auch faktisch in der storyworld eintreten, also nicht als „gewünschte, imaginierte oder geträumte Veränderung“ begreifbar sein (wenngleich der Akt des Wünschens, Imaginierens oder Träumens ein narratives Ereignis darstellen kann), zweitens soll sie resultativ erscheinen, indem sie in der storyworld zu einem Abschluss gelangt. Inwieweit eine Zustandsveränderung das Potenzial zur Klassifizierung als narratives Ereignis hat, lasse sich nach Schmid (2014 [2005], 16) anhand von fünf Kriterien bewerten, die als allgemeine Marker für Ereignishaftigkeit angesehen werden können. Das erste Kriterium für Ereignishaftigkeit beschreibt die Relevanz der Zustandsveränderung, also inwieweit diese „in der jeweiligen narrativen Welt als wesentlich empfunden wird“. Das zweite Kriterium stellt die Imprädiktabilität dar, die die Zustandsveränderung im Sinne einer Abweichung von dem in „der jeweiligen narrativen Welt allgemein Erwarteten“ ansieht. Eine solche Abweichung muss, wie bereits erwähnt, keinen Normbruch darstellen, sondern kann sich auch im paradoxalen Sinne als Erwartungsbruch manifestieren; Schmid liefert folglich eine weichere Lesart des Lotman’schen Ereignisbegriffs als Schilcher, nimmt jedoch eine Präzisierung der Kriterien von Ereignishaftigkeit vor. Neben der Imprädiktabilität und der Relevanz der Zustandsveränderung, die er als zentrale Maßstäbe zur Bewertung von Ereignissen ansieht, benennt er mit der Konsekutivität, der Irreversibilität und der Non-Iterativität drei weitere Merkmale, die Ereignishaftigkeit bestimmen kön-
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nen. Die Konsekutivität verweist auf die Folgenhaftigkeit des eingetretenen Ereignisses, also darauf, „wie die Veränderung im Rahmen der erzählten Welt Folgen für das Denken und Handeln des betroffenen Subjekts hat“ (Schmid 2014 [2005], 17). Die Irreversibilität richtet sich ebenfalls auf die Folgen des Ereignisses: Die Ereignishaftigkeit nimmt hier zu, je unwahrscheinlicher es ist, dass der erreichte Zustand rückgängig gemacht werden kann (vgl. Schmid 2014 [2005], 18). Die NonIterativität bezieht sich auf die Wiederholbarkeit von Ereignissen. Je häufiger sich eine Zustandsveränderung wiederholt, desto geringer ist die Ereignishaftigkeit (vgl. Schmid 2014 [2005], 19). Schmid sieht diese fünf Kriterien nicht nur als Maßstab für die narrative Ereignishaftigkeit, sondern ebenso für die Bewertung der Erzählwürdigkeit: In Erzählungen mit hoher Ereignishaftigkeit wird diese in der Regel mit der Erzählwürdigkeit zusammenfallen. In Erzählungen mit niedriger Ereignishaftigkeit kann die Erzählwürdigkeit auf dem Fehlen eines Ereignisses beruhen, das der Leser erwartet haben mag. Obwohl die Imprädiktabilität einer Zustandsveränderung eine wichtige Bedingung für Ereignishaftigkeit darstellt, bildet die Nicht-Erfüllung einer Erwartung an sich noch kein Ereignis. Erwartete, aber nicht eintretende Ereignisse sind das Phänomen, an dem Ereignishaftigkeit und Erzählwürdigkeit deutlich auseinandertreten. (Schmid 2014 [2005], 18)
Wenngleich es nachvollziehbar erscheint, die Relevanz und Imprädiktabilität einer Zustandsveränderung als zentrale Merkmale einer Ereignishaftigkeit zu konstatieren, da eine Abweichung vom Erwartbaren gleichzeitig als Kennzeichen für Narrativität angesehen werden kann (vgl. Herman 2009, 97), ist es nicht immer einfach, diese Merkmale zu bewerten. Dieser Einsicht trägt auch Schmid (2014 [2005], 21) Rechnung, wenn er jene Kriterien als interpretationsbedürftig und kontextgebunden charakterisiert, wobei Kontext die Dimensionen des Entstehungszeitraumes eines Werkes, die gattungsspezifischen und intertextuellen Referenzen, aber auch die Normen und Werte, die „den erzählenden und implizierten Sender- und Empfängerinstanzen zugeschrieben werden können“, meint. Auf diese Bewertungsproblematik verweist auch Peter Hühn mit seiner Klassifikation zweier Typen von Ereignishaftigkeit. Beide Typen zeichnen sich durch eine Zustandsveränderung aus: In einer ersten Form der Ereignishaftigkeit („eventfulness I“; Hühn 2013) wird diese Veränderung mittels einer expliziten oder impliziten Markierung durch ein logisches Prädikat gekennzeichnet. Während ein Ereignis ersten Grades somit „linguistisch und objektiv identifiziert werden kann“ (Horstmann 2018b, 25), ist die Identifikation einer Ereignishaftigkeit zweiten Grades („eventfulness II“; Hühn 2013) mitunter stark kontext- und interpretationsabhängig. Explizit markierte Ereignisse ersten Grades sind im Pen-and-Paper-Rollenspiel relativ leicht zu identifizieren, und zwar aufgrund linguistischer Operatoren, die Planbrüche (vgl. Olhus 2017, 81) initiieren:
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S2: Dieselpunk 1 S2.1: Einstieg SL:
He: SL: He:
SL:
SL:
(…) Und äh: wir starten unsere Geschichte: damit ähm (.) dass zu dir ((deutet auf He)) nach Hause (.) äh du (.) du bist zu Hause bei dir, du hast Feierabend es ist früher Abend (.) du hast einen friedlichen Tag hinter dir als Erfinder hast du ein bisschen getüftelt et cetera, was machst du. Also als erstes würde ich jetzt ä:hm ich bin gerade nach Hause gekommmen? Mhm? Und würde jetzt meine Blumen gießen, weil das sind meine Babys seitdem meine Frau gestorben ist. (.) Das ist eigentlich mein Lebensinhalt ((deutet mit beiden leicht gefalteten Händen auf ihre Brust)) dann würde ich mich ein bisschen um meine Blumen kümmern und dann würde ich mich (.) in meinen Ohrensessel setzen und ein gemütliches (.) Buch lesen. Genau okay. Du sitzt gemütlich in deinem Ohrensessel, liest ein Buch (.) auf einmal hörst du draußen Motorengeräusche, irgendwie fahren Autos vor, du hörst (.) Türen schlagen? Äh guckst aus dem Fenster siehst okay da kommt irgendwie jemand? Durch das Treppenhaus hörst du laute (.) äh Militärstiefel (.) die zu dir hochrennen,((El, Fr, Ga, He und Is lachen)) Und es wird an deine es wird laut und eindringlich an deine Tür geklopft. 00:14:10–00:15:14
Heikes (He) Figur ist ein „Erfinder“, der einen „friedlichen Tag“ hinter sich hat und ein insgesamt ruhiges Leben führt. Die Spielleiterin (SL) initiiert durch „auf einmal“ eine Zustandsveränderung: Vor dem Haus der Figur fahren Autos vor, „laute […] Militärstiefel“ sind vor der Tür zu vernehmen, und „es wird laut und eindringlich“ an die Tür geklopft. Diese Zustandsveränderung weist eine hohe Ereignishaftigkeit auf, da sich der Übergang vom einen in den anderen Zustand vor allem durch seine Imprädiktabilität auszeichnet. Der Normbruch entsteht durch die Opposition der friedvollen und besinnlichen Atmosphäre des Ausgangszustands und dem lauten und raschen Eindringen mehrerer Figuren in die Wohnung des Erfinders. Diese Zustandsveränderung ist insofern relevant, da sie als Auslöser für eine wesentliche Veränderung im Leben der Figur angesehen werden kann. Damit treffen auch die Merkmale der Konsekutivität und der Irreversibilität zu, da das Ereignis nicht rückgängig zu machen ist und es das Denken
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und Handeln der Figur signifikant beeinflusst. Das „auf einmal“ steht also einerseits als Marker für einen Bruch, der durch die Zustandsveränderung erzeugt wird, andererseits jedoch auch als Konnektor (vgl. Olhus 2017, 81), der diese beiden Zustände miteinander in Beziehung setzt. Wenngleich derartig markierte Formen in den Reden der Teilnehmenden auftreten können, entsteht die Mehrheit der narrativen Ereignisse unmarkiert in der Interaktion der Spielenden untereinander. Die Identifikation der unmarkierten Ereignisse ersten Grades sowie der Ereignisse zweiten Grades wird besonders dadurch erschwert, dass die Ereignishaftigkeit individuell variabel eingeschätzt werden kann. Da im erzählerischen Kommunikationsprozess im Rollenspiel mehrere, teils subjektive storyworlds konstruiert werden können, werden bestimmte Ereignisse je nach Verortung als unterschiedlich relevant bewertet. Rückwirkend beeinflusst dies die Erzählwürdigkeit der Ereignisse, sodass Teilnehmende abwägen müssen, inwieweit sich spezielle Zustandsveränderungen auf die intersubjektiv und subjektiv konstruierten storyworlds auswirken können. Diese Einschätzungen betreffen nicht nur den Status einer Zustandsveränderung als narratives Ereignis, sondern auch die (inter-)subjektive Hierarchisierung von Ereignissen innerhalb der Handlungsstruktur (vgl. Schilcher 2013, 206). Dass diese Hierarchisierung gänzlich unterschiedlich erfolgen kann, zeigen die von Herbrik (2011, 207) beobachteten persönlichen Rekapitulationen von Spielsitzungen seitens der Teilnehmenden, die sich teils massiv voneinander unterscheiden. Das Kriterium der Imprädiktabilität entsteht durch einen Erwartungs- oder Normbruch innerhalb der storyworld. In Anlehnung an das Lotman’sche Ereigniskonzept sieht Schilcher (2013, 201–202) den Konflikt als „häufige[n] Auslöser für Ereignisse“, der durch einen Verstoß gegen die Regularitäten der narrativen Welt etabliert wird. Nach Heliö (2004, 66) und Petri Lankoski (2004, 146) sind Konflikte ebenso ein zentraler Startpunkt sowohl für das Spielgeschehen als auch für die Dynamik einer fiktiven Welt im Pen-and-Paper-Rollenspiel, wobei gerade die Kombination der ludischen und fiktional-narrativen Ebene ermöglicht, Konflikte zu initiieren und aufzulösen. Dabei stellt eine Resolutionsmechanik ein zentrales Element des Spielsystems dar (vgl. Kap. 3.2), die – sobald sie angewandt wird – Transformationshandlungen von einer ludischen auf eine narrative Ebene begünstigt. Die Resolutionsmechanik generiert eine Zustandsveränderung, indem sie einen konfliktbeladenen Ausgangszustand auflöst und in einen neuen Zustand transferiert. Im folgenden Beispiel zieht der Spielleiter (SL) eine Resolutionsmechanik heran, um einen Konflikt zwischen der Figur einer Spielerin (Theresa, Th) und einem Nicht-Spieler/-innen-Charakter aufzulösen:
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S5: Pathfinder 2 S5.2: Auseinandersetzung SL:
Und äh (.) unten am Fuß der Treppe, (.) stehen der Halbork und der Zwerg ((zeigt auf einen Zettel)) (2.0) mit äh:: verschränkten Armen und als du dann losrennst, ((blickt zu Th)) und dann hochlaufen willst, ähm (.) versucht dich der Zwerg ((würfelt)) zurückzuschubsen? (2.0) Achtzehn gegen deinen Zehn De-((zeigt auf Ths Dokument)) ja das schafft er? Er pf: ((schnellt mit der Hand nach vorne)) schubst dich zurück du so ((schmeißt sich gegen die Lehne seines Stuhles)) dass du zurückfällst. 02:21:33–02:21:55
Der Spielleiter (SL) beginnt die Ausgangslage („unten am Fuß der Treppe, (.) stehen der Halbork und der Zwerg“) sowie eine konfliktevozierende Handlung („versucht dich der Zwerg […] zurückzuschubsen?“) zu beschreiben. Die Handlung des Zurückschubsens wird durch eine Spielmechanik simuliert, weswegen der Spielleiter im Anschluss würfelt und damit den Wechsel zum ludischen frame der Kommunikation („Achtzehn gegen deinen Zehn De-((blickt auf Ths Charakterdokument)) ja das schafft er?“) markiert. Er schildert daraufhin, wie dieser Konflikt aufgelöst wird: Theresas Figur wird geschubst und fällt zurück. Auffällig an diesem Beispiel ist der fließende Wechsel von einer narratorialen Rede innerhalb des fiktionalen frames in den ludischen frame und wieder zurück in den fiktionalen frame, um diese Rede weiterzuführen. Der Spielleiter interpretiert das Resultat der Zustandsveränderung, indem er mithilfe von Theresas Charakterdokument den Würfelwurf mit den Werten der Spielfigur vergleicht. Die Transformation der Spielereignisse in die fiktionale Kommunikation lässt sich damit als Ausgangspunkt begreifen, um eine narrative Mitte zu realisieren (vgl. Kap. 3.1), in der das Spielereignis (und auch die nachfolgenden Spielereignisse, die nach einem ähnlichen Muster transformiert werden)20 in die narrative Handlung eingebettet wird. Wenngleich diese Zustandsveränderung für sich isoliert nicht das Potenzial für ein narratives Ereignis besitzt, so ist sie doch Ausgangslange für ein solches, da sie den Konflikt zwischen den Figuren, der bis zu diesem Zeitpunkt nur mündlich ausgetragen wurde, weiter zuspitzt. Dem im Anschluss stattfindenden Kampf zwischen den Figuren kommt hingegen eine hohe Ereig-
Auf diese Transformationshandlungen verweist auch Herbrik, wenn sie beschreibt, dass Teile der Rollenspielkommunikation auf Übersetzungsvorgängen basieren. Folglich werden hier „nicht-narrative Bestandteile des Spiels“ mittels einer „deutenden Übersetzung“ (Herbrik 2011, 105–106) in die Erzählung eingebettet.
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nishaftigkeit zu: Hier stellen sich die Spieler/-innen-Charaktere ihren Gegner/innen und brechen ein vorher etabliertes Verhältnis zwischen Entführer/-innen und Geiseln. Die Spieler/-innen-Charaktere, die bis zu diesem Zeitpunkt stets unterwürfig agierten und von ihren Entführer/-innen malträtiert wurden, begehren gegen dieses Verhalten auf und beweisen ihre Stärke, indem sie körperliche Gewalt anwenden. Ausgangslage für diesen Kampf ist das Würfelergebnis, das die Situation zur Eskalation gebracht hat, was zeigt, dass auch die ludischen Elemente, die das Setting konstituieren, bedeutenden Einfluss auf die Ereigniskonstruktion ausüben können (vgl. Klug 2011, 45). Dieses und weitere Beispiele, die interaktive oder ergodische Prozesse initiieren, verdeutlichen eine weitere Besonderheit innerhalb der narrativen Ereigniskonstruktion im Pen-and-Paper-Rollenspiel: Wenn Wolf Schmid (2014 [2005], 23–24) anmerkt, dass die Ereignisentfaltung vor allem durch den Kontrast von Ausgangsund Endzustand markiert wird, so bedeutet dies im Falle von Ludonarrationen, dass der Endzustand vor Spielbeginn nicht geplant werden kann, sondern erst durch die „moment-to-moment-choices“ (Hammer 2007, 71) der Teilnehmenden konkretisiert wird. Diese Emergenz der Ereigniskonstruktion bedingt ein Spannungsverhältnis zwischen dem eigentlichen Spielprozess und möglichen vorbereitenden Tätigkeiten der Spielleitenden, die die Handlungsstruktur der Narration planen. Wie sich diese Divergenz im Spiel konkret manifestiert, zeigt das folgende Beispiel: S6: Dungeons and Dragons 1 S6.1: Einstieg SL:
Xe: Wa: SL:
Okay und du siehst halt (.) ähm noch eine vers-eine g-(.) in einem Kleiderbündel versunkene Gestalt ((Wa lacht)) (.) in der anderen Ecke des Käfigs liegen. Okay. (2.0) Okay? Äh: (.) die ignoriere [ich mal und] versuche an die Decke zu springen. [((Lacht))] Okay ä:hm (.) mach dann mal einen Athletik-Wurf? 00:05:41–00:05:52
Die Spielleiterin (SL) vermittelt aus der Wahrnehmungsperspektive von Xenias (Xe) Figur und verweist auf eine „Gestalt“ (Walters Figur), die mit dieser gemeinsam in einem Käfig gefangen ist. Xenia markiert deutlich, dass ihre Figur diese Information nicht aufgreift („die ignoriere [ich mal“) und schlägt eine andere Handlung vor („versuche an die Decke zu springen“). Die Spielleiterin akzeptiert diesen Vorschlag, fordert jedoch, eine Resolutionsmechanik durchzuführen („mach dann mal einen Athletik-Wurf“).
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5 Strategien und Parameter des Erzählens im Pen-and-Paper-Rollenspiel
Dieses Beispiel zeigt, dass die Entfaltung von Ereignissen gänzlich unvorhersehbare Wendungen nehmen kann: Wenngleich Spielleitenden eine gewisse Führungsposition in der Strukturierung der narrativen Handlung zugestanden wird (vgl. Schmidt 2012, 285), bedeutet dies nicht, dass die anderen Teilnehmenden alle Hinweise, die auf eine vorbereitete Handlung anspielen, wie gewünscht interpretieren oder gar annehmen. Gemäß der Mögliche-Welten-Theorie bietet der Eingangszustand eines Ereignisses zwei oder mehrere mögliche Ausgangszustände (vgl. Doležel 1998, 55–56), die im Pen-and-Paper-Rollenspiel durch die Entscheidungen der Beteiligten innerhalb der fiktiven Welt konkretisiert werden. Derartige Entscheidungssituationen, die die Teilnehmenden auf Basis des eigenen Wissens über die storyworld sowie ihren persönlichen Präferenzen treffen (vgl. Meifert-Menhard 2013, 59), erscheinen als Möglichkeit, agency bei den Partizipierenden zu erzeugen. Je stärker Spielende diese Entscheidung als signifikant für die weitere Entwicklung der storyworld einschätzen, desto intensiver kann dieses Gefühl ausgeprägt sein (vgl. Meifert-Menhard 2013, 75). Im Gegensatz zu anderen ergodischen Medien wie Computerspielen sind die einzelnen Entscheidungsmöglichkeiten im Pen-and-Paper-Rollenspiel deutlich weniger begrenzt. Im Falle der narrativen Ereigniskonstruktion im Computerspiel wird die (narrative) Entscheidungsfindung dadurch gesteuert, dass Entscheidungsmöglichkeiten bereits vor Spielbeginn im Programmcode festgelegt sind (vgl. Thon 2015, 113–114). Das Pen-and-Paper-Rollenspiel bietet hingegen aufgrund des Ineinanderfließens interaktiver und ergodischer Prozesse (vgl. Kap. 3.1) nahezu unbegrenzte Möglichkeiten (vgl. Meifert-Menhard 2013, 158–159; Schmidt 2012, 289) der Ereignisentfaltung, die lediglich durch die Regeln des Spielsystems (vgl. Costikyan 2007, 6) sowie die dem Szenario zugrunde liegende fiktive Welt begrenzt sind. Dass dieses Potenzial jedoch selten vollends genutzt wird beziehungsweise sich Teilnehmende sogar selbst in der Wahl ihrer Entscheidungen begrenzen, wird vor allem dann manifest, wenn die Spielgruppe einen hohen Wert auf die Entfaltung einer konsistenten narrativen Handlung legt (vgl. Flöter 2018, 38–39). Nicht nur in diesen Fällen sehen sich Spielleitende mit der Frage konfrontiert, inwieweit sie die anderen Teilnehmenden in die Konstruktion der Handlung involvieren: Liefern sie der Spielgruppe im Sinne eines bottom-up-Designs lediglich Schauplätze, Objekte und Figuren (vgl. Ryan 2009, 52) und lassen die Handlung durch die dynamische Interaktion der Partizipierenden entstehen oder bieten sie den Mitspielenden eine dramaturgisch durchgeplante Geschichte, in der die Spielenden nur unter begrenzter Einflussnahme von einem zum nächsten geplantem Ereignis navigieren können
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(vgl. Ryan 2009, 52), um das Konsistenzprinzip (vgl. Schilcher 2013, 203) der narrativen Handlung nicht zu gefährden?21 5.2.1.2 Geschehen und Geschichte Die Offenheit der Ereigniskonstruktion beeinflusst die Inszenierungsprozesse, die Spielleitende in der Vorbereitung einer möglichen Handlung vollziehen. Dies zeigt sich insbesondere in der Struktur der Szenariopublikationen, die als Inspirationsquellen für die eigene Inszenierung genutzt werden können. Die analysierten Module Escape from Farpoint (Ketchen 2019), Die Zuflucht (Don-Schauen 2008b) sowie „Das Geheimnis des Schwarzwaldhofs“ (Heller 2012) sind in diesem Kontext strukturell relativ ähnlich aufgebaut: Sie beginnen mit einem Überblick über die Geschichte, also die bedeutungsrelevante Teilmenge des Geschehens (vgl. Lahn und Meister 2016 [2008], 218), indem die Ausgangssituation der Figuren, relevante Handlungsabschnitte sowie Konflikte beschrieben werden. Während der Szenariotext von Escape from Farpoint lediglich stichpunktartig die wichtigsten Handlungsschritte, Nicht-Spieler/-innen-Charaktere und ludischen Vorrausetzungen der Spieler/-innen-Charaktere skizziert („Recommendations“; Ketchen 2019, 1), verfahren die anderen Texte detaillierter. Neben einem Überblick liefern sie eine umfassende Vorgeschichte, die Auskünfte über zentrale Konflikte, Ereignisse und Figuren gibt. Diese Vorgeschichten dienen als Informationen für Spielleitende und sind nicht dafür vorgesehen, innerhalb der Spielsitzung ausgespielt zu werden. Sie fungieren vielmehr als Historisierung (vgl. Kap. 3.2), mittels der die stattfindenden Spielereignisse kausal in die Chronologie einer storyworld eingebunden werden. Das Mehrwissen, das Spielleitende durch diese Zusammenfassungen erhalten, kann dafür genutzt werden, es später in den Spielprozess einfließen zu lassen. Denn in ähnlicher Weise, wie es bei Computerspielen der Fall ist, werden derartige Historisierungen innerhalb der Interaktion mit Figuren oder durch Gegenstände vermittelt, um Spielhandlungen „um vergangene Ereignisse erweitern und umfangreiche soziokulturelle Gestaltungsbedingungen und Szenarioelemente als Ergebnisse historischer Prozesse“ (Engelns 2014, 321) darzustellen. So sind es zum Beispiel in der Szenariopublikation „Das Geheimnis des Schwarzwaldhofs“ verschiedene Dorfbewohner/innen (vgl. Heller 2012, 382), die den Spieler/-innen-Charakteren Informationen
Eine Extremform der letztgenannten Position wird innerhalb der Fankultur unter dem Begriff des railroadings zumeist kritisch diskutiert. Hierauf verweist auch das Boardgame Geek RPG Glossary: „Railroading: Referring to a game’s story being forced in a particular direction most often by the GM [d.i. Spielleiter/-in], usually by the environment being constructed or manipulated to make only one action viable. Commonly perceived as bad form.“ (wavemotion et al. 2009)
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über die jüngere Geschichte des Schwarzwaldhofes vermitteln können. Die bis ins Mittelalter zurückreichenden, düsteren Geheimnisse dieses Ortes lassen sich zudem durch ein altes Manuskript rekonstruieren, das von den Figuren in einer Kaverne gefunden werden kann (vgl. Heller 2012, 389). Nach der überblicksartigen Einführung legen die Szenariotexte schrittweise die bedeutungsrelevanten Elemente dar, indem Informationen über Figuren, Schauplätze, Ereignisse und Spielmechaniken genannt werden, die während des Spiels auftreten beziehungsweise zur Anwendung kommen. Der Text ist modular aufgebaut und in kleinere beschreibende Themenblöcke eingeteilt, die die relevanten Informationen strukturiert wiedergeben. Escape from Farpoint und Die Zuflucht enthalten darüber hinaus einige narrative Textpassagen, die grafisch klar vom übrigen Text abgegrenzt sind. Diese Passagen können von Spielleitenden im Spielprozess direkt implementiert werden (vgl. Grouling Cover 2010, 80), was der Szenariotext direkt markiert („Zum Vorlesen und Nacherzählen“ vgl. u. a. Don-Schauen 2008b, 8; „Read the following description aloud to your players“; Ketchen 2019, 1). Dass diese Möglichkeit im Rollenspielprozess genutzt wird, zeigen die Daten der Spielgruppe S6, die die Szenariopublikation Escape from Farpoint als Grundlage ihrer Spielsitzung gewählt hat. Gleich zu Beginn des Spiels (S6.1) liest die Spielleiterin eine wörtliche deutsche Übersetzung des einführenden Textes (vgl. Ketchen 2019, 1) ihren Spielenden vor. Im Gegensatz zu den einführenden Beschreibungen der Vorgeschichte werden viele Informationen der modular angeordneten Themenblöcke auf eine besondere Art und Weise präsentiert. Dies ist vor allem an den Stellen auffällig, an denen mögliche oder gewünschte Handlungen von Spielenden beschrieben werden. Im folgenden Beispiel aus Die Zuflucht wird eine Situation geschildert, in der die Figuren mit einem Diebstahl auf einem Ritterturnier konfrontiert werden: Ysgol selbst bleibt derweil in der Nähe des Feuers stehen. Helden, denen eine Menschenkenntnis-Probe gelingt, können vermuten, dass der Ritter mit dieser Angelegenheit selbst nicht glücklich ist. Wenn ein Held mit einem Sozialstatus von mindestens 8 Ysgol anspricht, dann kann er weitere Einzelheiten herausfinden. – Wolorion von Kolburg hat beim Abendessen das Fehlen seines wertvollen Bechers festgestellt. Einer seiner Persevanten hatte das silberne Schmuckstück vor Beginn des Zweihänderkampfes auf einem Tisch neben dem Zelt des Marschalls abgestellt. Dort war es unbewacht, und auch vom Turnierplatz aus konnte man den Tisch nicht sehen. – Als der Marschall dem Baron von dem Vorfall erzählte, sprach es sich in der Burg schnell herum, und schließlich meldete sich ein Knappe (Havel von Uckel) und erzählte, er habe gesehen, wie Ugdalf um das Zelt des Marschalls herumgeschlichen sei und wenig später mit einem in einen Lappen eingewickelten Gegenstand davongelaufen wäre. Eine Menschenkenntnis-Probe +4 erhärtet den Verdacht, dass Ritter Ysgol dem Knappen diese Geschichte nicht glaubt, aber weil er dem Gefolge des Prinzen Wendelmir angehört, konnte er ihn nicht der Lüge bezichtigen. Auf das Drängen des
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Prinzen hat der Baron sich schließlich dazu bewegen lassen, Ysgol sofort auszuschicken und das Lager der Gaukler durchsuchen zu lassen. Ein Held, dem eine Rechtskunde-Probe gelingt, kann einschätzen, welche Strafe auf Diebstahl steht: Dem Dieb wird die rechte Hand abgeschlagen. Sollte sich keiner der Helden in diesem Gebiet auskennen, so können es viele Anwesende unter vorgehaltener Hand erzählen. Was eine solche Strafe für Folgen für einen Akrobaten hätte, kann sich jeder Held leicht denken. (Don-Schauen 2008b, 23)
Auffällig an diesem Beispiel ist das Aufzeigen bestimmter Möglichkeitsszenarien, die eintreten, wenn die Spieler/-innen-Charaktere spezielle Handlungsabsichten anzeigen oder spielrelevante Eigenschaften erfüllen. Das Eintreten dieser Szenarien wird dabei unter konditionalen Kriterien betrachtet, Bedingungen sind hier die Handlungsbekundungen von Spielenden („Wenn ein Held […] Ysgol anspricht, kann er weitere Einzelheiten herausfinden“) oder das erfolgreiche Abhandeln bestimmter Resolutionsmechaniken („Ein Held, dem eine Rechtskunde-Probe gelingt, kann einschätzen […]“). Derartige Beschreibungen lassen den Szenariotext nicht wie eine ausformulierte narrative Darstellung wirken, sondern wie einen Leitfaden oder ein Handbuch (vgl. Grouling Cover 2010, 137), das die narrative Ereignisentfaltung in Beziehung zum jeweiligen ludischen beziehungsweise fiktionalen Handeln der Spielenden setzt. Den Spielenden wird eine Reihe von Herausforderungen präsentiert (vgl. Costikyan 2007, 10), die je nach individueller Lösung zu unterschiedlichen Ergebnissen führen. Diese Ergebnisse haben wiederum mehr oder weniger Einfluss auf das konstruierte narrative Ereignis und den weiteren Handlungsverlauf. Um jene Herausforderungen zu identifizieren, die Einfluss auf die narrative Ereigniskonstruktion haben, ist es entscheidend, eine Ausgangslage herzustellen, die die Spieler/-innen-Charaktere in eine konfliktbeladene Situation transferiert. Typisch sind sogenannte „adventure hooks“ (Grouling Cover 2010, 30), die die Figuren gemäß eigenen Motivationen, Interessen oder Bedürfnissen in die Handlung involvieren. Sowohl in Die Zuflucht als auch in „Das Geheimnis des Schwarzwaldhofs“ werden zu Beginn verschiedene Möglichkeiten genannt, die Spieler/-innenCharaktere in die handlungsauslösenden Konflikte einzubetten. So wird in „Das Geheimnis des Schwarzwaldhofs“ empfohlen, dass sich die Figuren bereits zu Beginn der Geschichte untereinander kennen und gemeinsam auf den Hof ihres Freundes Hans Wieland eingeladen werden. Ein konfliktbeladener Moment entsteht hier aufgrund des ungewöhnlichen Verhaltens Wielands, das die Spielenden dazu anregen soll, den Ursachen dieses Verhaltens auf den Grund zu gehen. Da die Szenariopublikationen gerade die narrativen Ereignisse, an denen die Spieler/-innen-Charaktere direkt beteiligt sind, nicht konkret festlegen, sondern nur Möglichkeiten und Bedingungen aufzeigen, diese Ereignisse zu entfalten oder aufzulösen, sind die in den Inszenierungsprozessen des Pen-and-Paper-Rollenspiels vorgestellten narrativen Ereignisse und Handlungen strukturell unvollständig. In
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Anlehnung an die hypertextbasierte Narratologie (vgl. Meifert-Menhard 2013, 47; Ryan 2006, 108; Salter 2014, 46) lassen sie sich daher weniger als vollständige narrative Darstellungen, sondern eher als narrative Architektur begreifen, in deren Rahmen die Spielenden während des Spielprozesses agieren können. Eine derartige Architektur zu etablieren, bedeutet jedoch auch, dass bestimmte Elemente der zu konstruierenden storyworld bereits innerhalb des Inszenierungsprozesses festgelegt werden müssen. So sind handlungsrelevante Schauplätze, Figuren und ein „klarer Ziel- bzw. Endpunkt“ (Schmidt 2012, 290) vorgegeben. Das Festhalten am Konsistenzprinzip, also an der Überführung ereignishafter in ereignislose Zustände im Sinne des Musters „Ausgangszustand – Transformation – Endsituation“ (Schilcher 2013, 203) ist allen vorliegenden Szenariopublikationen gemein. Wenngleich besonders im Falle des Szenarios „Das Geheimnis des Schwarzwaldhofs“ die Chronologie der Ereignisfolge stark von den investigativen Erfolgen der Spieler/-innen-Charaktere abhängt, so endet die Geschichte immer in einem „Finale“ (Heller 2012, 389): Die Figuren werden hier mit der übernatürlichen Wesenheit konfrontiert und/oder erkennen, dass sie selbst Opfer dieser Wesenheit geworden sind. Wie sich die Geschichte in einen finalen Endzustand transformiert, hängt dabei von den Entscheidungen der Spielenden sowie der erfolgreichen Durchführung der Spielmechanik ab. Zudem lässt sich konstatieren, dass der Szenariotext die Geschichte der Erzählung darlegt, indem er nur den Rahmen der narrativen Ereignisse definiert. Im gemeinsamen Erzählen in der Rollenspielsitzung kann dieser um weitere Geschehnisse, also unauffällige Zustandsveränderungen, erweitert werden, gerade weil die Einschätzung von Ereignishaftigkeit im Erzählprozess individuell bewertet wird und Spielende darüber hinaus immer die Möglichkeit haben, präferenzgesteuert eigene Geschehnisse zu konstruieren (vgl. Kap. 5.2.1.1). Geschichten, die im Pen-and-Paper-Rollenspiel entwickelt werden, haben folglich einen größeren Anteil an Geschehnissen, die die im Vorhinein geplante Ereignissequenz erweitern. Am Beispiel der Spielgruppe S6, die das Szenario Escape from Farpoint spielt, erkennt man, dass auch im Spielprozess die im Voraus geplante Struktur der Geschichte aufrechterhalten wird, wenngleich sie um zahlreiche Geschehnisse ergänzt wird. Dies liegt vor allem in der logischen Kausalität der einzelnen Handlungsabschnitte begründet: Die Figuren verfolgen das Ziel, der Strafkolonie Farpoint zu entkommen, und müssen sich dazu zuerst aus ihrem Gefangenenlager befreien, um anschließend ein Schiff zu kapern, das sie von der Insel bringt. Der Szenariotext betont explizit, dass es verschiedene Möglichkeiten gebe, diese Ziele zu erreichen (vgl. Ketchen 2019, 3); die Spielenden der Gruppe S6 entscheiden sich dafür, mit dem Elfen Bait zu kooperieren sowie den freundlichen Riesen Bell zu überzeugen, sie aus ihren Gefängniszellen zu befreien. Dass die Charaktere während dieser Flucht auf den Herrscher der Insel treffen und sich ihm in einem Kampf stellen müssen, um zu
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entkommen, stellt hingegen ein fakultatives Element der Handlungsstruktur dar, auf dessen Eintreten die Spielenden keinen Einfluss haben. 5.2.1.3 Handlungslogik Solche bereits in der narrativen Architektur verankerten Ereignisse verdeutlichen, dass die Inszenierung einer Rollenspielerzählung ebenso die dramaturgischen Elemente einer Handlungsstruktur berücksichtigen kann. Diese formalen Ordnungselemente verweisen auf handlungslogische Konzepte, die der narrativen Architektur einer Rollenspielerzählung innewohnen können. Neben klassischen spannungserzeugenden Gestaltungsformen, wie beispielsweise dem Klimax oder der Peripetie (vgl. Lahn und Meister 2016 [2008], 226), fallen speziell genrespezifische Handlungslogiken ins Gewicht, die durch die verschiedenen narrativen Architekturen realisiert werden. Ryan (2013a, 23) verweist in diesem Kontext auf drei verschiedene Handlungstypen („three kinds of plot“), die die Realisierung von Interaktivität22 ermöglichen: Epic narratives, dramatic narratives sowie epistemic narratives. Epic narratives beschreiben Handlungslogiken, die einen starken Fokus auf das physikalische Handeln der Figuren legen, demnach weniger auf das Beziehungsgefüge, in dem sich die Figuren bewegen (vgl. Ryan 2013a, 24). Figuren agieren in dieser Handlung in einem klassischen Aktantengefüge, in dem das Subjekt (hier: ein Held/eine Heldin) durch einen oder eine Adressant/-in beauftragt wird und sich eines oder einer Opponent/-in erwehrt. Diese Rollen bleiben innerhalb des Handlungsverlaufs statisch, weswegen Ryan (2013a, 24) epic narratives in enge Verbindung zum Volksmärchen stellt. Epic narratives lassen sich in Pen-and-PaperRollenspielen nicht nur aufgrund ihrer Nähe zu den Subgenres der Fantasyliteratur, die ihre Geschichten häufig nach den Handlungslogiken des Märchens generieren, sondern auch aus ludischen Gründen finden. Gerade die Spielsysteme der frühen Rollenspiele integrieren Spielmechaniken, die vor allem die physischen Aktionen der Figuren simulieren. Ebenso stellen Aufträge, in Gestalt sogenannter Queststrukturen, eine Brücke zwischen der ludischen und der fiktionalen Ebene des Spiels dar (vgl. Juul 2005, 17), da Spielende auf fiktionaler Ebene mit Problemen und Zielen konfrontiert werden, die sie gemäß ihren ludischen Kompetenzen lösen oder erreichen können. Nicht selten schaffen diese Quests in Multiplayer-Spielen Koope-
Im Gegensatz zu Aarseths (2012) Abgrenzung zwischen Ergodizität und Interaktivität, auf die in dieser Arbeit zurückgegriffen wird, entwickelt Ryan (2006, 99) ein weiter gefasstes Konzept von narrativer Interaktivität, das sie auf digitale Erzählungen überträgt. Wenngleich sich dieser Zugang von Aarseths Begriffsentwicklung unterscheidet, sind die narrativen Handlungslogiken, die sie für die Struktur entscheidungsbasierter Erzählungen entwickelt, dennoch brauchbar.
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rationsmomente, da die Spielenden erkennen, dass manche Probleme nur gemeinsam gelöst werden können (vgl. Aarseth 2004, 372). Dass diese handlungslogische Struktur auch Einfluss auf die narrative Architektur einer Rollenspielerzählung haben kann, zeigt die Szenariopublikation Die Zuflucht. Die Haupthandlung23 führt die Spieler/-innen-Charaktere (im System Das Schwarze Auge durchgehend als „Helden“ bezeichnet) auf ein Turnier, auf dem sich ein Mord sowie ein Diebstahl ereignen. Die Figuren werden zu Beginn von einer Gauklerin angeheuert, um ihren zu Unrecht beschuldigten Bruder zu befreien, und müssen den wahren Dieb finden (vgl. Don-Schauen 2008b, 23). Später soll die Gruppe im Auftrag des anwesenden Freiherrn den echten Dieb und Mörder verfolgen und gefangen nehmen (vgl. Don-Schauen 2008b, 34). Als zweite Form einer genrespezifischen Handlungslogik definiert Ryan das epistemic narrative: In the nineteenth century, a third kind of narrative made its appearance: the epistemic narrative, driven by the desire to know. Its standard representative is the mystery story. The trademark of the epistemic plot is the superposition of two stories: one constituted by the events that took place in the past, and the other by the investigation that leads to their discovery. (Ryan 2013a, 25)
Während Die Zuflucht auch Spuren eines epistemic narrative enthält, da die Spieler/-innen-Charaktere einen Diebstahl aufklären und später das Geheimnis einer verfluchten Burg lösen müssen, so wird die Reinform dieser Handlungsstruktur in „Das Geheimnis des Schwarzwaldhofs“ abgebildet, das innerhalb des Regelwerkes des Spiels Call of Cthulhu (Petersen et al. 2016) publiziert wurde. Die Spieler/innen-Charaktere werden zu Beginn der Handlung auf das seltsame Verhalten ihres Freundes Hans Wieland aufmerksam, der seit einigen Monaten auf dem Schwarzwaldhof lebt. Weitere fremdartige Ereignisse während ihrer Zeit auf dem Hof bringen sie auf die Spur einer übernatürlichen Lebensform, die ihre Opfer klont und ihre Körper verspeist. Im Laufe der Handlung können die Held/-innen nicht nur Hans’ sowie ihr eigenes Schicksal rekonstruieren (sofern sie selbst Opfer des Wesens werden), sondern auch die Geschichte des Schwarzwaldhofes, der im Mittelalter Ort eines düsteren Rituals war, in dem jenes Wesen beschworen wurde. Kenneth Hite (2007, 32) sieht in der spielübergreifenden Struktur des Rollenspielsystems Call of Cthulhu ein epistemic narrative realisiert, worauf auch das Regelwerk selbst verweist:
Die Zuflucht ist Teil einer größer angelegten Rollenspielkampagne, die sich über mehrere publizierte Szenariobände erstreckt. Aus diesem Grund wird in dieser Erzählung zum Ende hin ein weiterer Handlungsbogen entwickelt, der im Anschlussband Der Fluch von Burg Dragenstein (Don-Schauen 2008a) fortgesetzt wird.
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At the heart of a Call of Cthulhu scenario is a mystery, something the investigators must find out in order to progress and affect an outcome. Mysteries can be organized like the layers of an onion: each clue tears away one layer and leads to a further question or puzzle to solve (another layer). These layers might go on and on until the investigators feel they have a possible explanation or answer, which in turn directs them to some form of action. (Petersen et al. 2016, 214)
Hite bezieht sich dazu auf eine weitere Stelle innerhalb eines Begleitwerks von Call of Cthulhu die einen genaueren Hinweis zur Etablierung einer Handlungslogik integriert: Since most Cthulhu adventures are mysteries whose solutions lead to understanding, their structures are progressive and problem-solving, and in outline are much more alike than different. 1) A mystery or crisis is posed 2) The investigators become linked to the problem 3) The investigators attempt to define the mystery 4) The investigators use the clues and evidence to confront the danger 5) The mystery or problem is solved. (Hite 2007, 33)
Die Handlungslogik gestaltet sich hier ebenso als problembasiert, wobei die Spieler/-innen-Charaktere, die in den Publikationen der Call-of-Cthulhu-Reihe durchgehend als „Investigatoren“24 bezeichnet werden, aktiv in das Problem involviert werden. Das Problem selbst fungiert gemäß den Handlungselementen eines epistemic narrative als Geheimnis oder Mysterium („mystery“), das die Figuren durch ihre Untersuchung aufdecken und lösen müssen. Auch in diesem Fall spielen die ludischen Elemente eine besondere Rolle, da sie das eigentliche Ausspielen und Handeln innerhalb dieser narrativen Architektur maßgeblich beeinflussen: Das Spielsystem von Call of Cthulhu offeriert den Spielenden verschiedene Resolutionsmechaniken, die vor allem die detektivischen Fähigkeiten der Figuren betonen, beispielsweise „Library Use“, „Disguise“ oder „Spot Hidden“ (dt.: Verborgenes Erkennen) (Petersen et al. 2016, 56). Der dritte Typ einer handlungslogischen Struktur stellt das dramatic narrative dar, das nach Ryan (2013a, 24) die interpersonalen Beziehungen zwischen den Figuren betont. Derartige Handlungslogiken sind häufig in Akte gegliedert und bedingen ein mentales statt ein physisches Figurenhandeln (vgl. Ryan 2013a, 24). Die Mehrheit der Ereignisse innerhalb der Handlung basiert auf der verbalen Kommunikation der Beteiligten, physische Handlungen werden vor allem in Hinblick auf die mentalen Zustände der Agent/-innen beurteilt und hinsichtlich ihres Einflusses auf die interpersonalen Beziehungen bewertet (vgl. Ryan 2013a, 24). Ryan sieht im dramatic narrative die größte Schwierigkeit bei der Einbettung in eine narrative Architektur, die Interaktivität ermöglichen soll: Diese Bezeichnung ist ein weiterer Hinweis darauf, dass es darum geht, ein Rätsel zu lösen.
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The dramatic plot is the most difficult to implement because of its emphasis on the evolution of interpersonal relations. In the goal-oriented action of narrative games based on epic and epistemic plots, characters mostly matter to the player because of their capacity to help or hinder the achievement of tasks. Their relation to the player is fixed, and their relations among themselves are practically non-existent. Very rare are the cases in which the player regards NPCs (d.i. non-player characters) as human beings rather than as means toward an end. (Ryan 2013a, 29)
Im Gegensatz zu epistemic und epic narratives ist die narrative Architektur eines dramatic narratives deutlich schwieriger zu planen, da die Ereigniskonstruktion stark von der Involvierung der Figuren innerhalb des interpersonalen Beziehungsgeflechts abhängt. Es kann sich demnach als schwierig erweisen, den Spielenden bereits zu Beginn ein konkretes Ziel oder Problem zu präsentieren, das zum Ende der Handlung aufgelöst wird. Im Fall der Handlungsinszenierung erscheint es nicht immer einfach, alle möglichen Wendungen und Entscheidungen der Spielenden zu berücksichtigen, die das interpersonale Beziehungsgeflecht betreffen. Einige Rollenspielsysteme lösen dieses Problem, indem sie weniger die konkreten Ereignisse als die dramaturgische Struktur der Handlung fokussieren. So gliedert das Spiel Fiasco den Ablauf einer Spielrunde in zwei Akte, die in einzelne Szenen unterteilt sind. Zwischen diesen Akten steht ein Wendepunkt („The Tilt“; Morningstar und Segedy 2016 [2009], 36), der die Handlung des zweiten Aktes beeinflusst. Die Handlung endet nach diesem zweiten Akt in einem Fiasko (vgl. Morningstar und Segedy 2016 [2009], 48), das die etablierten Konflikte zwischen den Figuren (nicht selten zu ihrem Nachteil) auflöst. Innerhalb der Szenen entwickeln sich die Ereignisse aus den Figureninteraktionen der Spielenden. Grundlage dafür bieten die verschiedenen Beziehungen der Figuren untereinander, die vor Spielbeginn festgelegt werden müssen. Da alle am Spiel teilnehmenden Spielenden innerhalb dieser Vorbereitung mit mindestens zwei anderen Spielenden im Beziehungsgeflecht vernetzt wird, ergibt sich ein Potenzial, Konflikte zu etablieren. 5.2.1.4 Serialität Das Ausspielen einer Geschichte wird nicht nur durch die Inszenierungsprozesse der Teilnehmenden beeinflusst, sondern auch durch äußere Umstände, die das Pen-and-Paper-Rollenspiel als soziales Ereignis kennzeichnen. So sind es beispielsweise zeitliche Faktoren25 oder die Motivation der Teilnehmenden, das Spiel fortzu-
Es ist davon auszugehen, dass Pen-and-Paper-Rollenspiele als Freizeitbeschäftigung in einem mehr oder weniger definierten Zeitrahmen stattfinden, der von den Teilnehmenden vorher geplant wird.
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führen, die Einfluss auf den Verlauf der Geschichte nehmen (vgl. Fine 2002 [1983], 90). Aufgrund dessen ist es schwierig, den Ablauf der Rollenspielsitzung genau zu planen, was sich ebenfalls in der Entfaltung der Handlung niederschlägt. Es ist daher nicht davon auszugehen, dass das Ende der Handlung immer mit dem Ende einer Spielsitzung zusammenfällt. Mackay (2001, 4–5) bezeichnet das Erzählen im Rollenspiel daher als episodisch, was ebenfalls durch die kommunikativen Handlungen der Teilnehmenden belegt werden kann. Herbrik (2011, 151) merkt an, dass sich zum einen klare Markierungen für den Start oder das Ende eines neuen episodischen Abschnitts eruieren lassen, zum anderen Kommunikationssequenzen identifiziert werden können, in denen an bereits Vergangenes erinnert wird (vgl. Herbrik 2011, 66). Eine derartige Episodenstruktur verweist auf Phänomene narrativer Serialität, wie sie in Fernsehserien zu finden sind (vgl. Newman 2006, 20–21). Zentrale Eigenschaften sind in diesem Kontext die Kontinuität, also das Aufgreifen und Wiederholen narrativer und fiktiver Elemente, sowie die Segmentierung, also das Aufteilen der Handlung in kleinere, abgegrenzte Einheiten (vgl. Mittell 2018, 228). Als Beispiel für eine serielle Narration im Bereich des Pen-and-PaperRollenspiels dient die Szenariopublikation Die Zuflucht, da sie die Handlung innerhalb einer größeren Kampagnenstruktur verortet. Hier fungiert der letzte im Szenariotext präsentierte Handlungsabschnitt, in dem die Figuren das Geheimnis der Burg Dragenstein lösen (vgl. Don-Schauen 2008b, 45), als Anknüpfungspunkt, der zu einer weiteren Handlung überleitet. Am Ende der Geschichte erhalten die Spieler/-innen-Charaktere einen neuen Auftrag, in dem die Burg wieder von Bedeutung ist (vgl. Don-Schauen 2008b, 54–55). An diesem Beispiel wird deutlich, dass eine Kampagnenstruktur weitere Inszenierungsprozesse seitens der Spielleitenden erfordert (vgl. Cook 2009, 102), da die einzelnen kleineren episodischen Handlungen verknüpft werden müssen, um die Kontinuität der Geschichte zu gewährleisten. Gleichzeitig scheinen viele Rollenspielsysteme eine sich entwickelnde serielle Erzählung rund um die gespielten Figuren zu fordern (vgl. Mackay 2001, 5): Schließen die Figuren eine Handlung ab, belohnt sie das Spielsystem mit einem Erfahrungsgewinn. Dieser schlägt sich auf der ludischen Ebene darin nieder, dass die Figuren Erfahrungspunkte erhalten, die die Spielenden nutzen können, um die Spielwerte ihrer Figuren für künftige Abenteuer weiterzuentwickeln (vgl. Grouling Cover 2010, 36).
5.2.2 Semantische Ordnung und thematische Struktur Das Thema lässt sich als globale Bedeutung einer Erzählung begreifen, das die Gesamtstruktur des Textes ordnet. Lahn und Meister (2016 [2008], 210) definieren es
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als „durchgängige Idee einer Erzählung“, die die Zusammenhänge von Handlungsentwicklung, Figurenkonstellation und Schauplatzwahl betrachtet und in analytischer Hinsicht als abstrakte Gesamtbedeutung zu verstehen ist, „die durch Abstraktion von den konkreten Einzelheiten herausgearbeitet wird“. Das ludonarratologische Modell Engelns’ (vgl. Kap. 3.2) greift die thematischen Potenziale von Spielen innerhalb der Achse der Topoi auf und konstatiert, dass das Thema nicht nur durch narrative Rezeptionsangebote, die durch die Achse der Handlung konstruiert werden, geprägt ist, sondern auch durch den Spielprozess selbst (vgl. Engelns 2014, 245). Mit dem topischen Pool und der Isotopie (vgl. Kap. 3.2.1) legt das Modell zwei zentrale narrative Gestaltungsweisen dar, die sich innerhalb der Achse der Topoi verorten. Der topische Pool umfasst hierbei die „Gesamtheit aller noch vereinzelten, für sich selbst stehenden thematischen Potentiale des Spiels“, die Isotopie verknüpft diese vereinzelten Einheiten zu „gemeinsamen Themenbereichen“ (Engelns 2014, 324). Während die Narratologie für verschiedene Vermittlungs- und Erzählformen differenzierte Terminologien und Konzepte ausgearbeitet hat, finden sich für die thematische Anlage der Erzählung nur wenige präzise, akzeptierte Begriffsinstrumentarien (vgl. Lahn und Meister 2016 [2008], 208). Dies liegt unter anderem daran, dass das Erkennen thematischer Potenziale eng mit dem Deutungsprozess der Rezipierenden zusammenhängt, das Thema sich also weniger als objektiv bestimmbare Größe eines narrativen Textes klassifizieren lässt (vgl. Lahn und Meister 2016 [2008], 211). Das zusätzliche methodologische Problem, das sich speziell bei der Analyse von Rollenspielsitzungen ergibt, hängt eng mit der Verzahnung von Rezeptions- und Produktionsprozessen zusammen: Da das Spiel autotelisch ausgerichtet ist, kann man nicht davon ausgehen, dass es externe Beobachtende als Rezipierende mitdenkt, indem es auch für sie das thematische Material in eine von außen rezipierbare Form transferiert. Zudem manifestieren sich Themen nicht allein auf der Inhaltsebene eines Textes, sondern werden erst durch die spezifische narrative Vermittlung konkretisiert (vgl. Lahn und Meister 2016 [2008], 210), was bedeutet, dass durch die Analyse der narrativen Architektur, die in einem Inszenierungsprozess geschaffen wurde, zwar Spuren des thematischen Materials herausgearbeitet werden können, diese jedoch erst in der Spielsitzung selbst ausgehandelt werden. Geht man davon aus, dass sowohl durch die narrative Architektur als auch durch das Spielsystem eines Rollenspiels der topische Pool durch die Selektion und Ordnung bestimmter Elemente bereits vor dem eigentlichen Spielprozess angelegt wird, ergibt sich als Lösung für beide Probleme, die in der Vorbereitung genutzten Materialien als Ausgangspunkt für die Analyse und Interpretation des thematischen Materials zu nutzen und die Ergebnisse mit konkreten Deutungen einer Spielsitzung zu kontrastieren.
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Gerade das Rezeptionsangebot der Isotopie (vgl. Kap. 3.2) verweist auf eine sich auf Äquivalenzprinzipien stützende Ordnung, die innerhalb der semantischen Struktur durch die Dominanz sich wiederholender Klasseme (vgl. Eicher und Wiemann 2001 [1996], 48–49) repräsentiert wird. Auch die auf Lotman (1972, 123) basierende semantische Raumtheorie sieht Äquivalenz-, aber auch Oppositionsprinzipen als zentrale Relationen, die ein Text konstruiert. Gerade das sich durch ein Sujet entwickelnde semantische Feld bietet das Potenzial, durch seine Teilmengen derartige Relationen zu entwerfen, da es aus Gruppen von Wörtern mit ähnlichen semantischen Eigenschaften – folglich Klassemen – besteht (vgl. Heuser und Le-Khac 2012, 4). Die hieraus entstehende Ordnung liefert nicht nur das Potenzial zur narrativen Ereigniskonstitution (vgl. Krah 2014, 23), sondern ermöglicht die Modellierung eines semantischen Raumes, der die Grundlage eines spezifischen Weltmodells bildet (vgl. Hennig 2017, 113; Krah 2014, 18; Müller 2013, 88). Doležel (1998, 126–127) sieht diese Ordnung bereits in der Konstitution einer fiktiven Welt begründet, die durch ihre Organisation das Potenzial für mögliche Narrationen bereithält. Dieses Potenzial wird durch narrative Modalitäten geschaffen, die die systemische Ordnung der Welt festlegen, ausgedrückt durch die spezifische Konstellation der Elemente innerhalb der fiktiven Welt. Doležel (1976, 6) führt den Begriff der narrativen Modalität auf logisch-semantische Konzepte zurück und betrachtet ihn als System, das die formale Ordnung der für die fiktive Welt formulierten Propositionen beschreibbar macht. Weiterhin generieren narrative Modalitäten durch ihr formatives Potenzial Ausgangspunkte für narrative Ereignisse (vgl. Doležel 1998, 113). Sie stellen also die basalen Strukturen für mögliche Narrationen dar, die Doležel (1976, 7) als „atomic stories“ bezeichnet. Er definiert dabei vier systemische Grundtypen narrativer Modalitäten: 1. 2. 3. 4.
The alethic System of „classical“ modalities which consists of the concepts of possibility, impossibility and necessity. The deontic System formed by the concepts of permission, prohibition and obligation. The axiological system which is assumed to be constituted by concepts of goodness, badness and indifference. The epistemic System represented by concepts of knowledge, ignorance and belief. (Doležel 1976, 7)
Führt man diese Konzeption mit der Raumtheorie Lotmans zusammen, so konstituiert sich ein semantisches Feld aus verschiedenen narrativen Modalitäten, die sich aus der Ordnung verschiedener Oppositions- und Äquivalenzstrukturen ergeben. Diese werden bereits in der Anlage einer fiktiven Welt geschaffen und bieten Ausgangspunkte für mögliche Narrationen. Dass diese Anlage bereits durch die verschiedenen fiktionalen Propositionen erzeugt wird, ermöglicht es, Anzeichen
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sowohl für mögliche ereigniskonstruierende Konflikte als auch spezifische Themen durch die Analyse der fiktiven Welt herauszuarbeiten. Im Falle des Pen-and-PaperRollenspiels eignen sich die durch die primäre Autorschaft verfassten Regel- und Quellenbände als Gegenstand für die Analyse derartiger formativer Strukturen in besonderem Maße, da das hier beschriebene Szenario (vgl. Kap. 3.2.3) den formalen Rahmen einer fiktiven Welt definiert. Wie auch Jara (2014, 52) anmerkt, bilden derartige Texte den Ursprung für eine größere Menge möglicher Narrationen, indem durch das Szenario bestimmte thematische Grundkonstanten der Welt festgelegt werden.
5.2.2.1 Analyse semantischer Ordnungen in Rollenspiel-Regelwerken Auch bei der Analyse der Rollenspielregelwerke besteht die Gefahr, dass die möglichen semantischen Felder aus allzu subjektiver Perspektive betrachtet werden. Zudem bietet das Regelwerk selbst keine durchgehende Erzählung an, aus deren Analyse die thematische Struktur rekonstruiert werden kann. Aus diesem Grund wurde sich hier für eine computergestützte quantitative Textanalyse (vgl. u. a. Jannidis 2010; Moretti 2016; Schöch 2017) entschieden, um durch die Untersuchung von Worthäufigkeiten und -korrelationen zentrale Begriffe, die ein semantisches Feld konstatieren, zu identifizieren. Gefolgt wird der These Ryan Heusers und Long Le-Khacs, die besagt, dass die Grundlage eines semantischen Feldes durch die in einer Frequenz korrelierenden Wörter gebildet wird (vgl. Heuser und Le-Khac 2012, 5). Durch diese durch Korrelationen geschaffenen Wortkohorten entsteht dann ein semantisches Feld, sofern die semantische Kohärenz der Worte innerhalb einer Kohorte interpretativ gewährleistet werden kann (vgl. Heuser und Le-Khac 2012, 7). Die quantitative Textanalyse soll diesbezüglich um die Interpretation konkreter (Rollenspiel-)Erzählungen ergänzt werden, in denen das im Regelwerk angelegte thematische Material konkretisiert wird, um so sicherzustellen, dass das beschriebene ordnungsstiftende Material auch in die Narration überführt wird. Als Werkzeug zur quantitativen Analyse wurde das Programm VOSViewer gewählt. VOSViewer ist eine Applikation, die sowohl das Text Mining (also die Ermittlung bestimmter Strukturen aus Textdaten) als auch die Visualisierung dieser Daten ermöglicht. Es bestimmt darüber hinaus nicht nur Korrelationen zwischen einzelnen im Text vorkommenden Substantiven (vgl. van Eck und Waltman 2011, 1), sondern konstruiert sogenannte Ko-Okkurrenz-Netzwerke, die Verbindungen zwischen verschiedenen Substantiven herstellen. Das Programm berechnet dabei die Nähe und Stärke dieser Relationen und stellt auch die Relevanz des Vorkommens der Terme im analysierten Text heraus (vgl. van Eck und
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Waltman 2011, 1–2). Wenngleich die Entwickler die Applikation für die Analyse wissenschaftlicher Texte sowie bibliografischer Datenbanken entwickelt haben, kann die Text-Mining-Funktion auch für andere Zwecke genutzt werden (vgl. van Eck und Waltman 2011, 3). Die vorliegende Analyse wurde anhand der Rohtextdaten einzelner Rollenspielregelwerke durchgeführt. Die Ermittlung der Ko-Okkurrenzen wurde nach relativer Häufigkeit (vgl. Schöch 2017, 282) durchgeführt, indem die 50 am häufigsten vorkommenden Begriffe im Text für die Analyse herangezogen wurden. Aus diesen Begriffen ermittelt VOSViewer einen relevance score, der die Begriffe gemäß ihrer Ko-Okkurenz mit anderen Begriffen bewertet. Hohe relevance scores beinhalten Substantive, die mit einer begrenzten Zahl anderer Substantive auftreten. Nach Nees Jan van Eck und Ludo Waltman (2014, 298) weisen hoch eingestufte Substantive eine spezifischere semantische Bedeutung im Text auf, während niedrig relevante eine eher allgemeinere Bedeutung tragen. Gemäß der empfohlenen Voreinstellung wurden aus der Menge der 50 relativ häufig vorkommenden Substantive 60 Prozent der Begriffe mit dem höchsten relevance score gewählt (= 30), um ein Ko-Okkurrenz-Netzwerkzu konstruieren. Im Hinblick auf die in Kapitel 3.2 geschilderte Beobachtung, dass Rollenspielregelwerke sowohl Informationen über das Spielsystem als auch über das Szenario enthalten, kann davon ausgegangen werden, dass nicht alle semantischen Kohorten des Netzwerks Auskunft über die Ordnung der fiktiven Welt liefern, sondern sich einige ebenfalls auf zentrale Bausteine des Spielsystems beziehen. Diese Einschätzung lässt sich unter anderem durch das Netzwerk des Rollenspiels Vampire: The Masquerade (Achilli und Webb 2011) belegen (Abb. 5). Das Netzwerk konstruiert sich aus vier relevanten26 Kohorten: Kohorte Grün und Kohorte Gelb enthalten die Begriffe „blood point“, „player“, „point“, „system“ und „willpower“ (grün) sowie „damage“, „dice“, „difficulty“, „dot“, „level“, „number“, „roll“, „strength“, „success“ (gelb). Diese Kohorten lassen sich als game patterns (vgl. Kap. 3.2.2), die für das Spielsystem konstitutiv sind, interpretieren. Kohorte Gelb bildet in diesem Fall die Struktur der zentralen Resolutionsmechanik ab, indem das Spielelement des Würfelns mit Berechnungs- und Auflösungsoperationen in Verbindung gesetzt wird. Kohorte Grün bezieht sich auf fundamental gauge patterns , die durch ein Punktesystem den Vergleich bestimmter spielrelevanter Variablen ermöglichen (hier: „blood points“).
Kohorte Lila enthält die Begriffe „masquerade“ und „20th anniversary edition“, was einer fehlenden Vorverarbeitung der textuellen Rohdaten geschuldet ist. Diese Begriffe tauchen innerhalb der Fußzeile des Buches auf jeder zweiten Seite auf.
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5 Strategien und Parameter des Erzählens im Pen-and-Paper-Rollenspiel
Abb. 5: Ko-Okkurrenz-Netzwerk des Regelwerkes Vampire: The Masquerade (eigene Darstellung).
Relevant für die Konstruktion des Szenarios und damit der fiktiven Welt erscheinen Kohorte Rot sowie Kohorte Blau: Kohorte Rot entwickelt durch Begriffe wie „vampire“, „beast“, „mortal“ „person“ und „humanity“ eine Oppositionsstruktur, die vor allem zwischen den Begriffspaaren „vampire“/„beast“ und „mortal“/ „humanity“ entsteht. Hieraus lässt sich auf eine alethische narrative Modalität (vgl. Doležel 1998, 115–119) schließen, die sich insbesondere in der gespaltenen Figur des Vampirs niederschlägt. Dies wird durch weitere Interpretationen des Spiels Vampire: The Masquerade bestätigt: Bowman (2010, 22) begreift die im Rollenspiel dargestellten Vampirfiguren einerseits als übernatürliche, blutrünstige Raubtiere, andererseits jedoch als Menschen, die immer noch über ihre Erinnerung und darin inbegriffen ihre eigenen moralischen Vorstellungen verfügt. Dormans (2006, 3) verweist darüber hinaus darauf, dass dieser innere psychologisierte Konflikt auch durch die Szenariobeschreibung von Vampire: The Masquerade aufgegriffen wird, was unter anderem auch durch die paratextuelle Markierung des Regelwerkes – „a storytelling game of personal horror“ – akzentuiert wird. Durch den Begriff der Blutsverwandtschaft („kindred“) schafft das Szenario jedoch eine weitere Ordnungsstruktur, die Kohorte Rot mit Kohorte Blau verbindet, welche ebenfalls eine oppositionelle Teilmenge eines größeren semantischen Feldes bildet: Begriffe wie „chapter“, „clan“, „camarilla“, „sabbath“ und „sect“ verweisen hier auf soziale, politische sowie religiöse Ordnungsstrukturen. Mit der Verwandlung in einen Vampir wird die Spielfigur Teil eines größeren Machtgefüges, das sich vor allem durch Verwandtschaftsverhältnisse kennzeichnet. Durch die Hervorhebung der deontisch-narrativen Modalitäten (vgl. Doležel 1998, 120–122) steht der oder die Einzelne somit in möglicher Verbindung oder in einem Konflikt mit bestimmten Gruppierungen und ihren individuellen Werte- und Normvorstellungen,
Abb. 6: Ko-Okkurrenz-Netzwerk des Regelwerkes Mouse Guard (eigene Darstellung).
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die die Welt von Vampire: The Masquerade prägen. Der „personal horror“, den das Spiel transportiert, ist somit nicht nur ein psychologisierter, sondern ebenso ein sozialer, in der der oder die Einzelne zum Spielball unterschiedlicher Machtgruppen innerhalb der vampirischen Gesellschaftsstruktur wird. Eine ähnliche Konstellation verschiedener semantischer Kohorten ergibt sich innerhalb der Netzwerkstruktur des Regelwerkes von Mouse Guard (Crane und Petersen 2017) (Abb. 6). Die Kohorten Gelb, Grün und Lila repräsentieren hier Elemente des Spielsystems, wobei letztgenannte mit den zentralen Begriffen „check“, „Kenzie“ und „Saxon“ auf einen Teil des Regelwerkes referieren, in dem einzelne Spielmechaniken (beispielsweise die Resolutionsmechanik, hier: „check“) mithilfe von Beispielen erläutert werden. Die Kohorten Gelb und Grün beschreiben mit „ability“, „skill“, „hunter“, „scout“ sowie „belief“, „goal“, „health“ und „instinct“ game patterns, die sich in den Bereich der Charaktererstellung (vgl. Kap. 3.2.2) einordnen lassen. Die Kohorte Gelb repräsentiert verschiedene wählbare Charakterklassen, die Kohorte Grün notwendige spielrelevante Eigenschaften, die die Figuren auszeichnen. Unmittelbare Relevanz für die Konstruktion der semantischen Ordnung haben hingegen die Kohorten Rot, Blau und Hellblau. Kohorte Blau repräsentiert mit ihren zentralen Begriffen „nature“ und „mouse“ die „nature force“ (vgl. Doležel 1998, 32) einer fiktiven Welt. „Resource“ und die enge Verbindung zum Begriff „health“ der Kohorte Grün stehen für die lebenserhaltende Kraft der Natur, auf die die Mäuse, die das spielbare Figureninventar des Rollenspiels Mouse Guard bilden, zurückgreifen. Die enge Verbindung zur Kohorte Hellblau, deren zentraler Begriff „weasel“ ist, deutet auf die gleichzeitige Gefahr der Natur hin, der die Mäuse ausgeliefert sind. In Opposition steht dazu die Kohorte Rot mit „city“, „territory“, „town“, „lockhaven“, was auf eine Trennung zwischen den Klassemen [Natur] und [Kultur] verweist. Durch „guard“ sowie „guardmouse“ wird dieses Oppositionspaar ebenso durch die Klasseme [Schutz] und [Gefahr] ergänzt. In Kohorte Rot finden sich zudem mit „season“, „mission“ und „winter“ Begriffe, die der narrativen Struktur neben einer räumlichen auch eine zeitliche Komponente verleihen. Dieses Interpretation der Ordnungsstruktur im Regelwerk lässt sich anhand der gleichnamigen Comicserie Mouse Guard nachvollziehen: Die Handlung dreht sich um eine Gruppe junger Mäuse, die als Wächter das Mäusekönigreich Lockhaven beschützen müssen. Das Königreich wird innerhalb der einzelnen Comicepisoden immer wieder durch äußere Feinde oder Naturereignisse bedroht, die Anlass für die verschiedenen Abenteuer der Hauptfiguren sind. Die Titelgebung der Comicreihe folgt dabei den Jahreszeiten: So setzt die erste Miniserie im Herbst 1152 ein und wird mit der Reihe Winter 1152 fortgesetzt.
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5.2.2.2 Semantische Ordnungen als Settingelemente Die am Beispiel von Mouse Guard veranschaulichte Verbindung einer spielsystemischen sowie dem Szenario zugehörigen Kohorte (hier: Grün und Blau durch die Nähe von „health“ und „nature“) verweist auf Fälle, in denen das Regelwerk semantisch-ordnungsstiftende Elemente des Szenarios in das Spielsystem einbettet und sie somit zu Settingelementen moduliert. Dies ist auch am Beispiel des Regelwerkes von Trail of Cthulhu (Hite 2008) ersichtlich (Abb. 7):
Abb. 7: Ko-Okkurrenz-Netzwerk des Regelwerkes Trail of Cthulhu (eigene Darstellung).
Die Kohorten Grün, Lila und Blau stellen hier spielsystemische Elemente dar, „test“ verweist auf Resolutionsmechaniken, „cost“ auf fundamental gauge patternsund die Eigenschaften „health“, „athletics“ und „scuffling“ auf die Charaktererstellung. Kohorte Rot stellt das zentrale Element für die Konstruktion des semantischen Feldes dar, „mythos“, „cult“ sowie „cthulhu mythos“ verweisen auf zentrale Motive, die das Rollenspiel von den Geschichten H.P. Lovecrafts adaptiert hat. „Clue“ liefert einen Hinweis auf die mögliche epistemische Plotgestaltung einer Detektiv- oder Mysterygeschichte, die nach Doležel (1976, 9) vor allem die deontischen und axiologischen Modalitäten hervorhebt: „The modal base of the mystery story is the transformation of ignorance (of false belief) into knowledge“. Diese Interpretation wird insoweit durch die Geschichten H.P. Lovecrafts bestätigt, als die Transformation und das damit zusammenhängende Aufdecken des Mysteriums zum Wahnsinn der häufig aus einer internen Fokalisierung erzählenden Protagonisten (vgl. Booth 2015, 31) führt. Die Figuren erlangen dieses Wissen, indem sie mit einer schrecklichen Begebenheit konfrontiert werden, die für die Figuren zumeist unerträglich erscheint. In der Kohorte Rot wird diese Transformationsstruktur durch den Begriff „stability loss“ angedeutet, der sich in der Nähe des Begriffes „clue“ befindet und somit auf die deontisch-axiologische Ordnungsstruktur verweist. Der Begriff „stability“ findet sich jedoch innerhalb der Kohorte Lila ebenso eng vernetzt. Einziger weiterer Begriff in dieser Kohorte ist „cost“, der auf fundamental gauge patterns referiert, in diesem speziellen Fall auf ein Kostensystem, das im Spielsystem ein
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Reservoir für die geistige Stabilität der Figuren liefert. Eine derartige Spielmechanik verbindet das Spielsystem mit der Ordnung des Szenarios, was sie folglich als ein maßgebliches Element des Settings kennzeichnet. Diese Interpretation der Korrelationen im Regelwerk wird auch durch die Analyse Hites (2007, 34) bestätigt, der die Spielmechaniken, die den geistigen Verfall einer Figur simulieren, als zentrales Merkmal vieler Regelwerke, die sich um Lovecrafts Cthulhu Mythos drehen,27 kennzeichnet. Im Gegensatz zu Lovecrafts Geschichten erscheint der geistige Verfall jedoch eher als ein „metanarrative encompassing“ (Hite 2007, 34), da er in der Entwicklung der Figuren dauerhaft präsent ist. Betrachtet man die Episodenhaftigkeit des Pen-and-Paper-Rollenspiels, ist Wahnsinn – ausgedrückt durch ein spielsystemisches Punktereservoir – kein Element, das plötzlich eintritt, sondern die Figur eine längere Zeit begleitet. Da ein derartiges Element in das Setting eingebettet ist und gleichzeitig maßgeblich die semantische Ordnung der Welt bestimmt, lässt das ludische Handeln der Spielenden narrativ bedeutungsvoll erscheinen und dient zugleich als Motor für narrative Kreativität (vgl. Bergström 2010, 12). Hinweise auf eine semantische Ordnung lassen sich jedoch nicht in den KoOkkurrenz-Netzwerken aller Rollenspiel-Regelwerke finden, wie es am Beispiel des Regelwerkes von Fate (Balsera 2013) belegt werden kann (Abb. 8). Während die Kohorten Grün, Hellblau sowie Gelb eher auf spielsystemische Elemente verweisen, konstruieren die Kohorten Blau und Rot semantische Felder, die weniger auf die konkrete Ordnung der fiktiven Welt, sondern eher auf eine narrations- und spielbezogene Ordnungsstruktur verweisen. Kohorte Blau liefert mit Begriffen wie „game“, „scenario“, „play“ oder „session“ Informationen zum Ablauf des Rollenspiels. Kohorte Rot verweist mit ihren Begriffen auf eine mögliche narrative Struktur der Rollenspielhandlung, vor allem durch Begriffe wie „story“, „world“, „problem“, „issue“ oder „trouble“. Gerade die letztgenannten Begriffe lassen sich mit Konzepten der Handlungslogik zusammenführen, indem sie potenzielle Momente zur Generierung von Ereignishaftigkeit andeuten. Sie stellen somit game patterns dar, die die Struktur möglicher Narrationen regeln (vgl. Kap. 3.2.2).
Da Lovecraft bereits zu Lebzeiten Kolleg/-innen ermutigt hat, Elemente seiner Geschichten zu übernehmen (vgl. Martin 2007, 21) und es nach seinem Tod keine eindeutigen Urheberrechtsinhaber/-innen gibt, haben viele Spielverlage Rollenspiele zu Lovecrafts Geschichten herausgebracht. Wenngleich Advanced Dungeons & Dragons bereits in einem Anhang auf Lovecrafts Werk verwies (vgl. Gygax 1979, 224), war Chaosiums Call of Cthulhu (Petersen 1981) das erste Regelwerk, das sich gänzlich der Welt des US-amerikanischen Autors widmete. Weitere Vertreter, wie beispielsweise Achtung! Cthulhu (Birch 2013), Cthulhu Dark (Walmsley 2017) oder Parodien wie Call of Catthulhu (Sparks 2014) folgten.
Abb. 8: Ko-Okkurrenz-Netzwerk des Regelwerkes Fate (eigene Darstellung).
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Dass Regelwerke nicht auf die Entwicklung einer semantischen Ordnung setzen, die die Anlage möglicher Themen und Narrationen liefert, kann zwei Gründe haben: Im Falle von Fate, aber auch anderer Regelpublikationen wie GURPS (Jackson 1996) oder Savage Worlds (Hensley 2003), liegt es vor allem daran, dass derartige Regelwerke nur als Basis für eine Vielzahl anderer Szenariopublikationen dienen. So existieren neben dem Basisregelwerk von Fate Core ebenso Publikationen wie Dresden Files (Butcher und Syaf 2013) oder Diaspora (Dyke et al. 2009), die zwar das Spielsystem von Fate nutzen, aber dennoch eine eigene semantische Ordnung in eine dem Szenario zugrunde liegende fiktive Welt integrieren. Andere Regelwerke, wie zum Beispiel die neueren Editionen des Spiels Dungeons & Dragons (Mearls et al. 2014), legen semantische Ordnungen zumeist durch separat erschienene Quellenbände und/oder Abenteuerpublikationen fest. Das Regelwerk ist so breit angelegt, dass es ermöglicht, verschiedene Narrationen und Themen zu realisieren. Der zweite Grund verweist auf die in der Fankultur populäre Aussage „System Matters“ (Edwards 2004): Nicht alle Rollenspiele fördern durch die Anlage ihres Regelwerkes ein narratives Spiel. Gerade frühe Pen-and-Paper-Rollenspiele wie Dungeons and Dragons (Gygax und Arneson 1974), aber auch OSR28-Varianten wie Dungeon Crawl Classics (Goodman et al. 2017), integrieren zu großen Teilen lediglich spielsystemisch relevante Beschreibungen in ihre Grundregelwerke und überlassen die narrative Planung – sofern sie gewünscht ist – der individuellen Spielgruppe. Im Umkehrschluss bedeutet es jedoch nicht, dass Regelwerke, die vornehmlich ihr Spielsystem darstellen, kein Potenzial zur Konstruktion narrativer Rezeptionsangebote bieten: Am Beispiel von Fate zeigt sich, dass die Regelbeschreibung auch strukturelle game patterns integriert, die die narrative Ordnung betreffen.
5.2.3 Figuren Die Verkörperung von Figuren stellt ein konstitutives Element des Rollenspiels dar (vgl. Hammer 2018, 169; Schmidt 2012, 65) und ist wichtiger Bestandteil der Inszenierung vor dem Spielprozess. Figuren nehmen zugleich für die Konstitution von Narrativität eine bedeutende Rolle ein (vgl. Herman 2009, Preface; Thon 2016, 29; Ryan 2006, 8), da sie als zentrale handelnde Agenten maßgeblichen Einfluss auf die Ereigniskonstitution ausüben.
Als OSR (engl.: Old School Revival/Renaissance) werden Pen-and-Paper-Rollenspiele bezeichnet, die in neuerer Zeit erschienen sind, jedoch in ihrer Gestaltung Spiele und Spielstile der 1970er Jahre aufnehmen.
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Jens Eder (2008a, 710) begreift Figuren als fiktive Wesen mit spezifischen Merkmalen, Beziehungen und Verhaltensweisen. Als kommunikative Artefakte entstehen sie aus dem Zusammenspiel des spezifischen Zeichenmaterials eines fiktionalen Textes und der „intersubjektive[n] Konstruktion von Figurenvorstellungen“ (Eder 2008a, 68). Sie repräsentieren folglich „abstrakte Gegenstände, die durch kommunikatives Handeln erschaffen werden und so zum Teil einer objektiven sozialen Wirklich werden – ähnlich wie Zahlen, Gesetze, Theorien oder Geld“ (Eder 2008a, 68). Je nach Funktion und Informationsvergabe nehmen Figuren unterschiedliche Positionen im fiktionalen Text ein, sie können einerseits durch ihre Charakterisierung mitunter an mediale und soziale (Stereo-)Typisierungen anknüpfen, andererseits jedoch deutlich differenzierter dargestellt werden, was Rezipierende dazu einlädt, ein individualisiertes mentales Figurenmodell zu entwickeln (vgl. Eder 2008a, 229–230). Darüber hinaus ergeben sich verschiedene indirekte Bedeutungen von Figurendarstellungen, so zum Beispiel symbolische oder symptomatische Funktionen, in denen sie als Zeichen, Folgen oder Faktoren spezifischer direkter oder übertragender Kommunikationszusammenhänge stehen. Als übergreifendes Merkmal all dieser Darstellungen lässt sich konstatieren, dass sich Figuren von anderen Objekten einer fiktiven Welt vor allem durch das Vorhandensein eines intentionalen Innenlebens unterscheiden, das sich aus Gefühlen, Zielen und Wahrnehmungen zusammensetzt (vgl. Eder et al. 2011, 13), was in narrativer Hinsicht wiederum als Motor für das Figurenhandeln fungiert. In Anlehnung an Eders Figurentheorie entwickeln Thon und Schröter (2014) eine Heuristik zur Beschreibung von Computerspielfiguren, deren Übertragbarkeit auf analoge Spiele bereits diskutiert wurde (vgl. Kap. 2.2). Neben dem Status als fiktive Wesen, die sich durch bestimmte Eigenschaften und Verhaltensweisen auszeichnen, besitzen Spielfiguren eine ludische Relevanz, was die Figurendarstellung neben einem narrativen und einem kommunikativen Repräsentationsmodus um eine simulative Form der Repräsentation erweitert (vgl. Thon und Schröter 2014, 47–48). Auf der Rezeptionsebene spiegeln sich diese Modi in drei verschiedenen Interpretationsoder Erfahrungsschemata wider, die Thon und Schröter in Anlehnung an die von Fine entwickelte framing-Typologie (vgl. Kap. 4.1) der Kommunikation im Pen-and-Paper-Rollenspiel als narrative, ludische und soziale Erfahrungen klassifizieren (vgl. Thon und Schröter 2014, 48–49). Narrativ ist die Rezeption dann, wenn Spielende Figuren als fiktionale Wesen mit einem spezifischen Innenleben wahrnehmen. Ein ludischer Erfahrungsmodus zeichnet sich dadurch aus, dass die Aufmerksamkeit der Spielenden auf den spielmechanischen Elementen der Figur liegt. Eine soziale Erfahrung wird vor allem in Mehrspielerspielen geschaffen, wenn Figuren als Repräsentationen anderer Spielender in einer Spielwelt angesehen werden (vgl. Thon und Schröter 2014, 49–50). Im Pen-and-Paper-Rollenspiel wird der simulative Repräsentationsmodus vor allem durch die spielfunktionale Relevanz des eigenen Figurenhandelns geschaf-
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fen. Funktional können auch die einzelnen Rollen sein, die Spielende durch eine bewusste Charakterwahl oder -erstellung konkretisieren. Diese Rollenwahl kann beispielsweise durch die Festlegung einer Charakterklasse erfolgen, wie es in vielen Fantasy-Rollenspielen der Fall ist, die sich in Anlehnung an Dungeons & Dragons (Gygax und Arneson 1974) entwickelt haben, oder – wie im Spiel Vampire: The Masquerade (Achilli und Webb 2011) – durch die Zuordnung der Spielfigur zu einer bestimmten Fraktion (vgl. Björk und Zagal 2018, 328). In spielfunktionaler Hinsicht hält eine derartige Auswahl spezifische Charakterfähigkeiten bereit, die die Spielhandlungen der Spielenden beeinflussen. Gleichzeitig bietet eine Rollenwahl allen Spielenden eine mögliche Orientierung über die spielerischen Stärken und Schwächen der jeweiligen Charaktere (vgl. Björk und Zagal 2018, 328). Die Auswahl bestimmter Charakterklassen und -fertigkeiten sagt jedoch auch etwas über die semantische Ordnung der fiktiven Welt aus, die dem Spiel zugrunde liegt, und fungiert folglich als Settingelement, das die spielsystemische Ebene mit der Ebene des Szenarios verbindet. So verspricht die Empfehlung in Vampire: The Masquerade, dass alle Spieler/-innen-Charaktere Vampire sein sollten, eine gänzlich andere Weltordnung als das Rollenspiel Buffy: The Vampire Slayer (Carella 2002), dessen Welt in zeitlicher und räumlicher Hinsicht zwar Ähnlichkeiten zu Vampire: The Masquerade evoziert (westlich-moderne Prägung), die Zuschreibung axiologischer Modalitäten – einschließlich der Zuordnung von Gut und Böse (vgl. Doležel 1998, 123–124) – jedoch beinahe gegenteilig anlegt. Die Verbindung ludischer und fiktionaler Elemente im Setting zeigt, dass die Einbettung der Regeln in die Fiktion nicht willkürlich gestaltet ist (vgl. Hjaltason et al. 2015, 7; Juul 2005, 14). Sie folgt der Notwendigkeit der Spielentwicklung (vgl. Björk und Zagal 2018, 324), den Spielenden schon vor Spielbeginn mögliches Referenzwissen zu verschaffen, das die bedeutungstragenden Handlungsmöglichkeiten innerhalb der fiktiven Welt eröffnet. Im Folgenden werden diese spielfunktionalen Elemente der Figurenentwicklung exemplarisch herausgearbeitet (Kap. 5.2.3.1), um im Anschluss (Kap. 5.2.3.2) Bezüge zur narrativen Anlage der Figur herzustellen. 5.2.3.1 Spielfunktionale Elemente der Figurenentwicklung Die spielfunktionalen Elemente der Charakterentwicklung, die Flöter (2018, 131–132) als äußere Prozesse der Figurengestaltung beschreibt, schlagen sich nicht nur innerhalb der Wahl einer Charakterklasse nieder, sondern auch in jeglichen Mikroprozessen der Charakterentwicklung, die diese Auswahl begleiten. Dies illustrieren vor allem die Prozesse der Figurenentwicklung, die bereits vor Spielbeginn stattfinden. Zentral sind hier nicht nur die Überlegungen der Spielenden über ihre Figuren, sondern auch, dass jene Entscheidungen auf einem formalisierten Charakterdokument festgehalten werden (vgl. Lappi 2004, 97). Dieses enthält vornehmlich settingrele-
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vante Informationen, die anhand verschiedener Spielmechaniken im Rahmen der game patterns der Charakterentwicklung (vgl. Kap. 3.2.2) ausgehandelt werden. Derartige Mechaniken können zum Beispiel in Gestalt einer Punktevergabe oder durch Auswürfeln bestimmter Charakterwerte vollzogen werden (vgl. Schmidt 2012, 256–257), wie es im Spielsystem von Call of Cthulhu der Fall ist. Hier können Spielende je nachdem, welchen Beruf sie für ihre Figur gewählt haben, eine Anzahl von Punkten auf verschiedene Fertigkeiten verteilen, die sich aus den berechneten Attributswerten ergeben. Ein niedriger Fertigkeitswert verringert die Chance, dass bestimmte erwünschte Handlungen erfolgreich sind, was im Spielprozess wiederum den Verlauf der fiktionalen Kommunikation signifikant beeinflusst. Scheitern Spielende beispielsweise bei einem Würfelwurf auf die Fertigkeit „Verborgenes erkennen“, können ihnen handlungsrelevante Informationen vorenthalten werden. Weiterhin dienen derartige (Un-)Fähigkeiten der individuellen Figuren als Elemente einer Figurenbeschreibung, die nicht nur spielerisch funktionalisiert sind, sondern gleichsam Relevanz für die fiktive Welt haben. Dies kann anhand einer Figurenbeschreibung innerhalb der Szenariopublikation „Das Geheimnis des Schwarzwaldhofs“ illustriert werden, die zudem zeigt, dass die ludische Funktionalisierung nicht nur die Figuren der Spielenden, sondern auch Nicht-Spieler/innen Charaktere betreffen kann. Hans Wieland Beschreibung: Hans’ Wangen sind eingefallen und durch die hohen Wangenknochen wirkt sein Gesicht dreieckig. Die Augen glänzen leicht fiebrig und die einst so präzise Frisur führt ein wildes Eigenleben. Tiefe Furchen haben sich um seinen schmalen Mund gegraben. Seine Kleidung hat genauso gelitten. Früher trug er zwar einfache, aber doch immerhin saubere und ordentliche Sachen, sonntags auch mal einen Anzug. Nun scheint er sich ständig in einen dicken, speckigen Mantel zu hüllen, der schon einen leicht säuerlichen Geruch verströmt. Insgesamt hat Herr Wieland ein Bad dringend nötig. Noch beunruhigender als der Verfall seines Äußeren ist seine psychische Veränderung. Er scheint einem Gespräch nicht lange folgen zu können, so als würde er von Stimmen in seinem Kopf abgelenkt. Sein Blick gleitet beständig durch den Raum, seine Bewegungen wirken fahrig und kraftlos. Stets trägt er ein Halstuch (das verdecken soll, dass der Klon keine Narbe am Hals hat). Auch hält er sich auffällig oft den Bauch (er hält die Eingeweide zurück, die immer wieder aus der Bauchhöhle rutschen). HANS WIELAND (35) Klon ST 9 KO 9 GR 12 IN 16 MA 13 GE 10 ER 12 BI 17 GS 23 Trefferpunkte: 11 Schadensbonus: –
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Angriff: Faustschlag 50 %, Schaden 1W3; improvisierte Keule 50 %, Schaden 1W6 Fertigkeiten: Ansehen 60 %, Ausweichen 20 %, Bibliotheksnutzung 60 %, Fremdsprache (Englisch) 40 %, Fremdsprache (Französisch) 80 %, Fremdsprache (Latein) 70 %, Muttersprache (Deutsch) 95 %, Schleichen 50 %, Überzeugen 60 %, Verbergen 50 % (Heller 2012, 396)
Beim ersten Teil dieser Beschreibung der Figur Hans Wieland („Beschreibung“) handelt es sich um eine reine dem Szenario zugeordnete Darstellung. Fokus wird hier auf das Aussehen der Figur sowie ihr Verhalten gelegt, das im Kontext der fiktionalen Weltordnung als figurenuntypisch und beunruhigend charakterisiert wird. Diese Charakterisierung soll darauf hinweisen, dass die Figur bereits Opfer des übernatürlichen Wesens geworden ist, was sie im Spannungsfeld zwischen Vertrautheit und Fremdheit verortet. Die Settinginformationen ergänzen und erweitern diese Charakterisierung. An anderer Stelle wird Hans Wieland als „bekannter […] Newcomer-Schriftsteller von immerhin nationalem Ruhm“ (Heller 2012, 369–370) beschrieben, was sich innerhalb seiner Fertigkeitswerte durch einen erhöhten Ansehenswert niederschlägt. Seine sprachlich-künstlerische Bildung wird außerdem durch eine breite Sprachkenntnis sowie die erhöhte Fertigkeit der „Bibliotheksnutzung“ repräsentiert. Auf seine körperlichen Gebrechen verweisen hingegen seine niedrigen Attributswerte „ST 9“ (Stärke) sowie „KO 9“ (Konstitution).29 Andere Formen der Charaktererstellung, wie das life-path-System (vgl. White et al. 2018, 73), erlauben, narrative Rezeptionsangebote innerhalb der Figurenbeschreibung einzubetten. Eine derartige Spielmechanik, wie sie zum Beispiel das Spielsystem des Rollenspiels The Burning Wheel (Crane 2002) integriert, bindet die ludischen Fähigkeiten an konkrete Lebensereignisse der Figuren. So muss man sich bei der Charaktererstellung für einen Geburtsort und eine Ausbildung innerhalb der sozialen Hierarchie entscheiden, die die Möglichkeit eröffnen, spezielle Fähigkeiten zu erlernen. Gerade die Verbindung mit einer temporalen Komponente bietet hierbei das Potenzial, narrative Historisierungen zu realisieren, die die Figur bereits vor Spielbeginn in die soziale Struktur der fiktiven Welt einbettet, und eine Dynamik zu erzeugen, die das Leben der Figuren um bereits vergangene Ereignisse erweitert. 5.2.3.2 Das Figurenbewusstsein als Indikator für Narrativität Betrachtet man die von Spielenden geführten Figuren und ihre Entwicklung aus narratologischer Perspektive, lassen sich die vorangehenden spielfunktionalen Beobachtungen dahingehend erweitern, dass sie Potenziale für eine narrative Deutung bereithalten. Die hypertextbasierte Erzähltheorie sieht die von Spielenden geführten
Werte wie Intelligenz (IN) und Bildung (BI) deuten im Beispiel an, dass ein Wert von 9 eher niedrig zu interpretieren ist.
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Figuren als zentrale narrative Agenten an (vgl. Meifert-Menhard 2013, 15), die als perspektivischer Ausgangspunkt für das Wahrnehmen der storyworld gelten. Im Gegensatz zu nicht-ergodischen Texten wird diese Eigenschaft darüber hinaus um die dem Rollenspiel innewohnende funktionale Rolle ergänzt. Über Figuren werden damit nicht nur die Wahrnehmungen und Eindrücke der storyworld transportiert, sondern es wird auch durch bedeutungstragende Entscheidungen Einfluss auf die Spielhandlung genommen. Aus diesem Grund fungieren Spieler/-innen-Charaktere innerhalb der Handlungsstruktur der subjektiv, aber auch intersubjektiv konstruierten storyworld als Protagonist/-innen, da sie durch ihre Wahrnehmung ereignisstiftende Momente mittels semantischer Grenzüberschreitungen (vgl. Lotman 1972, 327–329) generieren können. Wie im Computerspiel agieren Spielfiguren zumeist in einer Heldenrolle, indem sie durch ihre physische und/oder moralische Stärke eine Transformation des semantischen Raumes herbeiführen können (vgl. Hennig 2017, 115–116). Diese Fähigkeit zur Transformation des semantischen Raumes wird in allen analysierten Szenariomodulen, aber vor allem in Die Zuflucht deutlich. Die Spieler/innenfiguren werden in Das Schwarze Auge explizit als Held/-innen bezeichnet, die durch ihre heldenhaften Taten die ursprüngliche Ordnung der Welt wiederherstellen: So sollen sie in der Handlung des Abenteuers den Schwächeren helfen, indem sie durch die Aufklärung von Diebstählen und Morden einen zu Unrecht Beschuldigten aus der Gefangenschaft befreien (vgl. Don-Schauen 2008b, 23). Die Ordnung wird wiederhergestellt, nachdem sie die gestohlenen Gegenstände an die ursprünglichen Besitzer zurückgeben und die wahren Täter verfolgen und/oder bestrafen. Die Rolle der Spieler/-innen-Charaktere als zentrale Wahrnehmungs- und Interaktionsinstanz ist jedoch nicht unbedingt ausschlaggebend dafür, dass eine Figur narrative Rezeptionsangebote erzeugt. Wie auch Herman (2009, 137–138) betont, ist in diesem Kontext nicht nur die reine Wahrnehmung, sondern ebenso das Erfahren ein zentrales Merkmal von Narrativität, was die Existenz eines menschenähnlichen Bewusstseins der jeweiligen Figur voraussetzt. Auch Ryan sieht diese mentale Dimension als Voraussetzung für die Erzeugung einer storyworld. So müssen einige Aktanten innerhalb der dargestellten Ereignisse über ein „mental life“ (Ryan 2006, 8) verfügen und emotional auf die in der Welt herbeigeführten Veränderungen reagieren. Gleichzeitig müssen einige Ereignisse auf den bedeutungstragenden Handlungen der Aktanten gründen, die wiederum auf subjektive Ziele und Pläne zurückgeführt werden können (vgl. Ryan 2006, 8). Eder (2008a, 63) bezeichnet diese notwendige Eigenschaft, die ein fiktives Wesen zur narrativen Figur macht, als Intentionalität, also die „Fähigkeit, Objekte mental zu repräsentieren“. Intentionale Handlungen, die nicht unbedingt bewusst erfolgen müssen, jedoch immer dem physischen Handeln einer Figur vorausgehen, stehen nach Doležel (1998, 59–60) im Gegensatz zu nicht intentionalen Ereignissen, wie Naturereignissen oder Unfällen innerhalb der storyworld. Während
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Intentionalität als zu undifferenziert und unspezifisch erscheint, da sie von Figuren selten explizit reflektiert wird, begreifen Doležel (1998, 63) und auch Eder vor allem Motivationen als zentrale kognitive Auslöser eines Figurenhandelns, die oft direkt oder indirekt durch den narrativen Text vermittelt werden. Sie gelten als „Schnittstelle der Figuren zur Handlung“ (Eder 2008a, 720) einer narrativen Darstellung, in der Kausalität zwischen den Bewusstseinsvorgängen der Figuren und der Ereigniskonstitution geschaffen wird (vgl. Eder et al. 2011, 24; Jannidis 2008, 42). Eder et al. (2011, 25) sehen die Motivation als Kern der Persönlichkeit einer Figur, die in der Rezeption das zentrale Element ihrer Bewertung und Interpretation darstellt. Doležel (1998, 64–65) benennt zwei Aspekte, die die Konstitution von Motivationen bedingen: Emotionen und Entscheidungen. Es mag auf den ersten Blick naheliegend sein, gerade letzteren Aspekt im Pen-and-Paper-Rollenspiel dauerhaft realisiert zu sehen, da Entscheidungen notwendig sind, um das Spiel und die Narration weiterzuführen (vgl. Meifert-Menhard 2013, 71–72). Wichtig ist jedoch der Grund, warum sich für genau diese Handlung entschieden wird: Sind es beispielsweise spielstrategische Gründe, lässt sich nicht von einer Entscheidung sprechen, die aus einer figureninternen Motivation getroffen wurde. Derartige Entscheidungen bieten folglich nicht das Potenzial, Narrativität zu erzeugen. Die para-akademische Rollenspieltheorie sieht die Anlage eines narrationsfokussierten Spiels bereits in der Charaktererschaffung begründet (vgl. Edwards 2003). Indem figurenbezogene Ziele und Pläne definiert werden, eröffnet sich die Möglichkeit, figurale Emotionen während des Spiels hervorzurufen (vgl. Lankoski 2004, 140). In der Charaktererstellung laufen derartige Entwicklungen neben den zumeist formalisierten Prozessen der regelbasierten Figurenerstellung parallel ab, indem Figurenbiografien konzipiert oder – wie es unter anderem im Spiel Dread (Ravachol 2005) der Fall ist – Fragen beantwortet werden, die auf Motivationen, Ziele und wichtige Ereignisse in der Vergangenheit der Figur hinweisen. Dread ermöglicht es dabei, sogenannte intrusive Fragen zu stellen (vgl. Ravachol 2005, 17), die im Spielprozess herausfordernd wirken sollen, da sie einen für die Handlung entstehenden Konflikt andeuten (so zum Beispiel „Why do you intend to convince the others to split up whenever the opportunity arises, despite the recent events?“; Ravachol 2005, 91). Derartige in den Regelwerken angebotene Hilfen zur Ausgestaltung einer Spielfigur deuten an, dass einige Rollenspiele das narrative Spiel fördern, indem sie Spielende gezielt zur Entwicklung eines Figurenbewusstseins anregen. Zwei weitere Beispiele sollen illustrieren, inwieweit Regelwerke diese Möglichkeit einbinden beziehungsweise offenlassen. Im Rollenspiel The Burning Wheel (Crane 2002) umfasst die Charaktererstellung neben der Entwicklung einer möglichen Figurenbiografie mittels des life-pathSystems die Erschaffung charakterlicher Merkmale durch bestimmte „beliefs“ oder „instincts“ (Crane 2002, 98). „Beliefs“ bilden ein bis drei Grundsätze, die Spielende
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für ihre Figuren festlegen müssen. Diese können sowohl moralischer Natur sein als auch Ziele, auf die der Charakter hinarbeitet („I will ingratiate myself to Dvalin [Rich’s Dwarf], and make myself useful to him at any cost“; Crane 2002, 100), formulieren. „Instincts“, von denen Spielende ebenfalls einen bis drei wählen müssen, stellen konkretere Handlungen dar, die zumeist mit einer Spielmechanik verbunden sind (vgl. Crane 2002, 101). Sie repräsentieren den unbewussten Teil der Intentionalität, der durch bestimmte Situationen ausgelöst wird (zum Beispiel „If confronted, I take agressive Stance“; Crane 2002, 101). Beide Elemente beeinflussen die Motivation der Figuren, die das Handeln in konkreten Situationen festlegt. Während „beliefs“ vor allem Situationen betreffen, in denen Figurenentscheidungen bewusst auf Basis der festgelegten Normen und/oder Ziele getroffen werden, verweisen „instincts“ auf die emotionsbasierten Aspekte der Figurenmotivation. Die vierte Edition des Spiels Das Schwarze Auge (Römer 2007) geht aufgrund von spezifischen figurenbezogenen Vor- und Nachteilen einen anderen Weg bei der Entwicklung eines Figurenbewusstseins, der deutlich stärker in das Setting eingebettet ist. Mittels eines Punktekaufsystems können bestimmte Figureneigenschaften und -fähigkeiten erworben werden, die nicht nur äußere Aspekte der Figur (zum Beispiel „Widerwärtiges Aussehen“ oder „Zwergenwuchs“; Römer 2007, 274), sondern ebenfalls Bewusstseinsaspekte kennzeichnen. Ein Beispiel stellt der Nachteil „Impulsiv“ dar: Impulsiv (–5 GP): Auch und gerade unter Anspannung neigt der Charakter dazu, kein zweites Mal nachzudenken, sondern sofort zu handeln; sämtliche KL- oder IN-Proben, die eine solche direkte Aktion verhindern würden, sind um 5 Punkte erschwert. Im Kampf sind alle Manöver, die in irgendeiner Weise auf den Sonderfertigkeiten Finte oder Meisterparade aufbauen, um 2 Punkte erschwert. (Römer 2007, 265)
Impulsivität verortet sich nach Doležel (1998, 69) innerhalb eines „motivational system“ in kognitiver Hinsicht als Handeln, das triebgesteuert ist. Sie steht im Gegensatz zur Rationalität und wird durch bestimmte Emotionen motiviert (vgl. Doležel 1998, 71–72). Eine derartige Konzeption von Impulsivität wird auch durch den ersten Satz der Nachteilsbeschreibung im Regelwerk von Das Schwarze Auge illustriert. Ergänzt wird diese Beschreibung durch spielsystemische Variablen, die ein erschwertes Handeln des Spieler/-innen-Charakters in bestimmten Situationen nach sich ziehen. Da die Elemente des Spielsystems mit einer Beschreibung, die die fiktive Figur betrifft, verbunden sind, wird der Nachteil somit zu einem Settingelement, das mit dem figuralen Bewusstsein in enger Verbindung steht. Dabei ist die Auslegung der Impulsivität im Gegensatz zu den in The Burning Wheel integrierten „Instincts“ relativ offengehalten, wohingegen die ludischen Auswirkungen eindeutig festgelegt sind. Speziell dieses Beispiel verdeutlicht, dass die Entwicklung eines
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Spieler/-innen-Charakters nicht unbedingt mit seinem Ausspielen gleichzusetzen ist, da gerade die äußere Figurenentwicklung, die auf Setting- und Spielelementen beruht, lediglich einen Rahmen festlegt, der im Verkörpern der Figur gedeutet werden muss (vgl. Jara 2014, 44). Ari-Pekka Lappi (2004, 104) sieht daher das Charakterdokument als „black box“: Seiner Auffassung nach stellt es lediglich dar, was eine Figur ist, und weniger, wie die Figur zu dem geworden ist, was sie darstellt. Letzteren Aspekt müssen Spielende im Spielprozess selbst konkretisieren, indem sie sich während des Ausspielens über die Gefühle und Motivationen ihrer Figuren bewusstwerden (vgl. Lappi 2004, 104). Edward Choy (2004, 55) verweist in diesem Kontext darauf, dass eine Rollenspielfigur nicht nur durch das Charakterdokument, sondern auch durch die Interaktion mit anderen Charakteren definiert wird. Dass die Konstruktion interpersonaler Netzwerke aus Zielen, Plänen, Kausalitätsrelationen und psychologischen Motivationen auch einen Aspekt von Narrativität innehat, merkt auch Ryan (2004, 8–9) an. Doležel (1998, 101) sieht diese Netzwerke ebenfalls als Einflussfaktor für figurale Motivationen, sei es durch kognitive Wissensrelationen oder durch emotionale beziehungsweise soziale Beziehungen. Im Pen-and-PaperRollenspiel kommen derartige interpersonale Netzwerke durch die Interaktion zwischen den Spieler/-innen- sowie Nicht-Spieler/-innen-Charakteren zustande, können jedoch auch im Regelwerk angelegt sein. So besteht der regelgeleitete Prozess der Charakterentwicklung im Spiel Fiasco (Morningstar und Segedy 2016 [2009]) vornehmlich darin, Beziehungen zu den anderen Figuren der Mitspielenden zu entwickeln. Teilnehmende konstruieren eine Beziehung zu den Figuren ihrer Tischnachbar/-innen, während sie einerseits den Typ der Beziehung festlegen („Parent and step-child“ oder „Drug manufacturer and dealer“; Morningstar und Segedy 2016 [2009], 90) und andererseits ein besonderes Element bestimmen, das diese Beziehung kennzeichnet. Dieses Element, das entweder ein Ort, ein Objekt oder ein Bedürfnis sein kann, erscheint dabei essenziell für die Beziehung und kann im Spielprozess bestimmte Konflikte auslösen.30 Die narrative Einbettung von Figuren erfolgt erst in der Performanz des Spielprozesses, weswegen man sie als prä- und meta-narrative Instanzen (vgl. Wilde 2019) bezeichnen kann. Prä-narrativ, weil ihre Erstellung und Anlage bereits vor dem Erzählprozess selbst stattfindet und die Spielenden zu diesem Zeitpunkt in der Regel noch über wenig Wissen verfügen, wie sich die Narration entfaltet. Metanarrativ, weil die Figuren und ihre dynamische Charakterentwicklung als Konti Nicht nur, weil Fiasco die Charakterentwicklung jenseits dieser Beziehungskonstellationen sehr offenhält, sondern auch, weil die konkrete Anwendung weiterer Spielmechaniken relativ begrenzt ist (es kommt lediglich eine Resolutionsmechanik zum Auflösen der Szenen zum Tragen), liegt das Spiel im Randbereich einer Pen-and-Paper-Rollenspieldefinition.
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nuum zwischen den einzelnen Rollenspielerzählungen fungieren können. Viele Pen-and-Paper-Rollenspiele rahmen die Charakterentwicklung durch ludische Elemente, wie den Hinzugewinn von Erfahrungspunkten und Levels (vgl. Björk und Zagal 2018, 332), weswegen gerade solche Spielsysteme das fortlaufende Entwickeln der Spieler/-innen-Charaktere nahelegen. Tauchen derartige Figuren in verschiedenen Rollenspielerzählungen auf, sind sie insofern meta-narrativ, als sie eine transfiktionale Relation (vgl. Ryan 2017, 528) zwischen verschiedenen storyworlds bilden, unabhängig davon, ob es sich um eine multikursiv-episodische Ereignisstruktur handelt (vgl. Bertetti 2014, 2353) oder die storyworlds im Rahmen einer narrativen Expansion (vgl. Ryan 2013b, 366) weitere Kontinuitätsrelationen aufweisen. Letzteres ist der Fall, wenn es sich um serielle Narrationen verschiedener Spielsitzungen handelt, die narrativ an vorangegangene Sitzungen anknüpfen, so beispielsweise bei Kampagnenstrukturen (vgl. Kap. 5.2.1.4). 5.2.3.3 Figurenkonstitution im Spielprozess Die Einführung von Figuren im Spielprozess erfolgt innerhalb der aufgezeichneten Daten häufig durch eine kurze beschreibende Passage der oder des erzählenden Teilnehmenden. Auffällig sind Beschreibungssequenzen, in denen Spielende den anderen Spielenden ihre Figuren vorstellen. Diese sind in beinahe allen aufgezeichneten Sitzungen zu finden, die einzige Ausnahme bildet die Gruppe S7, die mit ihrer Sitzung an eine vorherige Sitzung anknüpft (belegbar durch die gemeinsame Rekapitulation der vergangenen Erzählung). Im Folgenden sollen anhand der Figurenbeschreibungssequenz der Spielgruppe S5 Erzähl- sowie Rahmungsstrategien herausgearbeitet werden. S5: Pathfinder 1 S5.1: Einstieg SL:
Th:
Jetzt wo (.) ihr euch auch alle so ein bisschen an das Licht gewöhnt habt (.) ähm könnt ihr euch alle einmal (.) beschreiben für eure Mitspieler (.) wie ihr so ausseht. Wir fangen einfach bei Kai an Kay. Okay. Ä:h Kay so ein k:leiner Junge würde man sagen, er hat so ein bisschen abgetragene Kleidung, so verwuschelte braune Haare. (.) Äh (.) sieht im Moment aus als alles furchtbar spannend finden würde und das ist ja so toll dass man hier ist also (.) ähm (1.0) er lächelt auch stumpf alle an, auch wenn sie böse gucken, und äh ja. (1.0) Viel gibt es über ihn nicht zu sagen >er hat keine Schuhe an.< 00:26:25–00:26:59
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Der Spielleiter (SL) initiiert diese Vorstellungsrunde, indem er die durch die Narration vermittelten Umstände als Begründung dafür nutzt, die Figuren näher zu beschreiben („Jetzt wo (.) ihr euch auch alle so ein bisschen an das Licht gewöhnt habt“). Anschließend agiert er moderierend, während er die Spielenden nach der Reihe aufruft, ihre Figuren vorzustellen. Theresa (Th) beginnt dann, ihre Figur Kay zu beschreiben. Sie wiederholt zu Beginn den Namen und geht zu den körperlichen Eigenschaften ihrer Figur über. Da sie näher auf sein Verhalten und seine Mimik („lächelt […] stumpf alle an“) eingeht, liefert sie einen Einblick in mögliche mentale Eigenschaften, verunklart sie jedoch durch eine Perspektivmarkierung („sieht im Moment aus“). Aus welcher Sicht diese Perspektive vermittelt wird, lässt sie offen, auch der das Aussehen betreffende Einschub („würde man sagen“) kann als eine derartige Unbestimmtheitsstelle gedeutet werden. Dies kann eine bewusst gesetzte Markierung für eine der Figur Kay unterstellte erzählerische Unzuverlässigkeit sein (vgl. Kap. 5.1.3). Anschließend beschreibt Uwe (Uw) seine Figur, nachdem er vom Spielleiter dazu aufgefordert wurde: S5: Pathfinder 2 S5.1: Einstieg Uw:
SL:
Uw:
Lucian hat äh(.) so ein recht farbenfroh auch ((zeigt auf ein Dokument)) dem Bild entsprechend tatsächlich ähm (.) Kleidung einen sehr sehr gepflegten schönen Bart. (1.0) Ähm (.) und äh hat als als Gür- also trägt auch ein Gürteltuch allerdings in orange also hier ist es jetzt rot ((deutet erneut auf das Dokument)) also (.) äh (.) ein oranges Gürteltuch. (.) Und ja durchschnittlich groß. Mhm. Wenn man (.) Lucian jetzt so ins Gesicht schaut ähm (.) wie zufrieden sieht er gerade aus also was ist sein Gesichtsausdruck gerade? Ähm, (1.0) Wenn ichs skeptisch ist vielleicht das falsche Wort, ähm (.) aber so in diese Rich-also (.) er ist nicht ganz zufrieden. 00:27:12–00:27:51
Auch Uwe beginnt mit der Nennung des Namens, zieht für die anschließende Beschreibung der körperlichen Eigenschaften jedoch eine visuelle Unterstützung heran, die er innerhalb seiner Charaktererstellung angefertigt hat („dem Bild entsprechend“). Er präzisiert nachfolgend einige Details, teilweise durch eine Wertung („einen sehr sehr gepflegten schönen Bart“), und beendet die Figurenbeschreibung. Der Spielleiter verlangt jedoch daraufhin eine Präzisierung hinsichtlich der mentalen Eigenschaften, die die mimische Reaktion der Figur auf die beschriebene Situa-
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tion umfasst („also was ist sein Gesichtsausdruck gerade“). Dieser Aufforderung kommt Uwe nach („er ist nicht ganz zufrieden.“). Diese zwei Beispiele verdeutlichen einige Strategien der Figurenbeschreibung innerhalb von Vorstellungssequenzen: Zunächst lässt sich der oder die Spielleitende als Initiator/-in einer derartigen Sequenz bestimmen, der oder die moderierend, aber auch durch Nachfragen die einzelnen Figurenbeschreibungen begleitet. Die Spielenden beschreiben dann – teils im Rückgriff auf verschiedene multimodale Ressourcen – vornehmlich die äußeren Eigenschaften der Figuren und deuten mentale Eigenschaften lediglich an, indem sie auf den Gesichtsausdruck und das Verhalten der Figur eingehen. Diese Strategie verweist auf die verschiedenen Formen der Perspektivierung, die eng mit der Informationsvergabe zusammenhängen (vgl. Kap. 5.1.3): Da sie die Figurenbeschreibung zentral gegenüber ihren Mitspielenden kommunizieren (worauf der Spielleiter im vorangegangenen Beispiel auch direkt verweist), vermitteln sie nur das, was die Figuren der Mitspielenden auch wahrnehmen können. Eine weitere Besonderheit innerhalb der Spielsitzungen stellen Fälle dar, in denen Spielende offene Informationen über ihre Figuren präzisieren. Sie gelten als Ausdruck der spezifischen participant agency, die den Spielenden zugestanden wird. Folgendes Beispiel verdeutlicht eine derartige Situation: S1: Shadowrun 1 S1.3: Nach dem Kampf SL: Ch: Be: SL: Ch: Be: SL:
Und bist du warst du kleiner oder größer als er. [Ziemlich gleich.] [Ein bisschen größer.] Ein bisschen größer. Zwei Zentimeter. Ja (.) ein bisschen größer ((lachend)). Da bestehe ich drauf. Okay ((SL und Ch lachen)) (2.0) 01:42:32–01:42:43
Entgegen häufig im Datenkorpus vorkommender Sequenzen, in der Spielende den oder die Spielleitende um weitere Informationen über die Gegebenheit bitten, fragt hier der Spielleiter (SL) den Spieler Benjamin (Be) nach Informationen über die von ihm geführte Figur und gesteht ihm somit agency im Hinblick auf die Gestaltung seines Charakters zu. Christian (Ch) beantwortet die an Benjamin gestellte Frage gleichzeitig und kommt zu einer anderen Antwort. Er sieht die beide Figuren als gleich groß an, während Benjamin auf die zwei Zentimeter Größenunterschied besteht. Dass der Spielleiter Benjamins Information aufnimmt,
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deutet dabei die Wiederholung seiner Antwort an („Ein bisschen größer.“). Diese Sequenz illustriert, dass die von den Spielleitenden zugestandene participant agency klare Grenzen hat und gegenüber den anderen Spielenden – gerade in den Fällen, in denen Figurenhandlungen und -informationen im Vordergrund stehen – auch die character authority eine besondere Rolle spielt, also das Recht der einzelnen Spielenden, über die eigene Figur zu bestimmen.
5.2.4 Raum Einzelne Forschungsbeiträge, die sich mit dem Erzählen im Pen-and-PaperRollenspiel beschäftigen, sehen den Raum als zentrale Größe zur Etablierung einer Erzählung (vgl. Grouling Cover 2010, 83; Herbrik 2011, 206). Dies mag zum einen an der generellen Anlage des Rollenspiels liegen, das durch seine Regelwerke Narrativität weniger durch konkrete Figuren und Ereignisse herstellt, sondern durch die Raumkonstruktion, hier zumeist eine fiktiven Welt (vgl. Kap. 3.2.3), die das Potenzial liefert, narrative Strukturen zu aktivieren (vgl. Grouling Cover 2010, 108). Zum anderen wird der Raum nicht nur in Gestalt eines Handlungsraums (vgl. Lahn und Meister 2016 [2008], 250) innerhalb der Kommunikation konstruiert, sondern trägt – in ähnlicher Weise wie es bei Figuren der Fall ist (vgl. Kap. 5.2.3) – spielfunktionale Elemente in sich. 5.2.4.1 Narrativer und ludischer Ereignisraum Aus historischer Perspektive (vgl. Kap. 1.1) fungiert besonders der Dungeon als zentraler Ereignisraum des Rollenspiels (vgl. Walter 2014, 180–181), und zwar sowohl in Bezug auf narrative als auch auf ludische Ereignisdarstellungen. Dungeons konfrontieren Spielende mit Herausforderungen, beispielsweise Monstern, Rätseln und Fallen, halten aber gleichzeitig auch Belohnungen bereit, die den Spielfiguren einen Vorteil bringen, zum Beispiel eine bessere Ausrüstung oder Reichtümer. Das Auftauchen von Dungeons in den frühen Rollenspielen wie Dungeons & Dragons (Gygax und Arneson 1974) liegt in ihrer Nähe zum Wargame begründet. Auch hier findet sich zumeist ein im Vorhinein definierter Spielraum, beispielsweise ein Schlachtfeld, auf dem Spielende mit ihren Truppenverbänden manövrieren. Dass der Dungeon in den frühen Pen-and-Paper-Rollenspielen ein ebensolcher Spielraum ist, verdeutlicht vor allem die Ausrichtung auf Spielpläne und Karten, auf denen Spielende mit ihren Figuren agieren. Die Karte hat in diesem Fall nicht nur die Funktion eines „materialen Anhaltspunkt[s]“ (Herbrik 2011, 129), auf den gedeutet werden kann, um sich Orientierung zu verschaffen, sondern dient ebenso als Spielfeld, das zum taktischen Manövrieren genutzt wird, was beispiels-
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weise durch integrierte Kästchen- oder Hexfeld-Raster, die bestimmte Entfernungen repräsentieren, unterstützt wird (vgl. Walter 2014, 187). Die weitere Entwicklung des Pen-and-Paper-Rollenspiels brachte eine Öffnung dieser rein auf spielfunktionale Aspekte fokussierten Rolle des Raumes mit sich, da einige unmittelbar nach Dungeons & Dragons erschienenen Spiele den Dungeon stärker in eine fiktive Welt einbetteten (vgl. Mona 2007, 26). So integrieren Spiele wie Chivalry & Sorcery (Simbalist und Backhaus 2000) Orte wie Dungeons nicht nur in der Geografie ihrer beschriebenen fiktiven Welt, sondern kennzeichnen sie als Elemente innerhalb der sozialen und politischen Ordnung, indem sie sie als mögliches Interessensobjekt von Kirche und Adel klassifizieren (vgl. Simbalist und Backhaus 2000, 281). Der Dungeon erscheint in dieser Anlage somit nicht nur als spielfunktionaler Raum, sondern gleichzeitig als möglicher narrativer Handlungsraum, was verdeutlicht, dass die Wahl der Spielräume auch narrative Konsequenzen haben kann (vgl. Jenkins 2004, 12–13). Am Beispiel einer Karte, die der Spielleiter der Spielgruppe S5 nutzt, kann diese doppelte Rolle des Raumes illustriert werden. S5: Pathfinder 2 S5.1: Einstieg "Keine (.) Fragen hab ich gesagt" ((blickt Ve durchdringend an)) (5.0) "°Mitkommen°" Ja ihr werdet dann (.) über das Deck geführt, ((deckt mehrere Karten auf))(5.0) Ihr seid hier ((deutet auf eine Karte)) hochgekommen, aus dieser Luke, un:d äh (.) das ist jetzt quasi (1.0) hier führt eine Treppe hoch das führt dann (.) zu dem Teil hier ((deutet auf eine andere Stelle auf der Karte)). Ähm und ihr werdet jetzt (.) von hier ((deutet auf eine andere Stelle auf der Karte)) nochmal ein Stück nach hierhin geführt. (2.0) Ve: Wollen wir uns einfach hinstellen? SL: Ja ihr könnt euch gerne mal einfach auf die Karte draufstellen einfach irgendwo, ((St, Th, Uw und Ve positionieren kleine Spielfiguren auf der Karte)) 00:23:12–00:23:52 SL:
Im vorliegenden Beispiel wird der durch die Karte beschriebene Raum in eine narratoriale Beschreibung eingebettet und hat illustrierenden Charakter. Mittels räumlich-deiktischer Anmerkungen und Gesten verdeutlicht der Spielleiter (SL) den Weg, den die Figuren einschlagen, um auf das Deck eines Schiffes zu gelangen. Der Karte kommt hier einerseits eine entlastende Funktion zu, da der Spielleiter die Gegebenheiten nicht mündlich beschreiben muss, und andererseits eine
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Orientierungsfunktion für die Spielenden, die die Informationen, welche die Karte präsentiert, als Basis für die weitere Vorstellungsbildung nutzen können (vgl. Herbrik und Röhl 2008, 12–13). Gerade durch letztgenannte Funktion lässt sich eine Parallele zu den weltenkonstruierenden Texten der phantastischen Literatur herstellen, die Karten ebenfalls nutzen, um die dargestellte fiktive Welt zu strukturieren (vgl. Wolf 2012, 156). An anderer Stelle fungiert dieselbe von Gruppe S5 eingesetzte Karte als spielfunktionales Element, was im vorangegangenen Beispiel bereits dadurch angedeutet wurde, dass die Spielenden ihre Spielfiguren auf der Karte positionieren durften. S5: Pathfinder 2 S5.2: Auseinandersetzung Ve: SL:
Ve: SL: Uw: SL:
Uw:
SL: Uw: SL: Uw:
Gibt es da unten ein Fenster ein kleines? Äh nein tatsächlich nicht. (2.0) Ihr seid halt gerade (.)((deutet auf die Karte)) hier in diesem Bereich ihr wolltet gerade (.) hier die Treppe hoch? ((Fährt mit dem Finger auf der Karte entlang)) (1.0) Und (.) der Zwerg steht halt hier vor der (.) äh (1.0) der Halbork dahinter und hier auf der Treppe dann die beiden Damen. Hm. Und äh ja das ist halt der einzige Weg ähm (.) der nach oben führt. Ha-si-haben die Waffen? Äh ja? Die haben Waffen. Ähm (.) der Zwerg hat eine Axt ähm: ((hebt die Hand)) (.) eine ähnliche wie du, de:r Halb(…) Gut so wie es aussieht ist der Gang ja aber auch nicht so breit oder ist ist der Bereich ja nicht so breit dass die beiden Damen (.) quasi herunterkommen ((zeigt mit dem Daumen hinter sich)) und eine Gefahr darstellen könnten. Also Wenn die: äh Männer ihnen nicht aus dem Weg gehen? Ja ja genau. Also Dann nicht. (2.0) Mhm. 02:23:34–02:24:30
Während die lautsprachliche und gestische Einbettung der Karte ähnlich wie im vorherigen Beispiel funktioniert, dient sie hier vornehmlich zur ludischen Orientierung innerhalb einer Spielsequenz. Durch einen initialen Konflikt markiert der Spielleiter den Beginn eines Kampfes, der eine Gesprächssequenz im ludischen frame einläutet. Der Spielleiter verortet die Feinde durch räumlich-deiktische
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Gesten und Äußerungen innerhalb der Karte; die Spielenden Veronika (Ve) und Uwe (Uw) stellen Fragen zu den räumlichen Gegebenheiten, um ihre eigene Strategie zu planen. In der Videoaufzeichnung der vorliegenden Spielsitzung sieht man, dass die Spielenden im Anschluss ihre Figuren abermals auf dem Spielplan positionieren und ihre Manöver während dieser Kampfsituation durch die Bewegung der Figuren simulieren. Auch hier bietet die Karte folglich eine räumliche Orientierungsfunktion, die jedoch vornehmlich spielerisch gerahmt ist. Raumbeschreibungen werden in Rollenspielsitzungen nicht nur durch Karten vermittelt, sondern ebenfalls durch längere sprachliche Erzählreden der Spielleitenden. Im folgenden Beispiel liefert der Spielleiter (SL) gleich zu Beginn der Sitzung eine derartige Beschreibung. S1: Shadowrun 1 S1.1: Einstieg SL:
(…) Ihr seid (.) alle: ihr seid schon zusammen gekommen, ihr habt schon Kontakt aufgenommen vorab, äh es ist Nacht es regnet (.) ähm: (.) um euch herum seht ih:r (.) G-Gossen und ganz viele dreckige Straßen, und ihr steht quasi so ein bisschen vor einem Viertel (.) von Wolkenkratzern. Also so hinter euch ist sozusagen (.) ((hebt die Hände und gestikuliert in der Luft)) die Gebäude werden immer niedriger flacher abgeranzter es sind noch viele Werbetafeln viel l-Neonlicht viel (.) viel Matrixgedöns das euch entgegen wirft aber (.) ähm: vor euch erstrecken ((führt die Hände nach vorne, bewegt sie auf und ab)) sich so nach und nach die Wolkenkratzer der Innenstadt. (1.0) Un:d (.) äh wie gesagt iäh-es ist nicht so viel nicht so viel äh nicht so sie-es sieht nicht so nobel aus da wo ihr st-gerade steht? Ähm und ihr seht dieser Wolkenkratzer best-steht aus einem Wolkenkratzer sondern aus zweien. Die mit einer Brücke (.) miteinander verbunden sind. Un:d (.) der Teil wo ihr gerade steht, ist sozusagen noch der Teil des (.) Podestes. Also ich müsst euch das so vorstellen das ist quasi so ein (.) ((hebt beide Arme in die Höhe und fährt mehrfach auf und ab)) stmeterhohes stockwerkartiges Podest? Also so eine Art (.) Fundament? Wo dieser Wolkenkratzer draufsteht, (.) und dort ist dann so eine kleine Plattform ((führt beide Hände vor sich horizontal voneinander weg)) drauf und auf dieser Plattform beginnt so der eigentliche [Wolkenkratzer] sozusagen. 00:02:15–00:03:49
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Der Spielleiter verortet die Figuren an einem klaren Punkt im Raum, indem er die räumlichen Informationen deutlich an ihre Perspektive bindet („ihr steht quasi so ein bisschen vor einem Viertel“/„hinter euch“/„der Teil wo ihr gerade steht“). Er verknüpft durch eine gezielte Informationsvergabe die Raumordnung mit der Wahrnehmung der Figuren und hebt nur Elemente hervor, die sich im Blickfeld der Charaktere befinden (vgl. Kap. 5.1.3). Wie auch bei ludischen und narrativen Interaktionen mit Karten spielt die Gestik eine entscheidende Rolle bei der Konstituierung des erzählten Raumes. Während die deiktischen Gesten im Fall der Karten auf konkrete Objekte in der Wirklichkeit der Spielenden verwiesen wird und der Blick auf die Karte aus einer externen (Spielenden-)Perspektive geschieht, wird in der narratorialen Raumbeschreibung die Deixis aus der Perspektive der Figuren vollzogen. Das „vor euch“, das der Spielleiter im vorliegenden Beispiel mit einer nach vorne zeigenden Geste illustriert, verortet seinen Körper in ähnlicher Weise wie seine sprachlich-narrative Perspektivierung im Körper einer Figur, die den vor sich entfaltenden Raum wahrnimmt. Durch die Raumdarstellung wird zudem eine implizite Grenze geschaffen, die gleichzeitig den ludischen und narrativen Handlungsraum markiert. Wenngleich der Raum innerhalb des Pen-and-Paper-Rollenspiels nahezu unendlich erweitert werden kann (vgl. Grouling Cover 2010, 83), da sich die Spielenden zu jeder Zeit dafür entscheiden können, mit ihren Figuren bestimmte Schauplätze gänzlich zu verlassen, scheint eine derartige räumliche Einschränkung typisch für das Rollenspiel zu sein. Im Beispiel deutet der Spielleiter durch die Perspektivlenkung implizit an, dass der hier dargestellte Wolkenkratzer den zentralen Handlungsraum darstellt (vgl. Kap. 5.1.3.1). Es entsteht folglich ein unausgesprochenes gegenseitiges Einvernehmen: Die Spielenden versuchen es zu vermeiden, die gesetzte Raumgrenze zu überschreiten, um die vorbereitete narrative Architektur nicht vollends zu unterwandern; der Spielleiter verspricht im Gegenzug, dass das Agieren der Figuren innerhalb der Raumgrenzen zu einem Fortschreiten des Spiels und der Erzählung führt. Inwieweit diese Grenzziehung erfolgt, ist je nach Spielleitenden- und Gruppenpräferenz unterschiedlich. Das Offenhalten der Raumgrenzen fordert von Spielleitenden zumeist eine umfassendere Vorbereitung und/oder eine erhöhte Improvisationsfähigkeit. Auch die Szenariopublikationen legen einen starken Fokus auf die Beschreibung von Räumen und liefern teils detailliertes Kartenmaterial zur Illustration, das in den Spielsitzungen den Spielenden vorgelegt werden kann. Die Publikation „Das Geheimnis des Schwarzwaldhofes“ deutet bereits durch ihren Titel an, dass die Entwicklung der epistemischen Handlungsstruktur eng an den Handlungsort gebunden ist. Der Schwarzwaldhof wird daher durch verschiedene Karten und detaillierte Raumbeschreibungen innerhalb des Szenariotextes vorgestellt, die Informationen zu möglichen Hinweisen auf das Geheimnis des Hofes enthalten.
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Gleichzeitig wird die Beschreibung zu großen Teilen nur auf den Hof und das nahe Umland beschränkt, was die räumliche Grenze dieses Szenarios markiert. Sollten Spielende auf die Idee kommen, aus Angst oder Unwissenheit den Hof zu verlassen, schlägt der Szenariotext folgende Möglichkeit vor, die Spielenden wieder an den Ort des Geschehens zurückzuführen: In diesem Abschnitt geht es darum, was passiert, wenn mindestens einer der Charaktere ein Klon ist und die Charaktere wieder heimfahren, ohne dass bisher der Samen vernichtet wurde. Dann passieren zwei Dinge: Erstens weisen ausnahmslos alle Charaktere (egal ob Klon oder nicht) Entzugserscheinungen auf. Eventuell reisen die Charaktere schon deshalb noch einmal zum Hof zurück; falls sie die Zeit des Entzuges dagegen durchstehen, wäre das Abenteuer möglicherweise dann zu Ende. Zusätzlich zu den Entzugserscheinungen geht es mit den Klonen unter den Charakteren allerdings stetig bergab. Dies äußert sich in körperlichen Veränderungen und Alpträumen. (Heller 2012, 388)
Durch das Auftreten von „Entzugserscheinungen“ und „Veränderungen und Alpträumen“ besteht die Möglichkeit, Figuren wieder zum Hof zurückzuführen, um den „Samen“ zu vernichten, der den gemeinsamen Freund Hans Wieland getötet hat. Diese durch innerweltliche Logik begründeten Umstände lassen Spielleitenden die Möglichkeit offen, den Spielenden Hinweise zu geben, dass das Geheimnis des Schwarzwaldhofes noch nicht gelöst ist. Der Text bietet die Möglichkeit, das „Abenteuer“ zu beenden, was eine fehlende abschließende Auflösung der Handlung – im Sinne eines Nicht-Lösens des zentralen Mysteriums – nach sich zieht. 5.2.4.2 Semantisierung des Raumes Neben der Orientierung und Grenzziehung haben Raumbeschreibungen zusätzlich die Funktion, eine spezifische Atmosphäre zu schaffen. Die Raumbeschreibung im vorangegangenen Sitzungsbeispiel (S1, S1.1) erzeugt eine düstere urbane Stimmung, die der Spielleiter durch Äußerungen wie „Gossen und […] dreckige Straßen“ oder „viele Werbetafeln viel l-Neonlicht“ vermittelt. Wie im literarischen Text führen derartige atmosphärische Beschreibungen zu einer Semantisierung des Raumes (vgl. Lahn und Meister 2016 [2008], 250), die gleichzeitig Hinweise auf die semantische Ordnung einer Narration liefern kann (vgl. Kap. 5.2.2). Die Raumbeschreibung in „Das Geheimnis des Schwarzwaldhofs“ deutet auf eine derartige Ordnungsstruktur hin, indem durch die Anordnung des Raumes und seiner Objekte zwischen den Semen [Vertrautheit] und [Fremdheit] changiert wird. Die Raumbeschreibung vermittelt den Eindruck eines in die Jahre gekommenen Schwarzwaldhauses, in dem einst eine Familie ein einfaches, geordnetes Leben geführt hat. Mit dem Auftauchen der übernatürlichen Wesenheit, die neben der Familie auch den nachfolgenden Eigentümer Hans Wieland in Besitz genommen hat, wird diese Ordnung durchbrochen, was auch die Raumbeschreibung nahelegt: Obwohl Wieland das Haus in der
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Erzählgegenwart schon seit einiger Zeit bewohnt, sind einige Räume noch leer, ein Zimmer wird von ihm ständig unter Verschluss gehalten, und im Garten des Hauses tauchen nachts zahlreiche Wildschweine auf, die den Boden durchwühlen. Die Opposition von Vertrautheit und Fremdheit, die sich auch im Verhalten der Figur Hans Wieland widerspiegelt (vgl. Kap. 5.2.3), wird zu Beginn der Handlung rekurrent in ein Wechselspiel gebracht, sodass die Figuren in Unschlüssigkeit über Hans’ mysteriöses Schicksal gehalten werden sollen, was innerhalb der Semantisierung des Handlungsraumes durch das düstere „Zwielicht“ (Heller 2012, 373) innerhalb der Räumlichkeiten des Schwarzwaldhofes angedeutet wird. Die Handlungsstruktur von „Das Geheimnis des Schwarzwaldhofs“ illustriert, dass Räume, die sowohl ludische als auch narrative Funktionalität tragen, das Potenzial zur interaktiven, räumlich-semantischen Aneignung und Transformation besitzen (vgl. Hennig 2017, 137–138): Durch aktives Handeln kommen die Figuren dem Geheimnis des Hofes und dem Schicksal ihres Freundes auf die Spur. Sie erkunden dabei die Räumlichkeiten des Schwarzwaldhofes sowie das unmittelbare Umfeld und stoßen dabei immer wieder auf mysteriöse Begebenheiten (seltsames Verhalten der Tiere, Klone, die im Haus versteckt werden, usw.), die dazu beitragen, die Gesamtsituation als seltsam und fremd aufzufassen. Im „Finale“ (Heller 2012, 389) werden sie schließlich mit dem Inbegriff des Fremden, der außerirdischen Wesenheit, konfrontiert und erhalten in dieser finalen Konfrontation die Möglichkeit, durch den Sieg über dieses Wesen den Ort in die innerweltliche Normalität zurückzuführen.31
5.3 Zusammenfassung Die Ergebnisse der Analyse der narrativen Parameter und Strategien bieten einen differenzierten Einblick in die Eigenschaften des Erzählens im Pen-and-PaperRollenspiel. Gemeinsam mit der in Kapitel 4 betrachteten kommunikativen Struktur wurde nun ein konsistentes Erzählmodell entwickelt, das etablierte narratologische Begrifflichkeiten und Kategorien aufgreift und für das Rollenspiel nutzbar
Wenngleich der Schwarzwaldhof somit von jeglicher schädlichen Macht befreit werden kann, ist der Sieg für die Figuren im Spiel Call of Cthulhu nur ein Aufschub, da der Weg des Spieler/-innen-Charakters stets ein Weg in den Niedergang ist (vgl. Björk und Zagal 2018, 332). Die Konfrontation mit übernatürlichen Wesenheiten und seltsamen Erlebnissen zeichnet die Figuren schwer, was sich ludisch in einem sinkenden geistigen Stabilitätswert niederschlägt. Derartige Transformationen werden hier auch durch den ludischen Erfolg der Spielenden hervorgerufen, die durch Formen der Bilanzierung (vgl. Kap. 3.2.1) in narrative Rezeptionsangebote überführt werden.
5.3 Zusammenfassung
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macht. Im Folgenden werden auf Basis der analytischen Erkenntnisse einige zentrale Besonderheiten herausgestellt. Bei der Betrachtung ludischer und kommunikativer Prozesse (Kap. 3 und 4) wurde auf die unterschiedlichen Befugnisse und Rechte der Teilnehmenden hingewiesen, die sich aus der Rollenverteilung von Spielleitenden und Spielenden im Rollenspiel ergeben. Dieser Unterschied lässt sich auch im Falle der Strategien erzählerischer Vermittlung sowie der Parameter des Erzählinhalts feststellen. Es wird deutlich, dass das Erzählen seitens der Spielenden unmittelbar auf die von ihnen gespielten Figuren ausgerichtet ist. In der erzählerischen Vermittlung wird dies vor allem durch die figurale Erzählposition und Erzählperspektive ausgedrückt, die während des Erzählprozesses von den Spielenden eingenommen wird (vgl. Kap. 5.1.1. u. 5.2.2). Dabei kann es zwar sein, dass Spielende auch Perspektivmarker anderer Figuren realisieren, diese jedoch eng an die eigene Figur anbinden. Auch die Wissensvermittlung und Informationsvergabe (Kap. 5.1.3) erfolgt seitens der Spielenden aus der Position der Figuren. Auffällig ist einerseits ein Informationsgefälle zwischen Spielendem/Spielender und Figur, das im Spielprozess zu minimieren versucht wird. Da die Teilnehmenden des Rollenspiels auch manchmal Informationen erhalten, über die ihre Figuren keine Kenntnis haben, sind Spielgruppen bemüht, diese beiden Wissensdomänen nicht zu stark zu vermischen. Andererseits bietet die Informationsvergabe für die Spielenden auch die Möglichkeit, bewusst Informationen vorzuenthalten. Diese Eigenschaft bestätigt das in Kapitel 4.2.3 aufgeworfene Potenzial, subjektive storyworlds zu entwickeln, die sich neben den im gemeinsamen Erzählen hervorgebrachten Informationen um nicht geäußerte Wissensbestände erweitern. Die verschiedenen Strategien zur Vermittlung von Rede und mentalen Prozessen verdeutlichen in diesem Kontext, dass auch Formen figuraler Gedankenrede von den Spielenden in den gemeinsamen Erzählprozess eingebracht werden (vgl. Kap. 5.1.4.2). Da Spielende aus einer figuralen Perspektive erzählen, besteht für sie die Möglichkeit, figurale Rede zitiert oder erzählt zu vermitteln. Diese beiden Möglichkeiten verweisen auf die sich im Erzählprozess überlagernden Stimmen, die in der Entwicklung des narrativen Kommunikationsmodells als Dialogizität beziehungsweise Trialogizität bezeichnet wurden (vgl. Kap. 4.2.2). Dabei ist auffällig, dass gerade der Übergang in die Trialogizität mit verschiedenen Diskursmarkern einhergeht, wovon die Modulation des stimmlichen und artikulatorischen Ausdrucks eine häufig beobachtete Markierung darstellt (vgl. Kap. 5.1.4.1). Die enge Bindung der Spielenden an ihre Figuren wird auch evident, wenn man die inhaltlichen Parameter der Erzählung betrachtet. Bereits in der Vorbereitung setzen sich die Teilnehmenden intensiv mit ihren Figuren auseinander, indem sie gemäß dem gewählten Regelsystem ihre spielerischen Eigenschaften
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5 Strategien und Parameter des Erzählens im Pen-and-Paper-Rollenspiel
und Attribute festlegen (vgl. Kap. 5.2.3.1). Diese ludischen Variablen verweisen als Settingelemente zugleich auf die fiktiven Merkmale der Figur und können Anlass bieten, bereits in der Inszenierung narrative Angebote zu generieren, die im Spielprozess konkretisiert werden. So lassen sich vor allem die internalen Eigenschaften der Figur, die das Figurenbewusstsein bestimmen, im Vollzug des Spiels als zentrale Handlungsmotivationen nutzen, um ereignishafte Zustände zu generieren (vgl. Kap. 5.2.3.2). Spielleitende haben im Gegensatz zu Spielenden einen gänzlich anderen Zugriff auf die entwickelte Erzählung und erfüllen mitunter wie im Fall ludischer oder allgemein kommunikativer Prozesse organisierende und rahmende Aufgaben. Wenngleich ihnen somit ein deutlich breiterer narrativer Aktionsradius zugestanden wird, sind die von Spielleitenden genutzten narrativen Strategien auf das gemeinsame Erzählen ausgerichtet und zielen vornehmlich auf die von den Spielenden ausgespielten Figuren. Dies verdeutlichen besonders die Strategien der erzählerischen Vermittlung: Wenngleich Spielleitende hier aus einer heterodiegetischen Position erzählen und die geführte Erzählinstanz allwissende Züge trägt, da sie den narrativen Fokus auf einzelne Figuren beliebig wechseln kann, ist sie dennoch durchgehend auf die Erfahrungsbereiche der Spielfiguren ausgerichtet. Deutlich wird dies zum einen durch das Aufgreifen figuraler Perspektiven, die vornehmlich die Wahrnehmungsbereiche der Spielfiguren betreffen, zum anderen auch durch ein Erzählen in zweiter Person (vgl. Kap. 5.1.2.2). Diese Form der Adressierung erfüllt im Pen-and-Paper-Rollenspiel eine doppelte Funktion, wobei beide Funktionen mitunter durch ein und dieselbe Äußerung ausgedrückt werden können. Die erste Funktion stellt die Vermittlung spezifischer Perspektivparameter dar, die die Experientialität der durch die Figuren wahrgenommenen Geschehnisse anleiten. Die zweite Funktion ist hingegen auf einer extradiegetischen Ebene angesiedelt und adressiert die Spielenden, die durch die direkte Ansprache zum Handeln angeregt werden. So verdeutlicht gerade die letztgenannte Funktion die organisierende Rolle der Spielleitung, die nicht nur dafür verantwortlich ist, durch die erzählerische Informationsvergabe das narrative Geschehen einzuleiten und zu rahmen, sondern auch den geordneten Ablauf des Erzählprozesses anzuleiten und fortzuführen. Das Erzählen in der zweiten Person stellt in der Erzähltheorie einen Sonderfall der Pronominalverwendung dar (vgl. Fludernik 2002 [1996], 169), der gerade im Fall schriftlicher Erzählungen als unnatural charakterisiert wird (vgl. Kap. 6). Für Formen des Erzählens, die auch ludische Elemente in sich tragen, ist er gerade aufgrund der dargelegten organisierenden Funktion nicht untypisch (vgl. Walker 2001). Da Spiele aufgrund ihrer Ergodizität und Interaktivität immer Momente aufweisen, in denen auf das Handeln der Spielpartner/-innen reagiert werden muss (vgl. Kap. 3.2.2), ist es
5.3 Zusammenfassung
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auch für das Erzählen notwendig, an bestimmten Stellen dieses Handeln bewusst einzufordern. Neben der Organisation des Erzählprozesses kommt Spielleitenden zudem die Aufgabe zu, zentrale Elemente der storyworld zu etablieren und so Handlungsmöglichkeiten für die Spielenden zu generieren. Dies geschieht auf discours-Ebene durch die Informationsvergabe, mit der Spielleitende den Kurs der Erzählung maßgeblich beeinflussen können. Die von ihnen geäußerten Informationen dienen den Spielenden dazu, mit ihren eigenen Erzählbeiträgen an das Geschilderte anzuknüpfen. Wenngleich davon ausgegangen wird, dass Spielleitende nicht bewusste Falschinformationen präsentieren, solange sie nicht aus figuraler Perspektive erzählen, ist es ihnen dennoch möglich, Informationen zu verschweigen (vgl. Kap. 5.1.3.2). Hieraus entwickelt sich ein ludisches Potenzial, da die Spielenden angeregt werden, weitere Informationen durch gezieltes Nachfragen und/oder durch ein herangezogenes Spielsystem einzufordern. Die rahmenden Aufgaben der Spielleitung werden insbesondere durch die Konzeption des Erzählinhalts deutlich. Bereits in der Vorbereitung entwickeln Spielleitende eine mehr oder weniger konkretisierte narrative Architektur, indem sie zentrale Handlungsräume und -logiken, Figuren, Themen und Ereignisse definieren (vgl. Kap. 5.2). Von einer Architektur lässt sich deshalb sprechen, da nicht alle Elemente – vor allem das narrative Geschehen – im Vorhinein festgelegt werden, sondern bewusst Offenheiten geschaffen werden, in denen die Spielenden im Spielprozess unterschiedliche Handlungsmöglichkeiten haben. Hilfestellung können hierbei die verschiedenen Publikationen eines spezifischen Pen-and-PaperRollenspiels leisten, die den Planungsprozess anleiten und strukturieren. Die Analyse der Parameter des Erzählinhalts (Kap. 5.2) verdeutlicht, dass Spielleitenden zwar deutlichen Einfluss auf die Entwicklung und Rahmung einer narrativen Architektur ausüben, die Emergenz ludischer und auch kommunikativer Prozesse jedoch erheblichen Anteil an der Konkretisierung der storyworld im Spielprozess hat. Wie stark sich dieser Einfluss manifestiert, ist je nach Spielgruppe verschieden und durch die zugestandene agency der einzelnen Teilnehmenden bedingt (vgl. Kap. 4.1.1). Dies verdeutlicht umso mehr, dass der Vollzug des Pen-and-Paper-Rollenspiels durch die Präferenzen und die soziale Dynamik der Spielgruppe geprägt ist und ein Spielstil, der auf das gemeinsame Erzählen ausgerichtet ist, in der Realisierung verschiedener Erzählstrategien und Parameter gänzlich unterschiedlich gestaltet sein kann. Hieraus ergibt sich folglich, dass das hier entwickelte narratologische Modell als Heuristik angesehen werden muss, die vornehmlich Tendenzen und Möglichkeiten des Erzählens im Pen-andPaper-Rollenspiel aufzeigt.
6 Literar-ästhetisches Verstehen im Rollenspielprozess In den vorangegangenen Kapiteln wurden spezifische Parameter und Strategien des Erzählens im Pen-and-Paper-Rollenspiel herausgearbeitet. Dabei hat sich einerseits gezeigt, dass Narrativität – in ähnlicher Weise wie im Computerspiel – nicht nur im Spielprozess, „sondern durch die Neuordnung spielprozessualer Elemente während der Rezeption“ (Engelns 2014, 61) entsteht. Andererseits – und dies ist ein signifikanter Unterschied zu digitalen Spielformen – wird Narrativität nicht allein auf Spielebene geschaffen, sondern auch innerhalb der Kommunikation zwischen den Beteiligten erzeugt, die die Neuordnung spielprozessualer Elemente durch verschiedene erzählerische Strategien unterstützen, rahmen und erweitern. Wenngleich also die Analyse dem Pen-and-Paper-Rollenspiel Narrativität und damit das Erzeugen narrativer Darstellungen nachweisen konnte, ist im Folgenden die spezifische Beschaffenheit dieser narrativen Darstellung noch genauer zu klären. Dies ist speziell vor dem Hintergrund der Prüfung eines literaturdidaktischen Potenzials relevant, da Erzählen in verschiedenen Kontexten präsent ist, sei es in der Vermittlung lebensweltlicher Erfahrungen, sei es in künstlerisch darstellenden Medien (vgl. Wolf 2002, 29). Demnach wäre es zu kurz gegriffen, das Pen-and-Paper-Rollenspiel aufgrund äußerer Merkmale zwischen einem alltäglichen Erzählen und einer theatralen Darstellung zu einzuordnen; genauso wie die enge Beziehung zur phantastischen Literatur (vgl. Kap. 1.1) sind dies zwar Indizien, jedoch keine Belege für ein literaturdidaktisches Potenzial. Es ist daher notwendig, die in den vorangegangenen Kapiteln identifizierten Eigenschaften des Erzählens im Pen-and-Paper-Rollenspiel zu re-evaluieren und dabei speziell die Rezeptionsund Produktionsaktivitäten im Vollzugsprozess zu betrachten, um diese innerhalb eines literarischen Handlungsfeldes zu verorten. Die gegenwärtige literaturdidaktische Theorie folgt der Auffassung, dass potenziell alle Medien dazu geeignet sind, literarische Lernprozesse zu initiieren (vgl. Boelmann und Klossek 2013, 47; Abraham 2008a [2005], 20). Neueren Ansätzen ist gemein, Literarizität nicht als Kriterium aufzufassen, das innerhalb gesellschaftlicher Aushandlungs- und Normierungsprozesse einzelnen schriftsprachlichen Erzeugnissen zugeschrieben wird, sondern als generelle Anlage bestimmter (narrativer) Gegenstände, die einen spezifischen Umgang ermöglichen, wenn nicht fordern. Jan M. Boelmann und Julia Klossek (2013, 46) beschreiben diesen
https://doi.org/10.1515/9783110788983-006
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Umgang als literarisches Verstehen,1 also als Prozess, „dessen Charakteristikum die selbstreflexive und interaktive Annäherung eines Interpreten an einen Text ist, ohne dass der Interpret alle möglichen Textsinne jemals vollends fassen kann“. Wie auch Ulf Abraham (2008a [2005]) betrachten sie das literarische Verstehen nicht nur als rein passives Handeln, sondern als innerhalb „eines oder mehrere[r] kommunikativer Auseinandersetzungsprozesse“ (Büker 2012 [2002], 121) angesiedelt. Die Rolle des literarischen Kommunikationsprozesses heben auch Irene Pieper und Dorothee Wieser (2018, 121) hervor, wenn sie die literarische Rezeption mit bestimmten poetologischen Überzeugungen in Verbindung bringen, also mit spezifischen „Spielregeln literarischer Kommunikation, die sich insbesondere in einem ästhetischen Lesemodus zeigen“. Sie binden ihr Konzept an Siegfried J. Schmidts Theorie der ästhetischen und literarischen Kommunikation (vgl. Hauptmeier und Schmidt 1985; Schmidt 1991) an, indem sie auf zwei Konventionen verweisen, die das kommunikative Handeln im literarischen System kennzeichnen: Die Ästhetikkonvention bezieht sich auf die generelle Bewertung von Äußerungen, die in der literarischen Kommunikation getroffen werden. Entgegen der Kommunikation innerhalb anderer gesellschaftlicher Systeme werden diese nicht danach beurteilt, „ob sie in einem Wirklichkeitsmodell wahr oder falsch sind“, sondern inwieweit sie als „poetisch wichtig“ gelten (Hauptmeier und Schmidt 1985, 17–18). Diese Wichtigkeit ist dabei nicht als generelle Nützlichkeit zu verstehen, sondern orientiert sich an ästhetischen Kategorien und Gestaltungsformen (vgl. Hauptmeier und Schmidt 1985, 81). Die Polyvalenzkonvention, die Schmidt als zweite die literarische und ästhetische Kommunikation kennzeichnende Konvention beschreibt, richtet sich auf die Mehrdeutigkeit der Sinnangebote eines künstlerischen Textes. Im Gegensatz zu monovalenten Kommunikationshandlungen, in denen versucht wird, „Kommunikatbasen eindeutige Rezeptionsresultate zuzuordnen“ (Hauptmeier und Schmidt 1985, 80), beschreibt Polyvalenz eine Deutungs- und Wertungsoffenheit, aus der Rezipierende subjektive Sinnbezüge hervorbringen können. Literarische Kommunikationshandlungen sind insofern polyvalent, als sie polyvalent intendiert sind und auch so rezipiert werden (vgl. Hauptmeier und Schmidt 1985, 83). Schmidts Modell orientiert sich an einer normativen Auslegung des Literaturbegriffs, was sich unter anderem an der Verortung literarischer Kommunikation als Subsystem ästhetischer Kommunikation zeigt. Die Unterscheidung zwischen
Verstehen soll nach Marcus Steinbrenner (2006, 789–791) nicht nur das sprachliche Verstehen im Sinne einer Grammatik bedeuten, sondern auch bestimmte sozio-kulturelle Konventionen beinhalten. Literarisches Verstehen referiert hierbei nicht auf ein vollständiges Durchdringen, sondern auf das Bewusstsein über bestimmte Konventionen, die mit der Rezeption eines literarischen Textes einhergehen.
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der ästhetischen Kommunikation und der literarischen Kommunikation rührt daher, dass literarische Kommunikation hier als Teil der „Theorie Sprachlich Ästhetisch Kommunikativen Handelns“ begriffen wird (Hauptmeier und Schmidt 1985, 85). Nicht nur aufgrund des in der vorliegenden Studie verwendeten medienübergreifenden Konzeptes von Literarizität, sondern auch wegen der nicht klar umrissenen Unterscheidung einer „Theorie Literarischen Kommunikativen Handelns“ und einer nicht-literarischen „Theorie Sprachlich Ästhetisch Kommunikativen Handelns“ (Hauptmeier und Schmidt 1985, 85), wurde sich hier für eine Zusammenlegung der Begriffe literarisch und ästhetisch entschieden. Damit wird sich nicht nur von einem stark auf normativen Grundlagen basierenden Literaturbegriff, sondern auch von einer unklaren Abgrenzung künstlerischer Elementsysteme (vgl. Hauptmeier und Schmidt 1985, 77) verabschiedet. Für das Pen-and-Paper-Rollenspiel ist es sinnvoll, einen derart handlungsorientierten Ansatz zu wählen, um literar-ästhetische Verstehensprozesse nachzuweisen, und zwar nicht nur, weil eine direkte Kommunikationssituation zwischen den Beteiligten vorliegt, sondern vor allem mit Blick auf die Ausrichtung dieser Kommunikation: Versteht man das Pen-and-Paper-Rollenspiel als Tätigkeit, deren Produktions- und Rezeptionsprozesse auf sich selbst ausgerichtet sind, müssen Teile der Kommunikation – sofern man dem medialen Dispositiv literar-ästhetisches Potenzial zurechnen will – literar-ästhetisch sein.2 Das bedeutet, dass die Kommunikation im Rollenspielprozess sowohl einer Ästhetik- als auch einer Polyvalenzkonvention folgen muss. Wie die anschließenden Ausführungen zeigen sollen, ist es sowohl möglich, in der Anlage der narrativ-fiktionalen Kommunikationsprozesse und den Strategien des Erzählens verschiedene literar-ästhetische Operationen zu eruieren, die die Produktions- und Rezeptionstätigkeit der Beteiligten in die Nähe anderer künstlerisch darstellender Medien rücken, als auch Anzeichen für subjektive Wertungs- und Sinnbildungsprozesse ausfindig zu machen. Diese Prozesse und Operationen sollen als Ausdruck poetologischer Überzeugungen verstanden werden, also „als Antworten auf die besonderen Herausforderungen der Auseinandersetzung mit fiktionalen Texten, die auch Literarizitätsmerkmale aufweisen“ (Pieper und Wieser 2018, 110). Derartige Herausforderungen beinhalten den Umgang mit Überstrukturiertheit und Unbestimmtheiten, die ein literarischer Text bietet (vgl. Pieper und Wieser 2018, 110), und in Bezug auf seine Fiktionalität auch die Berücksichtigung der doppelten Kommunikationssituation, also die Notwendigkeit, Beziehungen zwischen realer und fiktiver Welt herzustellen, sowie das Eingehen auf den Fiktionsvertrag (vgl. Pieper und Wieser 2018, 110–111).
Hierauf verweist auch Flöter (2018, 116), wenn sie das Rollenspiel als Gegenstand klassifiziert, der „ästhetische Rezeption und Produktion zugleich ermöglicht (und erfordert)“.
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Im Pen-and-Paper-Rollenspiel kulminieren diese Herausforderungen im Erzeugen und Gestalten einer ästhetischen Illusion, die sowohl Möglichkeiten der ästhetischen Beurteilung bietet als auch polyvalente Sinnangebote bereithält. Werner Wolf (2013, 120–121) sieht die ästhetische Illusion als Rezeptionszustand, der aus dem Zusammenspiel eines darstellenden Textes, der Rezipierenden sowie des kulturellen und historischen Kontextes erwächst und somit als Verknüpfung zwischen der Anlage eines Textes und seinen Rezeptionsmöglichkeiten charakterisiert werden kann. Dieser Zustand wird als „pleasurable mental state“ (Wolf 2013, 120) beschrieben, der sich durch eine tiefe Involvierung auszeichnet, „a feeling of being recentered in a possible world as if it were (a slice of) life“ (Wolf 2004, 325). Das fictional recentering, das bereits an anderer Stelle beschrieben wurde (vgl. Kap. 2.1), wird um ein Gefühl der Immersion erweitert, das im Wechsel mit dem Bewusstsein über die ästhetische Gemachtheit der Darstellung steht (vgl. Wolf 2004, 328). Wolfs Auslegung des Begriffs der ästhetischen Illusion zielt auf einen erweiterten Ästhetikbegriff, der nicht allein auf den Effekt einer ästhetischen Distanzierung oder Irritation ausgerichtet ist, sondern auch das involvierende Potenzial ästhetischer Darstellungen berücksichtigt. Diese Erweiterung richtet sich gegen Strömungen der Literaturtheorie, die illusionsstiftende Rezeption als Täuschung diskreditieren, welche vornehmlich mit ideologischen Vorbehalten belastet und durch eine unkritische oder naive Lektüre gekennzeichnet ist (vgl. Wolf 1993, 3–4). Wolf begreift den Begriff der Illusion nicht unter dem Aspekt der perzeptiven und intellektuellen (Selbst-)Täuschung, der seine negative Konnotation begründet, sondern sieht in der Illusionsbildung ein ästhetisches Prinzip, das durch die antike Rhetorik etabliert wurde und seit dem achtzehntem Jahrhundert Eingang in die kunstästhetische Theorie findet (vgl. Wolf 1993, 29). Ein derart erweiterter Begriff von Ästhetik wird auch für die hier entwickelte Argumentation angesetzt, da er darüber hinaus synergetisch mit einem erweiterten Begriff von Literarizität verbunden ist, der sich gegen eine normative Auf- oder Abwertung bestimmter Gegenstände – beispielsweise durch die Unterstellung von Täuschungsabsichten – richtet und generell allen Medien Potenzial zum literar-ästhetischen Verstehen zuweist (vgl. Abraham 2008a [2005], 20). Auch ästhetiktheoretische Ansätze in den Game Studies nähern sich einem solchen Ästhetikbegriff an. In seiner ästhetischen Theorie des Computerspiels bezeichnet Graeme Kirkpatrick das Ästhetische als zentral in einem Erfahrungsmodus, der Bedeutungszuschreibung eng mit der Frage verbindet, wie sich ein Spiel konkret „anfühlt“ („how it feels“; Kirkpatrick 2011, 21):
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Aesthetic theory is concerned with understanding how it is that human beings find some situations, objects or artefacts attractive, or even beautiful. The paradigm cases of object’s subject to such analysis have been scenes of natural beauty and artworks. Video games merit the concern that has been reserved for such items not because they are beautiful or ‚art‘ but rather because they exist in a very specific tension with beauty and art, edging into the field of tensions that define the artwork and position it in relation to other social elements, and this incursion is essential to understanding them. The experience gamers have with video games is aesthetic, even if most of them would not identify it as such, and the fact that it is aesthetic is probably the most important thing about it. Primarily, it is what games feel like to players that matters, both in the sense of explaining why players play and of accounting for the importance of video games in contemporary culture and cultural theory. (Kirkpatrick 2011, 33)
Kirkpatrick konkretisiert die ästhetische Erfahrung des Spielens mit einer spezifischen Form von Zeitlichkeit im Raum, einer Rhythmik, die zu einem intensiven Gefühl von Involviertheit führt. Er zieht dabei eine Parallele zum Tanz, in der eine ähnliche Form von Zeiterfahrung entstehen kann: Video gameplay, like dance, is in Badiou’s terms ‚subtracted from the temporal decision‘; it is the play of time within space. In video gameplay and dance alike, time is suspended within space. What we feel in its rhythms is a pull towards a meaning the activity cannot have. This is why the sensations of gameplay are so much more intense than those of fiction – they are not pegged to or resolved in any particular meaning. (Kirkpatrick 2011, 78)
Während Kirkpatrick (2011, 47) in seiner ästhetischen Theorie einer primär ludologischen Ausrichtung folgt, erweitert Thon (2019) mit seinem Modell der Indie Game Aesthetic die Möglichkeiten ästhetischer Erfahrung um zwei weitere Dimensionen: Die audiovisuelle Ästhetik eines Spiels, die das audiovisuelle Design umfasst, sowie die narrative Ästhetik, die neben der Erzählung eines Spiels auch narrative Strategien beinhaltet, die die Erzählung maßgeblich vermitteln (vgl. Thon 2019, 197). Gerade die Dimensionen der narrativen und ludischen Ästhetik lassen sich hierbei auf analoge Spiele übertragen.3 Auch wenn es im Folgenden vor allen Dingen um den narrativ-ästhetischen Erfahrungsmodus der ästhetischen Illusion geht, sollen Kirkpatricks Überlegungen zur ludisch-ästhetischen Erfahrung dabei nicht außer Acht gelassen werden. Denn gerade das ästhetische Gefühl einer intensiven Involviertheit, die durch die spezifische Zeitlichkeit des Spielprozesses geschaffen wird, hat Einfluss auf die narrative Erfahrung, die Teil der Rhythmik dieses Prozesses wird. Wolf (1993, 16) spricht vielen künstlerischen Darstellungen die Fähigkeit zu, eine ästhetische Illusion zu erzeugen, präzisiert jedoch ihre Ausprägung im Falle
Je nach Betrachtungsperspektive wäre auch die Übertragung einer visuell-ästhetischen Dimension denkbar, sofern der Fokus auf der Gestaltung spezifischer Spielmaterialien liegt.
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narrativer Darstellungen. Die rezeptive Erfahrungsmoment einer narrativen ästhetischen Illusion stellen der Erzählinhalt4 sowie eine „dynamic experience of time and change“ (Wolf 2004, 333) dar, die durch das Zusammenspiel zweier narrativitätsbestimmender Grundelemente – Figuren und ihr ereigniskonstituierendes Handeln – geschaffen wird. Wolf beschreibt darüber hinaus Prinzipien narrativer Darstellungen, die illusionserzeugendes Potenzial haben: Erstens sind die bestimmten Eigenschaften der aus der Darstellung konstruierbaren storyworld relevant, zum Beispiel eine gewisse Extension, Komplexität und Konsistenz (vgl. Wolf 2004, 336). Eine weitere die storyworld betreffende Eigenschaft ist die von Ryan (1991, 46) beschriebene „accessibility“, also die Frage, inwieweit einzelne Merkmale der Welt mit der realen Wirklichkeit kompatibel sind. Als zweites Prinzip narrativ-ästhetischer Illusionserzeugung benennt Wolf (2004, 337) die bewusste Verhinderung expliziter Fiktionalitätsmarker, so beispielsweise komödiantischer Aspekte, die oft zum Illusionsbruch tendieren. Narrative Darstellungen, die eine ästhetische Illusion erzeugen, korrelieren nach Wolfs Auffassung mit Ernsthaftigkeit, was eine tiefere emotionale Involvierung ermöglicht. Als drittes Prinzip konstatiert Wolf (2004, 337) die Heteroreferenz, also den Eindruck, dass die durch das mediale Artefakt dargestellte Welt auf eine Welt außerhalb des Artefaktes referiert. Genauer betrachtet bedeutet dies, dass über das semiotische System und die mediale Repräsentation hinaus Bezug auf die Lebenswelt oder eine imaginäre fiktive Welt genommen wird. Das vierte und letzte Prinzip ist die Unscheinbarkeit der Vermittlungsebene („inconspicuousness of the level of discourse“; Wolf 2004, 336), also die Verhinderung der Erzeugung von Autofunktionalität (vgl. Eicher und Wiemann 2001 [1996], 29–30), einer Dominanz der Formseite über ihren Inhalt.5 Durch welche Verfahren diese Unscheinbarkeit erzeugt werden kann, lässt Wolf jedoch offen. Fluderniks Konzept der naturalen Narratologie schafft in diesem Kontext einen möglichen Erklärungsansatz. Der Begriff natural bezieht sich auf kognitive Prototypen und ihre Familiarisierung innerhalb der Rezeption narrativer Darstellungen. In Anlehnung an Labov sieht Fludernik (2012, 360) naturale Narrationen vor allem in der alltäglichen Kommunikation realisiert. In Bezug auf fiktionale Narrationen ist es möglich, kognitive Schemata aus dem Mündlichen zu übertragen, um das Verstehen zu erleichtern (vgl. Fludernik 2002 [1996], 32). Ein weiteres relevantes Element der naturalen Narratologie ist der Begriff der Naturalisierung, den
Wolf (2004, 332) führt die generelle Differenzierung zwischen einer Illusionsbildung auf der Ebene des Erzählinhalts sowie einer Illusion des Erzählaktes an sich, umschrieben als Erzählillusion, ein. Die folgenden Ausführungen beziehen sich dezidiert auf erstere Form der Illusionsbildung. Diese Ansicht teilt auch Walton (1990, 260–261), der den am game of make-believe Involvierten vornehmlich Interesse an der Geschichte selbst zurechnet und weniger daran, wie die Geschichte erzählt wird.
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Fludernik an eine Konzeptionalisierung Jonathan Cullers (2002 [1975], 162) anlehnt. Naturalisierung beschreibt ein Interpretationsverfahren, mit dem Inkonsistenzen gemäß textuellen und generischen frames sowie spezifischen Leseverfahren (vgl. Fludernik 2002 [1996], 23) innerhalb der narrativen Darstellung aufgelöst werden (vgl. Fludernik 2012, 360).6 Eine von Wolf proklamierte Unscheinbarkeit der discours-Ebene tritt also folglich ein, wenn die Vermittlung sich an generellen Erzählschemata orientiert, die sich in verschiedenen Kontexten realisieren lassen, oder insoweit durch eine Naturalisierung entschärft („defused“; Wolf 2013, 120) werden können, als sie zu keiner Irritation führen. Dass dieser Prozess äußerst individuell gestaltet ist und von der kognitiven Anlage der Rezipierenden abhängt, mag der Grund sein, weswegen nicht jede narrative Darstellung bei jedem oder jeder Rezipierenden zu einem Gefühl der ästhetischen Illusion führt. Wolf (1993, 2) weist darauf hin, dass illusionsstiftendes Erzählen nicht mit fiktionalem Erzählen gleichzusetzen ist. Denn neben illusionsfördernden Prinzipien lassen sich weiterhin narrative Darstellungen ausmachen, die eine ästhetische Illusionsbildung erschweren. Wolf (2004, 344) sieht diese Eigenschaft besonders bei Darstellungen gegeben, die den Erzählinhalt zugunsten der erzählerischen Vermittlung devaluieren. Gerade bei der Vermittlung haben sich bestimmte Erzählverfahren und -strategien etabliert, die sich einer naturalisierenden Interpretation verwehren und somit als unnatural klassifiziert werden können (vgl. Alber et al. 2013, 8). Zu diesen Verfahren gehören in der Literatur unter anderem bestimmte metaleptische Formen (vgl. Wolf 2013),7 die Etablierung einer Du-Perspektive (vgl. Bell 2013) oder einer nullfokalisierten Erzählung in der ersten Person (vgl. Skov Nielsen 2013, 84). Auch auf Inhaltsebene lassen sich unnaturale Parameter integrieren, beispielsweise durch logisch-inkonsistente storyworlds (vgl. Alber 2013) oder durch einen sequenziellen Bruch der Kausalität von Ereignissen (vgl. Richardson 2013). Dem Pen-and-Paper-Rollenspiel wird zugeschrieben, eine ästhetische Erfahrung erzeugen zu können (vgl. Flöter 2018, 90; Hoover et al. 2018, 217; Mackay 2001, 129) sowie – je nach präferiertem Spielstil – narrative Immersion zu schaffen (vgl. Bowman 2018, 385–386; Flöter 2018, 109; Kim 2004, 31). Da in der vorangegangen narratologischen Analyse jedoch auch Verfahren herausgearbeitet
An diesen Ausführungen wird deutlich, dass natural nicht mit Natürlichkeit gleichzusetzen ist, um beispielsweise derartigen narrativen Darstellungen einen mimetischen Anspruch zu unterstellen (vgl. Fludernik 2012, 362). Wolf wie auch Klimek (2009, 184–185) verweisen darauf, dass nicht alle Metalepsen per se illusionsstörend sein können. Gerade im Falle des Pen-and-Paper-Rollenspiels sieht Klimek die metaleptisch-deiktische Transgression von einer heterodiegetischen Erzählperspektive in eine homodiegetische (im Rollenspiel durch die Gleichsetzung des Ichs der Spielenden mit dem Ich der Figuren) als anti-illusionistischen, sogar immersiven Effekt an.
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wurden, die als unnatural klassifiziert werden können (beispielsweise Du-Adressierungen; vgl. Kap. 5.1.2), gilt es nachfolgend, neben den Strategien der ästhetischen Illusionsbildung ebenso die Rolle dieser Elemente im rollenspielerischen Kommunikationsprozess zu bewerten und einzuordnen. Das Entstehen einer ästhetischen Illusion liegt jedoch nicht nur in der Anlage einer narrativen Darstellung begründet, sondern korreliert mit spezifischen Rezeptionshandlungen (vgl. Wolf 2013, 120). Sie ist also Ausdruck einer spezifischen „ästhetische[n] Einstellung“ (Wolf 1993, 112), die sich gemäß ästhetischkonventionellen Kommunikationshandlungen im Umgang mit einem ästhetischen Gegenstand entwickeln kann. Sofern eine Rezeption als Handlung klassifiziert wird, deren Resultat eine kognitive Repräsentation ist (vgl. Hauptmeier und Schmidt 1985, 90), lässt sich in Bezug auf den ästhetischen Gegenstand sagen, dass dieser ein Vorstellungsgegenstand8 ist (vgl. Iser 1994 [1976], 154). Aus diesem Grund lässt sich die narrativ-ästhetische Illusion im Gegensatz zur ästhetischen Illusionsbildung innerhalb künstlerisch-bildnerischer Verfahren als Rede- und Geschehensillusion beschreiben (vgl. Wolf 2013, 113), die innerhalb der Verarbeitung der Rezeption der narrativen Darstellung auftreten kann. Im Vorgang der Rezeption werden durch explizite und implizite kognitive frames und Stimuli des wahrgenommenen Gegenstandes narrative Schemata9 aktiviert, die mentale Verarbeitungsprozesse initiieren (vgl. Wolf 2002, 42–43). Das Resultat der durch diese Prozesse verarbeiteten Informationen stellt die mentale Repräsentation verschiedener Entitäten dar, so beispielsweise Figuren oder kontextuelle Faktoren (vgl. Emmott 1997, 197), die im Zusammenschluss die Grundkonstanten der storyworld bilden (vgl. Herman 2009, 120). Diese innerhalb der narrativen Darstellung vermittelten Informationen werden durch situative Faktoren (vgl. Hartner 2012, 84–85), wie Vorerfahrungen mit anderen narrativen Darstellungen sowie allgemeine Wissensbestände, ergänzt und leisten ebenfalls einen Beitrag zur Vorstellungsbildung und Bedeutungskonstitution (vgl. Emmott 1997, 81). Die mentale Repräsentation wird während der Rezeption einer narrativen Darstellung laufend aktualisiert (vgl. Emmott 1997, 83), weswe Vorstellung lässt sich in diesem Zusammenhang folglich als mentale Modellbildung beschreiben. Der manchmal synonym verwendete Begriff der Imagination soll jedoch nicht suggerieren, dass dieses Modell vollständig auf visuellen Inhalten basiert, wenngleich einige Elemente visuelle Qualitäten besitzen können (vgl. Emmott 1997, 44–45). Kognitive Schemata sollen nach Eder (2008a, 89) als „allgemeine Wissensstrukturen über Merkmalskonstellationen von Menschen, Dingen oder Ereignisabläufen“ definiert werden. Sie stellen in ähnlicher Weise wie frames kognitive Ordnungsstrukturen der Gedächtnisorganisation dar (vgl. Hartner 2012, 91). Das Zusammenspiel von Schemata und frames ergibt sich daraus, dass die Identifikation bestimmter frames die Aktivierung zugehöriger Schemata bedingt (vgl. Wolf 2002, 30; Wolf 2010, 3).
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gen man Rezeption im Sinne Isers (1994 [1976], 283) als dynamisch-produktiven Prozess betrachten kann. Aufgrund der Korrelation zwischen der Anlage einer narrativen Darstellung und rezeptionaler Faktoren, die eine ästhetische Illusion etablieren, soll im Folgenden eine kognitiv-narratologische Perspektive eingenommen werden, um die Ausprägung der literar-ästhetischen Kommunikation genauer zu bestimmen. Sieht man Teile der Kommunikation im Pen-and-Paper-Rollenspiel an sich als literar-ästhetisch an, scheint es nachvollziehbar, dass rezeptionale Faktoren Einfluss auf die kommunikativ-produktiven Handlungen der Beteiligten nehmen. Dieser Einfluss soll nachfolgend in Re-Evaluation der bereits herausgearbeiteten narrativen Strategien nachgewiesen werden, indem zwei zentrale, das Pen-and-Paper-Rollenspiel kennzeichnende Operationen in den Blick genommen werden: Die gemeinsame narrative Konstruktion einer intersubjektiven storyworld sowie das Ausspielen und Verkörpern einer fiktiven Figur. Es soll gezeigt werden, dass gerade diese Operationen den Konventionen einer literar-ästhetischen Kommunikation folgen, indem sie poetische Wertungen durch die Orientierung an ästhetischen Gestaltungsformen – in diesem Fall einer ästhetischen Illusion – ermöglichen und dabei polyvalente Sinnangebote generieren.
6.1 Ästhetische Illusion und die Konstruktion einer intersubjektiven storyworld Die transmediale Erzähltheorie folgt der Auffassung, dass eine storyworld auf Basis bestimmter expliziter oder impliziter Stimuli erzeugt wird, nach Werner Wolf (2002, 42; Kap. 3.2) als Narreme bezeichnet, die das kognitive Makroschema des Narrativen aktivieren. Gerade inhaltliche Narreme, die Wolf (2002, 46) als „Bausteine des Narrativen“ bezeichnet, liefern Informationen über das Inventar der fiktiven Welt, auf deren Basis die storyworld konstruiert wird. Angelehnt an die Rezeptionstheorie Isers (1994 [1976], 266), ist es nicht möglich, dass eine narrative Darstellung die zugrunde liegende Welt in Gänze beschreiben kann, weswegen sich fiktive Welten als unvollständig darstellen (vgl. Ryan 1991, 21; Thon 2009, 2). Diese Leer- und Unbestimmtheitsstellen (vgl. Kap. 4.2.3), die eine narrative Darstellung unter anderem aus textökonomischen Gründen notwendigerweise lässt, werden innerhalb der Rezeption durch spezifische Vorstellungsoperationen gefüllt („fill in the gaps“; Thon 2016, 42). Nach dem bereits an anderer Stelle beschriebenen Prinzip der minimalen Abweichung (vgl. Ryan 1991, 51; Thon 2016, 41; vgl. auch Kap. 3.3) basieren die Vorstellungsinhalte auf lebensweltlichen Wissensbeständen,
6.1 Ästhetische Illusion und die Konstruktion einer intersubjektiven storyworld
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die durch die in der narrativen Darstellung vermittelten Informationen angepasst werden.10 Catherine Emmott (1997, 4) sieht das Verstehen narrativer Texte als Prozess, der verschiedene Wissensoperationen vereint. Auf einer intratextuellen Ebene umfasst dies Wissensbestände, die durch die Rezeption der narrativen Darstellung selbst vermittelt werden: Leerstellen entstehen in diesem Kontext nicht dadurch, dass eine Information gänzlich offengehalten wird, sondern weil sie bereits an vorangegangener Stelle definiert wurde (vgl. Emmott 1997, 7). Auf textlinguistischer Ebene sind es beispielsweise bestimmte Pronomina (er/sie/es; dies; jener), die auf Entitäten verweisen, die durch den Text selbst etabliert wurden. Neben diesem textinternen Wissen existiert ein text- oder medienspezifisches Wissen, das innerhalb spezifischer Verstehens- und Interpretationsprozesse angewandt wird. Dies betrifft zum einen spezifische Konventionen über das Erzählen (vgl. Emmott 1997, 34–35), aber auch persönliche Erfahrungen mit ähnlichen Text- und Mediengattungen. Wie Engelns (2014, 87–88) und J. Tuomas Harviainen (2012, 510) anmerken, lässt sich dieses textsortenspezifische Wissen ebenso auf persönliche Erfahrungen und Vorwissen mit Spielen übertragen. Das textspezifische Wissen wird um ein weites Feld allgemeiner Wissensbestände11 ergänzt, das innerhalb der Vergleichsoperationen in Verbindung mit den Informationen über die fiktive Welt gebracht wird (vgl. Emmott 1997, 126). Emmott definiert allgemeines Wissen als an awareness of key facts from subjects such as history, geography, and science. Whilst such information is undoubtedly important in reading texts, there is a more basic type of knowledge which is also important but which is usually taken for granted because it is learnt through experience with the world rather than by school instruction. This is a knowledge of entities in the world (e.g. tables and chairs), typical scenarios (e.g. a kitchen), and typical event sequences (e.g. what usually happens in a restaurant). (Emmott 1997, 23)
Neben konkreten Faktenbeständen („key facts“) sind es insbesondere abstrakte Vorstellungen von Entitäten (vgl. Emmott 1997, 23–24) und spezifische Skripts (vgl. Gibbs 2003, 33–34), also bestimmte Handlungsschemata (vgl. Sinding 2005, 590), die dieses Wissen konstituieren. Es dient innerhalb des Verstehens- und Vorstellungsbildungsprozesses als Möglichkeit, Leerstellen im Text zu füllen und
Wie Herman (2009, 45) und auch Baßler (2010, 562) betonen, ist es unwichtig, mittels welcher semiotischen Kanäle diese Informationen innerhalb der narrativen Darstellung kommuniziert werden. Emmott (1997, 36) verweist darauf, dass eine starre Grenzziehung zwischen textspezifischem und allgemeinem Wissen schwierig ist, da sich beide Bereiche innerhalb der Rezeption häufig verschränken.
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somit grundlegende Interferenzen herzustellen (vgl. Emmott 1997, 26–27). Diese Interferenzen können mitunter die von Ryan (1991, 32) beschriebenen „accessibility relations“ aktivieren, die einen Ausgangspunkt für die eigene Verortung in einer möglichen Welt bietet. Aufgrund dieser Interferenz- und Überlagerungsprozesse zwischen den Informationen, die der Text herstellt, und den subjektiv-lebensweltlichen Wissensbeständen, die Rezipierende bei der Konstruktion integrieren, beschreibt Ralf Schneider (2012, 10–11) den kognitiv-narrativen Konstruktions- und Verstehensprozess einer storyworld als Blending. Das Konzept des Blendings (vgl. u. a. Fauconnier und Turner 2003) umfasst ein Feld kognitiver Operationen, die Menschen nutzen, um verschiedene Sets an Informationen zusammenzuführen (vgl. Schneider 2012, 3–4) und effizient zu verarbeiten (vgl. Martínez 2017, 9). Die Grundlage dieser Operation bilden sogenannte mental spaces, „temporäre[ ] Prozessaspekte und Strategien der Konstruktion von Bedeutung“ (Hartner 2012, 128), die durch bestimmte frames und kognitive Modelle strukturiert werden. Mental spaces stehen in Beziehung zu Erinnerungsprozessen sowie Informationen, die mittels linguistischer, pragmatischer und kultureller Strategien des Informationserwerbs konstruiert werden (vgl. Hartner 2012, 129). Blending stellt demnach die dynamische Verknüpfung verschiedener mental spaces zu einem „conceptual integration network[ ]“ (Hartner 2012, 133) dar. Das Ergebnis dieser Verknüpfung – der blend (vgl. Martínez 2017, 11) – enthält Elemente aus beiden verknüpften mental spaces (die als input spaces klassifiziert werden; vgl. Schneider 2012, 7) und generiert gänzlich neue Bezugsrelationen und Bedeutungsstrukturen (vgl. Sinding 2005, 597). Nicht nur, weil das Blending verschiedene Relationen des Verstehens betrifft, sondern auch, da es komplexe Netzwerke kreieren kann, die auf multiplen input spaces beruhen, scheint es als relativ leistungsfähiges Erklärungsmodell für verschiedene kognitive Verstehensoperationen (vgl. Hartner 2012, 145) geeignet, die nicht allein die Rezeption von Erzählungen betreffen (vgl. Martínez 2017, 11).12 Innerhalb der kognitiven Narratologie kann das Konzept in vielerlei Hinsicht nutzbar gemacht werden (vgl. Fludernik 2010, 15; Martínez 2017, 14), darunter das Identifizieren und Kombinieren bestimmter Handlungsstrukturen (vgl. Turner 2008, 120–121), die Figureninterpretation (vgl. Martínez 2017, 20; vgl. Kap. 6.2), sowie unnaturaler Raumkonstruktionen (vgl. Alber 2013, 48–49). Als Makrokonzept lässt es sich auch bei der Konstruktion einer storyworld heranziehen: Als erster input space fungieren die Informationen, die die narrative Darstellung selbst bereithält,
Dennoch soll an dieser Stelle betont werden, dass Blending ein kognitives Konzept ist, das sich empirisch schwer nachweisen lässt, worin eine zentrale Kritik seitens der Neurobiologie besteht (vgl. Hartner 2012, 145–146; Schneider 2012, 9).
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den zweiten input space bilden bestimmte lebensweltliche Wissensbestände. Hieraus konstruiert sich ein blend, der sich aus der Vergleichbarkeit („comparability“; vgl. Schneider 2012, 12) der textuellen Welt mit der Welt des oder der individuellen Rezipient/-in ergibt. Wenngleich sich Blending als sehr subjektiver Prozess darstellt, der sich aus Erfahrungen, Wissensbeständen und spezifischen Kompetenzen eines Individuums speist, basiert die Aktivierung des Prozesses auf bestimmten interaktionalen Markern, die innerhalb der Kommunikation identifiziert werden müssen (vgl. Martínez 2017, 43). Aus diesem Grund beschreibt Thon (2016, 53) storyworlds als intersubjektive Entitäten, die auf Basis eines fiktionalen Textes (genauer: seiner Zeichen) die Konstruktion einer mentalen Repräsentation ermöglichen. Diese Basis fungiert als common ground einer Kommunikation, als ein gemeinsamer, konzeptionierter Ausgangspunkt, der konstruiert wird, um den Erfolg der Kommunikation zu garantieren (vgl. Martínez 2017, 51). Der common ground ist die notwendige Voraussetzung für Intersubjektivität, im linguistischen Sinne eine Form der kognitiven Koordinierung, die zwischen den Teilnehmenden einer Kommunikation entsteht, um eine maximale gemeinsame kognitive Ausrichtung zu gewährleisten (vgl. Martínez 2017, 50). Der common ground fungiert in der narrativen Kommunikation als konzeptuelles Substrat (vgl. Martínez 2017, 46) und wird gemeinhin durch verschiedene Kontextualisierungstrategien erzeugt, die das narrative Verstehen maßgeblich beeinflussen. Emmott (1997, 121) bezeichnet diese Strategien als kontextualen frame („contextual frame“): Ein mentaler Informationsspeicher über den Kontext, den die narrative Darstellung selbst entwickelt, sowie den Interferenzen, die auf Basis dieser Informationen geschaffen werden können (vgl. Emmott 1997, ix; Hartner 2012, 88–89). Dieser kontextuale frame wird im Rezeptionsprozess durch neue Informationen laufend erweitert und modifiziert (vgl. Emmott 1997, 143) oder durch bestimmte narrative Verfahren (Orts- und Zeitwechsel; vgl. Emmott 1997, 120 u. 150) im Verlauf der Narration gänzlich neu konstruiert. Emmott spricht speziell Pronomina eine besondere Rolle innerhalb des Verstehens- und Interpretationsprozesses einer sprachbasierten Narration zu. Jene fordern Rezipierende dazu auf, innerhalb ihres mentalen Speichers Referenzen auf vorher rezipierte Informationen zu ziehen. Dies zeigt, dass Pronomina nicht nur auf ein Textelement verweisen, sondern ebenso auf die mentale Repräsentation bestimmter Entitäten, die durch den Text konstruiert werden (vgl. Emmott 1997, 201–202). Weiterhin verlangen sie in den Fällen, in denen sie eine deiktische Funktion erfüllen, von den Rezipierenden einen Standortwechsel, da sie nicht auf die lebensweltliche Realität, sondern auf die mentale Repräsentation einer Entität verweisen (vgl. Emmott 1997, 57–58). Gemäß der Deictic Shift Theory (vgl. Martínez 2017, 35) zeigt dies die Neuverortung im Sinne eines fictional recentering an: Eine Entität innerhalb der storyworld erscheint als Zentrum der Interpretation bestimmter deiktischer Parameter
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und stellt eine Forderung oder ein Angebot an die Rezipierenden, sich interaktional neu zu positionieren (vgl. Martínez 2017, 53). Diese deiktische Neuverortung betrifft nicht nur eine räumliche Positionierung, sondern kann nach den drei deiktischen Parametern „I–here–now“ (Martínez 2017, 38) realisiert werden. Die bisherigen rezeptions- und kognitionstheoretischen Ausführungen beschreiben den allgemeinen Verstehensprozess innerhalb einer narrativen Kommunikation. Im Pen-and-Paper-Rollenspiel kommt gerade bestimmten Verstehensoperationen aufgrund der Kommunikationssituation eine spezielle Bedeutung zu: Da es sich um ein gemeinsames Erzählen handelt, sind besonders die Kontextualisierungsstrategien relevant, die einen common ground erzeugen, der die Basis der Konstruktion einer intersubjektiven storyworld bietet. In ähnlicher Weise wie in der mündlichen Kommunikation sind derartige Strategien umso nötiger, um den Fortgang der Kommunikation nicht zu behindern und Irritationen zu vermeiden. Im Spielprozess resultiert dies speziell in einem explizit etablierten kontextualen frame, der die Basis jeglicher subjektiven Interferenzen bildet. Diese Kontextualisierung wird zu großen Teilen von Spielleitenden geleistet, die mittels ihrer beschreibenden Kommunikationsbeiträge eine Kontextualisierung anregen: S1: Shadowrun 1 S1.1: Einstieg SL:
SL:
Okay. .hh (.) ihr seid (.) eine Gruppe von Shadowrunnern. Wir schreiben das Jahr Zweitausend (1.0) Zweiundachtzig. Ähm: (.) ihr hattet vo:r einiger Zeit einen Auftrag zusammen gemacht, (.) der auch nur halblegaler Natur war (.) un:d der wurde erfolgreich beendet und ihr habt ihr gemerkt dass ihr als Gruppe eigentlich sehr sehr gut funktioniert (.) sodass ihr euch die Option offengehalten habt (.) im Laufe der Zeit nochmal Kollegen zu sein. Tatsächlich hatte dieser Auftrag Auswirkungen in der Unterwelt. (.) Ein gewisser Mr. Schmidt (.) ist auf euch aufmerksam geworden. Sodass ihr euch alle wieder versammelt habt da er eurer Fertigkeiten bedarf. (.) Ähm: (1.0) ihr habt alle eine Nachricht bekommen. (.) Und es ist Nacht (.) jetzt und die Nachricht klar das habt ihr alle schon gemacht, (.) dass ihr alle: (.) äh: dass du ((blickt Be an)) dein Auto dass du besitzt .hh (…) (…) Ihr seid (.) alle: ihr seid schon zusammen gekommen, ihr habt schon Kontakt aufgenommen vorab, äh es ist Nacht es regnet (.) ähm: (.) um euch herum seht ih:r (.) G-Gossen und ganz viele dreckige Straßen, und ihr steht quasi so ein bisschen vor einem Viertel (.)
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von Wolkenkratzern. Also so hinter euch ist sozusagen (.) ((hebt die Hände und gestikuliert in der Luft)) die Gebäude werden immer niedriger flacher abgeranzter es sind noch viele Werbetafeln viel l-Neonlicht viel (.) viel Matrixgedöns das euch entgegen wirft aber (.) ähm: vor euch erstrecken ((führt die Hände nach vorne, bewegt sie auf und ab)) sich so nach und nach die Wolkenkratzer der Innenstadt. (1.0) Un:d (.) äh wie gesagt iäh-es ist nicht so viel nicht so viel äh nicht so sie-es sieht nicht so nobel aus da wo ihr st-gerade steht? Ähm und ihr seht dieser Wolkenkratzer best-steht aus einem Wolkenkratzer sondern aus zweien. Die mit einer Brücke (.) miteinander verbunden sind. Un:d (.) der Teil wo ihr gerade steht, ist sozusagen noch der Teil des (.) Podestes. Also ich müsst euch das so vorstellen das ist quasi so ein (.) ((hebt beide Arme in die Höhe und fährt mehrfach auf und ab)) st-meterhohes stockwerkartiges Podest? Also so eine Art (.) Fundament? Wo dieser Wolkenkratzer draufsteht, (.) und dort ist dann so eine kleine Plattform ((führt beide Hände vor sich horizontal voneinander weg)) drauf und auf dieser Plattform beginnt so der eigentliche [Wolkenkratzer] sozusagen. 00:01:08–00:03:49 Auffällig an dieser einführenden Rede eines Spielleiters (SL) sind bestimmte festgelegte kontextuale Parameter, die sowohl die räumliche, zeitliche als auch personale Positionierung der anderen Teilnehmenden betreffen. Mit „ihr seid (.) eine Gruppe von Shadowrunnern“ bestimmt der Spielleiter die Rolle der Spielenden und zeigt dabei an, dass das Pronomen „ihr“ innerhalb der fiktionalen Kommunikation auf die mentale Repräsentation dieser Figuren verweist. Eine zeitliche Kontextualisierung wird daraufhin durch die Angabe der Jahreszahl („das Jahr Zweitausend (1.0) Zweiundachtzig“) geleistet, „vo:r einiger Zeit“ verortet das Handeln der Figuren innerhalb des zeitlichen Kontextes der fiktiven Welt. Im Gegensatz zu dieser vorgelagerten Zeitinformation folgt darauf die deiktische Wendung „jetzt“, die die zeitliche Positionierung der Figuren präzisiert. Im zweiten Teil der Spielleiterrede wird eine räumliche Verortung nach gleichem Muster konstruiert: Die Figuren befinden sich „vor einem Viertel von Wolkenkratzern“, die anschließende Raumbeschreibung erfolgt ausgehend von diesem Standpunkt durch räumlich-deiktische Marker („hinter euch“, „vor euch“, „um euch herum“, „euch entgegen“). Dass solche längeren einführenden Beschreibungen als typisch für das Penand-Paper-Rollenspiel angesehen werden (vgl. Herbrik 2011, 97–98), ist folglich nicht nur Ausdruck einer gestalterischen Präferenz. Diese Beschreibungen haben innerhalb der Produktions- und Rezeptionsprozesse eine funktionale Rolle, indem
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sie den kontextualen Rahmen für die Etablierung eines common ground festlegen. In den Spielsitzungen des Datenkorpus tritt eine derartige ausführliche Kontextualisierung nicht nur zu Beginn einer Spielsitzung auf, sondern immer dann, wenn sich ein signifikanter zeitlicher oder räumlicher Wechsel innerhalb der Narration andeutet. Diese Beobachtung geht mit Emmotts Aussage bezüglich der Strukturierung einer narrativen Kommunikation konform: Immer wenn ein Wechsel innerhalb der zeitlichen und/oder räumlichen Ordnung stattfindet, erfolgen zumeist neue Kontextualisierungshandlungen (vgl. Emmott 1997, 78–79). Entgegen narrativen Darstellungen in anderen Medien, die diese Wechsel manchmal nur indirekt andeuten und bei Rezipierenden eine verstärkte Interferenzbildung fordern (vgl. Emmott 1997, 79), werden solche Neukontextualisierungen in den Rollenspielsitzungen im Analysekorpus relativ explizit vollzogen, um die gemeinsame kognitiv-intersubjektive Koordinierung nicht zu gefährden. Die verstärkte explizite Kontextualisierung, die durch die Verwendung deiktischer Parameter eine interaktionale Re-Positionierung fordert, lässt sich auf den ersten Blick mit der Erzeugung einer Form der Immersion gleichsetzen, die als Kennzeichen einer ästhetischen Illusion angesehen wird. Gemäß den Ausführungen Waltons lassen sich jedoch verschiedene Formen der Verortung und Positionierung innerhalb einer fiktiven Welt ausmachen, von denen nicht alle mit einer involvierenden Imaginationsposition gleichzusetzen sind (vgl. Walton 1990, 265). Es gilt also im Folgenden, konkrete Strategien der ästhetischen Illusionsbildung herauszuarbeiten, um die Rolle einer ästhetischen Konvention innerhalb der Rollenspielkommunikation weiter zu präzisieren. In Anlehnung an Wolf (2004, 339–341) betrifft dies im Falle der Konstruktion der intersubjektiven storyworld konsistenzund komplexitätsstiftende Prinzipien sowie die Nutzung medien- und genrespezifischer Potenziale. Weitere illusionsstiftende Strategien werden in Kapitel 6.2 genauer betrachtet, wenn es um das Verkörpern einer fiktiven Figur geht. Da angenommen werden kann, dass vorstellungsbildende Prozesse im Pen-andPaper-Rollenspiel ähnlich verlaufen, wie im Falle anderer narrativer Darstellungen, verweisen vor allem die kognitiven Operationen auf polyvalente Sinnangebote, die die intersubjektive und mögliche subjektive storyworlds für die Rezipierenden offenhalten (vgl. Kap. 4.2.3). Hier sind speziell die subjektiven Wissensbestände, die in Interferenzprozessen oder auch in Formen des Blendings hinzugezogen werden, Ausdruck eines individuellen Verstehens- und Vorstellungsbildungsprozesses, der zudem eigene Deutungen und Bewertungen über das Erzählte zulässt.
6.1 Ästhetische Illusion und die Konstruktion einer intersubjektiven storyworld
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6.1.1 Konsistenzbildung als illusionsstiftende Strategie In der Definition und Entwicklung des Begriffs der ästhetischen Illusion identifiziert Wolf (2004, 340) sechs Strategien, die narrative Darstellungen zur Illusionsstiftung nutzen können. Diese Strategien können als Angebote gesehen werden, die es Rezipierenden erleichtern, den Rezeptionszustand der ästhetischen Illusion herbeizuführen. Eine Strategie betrifft ein Konsistenzprinzip („principle of consistency“), auf dessen Basis die sich durch die Darstellung entwickelnde storyworld konstruiert wird. Derartige Welten entwickeln eine „fundamental analogy“ zur realen Lebenswelt, wobei diese Analogie nicht zentral diejenigen Eigenschaften betrifft, deren Abweichung explizit markiert wird und/oder auf Genrekonventionen verweist. Konsistenz bezieht sich in diesem Kontext vielmehr auf logische und epistemologische Aspekte, so zum Beispiel die Vermeidung unauflösbarer Widersprüche, die Konsistenz von Zeit und Ort, Kausalität und Teleologie. Im Pen-and-Paper-Rollenspiel lassen sich vor allem Konsistenzbildungsoperationen identifizieren, die die Auflösung bestimmter deutungsbasierter Widersprüche betreffen, sich also zentral auf die logische Konsistenz der dargestellten Welt beziehen. Diese Konsistenz ist nicht nur aus illusionsbildenden Gründen von Bedeutung, sondern auch aufgrund prozessualer Aspekte, die den Fortgang des Erzählens – speziell die Etablierung eines common ground – betreffen. Die Notwendigkeit dieser Operationen lässt sich auf drei Faktoren zurückführen. Der erste basale Faktor bezieht sich auf die Individualität des Rezeptionsprozesses (vgl. Emmott 1997, 66–67) und die daraus resultierende Konsequenz für das eigene Erzählen. Wenngleich im Erzählprozess zumeist von allen Teilnehmenden angestrebt wird, möglichst verständlich und widerspruchsfrei zu kommunizieren, ist es dem sprachlichen Ökonomieprinzip geschuldet, dass nicht alle Informationen über die dargestellte Welt tatsächlich vermittelt werden können. In der Informationsvergabe entstehen folglich Leer- und Unbestimmtheitsstellen, deren Relevanz aufgrund der Emergenz des Erzählprozesses nicht immer objektiv eingeschätzt werden kann (vgl. Kap. 5.1.3). Innerhalb des Verstehensprozesses erfordert dies subjektive Interpretationen der Informationsbestände, die zentral durch das semantische Wissen der Beteiligten gespeist werden (vgl. Emmott 1997, 25). Möchten Teilnehmende an diese Informationen durch ihr eigenes erzählerisches Handeln anknüpfen, können Widersprüche in Bezug auf die Objekte und Entitäten innerhalb der storyworld entstehen. So können zum Beispiel einem Objekt, das innerhalb seiner Einbettung in die erzählerische Kommunikation als „Fels“ eingeführt wird, unterschiedliche Qualitäten bezüglich Größe, Form und Gewicht zugewiesen werden. Sofern eine Interpretation der Informationen zu Widersprüchen innerhalb der Vorstellung der anderen Teilnehmenden führt oder generell eine Präzisierung bestimmter Informationen gewünscht ist, liegt es zumeist an den Spielleitenden,
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6 Literar-ästhetisches Verstehen im Rollenspielprozess
gemäß ihrer Ratifizierungsrolle diese konsistenzbildenden Maßnahmen voranzutreiben. Das folgende Beispiel illustriert eine Kommunikationsstrategie des Spielers Walter (Wa), eine solche Maßnahme von der Spielleiterin (SL) einzufordern: S6: Dungeons and Dragons 1 S6.1: Einstieg Wa:
SL: Wa:
Hm. (.) Ja ich kanns probieren. Also ich bin relativ stark ((schaut auf ein Dokument)) aber der Felsen ich weiß nicht wie groß ist denn der Felsen. Kann das von Erfolg gekrönt sein frage ich mich während ich da so hänge? Höchstwahrscheinlich (.) nicht. (1.0). Also das ist wirklich äh ((breitet die Hände weit aus, stöhnt)) [so groß] [Ziemlich schwer] ach so. Und ich hänge da ja auch nur dran von da an wird es schon [echt nicht einfach.] 00:12:48–00:13:09
Walter identifiziert eine Leerstelle innerhalb der vorangegangenen Beschreibung der Spielleiterin („weiß nicht wie groß ist denn der Felsen“) und deutet dazu ein mögliches Figurenhandeln an („Kann das von Erfolg gekrönt sein frage ich mich während ich da so hänge“). Die Spielleiterin präzisiert diese Information anschließend und deutet an, dass Walters Handlungsabsichten wahrscheinlich nicht zu einem Vorankommen seiner Figur führen („Höchstwahrscheinlich (.) nicht.“). Die Handlung Walters verdeutlicht zum einen sein Bewusstsein für die vorhandenen Leerstellen und die Offenheit des sich daraus ergebenden Interpretationsprozesses, da er sein eigenes subjektives Verstehen nicht als Ausgangspunkt seiner Anschlusshandlungen setzt. Zum anderen illustriert sein Nachfragen eine Strategie, diese Offenheit allgemeingültig aufzulösen, um die erwarteten neuen Informationen innerhalb der narrativen Kontextualisierung zum Teil des intersubjektiven common ground werden zu lassen. Das Nachfragen über bestimmte Gegebenheiten der narrativen Darstellung ist ein typisches Element der Wissens- und Informationsvergabe im Rollenspielprozess, was in der kommunikativen Modellbildung bereits als Metakommunikation beschrieben wurde, also als Kommunikation über das Erzählte und den Erzählprozess (vgl. Kap. 4.2.4). Da das Wechseln in die Metakommunikation mit einem Wechsel des kommunikativen frames einhergeht, der zugleich zu einer sprachlichen Neuverortung des oder der Kommunizierenden führt, scheint dieses kommunikative Handeln auf den ersten Blick der Etablierung einer ästhetischen Illusion abträglich. Wolf (2013, 120) sieht jedoch nicht nur die Immersion, die durch das fictional recentering begünstigt wird, sondern auch das Bewusstsein,
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dass es sich um ein ästhetisches Objekt handelt, als Regulativ, das das Gefühl der Immersion begleitet und die Darstellung zugleich entgegen der Realität der Rezipierenden verortet. Der Eintritt in die Metakommunikation verdeutlicht daher die besondere Stellung des rollenspielerischen Kommunikationsprozesses. Es handelt sich um einen ästhetischen Schaffensprozess und zugleich um eine rezeptionale Anschlusskommunikation, was die subjektive Involviertheit der Beteiligten mit der Notwendigkeit einer reflexiven Grundhaltung verbindet. Ein zweiter Faktor, der eng mit den individuellen Verstehensprozessen verbunden ist, ist das Erinnern an relevante Informationen, die die Konsistenzbildung, insbesondere die widerspruchsfreie Entwicklung der storyworld, beeinflussen. Auch im Falle anderer medialer narrativer Darstellungen verweist die kognitive Narratologie auf die Individualität des Erinnerungsprozesses, der stark durch individuelle Gedächtniskapazitäten und das subjektive Interesse von Rezipierenden geprägt ist (vgl. Emmott 1997, 63). Genauso fordert der narrative Verstehensprozess Erinnerungs-, aber auch Vergessensoperationen: Es muss selektiert werden, welche Informationen für den weiteren Verlauf der Erzählung relevant sind, wodurch Hierarchisierungen innerhalb der entwickelten mentalen Darstellungen vorgenommen werden (vgl. Emmott 1997, 38). Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass Spielende gänzlich unterschiedliche Erinnerungen in Bezug auf bereits vergangene Rollenspielsitzungen haben, die sich auch teilweise widersprechen können (vgl. Herbrik 2011, 117). Auch in diesem Fall ist es notwendig, die unterschiedlichen Erinnerungen zusammenzubringen beziehungsweise zu ratifizieren, beispielsweise durch eine gemeinsame Rekapitulation zu Spielbeginn, wie es im folgenden Beispiel geschieht. S7: Dungeons and Dragons 2 S7.1: Einstieg SL:
Bi: Zu: Yo: Bi: Yo: SL: Bi:
Genau. Von der Ratssitzung, (.) ähm wollt ihr schon gesagt haben dass ihr ihnen gesagt habt ((Beat-Geste mit zwei Zeigefingern in Richtung Zu)) dass das erfolgreich war oder wollt ihr das selbst überbringen. Haben wir das nicht letztes Mal schon erzählt? [Ich glaube das habe ich denen schon erzählt.] [Ich meine nur die beiden haben das ausgespielt. ((Deutet auf Aa und Zu))] Wir haben das nicht mitgekriegt. Ja ich weiß aber haben die-sind die als die nach Hause gekommen sind haben die [das nicht erzählt?] [Nein. Nein. ((Schüttelt den Kopf))] [Das haben wir gerade] (unv.) schnell gemacht. Okay.
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Aa: SL:
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Mhm Lasst es uns ausspielen. Äh ihr beide ((deutet mit der rechten Hand in Richtung Bi und Aa)) wartet in einer Baracke, (.) und ich setze mal zehn Minuten ((deutet mit der rechten Hand in Richtung Bi, danach mit der linken in den Raum)) an bevor die beiden kommen (.) und äh jemand klopft an, ((klopft auf das Holz eines Beistelltisches))(2.0) 00:16:54–00:17:26
Am Beispiel zeigt sich, dass die Spielenden teils unterschiedliche Erinnerungen an die Ereignisse der vergangenen Sitzung haben, konkret: ob die Überbringung einer Nachricht an einzelne Spieler/-innen-Charaktere bereits geschehen ist. Der Spielleiter (SL) hat auch in diesem Fall die Entscheidungsgewalt inne, an welcher Stelle die nachfolgende Handlung anknüpft. Er plädiert dafür, die Situation erneut auszuspielen („Lasst es uns ausspielen“), um so das intersubjektive Verstehen zu garantieren. Dies zeigt er zudem durch eine kurze Kontextualisierung der nachfolgenden narrativen Sequenz an, die den spatio-temporalen Rahmen der weiteren Ereignisse definiert („Äh ihr beide wartet in einer Baracke, (.) und ich setze mal zehn Minuten an bevor die beiden kommen“). Weil Konsistenz im Rollenspiel auch in der seriellen Beziehung vergangener Spielsitzungen von signifikanter Bedeutung sein kann, ist es folglich nicht nur wichtig, einen common ground für den aktuellen Erzählprozess zu etablieren, sondern diesen auf der Basis gemeinsamer Erinnerungen zu rekonstruieren. In der Kommunikation im Rollenspiel wird nach Herbrik (2011, 123–124) aus diesem Grund das kollektive Gedächtnis einer Spielgruppe entwickelt, das zentral auf kollektiven Vorstellungen gründet. Der dritte Faktor widerspruchsfreier Kontextualisierung betrifft die Interferenz- und Transformationshandlungen, die Einfluss auf den fiktionalen frame ausüben, besonders Spielhandlungen, die mittels einer Erzählrede übertragen werden. Auch hier müssen Spielergebnisse gedeutet werden, um sie in die narrative Kommunikation einzubetten. Dass sich hieraus ein Spannungsverhältnis zwischen der klar reglementierten Spielebene und der vageren fiktional-narrativen Kommunikation ergeben kann, deutet Engelns (2014, 160) für Computerspiele an. Auch hier scheint die Konsistenzbildung stark mit subjektiven Interpretationen verbunden zu sein und hat zugleich Einfluss auf die Rezeptionseindrücke der Spielenden. Während dieses Verhältnis im Computerspiel jedoch lediglich von den Rezipierenden fordert zu erkennen, „dass es auch in Computerspielen verschiedene Wirklichkeitsauffassungen gibt“ (Engelns 2014, 160), können derartige Deutungen im Pen-andPaper-Rollenspiel entscheidenden Einfluss auf den anschließenden erzählerischen Produktionsprozess nehmen. Das kommunikative Abgleichen bestimmter Informationen, das gemeinsame Erinnern an vergangene Ereignisse sowie die Transformation von Spielhandlung in
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Erzählrede stellen drei zentrale Handlungen dar, die die Konsistenzbildung im Rollenspiel maßgeblich prägen. Auf den ersten Blick erwecken sie jedoch den Eindruck, dass die Polyvalenzkonvention, die kennzeichnend für eine literar-ästhetische Kommunikation ist, nicht gegeben sei, da ein maßgebliches Ziel der rollenspielerischen Kommunikation ist, (sprachlich-semantische) Eindeutigkeit herzustellen. Wie Helmut Hauptmeier und Siegfried J. Schmidt (1985, 18, Anm. 6) betonen, darf Polyvalenz jedoch nicht mit Polysemie verwechselt werden, „also mit der Eigenschaft natürlicher Sprachen, in begrenztem Umfang mehrdeutig sein zu können“. Polyvalenz als Teil ästhetischer Kommunikation bedeutet vielmehr, „poetisch-bewertbare[n] Bedeutungs- und Bewertungsmöglichkeiten“ (Hauptmeier und Schmidt 1985, 18) zu erzeugen, die sich aus der Rezeption der Darstellung ergeben. Hieraus lassen sich drei zentrale Spielarten der Polyvalenz ableiten, die in diesem Kontext konkretisiert werden müssen. Als erste Form lässt sich eine imaginative Polyvalenz bezeichnen, die unter anderem aus der Polysemie des Zeichensystems resultieren kann. Imaginative Polyvalenzen bilden sich gerade in den Fällen, in denen der Text Unbestimmtheitsstellen lässt, die Rezipierende auffordert, Sachverhalte imaginativ zu konkretisieren. Dieser Polyvalenzeffekt lässt sich nicht nur durch eine Polysemie erzeugen, sondern auch durch ein gezieltes oder sprachlich-ökonomiebedingtes Offenlassen narrativer Informationen, das die Konkretisierung imaginativer Offenheits- und Leerstellen aktiviert. Diese subjektiven Imaginationsbestände werden im Pen-and-Paper-Rollenspiel dann festgelegt, wenn Informationen, die die Unbestimmtheits- und Leerstellen offenlassen, projektbezogen werden, also als Ansatzpunkt der fortlaufenden narrativen Kommunikation gewählt werden. Mit „poetisch-bewertbare[n] Bedeutungs- und Bewertungsmöglichkeiten“ verweisen Hauptmeier und Schmidt (1985, 18) auf zwei weitere Formen der Polyvalenz, die sich als affektive und evaluative Polyvalenz beschreiben lassen. Affektive Polyvalenz entwickelt sich unmittelbar innerhalb der rezeptiven Verarbeitungsprozesse und lässt sich als gefühlbetonte Reaktion begreifen, die sich in der Sinnbildung einstellt. Diese Reaktion ist in dem Sinne polyvalent, als sie sowohl in der Aktivierung als auch in der Intensität differieren kann. Dasselbe gilt auch für die evaluative Polyvalenz, die die subjektive Sinnbildung begleitet. Ästhetische Rezeptionsprozesse sind nicht nur rein auf das unmittelbare Verstehen der Kommunikation ausgerichtet, sondern ermöglichen weitreichendere Interpretationsprozesse, die in enger Verbindung mit vorangegangenen subjektiven ästhetischen Erfahrungen der Rezipierenden stehen. Hieraus ergibt sich ein individueller Zugang zum jeweiligen ästhetischen Gegenstand, der in gänzlich unterschiedlichen Wertungsund Bedeutungszuweisungen mündet. Eine weitere Eigenschaft kennzeichnet die Strategien der Konsistenzbildung im Pen-and-Paper-Rollenspiel, die weniger die Klärung von Widersprüchen betrifft als
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6 Literar-ästhetisches Verstehen im Rollenspielprozess
die Beziehungen zu anderen medialen Darstellungen, die mit der im Erzählprozess entstehenden storyworld zusammenhängen. Im Falle des Rollenspiels betrifft dies vor allem Konsistenzbeziehungen zu anderen fiktiven Welten oder storyworlds, die in enger Beziehung zur im Spielprozess entstehenden Welt stehen. Dies können zum einen die in den Texten der primären Autorschaft beschriebenen fiktiven Welten sein, auf deren Basis die Rollenspielerzählung entwickelt wird. Geht man davon aus, dass sich Spielende, sofern Regel- und Quellenbände eine derartige Weltenbeschreibung integrieren, mehr oder weniger in diese Beschreibungen einlesen, so erscheint auch hier die Möglichkeit gegeben, dass während der Spielsitzung ähnliche Abgleichungs- und Konsistenzbildungsprozesse unter den Beteiligten ablaufen müssen, wie sie bereits beschrieben wurden. Zum anderen ergeben sich Fälle der Konsistenzbildung, in denen Rollenspiele Teil eines transmedia storytelling sind und als „directed transmedia storytelling with user participation“ (Harvey 2014, 282) fungieren. Verweisen Pen-and-PaperRollenspiele also auf fiktive Welten, die durch andere mediale narrative Darstellungen vermittelt werden, können Konsistenzbildungsprozesse im Rahmen eines Prinzips der minimalen Abweichung auch ein kognitives Blending aktivieren, das nicht mehr die reale Lebenswelt, sondern die transmediale storyworld als input space konstatiert. Susana Pajares Tosca (2017, 165) merkt für die Rezeptionsprozesse eines transmedialen Storytellings an, dass diese stark durch subjektive Erinnerungsoperationen geprägt sind. In Abhängigkeit von den bereits rezipierten narrativen Darstellungen entwickelt sich ein individuelles Gedächtnis über die fiktive Welt, das in den Konsistenzbildungsprozessen wiederum genutzt werden kann, um bestimmte Rezeptionserfahrungen abzugleichen, aber auch zu bewerten. Tosca (2017, 165) verweist dabei auf Nostalgiegefühle, die entstehen können, wenn man sich an bereits rezipierte narrative Darstellungen erinnert. Dazu lassen sich auch Kritik und Ablehnung gegenüber bestimmten Entwicklungen des transmedialen Franchises als Rezeptionseindrücke zählen, die den persönlichen Vorstellungen der fiktiven Welt widersprechen (vgl. Harvey 2015, 109). Diese auf Konsistenzbildungsprozesse und individuelle Vorstellungen verweisenden Bewertungen lassen sich in gleichem Maße auf die Entwicklung der Pen-and-Paper-Rollenspiele übertragen und können nicht nur das Verhältnis zwischen der Rollenspielerzählung und einer anderen narrativen Darstellung, sondern auch die individuellen Erinnerungen aus vergangenen Rollenspielsitzungen betreffen. Sie verweisen auf die evaluative Polyvalenz des Erzählprozesses, der die Möglichkeit lässt, Spielräume für die Entwicklung eigener Sinnangebote und Bewertungen zu schaffen. Dass diese Möglichkeit von Spielgruppen genutzt wird, illustriert Herbrik vor allem am Beispiel der gemeinsamen Rekapitulation vergangener Spielsitzungen. Hier werden mitunter nicht nur die Inhalte der letzten Sitzung ins Gedächtnis gerufen, um daran in der aktuellen Kommunika-
6.1 Ästhetische Illusion und die Konstruktion einer intersubjektiven storyworld
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tion anzuknüpfen, sondern auch subjektive Bewertungen der Ereignisse angestellt (vgl. Herbrik 2011, 120).
6.1.2 Reichhaltigkeit als illusionsstiftende Strategie Die zweite illusionsstiftende Strategie, die Wolf definiert, ist die Impression von Fülle („fullness“; Wolf 2004, 339), die eine storyworld vermitteln kann, indem sie ein reichhaltiges und detailliertes Inventar an Elementen (Figuren, Orte, Objekte) bereithält oder bestimmte Elemente integriert, „that are well-known to the reader“ (Wolf 2004, 339). Schrier et al. (2018, 357) sehen Rollenspielwelten als „richly created world[s]“, die darauf angelegt sind, glaubhafte fiktive Universen zu schaffen (vgl. Schrier et al. 2018, 349). Um diese Welten abzubilden und auszugestalten, werden häufig Metatexte (vgl. Schrier et al. 2018, 358–359) herangezogen, beispielsweise Szenariobeschreibungen innerhalb der Regelwerke (vgl. Kap. 3.2.3), Karten (vgl. Kap. 5.2.4) oder andere Dokumente, die in der Vorbereitung auf die Spielsitzung erstellt werden (beispielsweise Figurenbiografien; vgl. Kap. 5.2.3). An Reichhaltigkeit gewinnen diese Weltbeschreibungen vor allem durch ihre zum Teil fehlende Funktionalisierung innerhalb einer narrativen Darstellung, da nicht nur Elemente beschrieben werden, die unmittelbar relevant für die sich entwickelnde Narration sind. Diese Strategie, die auch von verschiedenen Medien der phantastischen (Sub-) Genres genutzt wird, erzeugt eine Form des Realitätseffektes (vgl. Saler 2012, 33), nach Culler (2002 [1975], 162–163) eine Spielart der vraisemblance, eine Beziehung zu bestimmten realitätserzeugenden Prinzipien, „in so far as it [d.i. das Werk] attempts that it conforms to reality and not to its own laws“. Diese Beziehungen werden durch die accessibility relations, die das Prinzip der minimalen Abweichung konstruiert, geschaffen (vgl. Martínez 2017, 37). Eine derartige Strategie lässt die Welt somit als eigenständig und unabhängig vom Medium, durch das sie vermittelt wird, erscheinen, was als Ausdruck von Heteroreferenz ein zentrales Charakteristikum (vgl. Wolf 1993, 203) der ästhetischen Illusion darstellt. Zudem ist eine Reichhaltigkeit der Weltbeschreibung im Pen-and-Paper-Rollenspiel notwendig, da durch die Entscheidungen der Spielenden gänzlich unvorhergesehene Wege innerhalb der fiktiven Welt beschritten werden können. Sofern Spielleitende den Teilnehmenden diese Möglichkeit nicht verwehren wollen, ist eine detailliertere Ausgestaltung der Welt unumgänglich. Das Szenariomodul Escape from Farpoint liefert zum Beispiel neben der Beschreibung der Handlungsschritte eine Karte (vgl. Ketchen 2019, 5), auf der verschiedene Gebäude des Ortes Farpoint verzeichnet sind, die durch eine kurze Beschreibung ergänzt werden. Die Spielenden können diese Orte erkunden, um neue Informationen über die Insel zu erhalten oder Gegenstände zu finden. Dass
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dieser Ort jedoch in Gänze nicht erforscht werden muss, um die Geschichte voranzutreiben (vgl. Kap. 5.2.1), zeigt der Spielverlauf der Gruppe S8, deren Spielleiterin zwar mehrfach auf verschiedene Gebäude im Ort Farpoint hinweist, die Spielenden das Angebot, diese Orte aufzusuchen, jedoch nicht immer annehmen (vgl. Kap. 5.2.1). Trotzdem erfüllen sie schließlich die Ziele des Szenarios (vgl. Ketchen 2019, 1), da sie sich aus ihrer Gefangenschaft befreien, den Herrscher des Ortes besiegen und die Insel anschließend verlassen. Die Reichhaltigkeit der Welt wird in diesem Fall allein dadurch geschaffen, dass den Spielenden die Möglichkeit suggeriert wird, bei Bedarf genauere Informationen über die Elemente der fiktiven Welt zu erhalten. Diese verschiedenen Handlungsmöglichkeiten erzeugen eine erhöhte Komplexität, mit der die Teilnehmenden im rollenspielerischen Erzählprozess konfrontiert sind. In ähnlicher Weise, wie es bei hypertextuellen Narrationen der Fall ist, leisten die Beteiligten kognitive Mehrarbeit (vgl. Seibel 2002, 222), da sie die Entscheidungen und Möglichkeiten vor dem Hintergrund des sich bereits Ereigneten abwägen müssen. Zwischen dem reinen Rezeptions- und Produktionsprozess liegt folglich ein Planungsprozess, in dem sich individuell oder gemeinsam auf das weitere Vorgehen festgelegt wird. Dass dieser Prozess häufig im Wechsel zwischen fiktionalem, ludischem und primärem frame geschieht, illustrieren besonders die planenden Phasen der Spielgruppe S1: Die Überlegungen, möglichst geschickt in einen Hochhauskomplex einzubrechen, werden sowohl aus Perspektive der Figuren nach spielfunktionalen Aspekten sowie in einer Metakommunikation diskutiert. Wenngleich eine derartige, an Hypertext erinnernde Handlungsstruktur unnaturale Züge trägt (vgl. Richardson 2013, 22–23), da sowohl der Erzählinhalt als auch seine Vermittlung nicht festgelegt sind (vgl. Kap. 5.2.1), scheint eine solche Gestaltung die ästhetische Illusion nicht zu unterminieren. Die komplexe Entscheidungsfindung steht in Beziehung zur allgemeinen Komplexität der Welt und entfernt diese im Sinne einer Heteroreferenz von der spezifischen medialen Darstellung. Die Heteroreferenz wird darüber hinaus durch das Medium der Sprache begünstigt, durch die diese Welt zu großen Teilen erzeugt wird, was das Nachdenken über Handlungen und Entscheidungen in eine Ähnlichkeitsbeziehung zur Entscheidungsfindung in der realen Lebenswelt setzt. Die zweite Ausdrucksform einer Reichhaltigkeit bezieht Wolf auf das Vorhandensein bestimmter Dinge, die den Rezipierenden wohlbekannt sind (vgl. Wolf 2004, 339). Im Rahmen der Konsistenzbildungsprozesse, die durch das Prinzip der minimalen Abweichung aktiviert werden, bezieht sich dies auf realweltliche Elemente, die sich ebenso in der fiktiven Welt wiederfinden. Wie Myriel Balzer (2009, 36) betont, ist diese Form des Isomorphismus eine komplexitätsreduzierende Strategie, die sich häufig in den Ebenen der Weltenkonstruktion des Rollenspiels wiederfindet. Diese Gleichartigkeit wird von den Teilnehmenden im Spielprozess nicht selten expliziert, wie folgendes Beispiel zeigt.
6.1 Ästhetische Illusion und die Konstruktion einer intersubjektiven storyworld
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S1: Shadowrun 1 S1.2: Schlossknacken SL: Be: Da: (…) SL:
Be: Ch: SL: Da: Ch:
SL: Da:
((Liest hinter dem Spielleiterschirm)) Automatischer Dietrich ja. Ich habe einen Dietrich gerade. (2.0) Dietrich? (4.0) Ja dann leihe ich dir den einfach dann machen wir es so dann ist das am einfachsten. Ja. [Ah okay.] (.) Ähm beim automatischen Dietrich ist es so das is:t das ist so eine Art (.) das ist so eine Art Minipistole, tatsächlich, wo du quasi ins Schloss schießt? ((Pistolengeste mit dem Fingern)) Mhm ja? Die gibt es übrigens auch wirklich. [Echt?] [Mhm.] Ja es gibt so kleine (.) äh Pistolen, ((mehrfache Formbewegungen mit beiden Händen)) die funktionieren dann irgendwie mit Luft, und füllen füllen die Zylinder ((klopft mit der flachen rechten Hand auf die zur Faust geballte linke Hand)) so dass die [dass die:] einzelnen äh Stifte heruntergedrückt werden. ((Schaut in sein Dokument)) [Interessant.] Alter. 00:47:36–00:48:07
Die Spielenden können sich in diesem Beispiel wenig unter dem Begriff des automatischen Dietrichs vorstellen, weswegen der Spielleiter (SL) dieses Objekt unter Rückgriff auf das Regelbuch genauer darstellen möchte. Er beschreibt hierbei mit Bezug auf den Text im Regelwerk lediglich das Aussehen und die grobe Funktionalität des Dietrichs. Mit „Die gibt es übrigens auch wirklich“ leitet Christian (Ch) eine Interferenz zwischen fiktiver und realer Lebenswelt ein, nachfolgend erklärt er die Funktion eines automatischen Dietrichs, so wie er ihn aus seiner eigenen Erfahrung kennt. Diese Strategie der Konsistenzerzeugung bietet einerseits die Möglichkeit, die gemeinsame intersubjektive Vorstellungsbildung zu steuern, andererseits stellt sie eine Anreicherung der fiktiven Welt mit Informationen aus der realen Realität dar. Diese Strategie nutzen auch die Regel- und Quellenbände verschiedener Penand-Paper-Rollenspiele, selbst wenn sich ihre fiktive Welt in vielen Aspekten von der realen Welt unterscheidet. So integriert der Aventurische Almanach (Don-Schauen
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6 Literar-ästhetisches Verstehen im Rollenspielprozess
und Richter 2015) des Rollenspiels Das Schwarze Auge (5. Edition) in der Beschreibung verschiedener geografischer Regionen die Rubrik „irdische Vorbilder“. Dabei werden zum Beispiel in der Regionalbeschreibung der Regionen „Paavi und der hohe Norden“ folgende Referenzen gezogen: Die Weiten Alaskas und Kanadas mit ihren einsamen Trappern, Lappland mit seinen Rentierherden, die Polregionen und die diversen Expeditionen zum irdischen Nord- und Südpol dienen als Vorlage für diese Region. Das Land ist lebensfeindlich und unerforscht, jahrtausendealte Geheimnisse fremder Kreaturen und Zivilisationen liegen unter dem Eispanzer begraben und der Sternenfall hat erst jüngst einige davon wieder zutage gefördert. Gerade wenn es um Bedrohungen aus vergangenen Äonen geht, kann zum Beispiel auch „Die Berge des Wahnsinns“ von H.P. Lovecraft als Inspirationsquelle dienen. (Don-Schauen und Richter 2015, 43)
Wenngleich Das Schwarze Auge keine geografischen accessibility relations mit der realen Welt teilt, da das geografische Zentrum der fiktive Kontinent Aventurien ist, werden in dieser Beschreibung mit Alaska und Kanada zwei realweltliche Referenzen hergestellt. Ebenfalls findet eine intertextuelle Referenz auf ein Werk H.P. Lovecrafts statt, dessen Inhalte nur geringe Anknüpfung an Das Schwarze Auge finden. Diese Bezüge fungieren – in ähnlicher Weise, wie sie es im Spielprozess tun – als Möglichkeiten der Interferenzbildung von Wissensbeständen, die die Basis für eine gemeinsame Vorstellungsbildung legen. Die Referenz auf die Werke H.P. Lovecrafts deuten bereits eine weitere Form der Erzeugung eines Realitätsbezugs an, der eng mit dem Wiedererkennen bestimmter Elemente zusammenhängt: der Verweis auf bestimmte Genres oder Einzelmedien. Culler, der mit Bezug auf Todorov diese Form der Intertextualität als zweite mögliche Ausprägung der vraisemblance definiert, beschreibt hier einen Realitätseffekt, der auf bekannte generische oder mediale Konventionen zielt und spezifisch „literary“ oder „artificial“ (Culler 2002 [1975], 163–164) wirkt. Culler (2002 [1975], 162) sieht die vraisemblance als Auslöser für eine mögliche Naturalisierung eines künstlerischen Textes, dem Schaffen einer diskursiven Ordnung, die die Rezeption entscheidend beeinflusst.13 Viele Forschungsbeiträge, die sich mit dem Erzählen sowie dem medialen Status des Pen-and-Paper-Rollenspiel beschäftigen, sehen hier eine enge Beziehung zu medialen und generischen Konventionen und Stereotypen (vgl. Grouling Cover 2010, 86; Herbrik 2011, 68; Mackay 2001, 76; Pappe 2011, 80; Punday 2005, 128; Tosca 2009, 132). Wie diese Beziehung hergestellt wird und welche Rolle sie in der Erzeugung einer ästhetischen Illusion spielt, soll im Folgenden erläutert werden.
Hieran knüpft Fludernik (2002 [1996], 14) mit ihrer Natural Narratology an, indem sie konstatiert, dass derartige Verstehensprozesse immer auf Vorerfahrungen beruhen. Den Verstehensvorgang bezeichnet sie als Narrativierung, „i. e. as the reading of texts as narrative, as constituting narrativity in the reading process“.
6.1 Ästhetische Illusion und die Konstruktion einer intersubjektiven storyworld
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6.1.3 Transtextuelle Referenzen als illusionsstiftende Strategien Das Respektieren und Nutzen medieneigener und generischer Konventionen identifiziert Wolf (2004, 341) als weitere Strategie der narrativen Illusionsbildung, wohingegen Konventionsbrüche als Irritationsfaktor angesehen werden können, die die Aufmerksamkeit der Rezipierenden auf diesen Bruch selbst anstatt auf das „center of aesthetic illusion“ richten. Das Pen-and-Paper-Rollenspiel, das selbst als hybrides mediales Dispositiv erscheint (vgl. Kap. 2.3), klassifiziert sich in diesem Kontext vor allem als Ort, an dem gemeinsame Erfahrungen von populärer Kultur geteilt und verhandelt werden (vgl. Mackay 2001, 76). Es fokussiert sich weniger auf die Einhaltung der eigenen medialen Potenziale und Konventionen, da diese je nach sozio-kultureller Prägung der Spielgruppe stark variieren können, sondern auf die Eigenschaften und Spielarten anderer medialer Darstellungen, um so Gemeinsamkeiten zwischen den Spielenden zu schaffen, die den erzählerischen Kommunikationsprozess entscheidend prägen können. Diese Beziehungen sollen nach Genette (2011 [2001], 9) als transtextuelle Verbindungen bezeichnet werden, also als „manifeste oder geheime Beziehung zu anderen Texten“. Transtextualität im Rollenspiel umfasst Formen der Intertextualität (Beziehungen zwischen zwei oder mehreren Texten), die Architextualität (der Verweis auf Gattungen und Genres), die Hypertextualität14 (die Transformation oder Nachahmung eines Textes), aber auch die Paratextualität (Texte im Umfeld des Haupttextes) (vgl. Genette 2011 [2001], 9–15). Weiterhin sind intermediale Bezugnahmen relevant, durch die diese transtextuellen Beziehungen gelegentlich markiert werden, sei es in Bezug auf ein mediales (Sub-)System oder sei es durch konkrete Einzelreferenzen (vgl. Rajewsky 2002, 76). Gemäß der in Kapitel 4.2.2 formulierten Bestimmung, die gesamte Kommunikation im Pen-and-Paper-Rollenspiel als Text zu bezeichnen, stellt die Kommunikation innerhalb der Rollenspielsitzung, insbesondere die Erzählkommunikation, eine Ebene dar, auf der transtextuelle Beziehungen realisiert werden. Weiterhin können jedoch genauso Texte im Umfeld der Rollenspielsitzung, wie die Erzeugnisse primärer und sekundärer Autorschaft, transtextuelle Verbindungen erzeugen, die die Konstituierung des Spielprozesses beeinflussen. In der Rollenspielkommunikation stellen transtextuelle Beziehungen in Anlehnung an die vorher beschriebenen Rezeptionsprozesse zuallererst eine Komplexitätsreduktion innerhalb des narrativen Aushandlungsprozesses dar, die die
Diese Spielform der Transtextualität darf nicht mit der textuellen Organisationsform des Hypertextes verwechselt werden. Hypertextualität im Sinne Genettes (2015 [1996], 14–15) meint hier eine Beziehung, in der der eine Text den anderen in gewisser Weise überlagert oder transformiert. Der Hypertext steht dabei in Abhängigkeit zum Ausgangstext, dem Hypotext, ohne den er nicht existieren könnte.
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Konstruktion der intersubjektiven storyworld bedingt. Gerade architextuelle Bezüge auf populärkulturelle Genres sind in diesem Kontext relevant und führen durch die Wiederholung typischer patterns (vgl. Eco 1987, 211; Moretti 2016, 77) zu einer Naturalisierung (vgl. Culler 2002 [1975], 159) und Reduktion narrativer Komplexität. Begreift man Genrepatterns als kognitive Schemata, die durch bestimmte frames innerhalb der Rezeption aktiviert werden (vgl. Sinding 2005, 591–592), erfolgt die Komplexitätsreduktion infolge eines Blendings, dessen input space durch das jeweilige Schema konstituiert wird (vgl. Schneider 2012, 20). Genres und andere transtextuelle Verweise aktivieren bestimmte Erwartungen bei Rezipierenden (vgl. Grouling Cover 2010, 39), die kognitiv vor allem mit dem Erfüllen bekannter Schemata verbunden sind (vgl. Schneider 2012, 20). Ob diese Bezüge erkannt werden, hängt von der medialen Kompetenz und dem populärkulturellen Wissen der Rezipierenden ab. Tosca (2009, 133) verweist darauf, dass ein Nicht-Erkennen bestimmter transtextueller Verweise entgegen der eigentlichen Intention ebenso zu einem erschwerten Verstehen führen kann. Aus diesem Grund werden derartige Referenzen innerhalb der Metakommunikation nicht selten expliziert und direkt markiert. Im folgenden Beispiel nutzt der Spieler Benjamin (Be) eine transtextuelle Referenz, um während seiner Figurenbeschreibung die Beziehung zu Christians (Ch) Figur abzustecken: S1: Shadowrun 1 S1.1: Einstieg SL: Be: Ch:
Okay. (1.0) Cool. Dann haben alle ein Bild von den anderen. ((Schaut Ch an)) Du weißt Zwerge und Elfen hassen sich. Zumindest bei Herr der Ringe. Ja. Schade. ((Be lacht)) 00:14:19–00:14:29
Nachdem der Spielleiter (SL) die Beschreibungsrunde der Spieler/-innen-Charaktere beendet hat, wendet sich Benjamin Christian persönlich zu. Da sich innerhalb der Vorstellungsrunde herausgestellt hat, dass Benjamin einen Elfen und Christian einen Zwerg spielt, rekurriert er auf eine mögliche Beziehungskonstellation zwischen den beiden Figuren. Er stellt hierbei einen intertextuellen Bezug zum Romanzyklus Der Herr der Ringe (Tolkien 1954 u. 1955) her, um anzudeuten, dass das Verhältnis der Figuren möglicherweise belastet sein könnte. Der Verweis „Zwerge und Elfen hassen sich“ bezieht sich hier auf das anfangs angespannte Verhältnis des Elben Legolas und des Zwerges Gimli, beruhend auf einer Auseinandersetzung ihrer Väter, das vor allem in der gleichnamigen Filmtrilogie von Peter Jackson teils wettstreitähnliche
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Züge annimmt. Dass Benjamin zwar auf Der Herr der Ringe direkt referiert, sich jedoch eher im Sinne eines pars pro toto auf bestimmte Stereotype des Fantasygenres bezieht, deutet dabei der Begriff „Elfen“ an, den er mit dem in Tolkiens Werken genutzten Namen des Volkes der Elben synonym verwendet. Komplexitätsreduzierend wirkt dieser Metakommentar besonders deshalb, da Benjamin Christian einen möglichen Konflikt unter den Figuren anbietet, der keiner weiteren Planung und/oder Entwicklung bedarf, sondern auf einem genrespezifischen Stereotyp beruht. In Abwandlung tauchen transtextuelle Verweise auch innerhalb von Kommunikationshandlungen auf, die vornehmlich als Ausdruck einer subjektiven Bewertung einzelner Teilnehmender fungieren. Im folgenden Beispiel aus dem Spiel Fiasco leitet der Spieler Noel (No) ein Ereignis ein, Spielerin Lara (La) bewertet diese Einleitung daraufhin. S3: Fiasco 1 S3.1: Briefsendung No: La:
Ein Rabe bringt einen Brief "ding." ((Öffnet die Hand gegenüber Ma, lacht)) ((Lacht)) Wie bei Harry Potter. Oh wie cool (.) lässt er einfach so fallen ((gleitende Handbewegung)). 01:26:14–00:26:24
Noel beschreibt die Überbringung eines Briefes durch einen Raben an Matteos Figur. Lara akzentuiert das Ereignis mit einem transtextuellen Verweis auf die Buchreihe Harry Potter (Rowling 1997–2007), in der Vögel für Botendienste genutzt werden, und bewertet es anschließend („Oh wie cool“). Eine derartige Bewertung ist nicht nur Ausdruck des polyvalenten Sinnangebots, das die Rollenspielerzählung bereithält, sondern ebenso eine Handlung, die Einfluss auf das weitere Erzählen haben kann. Mit der Vermittlung ihrer eigenen Rezeptionspräferenzen liefern Teilnehmende den anderen Beteiligten Hinweise auf ihr eigenes transtextuelles Wissen sowie ihre eigenen medialen Präferenzen. Diese Hinweise können andere wiederum nutzen, um eigene Interessen abzugleichen und ihre weiteren Erzählhandlungen anzupassen. Besonders die Spielleitenden können diese Rezeptionseindrücke im Sinne einer Rückmeldung dazu verwenden, die weitere Narration auf die Bedürfnisse und Interessen der anderen Teilnehmenden auszurichten. In enger Verbindung mit den dargestellten Rezeptionsäußerungen steht die zweite zentrale Funktion transtextueller Referenzen in Rollenspielsitzungen: Die Erzeugung von Humor. Humor dient im Rollenspiel – wie auch in vielen anderen Formen alltäglicher Kommunikation – zur Herstellung eines Gemeinschaftsgefühls
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unter den Teilnehmenden (vgl. Leppälahti 2004, 292).15 Das gemeinsame Lachen im Spiel hat unter anderem eine spannungslösende Funktion, indem das Gruppenhandeln als spaßig markiert wird (vgl. Goffman 1961, 57). Die Erzeugung von Humor steht in gleicher Weise wie die komplexitätsreduzierende Funktion transtextueller Referenzen in enger Beziehung zum medialen Wissen der Beteiligten und beruht auf hypertextuellen (im Genette’schen Sinne) Verfahren, beispielswiese auf der Parodie oder der Persiflage (vgl. Genette 2015 [1996], 47 u. 118). Derartige Referenzen werden unter anderem bei direkten intertextuellen Beziehungen oder transtextuellen Zitationen (vgl. Ryan 2013b, 370) im Sinne einer narratorialen Kommentierung angebracht. Wie das folgende Beispiel illustriert, werden sie jedoch manchmal auch seitens der Figuren geäußert. S6: Dungeons and Dragons 1 S6.3: Kampfhandlung SL: Wa: SL: Xe: SL:
Xe: SL: Xe:
Ja. (2.0) Komm schon. (.) Du kannst ihn jetzt allemachen. ((Würfelt)) Zwei. Nicht ganz. Mmh: Du ratschst ihm hier so einmal so über Wange ((streicht sich durch das Gesicht)): so Blut fließt so. Dann sagt er so .hh (.) "Mein Name (.) ist Inigo Montoya ((Wa und Xe lachen)) [YOU KILLED MY FATHER. PREPARE TO DIE."] ((Beat-Geste auf den letzten drei Wörtern)) [((Lachend)) YOU KILLED MY FATHER. PREPARE TO DIE.] Nein okay. ((Lachend, gestikuliert)) ICH BIN SEIT ZWEI STUNDEN HIER ICH HABE BISHER NIEMANDEN GETÖTET. Außer einer von den Kerlen ((deutet auf die Spielfiguren auf dem Tisch)) war dein Vater dann tut es mir leid. ((Lacht)) 02:03:12–02:03:37
Innerhalb einer Kampfhandlung im ludisch-kommunikativen frame leistet die Spielleiterin hier eine Transformation der Spielhandlung, während sie die Auswirkungen des Würfelergebnisses der Spielerin Xenia (Xe) als leichte Verletzung ihres Gegners interpretiert. Sie überführt diese Interpretation mithilfe einer narratorialen Rede in
Entgegen Mackays Kritik, dass derartige intertextuelle, humoristische Bezüge eine Ablenkung darstellen, muss man ihre Funktion im Sinne Toscas (2009, 132) präzisieren: Sie sind nicht als Ablenkung anzusehen, solange die individuelle Spielgruppe Spaß daran empfindet, sie folglich nicht als Störung, sondern als Bereicherung des Spiels interpretiert.
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den fiktionalen frame („Du ratschst ihm hier so einmal so über Wange“) und schließt eine zitierte Figurenrede dieses Gegners an. Dazu simuliert sie mit ihrer Stimme einen gebrochenen spanischen Akzent, mit dem sie ein Zitat aus dem Film The Princess Bride (1987) wiedergibt. Dieses Zitat, das auch bereits in anderen populärkulturellen Kontexten parodiert wurde (vgl. McCallum 2018), wird von Xenia erkannt, sodass sie gemeinsam mit der Spielleiterin das Zitat vollendet. Alle Beteiligten lachen währenddessen. Diese situationskomische Einlage der Spielleiterin wirkt besonders, da sie von einer Figur geäußert wird, wobei das Gesagte keinen erkennbaren logischen Bezug innerhalb der storyworld selbst aufweist. Xenia bringt im Anschluss an, dass ihre Figur bisher niemanden auf der Insel getötet habe und sich dieser Vorwurf somit nicht auf sie beziehen könne. Mit „Nein okay“ deutet die Spielleiterin daraufhin an, dass diese Aussage nicht in der storyworld, sondern nur zur Erheiterung der Anwesenden getätigt wurde. Das folgende Beispiel zeigt hingegen, dass ein mediales Referenzwissen notwendig ist, um das humoristische Element innerhalb der Äußerung zu identifizieren. S4: Pathfinder 1 S4.3: Goblins SL:
Ähm (.) die Zähne ja sehr sehr spitze,((zeigt auf das Bild)) ihr seht da auch andere Bilder in der Anzeige. Die spitzen: Zähne so ein großes (.) großer Mund ((fasst sich mit beiden Händen ins Gesicht)) eine kleine Gestaltung achtzig neunzig Zentimeter groß nicht größer, (2.0) eher grünliche oder andere dunkle Hautfarben so so leuchtende Knopfaugen, ((setzt sich hin)) und lange Ohren und halt so ein ((bewegt seine Hände um den Kopf)) (1.0) eigenartig (.) komisch (.) überkomisch großer Kopf, (.) ja das ist quasi das Volk von Hey Arnold. (2.0) Ähm (.) oh Gott ich bin alt. (.) Äh:m ja (.) kommt mit-ein solches Ding hervor (.) schnappt sich den Hund (.) und schneidet ihm einfach die Kehle durch und alle schreien (.) "GOBLINS" (2.0) (…) 01:39:16–01:39:51
Der Spielleiter (SL) beschreibt in diesem Beispiel mittels einer narratorialen Rede detailliert die Figur eines Goblins und bringt eine narratorial-ideologische Perspektive in der Bewertung der Kopfform dieser Figur an („eigenartig (.) komisch (.) überkomisch“). Anschließend verbindet er diese Beschreibung mit einer intertextuellen Referenz, indem er die Kopfform des Goblins in Beziehung zu der Hauptfigur der Fernsehserie Hey Arnold! (1996–2004) setzt („das Volk von Hey Arnold“). Der Fokus
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auf die eigenartige Kopfform des Goblins, der um die transtextuelle Referenz erweitert wird, kann hier vornehmlich aufgrund der grotesken Überzeichnung der Beschreibung als humoristisch klassifiziert werden. Die anschließende Pause, die der Spielleiter nach dieser Aussage lässt, deutet in Verbindung mit einem direkten Anblicken der anderen Teilnehmenden darauf hin, dass er eine Reaktion erwartet (so zum Beispiel Lachen). Da dies jedoch ausbleibt, resümiert er seinen nicht gelungenen humoristischen Einwurf mit „oh Gott ich bin alt“, um auf das fehlende intertextuelle Wissen der anderen Teilnehmenden anzuspielen. Auch in den Erzeugnissen der primären und sekundären Autorschaft spielen derartige transtextuelle Referenzen eine Rolle und dienen in ähnlicher Weise als Referenzrahmen, der durch bestimmte mediale, narrative und generische Schemata aktiviert wird. Hierauf verweist auch Jara (2014, 46), wenn er Erzeugnissen primärer Autorschaft, im Speziellen Regelwerken, die Funktion des metaframing zuweist, die durch bestimmte peritextuelle Elemente erzeugt wird. In Anlehnung an Werner Wolfs Konzept des paratextuellen framing (Wolf 2010) identifiziert er paratextuelle Elemente in Rollenspielregelwerken, die vornehmlich in den Randbereichen des Haupttextes in Erscheinung treten (vgl. Jara 2014, 41), beispielsweise in Gestalt von Titeln, Motti, Einleitungen oder Erklärungen (vgl. Genette 2011 [2001], 12). Diese Elemente, die im Regelwerk den Haupttext kontextualisieren, anreichern oder deuten, sind auch relevant für die im Spielprozess entwickelte Narration, da sie einen spezifischen narrativen und generischen Rahmen sowie „interaction codes“ (Jara 2014, 53) abstecken, die die Teilnehmenden nutzen, um ihre narrativen Kommunikationsbeiträge zu gestalten. Übertragen auf die in Kapitel 6.1 entwickelten theoretischen Überlegungen zum Rezeptionsprozess der intersubjektiven storyworld fungieren diese Elemente als implizite Richtlinien, die bedingen, dass ein kommunikativer common ground etabliert werden kann. Um Jaras Beobachtungen weiter zu präzisieren, sollen im Folgenden vier zentrale Strategien der transtextuellen Bezugnahme in den Texten primärer Autorschaft exemplarisch herausgearbeitet werden. Diese Bezüge lassen sich unter den Begriffen der intermedialen Systemreferenz, der intermedialen Einzelreferenz, der transtextuellen Zitation und der generischen Referenznarration zusammenfassen. Analytisch wird sich dabei auf die Peritexte der Rollenspielregelwerke konzentriert, also auf Motti, Prologe und Vorworte. Für die Strategien der intermedialen Bezugnahme definiert Irina O. Rajewsky (2002, 79) die Systemreferenz als Form eines „‚Redens über‘ beziehungsweise ‚Reflektierens‘“ eines Bezugsystems, expliziert durch eine direkte mediale Systemerwähnung (beispielsweise der Film) oder eines Subsystems (beispielsweise der Hollywoodfilm). Derartige explizite und evozierende Systemerwähnungen (vgl. Rajewsky 2002, 91) treten zumeist in Form von Vergleichen auf. Wenn in anderen Medien solche Bezugnahmen mitunter auf die Uneigentlichkeit der Qualität eines
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Objektes referieren (beispielsweise „Ich fühlte mich, als sei ich in eine soap-opera hineinversetzt worden“; Rajewsky 2002, 91), werden sie in Rollenspielregelwerken gerade in Vorworten dazu genutzt, um die strukturellen Eigenheiten der Rollenspielnarration und ihrer Elemente zu illustrieren. Dies ist beispielsweise im Regelwerk des Spiels Dogs in the Vineyard (Baker 2005) der Fall. What’s It Like To Play? It’s episodic. A town per session, a town per two sessions if it’s a big deal town. A good model here is a traveling TV series, like The Fugitive or Farscape: each town presents a situation for the characters to deal with and becomes part of their ongoing story. (Baker 2005, 2)
Im Rollenspiel Dogs in the Vineyard verkörpern die Spielenden gottesgläubige Revolverheld/-innen („God’s Watchdogs“; Baker 2005, 11), die durch die Dörfer der Gläubigen ziehen. Um die episodische Struktur der Narration des Rollenspiels zu beschreiben (vgl. Kap. 5.2.1), zieht das Regelwerk eine intermediale Subsystemreferenz heran, während es die verschiedenen Ereignisse, mit denen die Figuren innerhalb der Dörfer konfrontiert werden, in Bezug zu einer Fernsehserie setzt. Der Kern des Bezugs liegt in den abgeschlossenen narrativen Episoden der Serie, die mit den Spielsitzungen („sessions“) des Rollenspiels verglichen werden. Derartige Systemreferenzen können zudem durch eine Reproduktion bestimmter Elemente erweitert werden, die den reinen Vergleich um eine simulierende Komponente ergänzen. Diese teilreproduzierende Systemreferenz (vgl. Rajewsky 2002, 103–105) wird beispielsweise im Vorwort des Spiels Night’s Black Agents (Hite 2015) realisiert: This game, Night’s Black Agents, adapts the GUMSHOE engine to the propulsive paranoia of the spy thriller genre: not just James Bond, but also and especially films like Ronin and the Bourne trilogy. You build agents worthy of such films; tough, resourceful, clever, deadly – in a word, badass. Then you send them to kill vampires. The Director (who plays the role usually called the DM or the GM in other RPGs), begins by building the vampires. In Night’s Black Agents, the vampires and their conspiracy are modular, customizable. In one Director’s world, they might fear garlic and crosses – in another Director’s campaign, they might be spider-like aliens who move through hyperspace. Or both. Likewise, the Director builds the enemy network – the people and groups the vampires have already turned to their ends – to her own specifications. (Hite 2015, 6)
Die explizite Referenz wird bereits zu Beginn durch das Subsystem des Agententhrillers hervorgerufen, anschließend präzisiert durch Einzelreferenzen („Ronin and the Bourne trilogy“) auf das System Film. Durch die nachfolgende Anweisung „You build agents worthy of such films“ findet eine erste reproduzierende Andeutung statt: Die Entwicklung der Spieler/-innen-Charaktere wird direkt mit den Filmfiguren des Agententhrillers in Beziehung gesetzt und mit konventionellen Ei-
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genschaften in Verbindung gebracht („tough, resourceful, clever, deadly – in a word, badass“). Die direkte, teilreproduzierende Systemreferenz erfolgt anschließend durch die Benennung eines „Director“, der im Spiel die Rolle als Spielleiter/-in einnehmen soll („the DM or the GM in other RPGs“). „Director“ bezieht sich in diesem Kontext direkt auf die Rolle des Filmregisseurs, was im weiteren Verlauf speziell durch die dieser Rolle zugeschriebene Entwicklung der dem Spiel zugrunde liegenden Welt illustriert wird. Eine solche Vergleichsoperation simuliert einerseits die Erfahrung, die die Teilnehmenden bei der Rezeption von Agententhrillern möglicherweise gemacht haben, andererseits auch einen Schaffensprozess, der den Beteiligten im Vollzug des Rollenspiels zugestanden wird. Die Teilnehmenden erscheinen nicht nur als Hauptfiguren ihres eigenen Agentenfilms, sondern können diesen nach ihren eigenen Vorstellungen entstehen lassen („to her own specifications“). Dass diese reproduzierende Systemreferenz in enger Beziehung zur Illusionsbildung steht, betont auch Rajewsky, wenn sie mit Bezug auf Wolfs Theorie der ästhetischen Illusion intermediale Referenzen zwischen Literatur und Film näher untersucht: Überträgt man das Wolfsche Konzept der Illusionsbildung auf Phänomene des Intermedialen und zieht man erneut literarische Bezüge auf das filmische Medium als Beispiel heran, so wäre das Ziel einer solchen fremdmedial bezogenen Illusionsbildung demnach als die Ermöglichung einer den Rezipienten ansprechenden Erfahrung zu definieren, die grundsätzlich analog zur Filmerfahrung und damit „filmisch“ wirkt. Dieses Ziel der Erfahrungssimulation und -vermittlung impliziert die Evokation, Simulation oder Inszenierung konkreter Vorstellungsinhalte und Wahrnehmungsschemata der Erfahrung, wie sie dem Rezipienten auf der Grundlage seiner (realen) Medienkompetenz und Filmerfahrung bekannt oder zumindest als wahrscheinliche vorstellbar sind. Bedient werden müssen also bestimmte Erwartungen und Vorstellungen, die der Leser konventionell mit dem filmischen Medium bzw. bestimmten Komponenten desselben verbindet, um so eine filmbezogene Erfahrungssimulation zu ermöglichen und diskursiv eine Illusion, ein >Als ob< des Filmischen zu vermitteln. (Rajewsky 2002, 88–89)
Rajewskis Beobachtung deckt sich mit Jaras theoretischen Überlegungen zu Formen des paratextuellen metaframing in Rollenspielen insofern, als derartige Referenzen vornehmlich integriert werden, um bestimmte Erfahrungen mit anderen Medien zu aktivieren (vgl. Jara 2014, 40). Diese Erfahrungen dienen im Unterschied zu Medien wie Literatur und Film nicht nur als rezeptionssteuernde Elemente, sondern auch als produktiver Kommunikationsrahmen einer storyworld im Rollenspielprozess. Dass diese subjektiven Erfahrungen zum Teil großen Einfluss auf die Entwicklung von Figuren und narrativen Architekturen besitzen, belegen JanNiklas Meier und Ulrike Preußer im Rahmen einer qualitativen Interviewstudie mit Rollenspieler/-innen (vgl. Meier und Preußer 2019, 37–38): In den Tätigkeiten der sekundären Autorschaft wird immer wieder auf mediale Vorerfahrungen ver-
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wiesen, die einen entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung von Figuren und die Rolle als Spielleiter/-in nehmen. In den beiden vorangegangenen Beispielen lassen sich neben expliziten Referenzen auf mediale (Sub-)Systeme zudem konkrete intertextuelle Einzelreferenzen finden. Diese dienen in erster Linie dazu, die Systemreferenz zu verstärken, indem sie als typische Beispiele herangezogen werden. Wie man am Auszug des Vorwortes von Night’s Black Agents jedoch erkennen kann, werden sie ebenfalls zur Konkretisierung benutzt: Hier geht es weniger um Agententhriller wie James Bond, sondern eher um Filme wie Ronin (1998) oder die Bourne-Trilogie (2002–2007). Eine solche Konkretisierung kann erfolgen, um die narrativen Eigenschaften eines Rollenspiels zu beschreiben, die durch verschiedene mediale Darstellungen eines Genres oder Subsystems vermittelt werden, jedoch auch auf thematische Aspekte der Narration verweisen. Diese Art der Einzelreferenz lässt sich beispielsweise in der Einleitung des Spiels Fiasco (Morningstar und Segedy 2016 [2009]) finden: Fiasco is inspired by cinematic tales of small-time capers gone disastrously wrong – particularly films like Blood Simple, Fargo, The Way of the Gun, Burn After Reading, and A Simple Plan. You’ll play ordinary people with powerful ambition and poor impulse control. There will be big dreams and flawed execution. It won’t go well for them, to put it mildly, and in the end it will probably collapse into a glorious heap of jealousy, murder, and recrimination. Lives and reputations will be lost, painful wisdom will be gained, and if you are really lucky, your guy just might end up back where he started. (Morningstar und Segedy 2016, 8 [2009])
Der Text stellt zu Beginn eine klare Systemreferenz zur Filmerzählung her („cinematic tales“), konkretisiert die narrative Struktur, die das Rollenspiel kennzeichnet, mit dem Fokus auf handlungsstrukturelle Elemente („small-time capers gone disastrously wrong“). Präzisiert wird diese Struktur, indem auf filmische Einzelwerke referiert und bestimmte semantische Ordnungen und Themen vorgezeichnet werden („powerful ambition and poor impulse control“/„big dreams and flawed execution“/„glorious heap of jealousy, murder, and recrimination“). Wie auch bei der Systemreferenz dienen diese Einzelreferenzen dazu, bestimmte Vorstellungsinhalte und Wahrnehmungsschemata zu aktivieren, die auf den Erfahrungen der Rezipierenden beruhen und den Spielprozess beeinflussen können. Auffällig an den vorgestellten Beispielen ist vor allem, dass diese Referenzen jenen Einfluss konkretisieren. Für Dogs in the Vineyard betrifft dies den Spielverlauf der verschiedenen Rollenspielsitzungen, in Night’s Black Agents die Konstruktion der Figuren und in Fiasco die Entwicklung der narrativen Handlung sowie ihre thematischen Schwerpunkte. Weitaus offener sind transtextuelle Zitationen gestaltet, die in den Paratexten von Rollenspielen in Form von Motti häufig zu finden sind. Motti stehen zumeist am Beginn von Kapiteln, Abschnitten oder Teilen eines Textes und haben die Funktion „des Kommentars und der Verdeutlichung“ (Genette 2011 [2001], 152) des Titels
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oder des Textes. Wie auch Titel fungieren Motti als metarahmendes Element, da sie weniger etwas über das Artefakt selbst sagen, als vielmehr etwas über die Art der Geschichte, die mithilfe des Regelwerkes konstruiert wird (vgl. Jara 2014, 46). In den Vorworten und Einführungen von Regelwerken tauchen Motti gemäß Genettes Definition zu Beginn von Kapiteln oder Textabschnitten auf (vgl. Genette 2011 [2001], 146). Für die Aufdeckung transtextueller Bezüge sind vor allem Zitate aus anderen medialen Darstellungen relevant, wie sie in ähnlicher Weise in den Spielsitzungen von den Teilnehmenden produziert werden.16 So ist jedem Kapitel im Regelwerk von Fiasco ein Motto vorangestellt. Wenn in der Einleitung auf ein Zitat aus dem Film Bottle Rocket (1996) verwiesen wird („Here are just a few of the key ingredients: Dynamite, pole vaulting, laughing gas, choppers − can you see how incredible this is going to be? Hang gliding, come on!“; Morningstar und Segedy 2016 [2009], 8), nimmt das Motto exakt auf die Gruppe von Filmen Bezug, auf dessen Themen und narrative Strukturen das Spiel Fiasco zielt. Auch in diesem Film geht es um eine Gruppe von Möchtegern-Kriminellen, die einen Diebstahl planen, der jedoch grandios scheitert („small-time capers gone disastrously wrong“/„big dreams and flawed execution“; Morningstar und Segedy 2016 [2009], 8). Zudem erfüllt es eine weitere Funktion, die Genette (2011 [2001], 154) dahingehend beschreibt, „daß die wesentliche Mitteilung nicht diejenige ist, die als solche ausgegeben wird“. Das Zitat aus Bottle Rocket wird im Film vom Protagonisten Dignan geäußert und zählt in komödiantischer Manier einige Hauptbestandteile („key ingredients“; Morningstar und Segedy 2016 [2009], 8) für den geplanten Diebstahl auf. Im Kontext des Regelwerkes steht „key ingredients“ jedoch ebenfalls für die Hauptbestandteile des Rollenspiels, die dort anschließend aufgelistet werden. Als letzte Kategorie transtextueller Bezüge soll die generische Referenznarration definiert werden. Jara (2014, 50) sieht diese fragmentarischen narrativen Darstellungen in Rollenspielregelwerken17 zumeist in Form von Prologen und Epilogen realisiert, die eine ähnliche Funktion wie die Rahmenerzählungen literarischer Texte besitzen. Formen der generischen Referenznarrationen dienen vor allem dazu, bestimmte generische Konventionen und eine spezifische Atmosphäre zu etablieren. So beginnt die Prolognarration des Spiels Hollow Earth Expedition (Combos 2013) folgendermaßen:
Neben transtextuellen Zitationen lassen sich eine Reihe weiterer Typen von Motti finden, auf die hier jedoch nicht weiter eingegangen werden soll. In Kapitel 3.2.3 wurde bereits darauf verwiesen, dass Rollenspielregelwerke zu großen Teilen beschreibend die Propositionen der dargestellten fiktiven Welt vermitteln. Die paratextuellen, narrativ-darstellenden Passagen, die in einigen Regelwerken fragmentarisch eingeführt werden, stellen hierbei eine Ausnahme dar.
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Translators note: This is the true story of the Eagle and her crew, as told by Knut Fraenkel. His badly damaged journal was found near his remains on White Island in 1930. Fortunately, I’ve managed to restore and translate many of the entries, but I don’t know if the tale is to truly to be believed (Combos 2013, 4)
Das Spiel Hollow Earth Expedition setzt sich mit der im frühen zwanzigsten Jahrhundert populären esoterischen Hohlwelttheorie auseinander, indem die Spielenden Forscher/-innen verkörpern, die diese Theorie bestätigen wollen. Es entwirft das Szenario, dass eine derartige Welt tatsächlich existiert und verbindet dieses Motiv in klassischer Weise (wie viele andere populäre Medien) mit den Spielarten des nationalsozialistischen Okkultismus (vgl. Meier 2017). Im Sinne einer geheimen Alternativgeschichte („secret history“; Singles 2013, 73) werden hierbei real-historische Elemente mit mystischen und esoterischen Theorien verknüpft und innerhalb des fiktionalen Realitätssystems als wahr gedeutet. Das vorliegende narrative Fragment, das im Prolog des Regelwerkes zu finden ist, greift den Modus der secret history auf, da es als Reisebericht aus dem neunzehnten Jahrhundert die Erlebnisse des Forschers Knut Fraenkel beschreibt. Der oder die namenlose Übersetzer/-in des Berichtes wendet sich in diesem Absatz an die implizite Leserschaft, um die Wahrheit der Aufzeichnungen zu beteuern. Diese klassische Ausprägung der Rahmenerzählung wird typischerweise innerhalb phantastischer Reisenarrationen dazu genutzt (vgl. Wolf 2012, 83), Unschlüssigkeit durch die Gegenüberstellung zweier Realitätssysteme zu erzeugen, von denen jedes auf Basis der gegebenen Informationen als möglich gilt (vgl. Durst 2007, 129). Diese Unschlüssigkeit wird von dem oder der Übersetzer/-in im letzten Satz der Rahmenerzählung expliziert („I don’t know if the tale is truly to be believed“). Nachdem die Narration anschließend eine Binnenerzählung in Gestalt eines Tagebuchs präsentiert, in dem der Forscher Knut Fraenkel die Entdeckung der Hohlwelt beschreibt, illustriert gerade ihr Ende den Modus der secret history. Hier findet sich ein als vertraulich eingestuftes Telegramm, das den Erhalt der Tagebücher bestätigt, Namensgebung, Zeit und das Erwähnen der Thule-Gesellschaft verweisen dabei auf eine Nähe zu populärkulturellen Erzählungen des nationalsozialistischen Okkultismus. Neben der etablierenden Funktion bestimmter Konventionen, die ähnlich wie andere transtextuelle Referenzen bei Rezipierenden mediale und generische Vorerfahrungen aktivieren können, kommt derartigen fragmentierten narrativen Darstellungen primär die Funktion zu, diese Konventionen in eine Narration zu überführen. Hierauf verweist auch Jara (2014, 50), der diese Funktion als beispielhaftes Überführen der metaframing in eine Narration definiert. Dafür spricht besonders, dass diese paratextuellen Narrationen nur in geringem Maß zur Beschreibung des Settings, des Szenarios sowie des Spielsystems beitragen (vgl. Jara 2014, 50). Sie zeigen demnach nicht, wie eine exemplarische Rollenspielsitzung mithilfe des Regelwerkes aussieht, sondern greifen lediglich
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Genrekonventionen aus anderen medialen Darstellungen auf, um deren Integration in eine storyworld zu illustrieren. Das Aushandeln populärkultureller Erfahrungen im Rollenspiel hat mit Blick auf den Spielprozess demnach eine zentrale, gemeinschaftsbildende und komplexitätsreduzierende Funktion. Gemeinschaftsbildend, weil der gemeinsame Austausch über mediale Erfahrungen und Vorstellungen eine Verbindung zwischen den Teilnehmenden am Rollenspiel schafft, genauso wie humoristische Einlagen, die auf Basis dieser Erfahrungen geteilt werden. Komplexitätsreduzierend ist diese Aushandlung in den Fällen, in denen mediale Vorerfahrungen dazu genutzt werden können, Interferenzen zwischen der narrativen Darstellung des Rollenspiels und den Darstellungen anderer Medien herzustellen. Diese Interferenzen schaffen Orientierung im emergenten und wenig gerahmten Erzählprozess des Rollenspiels, deren Basis primär durch die Regelwerke gelegt wird. Jene bilden durch die zahlreichen Formen transtextueller Beziehungen ein Inventar möglicher, größtenteils auf generischen und medialen Konventionen basierender narrativer Elemente, auf die im Spielprozess zurückgegriffen werden kann. Dass das Regelwerk diese Elemente durch verschiedene Referenzen expliziert, führt bei den Rezipierenden zu einem Abgleich dieser Referenzen mit ihren eigenen Erfahrungen. Diese Elemente im Spielprozess aufzurufen und zu kombinieren, kann als Ausdruck von Improvisation und Kreativität gesehen werden (vgl. Herman 2009, 101). Transtextuelle Referenzen fungieren im Rollenspiel also vornehmlich als illusionsstiftende Strategie, da sie die Komplexität, die durch die inhaltlichen „Bausteine des Narrativen“ (Wolf 2002, 46) der entstehenden intersubjektiven storyworld geschaffen wird, reduzieren. Sowohl diese als auch die vorangegangenen Eigenschaften der Rezeptions- und Produktionshandlungen im Rollenspiel erwecken den Anschein, als ob Polyvalenz, die eingangs als zentrale Konvention literar-ästhetischer Kommunikation beschrieben wurde, gezielt vermindert werden soll. Dies trifft zum Teil auf die imaginative Polyvalenz zu, die im rollenspielerischen Erzählprozess immer dann reduziert wird, wenn bestimmte narrative Wissensbestände projektbezogen werden, um den gemeinsamen Erzählprozess nicht zu behindern. Evaluative Polyvalenz – und das zeigt gerade der Umgang mit transtextuellen Referenzen – ist jedoch weiterhin gegeben, ja sogar dem Erzählprozess zuträglich, da sie die Abstimmung der Teilnehmenden über den Verlauf der Erzählung beeinflussen kann. Die Rolle der affektiven Polyvalenz soll speziell im nachfolgenden Kapitel genauer beleuchtet werden. Die Reduzierung bestimmter mehrdeutiger Aspekte einer narrativen Darstellung ist jedoch zugleich ein wesentliches Merkmal ästhetischer Illusion, deren Ziel Widerspruchsfreiheit und Sinnzentriertheit darstellt (vgl. Wolf 1993, 144–145). Die ästhetische Illusion knüpft an den Erfahrungshorizont der Rezipierenden an und will durch ihre Orientierung an der lebensweltlichen Wahrnehmung eine Erlebnisillusion
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evozieren (vgl. Wolf 1993, 58), die Momente der Involviertheit zulässt. Dabei ist für die ästhetische Illusionsbildung neben der Entwicklung einer konsistenten, reichhaltigen Welt auch bedeutend, eine Perspektive zu entwickeln, aus der diese Welt wahrgenommen wird (vgl. Wolf 1993, 77). Wie diese Perspektivität im Pen-andPaper-Rollenspiel konstruiert wird, soll in Kapitel 6.2 geklärt werden.
6.2 Narrative und figurale Immersion In den vorangegangenen Ausführungen wurde die mentale Repräsentation in Gestalt einer storyworld als zentraler ästhetischer Gegenstand identifiziert, der innerhalb der narrativen Rollenspielkommunikation gemeinsam konstruiert wird. Diese mentale Repräsentation ist der Ursprung ästhetischer Illusionsbildung, die mittels unterschiedlicher Strategien im Erzählprozess etabliert wird. Wie Wolf (2004, 325) betont, ermöglicht die ästhetische Illusionserzeugung Immersionseffekte, die in engem Bezug zum fictional recentering stehen. Auch Eder (2008a, 98) sieht die Entwicklung und Interaktion mentaler Modelle als Ansatzpunkt für die Illusionsbildung, die „zu durchaus körperlichen Gefühlen der Immersion“ führen könne. Wie viele andere Forschungsbeiträge, die sich mit dem Begriff der Immersion beschäftigen, umschreibt er dieses Gefühl metaphorisch als „Eintauchen[ ] in die fiktive Welt als ein Beobachter oder sogar Teilnehmer“ (Eder 2008a, 98). Auch in der Rollenspielforschung finden sich Arbeiten, die sich mit dem Begriff der Immersion auseinandersetzen, hier mit deutlich stärkerem Bezug auf das Verkörpern von Figuren, die die von Eder beschriebene Entwicklung und Interaktion mentaler Modelle verstärken können. So beschreibt David Schmidt (2012, 88) das „Eintauchen in die fiktive Welt“ als Effekt für die „aktive Annahme der Spielwelt und ihrer Handlungsvorgaben“, und auch Flöter (2018, 110) bezeichnet die Rollenspielerzählung als „Phantasie-Raum von potentiell so hoher erzählerischer ,Dichte‘, dass der Spieler seine eigene Imagination über das Erleben von Immersion förmlich ,körperlich‘ betreten kann“. Gerade solche bildlichen Umschreibungen des Eintretens oder des Eintauchens sind für die bereits entwickelte Terminologie zu ungenau und sollen daher mit eigenen Begriffsdefinitionen präzisiert werden. Es wird im Folgenden jedoch nur um Immersionseffekte gehen, die sich aus der Rezeption einer storyworld ergeben, und nicht um spezifische Formen ludischer Immersion (vgl. Ryan 2013a, 26), die sich im Rahmen des konzentrierten und fokussierten Handels innerhalb
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eines Spiels einstellen können.18 Während sich in den Game Studies darum bemüht wurde, den häufig unreflektiert verwendeten Begriff der Immersion weiter auszudifferenzieren,19 geht es nachfolgend darum, Immersionseffekte zu beschreiben, die in gewisser Weise transmedial sind und bei der Rezeption einer narrativen ästhetischen Illusion auftreten können. Sieht man die mentale Repräsentation als Ausgangspunkt für die Illusionsbildung und möglicher Immersionseffekte, ergeben sich mindestens zwei zentrale Rezeptionshandlungen, die Teilnehmende im Sinne eines „narrative engagement“ (Martínez 2017, 24) leisten müssen: Erstens fordert die narrative Kontextualisierung eine deiktische Neuverortung der Rezipierenden als Teil eines fictional recentering. Zweitens kann diese Neuverortung mit der Standpunkteinnahme einer perspektivierenden Instanz einhergehen, die durch Marker der narrativen Perspektive konstruiert wird (vgl. Martínez 2017, 28). Wenn Wolf das fictional recentering mit einer ästhetischen Illusionsbildung in Bezug setzt, markiert diese Rezeptionshaltung die erste Ausprägung der Immersion, die in Anlehnung an Ryan als narrative Immersion bezeichnet werden soll. Für die mentale Repräsentation definiert Ryan (2013a, 26) die narrative Immersion als „engagement of the imagination in the mental construction and contemplation of a storyworld“ und verweist damit im Sinne Hermans (2009, 119) auf die Notwendigkeit der mentalen Repräsentationsbildung zugunsten eines narrativen Verstehens. Ryan legt mit der temporalen, spatialen und emotionalen Immersion drei Untertypen einer narrativen Immersion fest, die auf verschiedene Bestandteile der Rezeption zielen: Die spatiale und temporale Immersion stehen in enger Beziehung zum fictional recentering und werden vor allem durch deiktische Parameter geschaffen (vgl. Ryan 2015 [2001], 96). Innerhalb der ergodischen und interaktiven Kommunikationsprozesse sind jedoch auch individuelle Angebote der agency förderlich, um einen räumlich und zeitlich involvierenden Effekt zu erzielen (vgl. Flöter und Berger 2017, 66; Meifert-Menhard 2013, 31; Ryan 2015 [2001], 99). Als emotionale Immersion beschreibt Ryan (2015, 108) verschiedene subjektiv-emotionale Reaktionen, die auf Figuren oder sich selbst bezogen sind. Da auch Wolf das emotionale Interesse an der Narration als förderlich für die ästheti Wie Grouling Cover (2010, 110) betont, können derartige Immersionseffekte auch beim Penand-Paper-Rollenspiel entstehen, gerade dann, wenn verstärkt auf Spielmaterialien wie Würfel zurückgegriffen wird. Gordon Calleja (2011) entwirft mit seinem Player Involvement Model eine ausführliche Kategorisierung verschiedener Involvierungsprozesse in der Rezeption von (vornehmlich digitalen) Spielen. Die Grundaussage, dass Immersionseffekte in ergodischen und nicht-ergodischen Medien nicht dieselben sind, muss jedoch differenziert werden, da Calleja (2011, 22) mit im Falle der nicht-ergodischen Medien ein Phänomen beschreibt („imagining one is present in a scene“), das zumindest im Pen-and-Paper-Rollenspiel dann eingelöst wird, wenn man das Spiel als imaginatives Rollenspiel praktiziert (vgl. Kap. 2.1).
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sche Illusionsbildung ansieht, ist es sinnvoll, diese letzte Ausprägung der Immersion genauer zu betrachten. Um eine schärfere begriffliche Abgrenzung zu schaffen, soll dieser von Ryan definierte Teilbereich der Immersion als emotionale Involvierung bezeichnet werden. Dass gerade die narrative Immersion in enger Beziehung zu Wolfs Strategien der Illusionsbildung steht, wird vor allem durch Forschungsbeiträge verdeutlicht, die immersionsfördernde Effekte untersuchen. So konstatieren Flöter und Berger (2017, 66) eine „inhaltlich logische und damit glaubwürdige Komposition“ (Konsistenz), Wolf (2012, 46) einen hohen Detailgrad der dargestellten Welt (Komplexität) und Ryan (2015 [2001], 67) Referenzen auf „stereotyped texts of popular culture“ (Transtextuelle Referenz) als wichtige immersionsfördernde Effekte, die sich mit den Strategien ästhetischer Illusionsbildung decken (vgl. Kap. 6.1.1–6.1.3). Die Rollenspielforschung operiert zum Teil mit einer anderen Ausrichtung des Immersionsbegriffs, der stärker an Figuren gebunden ist. So beschreibt Pohjola (2004, 84–85) Immersion als „the player assuming the identity of the character“ und John H. Kim (2004, 31) immersionistisches Rollenspiel als „the player thinks only about the in-game reality of her character“, was das Spiel deutlich umschließender („encompassing“) gestalte. Diese beschriebene Positionierung der Rezipierenden als Angehörige einer fiktiven Welt nähert sich an die von Walton (1990, 30) klassifizierte, imaginierende de-se-Partizipation aus einer Innenperspektive („from the inside“) an und stellt somit einen Bezug zur Aktivität des Rollenspiels als Imaginationshaltung her (vgl. Kap. 2.1). Eine solche Form der imaginativen Auseinandersetzung unterscheidet sich insofern von einer narrativen Immersion, als es hier keine Voraussetzung ist, sich als Angehörige einer storyworld zu positionieren, worauf auch Ryan (2015 [2001], 221–222) verweist. Um den Unterschied zur narrativen Immersion deutlich zu machen, soll dieser Subtyp der narrativen Immersion als figurale Immersion bezeichnet werden. Die Rezeptionshandlungen innerhalb einer figuralen Immersion ähneln denen der narrativen Immersion: Ursprung ist die mentale Modellbildung (vgl. Eder 2008a, 105–106; Ryan 2008, 237–238), das fictional recentering zielt in diesem Fall jedoch nicht nur auf die räumlichen und zeitlichen Aspekte, sondern zentral auf die figurale Identitätskonstruktion, wobei primär perspektivisch-deiktische Parameter bedeutend sind. Essenziell ist nicht nur, dass sich die Spielenden imaginativ in der storyworld positionieren, sondern auch, dass sie sich subjektiv als Angehörige/-r ebenjener verorten. Sowohl für die narrative als auch die figurale Immersion scheint es nicht nachvollziehbar, diese Verortung als Transfer der Rezipierenden oder ihres vollständigen Bewusstseins in die fiktive Welt zu umschreiben (vgl. Martínez 2014, 115). Dennoch gehen mit der imaginativen Verortung spezifische kognitive Vorgänge einher, denen es gerade mit Blick auf die illusionsstiftenden Strategien auf den Grund zu gehen gilt (vgl. Kap. 6.2.2). Zuvor (Kap. 6.2.1) soll die emotionale Invol-
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vierung als weitere kognitive Rezeptionstätigkeit zur Illusionserzeugung definiert und ausdifferenziert werden, da sie auf beide Formen der Immersion bezogen werden kann.
6.2.1 Emotionale Involviertheit als illusionsstiftende Strategie Wie bereits gezeigt wurde, ist die Deutungsoffenheit ein Aspekt der Polyvalenzkonvention literar-ästhetischer Kommunikation. Sie erlaubt es den Rezipierenden, nach eigenen „Strukturierungskapazitäten, Erfahrungen und […] Interessen“ Sinnbezüge herzustellen, worunter auch die Herstellung „optimale[r] emotionale[r] Besetzungen“ (Hauptmeier und Schmidt 1985, 83) fällt, die Einfluss auf die subjektive Einschätzung der Relevanz des Kommunikationsobjekts haben. Auch Wolf (2004, 342) sieht das „principle of generating interest in the story“ als illusionsstiftende Strategie, die die ästhetische Distanz minimalisiert. Wichtige Ausprägung dieses Prinzips sind Emotionen, die auf bestimmten Inhalten der narrativen Darstellung basieren, für die die Rezipierenden empfänglich sind (vgl. Wolf 2004, 342). In der Kognitionspsychologie werden Emotionen als Programme beschrieben, die Submechanismen „adaptiv sinnvoll“ (Mellmann 2006, 153) organisieren und durch bestimmte Reize aktiviert werden. Grundlage dieses Reizes stellt ein Auslöseschema dar, „ein (unbewußtes) mentales Konstrukt, bestehend aus einem abstrakten Ensemble von Merkmalen“ (Mellmann 2006, 156). Ein solches Auslöseschema für ein Emotionsprogramm funktioniert reflexartig, „also stereotyp und zuverlässig immer“ (Mellmann 2006, 155), jedoch ist der Verlauf des Programms dabei flexibel, was bedeutet, dass Emotionsprogramme sehr individuell gestaltet sind und je nach Umständen zu stärkeren oder schwächeren Verläufen oder gar zu Abbrüchen führen, sobald die Informationen der Umwelt dazu anregen (etwa wenn Gefahren, die Emotionen wie Furcht auslösen, vorüber sind). Das „paradox of fiction“ (Mellmann 2006, 146) richtet sich zentral auf das Verhältnis fiktionaler Darstellungen und Emotionen und stellt die Frage, inwieweit fiktive Objekte überhaupt Emotionen auslösen können – wohl wissend, dass diese Objekte fingiert sind. Das Modell der Emotionsprogramme liefert insofern eine Erklärung, als sich das Auslöseschema zuallererst als Reiz darstellt, der das Emotionsprogramm in Gang setzt, während erst anschließend der Relevanztest für die Bewertung des Ablaufs dieses Programms durchgeführt wird (vgl. Mellmann 2006, 162). Fiktive Objekte können daher sehr wohl Stimulus für einen Reiz sein, die emotionale Reaktion wird hier jedoch in der Regel aus körperlich-ökonomischen Gründen vermindert beziehungsweise verkürzt. Aufgrund einer solchen möglichen emotionalen Reaktion, die durch verschiedene Stimuli innerhalb der narrativ-fiktionalen Darstellung ausgelöst werden kann, ist es sinnvoll, zwischen zwei verschiedenen Ausrichtungen von Emotionen
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im Rezeptionsprozess zu differenzieren: zum einen den unmittelbaren Emotionen, die vornehmlich auf sich selbst ausgerichtet sind, und zum anderen den empathischen Emotionen, die in gewisser Weise parallel mit den Emotionen der in der storyworld verorteten Figuren auftreten (vgl. Mellmann 2007, 257; Ryan 2013a, 31). Unmittelbare Emotionen entstehen als Reaktion „auf die fiktionale Situation“ (Mellmann 2006, 160). Nach Ryan (2015 [2001], 108) können sie sich auf die Figuren und ihr Handeln (zum Beispiel als Beziehungsemotionen wie Bewunderung oder Hass) oder auf die in der Erzählung dargestellten Ereignisse (Angst, Hoffnung etc.) beziehen. Ausgangspunkt sind auch hier bestimmte Reize, die Auslöseschemata aktivieren. So stellt in Bezug auf narrative Darstellungen insbesondere die Spannung einen zentralen Reiz dar, der wiederum „ein Ensemble bestimmter physischbehaviouraler Begleiterscheinungen verschiedener Emotionen“ nach sich zieht (Mellmann 2007, 245), die übergreifend als „Stressemotionen“ (Mellmann 2007, 250) bezeichnet werden können. Wenngleich die Methode der Datenerhebung, die für die vorliegende Studie gewählt wurde, keine Auskünfte über konkrete Emotionen der Teilnehmenden im Rollenspielprozess bieten kann, deuten einige Indizien auf mögliche unmittelbare Stressemotionen hin, die durch die narrative Darstellung erzeugt werden. Im Falle des Pen-and-Paper-Rollenspiels konnte in den Ausführungen zur Wissens- und Informationsvergabe (vgl. Kap. 5.1.3.3) nachgewiesen werden, dass durch Leerstellen spannungserzeugende Momente geschaffen werden. Auch andere unmittelbare Emotionen, die auf Basis der vermittelten Informationen entstehen können, scheinen im Rollenspiel möglich zu sein: So lässt sich im Szenariomodul „Das Geheimnis des Schwarzwaldhofs“ ein Hinweis für die Spielleitenden finden, der die Erzeugung von Grusel behandelt: Spielleitertipp: Grusel Wer ein paar Horrorfilme kennt, wird auch schon an sich selbst bemerkt haben, dass er sich vor allem dann gruselt, wenn die Hintergründe von unheimlichen, mysteriösen Ereignissen im Dunkeln bleiben, wenn das Unheimliche zunächst nicht greifbar ist, nur andeutungsweise am Rand des Blickfelds bleibt. Wenn es dann endlich auf den Plan tritt, endet meist auch der akute Grusel. Die größte Angst ist die Angst vor der Antwort. In diesem Szenario sollte der Spielleiter sich daher bemühen, alle Mysterien, die sich den Charakteren bieten, möglichst lange auch mysteriös zu halten und immer dann, wenn sie eines aufzuklären drohen, sie mit dem nächsten konfrontieren. Die Charaktere planen, in Hans’ Zimmer einzudringen? Dann sind Schritte im Erdgeschoss zu hören … Wer könnte das sein? Vielleicht ist es Herr Karl, vielleicht ein Wildschwein – das liegt im Ermessen des Spielleiters. (Heller 2012, 386)
Bei Grusel handelt es sich um eine Stressemotion, die sich mit ereignisbezogenen Emotionen wie Furcht oder Angst in Beziehung setzen lässt. Das vorliegende Beispiel zeigt, dass auch diese Emotion durch offengelassene Informationsbestände
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6 Literar-ästhetisches Verstehen im Rollenspielprozess
hervorgerufen werden kann („wenn die Hintergründe von unheimlichen, mysteriösen Ereignissen im Dunkeln bleiben“), wodurch auch in diesem Fall Spannung als zentraler Reiz zu identifizieren ist, der das Emotionsprogramm auslöst. Die Strategie, diesen Reiz zu aktivieren, ist um eine aufkommende Bedrohung konstruiert, die als angst- oder furchteinflößend gedeutet wird. In den aufgezeichneten Rollenspielsitzungen lassen sich keine konkreten Äußerungen eruieren, die bestimmte Emotionen der Teilnehmenden thematisieren. Dennoch manifestieren sich vor allem Stressemotionen in konventionellen Reaktionen, die auf eine erhöhte körperliche und psychische Angespanntheit der Teilnehmenden verweisen. Im folgenden Beispiel reagiert die Spielerin Veronika (Ve) auf den offenen Ausgang einer Handlung im fiktionalen frame: S5: Pathfinder 2 S5.2: Auseinandersetzung Ve: SL: Ve: SL:
Ve: SL: Ve:
"Ich glaube an dich. Du schaffst das." "°Ja ich schaffe das ich schaffe das." "Du bist du bist ein solider Vogel du machst das." ((Hält die Hand an die Stirn, streckt sie danach aus)) "Los geht es. .hh" ((flattert mit seinen Armen, alle lachen)) (2.0) Ja er (.) flattert dann los (.) ähm (.) un:d versucht an denen vorbeizugelangen. Die die versuchen tatsächlich nach dem Vogel zu packen, (.) und: Die kriegen den nicht. Gucken wir mal. Ähm:: NEIN SIE KRIEGEN IHN NICHT ((haut den Würfel auf den Tisch)). 02:25:17–02:25:37
Die von Veronika gespielte Figur beauftragt ihren tierischen Begleiter (einen Vogel, im Beispiel gespielt vom Spielleiter), an den sie bedrohenden Pirat/-innen vorbeizufliegen und Hilfe zu holen. Nach einem kurzen Gespräch entsendet sie ihn, und der Spielleiter illustriert den Flug des Vogels durch Flatterbewegungen mit seinen Armen. Den Ausgang dieses Versuchs lässt er vorerst offen („Gucken wir mal.“), er beschreibt zuvor nur, dass die Gegner/-innen versuchen, den Vogel zu erwischen („Die die versuchen tatsächlich nach dem Vogel zu packen“). Veronikas Anspannung steigert sich vor allem nach dem unklaren Ausgang der Situation, was als spannungserzeugendes Moment gedeutet werden kann. Während sie zu Beginn der Videosequenz noch in Richtung des Spielleiters nach vorn gelehnt sitzt, reagiert sie nach der Situationsbeschreibung, indem sie sich aufrichtet und „Die kriegen den
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nicht“ erwidert. Veronika hat in diesem Fall keine agency, um über den Ausgang der Situation zu entscheiden, weswegen diese Aussage vornehmlich als Wunsch gedeutet werden kann, diesen Konflikt aufzulösen. Diese Interpretation wird durch die Handlungen verdeutlicht, die an das Offenlassen des Ausgangs seitens des Spielleiters anschließen. Veronika richtet sich weiter auf und unterstreicht ihren Wunsch durch eine lautere Wiederholung („NEIN SIE KRIEGEN IHN NICHT“) und das Schlagen ihrer Würfel auf den Spieltisch. Gerade diese beiden Handlungen, die lautere, emotionalere Aussprache sowie das rasche Aufschlagen ihrer Hand auf den Tisch, können hier als Ausdruck eines erhöhten Stressempfindens gedeutet werden, das durch den Spannungsreiz aktiviert wurde. Diese affektbezogenen Reaktionen emotionaler Anteilnahme und Involvierung lassen sich weiter präzisieren, wenn man das Verhältnis von Figurenkonstruktion und rezipierendenseitiger Verstehensprozesse betrachtet. Nach Eder (2008a, 664) bilden perspektivierte Einschätzungen die Grundlage für die figürliche Anteilnahme, wobei Einschätzung nicht nur Werturteile meint, sondern auch „vorbewusste Prozesse emotionaler Informationsverarbeitung“. Eder differenziert die perspektivischen Einschätzungen innerhalb der Figurenrezeption in den Blick auf die Situation, in der die Figur in der Erzählung auftaucht, was vornehmlich ein Blick „von außen“ (Eder 2008a, 628) ist, sowie den Blick mit der Figur, in dem sich durch „Prozesse der Simulation“ (Eder 2008a, 632) in die Situation derselben versetzt wird. Aus diesen Rezeptionspositionen ergeben sich verschiedene Verhältnisse von Nähe und Distanz innerhalb der Figurenkonstellation einer Erzählung sowie unterschiedliche Formen der Anteilnahme. Betrachtet man die Figur aus einer Außenperspektive, können sich diese Formen als subjektive oder objektive (intersubjektive) Einschätzungen manifestieren, die Figuren „nach eigenen, individuellen oder gruppenspezifischen Neigungen, Interessen und Erfahrungen“ oder „allgemeingültigen, intersubjektiven, sozialen Werten und Normen, insbesondere moralischen und ästhetischen“ (Eder 2008a, 666), beurteilen. Hieraus können sich emotionale Dispositionen, zum Beispiel Sympathie und Antipathie oder eine situative Parteinahme für Figuren, entwickeln (vgl. Eder 2008a, 666). Derartige emotionale Dispositionen können sich auch ergeben, wenn Situationen und Figuren aus einer involvierenden Innenperspektive rezipiert werden. Auf diese Weise entsteht eine Form der Anteilnahme, die als Empathie bezeichnet werden kann, wenn sich Rezipierende „mit Figuren identifizieren oder in ihre Lage hineinversetzen“ (Eder 2008a, 667). Wenngleich man aufgrund der oben dargelegten Überlegungen zu Emotionsprogrammen nicht davon ausgehen kann, dass Rezipierenden- und Figurenemotionen absolut deckungsgleich sind (vgl. Mellmann 2007, 242), lässt sich Empathie dennoch als Parallelität ähnlicher Emotionen zwischen fiktiver Figur und Rezipient/-in beschreiben. Sie umfasst einerseits die Wahrnehmung spezifischer Emotionen, die auf dem hinzugezogenen Wissen über bestimmte Emotionsprogramme basieren, sowie andererseits die Annahme von
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Emotionen, also das individuelle Aktivieren dieser Programme, die zu ähnlichen emotionalen Reaktionen wie die der Figur führt (vgl. Olsen 2011, 10–11). Im Gegensatz zur Sympathie, die Eder als „zeitübergreifende des Fühlens“ beschreibt, bedeutet Empathie das „situationsbezogene Fühlen mit einer Figur“ (Eder 2008a, 677). Die generelle Möglichkeit dieses Mitempfindens mit einer fiktiven Figur bietet sich hier, da Figurenrezeption trotz ihrer der Darstellung geschuldeten Unvollständigkeit (vgl. Martínez 2017, 91) kognitiv „weitgehend mittels derselben Mechanismen und Prozesse vollzogen wird, mit denen auch ‚real-life experiences of people‘ verarbeitet werden“ (Hartner 2012, 103). Aus diesem Grund ist es nachvollziehbar, kognitionspsychologische Konzepte, die auf Basis des Fremdverstehens zwischen menschlichen Individuen konzipiert wurden, miteinzubeziehen. Die kognitive Literaturwissenschaft legt das Konzept der Theory of Mind (vgl. Hartner 2012, 113; Rietz 2017, 78; Zunshine 2006, 36) nahe, das als zentrale Voraussetzung zum Fremdverstehen angesehen werden kann. Die Theory of Mind beschreibt die menschliche Fähigkeit, das Verhalten anderer Menschen auf Basis ihrer Gedanken, Gefühle, Einstellungen und Wünsche zu erklären (vgl. Zunshine 2006, 4), und wird im Laufe der kindlichen Entwicklung ausgebildet. Initial der Ausbildung ist die Entwicklung eines rekursiven Denkens, die Erkenntnis, dass Wissen nicht nur durch Sinnesinformationen, sondern auch durch Schlussfolgerungen entstehen kann (vgl. Rietz 2017, 78). Diese Schlussfolgerungen ermöglichen, das Handeln anderer Personen mit ihrem Denken in Beziehung zu setzen, indem Vergleichsoperationen zu eigenen Denkprozessen angestellt werden. Ein derartiges mind reading bildet sich auch in der Rezeption fiktiver Figuren ab und kann nach Zunshine (2006, 11) als vergnügungsvolle Tätigkeit angesehen werden, die eigenen Fähigkeiten zu erproben. Ralf Schneider (2012, 19) zufolge lässt sich dieser Vorgang als Blending beschreiben, das in der Rezeption Grundlage für die empathische Emotionsbildung ist. Die Forschung zeigt, dass im Pen-and-Paper-Rollenspiel derartige Rezeptionsprozesse im Hinblick auf die in der storyworld existierenden Figuren nachvollziehbar sind, wobei vor allen Dingen die Unterscheidung zwischen Nicht-Spieler/-innen-Charakteren, Figuren der Mitspielenden und der eigens verkörperten Figur relevant ist (vgl. Fine 2002 [1983], 224). Gerade im letztgenannten Fall scheint eine besondere Ausprägung der Involvierung zu existieren, die dem Begriff der figuralen Immersion am nächsten kommt. All diese Formen der emotionalen Anteilnahme können jedoch nur zustande kommen, da die im Penand-Paper-Rollenspiel dargestellten Figuren eine spezifische Form der Perspektivität realisieren, die zugleich eine Kategorie ästhetischer Illusionsbildung ist.
6.2 Narrative und figurale Immersion
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6.2.2 Perspektivität als illusionsstiftende Strategie Mit dem Begriff der Perspektivität beschreibt Wolf (2004, 340) eine Gestaltungsform illusionserzeugender Texte, die die Konstruktion spezifischer Wahrnehmungen und gleichzeitig die Begrenzung dieser Wahrnehmungen umfasst. Die Festlegung eines Blickpunktes ist für die ästhetische Illusionsbildung obligatorisch und steht aufgrund ihrer perspektivischen Partialität im Spannungsfeld zu der auf Reichhaltigkeit ausgelegten Darstellung der storyworld, was die Illusionsbildung als „Balanceeffekt zwischen konfligierenden Verfahren“ (Wolf 1993, 158) erscheinen lässt. Im Falle narrativer Darstellungen wird Perspektivität durch verschiedene Subjektivitätsstrategien realisiert, beispielsweise durch eine interne Fokalisierung, mit der der Effekt der Unmittelbarkeit einhergeht (vgl. Wolf 2004, 341). Gerade die interne Fokalisierung fungiert als Initiator einer Naturalisierung, da erwartet werden kann, dass eine figurale Erzählinstanz lediglich Zugriff auf die eigenen Gedanken hat und nicht auf die anderer Figuren (vgl. Skov Nielsen 2013, 68). Das Geschehen wird somit aus einer spezifischen Wahrnehmungsperspektive aufgenommen und vermittelt. Die Voraussetzung für die Erzeugung von Perspektivität ist die Existenz von Figuren (vgl. Hartner 2012, 89), genauer: eines Figurenbewusstseins (vgl. Hartner 2012, 123–124), das zentrale Marker einer spezifischen narrativen Perspektive konstruiert (vgl. Kap. 5.2.2). Wie Rezipierende Figuren verarbeiten, verläuft in ähnlicher Weise, wie es in Kapitel 6.1 für die Rezeption einer storyworld beschrieben wurde: Ursprung für die Konstruktion einer mentalen Repräsentation bilden spezifische innertextuelle Informationen und Interferenzen (vgl. Martínez 2017, 94–95), die durch extratextuelle Wissensbestände angereichert werden. Als Grundelemente dieser mentalen Figurenrepräsentation lassen sich nach Hartner (2012, 123) „eine eindeutige Identität“, „ein individuelles ,durchgängiges‘ Bewusstsein“, „das Vorhandensein von Intentionalität und Emotionen“ sowie ein „raumzeitlich positionierter Körper“ charakterisieren. Perspektivität bildet ein „(Teil)Modell“ (Hartner 2012, 101) dieser Repräsentation, die innerhalb der narrativen Darstellung mittels verschiedener Strategien etabliert wird (vgl. Kap. 5.1.2). Eder (2008a, 588–589) beschreibt diese Perspektivität als mentale Perspektive, die prinzipiell allen Instanzen (Figuren, Erzählinstanz, Produzierende und Rezipierende) im erzählerischen Kommunikationsprozess zugerechnet werden kann und „sich durch ihr Wahrnehmen, Denken, Bewerten, Wünschen und Fühlen zu einer bestimmten Zeit in bestimmter Weise auf bestimmte Gegenstände bezieht“. Rezipierende können dabei verschiedene Verhältnisse zu den in der Erzählung dargestellten Figurenperspektiven aufbauen, von Unkenntnis oder Diskrepanz über Kongruenz und Übereinstimmung bis hin zur aktiven Übernahme einer Perspektive, was das Hineinversetzen oder Nachvollziehen des Innenlebens einer Figur meint (vgl. Eder 2008a, 598). Diese Möglichkeiten der Perspektiveinnahme
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erklären nach Eder (2008a, 600) zudem Konzepte der Identifikation, die eintritt, wenn sich Rezipierende „in mindestens einer relevanten Hinsicht vorstellen, sich in der Situation des fiktiven Wesens [d.i. Figur] zu befinden oder dessen Eigenschaften zu haben“. Identifikation verlaufe demnach „hinsichtsrelativ und partiell“ (Eder 2008a, 600) und lässt sich anhand von Aspekten der körperlichen, sozialen und psychischen Identifikation unterscheiden. Eine solche Identifikation wird empathisch, wenn sich Rezipierende „durch emotionale Identifikation oder Simulation in die Lage der Figur versetzen und deren emotionale Perspektive übernehmen, indem sie ihre Gefühle in sich selbst erzeugen“ (Eder 2008a, 678). Die Perspektiveinnahme wird zunächst mithilfe der deiktischen Parameter eines fictional recentering angeleitet. Wird aus der subjektiven Perspektive einer Figur vermittelt, ist es notwendig, die narrative Positionierung der erzählenden Instanz nachzuvollziehen, indem diese Positionierung als perspektivischer Ausgangspunkt der Konstruktion mentaler Repräsentationen gewählt wird. Die Einnahme einer Perspektive kann jedoch auch bedingen, das Figurenhandeln im Sinne eines Fremdverstehens nachzuvollziehen, begleitet durch die Theory of Mind. Hierin eröffnet sich weiterhin die Möglichkeit zur Übernahme einer interaktionalen Identität, die sich als partizipativ-interpersonales Aushandeln sowie Ko-Konstruktion der Identität einer intradiegetischen Perspektivierungsinstanz begreifen lässt (vgl. Martínez 2017, 54). Dieser Vorgang geht imaginativ mit der Selbstverortung des oder der Rezipierenden einher und fungiert als Initial einer figuralen Immersion. Mehrere innertextuelle Indikatoren, die mit der Konstruktion verschiedener Parameter einer Erzählperspektive einhergehen (vgl. Kap. 5.1.2), gelten nach MaríaÁngeles Martínez für eine solche Immersion als förderlich: Unter anderem betrifft dies die Vermittlung bestimmter narrativierter Wahrnehmungen (vgl. Martínez 2017, 73), sei es in direkter Beziehung zu einem figuralen Bewusstsein oder sei es in Gestalt wahrnehmungsloser, mentaler Transitivitätsprozesse („SENSERless mental transitivity processes“; Martínez 2017, 70), in denen das wahrnehmende Subjekt offengelassen wird. Ein derartiger Fokus auf die Vermittlung von Sinneswahrnehmungen wird im Pen-and-Paper-Rollenspiel verstärkt von den Teilnehmenden genutzt (vgl. Kap. 5.2.1). Dass gerade auch Spielende diese Strategie verwenden, um anderen Spielenden die Handlungen und das Erscheinungsbild der eigenen Spielfigur nahezubringen, liegt primär in einer Vergegenwärtigung des anderen Wahrnehmungsstandpunktes begründet. Es wird anerkannt, dass andere Spielende ähnliche Positionierungsprozesse im Rahmen des fictional recentering vollzogen haben, die mit einer imaginativen Selbstverortung innerhalb der fiktiven Welt einhergegangen sein können. Als weitere immersionsfördernde Perspektivierungsstrategie benennt Martínez (2014, 113) die Verwendung einer Du-Adressierung, insbesondere in Verbindung
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mit einer Präsensnarration, die ebenfalls im Erzählprozess des Pen-and-PaperRollenspiels Anwendung findet (vgl. Kap. 5.1.2.1). Wenngleich die Du-Adressierung in vielen narrativen Darstellungen als unnaturale Erzählstrategie klassifiziert wird (vgl. Fludernik 1994, 291), die in der Regel einer ästhetischen Illusion abkömmlich ist, evoziert sie gerade in narrativen Spielen einen Immersionseffekt (vgl. Ensslin und Bell 2012, 54), da sie in Form einer Doppeladressierung sowohl die intradiegetische Figur als auch die Person, die diese Figur zu Teilen steuert oder verkörpert, adressiert. Ein derart doppeldeiktisches Du fördert Blendingprozesse (vgl. Martínez 2017, 12), die die Grenze zwischen dem Selbst und dem Anderen verwischen. Dieses Verwischen betrifft vor allem die doppelte Ebenenstruktur der Kommunikation, da die kommunikative Funktion des Miterlebens einer erzählten Erfahrung gleichzeitig mit dem Erleben dieser Erfahrung in Verbindung gebracht wird. Ergänzt durch die Präsensnarration, die ebenfalls typisch für das Erzählen im Rollenspiel ist (vgl. Kap. 5.1.5), erweckt diese Erfahrung den Anschein der Unmittelbarkeit, die als zentraler illusionsstiftender Prozess der Perspektivierung angesehen werden kann. Rückwirkend führt eine derart verlagerte kommunikative Funktion im Penand-Paper-Rollenspiel zu einer Neuverortung der Perspektiveinnahme im Sinne der Theory of Mind, worauf auch Bowman verweist: Role-playing allows participants to take theories of mind one step farther. Instead of merely imaging what another might think, the player is forced into situations where he or she must make decisions ‚as if‘ they were that person. This practice of enactment is ‚thinking outside the box‘ in its most literal connotation; the performers must think outside the box of their own consciousness. (Bowman 2010, 58)
Das Miterleben stellt sich in diesem Kontext als Erleben dar, da nicht nur basierend auf den Informationen der narrativen Darstellung Rückschlüsse auf ein Figurenbewusstsein gezogen werden müssen. Auch Handlungen müssen anhand dieser Rückschlüsse geplant werden, weshalb sich diese Aktivität nicht allein als Ausdruck des mind reading (vgl. Zunshine 2006, 11) beschreiben lässt, sondern vielmehr als Vollziehen und Simulieren spezifischer Bewusstseinsvorgänge. Wenn Bowman konstatiert, dass Teilnehmende so handeln, als seien sie Figuren, dann impliziert dies eine imaginative Selbstverortung in der storyworld, die vor allem durch diese Simulation spezifischer Bewusstseinsvorgänge vollzogen wird. Wird eine derartige Rezeptionshaltung im Rollenspiel angenommen, ist folglich die Konstruktion einer subjektiven storyworld möglich, wie sie bereits in der Entwicklung des erzählerischen Kommunikationsmodells beschrieben wurde (vgl. Kap. 4.2). Figurale Immersion wird im Pen-and-Paper-Rollenspiel dadurch erweitert, dass die Ko-Konstruktion einer figuralen intradiegetischen Identität parallel zu der Konstruktion von großen Teilen dieser Identität verläuft. Gespielte Figuren im Penand-Paper-Rollenspiel sind im Gegensatz zu Figuren in anderen Erzählungen mehr
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als das, was Eder mit Verweis auf den Filmwissenschaftler Murray Smith als „transparent“ bezeichnet: Wir erfahren nicht nur etwas über die Psyche der gespielten Figur durch „Dialoge, Mimik usw.“ (Eder 2008a, 574), sondern konstruieren und simulieren ihre Psyche selbst. Auslöser ist die interaktionale Selbstverortung in der Perspektivierung sowie die Entwicklung einer Theory of Mind, die darauf angelegt ist, ein handlungsbestimmendes Figurenbewusstsein zu konstruieren. Was bedeutet diese Selbstverortung konkret und wie lässt sich die Metapher des Eintauchens in die storyworld genauer erklären, die häufig in der Beschreibung immersiver Rezeptionsprozesse verwendet wird? Wie in Kapitel 6.2 bereits angeklungen ist, soll das Eintauchen hier nicht mit einem körperlichen Eintauchen gleichgesetzt werden, auch wenn durch die nachvollzogenen und simulierten Bewusstseinsvorgänge durchaus Emotionsprogramme aktiviert werden können, die körperliche Reaktionen auslösen. Genauso wenig bedeutet dieses Eintauchen, dass das komplette Bewusstsein der Teilnehmenden involviert ist, da Rezipierende ebenso mentale Kapazitäten für weitere Kontextualisierungstätigkeiten aufbringen, die den narrativen Verstehensprozess begleiten (vgl. Martínez 2014, 115). Dennoch erscheint es denkbar, dass Teile des Bewusstseins diese ontologische Grenze überschreiten (vgl. Martínez 2014, 113). Das Überschreiten definiert Martínez (2014, 119; 2017, 19‒20) mit dem Begriff des storyworld possible self, was den Konstruktionsprozess eines imaginierten Selbst in einer storyworld beschreibbar macht. Martínez (2014, 116) geht von der Annahme aus, dass die Rezeption von Figuren, die auf einer mentalen Repräsentationsbildung beruht, Modelle bestimmter kultureller und subkultureller Konzepte von Persönlichkeit enthalten kann. Im Blendingprozess ergeben diese Modelle sowie die intradiegetischen Perspektivmarker (vgl. Martínez 2017, 93) zwei verschiedene input spaces, die im Rezeptionsprozess zusammengeführt werden. Zur figuralen Immersion trägt besonders bei, wenn sich Rezipierende selbst mit diesen Persönlichkeitsmodellen identifizieren, die gleichfalls in die mentale Repräsentation der Figur einfließen (vgl. Martínez 2014, 117). Ausgangspunkt dieser Modelle bilden sogenannte psychologische Selbstkonzepte, die sich aus kognitiven Selbstschemata und möglichen Selbstentwürfen („possible selves“) zusammensetzen: […] the self-concept is a complex mental structure containing episodic, semantic, and procedural knowledge, which consists of two main types of interrelated networks: self-schemas and possible selves. Self-schemas are defined as ‚cognitive generalizations about the self, derived from past experience, that organize and guide the processing of the self-related information contained in an individual’s social ‚experience‘ (Markus 1977: 63). Possible selves (Markus and Nurius 1986; Dunkel and Kerpelman 2006; Markus 2006), on the other hand, are schemas containing ‚individuals’ ideas of what they might become, what they would like to become, and what they are afraid of ‚becoming‚ (Markus 2006: xi). Within self-schema theory, the dynamic interaction of an individual’s self-schemas – what we think we are in a
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social sense – and possible selves – what we would love or hate to be – has been empirically shown to play a crucial role in behavior, motivation, and emotion. As Strahan and Wilson (2006: 2) explain, ‚A person’s identity involves more than the thoughts, feelings and behaviors of the current self. It also includes reflections of what a person was like in the past and hopes and fears about what a person may become in the future‘. (Martínez 2017, 105)
Sowohl Selbstschemata als auch mögliche Selbstentwürfe bilden die Anknüpfungspunkte für die figurale Immersion, wobei gerade die Selbstentwürfe, die auf Wünschen, Hoffnungen oder Ängsten basieren, ein Angebot zum imaginierenden Probehandeln und Ausleben darstellen können (vgl. Martínez 2017, 25).20 Entscheidend ist, dass das Selbstkonzept aus verschiedenen Selbstschemata und möglichen Formen des Selbst besteht und die narrative Darstellung in diesem Sinne nur Teile des Selbstkonzeptes anspricht (vgl. Martínez 2014, 119). Dies stellt einen zentralen Erklärungsansatz für den Immersionsprozess dar, in dem eine mentale Verortung nur innerhalb dieser Teile vollzogen wird. Derartige Storyworld Possible Selves können nach Martínez zudem verschiedene Ausrichtungen haben: Sie können sich auf Selbstschemata beziehen, also auf Teile des Selbstkonzeptes („Self Schema SPS“; Martínez 2017, 125), die durch vergangene Erfahrungen konstruiert wurden, oder auf gewünschte Teile des Selbstkonzeptes („Desired SPS“; Martínez 2017, 126). Ferner umfassen derartige Beziehungen auch Erfahrungen mit bereits rezipierten narrativen Darstellungen („Past SPS“): Past SPSs result from past projections of the self into storyworlds which have been incorporated in the self-concept, and are thus available for activation by a new narrative experience (Martinez 2014: 125; Stangherlin 2016: 82). In the course of this new narrative experience, one of these conceptual structures may be activated by isomorphic matches with the character construct being built for the new focalizer or narrator. Past SPS activation intervenes in immersive processes of three types: genre echoes, emotional response predictions, and intertextual resonance. (Martínez 2017, 132)
Das dargestellte Konzept der „Past SPS“ beruht primär auf der Auffassung, dass ein etablierter Blend abermals als input space für ein neues Blending fungieren und so neue Relationen zu anderen input spaces herstellen kann. Derartige Blendingoperationen können nach Martínez (2014, 125‒126) verschiedene Phänomene der Intertextualität erklären, in denen Rezipierende Beziehungen zu anderen Figurendarstellungen herstellen. Im Pen-and-Paper-Rollenspiel bedeutet figurale Immersion somit, dass Teile des Selbstkonzeptes in das Ausspielen einer Figur eingebracht werden. Dass dieser Effekt in Rollenspielen als besonders intensiv empfunden wird, lässt sich
Wie Martínez (2014, 118‒119) betont, können gerade die möglichen Formen des Selbst auch im Gegensatz zu etablierten Selbstschemata stehen.
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6 Literar-ästhetisches Verstehen im Rollenspielprozess
durch das bereits beschriebene eigene Vollziehen und Simulieren eines figuralen Bewusstseins, jedoch auch in Bezug auf die entwickelte Spielfigur erklären: Fokussiert man sich darauf, ein Figurenbewusstsein zu entwickeln (vgl. Kap. 5.2.2), ist es naheliegend, dass auch Persönlichkeitsmodelle und Teile eines Selbstkonzeptes in die Figurenentwicklung einfließen können. Diesen Eindruck verstärken auch Aussagen von Rollenspielenden, die Meier und Preußer (2019) im Rahmen einer Interviewstudie zu ihren Präferenzen des Figurenspiels befragt haben. Im folgenden Beispiel aus der besagten Studie verweist ein Interviewpartner auf verschiedene Teile des Selbstkonzeptes, die in die Entwicklung der Figur einfließen: Also ich glaube, man spielt so ein Stück weit sich selbst oder der, der man gerne wäre oder der, den man gerne sein würde, das äußert sich aber eher unterbewusst. Also dass ich bewusst auf Erfahrungen zurückgreife, die ich selber gemacht habe, um das in einen Charakter umzumünzen, das habe ich bisher eigentlich nicht gemacht. Häufig verfällt man schnell in so Stereotype. Zum Beispiel bei meinem ersten Charakter, diesem Zwerg, das war dann eben der raufende, saufende Zwerg, der immer einen frechen Kommentar hatte und der immer so ein bisschen aufs Reizen aus war. Und das ist dann eher so, so kenne ich halt Zwerge aus dem Film oder aus anderen Settings, sag ich mal. Also das ist eher der, der Erfahrungsschatz mit, mit anderen, aus anderen Medien, als dass ich mich da rein transportiere. […] Naja, ich meine, wenn ich jetzt an Zwerge denke, denke ich sofort an Herr der Ringe, wo dann auch der Zwerg derjenige ist, der immer so ein bisschen barsch ist und der, der rau ist und gern kämpft. Und das prägt halt, glaub ich schon, wie man’s halt, wie man’s halt kennt. (Zit. n. Meier und Preußer 2019, 37)
Der Interviewte berichtet über verschiedene realisierte Storyworld Possible Selves, die er in der Entwicklung und dem Ausspielen der Figuren begründet sieht. Das erste betrifft den Bezug auf Teile eines Selbstkonzeptes, die gewünschte Selbstentwürfe umfassen („Desired SPS“). Er betont, dass man sich zum Teil selbst oder eine gewünschte Selbstkonzeption spiele („man spielt so ein Stück weit sich selbst oder der, der man gerne wäre“). Obwohl er die bewusste Reproduktion von Selbstschemata, die auf vergangene Erfahrungen referieren („Self Schema SPS“), negiert („das habe ich bisher eigentlich nicht gemacht“), sieht er die Realisierung verschiedener Teile des Selbstkonzeptes im Ausspielen der Figur zumeist unbewusst als gegeben an („das äußert sich aber eher unterbewusst“). Innerhalb seiner Antwort verweist er zudem auf eine „Past SPS“, indem er einen Bezug zu bereits rezipierten narrativen Darstellungen herstellt. Wie er seine Figur, einen Zwerg, ausspiele, beruhe auf „Stereotype[n]“, die er in eine direkte Beziehung zur Darstellung einer zwergischen Figur in Der Herr der Ringe (Tolkien 1954 u. 1955) setzt. Er erkennt dabei an, dass dieses intertextuelle Wissen Einfluss auf die Konzeption seiner eigenen Spielfigur hat („Und das prägt halt“).
6.3 Zusammenfassung
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6.3 Zusammenfassung Zu Beginn dieses Kapitels wurden die Ästhetik- sowie die Polyvalenzkonvention als zentrale Merkmale einer literar-ästhetischen Kommunikation beschrieben. Sie umfassen einerseits die Bewertung einer Darstellung nach ästhetischen Kategorien und Gestaltungsformen sowie eine Bewertung nach dem Maß der Poetizität und weniger nach Nützlichkeitskriterien. Andererseits ermöglicht es die literar-ästhetische Kommunikation, in der Rezeption polyvalente Sinn- und Deutungsangebote zu schaffen, die die Kommunikationsteilnehmenden so behandeln, „wie es für ihre Bedürfnisse, Fähigkeiten, Intentionen und Motivationen optimal ist“ (Hauptmeier und Schmidt 1985, 18). Partizipativer Ausgangspunkt für derartige Kommunikationsabläufe ist das literarische Verstehen, das weniger als Lesemodus denn als Rezeptionsmodus (vgl. Abraham 2010, 12) aufgefasst werden soll, der die Berücksichtigung und Aufrechterhaltung dieser Konventionen beinhaltet (vgl. Steinbrenner 2006, 790–791). Im Pen-and-Paper-Rollenspiel, dessen storyworld als zentraler ästhetischer Gegenstand innerhalb eines wechselseitigen Kommunikationsprozesses geschaffen wird, kann sich literar-ästhetische Kommunikation in Produktion, Rezeption und ebenfalls in Gestalt einer Metakommunikation manifestieren, also einer Reflexion über diesen Gegenstand und seine sich entwickelnde Erzählung. Als Rezeptionseffekt dieser intensiven Auseinandersetzung mit der storyworld kann sich eine ästhetische Illusion einstellen, auf die im Rollenspiel durch verschiedene Strategien hingearbeitet wird. Im Sinne literarischen Verstehens entsteht hierbei ein Verhältnis zwischen individuellen Rezipierenden und der narrativen Darstellung, das Spinner (2006, 8) als „Wechselspiel von Subjektivität und Textorientierung“ begreift. Hieraus resultiert eine Form der Involvierung, zuvor mit dem Begriff der Immersion beschrieben, in der Rezipierende den Rezeptionsgegenstand in eine Beziehung zu ihrem eigenen Leben setzen (vgl. Winkler 2015, 158). In diesem Kapitel wurden verschiedene illusionsstiftende Strategien vorgestellt, auf die sowohl die Teilnehmenden während einer Rollenspielsitzung als auch die verschiedenen Rollenspielpublikationen, wie Regelwerke oder Szenariomodule, zurückgreifen. Im Fall der Konstruktion einer intersubjektiven storyworld stehen diese Strategien in engem Bezug zu funktionalen Eigenschaften, die den Erzählprozess kennzeichnen: Die Strategie der Konsistenzerzeugung bezieht sich in funktionaler Hinsicht auf die Anschlussfähigkeit unterschiedlicher Erzählbeiträge der Teilnehmenden, gleichzeitig auch darauf, logische und epistemologische Widersprüche innerhalb der storyworld zu vermeiden, die das Illusionsempfinden dämpfen können. In ähnlicher Weise zielt die strategische Komplexitätserzeugung der Emergenz eines rollenspielerischen Kommunikationsprozesses darauf ab, bestimmte Entscheidungen offenzuhalten, sodass diese interaktiv von den Teilnehmenden im Spielprozess getroffen werden können. Innerhalb der Illusionserzeugung verweist eine solche
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Komplexität auf die Reichhaltigkeit der dargestellten fiktiven Welt, die auch durch die Regel- und Szenariobände suggeriert wird. Als ästhetische Gestaltungsformen knüpfen diese Welten an Darstellungen anderer Medien an, zum einen durch die generelle Orientierung an den Verfahren der komplexen Welterzeugung, wie sie beispielsweise die Medien der phantastischen Literatur nutzen, zum anderen an die storyworlds bestehender transmedialer Franchises. Die Anknüpfung an andere Medien wird zudem durch die Herstellung transtextueller Beziehungen geleistet, und zwar nicht nur, um das Erzählen im Pen-and-Pen-and-Paper-Rollenspiel in die Nähe anderer Erzählformen zu stellen und den Teilnehmenden aufgrund dieser Ähnlichkeitsbeziehungen mögliche Entlastung zu schaffen, sondern zugleich als Möglichkeit, Sinn- und Deutungsprozesse durch relationale Wertungen (vgl. Schmidt und Winkler 2015, 91) zu illustrieren. Die narrative und figurale Immersion kann innerhalb einer tiefen Involvierung eintreten und nach Winkler (2015, 158–159) ebenfalls mit dem Konzept des literarischen Verstehens in Beziehung gesetzt werden. Illusionsstiftende Strategien beziehen sich hier auf die mögliche emotionale Involvierung, die eine Rollenspielerzählung erzeugen kann, was im Rahmen der Polyvalenzkonvention der literar-ästhetischen Kommunikation auf eine generelle Deutungs- und Sinnbildungsoffenheit in Bezug auf den subjektiven Umgang mit dem ästhetischen Gegenstand verweist. Hieran schließt auch die Eigenschaft der Perspektivität an, die nicht nur im Sinne einer ästhetischen Gestaltungsform Strategien der Subjektivitätserzeugung betrifft, sondern ebenso Potenziale zur imaginativen (Teil-)Selbstverortung bereithält. Noch nicht thematisiert wurde die sechste, von Wolf (2004, 342–343) entwickelte illusionsstiftende Strategie des celare artem, der Verschleierung des Kunstcharakters einer Darstellung. Diese Verschleierung untergliedert er in zwei Dimensionen: Die erste betrifft die Verhüllung der fictum-Natur des Gegenstandes, also „der ontologischen Differenz zwischen Fiktion und Realität“ (Wolf 1993, 192). Diese kann durch Strategien der ästhetischen Illusionsbildung erreicht werden, die speziell auf die weltenkonstruierenden Verfahren auf histoire-Ebene der Erzählung sowie auf den Wahrnehmungs- und Erlebnischarakter der Darstellung zielen. Die zweite Dimension, das Verhüllen des fictio-Status, bezieht sich zum einen auf das „Verbot expliziter Thematisierung des Mediums oder seiner Elemente, zum anderen [auf] eine solche Verwendung des Mediums, daß auch sein implizites ‚foregrounding‘ verhindert wird“ (vgl. Wolf 1993, 191). In der narratologischen Betrachtung der Erzählstrategien fallen mit der DuPerspektivierung und der Möglichkeit zur Metanarration zwei zentrale Verfahren ins Auge, die die Erzähltheorie gemeinhin als unnatural kennzeichnet. Derartige unnaturale Gestaltungen verwehren sich einer Naturalisierung und erscheinen im Rezeptionsprozess zumeist als irritationsstiftende Verfahren, die einen Illusionsbruch herbeiführen können (vgl. Wolf 2013, 123–124) und somit die Strategie
6.3 Zusammenfassung
279
des celare artem unterwandern. Bedeutet der Rückgriff auf diese Verfahren, dass die ästhetische Illusionsbildung gänzlich aufgegeben wird? Die Verhüllung der fictum-Natur wird im Pen-and-Paper-Rollenspiel vor allem aufgrund der Kommunikationssituation begünstigt: Im Rahmen eines make-believe benötigt die fiktionale Kommunikationssituation ab einem bestimmten Zeitpunkt keine Operatoren, die Fiktionalität anzeigen (vgl. Kap. 2.2), weswegen es für die Teilnehmenden mitunter schwierig ist, Äußerungen im fiktionalen frame von Äußerungen im primären frame zu unterscheiden (vgl. Kap. 4.2.4). In Bezug auf die erzählerische Kommunikation ist zudem die realisierbare Trialogizität für die Verschleierung einer Vermittlungsebene von Bedeutung: Durch die figurale Rolleneinnahme ist es in vielen Fällen für Spielende nicht mehr notwendig, auf narratoriale Einschübe zurückzugreifen, um eine Figurenrede anzukündigen, sondern lediglich ihre eigene Stimme zu nutzen, um die Figur sprechen zu lassen (vgl. Kap. 5.1.4.1). Im Kontext der Adressierung ist die Verwendung der Du-Perspektive eine Gestaltungsform, die gemeinhin als unnatural klassifiziert wird (vgl. Fludernik 2012, 362; Skov Nielsen 2013, 71), vornehmlich aufgrund der Seltenheit naturaler Erzählungen, in der Zuhörende gleichzeitig als Adressat/-in und erlebende Instanz auftreten (vgl. Fludernik 1994, 288). Fludernik (2002 [1996], 196) verweist jedoch auf eine andere Funktion, die eine Du-Perspektive in Kombination mit einer Präsensnarration entwickelt: Derartige Konstellationen heben den Akt des Erfindens hervor und illustrieren den generativen Aspekt des Erzählens, „rather than representing and reproducing in narrative shape a sequence of events that is prior to this act of linguistic creation“. Gerade dieser generative Aspekt beschreibt eine zentrale Funktion der doppelten deiktischen Perspektivierung im Pen-and-Paper-Rollenspiel und lässt sich in diesem Sinne als Aufforderung verstehen, die Erzählung weiterzuführen. Zwar mögen derartige generative Verfahren im traditionellen literarischen Erzählen und in der Alltagsnarration selten sein, doch scheint der Bezug zu anderen medialen Darstellungen wie Computerspielen (vgl. Walker 2001) oder oralen Erzählereignissen mit Publikumsbeteiligung (vgl. Marlar Lwin 2020) naheliegend. Gerade weil Du-Perspektivierungen in bestimmten Situationen auch immersionsfördernd wirken können (vgl. Martínez 2014, 115), ist eine generelle Klassifizierung dieses Erzählverfahrens als natural oder unnatural nicht ergiebig. Zur Bewertung müssen immer die medialen Rahmenbedingungen einbezogen werden, die sich für die Ludonarration gänzlich anders gestalten als im Falle der erzählenden Literatur. Da die Du-Narration in vielen ludischen Formaten präsent ist, kann man sie im Penand-Paper-Rollenspiel als Ausdruck einer Mediumsadäquatheit (vgl. Kap. 6.1.3.) bezeichnen, die der ästhetischen Illusionsstiftung zuträglich ist und zugleich einen perspektivischen Ansatzpunkt für die Wahrnehmung der dargestellten Welt bietet.
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6 Literar-ästhetisches Verstehen im Rollenspielprozess
Im Falle der Verhüllung des fictio-Status der Darstellung sieht Wolf vor allem metafiktionale und metanarrative Formen als illusionsstörend an. Das Sprechen über die Rollenspielerzählung wurde bereits als teils notwendige Kommunikationshandlung definiert (vgl. Kap. 6.1.1), in der die Teilnehmenden über das bereits Geschehene reflektieren, aber auch ihre nächsten Schritte planen können. Ein Überschreiten kommunikativer Ebenen tritt folglich ein, wenn die kommunikativen frames gewechselt werden, insbesondere wenn einzelne Äußerungen durch keying in zwei verschiedenen frames als bedeutungstragend bewertet werden können. In diesem Kontext ist ebenfalls David Schmidts Beobachtung von Relevanz, dass ein häufiges Würfeln die Immersion, sowohl in Bezug auf die Spielfigur als auch die Erzählung selbst, erschwert (vgl. Schmidt 2012, 261). Diese Aussage wird durch Diskurse in der Fankultur bestärkt, die Hinweise zu immersionistischen Spielstilen behandeln:21 Auch hier wird auf eine generelle Minimierung von Gesprächen außerhalb des fiktionalen frames sowie auf das Sprechen in der Rolle der gespielten Figuren verwiesen, das als ästhetisch involvierend beschrieben wird. Es zeigt sich folglich, dass ein zu hoher Anteil extrafiktionaler Kommunikation die ästhetische Illusionsbildung im Pen-and-PaperRollenspiel behindern kann, gerade wenn verstärkt auf die strukturellen Aspekte des Spiels oder der Narration Bezug genommen wird. Zugleich kann man diesen Illusionsbruch als Ausdruck eines auf Distanzierung und Irritation ausgelegten Ästhetikverständnisses auffassen, in der das Wechseln der kommunikativen frames auch durch den Wechsel spezifischer Formen der Sprachverwendung gekennzeichnet ist. Der lebensweltliche primäre frame, in dem die Alltagssprache dominiert, wird durch den fiktionalen frame kontrastiert, in dem Andersartigkeit auch durch eine spezifische Form der Sprachverwendung ausgedrückt wird, die Züge des literarischen Erzählens trägt. Diese klare Markierung ist vor allem in funktionaler Hinsicht bedeutsam, um keyings zu vermeiden – und dies ohne die Notwendigkeit, fiktionale Rede immer durch explizite sprachliche Operatoren zu markieren („ich tue so als ob …“). Diese Möglichkeit der ästhetischen Distanznahme bedeutet jedoch nicht, dass eine ästhetische Illusion gänzlich verhindert wird, wie auch Wolf (1993, 200) betont: Die verschiedenen Strategien der Illusionsbildung stellen keinen „starren Regelkanon“ dar, sondern dienen vielmehr der Illusionsförderung.
Gerade in Onlineforen wie Reddit oder Stackexchange finden sich zahlreiche derartige Diskussionen und Tipps, das immersive Potenzial in der Rollenspielsitzung zu erhöhen. Die Vermeidung von out-of-character-Gesprächen ist hier ein vielfach vorgebrachter Vorschlag. Vgl. u. a.: https://www.reddit.com/r/rpg/comments/6nn5kq/what_do_you_do_to_make_the_play_experience_ more/ oder https://rpg.stackexchange.com/questions/7500/suggestions-for-decreasing-metagaming -and-increasing-player-immersion. (Zugriff: 26.04.2022).
6.3 Zusammenfassung
281
Im Kontext der Diskurse in der Fankultur über ein mögliches immersionsförderndes Rollenspiel wird deutlich, dass die verschiedenen Spielpräferenzen und stile mitunter starken Einfluss darauf haben, wie das Pen-and-Paper-Rollenspiel rezipiert wird. Wie Wolf betont, ist die ästhetische Illusionsbildung an sich kein automatischer Prozess, sondern hängt mit einer spezifischen ästhetischen Einstellung zusammen, die durch verschiedene individuelle Faktoren bedingt ist: Rezipientenseitig ist Einstellung ganz allgemein eine bestimmte Ausrichtung des Interesses auf ein Wahrnehmungsobjekt. Durch sie wird eine bloße, vielleicht zunächst gar unbewußte Perzeption erst eigentlich zur bewußten Wahrnehmung. Ein solches Sich-Einstellen auf ein Objekt ist jedoch nur möglich, wenn an es bestimmte Erwartungen herangetragen werden und es damit im Grunde zugleich klassifiziert wird: als für bestimmte Erwartungen relevant, für andere dagegen unbedeutend. (Wolf 1993, 37)
Wolfs Beobachtung ist auch für die Nutzbarmachung des Spiels in literarischen Lehr- und Lernszenarien bedeutsam, um durch das Arrangement des Rollenspiels gezielt literarische Verstehensprozesse zu fördern. Um also die Teilbereiche literarischen Lernens zu identifizieren, die durch das Pen-and-Paper-Rollenspiel gefördert werden können, wird im Folgenden ein konkreter Bezug zur literaturdidaktischen Theorie hergestellt. In Kapitel 8 werden anschließend einige methodische Überlegungen präsentiert, die mit dem Ziel konzipiert sind, literarische Verstehensprozesse zu aktivieren.
7 Pen-and-Paper-Rollenspiele und literarisches Lernen Im literaturdidaktischen Diskurs ist der Begriff des literarischen Verstehens eng mit Konzeptionen des literarischen Lernens sowie der literarischen Kompetenzbildung verbunden. Seit der zunehmenden Kompetenzorientierung, die sich formal an der Etablierung der PISA-Studien zu Beginn der Jahrtausendwende festmachen lässt, gewinnt die Frage an Bedeutung, welche Fertigkeiten und Fähigkeiten notwendig sind, um kompetent mit Literatur umgehen zu können, und wie literarische Lehr- und Lernprozesse konzipiert sein müssen, um diese Fähigkeiten und Fertigkeiten zu vermitteln. Dabei ist der Umgang mit Literatur nicht nur auf das Wissen über Texte, Epochen und Autor/-innen beschränkt, sondern umfasst im Sinne Petra Bükers (2012 [2002], 121) „Einstellungen, Fähigkeiten, Kenntnisse […] und Fertigkeiten […], die nötig sind, um literarisch-ästhetische Texte […] zu erschließen, zu genießen und mit Hilfe eines produktiven und kommunikativen Auseinandersetzungsprozesses zu verstehen“. Wie sich einzelne Strömungen innerhalb der Literaturdidaktik zu dieser Frage positionieren, hängt von verschiedenen Faktoren ab, die im Folgenden kurz beleuchtet werden sollen. Ausgangspunkt bildet zunächst die Frage nach einer allgemeinen Definition von Literatur. Positionen, die einen eher institutionalisierten Literaturbegriff favorisieren, der auf Normierungs- und Wertungsprozesse im Umgang mit schriftlich fixierter Literatur beruht, unterscheiden sich hier von Ansätzen, die einen weiteren Literatur- und Textbegriff wählen (vgl. Boelmann 2015, 63) und Literarizität daher auch in nicht-literarischen Phänomenen (vgl. Culler 2002, 32) oder elementarliterarischen Diskursen (vgl. Link 1983, 29–30) manifestiert sehen, somit also prinzipiell allen Medien die Möglichkeit zuschreiben, literarische Lernprozesse zu initiieren (vgl. Abraham 2008a [2005], 20). Damit gehen unterschiedliche Konzeptionen des literarischen Bildungsbegriffs einher, der in historischer Prägung auf das literarische Kanonwissen angelegt ist und damit Dimensionen des Wissens über Werke, Autor/-innen und Epochen umfasst (vgl. Boelmann und Klossek 2013, 49). Gerade die neuere didaktische Forschung erweitert diese Wissensdimension um grundlegende Fähigkeiten, die im Umgang mit Literatur zu erwerben sind (vgl. Boelmann und Klossek 2013, 49). Dazu gehört neben einer kognitiven Dimension, die die Aspekte Können, Wissen und Bewusstheit umfasst, auch eine emotiv-motivationale Dimension (vgl. Boelmann und Klossek 2013, 49). Ein erweiterter Literaturbegriff lässt sich außerdem dadurch plausibilisieren, dass viele literaturdidaktische Positionen nicht nur die Anlage eines literarischen Gegenstandes berücksichtigen, sondern sich auch „dafür interessieren, was Menschen damit machen und warum“ (Winkler 2015, 157). Literarische Sozialisation – https://doi.org/10.1515/9783110788983-007
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der Prozess, in den diese von Winkler salopp formulierte anthropologische Funktionszuschreibung eingebettet ist – ist in der heutigen Gesellschaft Teil einer Mediensozialisation (vgl. Pieper 2015 [2010], 94), was zu wechselseitigen Beeinflussungen der Sozialisationsprozesse untereinander führen kann. Wie Abraham (2008a [2005], 17) betont, ist „nicht nur [die] kinderliterarische Kultur heute keine reine Lesekultur mehr, sondern längst eine medienästhetische Kultur“, in der weniger die Auf- und Abwertung bestimmter Medien die notwendige Praxis ist als „ein kundiger und ästhetisch verständiger Blick auf das Wandern der Stoffe durch die Medien und deren Beitrag zum kulturellen Gedächtnis“. Für den Deutschunterricht bedeutet dieser erweiterte Blick auf literarische Gegenstände und den Umgang mit ihnen ein neues Verhältnis zwischen den etablierten Didaktiken: Löst man sich von einem schriftbasierten Literaturbegriff, scheint das Lesenkönnen keine notwendige Voraussetzung mehr dafür zu sein, mit Literatur in Berührung zu kommen. Dementsprechend lässt sich nicht davon ausgehen, dass der Erwerb von Lesefähigkeiten und literarischer Bildung ein aufeinander aufbauender Prozess ist, wenngleich der Lesekompetenzerwerb für die Strukturierung und Entwicklung der eigenen kognitiven Verstehens- und Gedächtnisleistungen – auch in Bezug auf die Rezeption literarischer Gegenstände – relevant und emanzipierend ist (vgl. Abraham 2008a [2005], 16). Betrachtet man nicht nur die der Literatur und Literarizität inhärenten Merkmale, sondern auch den Umgang mit ihnen und beide insofern als Handlungsfeld, lassen sich nach Matthis Kepser und Ulf Abraham (Kepser und Abraham 2016 [2005]) drei Bedeutsamkeitsfelder bestimmen, die auch die literarischen Lernprozesse bedingen. Kulturelle Bedeutsamkeit besitzen literarische Gegenstände als „Beitrag zu einem komplexen Symbolsystem, mit dessen Hilfe große Gemeinschaften Identität herstellen“ (Abraham 2015, 11). Literatur trägt folglich zur kollektiven Gedächtnisbildung bei, die sich in stetigen Aushandlungsprozessen verändert beziehungsweise weiterentwickelt. Sozial bedeutsam sind literarische Medien insofern, als sie als Gegenstand der sozialen Interaktion angesehen werden. Das Reden über Literatur und andere Medien begleitet Menschen sowohl in der Unterhaltung als auch innerhalb von Bildungsprozessen und dient unter anderem zum Austausch über textbezogene Vorstellungen, Selbstreflexionen und Wertungen (vgl. Abraham 2015, 10). Individuelle Bedeutsamkeit haben literarische Gegenstände in Bezug auf subjektive Rezeptionshaltungen, so beispielsweise der Wunsch nach Unterhaltung, Mitteilung und Austausch oder als „Vorlage für Teilhabe am Gespräch in der Peer Group (,Partizipation‘), also als Gelegenheit zu ‚involviertem Lesen‘ und ästhetischem Genuss (Aufmerksamkeit für Form und Gestalt vorausgesetzt) und nicht zuletzt als Erkenntnisquelle (‚Lesen im Modus diskursiver Erkenntnis‘)“ (Abraham 2015, 9).
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Soll der Umgang mit literarischen Texten im Literaturunterricht gefördert werden, wie es Abraham (2008a [2005], 21)2 für die Entwicklung einer poetischen Kompetenz im Sinn hat, ist es nicht ausreichend, lediglich die Dimension des Wissens sowie dessen unmittelbare Anwendung zu fördern, indem beispielsweise Epochenund Fachbegriffe vermittelt und analytisch angewandt werden (vgl. Winkler 2007, 78–79). Sofern literarischen Rezeptionsprozessen individuelle Bedeutsamkeit zukommen sollen, ist es sinnvoll, auch die weniger professionellen (vgl. Scheller 2016 [2004], 26) Umgangsformen zu fokussieren, etwa die Förderung zum Genussempfinden (vgl. Olsen 2015, 119) sowie anderer ästhetischer Erfahrungen (vgl. Spinner 2010b, 95). Wenngleich ein derart individuell-subjektiver Zugang auf den ersten Blick der in vielen unterrichtlichen Settings proklamierten Forderung nach einer Bewertbarkeit und Vergleichbarkeit nicht nachkommt, schaffen gerade rezeptionsästhetische Konzepte, wie der handlungs- und produktionsorientierte Literaturunterricht, der längst Eingang in die Lehrpläne verschiedener Schulformen gefunden hat, eine Anbindung (vgl. Spinner 2010a, 314). Spinner (2010a, 311) beschreibt den handlungs- und produktionsorientierten Literaturunterricht als „methodischen Ansatz, bei dem sich die Schülerinnen und Schüler gestaltend, d. h. weiter- und umschreibend, Textstellen ergänzend, Textmuster imitierend, malend, vertonend und szenisch spielend mit Literatur beschäftigen“. Ein Beispiel bietet das in der Theaterpädagogik entstandene Konzept der szenischen Interpretation, das sich augenscheinlich aufgrund seiner Nähe zu Formen des szenischen Rollenspiels auch auf das Pen-and-Paper-Rollenspiel übertragen lässt (vgl. Kap. 1.2 u. Kap. 2.1). Dass das szenische Spiel als handlungsorientierte Methode gleichzeitig eine intensive Auseinandersetzung erfordert, merkt auch der Theaterpädagoge Ingo Scheller (2016 [2004], 27) an, der produktive Verfahren vor allem als Anregung begreift, „Leer- und Unbestimmtheitsstellen in literarischen Texten […] in der Vorstellung zu komplettieren und zu inszenieren“. Das Pen-and-Paper-Rollenspiel scheint sich aufgrund seiner kommunikativen Eigenschaften, inklusive seiner zusammenlaufenden Rezeptions- und Produktionsprozesse, gerade für einen derart handlungsorientierten Zugang anzubieten und knüpft außerdem an die individuelle und soziale Bedeutsamkeit eines literarischen Handlungsfeldes an: Es erlaubt die individuelle Sinnbildung, lässt eine involvierende Rezeptionshaltung zu und schafft darüber hinaus die Möglichkeit, sich sowohl während 1
Der Begriff ‚Literaturunterricht‘ soll in dieser Arbeit möglichst weit und weniger auf Basis institutioneller Faktoren definiert werden, sondern prozessual gefasst werden (vgl. Kap. 9). Abraham führt den Begriff der poetischen Kompetenz ein, um zu verdeutlichen, dass literarische Kompetenz nicht nur mit Hilfe der Printmedien fördern könne, sondern „dass ,Literatur‘ am Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts eine breitere Medienbasis hat“ (Abraham 2008a [2005], 20). Als Teilbereiche dieser Kompetenz definiert er die „literarische Rezeptionskompetenz“, die „literar-ästhetische Kompetenz“ sowie die „literarische Handlungskompetenz“ (vgl. Abraham 2008a [2005], 21).
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als auch nach dem Erzählprozess gemeinsam mit den anderen Teilnehmenden über ihre subjektiven Vorstellungen und das Verständnis der narrativen Darstellung auszutauschen. Notwendige Voraussetzung, um das Pen-and-Paper-Rollenspiel für das literarische Lernen nutzbar zu machen, ist der Rückgriff auf einen erweiterten Literarizitätsbegriff, der allen Medien literar-ästhetisches Potenzial zuweist. Dieses Potenzial wurde durch die Möglichkeit des Nachvollzugs literarischen Verstehens in Kapitel 6 nachgewiesen, besonders durch den Rezeptionseffekt der ästhetischen Illusionsbildung, der sich im Vollzug des Pen-and-Paper-Rollenspiels einstellen kann. Es wurde bisher jedoch nur begrenzt auf konkrete Fähigkeiten hingewiesen, die während des Pen-and-Paper-Rollenspiel in Bezug auf literarische Lernprozesse gefördert werden können. Daher soll im Folgenden das literarische Verstehen in einem Modell literarischer Bildung verortet und daraus Teilbereiche des literarischen Lernens im Rollenspiel spezifiziert werden. Als Grundlage für eine solche Modellierung bietet sich das Bochumer Modell literarischen Verstehens an (Abb. 9) (vgl. Boelmann und Klossek 2013; Boelmann et al. 2020, Boelmann und König 2021), das bereits für verschiedene Medien nutzbar gemacht wurde (vgl. Boelmann 2015, 64). Grundannahme des Modells ist einerseits, dass literarisches Verstehen ein von der Lesekompetenz abzugrenzender Prozess ist, der innerhalb der Rezeption eines literarischen Textes eintritt (vgl. Boelmann und König 2021, 12). Dieses Verstehen umfasst einen Verarbeitungsprozess, der durch verschiedene Faktoren beeinflusst wird, die insbesondere die kognitive und affektive Erschließung der rezipierten Strukturen betreffen. Daran schließt ein produktiver Schritt an, der die Darstellung des Verstandenen erfasst und somit im Sinne einer produktiven Didaktik nicht nur das reine Verstehen anstrebt, sondern ebenfalls dessen Reflexion, indem „die Bedingungen ihres Zustandekommens […] transparent gemacht werden“ (Abraham 2010, 13). Das Modell macht auf die Komplexität des literarischen Verstehens aufmerksam, speziell auf das Zusammenspiel kognitiver und affektiver Prozesse, sowie auf die unterschiedlichen Anforderungen, die verschiedene literarische Gegenstände an die Rezipierenden stellen (vgl. Boelmann und König 2021, 22‒23). Es begreift das literarische Verstehen in enger Verbindung zur literarischen Bildung, die gleichzeitig Ziel wie Grundlage dieses Verstehens ist, „da literarisches Verstehen zum Aufbau literarischer Bildung beiträgt, diese aber wiederum notwendig ist, um literarisches Verstehen zu realisieren“ (Boelmann et al. 2020, 4). Das Modell zeigt weiterhin, dass jedes literarisches Verstehen zugleich ein Lernprozess ist, der „dem Aufbau einer umfassenden literarischen Bildung zuträglich ist“ (Boelmann et al. 2020, 4). Das Modell legt folglich eine Konzeption literarischer Lernprozesse zugrunde, die entgegen anderer fachdidaktischer Ansätze literarisches Lernen nicht zentral in der Schule verortet (vgl. u. a. Büker 2012 [2002]), sondern es als gleichrangig gegenüber anderen Umgangsformen mit literarischen Gegenständen betrachtet, die sich in
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Literarisches Verstehen Literarisches Lernen Literarischer Gegenstand
Literarische Bildung primär affektiv Emotiv / Motivational
primär kognitiv Wissen (deklarativ)
Können (prozedural)
Bewusstheit (metakognitiv)
Literarische Kompetenz Literarische Performanz
Abb. 9: Das Bochumer Modell literarischen Verstehens (Boelmann und König 2021, 11).
verschiedenen soziokulturellen Kontexten manifestieren können. Das literarische Lernen selbst, dessen Voraussetzung nach Büker (2012 [2002], 122) „die literarische Sozialisation im Kindesalter“ ist (verstanden als Ausdruck eines erweiterten Literaturbegriffes, der Teil einer Mediensozialisation ist), setzt sich aus verschiedenen Teilbereichen zusammen, die Spinner (2006; 2010b) mit seinen elf Aspekten literarischen Lernens präzisiert hat. Auch diese Konzeption sieht das literarische Lernen nicht als „unverbundene Aneinanderreihung von Lernzielformulierungen“ (Spinner 2006, 7), sondern als eine „progressive Systematik“ (Maiwald 2015, 87) an, was seine Verortung auch außerhalb schulischer Bildungsprozesse ausdrücklich erforderlich macht. Als wichtigsten „Bedingungsfaktor“ (Boelmann und König 2021, 9) der literarischen Lernprozesse betrachtet das Bochumer Modell die literarische Kompetenz, die sich als Teilbereich einer literarischen Bildung manifestiert. Vor allem im Rahmen der PISA-Debatte entwickelte sich nicht nur in der Deutschdidaktik die Forderung nach verbindlichen Kompetenzen und Standards in allen Schulstufen und -formen, die bestimmte Leistungsniveaus definieren und gleichzeitig eine Überprüfung anhand messbarer Erwartungen festlegen. Während die Sprachdidaktik aufgrund umfassender diagnostischer Verfahren an die von der Kultusministerkonferenz festgelegten Bildungsstandards anknüpfen konnte (vgl. Abraham 2018, 391), herrschte in der Literaturdidaktik Unstimmigkeit über die Etablierung des Begriffs literarische Kompetenz, vornehmlich deshalb, weil die Messbarkeit einer derartigen Kompetenzentwicklung mittels psychometrischer Testverfahren schwierig erscheint (vgl. Abraham 2018, 393).3 Es bildeten sich infolgedessen ver-
Gleichzeitig mahnen Stimmen aus der allgemeinen Bildungswissenschaft vor überzogenen Erwartungen der Leistungsmessung (vgl. Abraham 2018, 393), nicht nur deshalb, weil derart starre
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schiedene Definitionen des Kompetenzbegriffs heraus (vgl. Boelmann 2015, 59). Neuere Ansätze plädieren oft für eine transparentere Auslegung des Begriffs, die es ermöglicht, Probleme im Lernprozess diagnostisch aufzuspüren und daraus individualisierte Lernarrangements für Schüler/-innen zu schaffen (vgl. Schilcher und Pissarek 2013, 9–10). Kompetenz wird hier als „prozessuale, transferierbare Fähigkeiten, die dazu dienen, Verstehensprozesse zu vertiefen“ (Schilcher und Pissarek 2013, 30), begriffen. An diesen verarbeitungsbezogenen Ansatz knüpft das Bochumer Modell literarischen Verstehens mit seiner Kompetenzdefinition an: Kompetenz wird definiert als komplexes, auf kognitiven Strukturen der Domänen Wissen, Können, Bewusstheit aufbauendes und diese miteinander verbindendes Konstrukt, das in seiner Struktur zugleich operationalisierbar, modellierbar, skaliert messbar und auf andere Gegenstände übertragbar ist, und deren performative Ausprägung von weiteren Bedingungsfaktoren beeinflusst wird. (Boelmann et al. 2020, 9)
Die Domänen Wissen, Können und Bewusstheit verweisen auf kognitive Prozesse, die im literarischen Verstehen aktiviert werden. Literarische Kompetenz setzt sich im Modell aus sechs Grundkompetenzen zusammen, die sich wiederum in weitere Niveaustufen (subsumiert unter den Begriffen „Identifizieren“, „Analysieren“ sowie „Abstrahieren und Reflektieren“; Boelmann und Klossek 2013, 56) und Durchdringungsstufen unterteilen. Bei der Analyse möglicher literarischer Lernprozesse im Pen-and-PaperRollenspiel, die sich durch das literarische Verstehen ergeben, stellt sich die Ausarbeitung detaillierter Kompetenz- und Niveaustufen als verfrüht dar, da in der vorliegenden Arbeit bisher wenig über die konkreten literarischen Lernprozesse gesagt wurde, die das literarische Verstehen im Erzählprozess begleiten. In Kapitel 6 wurde bereits ein Bezug zu literarischen Verstehensprozessen hergestellt und diese vor allem unter kognitiven und rezeptionstheoretischen Aspekten betrachtet. Die Anbindung an das Bochumer Modell literarischen Verstehens bietet sich hier an, da es literarische Bildung im Rahmen kognitiver und affektiver Verstehensprozesse fasst. Auch die literarische Performanz, die das Modell vornehmlich als „Manifestation des Verstehensprozesses in einer konkreten mündlichen, schriftlichen oder anders gearteten Äußerung“ (Boelmann et al. 2020, 5) versteht, knüpft an die Kommunikationsstruktur des Pen-and-Paper-Rollenspiels an. Da das Bochumer Modell hierbei die Performanzprozesse, die innerhalb der Produktionsorientierung vollzogen werden, als optionale Darstellung des Verstandenen begreift, sind diese dem Rollenspiel selbst
Kompetenzstandards in einigen Schulformen und -stufen Begriffen wie Inklusion und Heterogenität entgegenlaufen (vgl. Brand 2016, 90). Gleichzeitig werden die Bildungsstandards, insbesondere mit Blick auf die unterschiedlichen theoretischen Zugänge zum Gegenstand Literatur und Didaktik, von einigen Seiten als stark normierend aufgefasst (vgl. Abraham 2018, 392).
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eingeschrieben. Ohne das aktive Handeln der Beteiligten, also ihre bewusste und direkte Auseinandersetzung mit dem Rezipierten, ist der Erzählprozess im Spiel nicht möglich. Dies lässt den performativen Aspekt, der für eine Integration in ein schulisches Lehr- und Lernformat unumgänglich ist, weniger konstruiert erscheinen, da Rezeption und Produktion nicht deutlich voneinander getrennt sind. Im Folgenden sollen nun unter Rückgriff auf die bereits erarbeiteten Erkenntnisse über den Verstehens- und Erzählprozess zentrale Teilbereiche des literarischen Lernens, die das literarische Verstehen im Pen-and-Paper-Rollenspiel begleiten, identifiziert werden. Diese formieren sich zu großen Teilen unter den Grundkompetenzen der Erzählung sowie der Erzählinstanz, wie sie im Bochumer Modell literarischen Verstehens definiert werden (vgl. Boelmann et al. 2020, 9).
7.1 Grundaspekt Erzählen Die Teilbereiche Erzählung und Erzählinstanz sind im Bochumer Modell literarischen Verstehens als grundlegende Analysekompetenzen zu verstehen (vgl. Boelmann et al. 2020, 10). Sie umfassen in ihrer Ausdifferenzierung ein Identifizieren, Deuten und Reflektieren von Erzählinstanzen4 gemäß spezifischen Vermittlungsformen (Perspektive; Redeformen) sowie die Unterscheidung zwischen diesen Instanzen und den realen Autor/-innen des literarischen Textes (vgl. Boelmann et al. 2020, 19). Anschlussfähig an diesen die Vermittlung und Kommunikationssituation betreffenden Kompetenzbereich ist der auf die inhaltlichen Merkmale bezogene Aspekt „Narrative und dramaturgische Handlungslogik im thematischen Zusammenhang verstehen“ (Boelmann et al. 2020, 12). Im Modell umfasst dieser das Verstehen und Wiedergeben von Inhalten sowie das Erkennen der kausalen und dramaturgischen Zusammenhänge innerhalb einer Erzählhandlung (vgl. Boelmann et al. 2020, 12). Diesen Teilbereich greift auch Spinner in seinen elf Aspekten literarischen Lernens auf: Literarische Texte zeichnen sich dadurch aus, dass ihre einzelnen Elemente in einen funktionalen Zusammenhang eingebunden sind. Bei erzählenden und dramatischen Texten spielt dabei die äußere und innere (auf Motivationen und Einstellungen der Figuren bezogene) Handlungsentwicklung eine besondere Rolle. Für das literarische Verstehen bedeutet das, dass immer wieder Verknüpfungen hergestellt werden müssen, z. B. bei der Deutung des Verhaltens einer Figur im Rückgriff auf vorangehende Textstellen, die die Handlungsmotivation erhellen. Eine einfachste Form eines solchen Zusammenhangs, der schon dem kleinen Kind einsichtig wird,
Diese Identifikations-, Interpretations- und Reflexionstätigkeiten bilden die Grundlage für eine tiefere Art der Auseinandersetzung mit den im narrativen Text präsentierten figuralen und narratorialen Perspektiven, die Grundlage für die Perspektivübernahmesein können. Dieser Aspekt soll in Kapitel 7.4 thematisiert werden.
7.1 Grundaspekt Erzählen
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ist die Strafe, die eine böse Figur im Märchen am Schluss für ihr Verhalten erleidet. Literatur, die für das Verstehen höhere Ansprüche stellt, zeichnet sich u. a. dadurch aus, dass die handlungslogischen Zusammenhänge stärker auf der Ebene differenzierter innerer Prozesse angesiedelt sind (in der Kinder- und Jugendliteraturforschung spricht man vom psychologischen Roman, der für die jüngsten Entwicklungen typisch ist und der entsprechende Leseanforderungen stellt). Selbst da, wo in modernen und postmodernen Werken der Erwachsenenliteratur eine nachvollziehbare Handlungslogik kaum mehr erkennbar ist, wie in manchen Texten von Franz Kafka oder Samuel Beckett, ist eine handlungslogische Erwartungshaltung des Lesers die Voraussetzung, dass die beabsichtigte Irritation bei ihm ankommt. (Spinner 2010b, 101)
Der Begriff der Handlungslogik impliziert die Prozesse der Kontextualisierung, die sich im narrativen Verstehen durch den Rückgriff auf innertextuelle und außertextuelle Informationen manifestieren (vgl. Kap. 6.1). Diese Kontextualisierung, die fortlaufend während der Rezeption geschieht, betrifft nicht nur das Herstellen von Kausalität zwischen den dargestellten narrativen Ereignissen, sondern sorgt auch für die Konsistenz (vgl. Kap. 6.1.1) der jeweiligen storyworld, die die Basis für eine mögliche Kausalität bildet. Der funktionale Zusammenhang, den Spinner den Elementen eines literarischen Textes zurechnet, wird jedoch nicht nur durch die Strukturen einer Handlung und die unmittelbar handlungsgenerierenden Bewusstseinsstrukturen der Figuren („Handlungsmotivation“; Spinner 2010b, 101) konstruiert, sondern auch durch thematische Zusammenhänge, auf die das Bochumer Modell ebenfalls verweist (vgl. Boelmann et al. 2020, 12, Boelmann und König 2021, 203). Aus diesem Grund erscheint es sinnvoll, unter die inhaltlichen Aspekte einer Erzählung auch weitere ordnungsstiftende Strukturen, wie semantische und thematische Elemente, die sich unmittelbar auf den Erzählinhalt beziehen, zu fassen. Diese Einschätzung wird durch literaturdidaktische Positionen gestützt, die sich an den semiotischen Positionen Lotmans orientieren und narrative Ereignishaftigkeit mit dem Überschreiten semantischer Räume in Verbindung setzen (vgl. Kap. 5.2.1.1). So verweist zum Beispiel Schilcher (2013, 210) in ihren Ausführungen zur Teilkompetenz „Handlungsverläufe beschreiben und interpretieren“ auf die Fertigkeit, durch „Grenzüberschreitungen zwischen topographischen Räumen (Textoberfläche) auf die Semantik des Textes (Tiefenstruktur) schließen“ sowie auf Ordnungsmerkmale strukturierter Weltmodelle (vgl. Schilcher 2013, 210). Auch Karla Müller (2013, 94) bezieht sich in ihren Ausführungen zur Teilkompetenz „Grundlegende semantische Ordnungen erkennen“ auf spezifische Textsignale, die im Identifizieren und Deuten semantischer Ordnungen auf narrative Darstellungen übertragbar sind, so zum Beispiel normabweichendes Verhalten einer Figur und oppositionell angeordnete Schauplatz- oder Figurenkonstellationen. Für das Pen-and-Paper-Rollenspiel ist das Identifizieren und Reflektieren dieser narrativen Gestaltungen bedeutsam, jedoch weniger im Sinne einer Analyse, die diese Tätigkeiten in der Performanz auf das Wiedergeben der Narration und/oder
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7 Pen-and-Paper-Rollenspiele und literarisches Lernen
das Herausarbeiten spezifischer Gestaltungsformen anhand konkreter narratologischer Fachbegriffe beschränkt,5 als vielmehr mit dem Ziel, die Herausforderungen in Rezeption und Produktion, die der Erzählprozess bereithält, zu bewältigen. Das literarische Verstehen steht folglich in enger Beziehung zu der eigenen literarischen Performanz, die erforderlich ist, um sich am Erzählen im Pen-and-Paper-Rollenspiel zu beteiligen. Die eigene Performanz ist somit eng an die konkreten kognitiven und affektiven Verarbeitungsprozesse gebunden, die sich in der Rezeption ergeben. In Anlehnung an die narratologische Konzeptualisierung (vgl. Kap. 5‒6) lassen sich folgende Kategorien benennen, die das Erschließen und Reflektieren im Umgang mit den Herausforderungen des Erzählprozesses umfassen (Abb. 10 u. 11):6 Kategorie Kommunikation/Vermittlung Erzählkommunikation
– –
Erzählperspektive und Erzählposition
– –
Wissens- und Informationsvergabe
– – –
Zuordnung kommunikativer Äußerungen in einen fiktionalen frame (vgl. Kap. 7.2) Bewusstsein über die mögliche Trialogizität des Kommunikationsprozesses, einhergehend mit der basalen Unterscheidung zwischen Figur, Erzählinstanz und Teilnehmer/-in Unterscheidung verschiedener Erzählinstanzen mit unterschiedlichen Perspektiven und Positionierungen zum Erzählten. Erkennen verschiedener Perspektivmarker und Zuordnung zu jeweiligen Erzählinstanzen Trennung des Wissens zwischen Teilnehmer/-in und Figur Bewusstsein über subjektive Wissensbestände, die Teilnehmer/innen über Figuren besitzen können Bewusstsein über unterschiedliche Wissensbestände zwischen den Figuren
Präsentation von Rede und mentalen Prozessen
– –
Unterscheidung zwischen narratorialer und figuraler Rede Unterscheidung zwischen figuraler Rede und Gedankenrede und der damit verbundenen Wissensdifferenz verschiedener Figuren
Zeit
–
Unterscheidung verschiedener, möglicher Zeitebenen und -strukturen (insbesondere simuleptische Formen, die eng mit der Wissens- und Informationsvergabe in Verbindung stehen)
Abb. 10: Aufstellung der narrativen Herausforderungen des Erzählprozesses im Pen-and-PaperRollenspiel, Kategorie Kommunikation/Vermittlung (eigene Darstellung).
Auf diese vornehmlich auf den Erwerb von fachlichem Wissen zielende Konzeption verweisen ausführlich Leubner und Saupe (2017) in ihrer Monografie Erzählende Texte im Literaturunterricht. Diese Kategorisierung soll nicht mit der Entwicklung von kompetenzbezogenen Niveaustufen verwechselt, sondern generell als bestimmte Herausforderungen verstanden werden, die sich innerhalb der Rezeption von Rollenspielerzählungen ergeben können. Die Kategorien orientieren sich an den in Kapitel 5 versammelten Strategien des Erzählens.
7.1 Grundaspekt Erzählen
291
Kategorie Erzählinhalt Handlungs- und Ereigniskonstitution
–
– – – – Semantische Ordnung
–
– Figuren
– –
Raum
– –
Kontextualisierung narrativer Informationen mittels intra- und extratextueller Wissensbestände, eingeschlossen Interferenzen zu deiktischen Parametern (vgl. Kap. 7.3) Erkennen kausaler Zusammenhänge zwischen narrativen Ereignissen Abwägen der Relevanz narrativer Ereignisse Identifikation genrebezogener Handlungslogiken Überführung handlungsrelevanter ludischer Ereignisse in einen narrativen Deutungsrahmen Erkennen grundlegender oppositioneller Anlagen innerhalb der fiktionalen Weltkonstruktion anhand narrativer und ludischer Elemente Aufdecken zentraler Themen und Isotopien Überführung ludischer Figureneigenschaften in einen narrativen Deutungsrahmen Handlungsmotivationen der Figuren erkennen und auf figurale Bewusstseinsvorgänge zurückführen (vgl. Kap 7.4) Unterscheidung zwischen ludisch-funktionalen und narrativen Elementen der Raumbeschreibung Deuten einer Raumbeschreibung als Hinweis auf die semantische Ordnung
Abb. 11: Aufstellung der narrativen Herausforderungen des Erzählprozesses im Pen-and-PaperRollenspiel, Kategorie Erzählinhalt (eigene Darstellung).
Wenngleich diese Kategorien Spielräume für mögliche literarische Lernprozesse im Pen-and-Paper-Rollenspiel bereithalten, die sich aus den verschiedenen Herausforderungen bei der narrativen Rezeption ergeben, ist ein alleiniger Fokus auf die Verarbeitungsprozesse zu kurz gegriffen. Notwendig ist darüber hinaus die Betrachtung der Performanz- oder Produktionsaspekte, die sich dieser Verarbeitung anschließen. Das Bochumer Modell bezieht sich nur wenig auf produktionsbasierte Anknüpfungsformen der relevanten Grundkompetenzen, die die Ebene der Bewertung und Reflexion überschreiten. Lediglich im Fall der narrativen und dramaturgischen Handlungslogik wird auf die „Logik der Geschichte weiterdenken/antizipieren“ (vgl. Boelmann et al. 2020, 12) verwiesen. Diese Randständigkeit konkreter Teilbereiche der literarischen Produktion ist nicht untypisch für die Modelle literarischen Lernens (vgl. Abraham 2015, 9; Maiwald 2015, 87), da diese zumeist auf der Ebene der rezeptionalen Verarbeitungsprozesse verharren. Da die performativen Prozesse im Pen-and-Paper-Rollenspiel jedoch notwendig sind, müssen weitere fachdidaktische Ansätze konsultiert werden, die das Erzählen unter Berücksichtigung seiner Produktionsbedingungen betrachten.
292
7 Pen-and-Paper-Rollenspiele und literarisches Lernen
Anknüpfungspunkte bieten in diesem Kontext die sprachwissenschaftlichen Theorien zum Erzählerwerb und zur Erzählkompetenz. Diese begreifen narrative Strukturen als Brücke zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit (vgl. Olhus 2014, 216) und definieren die Erzählkompetenz als „Grad, zu dem die relevanten sprachlichen Anforderungen und sprachlichen Handlungen innerhalb eines mündlichen oder schriftlichen Diskurses angemessen eingelöst werden“ (Becker 2017, 336). Als Teil einer allgemeinen Gesprächskompetenz (vgl. Becker 2017, 336) lässt sich die Entwicklung der Erzählkompetenz als „Entwicklung von der Bewältigung lokaler sprachlicher Aufgaben“ bis zur „Bewältigung globaler Aufgaben, bei welchen die Erzählung in ihrer Gesamtstruktur gesehen wird“ (Becker 2017, 341), charakterisieren. Die Ausbildung dieser Kompetenz beginnt bereits im Kindesalter, was durch einige Studien zum mündlichen Erzählen belegt werden kann (vgl. Becker 2005; Quasthoff und Kern 2005). Hier lässt sich feststellen, dass das mündliche Erzählen ein Prozess ist, der innerhalb der Interaktion zwischen Hörenden und Produzierenden der Erzählung abläuft (vgl. Quasthoff und Kern 2005, 16). Gerade Kinder greifen zum einen – sofern sie Erwachsenen etwas erzählen – auf interaktionale Hilfestellungen zurück, um die zum Erzählen zugehörigen Aufgaben („thematising, elaborating, resolving, etc“; Becker 2005, 94) zu realisieren, bei denen sie mitunter noch Schwierigkeiten haben (vgl. Becker 2005, 101). Zum anderen lassen sich verschiedene mündlich-narrative Genres identifizieren (vgl. Olhus 2011, 232), die sowohl verschiedene Erzählanlässe bieten als auch auf verschiedene Mechanismen der erzählerischen Konstruktion zurückgreifen (vgl. Becker 2005, 107). Die Sprachwissenschaft unterscheidet zwischen den narrativen Genres der Alltagserzählung, in der Beteiligte ihre eigenen Erlebnisse nacherzählen, und der Phantasiegeschichte (vgl. Becker 2005, 98; Quasthoff und Kern 2005, 29), die eine Form des fiktionalen Erzählens darstellt. Wenngleich im Falle der Untersuchung kindlicher Erzählprozesse diese alleinige Differenzierung zwischen faktualen Erzählungen, die sich auf die Lebenswirklichkeit der Kinder beziehen, und fiktionalen, erfundenen Erzählungen ausreicht, ist gerade das Spektrum letzterer Formen mit einem erweiterten Blick auf das mündliche Erzählen zu eng. Nach Fludernik umfassen fiktionale Ausprägungen des mündlichen Erzählens ein Spektrum an narrativen Genres, beginnend mit spontanen Gesprächsnarrationen über institutionalisierte mündliche Formen im oral-kulturellen Kontext bis hin zur oral poetry (vgl. Fludernik 2011), also Formen eines poetischen Erzählvortrags. Wie die Ausführungen zur Kommunikation im Pen-and-Paper-Rollenspiel gezeigt haben (vgl. Kap. 4), verortet es sich in ebendiesem Zwischenbereich und weist Verbindungen zu spontaneren Ausprägungen des Erzählens auf. Dieser erweiterte Blick auf fiktional-mündliche Erzählformen eignet sich vor allem deshalb, da nach Auffassung der Erzählerwerbsforschung die fiktionale Phantasieerzählung durch schriftlich-literarische Formen des Erzählens beeinflusst
7.1 Grundaspekt Erzählen
293
wird (vgl. Olhus 2011; Olhus 2017, 84). So heben die sprachwissenschaftlichen Studien zum Erzählerwerb von Kindern die teils divergierenden Fähigkeiten im fiktionalen und faktualen Erzählen hervor (vgl. Becker 2005, 104; Dehn et al. 2014) und weisen anhand der Entwicklung von Phantasiegeschichten den Rückgriff auf narrative Repertoires nach, die an das schriftliche Erzählen andocken (Wörtliche Rede/ Tempusgebrauch; vgl. Olhus 2011, 243–244; Erzählphrasen; vgl. Becker 2005, 104–105). An diese Beobachtungen knüpfen Dehn et al. an, indem sie das mündlich-fiktionale Erzählen eng an bereits rezipierte fiktionale Texte binden: Narration draws on story repertoires of heard, read or seen stories, of character groups, plot models, and patterns of text and genre. Propp ([1928] 1968) described a repertoire of characters and functions limited to a corpus of 100 Russian fairy tales. For children, the limit to the number of such functions, as Propp delineated them (e.g. hero, villain, magical agent or helper), and the way they can be applied to other types of fictional text helps them to learn. If a child aged three-and-half can have a Christmas story read to him from a picture book and say at the end, „There’s no baddie in it“, that shows just how early childhood attention can pertinently direct itself to such models – in this case, characters – and draw lessons from them, assuming, of course, that the child has the opportunity to learn this kind of „story repertoire“. Such a repertoire comprises oral and written narratives as well as films. (Dehn et al. 2014)
Im Erzählprozess verweisen derartige narrative Repertoires sehr deutlich auf die narrativen Vorerfahrungen der Erzählenden, scheinen jedoch in Gestalt einer narrativen Praktik innerhalb eines abstrakten Schemawissens präsent zu sein, das selektiv nach Wunsch der Produzierenden (vgl. Dehn et al. 2014) oder je nach spezifischem Kontext (vgl. Olhus 2017, 78) eingebracht und angepasst werden kann. Die sprachwissenschaftliche Erzählerwerbsforschung greift nicht nur die prozessualen Merkmale des mündlichen Erzählvorgangs auf, sondern ebenso strukturelle Faktoren, die das Erzählen kennzeichnen. So differenziert Sören Olhus (2011; 2017) in der Erzählkompetenz zwischen den drei Teilaspekten Kontextualisieren, Vertexten und Markieren, die im mündlichen Erzählen geleistet werden müssen. Kontextualisieren meint die Einbettung der Erzählung in einen gegebenen oder zu schaffenden Kontext (vgl. Olhus 2014, 218–219). Im Falle der spontanen Konversation bezieht sich dies auf eine sequenzielle Einbettung in das laufende Gespräch, in Bezug auf institutionalisierte Formen des Erzählens schließt es auch rahmende Faktoren (zum Beispiel Einleitungen, Adressierungen usw.) mit ein. Mit der Vertextung ist die Fähigkeit gemeint, „einen Text kohärent zu organisieren und sich dabei an den Strukturen der jeweiligen Textsorte zu orientieren“ (Olhus 2014, 219). Im Kontext erzählstruktureller Elemente betrifft dies eine mögliche Orientierung an Komplikationsmodellen (vgl. Dehn et al. 2014), wie sie beispielswiese Gerhard Augst strukturell als „Einleitung – Planbruch – Spannung – Pointe – Schluss“ (Augst 2010, 65) definiert. Augst wie auch Olhus (2017, 81) verweisen neben diesen eher temporalen Situierungsmustern auch auf räumliche Verfahren, wie eine Form
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der „Weltausbreitung“ (Augst 2010, 83), die über die reine Handlungsstruktur hinaus gehen und die statischen Elemente einer storyworld betreffen (vgl. Ryan 2013b, 364). Neben diesen Gestaltungsformen, die vor allem durch die jeweiligen Sprach- und Kulturgemeinschaften geprägt werden (vgl. Olhus 2014, 218) und Ausdruck narrativer Repertoires sind, auf die die Produzierenden zurückgreifen (vgl. Dehn et al. 2014), lassen sich unter dem Aspekt der Vertextung ebenfalls die grundlegenden narrativitätsbestimmenden Eigenschaften der Experientialität sowie der Erzählwürdigkeit (tellability) fassen (vgl. Dehn et al. 2014; vgl. auch Kap. 5.1). Die Markierung umfasst letztlich die explizierte Kontextualisierung sowie Vertextungsstrukturen mittels sprachlicher, gestischer und mimischer Marker (vgl. Olhus 2014, 220). Dies betrifft die Platzierung von „Diskursmarkern und Konnektoren (zum Beispiel > plötzlich < zur Markierung des Planbruchs) sowie etwa die Verwendung von Redewiedergabe und historischem Präsens zur Markierung des szenischen Erzählmusters“ (Olhus 2017, 81), die Rezipierenden vermitteln, dass die vollzogene Kommunikationshandlung mit Hilfe des Makroschemas des Narrativen (vgl. Wolf 2002, 42) zu interpretieren ist. Überträgt man diese drei Teilbereiche auf das Pen-and-Paper-Rollenspiel, muss bedacht werden, dass die erzählerische Kommunikation gemeinsam vollzogen wird und sich somit weitere Herausforderungen für die mündliche Erzählung ergeben. Für den Teilbereich der Kontextualisierung bedeutet dies, dass es in Bezug auf die allgemeine Gesprächshandlung nicht nur relevant ist, die Erzählinteraktion sequenziell einzubetten, sondern auch innerhalb des turn-takings auf die Erzählhierarchie zu achten. Vor allem Spielleitenden kommt die Aufgabe hinzu, die Erzählreihenfolge unter Umständen festzulegen und Beiträge der einzelnen Beteiligten aufzugreifen und zu werten. Dies ist in den Momenten des Spiels notwendig, in denen mehrere Teilnehmende aufgefordert sind, einen Erzählbeitrag zu leisten, wie im folgenden Beispiel, in dem die Spielfiguren der Teilnehmenden beschrieben werden sollen, deutlich wird: S5: Pathfinder 2 S5.1: Einstieg SL:
Th:
Jetzt wo (.) ihr euch auch alle so ein bisschen an das Licht gewöhnt habt (.) ähm könnt ihr euch alle einmal (.) beschreiben für eure Mitspieler (.) wie ihr so ausseht. Wir fangen einfach bei Kai an Kay. Okay. Ä:h Kay so ein k:leiner Junge würde man sagen, er hat so ein bisschen abgetragene Kleidung, so verwuschelte braune Haare. (.) Äh (.) sieht im Moment aus als alles furchtbar spannend finden würde und das ist ja so toll dass man hier ist also (.) ähm (1.0) er lächelt
7.1 Grundaspekt Erzählen
SL:
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auch stumpf alle an, auch wenn sie böse gucken, und äh ja. (1.0) Viel gibt es über ihn nicht zu sagen >er hat keine Schuhe an.< ((Im Aufstehen, holt sich einen Pullover)) Okay. Dann machen wir bei Lucian gleich weiter. 00:26:25–00:27:09
Nachdem er die Erzählreihenfolge festgelegt hat, sieht sich der Spielleiter (SL) in diesem Beispiel mit der Aufgabe konfrontiert, die Redesequenz zu rahmen sowie den Übergang in einen anderen frame der Kommunikation zu initiieren. Spielleitenden kommt neben der Kontextualisierung somit eine moderierende Aufgabe zu (vgl. Herbrik 2011, 21). Auf lokaler Ebene bedeutet Kontextualisierung jedoch auch die Herstellung eines common ground, der die Grundlage für die konstruierte intersubjektive storyworld bietet. Wie in Kapitel 6.1 beschrieben, beinhaltet dieser einen kontextualen frame (vgl. Emmott 1997, 160–161), der gemeinsam von den Beteiligten geschaffen wird. Diesen frame aufrechtzuerhalten, ist Aufgabe aller Beteiligten und gleichzeitig Ausgangspunkt für das gemeinsame Erzählen. Für die Ebene der Vertextung lässt sich konstatieren, dass das gemeinsame Erschaffen einer Erzählung mit verschiedenen Erzählrechten einhergeht. Im Rahmen ihrer agency übernehmen die Teilnehmenden im Pen-and-Paper-Rollenspiel Aufgaben, um die gemeinsame Erzählung zu vertexten. In der Rolle der Spielenden beziehen sich diese Aufgaben auf das Ausspielen ihrer Figuren in Rückgriff auf Vertextungsmuster und Repertoires, die die narrative Figurenkonstitution betreffen. Für die entstehende storyworld zielt dies auf ein ereigniskonstituierendes Handeln und auf die Entwicklung eines Figurenbewusstseins, das das interpersonale Netzwerk innerhalb der storyworld mitkonstruiert. Spielleitende, die auch Figuren in Gestalt von Nicht-Spieler/-innen-Charakteren in die storyworld integrieren können, übernehmen des Weiteren die Rolle einer rahmenden Instanz bei der Vertextung von Handlungsfolgen auf räumlicher und zeitlicher Ebene. Dies betrifft die Ordnung einer narrativen Handlung (vgl. Schmidt 2012, 238) sowie die Darstellung und Gestaltung der fiktiven Welt, in der diese Handlung stattfindet. Markierungen orientieren sich in vielen Fällen an konventionellen Formen des mündlichen Erzählens, so zum Beispiel, wenn ein Planbruch mittels des Adjektivs „plötzlich“ (vgl. Augst 2010, 78; sowie Kap. 5.2.1.1) eingeleitet oder Figurenrede genutzt wird (vgl. Augst 2010, 84; sowie Kap. 5.1.4.1). Notwendig sind diese Markierungen vor allem, weil sie den narrativen Verstehensprozess und die damit zusammenhängenden Herausforderungen im Erkennen und Reflektieren narrativer Gestaltungsformen bedingen und im gemeinsamen Erzählprozess Irritationen und Störungen verhindern können. Derartige Strategien umfassen beispielsweise die Markierung von Figurenrede mittels Stimmlichkeit, die Kennzeichnung von Gedan-
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kenrede und damit zusammenhängendem Figurenwissen sowie zeitliche und räumliche Parameter der Deixis. Das folgende Beispiel verdeutlicht eine solche Herausforderung, die sich vor allen Dingen auf die Anschlusshandlung einer Spielerin bezieht: S2: Dieselpunk S2.1: Einstieg He:
SL:
SL:
Und würde jetzt meine Blumen gießen, weil das sind meine Babys seitdem meine Frau gestorben ist. (.) Das ist eigentlich mein Lebensinhalt ((deutet mit beiden leicht gefalteten Händen auf ihre Brust)) dann würde ich mich ein bisschen um meine Blumen kümmern und dann würde ich mich (.) in meinen Ohrensessel setzen und ein gemütliches (.) Buch lesen. Genau okay. Du sitzt gemütlich in deinem Ohrensessel, liest ein Buch (.) auf einmal hörst du draußen Motorengeräusche, irgendwie fahren Autos vor, du hörst (.) Türen schlagen? Äh guckst aus dem Fenster siehst okay da kommt irgendwie jemand? Durch das Treppenhaus hörst du laute (.) äh Militärstiefel (.) die zu dir hochrennen,((El, Fr, Ga, He und Is lachen)) Und es wird an deine es wird laut und eindringlich an deine Tür geklopft.
(…) He: Okay? Muss ich jetzt handeln. ((lacht)) [((Fr, Ga und Is lachen))] SL: [Ja genau. Es hat ja] es hat [ja] laut (.) lautstark an deiner Tür äh: ge(.) geklingelt-geklopft. He: [Ja:?] Äh:m ((schaut auf das vor ihr liegende Dokument)) (1.0) ja dann würde ich jetzt nochmal (.) durch mein Guckloch in der Tür gucken und mir die Leute nochmal anschauen, 00:14:33–00:16:37 In Kapitel 5.2.1.1 wurde der dargestellten Sequenz eine hohe narrative Ereignishaftigkeit zugeschrieben, was die Spielleiterin (SL) sprachlich mit „auf einmal“ und einer lautlichen Hervorhebung der Begriffe „laut“ und „eindringlich“ markiert. Heike (He) erkennt dabei die Zustandsveränderung, rückversichert sich jedoch, ob ihre Spielfigur jetzt handeln müsse („Okay? Muss ich jetzt handeln.“). Die Spielleiterin betont nachfolgend noch einmal die Tragweite der sich ereigneten Zustandsveränderung, worauf Heike durch die Beschreibung eines Figurenhandelns reagiert. Dieses Beispiel zeigt, dass nicht nur die Markierung, sondern
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auch das Erkennen der Markierung mit spezifischen Herausforderungen verbunden ist, die vor allem die Konzeption einer adäquaten Anschlusshandlung auf diese Zustandsveränderung betrifft. Eine weitere Besonderheit der Diskursmarkierung fällt der Du-Adressierung zu: In doppeldeiktischer Form fungiert diese nicht nur als Markierung einer Vertextungsstrategie, die insbesondere auf figürliche Perspektivmarker zielt, sondern auch als Hinweis auf eine Kontextualisierungshandlung. Wird die Du-Adressierung als Adressierung der Rezipierenden begriffen, bedeutet es zugleich eine Abgabe des Erzählrechts, das die sequenzielle Einbettung nachfolgender Kommunikationsbeiträge absichert. Die Erzählerwerbsforschung geht nur begrenzt auf den Aspekt der Planung ein, der den Erzählprozess begleitet. Lediglich Olhus (2011, 240) verweist darauf, dass kindliche Phantasieerzählungen ausgedacht sind, was häufig gleichzeitig mit dem Erzählprozess vollzogen wird. Auch in der erzählerischen Kommunikation im Rollenspiel sind derartige spontane Improvisationsphasen nicht untypisch (vgl. Kap. 4.1), es wird jedoch manchmal auch direkt über das weitere Vorgehen abwägend und planend gesprochen (vgl. Herbrik 2011, 192–193). Diese Art der Metakommunikation ist für den Erzählprozess ebenfalls relevant und kann in ähnlicher Weise wie im szenischen Spiel (vgl. Spinner 2001, 7) als Ort angesehen werden, der Planung und Auswertung von Spielszenen ermöglicht. Längere erzählerische Planungssequenzen lassen sich vor allem im Spiel Fiasco erkennen, wie folgendes Beispiel zeigt: S3: Fiasco 1 S3.1: Briefsendung Ma: No: Ma: La: No: Ma: No: La: Jo: No:
Ä:h ich möchte das gerne gestalten lassen. Ja. Mhm? (2.0) Okay. (.) Okay äh können wir festlegen wo er ist. Kriegst du dann einfach den Brief? Genau das könnten wir so machen ne. Ja ich (.) ja ich ((lacht)) ((Ke und La lachen)) Mal überlegen. [Du bist ja auch ganz alleine. (unv.)] [Ja wir können ja das ja mitteilen] mit der rechten Hand oder so. [Wir haben Be- (.)] Beraterstab haben wir da. Die auch eifrig am diskutieren sind wie jetzt vorzugehen ist (.) es wurde auch schon berichtet dass äh (.) die andere Partei (.) schon einige Truppen aus-
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zusammengezogen hat, (.) äh: (.) die aber auch ä:h (.) zurzeit immer noch keine Gegenwehr darstellen würden zumindest militärisch (.) entgegen stellen. 00:25:16–00:26:03 Im Spiel Fiasco muss zu Beginn jeder Szene gemäß den Spielregeln über die Erzählrechte verhandelt werden. Zu Beginn dieser Sequenz konstatiert Matteo (Ma), dass er die Gestaltung der Szene an seinen Mitspielenden abgeben möchte („Ä:h ich möchte das gerne gestalten lassen.“). Lara (La) definiert daraufhin das zentrale Ereignis der Szene („Kriegst du dann einfach [den Brief?]“), während Noel (No) im Anschluss die narrative Kontextualisierung der Szene vornimmt. Diese betrifft sowohl die auftauchenden Figuren („Beraterstab haben wir da.“) als auch die zeitliche Verortung der Geschehnisse. Auffällig ist hier die spezifische Sprachverwendung, die diese Metakommunikation kennzeichnet. Als Teil der Kommunikation im primären frame, die auf die Erzählung im fiktionalen frame ausgerichtet ist, setzt sie sich sowohl aus alltagssprachlichen Registern („Okay. Okay äh können wir festlegen wo er ist? Kriegst du dann einfach [den Brief?]“) als auch aus szenariospezifischen Begriffen zusammen („rechten Hand“). Der Übergang in die fiktionale Kommunikation ist fließend und geschieht im Beispiel mit der letzten Kommunikationshandlung von Noel. Das Verstehen und Produzieren von Erzählungen charakterisiert sich somit als grundlegendes Konzept, das im Rahmen literarischen Lernens gefördert werden kann. Hierbei bietet besonders das gemeinsame Erzählen Herausforderungen, die den Erzählprozess betreffen, jedoch auch das eigene Verstehen und Reflektieren über das Erzählte miteinschließen. Die vorangegangenen Ausführungen zeigen jedoch, dass der alleinige Blick auf das Erzählen in Bezug auf das literarische Verstehen nicht ausreichend ist. Die narrative Darstellung selbst dient als Ausgangspunkt zur ästhetischen Illusionsbildung, die aufgrund ihrer illusionsfördernden Strategien weitere Möglichkeiten zur Aktivierung literarischer Lernprozesse bereithält. Diese sollen im Folgenden anhand der Teilbereiche „Umgang mit Fiktionalität“, „Aufdecken von Wissenskorrespondenzen und -differenzen“, „Auseinandersetzung mit populärer Kultur“ und „Empathie und Perspektivübernahme“ diskutiert werden.
7.2 Teilbereich 1: Umgang mit Fiktionalität Sowohl die Rezeption als auch die Produktion fiktionaler Erzählungen erfordert eine allgemeine Fiktionskompetenz. Bezüglich des literarischen Verstehens konstatieren Boelmann und Klossek (2013, 53), dass ohne ein grundlegendes Verständnis von Fiktionalität kein Verstehen literarischer Texte möglich sei. Tabea Becker
7.2 Teilbereich 1: Umgang mit Fiktionalität
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(2017, 339–340) bezeichnet diese Fiktionskompetenz als wichtige Entwicklungsphase bei der Ausbildung einer allgemeinen Erzählkompetenz, wobei vor allem das kindliche Rollenspiel als zentrale Erprobungs- und Simulationsinstanz für ein erstes Fiktionalitätserfahren angesehen werden kann, in dem reale Handlungsmuster generalisiert und stereotypisiert werden. Gerade im Vorschulalter haben Kinder teilweise Schwierigkeiten, im Erzählen zwischen faktualen und fiktiven Elementen zu unterscheiden, und erkunden die Grenzen zwischen diesen beiden Formen spielerisch (vgl. Dehn et al. 2014). Für das fortgeschrittene Grundschulalter ist festzustellen, dass den Kindern das fiktionale Erzählen leichter fällt, was auf die verstärkte Rezeption fiktionaler Erzählungen und dadurch potenziell angeeignete narrative Repertoires zurückzuführen ist (vgl. Dehn et al. 2014). In Bezug auf die Rezeption verortet Spinner in seinen elf Aspekten literarischen Lernens zwei zentrale Fähigkeiten im Teilbereich „Mit Fiktionalität bewusst umgehen“: Zum einen die Realitäts-Fiktions-Unterscheidung und zum anderen den Realitäts-Fiktions-Bezug (vgl. Spinner 2010b, 103). Die Realitäts-Fiktions-Unterscheidung bezieht sich darauf, das mögliche „Verwirrspiel“ (Spinner 2010b, 103) zwischen Realität und Fiktion kompetent aufzulösen, also Unterscheidungskompetenzen für fiktionale und nicht-fiktionale Darstellungen sowie „der realistischen und phantastischen Fiktion“ (Leubner und Saupe 2017, 70) zu erwerben. Grundlage für das Erkennen von Fiktionalität sind pragmatisch-semantische Signale (vgl. Nickel-Bacon et al. 2000, 288), die die jeweilige Darstellung liefert: Dies können Gattungsbezeichnungen (vgl. Nickel-Bacon et al. 2000, 285) oder andere Marker sein, die die Kommunikationssituation etablieren oder steuern (vgl. Nickel-Bacon et al. 2000, 291). Eine derartige Unterscheidungsfähigkeit umfasst auch, sich der Doppelstruktur der Kommunikation bewusst zu sein, in der Produzierenden- und Rezipierendenrolle umgedeutet werden (vgl. Nickel-Bacon et al. 2000, 281). Zentral ist in diesem Kontext das Bewusstsein darüber, dass Autor/-in und Sprecher/-in in fiktionalen Kommunikationsakten auseinandertreten (vgl. Pieper und Wieser 2018, 116–117). Mit dem Realitäts-Fiktions-Bezug bezeichnet Spinner (2010b, 103) die Fähigkeit, „im Bewusstsein der Fiktionalität den Text auf reale Erfahrungen zu beziehen, z. B. im Hinblick auf bestehende gesellschaftliche Probleme, auf die der Text ein kritisches Licht wirft“. Dieser Bezug auf gesellschaftliche Themen ist an die von Krah entwickelte Kompetenz, mit fiktionalen Weltmodellen umzugehen, anschließbar. Sie umfasst unter anderem das Erkennen bestimmter Fiktions-WirklichkeitsBeziehungen und deren Referenz auf spezifische ideologische Realitätskonstruktionen sowie die Reflexion darüber (vgl. Krah 2013, 276–285). Die Beziehung zu realen Erfahrungen und Bedürfnissen eröffnet darüber hinaus eine weitere Perspektive auf die Rezeption fiktionaler Darstellungen, die primär auf motivationale Aspekte zielt: Die Fiktionsbedürftigkeit und die damit verbundene Entpragmatisierung der Vorstellungsbildung scheinen ein Grundbedürfnis des Menschen darzustellen (vgl.
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Abraham 2015, 8), dessen Befriedigung vor allem dann als Genuss empfunden wird, wenn die mentale Simulation bestimmter Vorgänge und Handlungen angeregt wird (vgl. Ryan 2015 [2001], 80), einschließlich des sich mit dieser Vorstellungsbildung entwickelnden Gefühls der Immersion und der ästhetischen Illusionsbildung (vgl. Zipfel 2014, 109). Die Operationen bieten im Rahmen ihrer Polyvalenz immer Übertragungsangebote für Phantasien und Affekte an (vgl. Scheller 2016 [2004], 27), was die Fiktionskompetenz für eine Modellierung literarischen Lernens und Verstehens zu einer metakognitiven Verarbeitungsform macht, die zugleich Einfluss auf die affektiven Faktoren ausübt. Die Verbindung der beiden Fähigkeiten verortet den Umgang mit Fiktionalität in dem von Spinner (2010b, 96) definierten Teilbereich literarischen Lernens, „Subjektive Involviertheit und genaue Wahrnehmung ins Spiel bringen“, der nach Winkler (2015, 156) eine übergeordnete Rolle innerhalb literarischer Verstehens- und Lernprozesse spielt. Er greift die „Interaktion von Leser und Text als grundlegendes Prinzip des Textverstehens auf“ (Winkler 2015, 156) und fokussiert die Vorstellungsbildung sowie angeschlossene Reflexionsprozesse (vgl. Spinner 2010b, 96). Als Teil der Fiktionskompetenz setzt die subjektive Involviertheit ein generelles Sich-Einlassen auf das game of make-believe voraus, das mit einer sinndeutenden Rezeptionshaltung verbunden wird (vgl. Pieper und Wieser 2018, 110–111). Der Aspekt der genauen Wahrnehmung lässt sich hingegen in einer Distanzierung zur Rezeptionssituation verorten und ist vornehmlich als externe Beobachtungsposition zu beschreiben (vgl. Winkler 2015, 159). Das Ins-Spiel-Bringen dieser beiden Positionen innerhalb einer Fiktionskompetenz lässt sich als dynamischen Prozess charakterisieren, der sich einerseits durch eine Nähe zur fiktiven Welt sowie einem „zeitweiligen Aufgehen“ (Winkler 2015, 158) darin auszeichnet und andererseits voraussetzt, die Fiktionalität bewusst wahrzunehmen. Wie Spinner (2010b, 96) ausführt, ist diese Wechselbeziehung für literarische Verstehensprozesse besonders produktiv: „Man fühlt sich angesprochen und liest deshalb intensiver und umgekehrt. Man lässt sich auf den Text ein und dadurch wird die innere Beteiligung größer, manchmal sogar so, dass durch die Fremdheit des Textes Verdrängtes und Halbbewusstes ins Bewusstsein tritt.“ Das Pen-and-Paper-Rollenspiel fordert dazu heraus, sich intensiv mit den fiktiven Bestandteilen auseinanderzusetzen, und eignet sich demnach besonders zur Förderung der Fähigkeiten im Umgang mit Fiktionalität. Die Kommunikationssituation fördert den Aspekt der Realitäts-Fiktions-Unterscheidung, vor allem das Bewusstsein über die Doppelstruktur der Kommunikation selbst. Indem die Beteiligten die Rolle einer fiktiven Figur einnehmen, etablieren sie mittels verschiedener Strategien eine Sprechinstanz, die innerhalb des fiktionalen frames als zentrales Aussagesubjekt fungiert. Im Kommunikationsprozess müssen die Teilnehmenden auf Marker achten, die die Kommunikation im fiktionalen frame anzeigen (so zum Beispiel die Modulation der Stimme oder eine zentrale Referenz
7.2 Teilbereich 1: Umgang mit Fiktionalität
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auf den Figurennamen), um Fehlinterpretationen durch ein keying (vgl. Kap. 4.1) zu vermeiden. Innerhalb der aufgezeichneten Daten wird dieser Prozess speziell dann markiert, wenn die Teilnehmenden ihre Figuren beschreiben: S1: Shadowrun 1 S1.1: Einstieg Ch: Da: Ch: Be: Da:
.h ich bin (.) Angus (.) der Zwerg ((Be lacht)) aber mein Straßenname ist Data. Moment ich brauche nochmal euren dein-d-dein Name war? ((Schaut Be an)) Spike. Spike ((Schreibt auf)) Spike (2.0) Angus 00:10:08–00:10:23
Im vorliegenden Beispiel wird eine fiktive Sprechposition durch Christian (Ch) eingenommen. Mit „ich bin (.) Angus (.) der Zwerg“ definiert er diese Sprecherinstanz deiktisch klar gegenüber den anderen Spielenden. Dass diese zugleich darauf angewiesen sind, zwischen den Sprechpositionen der einzelnen Teilnehmenden zu unterscheiden, gerade wenn sie durch die eigenen Erzählbeiträge die anderen Figuren adressieren wollen, verdeutlicht Daniels (Da) Handlung, der die Namen der Spieler/innen-Charaktere aufschreibt. Für das Handeln innerhalb der fiktionalen Kommunikationssituation ist es notwendig, sich innerhalb eines fictional recentering auf das make-believe einzulassen. Wenngleich dieses Einlassen auf die Fiktion nicht untypisch für jegliche Formen fiktionaler Darstellungen ist, wird sie im Pen-and-Paper-Rollenspiel aufgrund der möglichen Realisierung der Imaginationstätigkeit des Rollenspiels (vgl. Kap. 2.1) erweitert. Diese Tätigkeit fordert nicht nur, sich auf die Darstellung einzulassen, indem ihre Artifizialität ausgeblendet wird, sondern auch eine imaginative Selbstverortung innerhalb der fiktiven Welt, die das Führen und Ausspielen einer Figur umfasst. Diese Eigenschaft fördert eine genießende Rezeptionshaltung, wie sie von anderen Medien bekannt ist, und macht es geleichzeitig erforderlich, das Spiel und seine Narration ernst zu nehmen (vgl. Herbrik 2011, 92). Die Imaginationstätigkeit des Rollenspiels ermöglicht aufgrund seiner Nähe zum Kinderspiel, stereotypisierte und generalisierte reale Handlungsmuster zu erproben, und lässt sich als schöpferische Tätigkeit charakterisieren (vgl. Becker 2017, 339). Wie im szenischen Spiel bietet es Möglichkeiten zur Selbstbestimmung und zum bewussten körperlichen Ausdruck des Imaginierten (vgl. Spinner 2001, 6). Spinner (2001, 6) betont, dass derartige Spielformen im Laufe des Heranwachens immer stärker an Bedeutung verlieren und
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sich zunehmend auf die innere Phantasie (Tagträume) oder den eher passiven Medienkonsum zurückgezogen wird. Das Rollenspiel führt ein solches imaginatives Handeln in die reale körperliche und stimmliche Performanz zurück, schafft somit Übergänge zwischen „Phantasie und tatsächlichem Verhalten“ (Spinner 2001, 6) und zugleich eine De- und Re-Kontextualisierung: „Das Spiel ist herausgehoben aus dem alltäglichen Wirklichkeitskontext und zugleich wird ein neuer Kontext geschaffen. Dieses Charakteristikum teilt das Spiel mit jedem ästhetischen Ausdruck.“ (Spinner 2001, 6) Diese Formen der Kontextualisierung ermöglichen ein Probehandeln (vgl. Meifert-Menhard 2013, 29), das im Pen-and-Paper-Rollenspiel durch das bewusste Einfordern von Entscheidungen geleistet werden muss. Eng mit dieser Selbstverortung durch die Imaginationstätigkeit des Rollenspiels ist die subjektive Involviertheit verknüpft, die im Pen-and-Paper-Rollenspiel mit der ästhetischen Illusion verbunden ist. Immersiv sind Rollenspielerzählungen unter anderem dann, wenn eine emotional involvierende Erfahrung oder eine Nähe zur verkörperten Figur entsteht, beispielsweise dadurch, dass figurale Eigenschaften mit eigenen psychologischen Selbstkonzepten und Selbstentwürfen verbunden werden (vgl. Kap. 6.2). Gerade letztgenannter Aspekt bietet Potenziale zur imaginativen Selbstverortung innerhalb des fiktionalen make-believe und schafft eine verstärkte subjektive Involviertheit. Die ästhetische Illusion hält darüber hinaus immer die Rückbesinnung auf die Artifizialität der Darstellung im Sinne rationaler Distanzierung (vgl. Wolf 2013, 121) bereit. Wenngleich dieses Moment auch in anderen narrativen Medien möglich ist, wird es im Pen-and-Paper-Rollenspiel zu einem funktionalen Merkmal erweitert. In einer Metakommunikation über die fiktionale Erzählung zu reden, ist in vielen Fällen erforderlich und eröffnet ein NäheDistanz-Kontinuum, das sich während des Spielprozesses in einem stetigen Wechselprozess befindet. Aus diesem Grund stellt das Wechselspiel zwischen subjektiver Involviertheit und genauer Wahrnehmung nicht nur eine Möglichkeit, sondern zugleich eine Notwendigkeit dar. Dass diese Prozesse in enger Verbindung stehen, zeigt folgendes Beispiel, in dem die Spielgruppe ihr weiteres Handeln plant: S1: Shadowrun S1.3: Nach dem Kampf Ch: Ad: Be: Ad:
Ich schlage ihn bewusstlos. HALT. Will noch einer was fragen wollte ich fragen. Wollen wir ihn bewusstlos schlagen oder (.) also (.) [sind wir skrupellos oder?] [Ich gehe noch zu ihm hin] und sage "du hast uns nie gesehen ich weiß wo du wohnst." Zum bewussten Schein. ((Ch und Da lachen)) (1.0)
7.2 Teilbereich 1: Umgang mit Fiktionalität
Ch: Ad: SL: Da: Ch: Be: Ad: Ch: Ad:
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Gut Und dann sage ich seinen Namen den ich von der Karte abgelesen habe. ((Da und Be lachen)) Also er ist sehr wo-er ist wohl und er macht er ist sehr verängstigt er macht einen sehr gewaltscheuen Eindruck auf euch, "Mach bloß keinen Scheiß. ((Blickt in seine geöffnete Handfläche)) Günther." ((Alle lachen)) Ja wir müssen ja [i-oder hat jemand] [Ja also schlagen wir ihn] bewusstlos. Und nicht (.) also Hm ja dann kann er ihn bewusstlos schlagen [wenn keiner Fragen mehr hat?] [Ich würde ihn nur bewusstlos schlagen.] Und ihn in irgendeiner Ecke verkarren (.) dass er nicht sofort auffällt. Man kann ihn ja noch fesseln. 01:40:00–01:40:39
In der vorliegenden Sequenz diskutieren die Teilnehmenden ausgiebig, wie sie einem überwältigten Wachmann umgehen sollen, wobei die zentrale Frage ist, ob dieser bewusstlos geschlagen oder geknebelt und gefesselt werden soll. Während anzunehmen ist, dass Teile der Kommunikation auch im fiktionalen frame stattfinden, wofür die stimmliche Modulation in den Redebeiträgen Adrians (Ad) spricht, finden sich auch Reflexionsmomente, die nicht nur die Handlungsplanung selbst, sondern auch die Rolle der gespielten Figuren innerhalb des narrativen Aktantengefüges thematisieren. Auffällig ist hier vor allem Benjamins (Be) Äußerung „Wollen wir ihn bewusstlos schlagen oder (.) also (.) [sind wir skrupellos oder?]“. Während „Wollen wir ihn bewusstlos schlagen“ noch einen konkreten Handlungsvorschlag repräsentiert, deutet „[sind wir skrupellos oder?]“ eher auf eine Reflexion der generellen narrativen Ausgestaltung der gespielten Figuren an, die ihre moralischen Prämissen innerhalb der storyworld betreffen. Dass diese Reflexion lediglich in einer Nebenäußerung auftritt und nachfolgend mit der Äußerung Adrians wieder in den fiktionalen frame der Kommunikation gewechselt wird, verdeutlicht das unmittelbare Wechselspiel aus Nähe und Distanz innerhalb der ästhetischen Illusionsbildung. Im Rahmen dieser Überlegungen sei auch auf die verschiedenen Rezeptionspräferenzen im Pen-and-Paper-Rollenspiel verwiesen. So betont Juul (2014, 186) in Bezug auf digitale Spiele, dass eine zu sehr auf spielstrategische Elemente fokussierte Präferenz nicht selten die fiktiven Elemente eines Spiels ausblendet. Damit das Pen-and-Paper-Rollenspiel im Literaturunterricht seine vollen Potenziale für das literarische Lernen entfalten kann, müssen subjektiv involvierende Angebote,
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7 Pen-and-Paper-Rollenspiele und literarisches Lernen
die zum literarischen Verstehen hinleiten, geschaffen werden. Diese Notwendigkeit wird innerhalb der methodischen Überlegungen in Kapitel 8 vertieft.
7.3 Teilbereich 2: Aufdecken von Wissenskorrespondenzen und -differenzen Nachdem sich die subjektive Involviertheit insbesondere im Umgang mit der Fiktionalität der Erzählung des Pen-and-Paper-Rollenspiels manifestiert, ist es erforderlich, den Begriff der genauen Wahrnehmung, den Spinner als zweiten Pol des Teilbereiches literarischen Lernens definiert, für das Erzählen zu präzisieren. Winkler (2015, 161) beschreibt den Rezeptionsprozess als das Herstellen „produktive[r] Verknüpfungen von Bekanntem und Neuem“, in dem sowohl Vorwissensbestände aktiviert werden als auch durch eine präzise Textwahrnehmung Gewusstes und neu Wahrgenommenes verknüpft wird. Als Wissensbestände definiert sie in weitem Sinne fachliches und inhaltsbezogenes Wissen sowie eigene Erfahrungen und Gefühle, die in einem Verstehensprozess in Korrespondenz und Differenz mit dem Rezipierten gesetzt werden (vgl. Winkler 2007, 82). In Kapitel 6 wurden bereits notwendige Verknüpfungshandlungen sowie der Abruf von Wissensbeständen thematisiert, die das narrative Verstehen begleiten: Es handelt sich zunächst um textinternes Wissen, das die narrative Darstellung bereithält, also Informationen über die Figuren, Schauplätze und Ereignisse. Dieses Wissen ist vor allem notwendig, um Interferenzen zu verstehen, die die Darstellung an späterer Stelle liefert. Im Pen-and-Paper-Rollenspiel erfordert dieser Prozess eine erhöhte Aufmerksamkeit, da der textinterne Wissenserwerb je nach subjektiver Anlage (vgl. Emmott 1997, 3) differieren kann. Um eine intersubjektive storyworld zu entwickeln, ist es erforderlich, einzelne textinterne Wissensbestände in einer Metakommunikation herauszustellen, um einen common ground zu etablieren. Grundlegend lässt sich konstatieren, dass diese Erfordernis den Prozess der genauen Textwahrnehmung offenlegt und die Beteiligten untereinander zur Erkenntnis kommen können, dass die Darstellung aufgrund ihrer Polyvalenz nicht immer nur eine richtige Deutungsvariante ermöglicht, besonders dann, wenn die textinternen Strukturen Leerstellen aufweisen, die durch textexterne Wissensbestände gefüllt werden müssen. Eine solche Reflexion über die Offenheit des Deutungs- und Sinnbildungsprozesses (vgl. Spinner 2010b, 104) ist gerade im Rahmen des kompetenten Umgangs mit Literatur vonnöten. So verweist Winkler (2007, 84) auf die unter Schüler/-innen verbreitete Vorstellung, dass ein literarischer Text oft nur eine richtige Interpretation zulässt, was ein Zeichen für ein fehlendes Bewusstsein über die Polyvalenz literarischer Kommunikation ist.
7.3 Teilbereich 2: Aufdecken von Wissenskorrespondenzen und -differenzen
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Die Leerstellen in narrativen Darstellungen erfordern darüber hinaus ein textexternes Wissen, das notwendig für das narrative Verstehen ist. Derartige Wissensbestände beziehen sich nicht nur auf allgemeines Weltwissen, das innerhalb eines Prinzips der minimalen Abweichung zur Ausdeutung von Leerstellen genutzt wird (vgl. Thon 2009, 2), sondern ebenfalls auf textoperatives Wissen, das kognitiv in Form von Schemata organisiert ist (vgl. Emmott 1997, 33–34). Dieses Wissen über Medienkonventionen, Gattungen, Genres oder fiktive Welten (vgl. Thon 2015, 127) ist für den narrativen Verstehensprozess vor allem deshalb relevant, weil es eine „computational explosion“ (Emmott 1997, 28) möglicher Deutungsvarianten verhindert, da es prototypische und stereotypisierte Elemente zur Verfügung stellt, die mit den Textinformationen in Verbindung gebracht werden können. Auch im Kontext literarischen Lernens ist ein textoperatives Wissen im Sinne eines textsorten- oder gattungsspezifischen Wissens bedeutsam, was durch die Lehrpläne und Bildungsstandards bestätigt wird (vgl. Winkler 2007, 71). So wird auch hier – besonders für den Aspekt literarischen Lernens „Prototypische Vorstellung von Gattungen und Genres entwickeln“ (vgl. Spinner 2010b, 107–108) – die Orientierungsfunktion textoperativen Wissens aufgegriffen sowie die nützliche Kenntnis von Gattungs- und Genremerkmalen innerhalb des Textverstehens konstatiert (vgl. Köster 2015, 61–63). Gerade die von Spinner angesprochene prototypische Vorstellung verweist auf die kognitive Organisiertheit dieses Wissens als Schemata und knüpft an die Theorien der kognitiven Narratologie an (vgl. Kap. 6.1). Dieses Schemawissen erweist sich vor dem Hintergrund des allgemeinen Verstehensprozesses im Sinne eines Aufdeckens von Wissenskorrespondenzen und -differenzen als nützlich, da es ausreichend abstrakt und flexibel (vgl. Köster 2015, 66) ist, um auch im Falle einer Differenz nicht zu Verständnisschwierigkeiten zu führen. Die Literaturdidaktik plädiert dafür, ein Gattungs- und Genrewissen zu vermitteln, das nicht auf der bloßen Einübung starrer Merkmalskataloge beruht, da diese für literarische Verstehensprozesse als nicht produktiv erscheinen (vgl. Köster 2015, 62). Vielmehr sollen typische Beispiele kennengelernt werden, die bewusst machen, „dass konkrete Beispiele immer mehr oder auch weniger den prototypischen Vorstellungen entsprechen können“ (Spinner 2010b, 107–108). Hervorgehoben wird weiterhin das implizite und informelle Erlernen dieses textoperativen Wissens (vgl. Spinner 2010b, 108), das auch im Rahmen der Wechselwirkung bei der Rezeption verschiedener Medien erworben werden kann (vgl. Schmidt und Winkler 2015, 88). Gerade in Bezug auf diese Wechselwirkungen eröffnen sich Potenziale zur Anbahnung eines textoperativen Schemawissens im Pen-and-Paper-Rollenspiel. Wenngleich das Erzählen selbst und seine eingeschlossene Metakommunikation implizit zur Förderung erzähltextspezifischen Wissens (vgl. Winkler 2007, 77) beiträgt, sind es gerade die zahlreichen transtextuellen Referenzen (vgl. Kap. 6.1.3), die das Rollenspiel
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7 Pen-and-Paper-Rollenspiele und literarisches Lernen
und die es umgebenden Materialien anbieten, die Möglichkeiten schaffen, implizit vorhandenes Wissens über Genres, Gattungen und Medien bewusst zu aktivieren, erweitern und reflektieren. Die Referenzen, die als Ausdruck eines metaframing die medialen Vorerfahrungen der Teilnehmenden aktivieren sollen, um so die Ausrichtung der im Spiel entstehenden narrativen Darstellung anzudeuten (vgl. Kap. 6.1.3), schaffen den Raum, eigenes textexternes Wissen einzubringen. Hierbei werden nicht nur die informellen Wissensbestände der Teilnehmenden abgerufen, sondern zugleich auch in der Performanz synchronisiert. Da die medialen Vorerfahrungen der Beteiligten nicht deckungsgleich sind, kann dies bedeuten, dass gänzlich unterschiedliche Vorstellungen über bestimmte Genres, Gattungen und Medien in den Spielprozess eingebracht und zusammengeführt werden müssen. Diese Differenzen des Wissens zwischen den Teilnehmenden sorgen dafür, bewusst über diese verschiedenen Vorstellungen zu reflektieren, und ermöglichen es zugleich, die Offenheit des Deutungsprozesses zu erkennen. Diese transtextuellen Beziehungen zu verhandeln, legt nahe, die „Differenzen zum Bekannten besonders aufmerksam wahrzunehmen“ (Winkler 2007, 86). Im folgenden Beispiel findet eine solche Reflexion zwischen den Teilnehmenden statt, was zu einer Offenlegung unterschiedlicher Vorstellungsbestände führt: S6: Dungeons and Dragons 1 S6.3: Kampfhandlung SL: Wa: SL: Wa: SL: Wa:
Dafür musst du ein bisschen laufen aber das kriegst du hin. Okay. ((Bewegt seine Spielfigur, zischendes Geräusch)) Im Laufe noch so tsch tsch psch ((Beat-Geste mit ausgestrecktem Zeigefinger)) So wie Legolas ((Formt mit der einen Hand eine Faust, mit der anderen eine Zieh- und Loslassbewegung, zischendes Geräusch)) Ja. (1.0) Ne du hast einen Crossbow du hast keinen (.) keinen Langbogen. Achso. ((Lacht)) (2.0) ((Würfelt)) Okay. Ab dafür. [U:nd Sechzehn.] 02:01:21–02:01:36
In einer Kampfsituation beschreibt Walter (Wa) eine Aktion seiner Spielfigur mit einer transtextuellen Referenz auf die Figur Legolas aus der Roman- und Filmreihe Der Herr der Ringe (Tolkien 1954 u. 1955). Gerade in der filmischen Adaption werden Legolas’ besondere Kampfkünste im Umgang mit dem Bogen sichtbar. Hierauf verweist Walter, wenn er neben der Namensnennung mittels Gesten imitiert, einen Bogen abzuschießen und nachzuladen. Die Spielleiterin (SL) gibt im Anschluss daran jedoch zu bedenken, dass Legolas einen Langbogen und keine
7.4 Teilbereich 3: Auseinandersetzung mit populärer Kultur
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Armbrust („Ne du hast einen Crossbow“) trägt, und verweist auf eine Differenz der Vorstellungsinhalte über die Kampfhandlung von Walters Spielfigur. Das Produktivmachen dieser Differenzen, das Iris Winkler (2007, 86) „als zentrale Aufgabe für den Literaturunterricht“ bezeichnet, ist auch für den narrativen Verstehensprozess signifikant, der im Pen-and-Paper-Rollenspiel zugleich Ausgangspunkt für den nachfolgenden erzählerischen Produktionsprozess darstellt. Begreift man den Abgleich narrativer Informationen mit extratextuellem Wissen als Blending, fordert die Flexibilität, dieses Schemawissen einzubringen, eine gewisse Kreativität, die sowohl das Auswählen der input spaces als auch deren Eigenschaften und Organisationsstrukturen innerhalb des blend betreffen (vgl. Fauconnier und Turner 2003, 202; Martínez 2017, 10). Denn aufgrund seiner Polyvalenz ermöglicht es der Erzählprozess selbst, verschiedene Bedeutungsschemata zu realisieren, die vom individuellen Wissen der Produzierenden geprägt sind. Gerade in der Aktivität des Rollenspiels wird dieser die menschliche Kreativität umfassende modifizierende Aspekt hervorgehoben, da durch die Performanz der eigene Verarbeitungsprozess offengelegt wird, der das Verstehen begleitet. In ähnlicher Weise wie das Schreiben zu medialen Vorlagen (vgl. Dehn et al. 2011, 77) charakterisiert sich das Pen-andPaper-Rollenspiel somit als Transformationstätigkeit, in der eigenes mediales und kulturelles Wissen kreativ verhandelt werden kann. Wenngleich zwar hier der Schreibauftrag auf die Vorlage gerichtet ist, ist die Ausführung maßgeblich von den Rezeptionserfahrungen der Schreibenden geprägt, die ihr Wissen über die Vorlage aufgreifen und kreativ transformieren.
7.4 Teilbereich 3: Auseinandersetzung mit populärer Kultur Dieser kreative Aushandlungsprozess versteht sich in Gestalt einer kulturellen Tätigkeit zugleich als Ort der bewussten Auseinandersetzung mit populärkulturellen Erzeugnissen. Insbesondere in den 1960er und 1970er Jahren manifestierte sich innerhalb der Deutschdidaktik eine zunehmend ablehnende Haltung gegenüber der Populärkultur, was sich anhand ideologiekritischer Ansätze belegen lässt, in denen es um eine „Entlarvung der populärkulturellen Erzeugnisse als Instrumente einer hegemonialen Kulturindustrie ging“ (Schlachter 2014, 9). Mit dieser Entlarvung ist vor allem die Infragestellung des ästhetischen Potenzials dieser Erzeugnisse gemeint. Derartige mediale Produkte folgen nach Iris Kruse (2014, 9) der ökonomischen Zweck-Mittel-Rationalität, die der Selbstbezüglichkeit der ästhetischen Erfahrung entgegenstehe. So verweist sie in Bezug auf die populärkulturellen Formate für Kinder darauf, dass Literarizität und Poetizität „von den gestalterischen Folgen der Marktmechanismen und profitablen Verwertungszwänge überlagert“ werden, während „die kurzfristige und oberflächliche Gestaltung und Reihung von Mini-
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7 Pen-and-Paper-Rollenspiele und literarisches Lernen
Sensationen“, Verkürzung und Pointierung von Dialogen und Schematisierung narrativer Strukturen im Zentrum stehen, „die das Symbolische nicht entfalten, Uneindeutigkeit, Offenheit und das Aushalten des Fremden (Alterität) nicht erlauben“ (Kruse 2014, 5). Wenngleich diese Einschätzung auf einige populärkulturelle Formate zutreffen mag, ist jedoch nicht von der Hand zu weisen, dass Erzeugnisse der Populärkultur zentralen Einfluss auf den Alltag und die Mediensozialisation von Kindern und Jugendlichen haben (vgl. Pieper 2015 [2010], 96). Um die Anschlussfähigkeit des Literaturunterrichts an den Alltag der Schüler/-innen zu garantieren, ist es deshalb erforderlich, diese Erzeugnisse zu integrieren und abzubilden (vgl. Kruse 2014, 4): Unmittelbar ist dabei einerseits die Erkenntnis bedeutsam, dass vor allem die schriftbasierten Populärmedien Potenziale zur Leseförderung bieten, die sich aus der Nähe der Erzeugnisse zur Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen ergeben können (vgl. Schlachter 2014, 2). Neben diesem subjektorientierten Ansatz ist es auch relevant, die Gestaltungen und Charakteristika der Texte zu betrachten, um so auf Gegenstandsebene Bezüge zu traditionellen literarischen Formen herzustellen. Andererseits fordert die Heterogenität der Schüler/-innenschaft vielfältige Zugänge zum literarischen Lernen und darin inbegriffen medialen Formaten, da aufgrund verschiedener sozialer und kultureller Hintergründe nicht davon ausgegangen werden kann, dass Kinder und Jugendliche in ihrer Freizeit Zugriff auf einen Korpus von Texten haben, das die Literaturdidaktik als ästhetisch wertvoll klassifizieren würde. Für einen auf Vielfalt setzenden Zugang plädiert auch Kruse (2014, 13), die für populärkulturelle Medienverbünde Potenziale konstatiert, literarische Lernprozesse über „Zu- und Übergänge vom Trivialen zu authentischer Literatur zu ermöglichen“.7 Trotz der ent-ästhetisierenden Tendenzen, die sie vielen Produkten der Populärkultur zuschreibt, erkennt sie Möglichkeiten „zur Erweiterung von Handlungsfähigkeit und Wissen“ (Kruse 2014, 10), die in zweierlei Hinsicht vor allem durch erzählende Medien geschaffen werden: Erstens enthalten narrative Darstellungen Angebote zur ästhetischen Urteilsbildung und zur Sinnbildung, die aus den Wünschen der involvierenden Auseinandersetzung mit dem Narrativen entstehen (vgl. Kruse 2014, 10). Dieser Prozess wurde bereits für das Pen-and-Paper-Rollenspiel beleuchtet und als Form des literarischen Verstehens definiert, das sich aus der Entwicklung einer ästhetischen Illusion ergibt (vgl. Kap. 6). Zweitens fordert die Populärkultur ein, sich mit ihren Produkten auseinanderzusetzen, was im Rahmen einer Partizipation den Wenngleich Kruse für die Integration populärkultureller Formate in den Literaturunterricht plädiert, folgt sie einem stark wertenden Ästhetikverständnis, das der vorliegende Band nicht vertritt. Nichtsdestotrotz sind ihre Beobachtungen aufgrund der Klassifizierung des Narrativen als zentraler Ursprung involvierender Auseinandersetzung und Urteilsbildung anschlussfähig.
7.4 Teilbereich 3: Auseinandersetzung mit populärer Kultur
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Erwerb sozialer und kultureller Handlungsfähigkeiten relevant macht (vgl. Kruse 2014, 10). Es ist bedeutsam, sich in seiner Peer-Group über aktuelle Medienprodukte auszutauschen und sich bestimmte Wissensbestände anzueignen, die innerhalb der Populärkultur verstärkt verhandelt werden. Es zeigt sich folglich, dass sich auch Populärmedien im Handlungsfeld der Literatur verorten, da sie ähnliche Bedeutsamkeiten für Individuation, Sozialisation und Enkulturation bereithalten (vgl. Kepser und Abraham 2016 [2005], 27). In dieser Hinsicht fungiert das Pen-and-Paper-Rollenspiel sowohl implizit als auch explizit als Teil und Aushandlungsort eines derartigen populärkulturellen Wissens und der damit verbundenen medialen Erfahrungen (vgl. Kap. 6.1.3): Implizit, da Beteiligte durch ihr eigenes Erzählen Wissen über populärkulturelle Formate in den Spielprozess einbringen, das sie aus ihren eigenen kulturellen und medialen Erfahrungen speisen (vgl. Pappe 2011, 13; Schmidt 2012, 280).8 Dass diese Wissens- und Erfahrungsbestände stark von der medialen Sozialisation abhängen, bestätigt auch Fine (2002 [1983], 164), der in seiner ethnografischen Studie einer Rollenspielgemeinschaft Differenzen in den Erzählhandlungen der Spielenden feststellt, die er auf sozialisatorische Faktoren (Alter, Bildung, persönlicher Geschmack) zurückführt. Eine explizite Austauschmöglichkeit stellt speziell die Kommunikation im primären frame dar, beispielsweise als Metakommunikation, in der das Erzählte geplant, reflektiert und bewertet werden kann (vgl. Kap. 6.1.2). Der Austausch über das Rezipierte in der Anschlusskommunikationen erscheint bedeutsam für das literarische Lernen (vgl. Spinner 2006, 12) und ist ein Ort, an dem nicht nur Verstehensleistungen überprüft, sondern auch eine persönliche Beziehung zum Erfahrenen hergestellt werden kann (vgl. Abraham 2018, 394). Wertungen stellen in diesem Kontext subjektive Einschätzungen über das Rezipierte dar, die von Verstehensprozessen beeinflusst werden und diese zugleich ihrerseits beeinflussen (vgl. Schmidt und Winkler 2015, 90). Der Austausch über bestimmte Wertungen fordert einerseits das Bewusstsein über die evaluative Polyvalenz des ästhetischen Kommunikationsprozesses, besitzt jedoch andererseits im Rahmen sozialisatorischer Prozesse eine Orientierungsfunktion in Bezug auf die eigene Geschmacksbildung. Eine derartige Kommunikation ist im Pen-and-Paper-Rollenspiel bereits während des Spielprozesses möglich und sogar teilweise nötig. Dies hat den Vorteil, unmittelbar auf das Rezipierte reagieren zu können, was den Austausch im Gegensatz zu anderen Formen der literarischen Anschlusskommunikation weniger artifiziell und konstruiert Diese Spuren medialer und literarischer Rezeption entdecken auch Dehn und Hüttis-Graff (2018) in einer Vergleichsstudie zum Schreiben zu medialen und literarischen Figuren. Sie konstatieren: „Wer schreibt, hat immer schon gelesen, zugehört beim Vorlesen, Bilder und Filme gesehen und Geschichten medial erspielt.“ (Dehn und Hüttis-Graff 2018, 66).
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erscheinen und sich eher an andere soziale Situationen des Austauschs über mediale Erfahrungen andocken lässt. Im folgenden Beispiel findet eine derartige Bewertung statt: S3: Fiasco 1 S3.1: Briefsendung No: La:
Ein Rabe bringt einen Brief "ding." ((Öffnet die Hand gegenüber Ma, lacht)) ((Lacht)) Wie bei Harry Potter. Oh wie cool (.) lässt er einfach so fallen ((gleitende Handbewegung)). 01:26:14–00:26:24
Laras (La) Wertung des Umstands, dass ein Rabe einen Brief bringt, steht hier im engen Verhältnis zu den medialen Erfahrungen, mit denen sie diese Beschreibung in Beziehung setzt, was explizit durch die intertextuelle Referenz angezeigt wird. Es ist einerseits relevant, dass die Bewertung „Oh wie cool“ eine generell steuernde Funktion für den weiteren Erzählverlauf haben kann (vgl. Kap. 6.1.3). Andererseits ist bemerkenswert, dass sie einen Bezug zum Harry-Potter-Franchise herstellt, wenngleich die Handlung des gespielten Pen-and-Paper-Rollenspiels in der Welt von Game of Thrones angesiedelt ist, in der Raben generell als Überbringer von Nachrichten genutzt werden. Lara kontextualisiert das Geschehen dennoch nach dem Paradigma, das für sie am nächsten kommt: Die verschiedenen Vertrautentiere, die auch in der Welt von Harry Potter als Boten von Nachrichten eingesetzt werden. Dass dieser Bezug von Lara hergestellt werden kann, ist Ausdruck der evaluativen Polyvalenz des literar-ästhetischen Kommunikationsprozesses und steht in enger Beziehung zur individuellen medialen Sozialisation der Teilnehmerin. Schlachter (2014, 8) verweist besonders für ökonomisch erfolgreiche Werke phantastischer Kinder- und Jugendliteratur darauf, dass sich gegenwärtig mitunter mittels digitaler Kommunikationsplattformen über Lektüreerfahrungen ausgetauscht wird und sich hier mit ästhetischen und literarischen Verstehensprozessen verbindet. Die Bildung von Fankulturen, die das Bedürfnis des gemeinsamen Austauschs hegen, ist dabei kein neues Phänomen und lässt sich in seiner Verstärkung eng mit den sich ausbildenden Marktmechanismen der Populärkultur in Verbindung bringen (vgl. Harvey 2015, 118). Fantum bedeutet, die eigene Rezeption in Gestalt einer kulturellen Aktivität produktiv zu verhandeln, sowie die soziale Interaktion mit Gleichgesinnten (vgl. Jenkins 2006, 41). Auffällig ist, dass nicht nur der Austausch über Rezeptionserfahrungen in einzelnen Fankulturen eine Rolle spielt, sondern auch der kreative Umgang mit den rezipierten Texten. Gerade in Gestalt der Fanfic-
7.4 Teilbereich 3: Auseinandersetzung mit populärer Kultur
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tion, also dem kreativen Weiter- und Umschreiben einer durch mediale Darstellungen transportierten storyworld (vgl. Thomas 2011, 1), manifestiert sich ein Bedürfnis nach intensiver Partizipation, die über den reinen Austausch von Rezeptionserfahrungen hinausgeht. Derartige Aktivitäten bestätigen die von Schlachter thematisierte enge Verbindung zwischen sozialisatorischer Lektüre und literar-ästhetischem Verstehen und verdeutlichen erneut, dass die bewusste Auseinandersetzung mit populärer Kultur als kulturelle Aktivität angesehen werden kann (vgl. Jenkins 2006, 41; Salter 2014, 97–98). Das Pen-and-Paper-Rollenspiel selbst ist aus einer derartigen produktiven Verhandlung innerhalb spezifischer Fankulturen hervorgegangen (vgl. Deterding und Zagal 2018b, 4–5) und stellte zugleich einen Anknüpfungspunkt für vielfältiger Fanaktivitäten und -praktiken dar (vgl. Kap. 3.1.2), die bis heute eine zentrale Säule für das Bestehen der Spielgattung bilden. Doch sind es nicht nur die Aktivitäten um das Spiel herum, sondern ebenfalls das, was man im Spiel selbst tut, das die Partizipiation und die aktive Auseinandersetzung mit populären Stoffen auszeichnet, gerade wenn sich Setting und Szenario eng an medialen Franchises orientieren. Im Sinne Colin B. Harveys (2014, 283) lässt sich in derartigen Fällen das Rollenspiel als „directed transmedia storytelling with user participation“ begreifen, in denen Lizenzträger von Franchises gezielt Material veröffentlichen, mit dem Konsument/innen eigene Geschichten innerhalb der transmedial vermittelten storyworld entwickeln können. Es geht bei diesen Rollenspielformen folglich weniger darum, die durch andere Medien erzählten Handlungen nachzuspielen, als im Sinne eines transmedia storytelling die präsentierte storyworld um weitere Aspekte zu ergänzen, in ähnlicher Weise, wie es die offiziellen Autor/-innen des Franchises tun (vgl. Grouling Cover 2010, 152). Diese aktive Partizipation durch die Entwicklung neuer Aspekte der storyworld ist demnach mehr, als sich über Rezeptionseindrücke auszutauschen, und wird erweitert um eine kreative Transformation der eigenen Rezeptionserfahrung. Im Ansatz weist diese Tätigkeit Ähnlichkeiten mit den Formen kreativen Schreibens zu medialen Vorlagen auf (vgl. Dehn und Hüttis-Graff 2018; Dehn et al. 2011), die durch die intensive Auseinandersetzung mit der Vorlage Potenziale zur tiefgehenden Aneignung des Erzählten bieten (vgl. Dehn und HüttisGraff 2018, 74). In der bewussten Selektion einzelner Elemente aus der medialen Vorlage ist dieser Vorgang im Pen-and-Paper-Rollenspiel deutlich spezifischer, da diese Elemente nicht wahllos selektiert und kombiniert werden können, sondern immer auf die konsistente Entwicklung der intersubjektiven storyworld ausgerichtet sind, um allen Teilnehmenden die Anknüpfung zu ermöglichen. So bietet das Pen-and-Paper-Rollenspiel zugleich eine unmittelbare Rückmeldemöglichkeit der anderen Teilnehmenden, die sich mit der persönlichen Transformationshandlung infolgedessen konfrontiert sehen.
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7 Pen-and-Paper-Rollenspiele und literarisches Lernen
7.5 Teilbereich 4: Empathie und Perspektivübernahme Literarische oder mediale Sozialisation verläuft nicht nur innerhalb bestimmter sozialer Gruppen, sondern gestaltet sich als komplexes Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft. Wenngleich eine isolierte Selbstsozialisation aus diesem Grund nicht möglich ist (vgl. Pieper 2015 [2010], 92), bildet die individuelle Auseinandersetzung mit dem literarischen Gegenstand eine Mikroebene, die das Verhältnis zwischen sozialem Akteur/sozialer Akteurin und sozialer Situation kennzeichnet (vgl. Pieper 2015 [2010], 90–91). Am Beispiel der populären Fantasyliteratur für Kinder und Jugendliche und der Anschlusskommunikation im Internet weist Schlachter (2014, 7) das sozialisatorische Potenzial nach, das vor allem durch die Identifikationsangebote der Texte gekennzeichnet ist. Schlachter richtet sich damit gegen die verbreitete Kritik der eskapistischen Lektüre, die gerade den Texten der phantastischen Literatur anlastet (vgl. Herbrik 2011, 77). Eskapismus wird hier aus normativer Perspektive als Realitätsflucht angesehen, die negativen bis schädlichen Einfluss auf die realweltliche Interaktion besitzt (vgl. Bowman 2010, 37–38). Dieser empirisch nur schwerlich nachzuweisende Vorwurf, der auch Pen-and-Paper-Rollenspielen primär in den 1980er Jahren vonseiten verschiedener Interessenverbände entgegengebracht wurde (vgl. Appelcline 2014c [2013], 351–352), liegt in den illusionsstiftenden Potenzialen der Texte dieses Genres begründet, speziell im Prinzip der Heteroreferenz, das die dargestellten fiktiven Welten als eigenständige Konstrukte jenseits des phantastischen Textes erscheinen lässt. Sieht man den Eskapismus jedoch als mögliche Ausprägung einer involvierenden Lektüre im rezeptionalen Umgang mit literarischen Texten, lassen sich bezüglich der literarischen Kompetenzbildung Parallelen zur vielfach geforderten genussvollen Rezeption feststellen (vgl. Olsen 2015, 119; Scheller 2016 [2004], 26; Schilcher und Pissarek 2013, 16), also einer Lektüre, die sich vornehmlich auf die Befriedigung emotional-motivationaler Affekte richtet. Zugleich eröffnet ein derartiger Lektüremodus Möglichkeiten zum Probehandeln (vgl. Kap. 6.2.2), das vor allem in Formen des Rollenspiels zu einem besseren Verständnis des eigenen Handelns führt, was wiederum als „Aneignung gesellschaftlicher Wirklichkeit“ (Günther 2019, 2) begriffen werden kann. Beide Imaginationsmodi knüpfen an die illusionsstiftenden Strategien der narrativen und figuralen Immersion an, wobei besonders letztere an die von Schlachter eingeführte identifikatorische Rezeption anschließt. Im Pen-and-Paper-Rollenspiel ist die figurale Immersion eng mit der Perspektivierung verbunden, die sich aus dem Ausspielen der Figur sowie spezifischen Erzählstrategien ergibt (vgl. Kap. 6.2.2). Die Beziehung zwischen Figuren und Rezipierenden formiert sich in der Literaturdidaktik vornehmlich im Fremdverstehen, unter das sich je nach Auslegung unterschiedliche Teilaspekte gruppieren. In der Ausdifferenzierung der Aspekte literarischen Lernens greift Spinner das
7.5 Teilbereich 4: Empathie und Perspektivübernahme
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Fremdverstehen mit dem Aspekt „Perspektiven literarischer Figuren nachvollziehen“ auf: Ein intensiver Bezug zu literarischen Figuren entsteht in der Regel dadurch, dass man eigene Gefühle und Sichtweisen, auch Wunschvorstellungen anderer Lebensmöglichkeiten im Text wiederfindet; aber zugleich heißt literarisches Verstehen, dass man in der Logik des Textes denkt und auch die Fremdheit von Figuren wahrnimmt. Die Alteritätserfahrung, also die Irritation durch die Andersartigkeit, kann wiederum zur gesteigerten Selbstreflexion führen. […] Eine zentrale Rolle für das Figurenverstehen spielt der Zusammenhang von innerer Welt (Gefühle, Gedanken, Erfahrungen, Erinnerungen der Figuren) und äußerer Handlung, der von den Texten zum Teil explizit zu entfalten ist, oft aber auch, ausgehend von den Signalen im Text, vom Leser erschlossen werden muss. Da insbesondere moderne Literatur den Schwerpunkt stärker auf die inneren psychischen Prozesse der Figuren legt, kommt der Perspektivenübernahme von der mitfühlenden Empathie bis zur kognitiven Auseinandersetzung mit Fremdheit eine zunehmende Bedeutung zu. (Spinner 2006, 9–10)
Obwohl Spinner mit der Perspektivübernahme relevante Elemente literarischen Verstehens beschreibt, die den unmittelbaren Umgang mit literarischen Figuren kennzeichnen, ist Ralph Olsen (2011, 2) zuzustimmen, dass die Differenzierung der Teilelemente, insbesondere die kognitive „Auseinandersetzung mit Fremdheit“ und emotionalen Formen der „mitfühlenden Empathie“, nicht immer ausreichend präzise erfolgt. Ohne detailliert auf Olsens vorgeschlagene, durchaus nicht unproblematische Niveaustufen der Empathiefähigkeit einzugehen (vgl. Olsen 2011, 11–12), ist es in Anknüpfung an die Überlegungen in Kapitel 6.2 sinnvoll, zwischen der kognitiven Wahrnehmung von Emotionen und Perspektiven und der Einnahme beziehungsweise Abhandlung von Emotionsprogrammen zu differenzieren (vgl. Olsen 2011, 10–11), um so eine Unterscheidung des Fremdverstehens, einschließlich der verschiedenen Formen der Perspektivübernahme, herstellen zu können. Mit seinem Modell der Perspektivübernahmekompetenz knüpft Florian Rietz (2017) besonders an die kognitive Wahrnehmung figuraler und narratorialer Perspektiven, ihre Differenzierung und Bewertung an. Gerade weil das Modell in den kognitiven Voraussetzungen zur Perspektivübernahme einen direkten Bezug zur Theory of Mind herstellt und den Perspektivbegriff vornehmlich narratologisch kontextualisiert (vgl. Rietz 2017, 84), lässt sich an die in Kapitel 6.2.2 entwickelte illusionsstiftende Strategie der Perspektivierung anschließen. Wie auch Werner Wolf (2004, 327–331) für die Strategien ästhetischer Illusion konstatiert, bewegt sich die Kompetenz der Perspektivübernahme zwischen spezifischen Anlagen im Text und der subjektiven Rezeption, Letzteres bezogen auf den individuellen entwicklungspsychologischen Stand der Rezipierenden (vgl. Rietz 2017, 85). Rietz definiert drei zentrale Stufen der Perspektivübernahme, die aufeinander
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7 Pen-and-Paper-Rollenspiele und literarisches Lernen
aufbauen: die Perspektivenkoordinierung, die Perspektivenkonstruktion sowie die Perspektivrelativierung. Die Perspektivenkoordinierung beschreibt die Fähigkeit eines Menschen, „sich zu vergegenwärtigen, dass eine andere Person etwas anderes denkt als sie selbst“ (Rietz 2017, 85). Diese Fertigkeit basiert auf dem false belief, das eine kognitive Grundlage darstellt, um eine Theory of Mind bilden zu können (vgl. Hartner 2012, 114). Für narrativ vermittelte Perspektiven bedeutet dies, dass Rezipierende in der Lage sind, die durch die Darstellung konstruierte Perspektive von der eigenen abzugrenzen und verschiedene dargebotene Perspektiven getrennt zu betrachten. Diese Fähigkeit umfasst auch die Unterscheidung von narratorialer und figuraler Perspektive (vgl. Rietz 2017, 85). Obwohl Rietz mit seinen Ausführungen eng dem literarischen Erzählen verhaftet bleibt, bietet sich eine Übertragung auf das Pen-and-Paper-Rollenspiel an, da hier die Voraussetzung ist, zwischen Erzählperspektiven zu koordinieren, um den Kommunikationsprozesses gelingen zu lassen. So muss hier nicht nur zwischen der primär narratorialen Perspektive der Spielleitenden und der figural realisierten Perspektive der Spielenden unterschieden, sondern aufgrund der mehrfach existierenden Erzählinstanzen zugleich eine deutliche Zuordnung und Abgrenzung der einzelnen figuralen Perspektiven geschaffen werden. Es muss demnach für jeden oder jede der Teilnehmenden deutlich werden, aus welcher spezifischen Perspektive gemäß den jeweiligen Erzählrechten kommuniziert wird und dabei eine je eigene Hierarchisierung zwischen den Erzählinstanzen entfaltet werden. Zugleich – und dies betrifft sowohl das eigene als auch das Erzählen der anderen Teilnehmenden– muss man sich vergegenwärtigen, dass trotz der vokalen Ähnlichkeit der erzählenden Stimme mit den Stimmen der realen Teilnehmenden ein Unterschied zwischen realer Person, Erzählinstanz und Figur besteht. Das Bewusstsein über die verschiedenen Erzählperspektiven im Pen-andPaper-Rollenspiel verdeutlicht folgendes Beispiel treffend: S7: Dungeons and Dragons 2 S7.3: Privatgespräch SL: Aa: Bi: Aa:
Ihr seht Topli redet kurz mit sich selbst, Hm Ich gehe zu Topli und sage alles klar bei dir? (1.0) Ja wir müssen (.) wir müssen unbedingt (.) ähm: (2.0) wir müssen unbedingt Lootik äh (1.0) finden. 02:54:57‒02:55:13
7.5 Teilbereich 4: Empathie und Perspektivübernahme
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Wenngleich Birgit (Bi) die vorherige Redesequenz mithört, in der Aarons (Aa) Figur mit einem magischen Schwert spricht, spielt sie danach ihre Figur so aus, als hätte sie dieses Gespräch nicht mitbekommen. Sie ist sich folglich der Differenz zwischen Spielenden- und Figurenwissen bewusst und schränkt den perspektivischen Wissenshorizont der gespielten Figur ein. Als zweite Stufe der Perspektivübernahme definiert Rietz (2017, 78) die Perspektivenkonstruktion, die an die Koordinierung der Perspektiven andockt, jedoch zusätzliche mentale Fertigkeiten erfordert, besonders die Fähigkeit zum mehrstufigen schlussfolgernden Denken. Zu dieser Form der Perspektivübernahme gehören verschiedene Facetten der Konstruktion, die Rietz unter die Begriffe der Vorstellung, Abgleichung und Bewertung summiert. In der narrativen Rezeption werden unter Zuhilfenahme des textinternen und textexternen Wissens Vorstellungen generiert, die die Darstellung nicht explizit bereithält (vgl. Rietz 2017, 87). Diese Vorstellungen können im Folgenden mit der eigenen Perspektive sowie mit möglichen anderen, im narrativen Text vorhandenen Perspektiven abgeglichen und für die storyworld als zutreffend oder nicht zutreffend bewertet werden (vgl. Rietz 2017, 87). Im Pen-and-Paper-Rollenspiel ist die Perspektivenkoordination sowohl für das Ausspielen der Figur als auch innerhalb der vorherrschenden Multiperspektivität zwischen den unterschiedlichen Erzählinstanzen relevant. Im Ausspielen fordert der Erzählprozess von den Teilnehmenden, das Figurenhandeln gemäß den eigenen Einschätzungen zu gestalten. Vor allem in den Fällen, in denen in der Vorbereitung die Entwicklung eines Figurenbewusstseins angestrebt wird, sind die Spielenden dazu gezwungen, die durch die anderen Teilnehmenden präsentierten narrativen Informationen mittels mentaler Simulation imaginativ zu erweitern (vgl. Kap. 6.2.2). Bemüht man sich in diesem Fall um eine Trennung zwischen Spieler/-innen- und Figurenbewusstsein, ist es erforderlich, eigene Wissensbestände in den Deutungsprozess einzubringen, um so der Figur ein konsistentes mentales Innenleben zu verleihen. Das folgende Beispiel illustriert einen solchen Prozess der Ausdeutung eines mentalen Figurenbewusstseins: S6: Dungeons and Dragons 1 S6.1: Einstieg SL: Wa: SL:
[Ähm (.)] Wacht langsam äh auch dein Charakter auf ((blickt in Richtung Wa)). [Wache ich auf.] Ja ich schaue ((blickt in die Luft)) ich mich da auch erst einmal um, [sehe] Bist wahrscheinlich auch so [ein bisschen schwach? gerade erst wieder zu dir gekommen]
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Wa:
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[Genau] genau ich realisiere quasi das ich jetzt (.) äh mein altes Leben hinter mir gelassen habe als (.) Barde und schöngeistiger (.) äh (.) äh Halbelf, und schaue mich erst einmal um, und äh (.) 00:06:55–00:07:03
Die Spielleiterin (SL) bietet Walter (Wa) durch eine Zustandsbeschreibung einen möglichen Anknüpfungspunkt zur Konkretisierung der eigenen Figurenperspektive („Bist wahrscheinlich auch so [ein bisschen schwach“). Walter nimmt dieses Angebot an („Genau“), erweitert es aber in der Hinsicht, dass er neben dem unmittelbaren Zustand auch auf die mentalen Vorgänge seiner Figur eingeht. Er beschreibt dabei die Bewusstseinsvorgänge, die die zentrale Reflexion des Erlebten betreffen („ich realisiere quasi das ich jetzt (.) äh mein altes Leben hinter mir gelassen habe“). Das Abgleichen und Bewerten dieser Perspektiven ist ebenso relevant für den Spielprozess: Die Teilnehmenden müssen sich bewusst werden, dass auch andere Spielende figurale Perspektiven konstruieren können und diese mit der eigenen Erzählperspektive in Beziehung setzen. Dazu kann einerseits gehören, die Perspektivenkoordinierung auch für andere Figuren durchzuführen, um so Handlungsmöglichkeiten für die eigene Figur zu erlangen, andererseits auch sich über mögliche subjektive storyworlds bewusst zu sein, die sich teilweise, aber nicht gänzlich mit der intersubjektiven storyworld decken. Inwieweit der oder die Teilnehmende diese Deckungsgleichheit anstrebt, stellt ebenfalls einen Teil dieses Bewusstwerdens dar. Gestattet der oder die Teilnehmende den anderen Teilnehmenden einen Einblick in das Figurenbewusstsein, indem er oder sie beispielsweise Formen der Gedankenrede (vgl. Kap. 5.1.4) in den Erzählprozess integriert, werden mentale Vorgänge expliziert, was anderen Spielenden die Konstruktion der figuralen Perspektive mitunter erleichtert. Das folgende Beispiel zeigt, dass eine solche Konkretisierung der Figurenperspektive bewusst eingefordert werden kann: S5: Pathfinder 2 S5.1: Einstieg Uw:
SL:
Lucian hat äh(.) so ein recht farbenfroh auch ((zeigt auf ein Dokument)) dem Bild entsprechend tatsächlich ähm (.) Kleidung einen sehr sehr gepflegten schönen Bart. (1.0) Ähm (.) und äh hat als als Gür- also trägt auch ein Gürteltuch allerdings in orange also hier ist es jetzt rot ((deutet erneut auf das Dokument)) also (.) äh (.) ein oranges Gürteltuch. (.) Und ja durchschnittlich groß. Mhm. Wenn man (.) Lucian jetzt so ins Gesicht schaut ähm (.) wie zufrieden sieht er gerade aus also was ist sein Gesichtsausdruck
7.5 Teilbereich 4: Empathie und Perspektivübernahme
Uw:
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gerade? Ähm, (1.0) Wenn ichs skeptisch ist vielleicht das falsche Wort, ähm (.) aber so in diese Rich-also (.) er ist nicht ganz zufrieden. 00:27:12–00:27:51
Nach der Beschreibung der Spielfigur bittet der Spielleiter (SL) Uwe (Uw), den Gesichtsausdruck der Figur genauer zu beschreiben. Auch wenn Uwe anschließend wenig über das Innenleben der Figur preisgibt, ermöglicht die Beschreibung der Mimik anderen Spielenden, die Perspektive von Uwes Figur zu konkretisieren und gleichzeitig ihre eigenen Erzählbeiträge an das Verhalten dieser Figur anzupassen. Werden mentale Vorgänge bewusst nicht thematisiert, können durch Unbestimmtheitsstellen Spannungsmomente entstehen. Auch die von Rietz genannte Bewertung der jeweiligen Perspektive kann eine Rolle spielen, vor allem dann, wenn sich einzelne (figurale) Perspektiven als unzuverlässig herausstellen (vgl. Kap. 5.1.3). Die dritte Stufe der Perspektivübernahme stellt die Perspektivrelativierung dar, die sich zwischen der Perspektive der Rezipierenden und den narrativ vermittelten Perspektiven einstellen kann. Im Anschluss an die von Wolf Schmid (2014 [2005], 123) klassifizierte ideologische Perspektive bedeutet eine Relativierung, die dargestellten Perspektiven als Produkt der durch die Erzählinstanz repräsentierten Normen und Werte zu begreifen, die in Kontrast oder auch in Einklang mit den eigenen Wertvorstellungen stehen können. Diese Relativierung kann sowohl auf kultureller und historischer als auch entwicklungspsychologischer Ebene entstehen (vgl. Rietz 2017, 91). Im Pen-and-Paper-Rollenspiel existiert die Perspektivrelativierung erneut in doppelter Hinsicht. Nicht nur in Fällen, in denen man selbst verschiedene Perspektiven präsentiert bekommt, ist es möglich, diese nach ideologischen Parametern zu beurteilen und zu bewerten. Ebenso ermöglicht das Ausspielen der Figur die bewusste Trennung zwischen der eigenen ideologischen Perspektive und den durch die Erzählung gewonnenen figuralen Wissensbeständen. Dass diese Trennung manchmal schwierig ist, verdeutlichen die von Herbrik (2011, 189) beobachteten Praktiken verschiedener Rollenspielgruppen, die die Vermischung von Figurenund Spieler/-innenwissen bewusst zu verhindern versuchen. Diese Praktiken können auch die von Rietz (2017, 91) proklamierte Aussage stützen, dass sich die Fähigkeit der Perspektivrelativierung erst in der Adoleszenz einstellt und sich kontinuierlich weiterentwickelt. In seinem Modell stellt Rietz nur geringen Bezug zur Emotionseinnahme und zur Abhandlung von Emotionsprogrammen her. Begreift man nach Eder (2008a, 725–726) die perspektivische Einschätzung einer Situation oder Figur, „die mit bestimmten Körperreaktionen verbunden und dadurch zu Emotionen werden“, als Initial für Emotionsprogramme, stellt sich gerade die Stufe der Perspektivenkonstruktion als zentraler Ort dar, an dem mit der Vorstellungsbildung und Bewertung
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7 Pen-and-Paper-Rollenspiele und literarisches Lernen
eine emotionale Besetzung vonstattengeht. Die Wahrnehmung und Zuschreibung von Emotionen, die mit der perspektivischen Koordinierung und Konstruktion einhergehen, dienen in diesem Kontext als Aktivatoren von Emotionsprogrammen, die sich als empathisches Empfinden charakterisieren lassen. Nach Winkler (2015, 160) lässt sich dieser Prozess als Distanzierung des oder der Lesenden von sich selbst beschreiben, deren Grundlage die Bereitschaft ist, sich in die Figur hineinzuversetzen. Diese Form des Alteritätsempfindens erweitert Spinner (2006, 9) in seiner Definition der Perspektivübernahme um den Rezeptionseindruck, „dass man eigene Gefühle und Sichtweisen […] im Text wiederfindet“ und zugleich „in der Logik des Textes denkt und auch die Fremdheit von Figuren wahrnimmt“. Das von Spinner beschriebene Spektrum eines Alteritätsempfindens, das sich zwischen dem Erkennen von Eigenem und Fremden aufspannt, zeigt sehr deutlich, dass das Identifizieren mit Figuren kein Identifizieren im eigentlichen Wortsinne ist, sondern lediglich das Herstellen von Relationen zwischen dem Selbst und der Figur (vgl. Eder et al. 2011, 47). Das Spektrum verdeutlicht zudem, dass diese Relationen nicht nur aus Emotionen bestehen müssen, sondern ebenfalls „Sichtweisen“ umfassen können. Gerade diese erweiterte reflexive Einnahme bestimmter Sichtweisen verdeutlicht in kognitiver Hinsicht die Nähe der Perspektivübernahmekompetenz zu den Selbstkonzepten und Selbstentwürfen, die in einem storyworld possible self-blend (vgl. Kap. 6.2.2) die figurale Immersion kennzeichnen. Das Pen-and-Paper-Rollenspiel ermöglicht es insofern, durch die selbstgesteuerte Entwicklung einer Figur die Perspektivübernahme deutlich zu erleichtern. Folgt man der in Kapitel 6.2.2 formulierten Einschätzung, dass es für Spielende gerade in der Figurenerschaffung möglich ist, Selbstkonzepte und Identitätsentwürfe zu realisieren, bietet sich ein individueller Zugang zur Perspektivübernahme, der je nach persönlichem Geschmack und eigenen Fähigkeiten subjektiv vertieft werden kann. Diese Einschätzung bestätigt auch Flöter (2017, 191), wenn sie die Figurengestaltung im Rollenspiel als „ästhetisch überformte Identitätsarbeit“ kennzeichnet, in der der ästhetische Schaffensakt die eigene Selbsterfahrung spiegeln kann (vgl. Flöter 2017, 190). Der Arbeitsaspekt, der sich an diesen Schaffensakt anschließt, tritt dann ein, wenn die Figur während des Spiels in Interaktion mit anderen Figuren und Gegebenheiten tritt (vgl. Flöter 2017, 188). Diese Interaktion stellt ein zentrales Merkmal des Rollenspiels als Imaginationstätigkeit dar und hebt sich insofern von anderen imaginativen (Selbst-)Entwürfen ab, als sie es im Vollzug erforderlich macht, produktiv konkretisiert zu werden.
7.6 Zusammenfassung
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7.6 Zusammenfassung Für ein mögliches literarisches Lernen mit Pen-and-Paper-Rollenspielen mussten zu Beginn dieses Kapitels zwei grundlegende Bedingungen geklärt werden: Erstens ist gemäß gegenwärtigen literaturdidaktischen Theorien zu konstatieren, dass alle Medien potenziell literarische Verstehensprozesse anregen können (vgl. u. a. Abraham 2008a [2005]). Dass diese Möglichkeit auch für das Pen-and-Paper-Rollenspiel zutrifft, wurde in Kapitel 6 belegt, da es zentrale Eigenschaften literar-ästhetischer Kommunikation erfüllt, die vor allem in der Erzeugung einer ästhetischen Illusion kulminieren. Zweitens wurde sich in der erfolgten Theoriebildung für einen möglichst weit gefassten Begriff literarischer Lernszenarien entschieden, der nicht nur den schulischen Literaturunterricht betrifft, sondern um andere nicht-institutionelle Settings erweitert wird. Wenn nach Kepser und Abraham (2016 [2005]) Literatur als Handlungsfeld mit individueller, sozialer und kultureller Bedeutsamkeit definiert werden kann, ist es also denkbar, dass literarische Lernprozesse in verschiedenen Situationen ablaufen können, sei es in der individuellen Auseinandersetzung mit literarischen Gegenständen oder sei es in anderen sozialen und kulturellen Kontexten. Mit dem Bochumer Modell literarischen Verstehens (vgl. Boelmann und Klossek 2013; Boelmann et al. 2020, Boelmann und König 2021) wurde eine Systematisierung gewählt, die diesen beiden Prämissen gerecht wird. Es verortet das literarische Verstehen als übergreifendes Konzept literarischen Lernens und literarischer Bildung und berücksichtigt ebenfalls die kognitiven und emotionalen Faktoren, die literarische Bildungsprozesse kennzeichnen. Das Modell beachtet zudem den Performanzaspekt, der an das literarische Verstehen anschließt und mögliche Verarbeitungsund Verstehensprozesse offenlegen kann. Da das Pen-and-Paper-Rollenspiel aufgrund seiner kommunikativen Strukturierung sowohl narrative Rezeptions- als auch Produktionsvorgänge in sich vereint, ist es sinnvoll, beide Bereiche auf literarische Lernpotenziale hin zu überprüfen (vgl. Kap. 7.1). Das Bochumer Modell klassifiziert die Analyse der Erzählung und der Erzählinstanz als Grundelement der literarischen Kompetenz. Nur vereinzelt geht es hierbei jedoch auf die performativen Herausforderungen des Erzählens ein, die gerade für das Pen-and-PaperRollenspiel so essenziell sind, da sie eng an die konkreten kognitiven und affektiven Verarbeitungsprozesse in der Rezeption geknüpft sind. Es war also einerseits nötig, die narrativen Herausforderungen, die sich im Erzählen ergeben, zu erschließen und zu reflektieren, andererseits die prozessualen Bedingungen der narrativen Produktion zu berücksichtigen. In Anlehnung an die sprachwissenschaftliche Erzähltheorie und Erzählerwerbsforschung wurden mit dem Markieren, Vertexten und Kontextualisieren drei zentrale Aufgaben definiert, die in der narrativen Produktion von den Partizipierenden geleistet werden müssen.
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7 Pen-and-Paper-Rollenspiele und literarisches Lernen
Die Erzählung stellt den Grundaspekt des literarischen Verstehens im Penand-Paper-Rollenspiel dar und ist zugleich der zentrale Ausgangspunkt für das literarische Lernen. Aufgrund der kommunikativen Struktur sowie der Prinzipien der ästhetischen Illusion, die im Rollenspiel realisiert werden, ergeben sich jedoch weitere Teilbereiche im Umgang mit der Erzählung, von denen die wichtigsten in diesem Kapitel betrachtet wurden. Die Fiktionskompetenz stellt den ersten Teilbereich literarischen Lernens im Pen-and-Paper-Rollenspiel dar (vgl. Kap. 7.2). Neben einer generellen Unterscheidung und Differenzierung von Fiktionalität und Realität sind im Rollenspiel vor allem die verschiedenen Formen des make-believe bedeutsam, die mit unterschiedlichen Kommunikationshandlungen verbunden sind. Zentrales Element ist die fiktionale Positionierung im Rahmen eines fictional recentering, die wiederum involvierende Rezeptionsmodi, die durch die ästhetische Illusion begünstigt werden, fördert. Der Umgang mit Fiktionalität verortet sich im Rollenspiel also auch im von Spinner (2010b, 96) definierten Teilbereich literarischen Lernens, „Subjektive Involviertheit und genaue Wahrnehmung ins Spiel bringen“. Während der Umgang und das Einlassen auf die Fiktionalität den Aspekt der subjektiven Involviertheit kennzeichnen, ist die genaue Wahrnehmung der strukturellen und kontextuellen Faktoren der Rollenspielerzählung relevant, um den Erzählprozess reibungslos fortzusetzen. Das Aufdecken und Verhandeln von Wissenskorrespondenzen und -differenzen stellen somit den zweiten Teilbereich literarischer Lernprozesse im Pen-and-Paper-Rollenspiel dar, die sich im Umgang mit der Erzählung ergeben (vgl. Kap. 7.3). Da in diesem Erzählprozess in verschiedenen Situationen die Polyvalenz einzelner Bestandteile der Kommunikation offengelegt wird, beispielsweise wenn Teilnehmende gänzlich unterschiedliche Vorstellungen über bestimmte fiktive Gegenstände haben, wird darüber hinaus das Bewusstsein über die Offenheit des Sinnbildungsprozesses gefördert. Diese Offenheit betrifft nicht nur Leer- und Unbestimmtheitsstellen, die innerhalb der intersubjektiven storyworld auftreten, sondern auch evaluative Faktoren, die in der Metakommunikation des Rollenspiels verhandelt werden können. Hieraus ergibt sich das generelle Potenzial, populärkulturelles Wissen im Kommunikationsprozess einzubringen und auszuhandeln, was den dritten Teilbereich literarischen Lernens im Rollenspiel darstellt (vgl. Kap. 7.4). Aufgrund zahlreicher transtextueller Referenzen, die Pen-and-Paper-Rollenspiele bereits in ihren Regelmaterialien integrieren, ist es nicht nur Teil, sondern Aushandlungsort populärer Kultur. Indem mediale Erfahrungen in den Erzählprozess eingebracht und in der Metakommunikation mitunter auch explizit verhandelt werden, ermöglicht das Pen-and-Paper-Rollenspiel, über diese Erfahrungen bewusst zu reflektieren. Diese Reflexion lässt sich dabei als produktiver Aushandlungsprozess begreifen, da
7.6 Zusammenfassung
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die Erfahrungen zugleich in eigene narrative Produkte transformiert und in den erzählerischen Kommunikationsprozess eingebracht werden können. Als letzter Teilbereich wurde die Empathie und die Perspektivübernahme definiert (vgl. Kap. 7.5). Die generelle Ausrichtung auf Figuren im Rollenspiel begünstigt Formen figuraler Immersion, die in Kapitel 6.2 genauer betrachtet wurden. Die generelle Kompetenz, Perspektiven wahrzunehmen und zu konkretisieren und daran anschließend auch eine emotionale Besetzung dieser Perspektiven vorzunehmen, erfordert spezifische Teilkompetenzen. Diese wurden im Rückgriff auf Rietz’ Theorie als Perspektivenkoordinierung, Perspektivenkonstruktion und Perspektivenrelativierung definiert und für das Pen-and-Paper-Rollenspiel präzisiert. Nachdem die didaktische Theoretisierung literarischer Lernprozesse im Penand-Paper-Rollenspiel nun abgeschlossen ist, sollen auf Basis der vorgestellten (Teil-)Bereiche im Folgenden einige methodische Überlegungen entwickelt werden, die den Transfer des Pen-and-Paper-Rollenspiels in literarische Lehr- und Lernsettings betreffen.
8 Rollenspiele im Literaturunterricht Auf Basis der bisherigen Überlegungen werden im Folgenden zwei methodische Ansätze skizziert, die das Pen-and-Paper-Rollenspiel im Literaturunterricht verorten. Da der vorliegende Band keinen Anspruch auf die Entwicklung schulpraktischer Forschungsdesigns erhebt und somit auf keine spezifische Lernform zugeschnitten ist, wird der Begriff Literaturunterricht möglichst weit gefasst: Es soll hier um literarische Lehr-Lern-Szenarien in einem institutionellen Rahmen gehen, die in klassischen Formen des Deutschunterrichts, in außerschulischen Angeboten oder auch in hochschuldidaktischen Formaten realisiert werden. Diese Erweiterung des Blickfeldes erfolgt vor dem Hintergrund der Auffassung, dass literarische Kompetenzförderung nicht allein in formell gerahmten Settings, wie beispielsweise dem Deutschunterricht, stattfinden kann, sondern auch im Rahmen offenerer Angebote, etwa im Kontext von Schularbeitsgemeinschaften, Projekttagen oder den Angeboten der Freizeitpädagogik. Wenngleich eventuelle Hürden, die die einzelnen institutionellen Settings mit sich bringen können, nur am Rande thematisiert werden, sind es vor allem konzeptionelle Herausforderungen, die in diesem ersten Schritt diskutiert werden müssen. Denn im Gegensatz zu anderen narrativen Medien, die in den Literaturunterricht eingebracht werden können, fordert das Pen-and-Paper-Rollenspiel aufgrund seiner Komplexität eine erhöhte Aufmerksamkeit bezüglich seiner methodischen Einbettung, der hier Rechnung getragen werden soll. Zum jetzigen Zeitpunkt existieren noch keine konkreten methodischen Konzepte, Pen-and-Paper-Rollenspiele in literarische Lehr- und Lernszenarien einzubeziehen, die an Theorien der (germanistischen) Literaturdidaktik anschließen. In Bezug auf die anderen Fachdidaktiken liegen hingegen bereits einige wenige Konzeptionen vor, die auch mittels empirischer Studien erhoben wurden. Pappe (2011, 167–175), der Pen-and-Paper-Rollenspiele in der Erwachsenenbildung einsetzt, zeigt, dass sie für künstlerische Bildungsprozesse geeignet sind. Zwar haben seine Ergebnisse nur eine begrenzte Aussagekraft für die literaturdidaktische Modellbildung, doch sind es vor allem die von Pappe beschriebenen allgemeinen konzeptionellen Herausforderungen, die sich für die Entwicklung eines methodischen Ansatzes als brauchbar erweisen. Pappe verweist auf drei zentrale Schwierigkeiten, die bei der Einbettung von Pen-and-Paper-Rollenspielen in didaktische Lehr-Lern-Szenarien zu bedenken sind: Erstens konstatiert er, dass es sich nicht für jüngere Kinder eigne, da die Zielgruppe der meisten Rollenspiele eher Jugendliche und Erwachsene seien (vgl. Pappe 2011, 147). Schwierigkeiten sieht Pappe aufgrund prozessualer Eigenschaften der Penand-Paper-Rollenspiele, darunter die erforderliche „Trennung zwischen Hintergrund und Regelteil, die Unterscheidung von Spielerwissen und ‚Charakter-Wissen‘, https://doi.org/10.1515/9783110788983-008
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die Abstraktion der Regeln und ihre Umsetzung“ sowie „bestimmte Inhalte der gängigen Abenteuer-Genre[s]“ (Pappe 2011, 147–148). Zwar gehören diese Probleme zu den in Kapitel 7.3 benannten sozialisatorischen Unterschieden zwischen Erwachsenen und Kindern und betreffen auch die sich erst im Kindes- und Jugendalter entwickelnde Erzähl- und Perspektivübernahmekompetenz, doch stellen sie keine Schwierigkeiten dar, die jüngeren Kindern einen Zugang zum Pen-andPaper-Rollenspiel generell unmöglich machen. Sofern man literarische Bildung und literarisches Lernen als sich bedingende Größen begreift, erweist sich die Konfrontation mit dem Unbekannten oder Irritierenden gerade als Aufforderung, sich eingehender damit auseinanderzusetzen. Potenziale bietet das Pen-and-Paper -Rollenspiel vor allem deshalb, weil es unmittelbar an die verschiedenen Formen des Kinderspiels anknüpft (vgl. Bowman 2010, 105; Grouling Cover 2010, 98; Montola 2008, 28), da auch hier imaginatives Rollenspiel realisiert werden kann. Der hohen regelbezogenen Komplexität einzelner Rollenspiele wird in jüngster Zeit vor allem durch die Publikation vereinfachter Regelsysteme Rechnung getragen. Dass Pen-and-Paper-Rollenspiele auch jüngere Kinder als Zielgruppe haben, zeigen Veröffentlichungen wie So nicht, Schurke! (2020), das für Kinder ab fünf Jahren konzipiert ist. Die zweite konzeptionelle Schwierigkeit, die Pappe (2011, 148) anführt, bezieht sich auf die lange Spieldauer von Pen-and-Paper-Rollenspielen, die sich mitunter über mehrere Stunden erstreckt und sich zumeist auf mehrere Termine ausdehnt. Zwar gibt es im Independent-Bereich zahlreiche Rollenspiele, die bewusst auf ein kürzeres Spielerlebnis ausgelegt sind, wie Fiasco (Morningstar und Segedy 2016 [2009]) oder Lady Blackbird (Harper 2016), doch ist Pappe insofern zuzustimmen, als viele schulische und universitäre Lernsettings auf normierte Zeitfenster ausgelegt sind (45 Minuten beziehungsweise 90 Minuten). Diese Einschränkung muss bei der methodischen Konzeption berücksichtigt werden. Als dritte Schwierigkeit benennt Pappe (2011, 148) die Größe vieler Lerngruppen. Gemeinhin werden Pen-and-Paper-Rollenspiele in einer Spielgruppe von drei bis sieben Personen durchgeführt, wobei eine dieser Personen konventionell die Rolle des oder der Spieleiter/-in einnimmt. Größere Lerngruppen müssen folglich in kleinere Einheiten aufgeteilt zu werden, um der geeigneten Spielgruppengröße im Pen-and-Paper-Rollenspiel zu entsprechen. Lösungsmöglichkeiten für das Gruppeneinteilungsproblem bieten zwei empirische Zugänge, die in anderen fachdidaktischen Settings erprobt wurden. In der Konzeption von Cook et al. (2017) wird das Pen-and-Paper-Rollenspiel im Mittelstufenunterricht als Teil einer Lerneinheit im Fach Englisch implementiert. Die Schüler/-innen gruppieren sich nach persönlicher Präferenz in Kleingruppen und übernehmen vorgefertigte Spielfiguren. Die Lehrkraft präsentiert in der Rolle des oder der Spielleitenden den Gruppen verschiedene Probleme und Hindernisse, die anschließend in gemeinsamer Diskussion und Kolla-
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boration gelöst werden müssen. Den Gruppen wird dazu ein festgelegter Zeitrahmen gesetzt, in dem sie der Lehrkraft ihre Handlungsvorschläge mitteilen müssen, während diese sich den anderen Gruppen widmet (vgl. Cook et al. 2017, 67). Eine andere Möglichkeit der Gruppeneinteilung liefern Klimick et al. (2016), die ein Pen-and-Paper-Rollenspielprojekt in der universitären Lehre durchgeführt haben. Sie vergrößerten die Gruppen, indem sie je zwei Spielenden die Kontrolle über eine Figur zuordneten. Während der zwei durchgeführten Spielsitzungen übernahm ein oder eine Spieler/-in die Rolle der Figur, während der oder die andere Spieler/-in als „conscience“ (vgl. Klimick et al. 2016) agierte, der oder die den Partner/-innen Hinweise geben konnte und die wichtigsten Spielereignisse niederschrieb. Nach einem gemeinsamen Austausch zwischen den Spielsitzungen wechselte diese Rolle. Sowohl Cook et al. als auch Klimick et al. betten die Spielsitzung in eine größere Lerneinheit ein und integrieren auch Vorbereitungs- und Anschlusshandlungen, die auf den Spielprozess ausgerichtet sind. Bei Klimick et al. steht dabei die Entwicklung einer Figur im Vordergrund, die in Partner/-innenarbeit sowohl vor als auch zwischen den Spielsitzungen vollzogen wird. Im Falle der von Cook entwickelten Einheit wird das Pen-and-Paper-Rollenspiel selbst als Anschlusshandlung an die Lektüre einer Kurzgeschichte implementiert, um zentrale Konflikte, die in der Geschichte thematisiert werden, aufzugreifen und weiterzuentwickeln (vgl. Cook et al. 2017, 65). Während die thematisierten Zugänge aufgrund ihrer fachdidaktischen Ausrichtung die durchaus mögliche Anknüpfung an die literaturdidaktische Theorie nicht explizieren, finden sich weitere Bezugsmöglichkeiten in der Literaturdidaktik, wenn man den Blick auf die Spielgattung Rollenspiel (vgl. Kap. 2.2) erweitert. Hier sind es insbesondere Formen des Larps, speziell die in Skandinavien populäre Form des Nordic Larps (vgl. Harviainen et al. 2018, 91), die aktuell in Gestalt des Edularps (vgl. Bowman und Standiford 2016, 5; Torner 2015, 56) Eingang in verschiedene Fachdidaktiken und methodische Überlegungen gefunden hat. Vor allem die Überlegungen Evan Torners (2015) und die Konzeption Katrin Geneuss’ (2019) entwickeln mitunter direkte Anknüpfungspunkte zur literaturdidaktischen Theorie. Edularps lassen sich nach Geneuss (2019, 74) als Einsatz von Larps in Bildungskontexten beschreiben, „mit dem Ziel, Inhalte zu vermitteln, Perspektiven zu erforschen oder Kompetenzen zu entwickeln oder zu schulen“. Im Larp übernehmen Spielende die Rolle von Figuren und treten in einem vorher definierten physischen Raum in Interaktion, was bedeutet, dass auch die körperlich-schauspielerische Darstellung der Figur (manchmal ergänzt durch eine Kostümierung) erforderlich ist. Spielleitende agieren im Larp zumeist in verwaltender und ordnungsstiftender Funktion, indem sie beispielsweise einzelnen Teilnehmenden, die als Nicht-Spieler/ -innen-Charaktere agieren, Anweisungen und Informationen geben, um bestimmte vorgeplante Ereignisse zu initiieren (vgl. Deterding und Zagal 2018a, 34–35). Das
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Edularp unterscheidet sich von den herkömmlichen Formen des Larps, da es auf im Vorhinein definierte Lernziele konzipiert ist, „die in der Vorbereitungs- und Reflexionsphase im Mittelpunkt der Diskussion stehen“ (Geneuss 2019, 75). Geneuss (2019, 51) entwickelt eine umfassende didaktische Konzeption des Edularps, die sie sowohl mit den durch die Kultusminsterkonferenz formulierten Bildungsstandards des Deutschunterrichts als auch mit dem literarischen Lernen zusammenführt. Sie begreift das Edularp als ganzheitliche und erfahrungsbasierte Lernform, in der Lernprozesse innerhalb eines Lehr-Lern-Arrangements sowohl selbständig und selbstgesteuert als auch begleitend stattfinden können (vgl. Geneuss 2019, 12 u. 15). Methodisch orientiert sich ihre Konzeption an handlungs- und produktionsorientierte Formen des szenischen Spiels im Deutschunterricht (vgl. Geneuss 2019, 52–59). In seinem Aufsatz „Teaching German Literature Through Larp“ entwickelt Torner (2015) einen ähnliche Konzeption des Edularps, den er im deutschen Fremdsprachunterricht ansiedelt. Ansatzpunkt bildet die Adaption literarischer Stoffe in Larps, die er an verschiedenen Beispielen veranschaulicht. Nach Torner (2015, 55) fördern derartige Adaptionen die emotionale Involviertheit und stärken die intrinsische Motivation, sich analytisch mit dem Text auseinanderzusetzen. Wenngleich beide Ansätze trotz ihrer strukturellen Unterschiede in den folgenden methodischen Überlegungen berücksichtigt werden sollen, ist es sinnvoll, weitere verwandte methodische Konzepte einzubeziehen, die bereits im Rahmen des Literaturunterrichts realisiert oder diskutiert werden. Denn auch wenn das Edularp gerade in skandinavischen Ländern mittlerweile in verschiedenen Schulformen Eingang in die unterrichtliche Praxis gefunden hat (vgl. Geneuss 2019, 8), ist der Diskurs in Deutschland noch nicht weit fortgeschritten. Es sollen deshalb in einem ersten Schritt Bezüge zu anderen methodischen Konzepten im Literaturunterricht hergestellt werden, die bereits in einem größeren Rahmen diskutiert werden.
8.1 Dramenpädagogik und szenische Interpretation Der Bezug zum szenischen Spiel, den Geneuss für das Edularp herstellt, erscheint auch für das Pen-and-Paper-Rollenspiel angebracht, da der Spiel- und Kommunikationsprozess in verschiedener Hinsicht an theatrale Formen des Rollenspiels anknüpft (vgl. Kap. 4). Das imaginative Rollenspiel findet bereits seit Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts Eingang in verschiedene Lernsettings (vgl. Kap. 2.1), sei es im sozialpädagogischen, schulischen oder therapeutischen Rahmen (vgl. Günther 2019, 15–16). Diese Formen des didaktischen Rollenspiels lassen sich nach Denk (2010, 491) weiter in soziale und szenische Varianten gruppieren, wobei erstere zentral die Übernahme
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sozialer Rollen betreffen, also einen stärkeren Fokus auf die soziale Realität der Beteiligten legen. Ziele des sozialen Rollenspiels sind unter anderem die Förderung von Sprach- und Kommunikationskompetenzen, das Hineinversetzen in andere Situationen oder Personen, die Veränderung bestimmter Verhaltensmuster sowie die Förderung sozialer Handlungskompetenzen wie Konfliktlösung und Kommunikationsfähigkeit (vgl. Denk 2010, 491–492). Im Deutschunterricht kommt das soziale Rollenspiel besonders in Form des sprachdidaktischen Rollenspiels zum Einsatz, das sich historisch aus ersterem entwickelt hat. Ziel ist hier neben der Förderung grundlegender sozialer Kompetenzen, Kommunikationssituationen einzuüben und zu bewältigen, in denen nur Rollen und Situationen, aber kein konkreter Verlauf vorgegeben ist (vgl. Spinner 2001, 7). Szenische Rollenspiele gründen auf theaterpädagogischen Ansätzen, die in den 1970er Jahren entwickelt wurden, und versammeln eine Vielzahl verschiedener Methoden und Techniken (vgl. Lensch 2003), die das Ausspielen einer Theaterrolle (vgl. Denk 2010, 491) in den Vordergrund stellen. Insbesondere der von Lensch (2003) definierte Ansatz des literarischen Rollenspiels, der sich auf die theatrale Adaption einer literarischen Vorlage bezieht, wurde in literaturdidaktische Konzeptionen aufgenommen. Neben den allgemeinen Vorzügen, die das Rollenspiel bietet, wie das Gefühl subjektiver Selbstwirksamkeit (vgl. Lösel 2013, 251) oder das „Probehandeln im fiktiven Spiel mit sprachlichen und nichtsprachlichen Äußerungsformen“ (Denk 2010, 492), sind es weiterhin Potenziale zur Förderung des literarischen Lernens, die die Integration literarischer Rollenspiele in den Literaturunterricht begründen. Dies betrifft unter anderem die Bereiche der imaginativen Perspektivübernahme (vgl. Spinner 2001, 5), des sinndeutenden Verstehens (vgl. Abraham 2008b, 93) sowie der Schulung ästhetischer Wahrnehmung und (sprachlich-ästhetischer) Gestaltung (vgl. Denk 2010, 492–493; Scheller 2016 [2004], 44). Die unterschiedlichen methodischen Ansätze des szenischen Rollenspiels im Literaturunterricht lassen sich in Bezug auf ihre Nähe oder Distanz zu anderen literarischen Gegenständen differenzieren: Geht es im spezifischen Ansatz vornehmlich darum, eine literarische Vorlage in eine szenische Darstellung zu transformieren, indem konkrete Elemente der Vorlage in Einzelszenen oder Szenenreihen umgesetzt werden (vgl. Denk 2010, 496), lässt sich von einem rekonstruierenden Ansatz sprechen (vgl. Lensch 2003), der sich an klassischen Konzepten theatraler Adaption orientiert. Andere Ansätze fokussieren gezielt Offenheits- und Leerstellen einer literarischen Vorlage, die durch eine szenische Interpretation spielerisch gefüllt werden können (vgl. Scheller 2016 [2004], 88). Einen deutlich weiter gesteckten Rahmen bieten Konzeptionen des improvisierenden Theaters (vgl. Lösel 2013; Spinner 2001, 8) sowie die eigene Entwicklung szenischer Darstellungen. Mit dem Konzept der szenischen Interpretation bietet Scheller (2016 [2004]) einen variablen Zugang zum literarischen Rollenspiel, der sich deutlich an den
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Grundsätzen eines handlungs- und produktionsorientierten Literaturunterrichts orientiert. Zentral ist hier die Auffassung, dass die intensive Auseinandersetzung mit einem literarischen Text die Imaginationsbildung anregt, indem Leer- und Unbestimmtheitsstellen produktiv komplettiert und inszeniert werden (vgl. Scheller 2016 [2004], 27). Das szenische Interpretieren wird nicht wahllos, sondern auf Basis der vom Text „vorgegebenen oder angedeuteten Rollen und Situationen“ (Scheller 2016 [2004], 47) vollzogen: Szenisches Interpretieren […] versteht den Text als Entwurf, als Partitur für Szenen, die in Vorstellungen umgesetzt und durch Spielhandlungen dargestellt und gedeutet werden. Diese Deutung ist Performance, was aus dem Englischen übersetzt so viel heißt wie ‚zum Ausdruck bringen‘, ‚zur Vollendung bringen‘. Die Interpretation ist beendet, wenn der Text eine szenische Gestalt bekommen hat, die als Metakommentar der Gruppe zu dem im Text entworfenen sozialen Drama verstanden werden kann. Eine solche Interpretationsweise ist auf die einzelnen Teilnehmer angewiesen, weil diese immer wieder ihre individuellen Vorstellungen und Auslegung des Textes bzw. des szenischen Geschehens entwickeln, darstellen und vergleichend diskutieren müssen. (Scheller 2016 [2004], 47)
Das kreative Handeln und das Entdecken „neuer Wahrnehmungs-, Gestaltungs- und Handlungsmöglichkeiten“ (Scheller 2016 [2004], 28) führt darüber hinaus dazu, sich den Text anzueignen, und ermöglicht es, eigene Deutungsmuster zu entwickeln. Diese Deutungen, die die Teilnehmenden während der Rezeption eines literarischen Textes, aber auch in seiner kreativen Transformation erlangen, können in Gestalt „subjektiver Produktionen“ (Scheller 2016 [2004], 49–50) während des szenischen Spiels innerhalb der Lerngruppe sichtbar gemacht werden. Zwar attestiert Scheller (2016 [2004], 37) den künstlerisch-ästhetischen Formen des Gestaltens – besonders wenn sie wie in den Konzeptionen der szenischen Interpretation in ihrer Ausarbeitung in Kleingruppen vollzogen werden – hohe Potenziale, die auch die Fähigkeiten der literarischen Anschlusskommunikation stärken, doch stellen sich auch Probleme bei ihrer Realisierung ein, und zwar insbesondere dann, wenn Teilnehmende noch keine Erfahrung mit derartigen künstlerisch-ästhetischen Verfahren besitzen (vgl. Scheller 2016 [2004], 38), was sich sowohl auf mögliche Unsicherheiten in der Spielhandlung als auch auf prozessuale Aspekte beziehen kann. Wenngleich derartige Formen der szenischen Interpretation förderlich für die eigene Kreativität sind, können sie gerade dann frustrierend wirken, wenn der eigene Zugang zum literarischen Text erschwert ist oder man nicht spontan genug ist, die eigenen Deutungen und Assoziationen kreativ umzusetzen.1 Gerade in Formen des szenischen Spiels, die stark auf die Improvisationsfähigkeit der Teilnehmenden angewiesen wird, manifestiert sich das Sei-Spontan-Paradox: Das Spiel fordert die Beteiligten zum spontanen Handeln und Gestalten auf – wer dieser Aufforderung nachkommt, handelt jedoch nicht mehr spontan (vgl. Lösel 2013, 128–129).
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Aus diesen Gründen wird dafür plädiert, die Formen szenischer Interpretation stärker strukturell einzubetten, entweder durch das Formulieren konkreter Ziele (vgl. Chudoba 2008, 57) oder durch eine genaue Strukturierung des Ablaufs, der auch spielerisch-theatrale Aufwärmübungen integrieren kann (vgl. Spinner 2001, 6). Schellers Konzeption szenischer Interpretation setzt dabei auf folgende Schritte: Nach dem Lesen des ersten Teils eines Textes werden zunächst die Vorstellungen, Bilder und Projektionen untersucht, mit denen die Beteiligten spontan auf die Handlung und die dargestellten Personen reagieren. Danach werden Lebenszusammenhang und Habitus der Figuren, die im Text von Bedeutung sind, szenisch erkundet. Anschließend übernehmen alle Schülerinnen und Schüler eine Rolle und fühlen sich Schritt für Schritt in die inneren und äußeren Haltungen ihrer Figur ein. Nun erarbeiten sie nacheinander die wichtigen Szenen des Textes und folgen dabei der Handlung: Sie klären die situativen Bedingungen und die Haltung ihrer Figur, bevor sie in ihren Rollen in der Szene agieren. Dann sprechen sie über das Erlebte aus der Rollenperspektive. Abschließend wird das szenisch Dargestellte von Beobachtern und Spielern reflektiert. (Scheller 2016 [2004], 48)
Die Konzeption bestimmt die Lektüre eines literarischen Textes als Ausgangspunkt und setzt vornehmlich auf eine Anschlusskommunikation, die auf verschiedene Rezeptionseindrücke der Teilnehmenden ausgerichtet ist. Die anschließenden Schritte fokussieren die Interpretation und Darstellung der im Text präsenten Figuren, deren Rollen von den Teilnehmenden übernommen werden. Danach werden verschiedene Szenen ausgestaltet, die vorgestellt und reflektiert werden. Scheller konkretisiert das hier etwas vage beschriebene Untersuchen und Erkunden der Figuren des literarischen Textes durch einige methodische Herangehensweisen, die in den verschiedenen Phasen der szenischen Interpretation zur Anwendung kommen können mit dem Ziel, Teilnehmenden einen Raum zur Imagination und kreativen Gestaltung zu bieten. In der Anfangsphase können dies beispielsweise Phantasiereisen sein, die zur Entwicklung „erste[r] Vorstellungen von den im Text entworfenen fremden Lebenszusammenhängen, Räumen, Situationen und Menschen“ (Scheller 2016 [2004], 60) genutzt werden. In der Vorbereitung auf die im Rollenspiel verkörperte Figur wird das Anfertigen von Rollenbiografien oder Rollentexten, freien Rollengesprächen und -monologen sowie Habitusübungen vorgeschlagen (vgl. Scheller 2016, 60–65). Der szenische Interpretationsprozess ist somit nicht nur als ein Nachspielen der durch den literarischen Text vorgegebenen Handlung zu verstehen, sondern enthält immer Momente der Improvisation und der freien Interpretation. Letzteres bezieht sich nicht nur auf konkrete Verhaltensweisen (Sprache, körperliche Haltung), sondern auch auf das Ausdeuten dieser Eigenschaften im Rahmen von „Wahrnehmungen, Empfindungen, […] Erwartungen, Intentionen und Wünsche[n]“ (Scheller 2016 [2004], 53), was eine konstruierende Form der Perspektivübernahme einfordert.
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Der Reflexion des szenischen Spiels kommt eine signifikante Bedeutung zu und ist in dieser Konzeption vor allem deswegen auffallend, weil die Teilnehmenden über das Erlebte in Rollenperspektive sprechen (vgl. Scheller 2016 [2004], 55). Dieses Vorgehen wird gewählt, da es den Teilnehmenden durch das Reflektieren einer Szene aus der Perspektive der Figur leichter fallen soll, die eigenen Einschätzungen „im Schutz der Rolle gefahrloser“ (Scheller 2016 [2004], 56) auszudrücken. Doch auch die Beobachter/-innen des Spiels müssen reflektieren, „welche Haltungen und Beziehungsstrukturen im Spiel über körperliche und sprachliche Handlungen, Gestik und Mimik sichtbar geworden sind“ (Scheller 2016 [2004], 56) und wie diese gedeutet und bewertet werden können. Die Bedeutsamkeit von Beobachter/-innen wird auch in anderen Ansätzen des Rollenspiels betont, da sich die Perspektive von Involvierten und Zuschauenden in vielerlei Hinsicht unterscheiden kann (vgl. Günther 2019, 23–24). Scheller (2016 [2004], 57) schlägt vor, die szenische Darstellung seitens der Beobachter/innen durch sogenannte „Gedankenstopps“ zu unterbrechen, um anhand konkreter Stellen in Spiel und Text „Widersprüche der Selbstwahrnehmung der Spieler und der Fremdwahrnehmung der Beobachter“ zu identifizieren und zu deuten. Eine solche Metakommunikation gibt den Spielenden die Möglichkeit, sich von der eigenen Rolle zu distanzieren und die Erlebnisse zu verarbeiten. Stellt man eine Beziehung zwischen dem szenischen Spiel und dem Pen-andPaper-Rollenspiel her, greifen vornehmlich die Ansätze, die die Bedingungen der Interpretation und Reflexion bei der Inszenierung der szenischen Darstellung berücksichtigen. Schellers Ansatz ist besonders geeignet, weil er den Fokus nicht auf die originalgetreue szenische Adaption eines literarischen Textes legt, sondern die Deutungs- und Imaginationsprozesse betrachtet, die die Übernahme der Rolle einer literarischen Figur mit sich bringen. Diese Übernahmeprozesse, die zentral die imaginative Verortung des Selbst in Bezug auf die dargestellte Figur betreffen, sind für das Gelingen des Rollenspiels als mindset (vgl. Kap. 2) in besonderem Maße relevant, da es einen entscheidenden Beitrag zur figuralen Immersion und zur Förderung der Perspektivübernahme leistet. Diese Herangehensweise kann verhindern, dass das szenische Spiel lediglich auf seinen Aufführungscharakter reduziert wird, indem beispielsweise nur Rollentexte auswendig gelernt und so zentrale Potenziale literarischen Lernens, speziell die Perspektivübernahme, nur begrenzt genutzt werden können. Schellers Ansatz ist weiterhin auch deshalb schlüssig, weil er nicht nur die Imaginations- und Deutungsperspektiven aus individueller Position fördert, sondern auch die Reflexion und Bewertung dieser Perspektiven innerhalb des sozialen Austauschs in den Vordergrund stellt. In szenischen Interpretations- und Inszenierungshandlungen während und nach der schauspielerischen Aufführung unterhalten sich die Teilnehmenden über ihre eigenen Deutungen und bringen diese miteinan-
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der ins Spiel. Während der Ansatz der szenischen Interpretation sowohl von den Teilnehmenden als auch von den Beobachtenden explizit einfordert, sich über die eigenen Eindrücke im und nach dem Spiel auszutauschen, bietet das Pen-and-Paper -Rollenspiel den Vorteil, diese Prozesse bereits in die Spielhandlung zu integrieren, ohne dass eine komplette Unterbrechung des Spiels vonnöten ist. Genauso wie die szenische Darstellung eröffnet es jedoch zugleich Möglichkeiten zur Anschlusshandlung und -kommunikation, um sich über das Erlebte zu unterhalten. Derart prozessorientierte Formen des szenischen Spiels, aber auch die methodisch-didaktischen Ansätze zur Spielgattung Rollenspiel (vgl. Geneuss 2019, 86–87) sind häufig mit der Kritik konfrontiert, in der Praxis wenig praktikabel zu sein und einen hohen Organisations- und Vorbereitungsaufwand zu erfordern. In institutionellen Settings wird diese Kritik zudem um den Einwand erweitert, dass derartige Ansätze mit den Zielen von Lehrplänen nur schwerlich vereinbar sind. Scheller (2016 [2004], 76) zeigt hingegen, dass auch die Inszenierungs- und Vorbereitungsphasen förderlich für literarische Lernprozesse sind, sei es mit Blick auf die verschiedenen Formen der Perspektivübernahme, der Analyse spezifischer Formelemente oder der Vorstellungsbildung. Entscheidend ist dabei – und das gilt auch für das Pen-and-Paper-Rollenspiel –, derartige Ansätze nicht als rein kreative Auflockerung zu begreifen, die lediglich aus motivationalen Gründen integriert wird, sondern sie strukturell in einer Lerneinheit zu verorten, konkrete Ziele zu formulieren und diese mit jeweiligen Anforderungsbereichen in Beziehung zu setzen. Wie dies methodisch gerade in Bezug auf Spiele gelingen kann, wird in Kapitel 8.3 näher beleuchtet. Zunächst sind mit der Computerspieldidaktik weitere Herangehensweisen zu diskutieren, die auf das Pen-and-Paper-Rollenspiel übertragen werden können.
8.2 Computerspieldidaktik Digitale Spiele sind Gegenstand zahlreicher didaktischer Diskurse, die in den allgemeinen Bildungswissenschaften ihren Anfang nahmen. Zentrale Lernpotenziale, die das Computerspiel bietet, resultieren aus seinem Modellcharakter (vgl. Gee 2008 [2006], 27), der das Probehandeln und das erfahrungsbasierte Lernen ermöglicht (vgl. Boelmann und Stechel 2020, 12; Gee 2008 [2006], 23). Ausgangspunkt stellt die Eigenschaft digitaler Spiele dar, stark auf die Lösung spezifischer Probleme ausgerichtet zu sein. So betont James Paul Gee (2008 [2006], 26), dass Spiele als zielgerichtete Problemräume („goal-driven problem space“) angesehen werden können, durch die Spielende navigieren und verschiedene Strategien zur Lösung ähnlich gestalteter Probleme erlernen, um diese in einer anschließenden Reflexion generalisieren zu können. Dieser erfahrungsbasierte Zugang zu Computerspielen wurde aktuell auch
8.2 Computerspieldidaktik
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von der Deutschdidaktik aufgegriffen: So sehen Jan M. Boelmann und Janek Stechel (2020, 20) das Erfahrungslernen unter anderem als involvierenden Zugang, um die Perspektiven ludonarrativer Figuren zu verstehen, „indem nicht nur die ihren Entscheidungen zu Grunde liegenden Erfahrungen in der Phase des aktiven Experimentierens selber durchlaufen werden, sondern am Ende des Lernprozesses auch reflexiv neue Abstraktionen angelegt werden, die grundlegend die Weltsicht der Spielenden verändern oder erweitern“. Das aktive Experimentieren liefere dabei neue Bewertungs- und Sinndeutungsmöglichkeiten in Bezug auf den literarischen Gegenstand. Neben der Förderung derartiger erfahrungsbasierter Lernmöglichkeiten definiert die allgemeine Didaktik weitere Kompetenzbereiche, die von digitalen Spiele angesprochen werden: So nennen Gebel et al. (2004) in ihrer Studie zu kompetenzförderlichen Potenzialen von Computerspielen kognitive und persönlichkeitsfördernde Kompetenzen, wie schlussfolgerndes Denken, die Handlungsplanung und den Umgang mit Stress oder Misserfolg (vgl. Gebel et al. 2004, 298), sowie sensomotorische und aufmerksamkeitsfördernde Kompetenzen und die allgemeine Förderung der Medienkompetenz (vgl. Gebel et al. 2004, 10). Gerade an den letztgenannten Aspekt knüpfen zahlreiche methodische Konzeptionen an, die einerseits das Computerspiel unter seinen medialen Gestaltungsbedingungen betrachten, andererseits jedoch auch kulturelle Diskurse berücksichtigen, die das Computerspiel begleitet (zum Beispiel die Killerspieldebatte oder die Computerspielsucht). Einen umfassenden Überblick über derartige Konzeptionen, die auch aus fachdidaktischer Perspektive beleuchtet werden, bietet der „Best-Practice-kompass Computerspiele im Unterricht“, der 2010 von der Landesanstalt für Medien Nordrhein-Westfalen herausgegeben wurde (vgl. Isenberg und Frantzen 2010). Die Literaturdidaktik findet innerhalb dieser Kompetenzbereiche vor allem Anschluss an mediendidaktische Konzeptionen. Kepser (2013, 18–28) sieht das Computerspiel in ähnlicher Weise wie die Literatur als Handlungsfeld mit kultureller, sozialer und individueller Bedeutsamkeit und verbindet spezifische Teilbereiche der computerspielbezogenen Bildung mit Bereichen der allgemeinen Medienkompetenz. Zwar merkt er an, dass sein Modell keine Aussagen über konkrete Methoden liefern könne, um den Kompetenzaufbau zu fördern, spricht sich jedoch gegen ein rein analytisch-reflexives Vorgehen und für die Einbindung handlungs- und produktionsorientierter Verfahren aus (vgl. Kepser 2013, 30). Obwohl in der Literaturdidaktik mittlerweile einige Ansätze vorliegen, die die Potenziale literarischen Lernens und literarischer Kompetenzbildung mit Computerspielen herausgestellt haben – von denen Boelmanns (2013) Arbeit zum literarischen Lernen mit narrativen Computerspielen wohl derzeit den ausführlichsten Zugang bietet –, herrscht immer noch ein Mangel an konkreten methodischen Konzeptionen, die es in spezifische Lehr- und Lernsettings integriert. Ausnahme bildet hier unter
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anderem die Studie von Thomas Hoffman und Oliver Lüth (2007; vgl. auch Hoffmann 2013), die das Computerspiel Torins Passage als Initiator für das Schreiben zu medialen Vorlagen nutzen, um im Sinne Dehns et al. (2011) spezifische Transformationsprozesse von Rezeptionserfahrungen herauszuarbeiten. Weiterhin zu nennen sind die methodischen Überlegungen Philippe Wampflers (2015) sowie René Bauers und Stefan Hofer-Krucker Valderramas (2015), die einen analytisch-reflexiven Zugang wählen, um durch Alteritätserfahrungen und Irritationsmomente zu einer intensiveren Lektüre von Computerspielen anzuregen. Ferner sei auch der Ansatz von Jan-Niklas Meier und Frederick Kirchhoff (2020) genannt, der vornehmlich den Bereich der Mediengestaltung anspricht und die Produktion kleinerer Textadventures zu einer literarischen Vorlage umfasst. Allen Ansätzen ist gemein – und dies lässt sich auch für die Konzeption eines methodischen Ansatzes für Pen-andPaper-Rollenspiele festhalten –, dass sie ihr Medium zumeist in reduzierter Form einbetten: In ähnlicher Weise, wie es bei der Lektüre längerer schriftsprachlichliterarischer Texte der Fall ist, ist es in einigen unterrichtlichen Settings nicht immer möglich, das Medium in seiner Gänze zu rezipieren. Es muss sich daher im Vorhinein entweder dafür entschieden werden, nur bestimmte Passagen des Spiels zu spielen (vgl. Boelmann 2015, 153; Hoffmann 2013, 196), oder bewusst auf Spielpublikationen zurückzugreifen, die keinen großen Zeitaufwand in der Rezeption fordern. Um den zu entwickelnden methodischen Ansatz systematisch stärker mit bestehenden ludodidaktischen Konzeptionen zu vereinen, erscheint es sinnvoll, einen Blick auf allgemeinere Konzepte zum Umgang mit digitalen Spielen in Lehr- und Lernsettings zu werfen, wie sie bereits sowohl in allgemeindidaktischen Ansätzen als auch in anderen Fachdidaktiken genutzt werden. Zentral sind in diesem Kontext die Begriffe der Gamification und des game-based learning, die im Folgenden kurz umrissen werden sollen. Das Konzept des game-based learning beruht auf den eingangs beschriebenen Potenzialen erfahrungsbasierten Lernens, die (digitale) Spiele bieten. Es wurde argumentiert, dass das Spielen einerseits Gefühle der Selbstwirksamkeit fördert und andererseits aufgrund seiner ergodischen Rückmeldestruktur Lernprozesse aktivieren kann (vgl. Le et al. 2013). Da alle Spiele auf ergodische Strukturen setzen, wird angenommen, dass es nicht nur möglich ist, Lernprozesse mittels spezifisch entwickelter Lernspiele zu initiieren, sondern auch Formen des informellen Lernens zu ermöglichen. Das game-based learning, das Le et al. (2013) als „Einsatz digitaler Spiele in einem (Fort-)Bildungskontext zur Förderung und Unterstützung von Lernprozessen“ definieren, setzt bei diesem informellen Lernen an und rechnet auch konventionellen Unterhaltungsspielen die Fähigkeit zu, Lernprozesse zu aktivieren. Eine derartige Lernkonzeption ist gerade deswegen produktiv, da spielbasiertes Lernen mit einem hohen Maß an intrinsischer Motivation verbun-
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den ist (vgl. Le et al. 2013), die durch die verschiedenen Eigenschaften von Spielen entwickelt werden kann: Motivation wird zum einen durch die Problemorientierung geschaffen, die dazu anregt, verschiedene Lösungsansätze und Strategien auszuprobieren. Zum anderen ermöglichen viele Spiele das freie Erkunden und Experimentieren, das gerade dadurch motivierend wirken kann, dass Angebote ausgewählt und interessengeleitet vertieft werden können. Im Rahmen eines game-based learning ergeben sich jedoch auch Herausforderungen, die die Integration von Spielen in verschiedene Lernsettings mit sich bringt. In Anknüpfung an die Ausführungen von Jenkins nennen Le et al. (2013) vier zentrale Anforderungsbereiche, die sie gleichzeitig mit den Potenzialen eines game-based learning in Verbindung bringen: Erstens bergen Spiele zwar Potenziale zur Förderung von „aktivem, konstruktivem, selbstgesteuertem, sozialem, emotionalem und situiertem Lernen“, um diese Lernbereich jedoch gezielt anbahnen zu können, müssen sie entsprechend aufbereitet werden; die Lerninhalte zu stark zu explizieren, kann hierbei zur Verminderung des Spielspaßes und der eigenen Motivation führen. Spiele können zweitens das Verständnis komplexer Sachverhalte erleichtern, was nicht heißt, dass jeder komplexe Sachverhalt durch sie erklärt werden kann. Insofern ist es erforderlich, die Chancen und Grenzen von Spielen als Lernobjekt genau zu reflektieren. Drittens läuft das Spielen trotz der möglichen Steigerung intrinsischer Motivation immer Gefahr, dass Lerninhalte nicht reflektiert werden, insbesondere dann, wenn es keine ausreichende Betreuung oder Nachbesprechung gibt. Viertens spielt auch das Angebot eine Rolle: Nicht jedes Spiel ist für jeden Lernkontext geeignet, gleichzeitig scheint es wenig praktikabel, Spiele nach eigenem Bedarf selbst zu entwickeln, sofern kein adäquates Angebot für den gewünschten Einsatz existiert. Das zweite methodische Konzept der Gamificiation lässt sich nach Deterding et al. (2011, 10) als „the use of game design elements in non-game contexts“ definieren. Die Gründe, Spielelemente wie spezifische Spielstrukturen oder -mechaniken in anderen Kontexten zu implementieren, liegen genauso wie im Fall des gamebased learning in der Annahme, dass eine spielerische Aktivität motivationsfördernd wirken kann (vgl. Deterding et al. 2011, 9). Playfulness, so konstatieren Deterding et al. (2011, 10), gilt als wünschenswerter Interaktions- und Erfahrungsmodus von Nutzenden, weswegen Spielelemente mittlerweile nicht nur in Unterhaltungsangeboten, sondern auch in anderen institutionellen Kontexten zu finden sind. Diese kontextuale Offenheit und Unklarheit darüber, welche Bereiche der Begriff „non-game“ eigentlich umfasst, bilden ein zentrales Problem für die Definition der Gamification, gerade wenn man die Formen der serious games betrachtet, die zugleich von Le et al. (2013) als Teilbereich eines game-based learning angesehen werden. Serious games umfassen Spiele, die von Produzierenden nicht nur zum spielerischen Vergnügen, sondern auch aus Gründen der Informations- und Bil-
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dungsvermittlung entwickelt wurden (vgl. Deterding et al. 2011, 10). Deterding et al. (2011, 13) sehen den Unterschied zwischen serious games und Gamification darin, dass Erstere komplette Spiele darstellen, während Letzteres nur den Transfer spezifischer Elemente eines Spiels betrifft. Doch ist auch diese Differenzierung nicht präzise genug, wenn man versucht, die analogen Formen des Rollenspiels für eine Gamification nutzbar zu machen: Gerade Pen-and-Paper-Rollenspielsysteme zeichnen sich durch eine hohe Adaptabilität ihrer Spielsysteme aus (vgl. Cook et al. 2017, 62), was vor allem durch Rollenspielpublikationen belegt werden kann, die nur Informationen über das Spielsystem bieten und Setting und Szenario nicht thematisieren (vgl. Kap. 5.2.2.1). Dieser Einwand stellt in Frage, ob Spielelemente innerhalb der Definition Deterdings et al. lediglich Elemente des Spielsystems umfassen, also die fiktiven Elemente des Settings ausblenden. Um Klarheit zwischen diesen verschiedenen Möglichkeiten der Transformation zu schaffen, soll der von Deterding et al. definierte Begriff des gameful design von Formen der Gamification deutlich unterschieden werden: Während letzterer eine Strategie beschreibt, Spielstrukturen in andere Kontexte zu integrieren, lässt sich das gameful design als Konzeption verstehen, deren Ziel eine spielerische Erfahrung ist (vgl. Deterding et al. 2011, 11). Diese Unterscheidung ist vor allem für die im Folgenden entwickelten methodischen Konzeptionen relevant. Kontextuell lässt sich die Integration von Pen-andPaper-Rollenspielen durch die Aktivierung literarischer Lernprozesse begründen, weswegen sowohl das Konzept des game-based learning als auch des gameful design in Frage kommen. Als game-based learning lässt sich eine Lernsituation beschreiben, in der ein zu Unterhaltungszwecken konzipiertes Pen-and-Paper-Rollenspiel in den Literaturunterricht integriert wird. Als gameful design kann man die Entwicklung einer literarischen Adaption auf Basis eines transferierbaren Spielsystems begreifen. Diese letzte Konzeption soll bewusst von Strategien der didaktisierten Gamification abgrenzt werden, die Spielelemente mit dem konkreten Bildungskontext verbinden, wie es bei der Applikation Classcraft (2013) der Fall ist: Hier werden game patterns (vgl. Kap. 3.2.2) des Rollenspiels, beispielsweise Formen der Charakterentwicklung, in den Schulkontext transferiert. Schüler/-innen können ihren Charakter weiterentwickeln, wenn sie sich am Unterricht beteiligen oder definierte soziale Regeln befolgen. Eine derartige Konzeption ist für den literaturdidaktischen Anspruch ungeeignet, gerade wenn man die dem Pen-and-Paper-Rollenspiel inhärenten Potenziale produktiv nutzen möchte. Lerninhalte innerhalb des Spiels zu explizieren, ist in solchen Fällen problematisch, in denen ein literar-ästhetischer Rezeptionsmodus der ästhetischen Illusionsbildung angestrebt wird, der bewusst auf das Ausblenden der Lebensrealität der Rezipierenden angelegt ist.
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8.3 Skizzierung eines methodischen Konzeptes: Pen-and-Paper-Rollenspiele im Literaturunterricht Die didaktisch-methodischen Zusammenhänge, die durch die Betrachtung computerspiel- und rollenspieldidaktischer Konzepte in den letzten Kapiteln hergestellt wurden, sollen nun zusammengeführt werden, um eine methodische Skizze für die Integration des Pen-and-Paper-Rollenspiels in literaturdidaktische Lehrund-Lernsettings zu entwickeln. Zuerst sollen die spezifischen Herausforderungen resümiert und diskutiert werden, um auf dieser Basis Anforderungen an die methodische Konzeptionalisierung zu definieren. Viele Pen-and-Paper-Rollenspiele erfordern einen erhöhten Zeitaufwand in Vorbereitung und Durchführung. Gerade in institutionellen Lernsettings scheint es daher nicht immer praktikabel, mehrere aufeinanderfolgende Stunden oder Sitzungen in der Lerngruppe rollenspielend zu verbringen. Eine Lösung stellen Rollenspiele dar, die bewusst auf eine kürzere Vorbereitungs- und Spielzeit ausgelegt sind, wie sie aktuell zumeist in Form von Independent-Publikationen zu finden sind. Eine weitere Lösungsmöglichkeit ist es, die Rollenspielsitzung auf einzelne Szenen zu begrenzen. Pappes (2011, 147) Argument, dass eine Kürzung des Ablaufes unvereinbar mit der sich entwickelnden Erzählung ist, scheint nicht überzeugend, gerade wenn man an die gängige Praxis vieler Unterrichtskonzeptionen denkt, nur Teile eines längeren literarischen Werkes zu behandeln oder nur Teilszenen eines Textes in ein literarisches Rollenspiel umzusetzen. Zugleich lassen das Anspielen und Verkürzen von Pen-and-Paper-Rollenspielen die Möglichkeit offen, dass Lernende die Spielerzählung in anderen produktionsorientierten Anschlusshandlungen weiter fortsetzen können. Das Problem der zeitlichen Praktikabilität richtet sich vor allem auf den Vorbereitungsaufwand einer Rollenspielsitzung. Mitunter müssen Figuren konzipiert und narrative Architekturen entwickelt werden, die Eingang in den eigentlichen Spielprozess finden. Eine solche Vorbereitung ist gerade dann problematisch, wenn nur eine einzelne Lehrkraft diese Arbeit für mehrere Kleingruppen leisten muss. Hier wird hingegen bewusst dafür plädiert, die Inszenierung als eigenen Teil des Penand-Paper-Rollenspiels zu betrachten, die ihrerseits individuelle Potenziale zum literarischen Lernen bereithält. Wie auch Scheller (2016 [2004], 47) in seinem Ablauf der szenischen Interpretation auf verschiedene Imaginations- und Einfühlungsmethoden verweist, die auf das spätere Ausspielen der eigenen Rolle gerichtet sind, bieten die Inszenierungspraktiken im Pen-and-Paper-Rollenspiel ein ebensolches Potenzial der imaginativen Auseinandersetzung und Involvierung. Dies kann sich einerseits auf die Entwicklung einer Figur mit einem eigenen Bewusstsein beziehen, andererseits aber auch auf die das Spiel rahmende Konstruktion von Handlungsstrukturen, Räumen und Nicht-Spieler/-innen-Charakteren, die von Spielleitenden
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übernommen wird. Aus diesem Grund wird hier dafür argumentiert, die Spielleitung an die Mitglieder der Lerngruppe zu verteilen, gerade wenn sich zeigt, dass einige Mitglieder bereits Erfahrung im Rollenspiel mitbringen. Integriert man die Vorbereitung der Rollenspielsitzung in die Lerneinheit, bieten sich die Möglichkeiten, dass Lehrkräfte Spielleitende bei der Entwicklung der narrativen Architektur unterstützen und sich gruppenübergreifend untereinander über die Planung ausgetauscht werden kann. Eine solche Abgabe der Leitung erleichtert die Koordinierung von größeren Gruppen, wie es auch die Vorschläge Klimicks et al. (2016), in Partner/-innenarbeit die Entwicklung von Figuren vorzunehmen und diese dann abwechselnd im Spielprozess zu verkörpern, im Sinn haben. Eine weitere Herausforderung ergibt sich in Bezug auf die zu erreichenden Lernziele. Wie auch Geneuss (2019, 86–87) betont, müssen Rollenspiele zielgerichtet in unterrichtliche Settings eingebunden werden und sollten nicht für sich allein stehen. Wenn diese Einbettung nicht gelingt, besteht die Gefahr, dass das Spiel lediglich als Auflockerung begriffen wird und kein Bezug zu anderen Lerninhalten hergestellt werden kann. Für die hier zu entwickelnde Konzeption kann das Lernziel dahingehend präzisiert werden, dass mit dem Pen-and-Paper-Rollenspiel literarische Verstehensprozesse aktiviert werden sollen, die wiederum zur literarischen Bildung der Lernenden beitragen können. In Kapitel 6 wurde gezeigt, dass literarisches Verstehen im Rollenspiel allein aufgrund seiner spezifischen Beschaffenheit ermöglicht werden kann und sich daraus verschiedene Teilbereiche der Förderung literarischer Bildung ergeben können (vgl. Kap. 7). Es soll jedoch nicht als Selbstverständlichkeit angesehen werden, dass diese Lernprozesse bei allen Teilnehmenden in gleichem Ausmaß aktiviert werden, gerade wenn man davon ausgehen kann, dass die Annahme spezifischer Rezeptionsangebote maßgeblich vom individuellen Spielstil geprägt ist. Es müssen also vor und auch nach dem eigentlichen Spiel Möglichkeiten geschaffen werden, das literarische Verstehen anzubahnen und darüber zu reflektieren. Dies kann in Bezug auf die Vorbereitung gezielt durch eine klare Verbindung mit anderen literarischen Gegenständen gesichert werden, jedoch auch durch eine intensive Auseinandersetzung mit den narrativen Potenzialen im Rahmen der rollenspielerischen Inszenierungsprozesse. Eng mit den Bezügen zu konkreten Lernzielen ist auch die Auswahl eines geeigneten Rollenspiels verbunden. Gerade weil Pen-and-Paper-Rollenspiele vornehmlich zu Unterhaltungszwecken entwickelt werden, finden sich bisher nur wenige explizit für den Lerneinsatz konzipierte Spielpublikationen. Dieses Desiderat bedeutet jedoch nicht, dass Lehrkräfte nun eigene Spiele entwickeln müssen, wie es Ulrich Janus (2010, 61) fordert, indem er konstatiert, dass der „zu vermittelnde Stoff selbst […] das Spiel und die Spielform definieren“ müsse. Entscheidend ist, dass der Anlass, das Pen-and-Paper-Rollenspiel in den Literaturunterricht zu integrieren, nicht in der expliziten Vermittlung von Fachwissen begründet liegt, sondern darin, dass
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das literarische Verstehen aufgrund der Herausforderungen, die es bietet, implizit auch zuträglich für literarische Bildungsprozesse ist. Nichtsdestotrotz muss auch in Bezug auf die methodische Konzeption über die Auswahl geeigneter Pen-and-Paper-Rollenspiele reflektiert werden: So ist nicht davon auszugehen, dass gegenwärtig erfolgreiche Rollenspiele zwangsläufig auch am besten für eine Integration in den Literaturunterricht geeignet sind, da gerade diese teils umfassende und komplexe Regelsysteme aufweisen.2 Im Folgenden werden nun zwei methodische Zugänge skizziert, Pen-and-PaperRollenspiele im Literaturunterricht produktiv einzusetzen. Der erste, auf ein gameful design zielende Ansatz stellt das Rollenspiel in enge Beziehung zu anderen literarischen Texten, da das Spiel als Transformationsvorgang die involvierende Auseinandersetzung mit einem literarischen Text fördern kann. Der zweite Zugang, der sich am ehesten als Form eines game-based learning beschreiben lässt, betrachtet die Integration eines existierenden Rollenspiels in den Literaturunterricht und fokussiert besonders seine strukturelle Anbindung an etablierte Methoden.
8.3.1 Die literarische Pen-and-Paper-Rollenspieladaption Der erste skizzierte Zugang knüpft an die von Cook et al. (2017) und Torner (2015) entwickelten Lernkonzeptionen an, in denen Rollenspiele nach der Rezeption eines literarischen Werkes in den Unterricht eingeführt werden. Das Rollenspiel bezieht sich direkt auf den im Vorhinein rezipierten Text, indem es zentrale Elemente adaptiert und spielerisch transformiert, um so eine involvierende Auseinandersetzung mit dem literarischen Text zu fördern (vgl. Harviainen 2012, 518; Torner 2015, 55). Diese Adaption ist weniger als originalgetreue Übernahme des Prätextes denn als Dramatisierung zu verstehen (vgl. Harvey 2015, 65), wie man sie unter anderem auch im Bereich der Computerspiele (vgl. Flanagan 2017, 444) vorfindet: Es werden hier nicht die durch den Prätext festgelegten Handlungsstrukturen adaptiert, sondern Schauplätze, Figuren oder Themen, die in einer offenen szenischen Konstellation zusammengeführt werden. Spielenden werden somit zwar zentrale Schauplätze und Figuren präsentiert, die zugleich Potenzial für die im Prätext präsentierten Konflikte bieten – wie diese Konflikte ausgespielt werden, liegt jedoch eher in der Hand
Sowohl Pappe (2011) als auch Cook et al. (2017) arbeiten mit der Reduktion eines bereits publizierten Rollenspielsystems, dessen Regeln sie für den Unterrichtseinsatz verkürzt und/oder angepasst haben. Eine solche Verkürzung erfordert eine gewisse Erfahrung mit dem Spielsystem, um die wesentlichen Elemente beizubehalten. Falls der Rückgriff auf ein bekanntes System ausdrücklich erwünscht ist, hilft ein Blick auf die zumeist kostenlos erhältlichen Schnellstartregeln, die häufig auf den Verlagsseiten im Internet zu finden sind.
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der Teilnehmenden. Dieser Typ der Adaption stellt in der Konstruktion einer narrativen Architektur eine reduzierende Form dar (vgl. Harvey 2015, 73), da zentrale ereigniskonstituierende Momente nur in Teilen oder gar nicht in die spielerische Transformation einfließen. Das Ausspielen und Erkunden dieser Architektur führt im Spielprozess jedoch zumeist zu einer deutlichen Erweiterung verschiedener Elemente des Prätextes, was vornehmlich durch die emergenten Handlungen der Spielenden bedingt ist. Voraussetzung für alle Teilnehmenden ist die vorgelagerte Rezeption des literarischen Textes (vgl. Geneuss 2019, 81), damit grundlegende Entscheidungen getroffen werden können. Über die Elemente des Prätextes zu reflektieren, kann das Wechselspiel zwischen Involvierung und genauer Wahrnehmung und zugleich das Selbstwirksamkeitsgefühl verstärken (vgl. Cook et al. 2017, 65), da durch die eigenen Handlungen gänzlich neue narrative Ereignisse entwickelt werden können. Wenngleich sich die Rollenspielforschung für das Potenzial einer literarischen Adaption ausspricht (vgl. Schmidt 2012, 341), thematisieren nur wenige Ansätze das konkrete Vorgehen in diesem Adaptionsprozess. Entscheidend für die spielerische Transformation ist nicht nur, die relevanten narrativen und fiktiven Elemente auszuwählen, sondern zugleich geeignete Spielmechaniken zu finden, die sich im Kontext des Settings mit den fiktiven Elementen verbinden lassen. Diese Auswahl wird mit Blick auf existierende Spielsysteme erschwert, da diese verschiedene Schwerpunkte in Bezug auf die Lösung von Konflikten setzen, die rückwirkend auch durch einzelne Spielmechaniken beeinflusst werden (vgl. Bowman 2010, 105). Potenziale bieten jedoch vor allem diejenigen Spielsysteme, die auf einen settingübergreifenden Einsatz hin konzipiert sind. Das System Powered by the Apocalpyse (pbtA), das von D. Vincent Baker für sein Spiel Apocalypse World (2010) entwickelt wurde, stellt einen Ansatz dar, der vornehmlich einem figurenzentrierten, narrationsbasierten Spielprinzip folgt. Das zugrunde liegende Spielsystem ist äußerst flexibel gestaltet und kann je nach Spielpräferenz erweitert oder verkürzt werden. In der sich am pbtA-Ansatz orientierenden Spielhilfe Simple World (2017) bietet Avery Alder einen schrittweisen Zugang zur Entwicklung eines eigenen Rollenspiels: Im ersten Schritt sind Figurenarchetypen zu gestalten, die von Spielenden innerhalb der Figurenentwicklung konkretisiert werden. Diese Archetypen haben verschiedene Agenden, Prinzipien und Beziehungen zu anderen Figuren, was die Grundlage für die narrative Ausrichtung des Spiels bildet. Darüber hinaus werden mit sogenannten MC Moves Spielmechaniken etabliert, die von Spielleitenden in bestimmten Situationen des Spiels, insbesondere wenn Figuren mit ihren Würfelwürfen scheitern, zur Anwendung kommen. Zugleich werden mit den Player Moves eine Anzahl bestimmter spielerischer Fähigkeiten und Eigenschaften definiert, die einen spezifischen Archetyp auszeichnen. Sowohl MC Moves als auch Player Moves sind nach einem spezifischen Muster gestaltet, sodass
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sie schrittweise für jeden einzelnen Figurenarchetypen festgelegt werden können. Die Spielhilfe gibt weiterhin Hinweise zur Entwicklung von Gefahren und Konflikten, mit denen Spielende im Spielprozess konfrontiert werden, sowie zur Entwicklung von Handlungsstrukturen, im Regelwerk bezeichnet als „The Bigger Picture“, auf die sich diese Hinweise beziehen können. Ein zweites variables und flexibles System bietet das Spiel Fiasco (2016 [2009]), das die Entwicklung des zugrunde liegenden Szenarios in den Spielprozess transferiert. Auch dieses Spiel setzt zu Beginn auf die Entwicklung von Figuren mit unterschiedlichen Bedürfnissen, Zielen und Geheimnissen und konstituiert das Beziehungsgeflecht der Spieler/-innen-Charaktere, indem jeder oder jede Spielende eine Figurenbeziehung mit den Sitznachbar/-innen entwickeln muss. Der Spielprozess folgt einer narrativen Aktstruktur, in der die Spielenden ihre Beziehungen ausspielen, die sich durch bestimmte vorher definierte Bedürfnisse, Gegenstände und Orte entwickeln. Das System benötigt keine Spielleitung, da die Teilnehmenden die Szenen abwechselnd gestalten. Aus diesem Grund sind vor allem die Resolutionsmechaniken des Spiels lediglich auf den Ausgang der Szenen beschränkt. Dass sich das System für die Adaption verschiedener literarischer und medialer Gegenstände eignet, verdeutlicht eine große Sammlung einzelner Playsets, die auf der Verlagsseite zu finden sind.3 Die Playsets sind auf die Entwicklung verschiedener Figurenbeziehungen, Orte, Gegenstände und Bedürfnisse angelegt, auf die die Spielenden im Planungsprozess zugreifen können. Da beide Ansätze stark auf die Entwicklung einer figurenzentrierten Narration setzen, indem im Spiel vor allem interpersonale Netzwerke und Bewusstseinsstrukturen zu gestalten sind, werden vor allem Potenziale zur Perspektivübernahme geschaffen. Fiasco, das durch seine Zwei-Akt-Struktur auf einen klaren Abschluss der Handlung ausgerichtet ist, bietet zudem ein stärkeres Potenzial zur Förderung handlungs- und dramaturgiebezogener narrativer Kompetenzen, die durch den Wechsel der Erzählrechte von Spielenden erforderlich sind. Spiele, die auf dem pbtA-System beruhen, folgen einer klassischen rollenspielerischen Kommunikationsstruktur, deren unterschiedliche Erzählrechte zugleich Unterschiede in der Förderung spezifischer narrativer Rezeptions- und Produktionskompetenzen mit sich bringen (vgl. Kap. 7.1). Entwickelt sich das Spiel entlang einer literarischen Vorlage, sind ebenso die Transformationshandlungen der Rezeptionserfahrungen relevant, die die Spielenden aus der Beschäftigung mit dem literarischen Werk gewonnen haben. Diese können im Spielprozess einerseits durch die Ausdeutung der gespielten Figur zum
Die unterschiedlichen Playsets lassen sich über die Website https://fiascoplaysets.com/ aufrufen (Zugriff: 26.04.2022).
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Ausdruck kommen, andererseits aber auch durch explizit geäußerte Interpretationen und Bewertungen. Eine derartige Konzeption lässt sich somit als produktive Anschlusshandlung verstehen, in der Rezeptionserfahrungen aufgedeckt und kreativ verhandelt werden. Zugleich treten diese subjektiven Erfahrungen mit denen der anderen Teilnehmenden in Verbindung und führen im spielerischen Erzählprozess zu einer ästhetischen Transformation. Transformationshandlungen von Rezeptionserfahrungen spielen auch bei der Entwicklung der eigentlichen Spieladaption eine Rolle. Lehrkräfte, die einen literarischen Text in ein Pen-and-Paper-Rollenspiel transferieren, müssen den Prätext analytisch durchdrungen haben und aus dieser Analyse heraus Entscheidungen über die zu transformierenden Elemente treffen. Das Spielen der Rollenspieladaption bedeutet also zugleich, die Deutungen der Spielproduzierenden zu erkunden und zu reflektieren. Dieses Potenzial kann genutzt werden, wenn die Mitglieder der Lerngruppe explizit in diesen Entwicklungsprozess einbezogen werden, indem sie auf Basis vorliegender Rollenspielsysteme eine eigene Spieladaption entwickeln müssen. Cook et al. (2017, 65) betrachten die Entwicklung von Rollenspielen als Aspekt des kreativen Schreibens, der kreatives ebenso wie logisches Denken fördern kann. Gleichzeitig unterstützt er die Auseinandersetzung mit dem literarischen Prätext, da dessen zentrale Elemente bestimmt, gedeutet und in ein Spiel überführt werden müssen.
8.3.2 Game-based learning mit Pen-and-Paper-Rollenspielen Der sich in den letzten Jahrzehnten immer weiter ausdifferenzierende Rollenspielmarkt stellt mittlerweile eine breite Auswahl verschiedener Publikationen zur Verfügung, die unterschiedliche Genres und Themen bedienen. Dies lässt sich nicht nur dadurch erklären, dass seit den 1980er Jahren auch größere mediale Franchises Penand-Paper-Rollenspiele in ihr Programm integrieren, sondern auch aufgrund der Experimentierfreudigkeit der Independent-Szene, deren Publikationen zumeist über das Internet verbreitet werden (vgl. Appelcline 2014a [2013], 407). Jene unabhängig kommerzieller Vertriebsstrukturen erschienenen Pen-and-Paper-Rollenspiele bieten durch ihre Referenz auf Medien, Genres, Themen und Motive Anknüpfungsmöglichkeiten an die Inhalte des Literaturunterrichts, indem sie informelles Wissen aktivieren sowie zum Austausch über Rezeptionserfahrungen anregen können (vgl. Kap. 7.3 u. 7.4). Diese Potenziale kulminieren im illusionsstiftenden Charakter der Pen-and-Paper-Rollenspiele, der eng an den Erzählprozess gebunden ist. Dass diese Möglichkeiten jedoch vor allem durch einen spezifischen Rezeptionsmodus entfaltbar sind, der auf die narrativen Angebote im Spiel ausgerichtet ist, macht es erforderlich, Teilnehmenden diesen Modus nahezubringen. In den folgenden Aus-
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führungen wird offengelassen, welches Pen-and-Paper-Rollenspiel konkret im Kontext eines game-based learning herangezogen wird, da verschiedene literarische Lehr- und Lern-Szenarien gänzlich unterschiedliche Schwerpunkte in Bezug auf die Auswahl ihres Gegenstandes setzen. Vielmehr wird auf die Einbettung und Rahmung des Spielprozesses eingegangen, der auch die Vorbereitung der Spielsitzung einschließt. Die entwickelte methodische Skizze ist somit auch dazu geeignet, mit den Überlegungen des vorangegangenen Kapitels verbunden zu werden. Mit Rekurs auf die Ausführungen Schellers (2016 [2004]) folgt die Konzeption einem Dreischritt, beginnend mit einer Einfühlungs- und Imaginationsphase, gefolgt vom dem Spielprozess selbst, der schließlich mit einer Reflexions- und Nachbereitungsphase abgeschlossen wird. In der Einfühlungs- und Imaginationsphase werden zentrale Vorbereitungsschritte für den Spielprozess vollzogen. Dies betrifft insbesondere auf Spielendenseite die Entwicklung der eigenen Spielfiguren. Um einen narrationsorientierten Spielstil zu fördern, ist es sinnvoll, erste Überlegungen über ein Figurenbewusstsein sowie die Verortung der Figur in einem interpersonalen Beziehungsnetzwerk anzustellen. Dieser Entwicklungsprozess kann durch verschiedene die Perspektivübernahme fördernde Einfühlungsübungen gestaltet werden, so zum Beispiel die Anfertigung von Rollenbiografien oder Rollentexten (vgl. Scheller 2016 [2004], 60–61).4 Weiterhin können sich die Spielenden in dieser Phase auch Gedanken über die Darstellung der Figur machen, beispielsweise typische Gesten oder den sprachlichen Ausdruck, was durch weitere Übungen, etwa zum Habitus oder zu Rollenmonologen und -dialogen (vgl. Scheller 2016 [2004], 60–62 u. 65), unterstützt werden kann. Es bietet sich zudem an, Vorstellungen über Figuren auch visuell zu konkretisieren, indem beispielsweise Standbilder oder eigene Zeichnungen angefertigt werden können. Nicht nur wenn man die Spielleitung an einzelne Mitglieder der Lerngruppe abgibt, sondern auch in den Fällen, in denen das Pen-and-Paper-Rollenspiel auf eine phantastische Weltkonstruktion setzt, ist es sich während der Vorbereitung ratsam, die Welt imaginativ zu erkunden. Phantasiereisen, in denen die Lehrkraft einzelne Räume und Szenen innerhalb der Welt beschreibt, können dazu dienen, die Teilnehmenden imaginativ auf die Welt einzustimmen (vgl. Scheller 2016 [2004], 60). Ferner kann auch das gemeinsame (Weiter-)Entwickeln der fiktiven Welt zur Vorstellungsbildung beitragen, indem beispielsweise die Leerstellen, die das Rollenspielregelwerk in seiner Settingbeschreibung bietet, kreativ ausgestaltet werden (vgl. Pappe 2011, 154–155). Dass diese kreativen Verfahren auch in der Rollenspiel-Fankultur angewandt werden, betonen Bowman und Schrier (2018, 396): Derartige Charakterbiografien können teils mehrere Seiten umfassen und sind zumeist als Ergänzung der durch das Spielsystem vorgegebenen Mechaniken zur Figurenerschaffung anzusehen.
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Entscheidet man sich, die Spielleitung abzugeben, gilt es, die Teilnehmenden in der Planung der Rollenspielsitzung zu unterstützen. Wenngleich die Entwicklung einer narrativen Architektur erheblich zur Förderung narrativer Kompetenzen, die die Handlungs- und Ereigniskonstitution betreffen, beitragen kann, besteht die Gefahr, dass Spielleitende in ihren Überlegungen ausufern und den Fokus auf das Wesentliche verlieren. Praktikabel ist hier der Rückgriff auf vorgefertigte Szenariomodule, die vorher von der Lehrkraft geprüft und gegebenenfalls an den Zeitrahmen angepasst werden. Der Umfang dieser Module ist variabel: Denkbar ist einerseits die Verwendung der im spezifischen Rollenspiel publizierten offiziellen Veröffentlichungen, andererseits aber auch eigene Ausarbeitungen, beispielsweise die Skizzierung eines groben Handlungsbogens, der von den Spielleitenden dann mittels Szenen konkretisiert werden muss.5 Bei der Durchführung der eigentlichen Spielsitzungen sind vor allem organisatorische Faktoren zu bedenken. Die Rollenspielgruppe sollte Zugriff auf Sitzgelegenheiten und einen gemeinsamen Tisch haben, um eine ungestörte Kommunikationssituation zu schaffen, bei der alle Teilnehmenden sich gegenseitig sehen können. Mit Blick auf die zeitlichen Faktoren, die bestimmte Lernsettings mit sich bringen, ist es gerade in Bezug auf die Durchführung mit mehreren Spielleitenden empfehlenswert, einen festen Zeitrahmen zu setzen, der bereits in die individuelle Vorbereitung der Sitzung einfließt. Das Spiel spontan zu unterbrechen, sollte hierbei vermieden werden, um die involvierende Rezeption nicht zu stören. Nicht nur in Rollenspielsitzungen mit größeren Lerngruppen, in denen einzelne Mitglieder nicht als Spielteilnehmer/-in, sondern als Beisitzer/-in agieren, sind Beobachtungsaufgaben zu empfehlen, die in der Nachbesprechung thematisiert werden. Im Kontext des Wechselspiels zwischen subjektiver Involviertheit und genauer Wahrnehmung, das auch im Pen-and-Paper-Rollenspiel gefördert werden kann (vgl. Kap. 7.2), legt Winkler (2015, 162) drei mögliche Aufgabentypen nahe: Aufgaben, die die subjektive Involviertheit fördern, zielen auf das Vorwissen der Lernenden ab, fragen nach der subjektiven Wirkung des Textes und nach eigenen Erfahrungen zum dargestellten Thema; Aufgaben, die die genaue Textwahrnehmung fördern, nehmen strukturelle Elemente in den Blick, im Fall des Rollenspiels besonderes die sich entwickelnde Erzählung. Schließlich fördern solche Aufgaben das Wechselspiel zwischen subjektiver Involviertheit und genauer Wahrnehmung, die die eigenen Erfahrungen und Wahrnehmungen in Beziehung zu den Merkma Hilfestellung bieten zahlreiche in der Fankultur veröffentlichte Publikationen zum Verfassen eigener Rollenspielszenarios. Einen stark an der narrativen Handlungsanalyse orientierten Ansatz liefert beispielsweise Laws (2010), der unter anderem auf die Transformation medialer Erzählungen in Rollenspielen eingeht.
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len des Textes setzen sowie die Wirkung und den individuellen Wissenserwerb auf diese Merkmale zurückzuführen. Beobachtungen und Erfahrungen während des Spielprozesses können in der anschließenden Nachbereitung reflektiert werden. Als produktiv stellen sich die Formen des literarischen Gesprächs dar, die sich sowohl in den einzelnen Spielgruppen als auch in der gesamten Lerngruppe realisieren lassen. Hier können zum einen die persönlichen Erfahrungen hervorgebracht und Wertungen geäußert werden, um Identifikations- und Abgrenzungsprozesse in Gang zu setzen (vgl. Schlachter 2014, 8). Gleichzeitig bietet es sich an, über die erzählerischen Eigenschaften des Spiels zu diskutieren, um so die Besonderheit der erzählerischen Kommunikation herauszustellen. Ferner können die Perspektiven der verschiedenen Spieler/-innen-Charaktere in Beziehung gesetzt werden, um einerseits diese unterschiedlichen Perspektiven zu konkretisieren und voneinander abzugrenzen und sich andererseits über den Erzählprozess im Pen-and-Paper-Rollenspiel bewusst zu werden. Nicht nur das literarische Gespräch ist für die Nachbereitung des Spielprozesses geeignet, sondern auch für Formen des kreativen Schreibens, worauf einige didaktische Ansätze zum Pen-and-Paper-Rollenspiel bereits verwiesen haben (vgl. Bowman 2010, 109; Cook et al. 2017, 67). Hier können Rezeptionserfahrungen vertieft werden, um so die erlebte Geschichte schriftlich zu fixieren oder fortzusetzen. Dass Rollenspielsitzungen auch als Vorlage für eine schriftliche Erzählung herangezogen werden, zeigen nicht nur die Erzeugnisse der Fankultur: Auch renommierte Fantasyautor/-innen, wie George R.R. Martin (2007) und Bernhard Hennen (vgl. Schulzke 2009), nutzten Rollenspiele als Inspiration für ihre Geschichten.
9 Fazit In ihrer Monografie Literary Gaming setzt sich Astrid Ensslin mit den Beziehungen zwischen schriftsprachlicher Literatur und digitalen Spielen auseinander. Wenngleich sie literary eng mit dem Begriff des Lesens verknüpft, indem sie statuiert, dass sich literary gaming aus ludischen und literalen Charakteristiken zusammensetzt (vgl. Ensslin 2014, 1), stellt sie ebenso einen Bezug zu Formen des Literarischen her: Sie verweist auf „literary (poetic, narrative, and dramatic) […] elements“ (Ensslin 2014, 41), die digitale Spiele integrieren, und setzt das Literarische in Beziehung zu künstlerischen und ästhetischen Rezeptions- und Produktionsprozessen (vgl. Ensslin 2014, 5–6). Zudem weitet sie diese Einschätzung auf die prägenden kommunikativen Eigenschaften aus, die unter anderem ein Einlassen auf die Kommunikation sowie ein allgemeines Unterhaltungs- oder Genussempfinden umfassen (vgl. Ensslin 2014, 2). Überträgt man das Konzept auf analoge Spiele, lässt sich konstatieren, dass das Pen-and-Paper-Rollenspiel ebenfalls das Potenzial hat, als literary game bezeichnet zu werden, und zwar nicht nur, weil es narrative Darstellungen hervorbringen kann, sondern auch, weil während des Spielvollzugs literarische Kommunikationsprozesse ermöglicht werden, die wiederum literarische Lernprozesse in Gang setzen können. Im vorliegenden Band wurde sich dem Erzählen im Pen-and-Paper-Rollenspiel aus narratologischer und literaturdidaktischer Perspektive genähert. Den Ausgangpunkt dieser doppelten Perspektive bildete die Beobachtung, dass das Penand-Paper-Rollenspiel trotz seiner weitreichenden literaturdidaktischen Potenziale, die sich vornehmlich aus seiner spezifischen narrativen Struktur ergeben, noch keine Beachtung in literaturdidaktischen Diskursen gefunden hat, wenngleich es in seiner Gestaltung an andere narrative Formen (Theater, Literatur, Computerspiele) und etablierte methodische Konzepte (Rollenspiele) unmittelbar anknüpft. Als zentrales Problem stellte sich heraus, dass diese narrativen Besonderheiten seitens der Forschung zwar sondiert, jedoch noch nicht in ein konsistentes narratologischen Modell überführt wurden. Eine solche Modellbildung ist für eine literaturdidaktische Perspektive notwendig, um von den inhärenten Eigenheiten auf zentrale Herausforderungen im (rezeptionalen) Umgang mit dem Pen-and-Paper-Rollenspiel rückzuschließen, die wiederum als Initial literarischer Lernprozesse angesehen werden können. Gerade weil im Pen-and-Paper-Rollenspiel Rezeption und Produktion eng miteinander verbunden sind, bot sich eine ideale Verknüpfung der narrativen und literaturdidaktischen Perspektive, zumal im Spielprozess zentrale narrative Verarbeitungsprozesse kommunikativ offengelegt werden. Die Erzählung stellt das Zentrum dieser Verarbeitungsprozesse dar, aus der sich vor allem in der Verbindung einer immersiven mit einer involvierenden Rezeptionshaltung, die sich im https://doi.org/10.1515/9783110788983-009
9 Fazit
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Vollzug der Rollenspieltätigkeit ergeben kann, spezifische literarische Verstehensprozesse einstellen können. Da das Erzählen in gegenwärtigen Modellen literarischer Kompetenzbildung einen zentralen Platz einnimmt, bot sich auch in theoretischer Hinsicht an, die narratologische und literaturdidaktische Perspektive zu verknüpfen. Denn sofern das Pen-and-Paper-Rollenspiel Potenziale für das literarische Lernen bereithalten soll, ist es ebenso relevant, die narrativen Verarbeitungsprozesse zu theoretisieren, die das literarische Lernen begleiten. Auf Basis dieser Perspektiven ergaben sich in der vorliegenden Studie folgende drei Leitfragen: 1. Wie lässt sich der Erzählprozess im Pen-and-Paper-Rollenspiel modellieren und welche narrativen Strategien und Angebote können systematisiert werden? 2. Wie regt die narrative Gestaltung des Pen-and-Paper-Rollenspiels zur involvierenden Rezeption an? Inwieweit lässt sich diese Rezeption als literarästhetischer Verstehensprozess betrachten? 3. Welche Potenziale zum literarischen Lernen eröffnet das Pen-and-PaperRollenspiel? Um den Erzählprozess im Pen-and-Paper-Rollenspiel zu modellieren, wurden mit der ludischen und kommunikativen Prozessualität zwei zentrale Eigenschaften des medialen Dispositivs definiert und aus narratologischer Perspektive kontextualisiert. Die Definitionsansätze zum Begriff des Rollenspiels, aber auch das generelle Verhältnis von Spiel und Erzählung, machten es erforderlich, über einen narratologischen Zugang zu reflektieren, mit dem der Erzählprozess adäquat beschrieben werden konnte. Grundannahme war hier, dass einzelne Spiele zwar narrative Gestaltungen integrieren, es jedoch von den Spielenden abhängt, inwieweit diese Rezeptionsangebote angenommen werden. Gerade im Fall des Pen-and-Paper-Rollenspiels gewinnt diese Annahme an Bedeutung, da der Vollzug stark durch die individuelle Spielgruppe und ihre Rezeptions- und Spielpräferenzen geprägt ist, worauf auch die para-akademischen Theorien der Rollenspiel-Fankultur verweisen. Mit der transmedialen Erzähltheorie wurde ein narratologischer Zugang gefunden, der diese Anforderungen berücksichtigt, da er nicht nur die narrative Anlage bestimmter Medien betrachtet, sondern auch theoretisiert, wie narrative Darstellungen rezipiert werden. Einige bereits erschienene Forschungsbeiträge, die in der Computerspielnarratologie angesiedelt sind, stellten sich als brauchbar heraus, um das Verhältnis narrativer und ludischer Prozesse im Pen-and-Paper-Rollenspiel zu beschreiben. Da sich beide Spielformen jedoch in struktureller Hinsicht maßgeblich unterscheiden, war es notwendig, ein Strukturmodell der ludischen Prozesse im Pen-and-Paper-Rollenspiel zu entwickeln. Wenngleich hier auch die für Computerspiele geltende Dreiteilung in Spielsystem, Setting und Szenario naheliegt, ergaben sich doch zentrale Unterschiede in der Realisierung dieser Ebenen. Grundlegende Differenz ist das Auftreten ergodi-
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scher und interaktiver Prozesse. Während das Computerspiel nach enger Definition keine interaktiven, sondern nur ergodische Rückkopplungseffekte realisiert, sind im Rollenspiel aufgrund der notwendigen mündlichen Kommunikation auch interaktive Prozesse auszumachen. Aufgrund der regelwerkfundierten Anlage haben Pen-andPaper-Rollenspiele mehr oder weniger klar definierte Realisierungsebenen. Wie diese Ebenen jedoch konkret in den Spielprozess eingebracht werden, bleibt den Teilnehmenden der Rollenspielsitzung überlassen, die durch ihre kommunikativen Handlungen die Elemente des Regelwerkes realisieren. Jene Variabilität wirkt sich auch auf narrative Rezeptionsangebote aus, die aus der Interpretation der ludischen Prozesse generiert werden. Diese Prominenz der kommunikativen Prozesse bei der Entwicklung einer narrativen Darstellung erforderte eine genauere Betrachtung der Kommunikation im Pen-and-Paper-Rollenspiel. Die (mündliche) Kommunikation verläuft im Spielprozess innerhalb unterschiedlicher kommunikativer frames, ein Erzählen kann dabei als performativ, singulär und emergent charakterisiert werden. Es enthält einerseits Kommunikationsanteile, die von den Teilnehmenden gemäß ihren Erzählrechten und ihrer Wirkmächtigkeit improvisiert werden. Andererseits setzt sich die Kommunikation auch aus Elementen zusammen, die bereits im Vorhinein durch verschiedene Inszenierungspraktiken festgelegt wurden. Die kommunikativen Merkmale kulminierten in einem Modell erzählerischer Kommunikation, dessen Besonderheiten vor allem in der Zirkularität des Kommunikationsvorgangs, der Strukturierung kommunikativer Ebenen und der Entwicklung der storyworlds liegen. Da das Pen-and-Paper-Rollenspiel zentralen Grundsätzen mündlicher Kommunikation folgt (turn-taking, Ko-Präsenz), stellt sich der erzählerische Kommunikationsprozess vor allem deswegen als zirkulär dar, weil die Teilnehmenden abwechselnd in eine Rezeptions- und eine Produktionsrolle eintreten und das Rederecht immer wieder abgegeben wird. Geht man davon aus, dass die entstehende Erzählung somit ein Gemeinschaftsprojekt ist, manifestiert sich im Kommunikationsprozess eine kollektive Autorschaft. Die Besonderheit der Strukturierung kommunikativer Ebenen lässt sich darauf zurückführen, dass das Erzählen obligatorisch mittels eines mündlichen framework vollzogen wird. Da die Teilnehmenden mit ihrer eigenen Stimme, aber innerhalb der erzählerischen Kommunikation auch mit der Stimme einer Erzählinstanz sprechen, entsteht eine Überlagerung verschiedener Ebenen, die als Dialogizität bezeichnet wurde. Sprechen die Teilnehmenden zugleich mit der Stimme einer Figur, wird diese Ebenenüberlagerung darüber hinaus als Trialogizität charakterisiert. Da die Teilnehmenden ihre Erzählinstanz nicht selten auf Basis unterschiedlicher Wissensbestände konstruieren, lässt die Erzählkommunikation im Pen-and-Paper-Rollenspiel ferner zu, subjektive storyworlds zu entwickeln. Wenn die gemeinsam erschaffene intersubjektive storyworld als zentraler Fokus der Er-
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zählkommunikation angesehen werden kann, bietet sich diese Möglichkeit aufgrund nicht geäußerter narrativer Informationsbestände, die im Sinne einer internal story das gemeinsame Erzählen um höchst subjektive Bestände erweitern. Nachdem mit der Modellierung der erzählerischen Kommunikation ein Teil der narratologischen Theoretisierung geleistet wurde, galt es anschließend, zentrale narrative Strategien und Gestaltungen anhand konkreter Rollenspielsitzungen und publizierter Materialien nachzuvollziehen. Rückblickend lassen sich die identifizierten narrativen Verfahren mit den kommunikativen und ludischen Prozessen in Beziehung setzen. Mit Blick auf die kommunikativen Prozesse wurde das Erzählen im Pen-and-Paper-Rollenspiel aufgrund seiner kommunikativen Situierung zwischen mündlichen und künstlerisch-darstellenden Narrationen eingeordnet, was sich sowohl anhand der kommunikativen Struktur als auch anhand der herausgearbeiteten narrativen Verfahren belegen lässt. Anknüpfbar an künstlerisch-darstellende Erzählungen ist das Pen-and-Paper-Rollenspiel nicht nur deshalb, weil auf der Ebene des Erzählinhalts Handlungsverläufe, Figuren und Schauplätze inszeniert werden, sondern auch aufgrund typischer Verfahren der Vermittlung, die auch in anderen künstlerisch-darstellenden Narrationen zu finden sind, beispielsweise die Erzählposition und Erzählperspektive, die Lenkung von Wissensund Informationsvergabe, die Zeitgestaltung oder die Realisierung verschiedener Redeformen. Anbindung an die mündliche Kommunikation wird insbesondere durch das mündliche framework des Erzählens geschaffen, was sich zentral in verschiedenen gestischen, mimischen und stimmlichen Verfahren sowie in einer Unmittelbarkeit suggerierenden Präsensnarration niederschlägt. Doch auch die ludischen Prozesse beeinflussen die Gestalt der Erzählung im Pen-and-Paper-Rollenspiel maßgeblich. Dies lässt sich einerseits auf der Inhaltsebene durch verschiedene Möglichkeiten belegen, ludische Elemente in die Erzählung zu überführen, zum Beispiel innerhalb der Ereignisgenerierung oder der Entwicklung der Spielfiguren. Andererseits lässt sich auf der Ebene der Vermittlung vor allem durch die Perspektivierung ein Bezug zu anderen ludischen Formen herstellen. Gerade die Du-Perspektive, die sowohl in mündlichen als auch in vielen künstlerisch-darstellenden Erzählungen eher als Randphänomen angesehen wird, ist in ihrer doppeldeiktischen Ausprägung gerade für das Spiel typisch. Sie kann hier als Ausdruck der ergodischen oder interaktiven Kommunikationssituation gesehen werden, die das responsive Handeln der Kommunikationspartner/-innen direkt einfordert. Mit der erfolgten narratologischen Theoriebildung und Analyse wurden grundlegende Beobachtungen und Merkmale des Erzählens im Pen-and-Paper-Rollenspiel unter Rückgriff auf die aktuelle Forschung systematisiert und in ein konsistentes Modell überführt. Das Modell verortet sich im Spektrum ludonarratologischer Theorie und einem bisher nur wenig erforschten Feld mündlichen Erzählens, das sowohl an das theatrale als auch an das literarische Erzählen anknüpft.
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Eine Besonderheit des Pen-and-Paper-Rollenspiels ist nicht nur die Art und Weise, wie der Erzählprozess vollzogen wird, sondern auch das seitens der Forschung attestierte Potenzial zu einem besonders immersiven Erleben der Erzählung. Dies liegt unter anderem darin begründet, dass das Pen-and-Paper-Rollenspiel die imaginative Tätigkeit fördert, die eine starke imaginative Nähe zu den gespielten fiktiven Figuren einfordert. Eine solche involvierende narrative Erfahrung lässt sich auch in der Rezeption anderer Medien feststellen und kann als Form der ästhetischen Illusion beschrieben werden. Durch eine Re-Evaluierung der narratologischen Analyseergebnisse mittels kognitions- und rezeptionstheoretischer Ansätze konnte in der vorliegenden Studie gezeigt werden, dass im Pen-and-Paper-Rollenspiel verschiedene Prinzipien der ästhetischen Illusionsbildung realisiert werden. Diese positionieren sich einerseits innerhalb der Entwicklung der gemeinsamen storyworld und stellen sich als teils notwendige Vorgänge dar, um den reibungslosen Fortgang des Spielprozesses zu gewährleisten. Sie treten in diesem Kontext als Strategien der Konsistenzbildung, der Ausgestaltung der fiktiven Welt sowie als transtextuelle Referenzen auf, die durch die Beziehung zu anderen Medien grundlegende narrative Gestaltungsformen offenlegen. Andererseits sind einige illusionsstiftende Prinzipien eng an die Entwicklung und das Ausspielen der Figur gebunden und realisieren somit die Perspektivität als Grundeigenschaft einer ästhetischen Illusionsbildung. Diese umfasst Prinzipien, die sich übergreifend als figurale Immersion beschreiben lassen und vor allem auf spezifische Rezeptionsmodi zielen, die die emotionale Involviertheit und Identifikation mit der gespielten Figur betreffen. Gerade die figurale Immersion, die vornehmlich durch die Imaginationstätigkeit des Rollenspiels gefördert wird, greift eine Besonderheit der ästhetischen Illusion im Pen-and-PaperRollenspiel auf, die die Reichweite der eingenommenen Perspektivität betrifft. Indem Spielende die Erzählung nicht nur aus der Perspektive einer Figur nachvollziehen, sondern auch das Handeln und Denken einer Figur simulieren, lässt sich diese Perspektive deutlich mit eigenen Selbstkonzepten und Selbstentwürfen verknüpfen, die man in die erzählerische Rezeption und Produktion einbringt. Der Begriff der ästhetischen Illusion setzt auf ein Ästhetikverständnis, das nicht allein auf den Effekt einer ästhetischen Distanzierung oder Irritation zielt, sondern auch das involvierende Potenzial ästhetischer Darstellungen berücksichtigt. Die ästhetische Illusion lässt sich folglich nicht mit einer Täuschung gleichsetzen, sondern wechselt zwischen einer Involvierung und dem Bewusstsein, dass es sich um eine fiktive Darstellung handelt. Bei der Analyse illusionsfördernder Prinzipien konnte festgestellt werden, dass das Pen-and-Paper-Rollenspiel den Konventionen einer literar-ästhetischen Kommunikation folgt. Es lässt sich gemäß der Ästhetikkonvention nicht nach Nützlichkeit, sondern nach ästhetischer Relevanz bewerten und eröffnet im Rahmen der Polyvalenzkonvention eine Deutungs- und Wertungsoffenheit, aus der Rezipierende subjektive Sinnbezüge hervorbringen
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können. Die Berücksichtigung der Konventionen innerhalb der literar-ästhetischen Kommunikation kann als literar-ästhetisches Verstehen beschrieben werden, das zugleich den Ursprung für mögliche literarische Bildungsprozesse bildet. Mit der ästhetischen Illusion wurde ein zentraler Rezeptionseffekt beschrieben, der die Gestalt des Erzählens im Pen-and-Paper-Rollenspiel genauer kontextualisiert und es in die Nähe anderer künstlerischer Darstellungen rückt. Dies bildete zugleich den argumentativen Ausgangspunkt für eine literaturdidaktische Konzeption, in der folglich nicht nur die erzählerischen Herausforderungen des Pen-and-Paper-Rollenspiels zur Sprache kamen, sondern auch andere Aspekte literarischen Lernens, die sich in der Rezeption einer ästhetischen Illusion einstellen. Die Re-Evaluation der narratologischen Analyse des Pen-and-Paper-Rollenspiels aus rezeptions- und kognitionstheoretischer Perspektive greift jedoch auch einen entscheidenden Punkt der Verknüpfung narratologischer und literaturdidaktischer Theorie auf, der auch für andere narrative Medien gilt: Sofern man das Erzählen als wichtige Größe zur Anbahnung verschiedener literarischer Lernprozesse auffasst, reicht es nicht aus, allein die oberflächlichen analytischen Kategorien einer Erzählung mit den Teilaspekten des literarischen Lernens in Verbindung zu setzen. Wenn es in literarischer Bildung nicht nur um den reinen Wissenserwerb, sondern auch um andere kognitive, emotive und motivationale Faktoren gehen soll, die innerhalb der rezeptionalen Verarbeitungsprozesse vollzogen und durch eine mögliche literarische Performanz offengelegt werden, ist es erforderlich, diese Faktoren mittels eines adäquaten theoretischen Instrumentariums zu beschreiben. Die kognitive Narratologie liefert hier eine Reihe von Konzepten, die sich auch für die literaturdidaktische Theoretisierung als brauchbar erweisen. Das Pen-and-Paper-Rollenspiel bot sich vor allem deshalb an, diese Konzepte zu erproben, weil die ineinanderlaufende Rezeption und Produktion Aufschluss über verschiedene narrative Verarbeitungsprozesse bietet. Wird durch die narrative Rezeption und Produktion im Pen-and-PaperRollenspiel literarisches Verstehen ermöglicht, zeigen sich zugleich Förderungspotenziale literarischer Bildung, da jeder Verstehensprozess hier zuträglich ist. Um die literaturdidaktischen Potenziale des Pen-and-Paper-Rollenspiels zu bestimmen, wurde ein erweiterter Literaturbegriff herangezogen, der Literarizität als medienunabhängiges Phänomen begreift. Zudem wurde sich dafür entschieden, den Begriff des Literaturunterrichts möglichst weit zu fassen und für einen ersten theoretischen Ansatz zu literarischen Lernpotenzialen institutionelle Rahmenbedingungen zunächst auszublenden. Das Erzählen stellt eine Grundkomponente dar, aus der sich verschiedene andere Teilaspekte literarischen Lernens ergeben. Die Erzählung gemäß den Herausforderungen des erzählerischen Kommunikationsprozesses zu rezipieren und durch eigene Beiträge an der Kommunikation teilzuhaben, sind zwei zentrale Handlungen, die im Pen-and-Paper-Rollenspiel verschiedene Lernpoten-
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ziale bereithalten. Im Erzählprozess kann sich zudem die ästhetische Illusionsbildung einstellen, die wiederum verschiedene Teilaspekte literarischer Bildung anspricht. Dies betrifft die Förderung der Fiktionskompetenz, das Aufdecken von Wissenskorrespondenzen und -differenzen, die Aushandlung populärkulturellen Wissens sowie die Perspektivübernahme und das Empathieempfinden. Aufgrund seiner medienkulturellen Relevanz eröffnet das Pen-and-PaperRollenspiel, wie auch die didaktische Diskussion gezeigt hat, vielfältige Potenziale für literarisches Lernen, da es einerseits als handlungsorientierter Zugang fungiert, in dem die künstlerisch-darstellende Erzählung nicht nur rezipiert, sondern auch produziert und geplant wird. Narrative Performanz ist hier im Gegensatz zu vielen anderen handlungsorientierten Aufgabenkonzepten notwendigerweise eng mit dem Rezeptionsprozess verbunden und lässt somit die Offenlegung von Verarbeitungsprozessen in der Performanz deutlich organischer erscheinen. Andererseits eröffnet das Pen-and-Paper-Rollenspiel durch die Möglichkeit, eine imaginative Rollenspieltätigkeit zu realisieren, Parallelen zu bereits etablierten literarischen Formen des Rollenspiels. Indem es sowohl narrative als auch figurale Immersion ermöglicht, entwickelt sich ein vielfältiges Potenzial zur Involvierung, die gleichzeitig ästhetische Erfahrungen vermitteln kann. Um diese Potenziale zu nutzen, ist es entscheidend, dass die Teilnehmenden die narrativen Angebote des Pen-and-Paper-Rollenspiels annehmen und in ihrer Spielpräferenz auf die Entwicklung einer Erzählung ausgerichtet sind. Die am Ende dieses Bandes vorgestellte methodische Skizze berücksichtigt dieses Erfordernis und stellt verschiedene Strategien vor, die Bezüge zum literarischen und narrativen Verstehen zu explizieren. Die methodische Skizze verweist zudem auf mögliche Forschungsperspektiven, die sich an die hier entwickelte Theoriebildung anschließen. Bisher wurde die theoretische Fundierung mithilfe eines möglichst weit gefassten Begriffs des Literaturunterrichts erarbeitet. Für die weitere Forschung gilt es, diesen Begriff zu verengen und die Theorie empirisch abzusichern. Gerade für institutionelle Lernsettings ist es in diesem Kontext notwendig, Bildungsstandards und Kompetenzbereiche des Deutschunterrichts produktiv einzubeziehen. Da dem Pen-andPaper-Rollenspiel nicht aufgrund seines medialen Status, sondern wegen seiner narrativen Eigenschaften Beziehungen zu handlungsorientierten szenischen Formaten und dem mündlichen Erzählen nachgewiesen werden konnten, deutet sich bereits an, dass diese Zusammenführung möglich ist. Die literaturdidaktische Ausrichtung der vorliegenden Studie bezieht sich stark auf die narratologische Modellbildung und stellte die ästhetische Illusion als zentralen Rezeptionsmodus heraus, der ein literarisches Verstehen begünstigt. Der zugrunde liegende Ästhetikbegriff folgte damit der Einsicht, dass eine ästhetische Erfahrung durch eine involvierende Rezeptionshaltung erzeugt werden
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kann, die durch die Wechsel von Nähe und Distanz gekennzeichnet ist. Im Rahmen dieser Studie konnte nur begrenzt auf die irritationsstiftenden ästhetischen Verfahren und Gestaltungen eingegangen werden, die ebenso ein literarisches Verstehen anregen und somit zugleich auch förderlich für literarische Bildungsprozesse sind. Dies betrifft insbesondere das Verhältnis von alltäglicher und fiktionaler Kommunikation, das im Pen-and-Paper-Rollenspiel verhandelt wird. Die fiktionale Kommunikation ist durch bestimmte Verfremdungsstrukturen gekennzeichnet, die auf die Sprachverwendung in anderen narrativen Medien, Genres oder spezifischen fiktiven Welten verweisen. Da sich innerhalb der narratologischen Modellbildung dagegen entschieden wurde, auf stilistische Besonderheiten der narrativen Kommunikation einzugehen (vgl. Kap. 5.1), wurden diese sprachlichen Verfremdungsstrukturen nicht einbezogen, wenngleich sie sowohl für die literaturdidaktische als auch für die sprachdidaktische Theoretisierung zweifellos von Interesse sind. Für die erzähltheoretische Forschung ergeben sich vor allem in Bezug auf die Modellbildung weiterführende Fragestellungen. Hier wären unter anderem Einzelanalysen denkbar, um die Strategien und Verfahren des Erzählens zu bestätigen, aber auch zu erweitern. Da auch die Präferenz einzelner Spielgruppen und Gestaltungen verschiedener Pen-and-Paper-Rollenspiele die narrative Kommunikation beeinflussen, ist es möglich, dass sich gänzlich neue Strategien des Erzählens entwickeln. Da der Fokus der narratologischen Analyse vornehmlich auf den videografierten Sitzungen lag, bietet sich auch eine systematisierende Untersuchung verschiedener Rollenspielmaterialien an. Der vorliegende Band hat sich in diesem Kontext vornehmlich exemplarisch auf die narrativen Grundstrukturen konzentriert, die durch weitere Einzelanalysen noch vertieft werden können. Dies betrifft auch die Analyse der zahlreichen transtextuellen Beziehungen, die diese Materialien zu anderen narrativen Medien herstellen.
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Transkriptionssymbole Abb. 12: Transkriptionssystem nach Jefferson (1984) und Kuckartz (2016 [2012]). Symbol
Bezeichnung
Gebrauch
[Text]
eckige Klammern
Start- und Endpunkt von überlappendem Sprechen
(.)
zeitlich definierte Pause
Pause, in Klammern Dauer der Pause in Sekunden
(.)
Kurzpause
Kurze Pause, kleiner als . Sekunden
.
Punkt
Fallende Tonhöhe oder Intonation
?
Fragezeichen
Steigende Tonhöhe oder Intonation
,
Komma
Temporär fallende oder steigende Intonation
–
Bindestrich
Abruptes Anhalten oder Unterbrechung einer Äußerung
>Text