Die Rezeption der Sinaitradition im Evangelium nach Johannes 3161562402, 9783161562402

Inwiefern und wozu wird im Johannes-Evangelium die Erzählung von der Offenbarung Gottes am Sinai mit der Übermittlung de

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German Pages 493 [494] Year 2019

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Titel
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Kapitel 1: Einleitung
1. Annäherung an das Thema und die Fragestellung
2. Methodologische Überlegungen
2.1 Intertextualität: Herkunft, Bedeutung und Kritik
2.2 Der Begriff der Intertextualität in dieser Arbeit
2.3 Intertextualität in Relation zur Trias Autor, Text, Leser
2.3.1 Ein Modell der intertextuellen Lektüre
2.3.2 Intertextuelle Markierungen und traditionelle Termini für Textbezüge
2.3.3 Das Problem der Kontextrezeption und der Begriff „Echo“
2.4 Zusammenfassung
3. Zur Vorgehensweise
Kapitel 2: „Die Gnade und die Wahrheit ist durch Jesus Christus geworden“: Die Rezeption der Sinaitradition in Joh 1,14–18
1. Desintegration
2. Digression
2.1 Ex 32ff. gemäß MT
2.2 Ex 32ff. gemäß LXX
2.3 Innerbiblische Rezeption der Namensoffenbarung
2.4 Ex 32ff. gemäß den Targumim
2.5 Ex 32ff. in weiteren (früh-)jüdischen Auslegungen
2.6 Zusammenfassung
3. Echos und Entsprechungen
4. Reintegration
4.1 Abgrenzung und Funktion von Joh 1,14–18
4.2 Gliederung
4.3 Syntaktische Struktur und Übersetzung von Joh 1,14–18
4.4 Interpretation der intertextuellen Bezüge innerhalb des Prologs
4.5 Zusammenfassung
Kapitel 3: „Weder habt ihr jemals seine Stimme gehört, noch habt ihr seine Gestalt gesehen, und sein Wort habt ihr nicht bleibend in euch“: Die Rezeption der Sinaitradition in Joh 5,37f
1. Desintegration
2. Digression
2.1 Annäherung
2.2 Die Sinaitradition nach dem MT
2.3 Die Sinaitradition nach der Septuaginta
2.4 Die Sinaitradition nach den Targumim
2.5 Die Sinaitradition in (früh-)jüdischen Deutungen
2.6 Zusammenfassung der bisherigen Ergebnisse
3. Echos und Entsprechungen
4. Reintegration
4.1 Abgrenzung und Funktion der Jesusrede in Joh 5
4.2 Gliederung
4.3 Syntaktische Struktur und Übersetzung von Joh 5,31–47
4.4 Interpretation der intertextuellen Bezüge innerhalb der Jesusrede
4.5 Zusammenfassung
Exkurs: Wochenfest und Sinaitradition
Kapitel 4: Das Leben schenkende Brot vom Himmel und die endzeitliche Gottesgelehrheit: Die Rezeption der Sinaitradition in Joh 6,31f.45f
1. Desintegration
2. Digression I: Die Mannatradition
2.1 Herkunft des Zitats in Joh 6,31
2.2 Sinaibezüge in anderen Manna-Texten des MT und der LXX
2.3 Sinaibezug in Ps 77 LXX?
2.4 Sinaibezüge in Philos Deutung der Mannaepisode
2.5 Sinaibezüge in (früh-)jüdischen Deutungen der Mannaepisode
2.6 Mose als Geber/Vermittler des Mannas in (früh-)jüdischen Texten
2.7 Zusammenfassung
3. Echos und Entsprechungen
4. Digression II: Die Tradition von der endzeitlichen Gottesgelehrtheit
4.1 Herkunft des Zitats in Joh 6,45
4.2 Jes 54,13 in seinem Kontext
4.3 Targum Jes 54,13 in seinem Kontext
4.4 Weitere (früh-)jüdische Deutungen von Jes 54,13
4.5 Zusammenfassung
5. Echos und Entsprechungen
6. Reintegration
6.1 Abgrenzung und Funktion der Jesusrede in Joh 6
6.2 Gliederung
6.3 Syntaktische Struktur und Übersetzung von Joh 6,26–71
6.4 Interpretation der intertextuellen Bezüge innerhalb der Jesusrede
6.5 Zusammenfassung
Kapitel 5: „Wenn er jene Götter nannte, an die das Wort Gottes erging“: Die Rezeption der Sinaitradition in Joh 10,34ff
1. Desintegration
2. Digression
2.1 Herkunft des Zitats in Joh 10,34
2.2 Ps 81 LXX
2.3 Targum Ps 82
2.4 (Früh-)jüdische Auslegungstraditionen zu Ps 82
2.5 Zusammenfassung
3. Echos und Entsprechungen
4. Reintegration
4.1 Abgrenzung und Funktion der Jesusrede innerhalb des JohEv
4.2 Gliederung
4.3 Syntaktische Struktur und Übersetzung von Joh 10,22–39
4.4 Interpretation der intertextuellen Bezüge in der Rede Jesu
4.5 Zusammenfassung
Kapitel 6: Zusammenfassung der Ergebnisse und Schlussfolgerungen
Literaturverzeichnis
Stellenregister
Personenregister
Sachregister
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Die Rezeption der Sinaitradition im Evangelium nach Johannes
 3161562402, 9783161562402

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Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament · 2. Reihe Herausgeber / Editor Jörg Frey (Zürich)

Mitherausgeber/Associate Editors Markus Bockmuehl (Oxford) ∙ James A. Kelhoffer (Uppsala) Tobias Nicklas (Regensburg) ∙ Janet Spittler (Charlottesville, VA) J. Ross Wagner (Durham, NC)

502

Eduard Käfer

Die Rezeption der Sinaitradition im Evangelium nach Johannes

Mohr Siebeck

Eduard Käfer, geboren 1983; 2004 – 2010 Studium der Ev. Theologie in Gießen und Leuven; 2011 – 2017 Promotionsstudium an der Georg-August-Universität Göttingen; seit 2017 Pastor im Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden Deutschland. orcid.org/0000-0001-6393-5581

ISBN 978-3-16-156240-2 / eISBN 978-3-16-156998-2 DOI 10.1628/978-3-16-156998-2 ISSN 0340-9570 / eISSN 2568-7484 (Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 2. Reihe) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2019  Mohr Siebeck Tübingen.  www.mohrsiebeck.com Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für die Verbreitung, Vervielfältigung, Über­ setzung sowie die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Laupp & Göbel in Gomaringen auf alterungsbeständiges Werkdruck­ papier gedruckt und von der Buchbinderei Nädele in Nehren gebunden. Printed in Germany.

Für Olga

Vorwort Vorwort

Die vorliegende Arbeit zur „Rezeption der Sinaitradition im Evangelium nach Johannes“ wurde im Sommersemester 2017 von der Theologischen Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen als Dissertation angenommen. Ich habe sie für den Druck überarbeitet. Neuerschienene Literatur konnte ich dabei nur teilweise berücksichtigen. Viele Menschen haben direkt oder indirekt zum Gelingen meines Vorhabens beigetragen. Im Göttinger Doktorandenkolloquium durfte ich meine Ideen vorstellen und so manchen anregenden Impuls erhalten. Dessen Mitgliedern danke ich für die freundlich-offene Gesprächsatmosphäre und die hilfreichen Hinweise, Fragen und Anregungen. Der Göttinger Baptistengemeinde danke ich für die geistliche Heimat, die Möglichkeiten zur Mitarbeit und die freundschaftlichen Beziehungen, die in dieser Zeit gewachsen sind. Als Familie haben wir uns auch deshalb in Göttingen sehr wohl gefühlt. Meinen Eltern, Schwiegereltern und Geschwistern danke ich, dass sie mich und uns in vielerlei Hinsicht stets unterstützt und ermutigt haben. Sybille Huhn danke ich, dass sie bereit war, meine Arbeit Korrektur zu lesen. Für alle verbliebenden Fehler bin ich natürlich selbst verantwortlich. Ein besonders großer Dank gilt meinem Doktorvater Prof. Dr. Florian Wilk. Er hat sich seinerzeit offen gezeigt, mich bei meinem Promotionsvorhaben zu betreuen. Seine kritischen Rückmeldungen zu den ihm vorgelegten Kapiteln meiner Arbeit waren immer sehr scharfsinnig und detailliert; sie halfen mir, meine Gedanken klarer zu fassen und manche Irrwege der Interpretation zu verlassen (so hoffe ich). Auch für das ausführliche Erstgutachten sei ihm gedankt! Herr Prof. Dr. Reinhard Feldmeier hat das Zweitgutachten verfasst. Vielen Dank dafür! Dem Herausgeber Prof. Dr. Jörg Frey danke ich für sein Interesse an meiner Arbeit und für die Bereitschaft, sie in die Reihe der WUNT II aufzunehmen. Katharina Gutekunst, Elena Müller und Ilse König vom Verlag Mohr Siebeck habe ich zu danken für die kompetente Betreuung. Meinen Kindern danke ich, dass sie dafür gesorgt haben, dass ich neben der Arbeit am Schreibtisch genug Bewegung hatte. Meine Frau – ihr sei dieses Buch gewidmet – stand mir immer zur Seite, hat mir den Rücken gestärkt und mir vieles abgenommen, damit ich mich auf die Dissertation konzentrieren konnte. Ohne ihre geduldige Unterstützung und ihr Vertrauen hätte ich das nie geschafft. Herzlichen Dank!

VIII

Vorwort

Mein größter Dank gilt dem, aus dessen „Fülle“ auch ich „Gnade empfangen“ durfte. Er war spürbar bei mir und hat mir immer wieder Mut gemacht, durchzuhalten und dieses Projekt fertigzustellen. Veitshöchheim, im September 2019

Eduard Käfer

Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis

Vorwort ...................................................................................................... VII Abkürzungsverzeichnis ............................................................................. XIII

Kapitel 1: Einleitung ............................................................................... 1 1. Annäherung an das Thema und die Fragestellung ..................................... 1 2. Methodologische Überlegungen ................................................................ 8 2.1 Intertextualität: Herkunft, Bedeutung und Kritik ......................................8 2.2 Der Begriff der Intertextualität in dieser Arbeit...................................... 11 2.3 Intertextualität in Relation zur Trias Autor, Text, Leser......................... 13 2.3.1 Ein Modell der intertextuellen Lektüre ..................................... 13 2.3.2 Intertextuelle Markierungen und traditionelle Termini für Textbezüge................................................................................. 14 2.3.3 Das Problem der Kontextrezeption und der Begriff „Echo“ ..... 19 2.4 Zusammenfassung .................................................................................. 23 3. Zur Vorgehensweise .................................................................................24

Kapitel 2: „Die Gnade und die Wahrheit ist durch Jesus Christus geworden“: Die Rezeption der Sinaitradition in Joh 1,14–18..........................................................................................27 1. Desintegration ..........................................................................................27 2. Digression ................................................................................................46 2.1 Ex 32ff. gemäß MT................................................................................. 46 2.2 Ex 32ff. gemäß LXX .............................................................................. 57 2.3 Innerbiblische Rezeption der Namensoffenbarung ................................. 64 2.4 Ex 32ff. gemäß den Targumim ............................................................... 70 2.5 Ex 32ff. in weiteren (früh-)jüdischen Auslegungen................................ 75

X

Inhaltsverzeichnis

2.6 Zusammenfassung .................................................................................. 89 3. Echos und Entsprechungen .......................................................................90 4. Reintegration ..........................................................................................105 4.1 Abgrenzung und Funktion von Joh 1,14–18 ......................................... 105 4.2 Gliederung ............................................................................................ 106 4.3 Syntaktische Struktur und Übersetzung von Joh 1,14–18 .................... 106 4.4 Interpretation der intertextuellen Bezüge innerhalb des Prologs .......... 107 4.5 Zusammenfassung ................................................................................ 116

Kapitel 3: „Weder habt ihr jemals seine Stimme gehört, noch habt ihr seine Gestalt gesehen, und sein Wort habt ihr nicht bleibend in euch“: Die Rezeption der Sinaitradition in Joh 5,37f. .................................................................118 1. Desintegration ........................................................................................118 2. Digression ..............................................................................................129 2.1 Annäherung .......................................................................................... 129 2.2 Die Sinaitradition nach dem MT .......................................................... 134 2.3 Die Sinaitradition nach der Septuaginta ............................................... 141 2.4 Die Sinaitradition nach den Targumim ................................................. 153 2.5 Die Sinaitradition in (früh-)jüdischen Deutungen ................................ 165 2.6 Zusammenfassung der bisherigen Ergebnisse ...................................... 188 3. Echos und Entsprechungen .....................................................................190 4. Reintegration ..........................................................................................199 4.1 Abgrenzung und Funktion der Jesusrede in Joh 5 ................................ 199 4.2 Gliederung ............................................................................................ 200 4.3 Syntaktische Struktur und Übersetzung von Joh 5,31–47 .................... 201 4.4 Interpretation der intertextuellen Bezüge innerhalb der Jesusrede ....... 204 4.5 Zusammenfassung ................................................................................ 225 Exkurs: Wochenfest und Sinaitradition .......................................................226

Inhaltsverzeichnis

XI

Kapitel 4: Das Leben schenkende Brot vom Himmel und die endzeitliche Gottesgelehrheit: Die Rezeption der Sinaitradition in Joh 6,31f.45f. ..........................................................229 1. Desintegration ........................................................................................229 2. Digression I: Die Mannatradition ..........................................................256 2.1 Herkunft des Zitats in Joh 6,31 ............................................................. 256 2.2 Sinaibezüge in anderen Manna-Texten des MT und der LXX ............. 259 2.3 Sinaibezug in Ps 77 LXX? .................................................................... 263 2.4 Sinaibezüge in Philos Deutung der Mannaepisode ............................... 264 2.5 Sinaibezüge in (früh-)jüdischen Deutungen der Mannaepisode ........... 270 2.6 Mose als Geber/Vermittler des Mannas in (früh-)jüdischen Texten ..... 281 2.7 Zusammenfassung ................................................................................ 284 3. Echos und Entsprechungen .....................................................................285 4. Digression II: Die Tradition von der endzeitlichen Gottesgelehrtheit ....304 4.1 Herkunft des Zitats in Joh 6,45 ............................................................. 304 4.2 Jes 54,13 in seinem Kontext ................................................................. 307 4.3 Targum Jes 54,13 in seinem Kontext.................................................... 319 4.4 Weitere (früh-)jüdische Deutungen von Jes 54,13................................ 321 4.5 Zusammenfassung ................................................................................ 326 5. Echos und Entsprechungen .....................................................................327 6. Reintegration ..........................................................................................338 6.1 Abgrenzung und Funktion der Jesusrede in Joh 6 ................................ 338 6.2 Gliederung ............................................................................................ 339 6.3 Syntaktische Struktur und Übersetzung von Joh 6,26–71 .................... 341 6.4 Interpretation der intertextuellen Bezüge innerhalb der Jesusrede ....... 349 6.5 Zusammenfassung ................................................................................ 363

Kapitel 5: „Wenn er jene Götter nannte, an die das Wort Gottes erging“: Die Rezeption der Sinaitradition in Joh 10,34ff. .............................................................................................367 1. Desintegration ........................................................................................367 2. Digression ..............................................................................................378

XII

Inhaltsverzeichnis

2.1 Herkunft des Zitats in Joh 10,34 ........................................................... 378 2.2 Ps 81 LXX ............................................................................................ 379 2.3 Targum Ps 82 ........................................................................................ 391 2.4 (Früh-)jüdische Auslegungstraditionen zu Ps 82 .................................. 396 2.5 Zusammenfassung ................................................................................ 404 3. Echos und Entsprechungen .....................................................................405 4. Reintegration ..........................................................................................409 4.1 Abgrenzung und Funktion der Jesusrede innerhalb des JohEv ............. 409 4.2 Gliederung ............................................................................................ 410 4.3 Syntaktische Struktur und Übersetzung von Joh 10,22–39 .................. 411 4.4 Interpretation der intertextuellen Bezüge in der Rede Jesu .................. 413 4.5 Zusammenfassung ................................................................................ 427

Kapitel 6: Zusammenfassung der Ergebnisse und Schlussfolgerungen ..............................................................................429 Literaturverzeichnis ....................................................................................433 Stellenregister.............................................................................................459 Personenregister .........................................................................................471 Sachregister ................................................................................................476

Abkürzungsverzeichnis Abkürzungsverzeichnis Die Literatur wird im Folgenden mit Verfasser- bzw. Herausgebername, Jahreszahl und Seitenangabe zitiert. Die Abkürzungen der Zeitschriften, Serien, Lexika und Quellenwerke richten sich nach SIEGFRIED M. SCHWERTNER, IATG3 – Internationales Abkürzungsverzeichnis für Theologie und Grenzgebiete, 3. überarb. und erw. Aufl., Berlin/Boston: de Gruyter, 2014. Darüber hinaus finden folgende Abkürzungen Verwendung: ÄAT BG BnL BSHJ Contra CTSRR EC ECCA Explicatio FFNT JCHS KSL LSkP McMNTS NCI NTM NTSI NWB PTL SAPERE StColl StLing STSL SVS / ASOR Textus ThBN

Ägypten und Altes Testament: Studien zu Geschichte, Kultur und Religion Ägyptens und des Alten Testaments Biblische Gestalten Beiträge zur neueren Literaturgeschichte Baltimore Studies in the History of Judaism Contraversions: Jews and Other Differences College Theology Society Resources in Religion Early Christianity Early Christianity in the Context of Antiquity Explicatio: Analytische Studien zur Literatur und Literaturwissenschaft Foundations and Facets: New Testament Jewish and Christian Heritage Series Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft Leipziger Studien zur klassischen Philologie McMaster New Testament Studies The New Critical Idiom New Testament Monographs The New Testament and the Scriptures of Israel Neue Wissenschaftliche Bibliothek A Journal for Descriptive Poetics and Theory of Literature Scripta Antiquitatis Posterioris ad Ethicam Religionemque pertinentia Stauffenburg Colloquium Stauffenburg Linguistik Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur Special Volume Series / American Schools of Oriental Research Textus: Studies of the Hebrew University Bible Project Themes in Biblical Narrative

Bibelstellenangaben und Angaben frühjüdischer Texte richten sich (bis auf LAB statt LibAnt und Weish statt SapSal sowie der Texte aus Qumran [hier richten sich die Angaben in der Regel nach JOHANN MAIER, Die Qumran-Essener: Die Texte vom Toten Meer, 3 Bde., UTB 1862, München: Reinhardt, 1995–1996) nach Religion in Geschichte und Gegenwart: Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft, 4. Aufl., UTB 8401 (ungekürzte Studienausgabe), Tübingen: Mohr Siebeck, 2008, bzw. für die LXX nach LXX.D.

XIV

Abkürzungsverzeichnis

Angaben rabbinischer Texte richten sich nach GÜNTER STEMBERGER, Einleitung in Talmud und Midrasch, 8. neubearb. Aufl., Beck-Studium, München: Beck, 1992. Die Targumim werden wie folgt abgekürzt: Tg TgFrag TgKG TgN TgO TgPs-J

Targum Jonathan (zu den Psalmen und den Propheten) Fragmenten-Targum Targum Kairo Genizah Targum Neofiti Targum Onqelos Targum Pseudo-Jonathan

Kapitel 1

Einleitung 1. Annäherung an das Thema und die Fragestellung 1. Annäherung an das Thema und die Fragestellung

Nach Richard Hays ist es unmöglich „to understand John’s Jesus apart from the story of Israel and the liturgical festivals and symbols that recall and represent that story“1. Ein ganz zentraler Teil jener „story of Israel“ ist ohne Zweifel die Sinaitradition. Ich verstehe unter der „Sinaitradition“ in dieser Arbeit die in der Schrift und im (Früh-)Judentum überlieferte und damit immer auch schon gedeutete Erzählung von der Offenbarung Gottes am Sinai mit der Übermittlung des Gesetzes durch Mose. Diese Erzählung fungiert in hohem Maße identitätsstiftend (am Sinai wird Israel schließlich zu Gottes Volk) und sie bestimmt entscheidend das Gottesverständnis Israels. Spielt die Sinaitradition für das Verständnis der johanneischen Christusbotschaft auch eine Rolle, vielleicht sogar eine bedeutsame? Es ist naheliegend, diese Frage anhand der johanneischen Rezeption (hier gebraucht im Sinne von „verstehender Aufnahme“) der Sinaitradition zu beantworten. Dass sie in der vorliegenden Form noch nicht umfassend monographisch behandelt worden ist, kann mitunter daran liegen, dass die Mehrheit der Studien, die sich mit der Aufnahme der Schrift im vierten Evangelium befassten, lediglich die Schriftzitate in den Blick nahm,2 Zitate3 aus der Sinaitradition im Evangelium nach Johannes (im Folgenden: JohEv) aber gar nicht vorliegen. Andere Arten der Bezugnahme, wie Anspielungen, wurden bisher nur selten

1 HAYS 2016: 287. Vgl. CHENNATTU 2016: 171: „It is generally accepted that the Judaism of the first century CE in general, and the Old Testament theological traditions in particular, constitute the central background against which the Fourth Evangelist wrote his narrative presentation of Jesus Christ“; LIEU 2000: 144: „More than in any of the other Gospels, Scripture provides the indispensable reference point and scaffolding for the argument and the thought of John. From apparently inconsequential allusion through to John’s distinctive Christology, it is Scripture that makes the Gospel ‚work‘.“ 2 Z.B. OBERMANN 1996. Dies findet MARTIN HENGEL überraschend, da „[d]er eigentliche Schwerpunkt der Verwendung des Alten Testaments […] nicht so sehr bei den eindeutigen, durch Formeln eingeleiteten Zitaten, sondern bei den sehr viel zahlreicheren Anspielungen und der Übernahme alttestamentlicher Motive [liegt]“ (1989: 282). 3 Zur Definition dieses und anderer zentraler Begriffe s. Abschnitt 2.3.2 Intertextuelle Markierungen und traditionelle Termini für Textbezüge.

2

1. Kapitel: Einleitung

berücksichtigt, was besonders für die deutschsprachige Forschung gilt.4 Diese Situation scheint sich in letzter Zeit etwas zu ändern.5 Auch aufgrund dieser Vernachlässigung der Schriftbezüge, die nicht in Form von Zitaten begegnen, lag die Rezeption der Sinaitradition im JohEv vermutlich etwas abseits des Forschungsinteresses.6 Allerdings tauchen Fragestellungen, die mit der johanneischen Rezeption der Sinaitradition verwandt sind, innerhalb der Forschung zum JohEv auf, z.B. in Untersuchungen, die sich auf einzelne Passagen des JohEv konzentrieren,7 v.a. aber in Arbeiten, die sich mit der Mosefigur im JohEv und/oder dem mosaischen Gesetz im JohEv beschäftigen.8 Zugleich lässt sich die johanneische Rezeption der Sinaitradition als Teil der johanneischen Rezeption der Schrift allgemein begreifen. Daran wiederum ist die Bestimmung des Verhältnisses des JohEv (bzw. der Personen, die „hinter“ dem vierten Evangelium stehen) zum Judentum gekoppelt. Lange Zeit wurde der johanneischen Rezeption der Schrift nur sehr wenig Aufmerksamkeit seitens der Ausleger zuteil.9 Dies lag Martin Hengel zufolge an der religionsgeschichtlichen Verortung des vierten Evangelisten in unmittelbarer Nähe zur Gnosis, der literarkritischen Annahme einer „kirchlichen“ Redaktion, die z.T. für die Schriftbezüge im JohEv verantwortlich gemacht wurde,10 und an der Einschätzung des Verhältnisses des Evangelisten zu „den Juden“ , die jener laut Rudolf Bultmann „nicht als das Eigentums- und als Heilsvolk ansieht“11. Seitdem sind die Aporien des stark literarkritisch orientierten Ansatzes mit seiner „Vernachlässigung der Makrostruktur des vorliegenden Evangelientextes“12 immer deutlicher geworden.13 In neueren Untersuchungen „zu den verschiedensten Themenfeldern“ wurde, so Klaus Scholtissek, der „jüdische Mutterboden des Evangelisten und seiner Jesus-

4

Vgl. aber REIM 1974, dessen Dissertation allerdings in Oxford entstand (betreut durch George D. Kilpatrick). 5 Vgl. z.B. ZIMMERMANN 2004a: 81–116. 6 Zu den Ausnahmen zählt die Arbeit von OLSSON 1974, der für Joh 2,1–11 (vgl. 1974: 102–109) einen „Sinai screen“ postuliert hat. 7 Diese werden insbesondere in den Anmerkungen des Hauptteils genannt. 8 Aus der Fülle an Literatur nenne ich folgende kleine Auswahl: SAHLIN 1950, ENZ 1957, SMITH 1962, GLASSON 1963, MEEKS 1967, EPP 1975, PANCARO 1975, SAITO 1977, BOISMARD 1988, KOTILA 1988, SCHONEVELD 1991, VON DER OSTEN-SACKEN 1994, AUGENSTEIN 1997, AUGENSTEIN 1999, LINDEMANN 1999, KANAGARAJ 2001, HARSTINE 2002, CHO 2006, LIERMAN 2006, SCHAPDICK 2006, MARONDE 2013, LEE 2015. 9 Vgl. HENGEL 1989: 260f.; OBERMANN 1996: 3. 10 Für Belege vgl. HENGEL 1989: 261. 11 BULTMANN 1986: 139, Anm. 6. 12 SCHNELLE 2010: 267. 13 Zur Kritik am „kirchlichen Redaktor“ vgl. THYEN 1988: 208f., der zu dem Schluss kommt: „Der ‚kirchliche Redaktor‘ ist […] zu Recht aus der Diskussion verschwunden.“

1. Annäherung an das Thema und die Fragestellung

3

überlieferung heraus[gestellt]“14. Mit der erneut aufgekommenen Diskussion über das Verhältnis des vierten Evangeliums zu „den Juden“15 rückte auch die Frage nach der Rezeption der Schrift wieder in den Fokus der Forschung.16 So kann man mit Kraus von einem zunehmenden Forschungskonsens sprechen, laut dem das Alte Testament (AT) „in vielfacher Hinsicht den Vorstellungsrahmen und den sprachlichen Hintergrund für das Joh-Ev abgibt“17. Dafür sprechen u.a. der Charakter der johanneischen Jesuserzählung, in der sich explizite Aussagen über die Schrift (z.B. Joh 1,45)18, Schriftzitate (z.B. Joh 1,23 [Jes 40,3]; 2,17 [Ps 69,10]), klare Schriftbezüge (z.B. Joh 1,1 und Gen 1,1) und Diskussionen, die auf Schrifterzählungen beruhen (vgl. besonders Joh 6,30.32 und V.49 ), finden lassen. Dies führt zu der folgenden doppelten Annahme: Erstens, eine mehr oder weniger gute Kenntnis der Schrift ist für den Autor des

14

SCHOLTISSEK 2002: 131. Zur „Suche nach dem Kontext des vierten Evangeliums“ s. FREY 2004: 3–45. FREY plädiert dafür, „in einem weiten Horizont Texte vom Alten Testament über die unterschiedlichen frühjüdischen Traditionsbereiche sowie Texte und rhetorische Formen der griechisch-römischen Welt bis hin zu den Zeugnissen der christlichen Gnosis und zur Rezeption des vierten Evangeliums und der Johannestradition bei einem Autor wie Irenäus zu berücksichtigen“ (2004: 35), wodurch nicht genealogische Linien aufgezeigt werden sollen. Vielmehr sind die Parallelen als Analogien zu betrachten. Letztlich soll „die Ausleuchtung der möglichen Kontexte eines Textes wie des Johannesevangeliums […] dem profilierteren Verständnis seiner Intention und seiner Rezeptionsmöglichkeiten“ (2004: 34) dienen. 15 Zu „den Juden“ im JohEv sei aus der Fülle der Literatur die neuere Monographie KIERSPEL 2006 genannt. 16 Vgl. ZIMMERMANN 2004a: 82. Für einen Forschungsüberblick über Untersuchungen bis 1996, die sich mit der Verwendung der Schrift im JohEv (überwiegend mit Konzentration auf Schriftzitate) befassen, s. OBERMANN 1996: 3–36. Seit Obermanns Dissertation sind viele Arbeiten erschienen (einige, überwiegend englischsprachige, werden erwähnt in Myers 2015: 1–20). Einige nehmen die Bedeutung der Schrift aus johanneischer Sicht (vgl. u.a. DIETZFELBINGER 1996, KRAUS 1997a, KRAUS 1997b, LABAHN 2004/2011) und/oder die Rezeption der Schrift im JohEv insgesamt (vgl. u.a. Clark-SOLES 2003, SCHOLTISSEK 2003, MENKEN 2005, MILLER 2006, WITTMER 2006a, MYERS/SCHUCHARD 2015, HAYS 2016: 281–345) oder die Rezeption von Schriftstellen in einzelnen Passagen des JohEv in den Blick (vgl. u.a. MENKEN 1997, KLAUCK 2004, ZIMMERMANN 2004a und dann auch die Literatur, die im Hauptteil der vorliegenden Arbeit in den Fußnoten genannt wird). Andere fragen, wie Teile der Schrift rezipiert werden wie z.B. Genesis (MENKEN 2012), Deuteronomium (LABAHN 2007), Psalmen (DALY-DENTON 2000, BRUNSON 2003), Jesaja (WILLIAMS 2005/2006, BRENDSEL 2014), Ezechiel (MANNING 2004), Kleine Propheten insgesamt (MENKEN 2009), Sacharja (BYNUM 2012) u.a. Wieder andere analysieren den Schriftgebrauch bestimmter Figuren bzw. Figurengruppen (vgl. u.a. LIEU 2000, MYERS 2010, SHERIDAN 2012, MOSER 2014). Darüber hinaus gibt es natürlich eine ganze Reihe von Arbeiten, die sich auf die johanneische Rezeption eines jüdischen Festes oder aller jüdischen Feste mit seinem bzw. ihrem atl. Hintergrund konzentrieren (vgl. nur SCHLUND 2005; FELSCH 2011). 17 KRAUS 1997b: 1. 18 Für weitere Belege vgl. KRAUS 1997b: 2f.

4

1. Kapitel: Einleitung

JohEv vorauszusetzen. Zweitens, dem Ausleger können diese expliziten Aussagen als Anstoß für die Suche nach weiteren Schriftbezügen dienen. Allerdings sind noch viele Fragen in der Erforschung des Schriftgebrauchs im JohEv offen, z.B. hinsichtlich der Form und der textlichen Grundlage solcher Bezüge.19 Vor allem aber ist die theologische Bedeutung der Bezugnahmen auf die Schrift umstritten. Dies verwundert kaum, denn die Frage nach der Rezeption der Schrift in den Texten des Neuen Testaments (NT) bildet einen „locus classicus für die jeweilige Bestimmung und Deutung des Nahverhältnisses zwischen christlichen Glaubensüberzeugungen einerseits und ihrem jüdischen Mutterboden andererseits“20 und gewinnt gerade im JohEv mit seiner christologischen Fokussierung und dem vermeintlichen Antijudaismus21 an Brisanz. Stark verallgemeinernd lassen sich mindestens zwei Positionen differenzieren, die hier kurz skizziert werden sollen, jedoch ohne Anspruch auf Vollständigkeit erheben zu wollen. Gemäß der ersten Position ist der Schriftbeweis durchaus wichtig für das JohEv (anders als noch in der Sicht Bultmanns)22. Die Zielrichtung des johanneischen Schriftgebrauchs ist nach Kraus, dass der Evangelist „das Judentum […] mit seiner eigenen Schrift bekämpft und widerlegt“23. Die Schrift werde dem Judentum also „entwunden“ und in apologetisch-polemischer Absicht exklusiv christologisch gedeutet, sodass die „Dimension der Heils-(Erwählungs-)geschichte“24 Israels im JohEv zurückgedrängt werde. Mit der von Kraus, im Anschluss an Meeks, festgestellten Entfremdung der johanneischen Gemeinde von der Welt gehe auch die Entkoppelung der Schrift von der Heilsgeschichte Israels mit einer Degradierung der Schrift zur bloßen Voraussetzung des Christusereignisses einher.25 Ganz ähnlich spricht Michael Theobald von einem spezifisch johanneischen „Profil eines destruktiven Schriftumgangs“, der sich in einer „heilsgeschichtliche[n] Entleerung der in den Schriften bezeugten Geschichte Israels“ äußert, sodass für die Tora „nur ein Vakuum an göttlicher Wirklichkeit übrig“ bleibt.26 Die andere Position steht in starker Spannung zu der eben skizzierten, auch wenn eine gewisse Übereinstimmung hinsichtlich der Bedeutung der Schrift für das JohEv besteht. Der Unterschied betrifft v.a. die Frage nach der Heilsgeschichte, die nach dieser Interpretation eine wichtige Rolle für das JohEv 19

Vgl. ZIMMERMANN 2004a: 83; MYERS 2015: 6f. SCHOLTISSEK 2003: 146. 21 Vgl. dazu BIERINGER/POLLEFEYT/VANDECASTEELE-VANNEUVILLE 2001. 22 „Die paulinische Lehre von der Heilsgeschichte von Adam über Mose bis zu Christus hat im J[ohannesevangelium] keine Entsprechung, wie denn auch der Schriftbeweis im J[ohannesevangelium] kaum eine Rolle spielt“ (BULTMANN 1959: 846). 23 KRAUS 1997b: 13 (kursiv im Original). 24 KRAUS 1997b: 20. 25 Vgl. KRAUS 1997b: 21. 26 THEOBALD 1997: 365 (kursiv im Original). 20

1. Annäherung an das Thema und die Fragestellung

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spielt.27 Allerdings kann die Begründung etwas variieren. Hengel zufolge versteht der Evangelist das an Israel ergangene Wort Gottes (Joh 10,34f. ) als Offenbarung des präexistenten Logos (Joh 1,14),28 wodurch dessen „heilsgeschichtliche“ Gegenwart vorausgesetzt wird.29 Der präexistente Logos wurde von einigen (z.B. Abraham, Mose und Jesaja) angenommen, aber mehrheitlich von Israel abgelehnt. Dieses alttestamentliche (atl.) „Heils- beziehungsweise Unheilsgeschehen […bildete] das Ereignis der Offenbarung, Verwerfung und Annahme des menschgewordenen Logos und Gottessohnes je und je“30 vorab. Scholtissek identifiziert als wesentliche Voraussetzungen der „differenzierten Matrix von typologischen Auslegungen“31 des Evangelisten, a) die „Geltung der Heilsgeschichte Israels“, b) die „eschatologische[…] Offenbarung des Gottes Israels in Jesus Christus“ und c) die „Einheit des Heilshandelns Gottes“.32 Ganz ähnlich urteilt Söding, dass es nicht die Absicht der johanneischen Christologie sei, dass die Geschichte Israels „entleert, […] marginalisiert, […] überholt“, sondern dass sie, wenn auch in der Retrospektive christologisch umgeformt, „gefüllt, […] zentralisiert, […] eingeholt“33 werde, weil sie theologisch maßgebliche Geschichte sei. Gleichzeitig wird sie nach Söding als „Geschichte der Hoffnung des Gottesvolkes auf Erlösung“, welche sich in und durch Christus erfüllt,34 verstanden. Eine gewisse Ambivalenz zeigt sich im JohEv nach der Deutung Menkens. Nach seiner Interpretation behauptet der Evangelist, dass Gottes Offenbarung exklusiv in Jesus Christus zu finden ist.35 Die Schrift als Text zeuge aber von Jesus Christus, der die Schrift „erfüllt“. Grundlegend 27 Zum Thema „Heilsgeschichte“ vgl. FREY/KRAUTER/LICHTENBERGER 2009 und besonders FREYS Beitrag zur Heilsgeschichte im JohEv (2009: 3–45). Darin findet sich auch der Abschnitt „Der fundamentale Rückbezug auf die Schrift und die Frage nach dem Eigenwert der alttestamentlichen Geschichte“ (FREY 2009: 481). Frey folgt in seinen Ausführungen über die Schriftrezeption im Wesentlichen HENGEL 1989 (bei der Interpretation des Prologs weicht er aber von dessen „heilsgeschichtlicher“ Deutung ab) und kommt zu einem positiven Ergebnis, was den Eigenwert der alttestamentlichen Geschichte für den Evangelisten angeht. 28 Vgl. HENGEL 1989: 263. 29 Vgl. HENGEL 1989: 288. Vgl. auch HANSON 1991: 80 und öfter, nach dessen Interpretation der Evangelist davon ausgeht, dass bei jedem in der Schrift erwähnten menschlichen Sehen oder Hören Gottes nicht Gott der Vater, sondern das präexistente Wort gehört bzw. gesehen wurde. 30 HENGEL 1989: 263. 31 SCHOLTISSEK 2004: 213 (auch für die folgenden Zitate). 32 Vgl. auch SCHOLTISSEK 2003: 158–59. 33 SÖDING 2004: 397. Für das Folgende vgl. SÖDING 2004: 398. 34 Zur „christologischen Erfüllung der Schrift“ vgl. OBERMANN 1996, der auf die Bedeutung der Heilsgeschichte für den Evangelisten kaum eingeht (vgl. aber die folgende Bemerkung: „Gleichermaßen ist für das Joh die Geschichte Gottes mit seinem Volk seit Jesus christologisch zu verstehen, sofern die Geschichte Gottes mit seinem Eigentumsvolk in Jesus ihre letztgültige Konkretion und damit ihr Ziel findet“ [OBERMANN 1996: 427, Anm. 7]). 35 Vgl. MENKEN 2005: 156.

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1. Kapitel: Einleitung

für diese Metapher sei die Vorstellung, dass die Schrift vor dem Auftreten Jesu gleichsam „leer“ gewesen, d.h. ein Versprechen einer Realität gewesen sei, die noch nicht im Vollsinn anwesend war auf Erden.36 Die Autorität der Schrift leite sich in Analogie zum Täufer letztlich von Gott ab, aber es sei eine Autorität „that is conferred by God speaking to ordinary human beings on earth“; diese Autorität sei verschieden von und „inferior to the authority of the Son“37. Auch wenn sie nicht Offenbarung Gottes im vollen Sinne sei wie diejenige in Jesus, habe die in der Schrift dokumentierte Heilsgeschichte Israels eine Offenbarungsqualität, insofern sie „types“ bereitstelle: „persons, acts, events, institutions from the OT that prefigure – in the eyes of the evangelist – Jesus as God’s eschatological envoy, in such a way that Jesus corresponds to them and at the same time (as ‚antitype‘) surpasses them“38. Im Unterschied zu Theobald u.a. sieht Menken einen Zusammenhang „between the textual and the historical aspects of Scripture“. An vielen Stellen sei die atl. Geschichte eine anfängliche, aber sehr unvollständige Erfüllung des atl. Textes. Anders gesagt: „the type is an initial and the antitype a complete fulfilment of the OT text“39. Wenn die Schrift von einer himmlischen Gottesschau von einigen Auserwählten berichtet, dann ist, so Menken, „the object of the glimpses into heaven, granted to Isaiah and Abraham, […] not God himself, but Jesus in his pre-existence; and what John thought to be valid for Isaiah and Abraham, he probably also thought to be valid for Moses“40. Jedoch sei aus johanneischer Sicht nicht der präexistente Jesus in den Theophanien auf Erden (die die Schrift auch erzählt)41 wirksam gewesen,42 sondern Gott selbst, allerdings in indirekter Weise.43 Neben diesen beiden Standpunkten gibt es in der Forschung auch einen Auslegungsansatz, der eine Art Synthese bietet im Rahmen eines ekklesiologischen Entwicklungsmodells. Gemäß Dietzfelbinger existieren im JohEv „zwei gegensätzliche Weisen des Umgangs mit dem Alten Testament“44. Einerseits werde das AT „umfassend in Anspruch genommen zur Begründung und Rechtfertigung des Weges, den Jesus in der Welt gegangen ist“, andererseits werde „es entwertet, indem ihm der Eine entgegengestellt wird, der allein Gott

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Vgl. MENKEN 2005: 162. MENKEN 2005: 166 (s. auch 173: „The words of Scripture came from God, not in the direct way in which God spoke to the prexistent Jesus, but in an indirect way, comparable to the way John the baptist was sent by God“). 38 MENKEN 2005: 170. 39 MENKEN 2005: 173. 40 Vgl. MENKEN 2005: 168. 41 Menken spezifiziert nicht, welche Theophanien auf Erden er hier im Blick hat. 42 Hier wendet sich Menken explizit gegen A. T. Hanson (vgl. auch Hengels oben dargestellte Sicht). 43 Vgl. MENKEN 2005: 169, 173. 44 DIETZFELBINGER 1996: 212. 37

1. Annäherung an das Thema und die Fragestellung

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gesehen und seine Worte gehört hat“45. Die erste Weise des Umgangs mit dem AT sei die ältere und die zweite Weise die neuere, „kritische“, die Antithese, die auf der „besondere[n] Christologie der johanneischen Gemeinde“ beruhe.46 Diese beiden Umgangsweisen mit dem AT – und entsprechend ihre Vertreter – standen Dietzfelbinger zufolge in „der johanneischen Gemeinde“ im Konflikt miteinander. Als „guter“ Gemeindeleiter habe der Evangelist „Johannes […] die zwei in seiner Gemeinde wirksamen Aspekte des Alten Testaments in sein Werk aufgenommen, um beiden Auffassungen, damit auch den Vertretern der beiden Auffassungen, darin Platz zu gewähren“47, dabei jedoch die Gegensätze stark abgeschliffen. Letztlich habe der Evangelist es nicht geschafft, die beiden konträren Auffassungen auf einen Nenner zu bringen. An die soeben skizzierte, kontrovers geführte Diskussion schließt die vorliegende Arbeit an und führt sie durch eine exemplarische Untersuchung weiter. Ausgehend von der Feststellung evidenter Bezüge, will ich ermitteln, inwiefern und wozu die für das Judentum so außerordentlich wichtige Sinaitradition im Evangelium nach Johannes rezipiert wird. Die präzise Beschreibung des Zusammenhangs der johanneischen Jesuserzählung mit der Sinaitradition verspricht, das Verhältnis der Geschichte Gottes mit Israel zur Geschichte Jesu Christi besser zu verstehen. Damit kann sie einen wesentlichen Beitrag dazu leisten, die biblischen Grundlagen der Lektüre und Deutung der Schrift als des AT der christlichen Bibel sowie der Bestimmung des jüdisch-christlichen Verhältnisses durch die christliche Kirche zu klären.

45

DIETZFELBINGER 1996: 212. DIETZFELBINGER 1996: 213f. (vgl. auch 214: „Von einer so entschiedenen Christologie aus wird die Entstehung jenes antithetischen Aspekts verständlich. Mit ihm wendet man sich gegen die herkömmliche Verflechtung der Christologie mit dem Alten Testament, die erklärt: Jesus ist der Christus, weil und insofern sich in seinem Wort und seiner Geschichte alttestamentliche Ankündigungen erfüllen. Gegen solches Sich-abhängig-Machen der Christologie vom Alten Testament geht die Christologie an, die in Jesus den Logos des Uranfangs, den Einziggeborenen, den allein den Vater Kennenden und von ihm Hörenden erkannt hat. Die Zeugen des Alten Testaments sind mit ihm nicht vergleichbar, und also kann ihr Wort die Geltung und das Wesen Jesu, damit den Glauben an ihn, nicht begründen; es ist entbehrlich geworden.“) 47 DIETZFELBINGER 1996: 216. Konkret heißt das in DIETZFELBINGERS Worten (ebd.): „Zunächst lässt der Evangelist fraglos die traditionelle Meinung gelten, dass das alte Testament Wort Gottes an Israel ist, Rede über den kommenden Messias, der Jesus ist (1,41.45). Damit kommt er der üblichen, in der Gemeinde herrschenden Meinung entgegen. Aber so sehr er sie respektiert und vermutlich selbst in ihr lebt, setzt er ihr doch die Grenze, die ihm von seiner Christologie her nötig scheint. Er fügt also die hergebrachte Meinung über das Alte Testament in den Rahmen dieser Christologie ein und beschränkt unter umfassender Bejahung des Alten Testaments dessen christologische Relevant. Damit versucht er, jener anderen Gruppe gerecht zu werden, die dem Alten Testament jedes christologische Gewicht abspricht.“ 46

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1. Kapitel: Einleitung

2. Methodologische Überlegungen 2. Methodologische Überlegungen

Es liegt von der Fragestellung her gesehen nahe, von dem textkritisch rekonstruierten „Endtext“ des Evangeliums auszugehen und diesen Text zu analysieren.48 Damit ist keineswegs ausgeschlossen, dass der Evangelist hier und da auf urchristliche Überlieferungen zurückgegriffen und sie transformiert hat. Auch will ich nicht grundsätzlich bestreiten, dass die präzise Bestimmung solcher Überlieferungen innerhalb des JohEv mithilfe geeigneter Kriterien prinzipiell möglich ist und ein legitimes Forschungsziel neben anderen darstellt. Doch meine Fragestellung nach der Funktion der Rezeption der Sinaitradition im JohEv zielt nicht auf die Genese des JohEv, sondern setzt ebendiesen Text aus dem 1. Jahrhundert n. Chr. als schriftliches Medium der Kommunikation voraus. Unter „Text“ verstehe ich dabei „eine in sich kohärente Einheit der sprachlichen Kommunikation mit einer erkennbaren kommunikativen Funktion und einer in spezifischer Weise organisierten Struktur“49. Daraus folgt für das konkrete Vorgehen bei der Exegese, dass, neben historischen und narrativen Aspekten, die lexikalisch-grammatische und die semantisch-kommunikative Analyse des jeweiligen Textabschnitts, in dem der Bezug auf das AT auftaucht, im Vordergrund stehen sollen.50 Da es in der vorliegenden Arbeit um die Rezeption eines Textes in einem anderen Text geht, ist es m.E. darüber hinaus sinnvoll, auf relevante Gesichtspunkte aus der literaturwissenschaftlichen Intertextualitätsforschung zurückzugreifen. Deren Nutzen für mich besteht darin, meine Untersuchung methodologisch zu fundieren. Innerhalb der (zumal deutschsprachigen) Erforschung der johanneischen Rezeption der Schrift wurde die literaturwissenschaftliche Intertextualitätsforschung bisher eher selten fruchtbar gemacht.51 2.1 Intertextualität: Herkunft, Bedeutung und Kritik Der aus der Literaturwissenschaft stammende Begriff „Intertextualität“ wurde prominent 1989 in die bibelwissenschaftliche Erforschung der Rezeption des AT im NT eingeführt.52 Allerdings ist er weder in der Literaturwissenschaft noch in der Bibelwissenschaft eindeutig definiert. Eingeführt hat den Neologismus „Intertextualität“ erstmalig die (von Marxschem und Freudschem Gedankengut beeinflusste)53 Semiotikerin Julia 48 Damit folge ich einem Forschungstrend (vgl. SCHNELLE 2010: 266–289), der besonders durch CULPEPPERS Monographie von 1983 verstärkt wurde. 49 GANSEL/JÜRGENS 2009: 51. 50 Vgl. zu diesem Vorgehen VON SIEBENTHAL 2006: 51–100. 51 Zu den Ausnahmen zählen u.a.: DALY-DENTON 2000; BRUNSON 2003; HYLEN 2006; MOSER 2014. 52 Vgl. HAYS 1989; DRAISMA 1989. 53 Vgl. FIX 2000: 450; ALLEN 2000: 33.

2. Methodologische Überlegungen

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Kristeva Ende der sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts (in der Übergangsphase von Strukturalismus zu Poststrukturalismus).54 In ihrem Aufsatz „Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman“ griff Kristeva auf Michail Bachtins Konzept der Dialogizität zurück. Dialogizität und Monologizität sind Bachtin zufolge die zwei „Grundprinzipien der Gesellschaft und der Literatur“55. Seiner Meinung nach wird die Kommunikationsstruktur in einer Gesellschaft entweder zentralisiert und ist dann autoritär, oder es besteht die Möglichkeit zu dezentralisiertem Dialog und „der offenen Auseinandersetzung divergierender Standpunkte“56. Letzteres wird von Bachtin klar favorisiert. Entsprechend bewertet Bachtin den polyphonen Roman wesentlich höher als z.B. „die monologisierenden Genres der Lyrik und Dramatik“57. Denn der polyphone Roman nimmt die verschiedenen sozioideologischen „Stimmen“ seiner Epoche, darunter auch den verhältnismäßig schmalen literarischen Diskurs einschließlich verschiedener Gattungen und Stile, auf. Dabei lässt er sie nebeneinander stehen oder parodiert sie, wodurch er subversiv in der Gesellschaft wirken kann. Wichtig ist an dieser Stelle Folgendes festzuhalten: Gesellschaft und Literatur sind bei Bachtin unterschieden und aufeinander bezogen. Das bedeutet, dass der außertextliche Bezug und (damit zusammenhängend) der innertextliche „Dialog“ im Vordergrund stehen. Dagegen kommt es bei Kristeva, die vom ideologiekritischen Potential des Dialogizitätsbegriffs Bachtins fasziniert war, zu entscheidenden Umdeutungen von Gesellschaft und Literatur. In dem besagten Aufsatz heißt es: „Jeder Text baut sich als Mosaik von Zitaten auf, jeder Text ist Absorption und Transformation eines anderen Textes. An die Stelle des Begriffs der Intersubjektivität tritt der Begriff der Intertextualität, und die poetische Sprache lässt sich zumindest als eine doppelte lesen.“58

Zunächst scheint es, dass Kristeva hier nur den literarischen Text meint, der sich auf einen anderen Text bezieht. Doch im vorgehenden Zusammenhang spricht sie von „Wort“ bzw. „Text“ als einer „Überschneidung von Wörtern (von Texten)“, von „Prätext“ als einem „vorangegangenen oder synchronen literarischen Korpus“ und (mit Bezug auf Bachtin) schließlich von „Geschichte und Gesellschaft, welche wiederum als Texte angesehen werden“59. Damit hat Kristeva allerdings den Textbegriff „im Sinn einer allgemeinen Kultursemiotik so radikal generalisiert, dass letztendlich alles, oder doch zumindest jedes kulturelle System und jede kulturelle Struktur, Text sein soll“60. Folglich wird Intertextualität als mit der Textualität immer schon vorhandenes 54

Vgl. KRISTEVA 1996: 337. STIEGLER 1996: 328. 56 FIX 2000: 450. 57 FIX 2000: 450. 58 KRISTEVA 1996: 337. 59 KRISTEVA 1996: 335f. 60 PFISTER 1985: 7. Vgl. KRISTEVA 1977; KRISTEVA 1972: 255. 55

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1. Kapitel: Einleitung

Textmerkmal angesehen, d.h. es gibt keinen Text, der nicht auch intertextuell wäre. Verbunden mit der Ersetzung von Intersubjektivität durch Intertextualität61 und mit „Derridas Kupierung des Zeichens um sein referentielles Signifikat“62 führt dieser Textbegriff in der Konsequenz dazu, dass Kommunikation nicht stattfinden kann.63 Stattdessen gibt es nur ein universales System („der Text“) aller „Texte“ und statt Sinn und Bedeutung nur ein „Spiel der Signifikanten […], in dem die einzelnen subjektlosen Texte in einem regressus ad infinitum nur immer wieder auf andere und prinzipiell auf alle anderen verweisen“64. Es verwundert kaum, dass sich neben affirmativen auch kritische Stimmen erhoben.65 Pfister etwa kritisiert Kristevas verzerrende Bachtin-Rezeption.66 Henning Tegtmeyers Kritik zielt auf die Inkompatibilität des globalen Intertextualitätsbegriffs mit (literatur-)wissenschaftlicher Forschung bei Kristeva.67 Überhaupt ist ihre „Absage an wissenschaftliche und argumentative Standards“68 problematisch. Wissenschaft steht bei ihr unter Ideologieverdacht.69 Dies ist wohl ein Grund dafür, dass „sie gezielt unklare Begriffe prägt und eine bewußt inkonsistente Terminologie entwickelt“70. Besondere Aufmerksamkeit schenkt Klaus W. Hempfer den verschiedenen Definitionen von Intertextualität bei Kristeva. Er kommt zu dem Ergebnis, dass sich bei ihr eine „grundsätzliche Inkonsistenz der Begriffsbildung“71 beobachten lasse, sodass einige Unklarheiten entstehen: Will Kristeva eine globale Texttheorie entwickeln und allgemeine Textualitätskriterien aufstellen (darunter Intertextualität)? Oder handelt es sich bei Intertextualität um ein Merkmal literarischer oder gar nur poetischer Texte? Fasst Kristeva unter „Intertextualität“ Relationen zwischen zwei oder mehreren Einzeltexten und/oder zwischen Einzeltexten und Systemen und/oder zwischen Systemen? Deutlich ist aber, dass Intertextualität bei ihr nicht sinnkonstituierende Funktion hat, sondern zur „Destruktion einer fixierten

61 Dies richtete sich PFISTER zufolge gegen den „bürgerlichen“ Begriff eines autonomen und intentionalen Subjekts (vgl. 1985: 8). 62 PFISTER 1985: 9. 63 Vgl. KRISTEVA 1972: 244. Die theologischen Implikationen sind offensichtlich. Es ist hier aber nicht der geeignete Ort für eine theologische Auseinandersetzung mit den deutlich gegen den christlichen Glauben gerichteten Implikationen bzw. Explikationen bei Kristeva oder Roland Barthes u.a. 64 PFISTER 1985: 9. 65 Für einen Überblick über den Fortgang der Diskussion u.a. PFISTER 1985: 11ff.; ALLEN 2000. 66 PFISTER 1985: 6. 67 Vgl. TEGTMEYER 1997: 53. 68 TEGTMEYER 1997: 56. 69 Vgl. TEGTMEYER 1997: 54ff. für Nachweise. 70 TEGTMEYER 1997: 56. 71 HEMPFER 1991: 7.

2. Methodologische Überlegungen

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Bedeutung“72 führt. Denn Kristevas Sprach- und Textverständnis lehnt „die kommunikative, auf Ausdruck und Darstellung gerichtete Funktion von Sprache als ideologische Reduktion“ ab und postuliert „die prinzipielle Polyvalenz, die unbegrenzte Bedeutungsvielfalt des literarischen bzw. poetischen Textes“73. Eine diachrone Betrachtung von konkreten Textrelationen wird letztlich unmöglich aufgrund der „Ubiquität aller Texte in der Synchronie des ‚texte général(isé)‘“74. Die Intertextualitätsdiskussion hat sich in den vergangenen Jahrzehnten stark ausdifferenziert. Problematisch ist dabei die schon bei Kristeva sichtbar gewordene mangelnde Unterscheidung von System und Aktualisierung bzw. von Sprachsystem und Sprachverwendung sowie die Vernachlässigung des kommunikativen Charakters von Texten.75 Zudem wurde mit Recht die Nichtanwendbarkeit des globalen Intertextualitätsbegriffs in der konkreten Analyse von Texten beanstandet.76 2.2 Der Begriff der Intertextualität in dieser Arbeit Es stellt sich deshalb die Frage, wie man den Intertextualitätsbegriff, will man ihn weiterhin benutzen,77 inhaltlich füllen soll. Dafür bieten sich vier verschiedene Möglichkeiten an, wobei nur die vierte den Begriff „Text“ auch auf Gesellschaft und Kultur, nämlich unter semiotischem Blickwinkel, bezieht:78 1. Text-Text-Beziehungen (u.a. Zitate und Anspielungen).79 2. Text-TextsortenBeziehungen (ein konkreter Text nimmt Bezug auf ein Textmuster bzw. eine Textsorte oder macht Gebrauch von einem Textmuster bzw. einer Textsorte). Hier ist Intertextualität ein Textualitätskriterium.80 3. Intertextualität als die grundsätzliche Eigenschaft jedes Textes: Text-Textsorten-Beziehungen und Text-Text-Beziehungen.81 4. Sowohl Text-Text- und Text-Textsorten- als auch Text-Textwelt-Beziehungen (Beziehungen eines Textes auf Kultur und Gesellschaft, sprachliche Konventionen usw.) sind umfasst. Intertextualität bildet somit wiederum ein Textualitätskriterium.82 72

HEMPFER 1991: 13. HEMPFER 1991: 12. 74 HEMPFER 1991: 21. 75 Für eine ähnliche Kritik vgl. STOCKER 1998: 26f. 76 Vgl. z.B. STOCKER 1998: 27. 77 Vgl. dagegen HATINA 1999/2002, der den Begriff zu sehr mit seinen poststrukturalistischen Konnotationen behaftet sieht, um ihn in der Bibelwissenschaft zu verwenden. 78 Vgl. GRIFFIG 2005: 15ff. für Nachweise. Die Unterscheidung zwischen Text-Text-, Text-Textsorten- und Text-Textwelt-Beziehung lehnt sich an FIX 2000 an, wobei sie selbst von Textmustern (statt Textsorten) spricht. Hier gebrauche ich die Begriffe austauschbar. 79 Vgl. HEMPFER 1991. 80 Vgl. HEINEMANN 1997: 21–37. 81 Vgl. GANSEL/JÜRGENS 2009: 31ff. 82 Vgl. FIX 2000. 73

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1. Kapitel: Einleitung

Nun liegt das Problem einer globalen Intertextualitätstheorie darin, dass man notwendige Textualitätskriterien (Text-Textsorten-Beziehung und TextTextwelt-Beziehung) und fakultative Eigenschaften eines bestimmten Textes (Text-Text-Beziehung)83 durch die Verwendung eines Begriffs vermischt.84 Daher sind die Optionen 385 und 4 auszuschließen. Option 2 wäre zwar denkbar;86 mir erscheint es aber am sinnvollsten, den Intertextualitätsbegriff für Text-Text-Beziehungen zu reservieren (Option 1),87 da für solche Beziehungen „ein systematischer Begriff wie eine umfassende Theoriebildung fehlen“88. Intertextualität ist nach Hempfer wie folgt definiert: „Unter ‚Intertextualität‘ soll die Menge der Relationen von einem Text T zu einem oder mehreren Texten t1…n verstanden werden dergestalt, dass sich die message von T qua Hypertext nicht nur durch die Aktualisierung und gegebenenfalls Modifikation vorgegebener Codes konstituiert, sondern zusätzlich durch Bezüge syntaktischer und/oder semantischer und/oder pragmatischer Dimension zu t1…n qua Hypotexten.“89

Worum es Hempfer bei dieser Definition entscheidend geht, „ist die Tatsache, dass ‚Intertextualität‘ als kommunikativ-semiotisches Phänomen verstanden wird, das in einer von der normalen Bedeutungskonstitution von Texten grundsätzlich verschiedenen Weise zu eben dieser Bedeutungskonstitution beiträgt“90. Basierend auf dieser Definition von Intertextualität werde ich mich in

83 Es sei denn, man versteht „Text“ nicht im metaphorischen Sinn und will eine Vernetztheit aller Texte behaupten, was m.E. wenig sinnvoll ist. 84 Ausführlicher dazu HEMPFER 1991: 14ff. HEMPFER weist zu Recht auf „das Markierungsproblem für Systemaktualisierung und Einzeltextbezug“ hin, welches sich „grundsätzlich verschieden stellt.“ Denn: „Texte sind immer und notwendig Aktualisierung allgemeinerer textkonstitutiver Strukturen, zusätzlich können sie Bezüge zu anderen, konkreten Einzeltexten aufweisen. Das, was fakultativ ist, muss speziell markiert werden, textkonstitutive Strukturen müssen notwendig verwendet werden“ (1991: 14f.). 85 Vgl. die sachgemäße Kritik an HOLTHUIS 1993, die zwischen referentieller Intertextualität (entspricht Text-Text-Beziehung) und typologischer Intertextualität (entspricht TextTextsorten-Beziehung) unterscheidet, bei TEGTMEYER 1997: 59. 86 Vgl. HEINEMANN 1997: 35. Eine kurze Kritik an Heinemanns Ansatz findet sich bei GRIFFIG 2005: 36. 87 Dabei schließe ich nicht aus, dass ein Text vielfältigen Bezug nimmt auf eine kulturelle „Enzyklopädie“ oder auf ein „linguistisches Hintergrundwissen“ (FIX: 2009, 306, dort mit Text-Textwelt-Beziehung identifiziert), nur will ich diese nicht als Text im eigentlichen Sinne verstehen. 88 HEMPFER 1991: 14. 89 HEMPFER 1991: 19. Die Begriffe Hypertext (entspricht dem Ausgangstext) und Hypotext (entspricht dem Text bzw. den Texten, auf die ein anderer Text sich bezieht, in der Literatur und manchmal auch Prätext genannt) ähneln der semantischen Relation von Hyperbzw. Hyponymie (Bsp. Vogel [Hyperonym] – Ente [Hyponym]). Im Folgenden will ich der Einfachheit halber nur von Ausgangstext und Prätext sprechen. 90 HEMPFER 1991: 19.

2. Methodologische Überlegungen

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meiner Arbeit auf die Bedeutung und kommunikative Funktion91 des intertextuellen Bezugs in einem Text konzentrieren. Mit diesem Intertextualitätsbegriff ist es möglich, spezifische und variable Funktionen zu analysieren und damit historisch zu arbeiten. 2.3 Intertextualität in Relation zur Trias Autor, Text, Leser In diesem Zusammenhang soll das Phänomen Intertextualität in Relation zur Trias Autor, Text und Leser bedacht werden, da die Rede von „Bedeutung“ und „Funktion“ nur innerhalb dieser Trias sinnvoll ist. Leitend sind dabei die Fragen, wie eine intertextuelle Lektüre modellhaft vorzustellen ist und welche Rolle „Markierungen“ spielen. 2.3.1 Ein Modell der intertextuellen Lektüre Peter Stocker hat in seiner Dissertation u.a. ein Modell der intertextuellen Lektüre vorgelegt, das ich aufgrund seiner Klarheit und Brauchbarkeit für meine Arbeit aufgreife. Nach Stocker gibt es zwischen der Uneigentlichkeit (ein Beispiel dafür wäre die Metapher) und Intertextualität eine Analogie, die darin besteht, dass bei beiden Phänomenen „Umdeutungsprozesse beim Leser in Gang gesetzt werden“92. In der Metapherntheorie kommt laut Stocker die Frage zentral in den Blick, „wie Uneigentlichkeit erkannt werden kann“, sie „betont damit die auch für Intertextualität ganz entscheidende Rolle von Signalen“93. Diese bestehen bei Metaphern in der „kotextuellen Konterdeterminiertheit“: der Ausdruck, der als Metapher identifiziert werden soll, und der sprachliche Kontext sind „semantisch inkompatibel“94. Tritt diese kotextuelle Konterdeterminiertheit auf, sieht sich der Leser (normalerweise) veranlasst, auf eine andere Bedeutungsebene zu wechseln, nämlich auf die nichtwörtliche. In ähnlicher Weise ist die intertextuelle Lektüre Stocker zufolge „im wesentlichen abgelenkte Lektüre und vollzieht vergleichbare Richtungsänderungen“95. Stellt man sich nun eine auf ein angemessenes Textverständnis zielende Lektüre intertextueller Bezüge in einem (von der äußerst komplexen Wirklichkeit der empirischen Lektüre notwendigerweise abstrahierenden)96 Modell vor, dann lassen 91

Die Funktion der Charakterisierung von Figuren durch intertextuelle Bezüge sowie die soziale Funktion intertextueller Bezüge (vgl. u.a. MOSER 2014: 36–41 sowie 45ff.) liegen jedoch außerhalb des Interesses dieser Arbeit. 92 STOCKER 1998: 102. 93 STOCKER 1998: 102. 94 STOCKER 1998: 103. 95 STOCKER 1998: 103. 96 Zur Erklärung sagt STOCKER (1998: 104): „Durch Abstraktion von der Wirklichkeit soll sich das Modell der intertextuellen Lektüre von dieser […] Wirklichkeit abheben, und zwar so weit als nötig, um klären zu können, unter welchen Bedingungen Lektüre sinnvoll als ‚intertextuell‘ bezeichnet werden kann“.

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1. Kapitel: Einleitung

sich drei Phasen unterscheiden:97 1. Phase – Desintegration: Der (Modell-)Leser (oder der implizite Leser)98 wird aufgrund eines bestimmten Signals, der Markierung, die als „kotextuelle Störung“ erscheint, von seiner normalen linearen Leserichtung abgelenkt. 2. Phase – Digression: Dem Leser wird durch „[m]ehr oder weniger präzise Signale […] das Identifizieren der Prätexte“99 erleichtert. Die Lektüre wird also „umgelenkt“ (Stocker). 3. Phase – Reintegration: Der Leser berücksichtigt die identifizierten Prätexte bei seiner fortgeführten Lektüre des Ausgangstextes und gelangt durch eine „Umdeutung des Ausgangstextes (Reintegration)“100 zu einer vertieften Deutung desselben. Es kann natürlich auch sein, dass eine Art Wechselwirkung entsteht. So ist es denkbar, dass der Leser sowohl eine neue Sicht auf den Prätext als auch auf den Ausgangstext bekommt.101 Wichtig ist hier die Unterscheidung Stockers zwischen einem Signal bzw. einer Markierung, dass ein intertextueller Bezug überhaupt vorliegt, und dem Signal oder den Signalen, die auf einen bestimmten Prätext verweisen. Ersteres ist in Stockers Terminologie ein „Intertextualitätssignal“ und Letzteres ein „Prätext-Signal“,102 das theoretisch von jenem zu unterscheiden ist, obgleich es praktisch nicht leicht sein dürfte, zu einer vertieften Deutung des Ausgangstextes zu gelangen, ohne konkrete Texte identifizieren zu können.103 Das Modell zeigt, wie wichtig Markierungen im Text in funktional-kommunikativer Hinsicht sind. 2.3.2 Intertextuelle Markierungen und traditionelle Termini für Textbezüge Die entscheidende Frage ist, was als Intertextualitäts- und was als Prätext-Signal gelten kann. Eine Antwort liefert Helbig in seiner Monographie104, in der er eine Markierungstheorie entwickelt hat. Helbig definiert „Markierung“ folgendermaßen: „Es erscheint […] geboten, die Bezeichnung ‚Markierung‘ für spezifische sprachliche oder graphemisch-visuelle Signale zu reservieren, die eine intertextuelle Einschreibung erst als 97

Zum Folgenden vgl. STOCKER 1998: 103ff. Ähnlich HELBIG 1996: 65. Nach STOCKER „ein theoretisches und textabhängig definiertes Konstrukt“ der Konstanzer Schule, welches impliziert, „dass Lektüre an funktionale Dispositionen des Textes gebunden ist“ (1998: 96f.). 99 STOCKER 1998: 104. 100 STOCKER 1998: 105. 101 Vgl. dazu MERZ 2004: 57–60; HELBIG 1996: 168ff. 102 Vgl. STOCKER 1998: 105 und 107. 103 Vgl. STOCKER 1998: 105: „Dabei wird als Intertextualitätssignal auch ein Signal zugelassen, dass keine Hinweise auf bestimmte Prätexte gibt. Das Identifizieren ganz bestimmter Prätexte ist zwar lektüresemiotisch fast ebenso wichtig wie das Auslösen der Digression, definitorisch ist es jedoch kein notwendiges, sondern nur ein fakultatives Merkmal der Intertextualität.“ 104 Vgl. HELBIG 1996. 98

2. Methodologische Überlegungen

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solche kennzeichnen (eben: „markieren“) sollen – sei es, indem sie zu dieser hinzutreten, sei es, dass sie der Einschreibung inhärent sind und durch deren Kontextualisierung Markierungscharakter erhalten.“105

Unter „intertextueller Einschreibung“ (von Helbig auch „intertextuelle Spur“ genannt) versteht Helbig „[d]as in Frage stehende Bindeglied zwischen präsentem Text und Referenztext“106. Diese intertextuelle Einschreibung kann seiner Meinung nach in verschiedene Typen unterteilt werden (z.B. Anspielung und Zitat) und, auf einer anderen logischen Ebene,107 auf unterschiedliche Arten markiert werden.108 Welche Art der Markierung in einem Text auftaucht, liegt offenbar begründet in „funktionalen Vorüberlegungen“109 des Autors bzw. der Autorin hinsichtlich seiner bzw. ihrer intendierten Leserschaft, nämlich was, wie und warum er/sie kommunizieren möchte. Zwei grundsätzlich zu differenzierende Arten der Markierung sind nach Helbig die „implizite“ und die „explizite“. Der Unterschied zwischen beiden besteht darin, dass „[d]ie Signale impliziter Markierung […] generell polyvalenter Natur“110 sind; sie indizieren Intertextualität mehr oder weniger deutlich, machen sie aber nicht als solche offenkundig und sind nicht eindeutig, wie dies bei der expliziten Markierung der Fall ist. Implizite Markierungen sind Steuerungsmittel der Deutlichkeit eines Bezugs. Explizite Markierungen sind ebenfalls Steuerungsmittel, jedoch steuern diese die Deutlichkeit und die „Durchsichtigkeit“ eines intertextuellen Bezugs.111 Zunächst zur impliziten Markierung der intertextuellen Einschreibung: Der Erfolg eines Autors bzw. einer Autorin die Aufmerksamkeit der Lesenden auf einen intertextuellen Bezug zu richten, steht, neben der Deutlichkeit, in Relation zu folgenden Faktoren: 1. Der „Bekanntheitsgrad des alludierten Referenztextes“112: je bekannter ein Prätext den intendierten Lesenden sein dürfte (aus Sicht des Autors bzw. der Autorin), desto leichter ist er erkennbar und desto weniger deutlich muss er markiert werden. 2. Der „Bekanntheitsgrad der 105

HELBIG 1996: 54. HELBIG 1996: 80. Die Unterscheidung von „Markierung“ und „intertextueller Spur“ ist in bewusster Abgrenzung von anderen Ansätzen (zur Kritik an BEN-PORAT 1976 und PERRI 1978 s. HELBIG 1996: 26ff., 54) zu verstehen. 107 Vgl. dazu HELBIG 1996: 80f., wobei ich Helbig hier nicht ganz folgen werde (s.u.). 108 Eine intertextuelle Einschreibung kann auch unmarkiert sein: „Unmarkiert ist Intertextualität also dann, wenn neben einem notwendigen Verzicht auf linguistische und/oder graphemische Signale eine sprachlich-stilistische Kongruenz von Zitatsegment und Kontext vorliegt – eine Art literarischer Mimikry, welche die intertextuelle Kommunikativität des Textes reduziert und es ermöglicht, eine intertextuelle Spur nahtlos in einen neuen Kontext zu integrieren, ohne dass hierbei Interferenzen entstehen“ (HELBIG 1996: 88). 109 HELBIG 1996: 93. 110 HELBIG 1996: 95. 111 Vgl. HELBIG 1996: 95. 112 HELBIG 1996: 95. 106

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1. Kapitel: Einleitung

jeweils übernommenen Spur“113: ein Prätextsegment, z.B. der Titel eines Buches, kann den Lesenden besonders bekannt sein im Vergleich zum dazugehörigen Prätext, sodass der Bezug unschwer erkennbar ist und entsprechend weniger deutlich markiert werden muss, um überhaupt identifiziert zu werden.114 3. Der „Grad der Veränderung dieser Spur“115: je mehr eine Autorin bzw. ein Autor eine intertextuelle Einschreibung verändert, desto verschleierter wird sie und entsprechend schwerer für die Lesenden erkennbar.116 Hier ist darauf hinzuweisen, dass sowohl eine erheblich veränderte intertextuelle Einschreibung als auch ein nahezu unverändert übernommenes Prätextsegment unmarkiert bleiben, implizit oder explizit markiert sein können. Unter Umständen kann also der durch die Veränderung erhöhte „Verdunkelungsgrad“ durch eine Markierung wieder reduziert werden. 4. Der „flankierende[n] Gebrauch intensivierender Maßnahmen“117: Je mehr eine Autorin bzw. ein Autor Gebrauch macht von diesen Maßnahmen, desto intensiver wird den Lesenden eine Bezugnahme, die implizit markiert ist, signalisiert. Zu den wichtigsten Maßnahmen zählen nach Helbig „die relative Quantität und Position der intertextuellen Spur sowie der Kontrast zu ihrer textuellen Umgebung“118. Intertextuelle Einschreibungen können aber auch explizit markiert sein (Helbig spricht hier von der „Vollstufe“). Durch eine explizite Markierung wird gesteigert, wie deutlich ein Bezug und auch wie durchsichtig dieser im Hinblick auf einen Prätext ist. Bei der Rezeption wird ein „Bruch“ bewirkt, sodass die Lesenden die Markierung normalerweise nicht übergehen können, wenn sie den Text verstehen wollen. Im Rahmen der expliziten Markierung zählt Helbig

113

HELBIG 1996: 95. Zu den Faktoren 1 und 2 vgl. HELBIG 1996: 14: „Die Allusions(erkennungs-)kompetenz des Empfängers einer intertextuellen Botschaft hängt vordergründig von verschiedenen transtextuellen Variablen ab, etwa vom historischen und nationalspezifischen Kontext sowie insbesondere vom individuellen literarischen Vorwissen eines jeweiligen Rezipienten, d.h. vom jeweils abrufbaren quantitativen und qualitativen Wissen um rezipierte Texte, das seinerseits durch lesertypologische Parameter geschlechts-, alters- oder gruppenspezifischer Art mitgeprägt ist. Auch die generelle Vertrautheit einer Gesellschaft mit der kulturellen Verortung eines spezifischen Referenztextes hat […] erheblichen Einfluß auf die Decodierungsprozesse der Rezipienten.“ 115 HELBIG 1996: 95. 116 Vgl. HELBIG 1996: 97: „Jedwede Paraphrasierung, erst recht jede stilistische Veränderung, bis hin zu stofflichen Verarbeitungen, […] erhöhen den Verdunklungsgrad des Bezugs und reduzieren daher den potentiellen Adressatenkreis.“ 117 HELBIG 1996: 95. 118 HELBIG 1996: 97. Auf den folgenden Seiten fehlt jedoch eine Explikation dessen, was Helbig unter dem „Kontrast zu ihrer [sc. der intertextuellen Einschreibung] textuellen Umgebung“ versteht. MERZ 2004: 65, Anm. 187 folgert (wohl zu Recht), dass „i.S. Helbigs nur die überaus wichtige semantische Ebene“ gemeint sein kann, „denn linguistische Interferenzen hält er [sc. Helbig] für einen Hinweis auf explizite Markierung“. 114

2. Methodologische Überlegungen

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folgende Verfahren auf:119 1. „Onomastische Signale“, „Re-used figures“, „Re-used authors“: Neben physischen Auftritten, die aber eher selten sind, können bestimme Personen, die aus anderen Texten bekannt sind, oder Autoren bzw. Autorinnen von anderen Texten in einem Text auch bloß genannt werden. Sofern es sich nicht um „Allerweltsnamen“ handelt, besitzt solch eine Erwähnung den Charakter eines mehr oder weniger deutlichen, expliziten PrätextSignals. Dies kann so weit gehen, dass der Prätext „thematisiert“ wird, was aber schon zur Potenzierungsstufe intertextueller Markierung führt (s. u.). 2. „Linguistische Codewechsel“120: Durch diesen weicht die intertextuelle Einschreibung von ihrem Kontext in sprachlicher Hinsicht mehr oder weniger stark ab. 3. „Graphemische Interferenzen“: Weitere Mittel, eine intertextuelle Einschreibung explizit zu markieren, sind Doppelpunkte, Anführungszeichen, Kursivdruck, Änderungen im Satzspiegel, Einsatz anderer Schriftarten, usw. „[B]ei in scriptio continua geschriebener antiker Literatur [entfallen] leider in aller Regel die“ eben genannten Möglichkeiten; „[d]as ὅτι-Rezitativum ist zwar ein antikes Pendant, ist allerdings in seiner Fähigkeit, einen intertextuellen Verweis eindeutig zu markieren, etwas schwächer einzuschätzen“121. Wird ein intertextueller Bezug in einem Text auf irgendeine Weise thematisiert bzw. als solcher offengelegt, dann kann man gemäß Helbig von einer „Potenzierungsstufe“122 der expliziten Markierung sprechen. In diesen Zusammenhang gehören metakommunikative Verben, Identifizierung von Autor bzw. Autorin und/oder Prätexten expressis verbis, „Intertextualitätshandlungen“123 und Zitationsformeln. Wie verhalten sich die traditionellen Begriffe für Text-Text-Beziehungen, nämlich „Anspielung“ und „Zitat“, zu dieser Skala intertextueller Markierung? Eine Antwort auf diese Frage hängt unmittelbar damit zusammen, wie man „Anspielung“ und „Zitat“ definiert. Unter „Zitat“ verstehe ich die in einem bestimmten Text (Ausgangstext) vorgenommene mehr oder weniger wörtliche Wiedergabe eines anderen Textes (Prätext) mit einer Einleitungsformel.124 Geht man von dieser bewusst engen Definition aus, dann ist das Zitat auf der Progressionsskala intertextueller Markierungen auf der Potenzierungsstufe anzusiedeln. Denn die Einleitungsformel dient als explizite Markierung der

119

Vgl. HELBIG 1996: 112ff. HELBIG bezieht sich hier auf PLETT 1985: 85. Unter „linguistischem Codewechsel“ ist z.B. der Wechsel in eine andere Sprache, in einen (anderen) Dialekt oder Soziolekt zu verstehen. 121 MERZ 2004: 66. 122 HELBIG 1996: 131. 123 Das sind Handlungen auf der Erzählebene, bei denen ein Prätext „in das innere Kommunikationssystem des manifesten Textes eingeführt wird und die handelnden Figuren ihn rezipieren oder sich mit ihm auseinandersetzen“ (HELBIG 1996: 136). 124 Vgl. WILK 1998: 9. 120

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1. Kapitel: Einleitung

intertextuellen Einschreibung, die noch dazu den Prätext mehr oder weniger eindeutig identifiziert und somit die intertextuelle Relation aufdeckt. Nach der Definition von Jürgen Stenzel im Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft125 ist eine „Anspielung“ im weiteren Sinn eine „[i]ndirekte Erwähnung als bekannt vorausgesetzter Gegebenheiten“; die literarische Anspielung als Spezifikation derselben wird definiert „als Kunstmittel, nämlich Einbeziehung von als bekannt vorausgesetzten Textstellen in den jeweils gegenwärtigen Text durch Zitierung einer Anzahl ihrer Merkmale (Teile bzw. Strukturen)“126. Das Objekt der Anspielung kann neben einem bekannten Werk als Ganzem (nicht aber Gattungen) daher auch „eines seiner Teile (Stelle, Figur, Motiv, Ausdruck) oder der durch die Anspielung konstituierte Sinn“127 sein. Es ist bei der literarischen Anspielung möglich, sowohl in einer mehr oder weniger wörtlichen Weise anzuspielen als auch in einer nicht-wörtlichen (z.B. paraphrasierenden) Weise. Auf jeden Fall werden „textgenetische Sachverhalte“ und unbewusste „Entlehnung, (unbeabsichtigte) Reminiszenz, Anklang und dergleichen“128, also auch geprägte Sprache ausgeschlossen. Allein, um geprägte Sprache von einer beabsichtigten Anspielung vom Typ „mehr oder weniger wörtliche intertextuelle Einschreibung“ abzugrenzen,129 bedarf es noch eines Kriteriums: Der Sinngehalt des Prätextsegments muss mehr oder weniger, jedoch erkennbar, beachtet sein. Dies geht aber nur, wenn auch der ursprüngliche Kontext des Prätextsegments mehr oder weniger, jedoch erkennbar, beachtet ist,130 da der Sinngehalt einer Formulierung durch den 125 An dieser Stelle herrscht allerdings kein Konsens in der Forschung (vgl. STENZEL 1997: 93; PUCCI 1998: 4: „allusion has never invited consistency of conception or critical consensus“). 126 STENZEL 1997: 93. 127 STENZEL 1997: 93. 128 STENZEL 1997: 93. 129 Vgl. die in diesem Zusammenhang relevanten „Regeln für die exegetische Praxis“ von BORMANN 2003: 190: „Eine identische Wiederholung von drei und mehr Worten wird man auf ihre intertextuelle Relevanz untersuchen müssen. Kriterien sind hier die Signifikanz des Syntagmas, syntaktische und/oder semantische Dissonanzen zum Kontext. Ist das der Fall, kann ein Intertextualitätssignal mit der Funktion der Leserlenkung auf einen Prä- oder Referenztext angenommen werden. Bei einem Syntagma aus zwei Wörtern, die einem Prätext entnommen werden, müssen in der Regel weitere Argumente herangezogen werden, etwa ein gemeinsamer Kontext.“ 130 Vgl. WILK 1998: 266: Anspielungen werden von WILK von Zitaten, geprägter Sprache, Parallelen und Motiven folgendermaßen unterschieden: „‚Anspielungen‘ auf Jesajaworte liegen – allgemein gesprochen – dort vor, wo Paulus eine jesajanische Formulierung unter Beachtung ihres spezifischen Sinngehalts in seine eigenen Ausführungen integriert.“ Da der Sinngehalt einer Aussage durch ihren Kontext bedingt ist, gehöre die sprachliche und/oder gedankliche Konvergenz zwischen atl. Kontext und ntl. Umfeld zur Definition von „Anspielung“ hinzu. Vgl. auch die Erläuterung: „a) Im Gegensatz zum Zitat fehlt der Hinweis auf die Herkunft der übernommenen Formulierung. b) Anders als beim Motiv besteht zwischen den betreffenden Aussagen des Paulus und des Jesajabuches sprachliche

2. Methodologische Überlegungen

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sprachlichen Kontext mitbedingt ist. Mit anderen Worten: Es müssen eine hinreichende131 Zahl von Berührungspunkten zwischen dem Kontext des Prätextes und dem Umfeld des Ausgangstextes vorliegen. Das hier gebotene Verständnis von Anspielung beinhaltet ferner eine „Wirkungsintention“ der Anspielung: Von den Lesenden wird erwartet, dass sie die Anspielung entziffern und verstehen, was bei geprägter Sprache nicht der Fall ist. Um dieses kommunikative Ziel zu erreichen, muss die Anspielung aber markiert sein. Dann erhebt sich allerdings die Frage, wie die Anspielung vom Typ „explizit markiert und wörtlich“ abzugrenzen ist vom Zitat. Diese Art von Anspielung ist nach meinem Verständnis dadurch vom Zitat unterschieden, dass bei ihr die Einleitungsformel fehlt, die ja das Vorliegen von Intertextualität offen legt. Daher kann diese Art der Anspielung nicht auf der Potenzierungsstufe der Progressionsskala intertextueller Markierung verortet werden. Generell sind Anspielungen aufgrund der „obligatorischen Indirektheit“132 auf der Reduktionsstufe oder u. U. auf der Vollstufe anzusiedeln, je nachdem welche Markierung vorliegt, nicht aber auf der Potenzierungsstufe. 2.3.3 Das Problem der Kontextrezeption und der Begriff „Echo“ Eine sehr wichtige hermeneutische und methodische Frage, die bisher noch unbeantwortet geblieben ist, ergibt sich aus den vorstehenden Überlegungen, insbesondere aus der obigen Definition von „Anspielung“ und dem 3-PhasenModell der intertextuellen Lektüre.133 Im vorhergehenden Abschnitt legte ich dar, dass es notwendig ist, die identifizierten Prätexte bei der fortgeführten Lektüre des Ausgangstextes zu berücksichtigen. So fordert auch Hays die Lesenden der Evangelien dazu auf, „[to] be on the alert for the possibility that any particular intertextual connection may create a poetic effect known as ‘metalepsis.’ Metalepsis is a literary technique of citing or echoing a small bit of a precursor text in such a way that the reader can grasp the significance of the echo only by recalling or recovering the original context from which the fragmentary echo came and then reading the two texts in dialogical juxtaposition.“134

Kongruenz. c) Im Unterschied zur Parallele gibt es gute Gründe für die Annahme, dass der Apostel den Konnex zum Jesajawort selbst hergestellt oder jedenfalls – im Rahmen vorpaulinisch geformter Textstücke – als solchen erkannt und rezipiert hat. d) Im Kontrast zur geprägten Sprache lässt sich wahrscheinlich machen, dass Paulus bei der aufgenommenen Formulierung den spezifischen Sinngehalt des betreffenden Jesajawortes im Blick hat.“ 131 Dies ist jedoch kaum genau quantifizierbar. 132 STENZEL 1997: 93. 133 Interessanterweise wird sie in den Monographien von STOCKER und HELBIG nicht weiter thematisiert. Ihre konkrete Vorgehensweise scheint derjenigen von HAYS u.a. zu entsprechen. 134 HAYS 2016: 11 (auch für das nachfolgende Zitat).

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1. Kapitel: Einleitung

Der „figurative effect“ einer solchen intertextuellen Verknüpfung besteht nach Hays „in the unstated or suppressed points of correspondence“ zwischen den beiden Texten. Einige Exegeten orientieren sich an Hays und setzen in ihrer Analyse der Prätextbezüge in einem Ausgangstext beim atl. Kontext der Prätextsegmente an, um dann ohne Weiteres das aus ihrer Lektüre resultierende Verständnis in die Interpretation des neutestamentlichen (ntl.) Ausgangstextes hineinzutransportieren.135 Steht die intertextuelle Einschreibung also metonymisch als pars-pro-toto für jenen Kontext? Doch wie weit ist jener Kontext mit einzubeziehen?136 Andere möchten der allzu dominanten Einbildungskraft des Exegeten und der Exegetin methodisch Grenzen setzen.137 Florian Wilk argumentiert mit Bezug auf die paulinische Nutzung, Interpretation und Lektüre des Jesajabuches dafür, dass es „notwendig [ist], von den paulinischen Texten auszugehen und das jeweilige Umfeld einer dem Jesajabuch entlehnten Formulierung darauf hin zu untersuchen, inwieweit es mit dem betreffenden jesajanischen Kontext konvergiert. Es gilt also zu erheben, wo jenes Umfeld begrifflich und wo es motivisch so mit diesem Kontext verknüpft ist, dass er sich in gedanklicher Kongruenz mit der übernommenen Formulierung verstehen lässt.“138

Denn die „Autorperspektive kann man heute […] nicht einfach restituieren“139. Das hat bei Paulus damit zu tun, dass wir nicht genau wissen, welchen Wortlaut bestimmte Abschnitte des Jesajabuches hatten, die dem Apostel vorgelegen haben. Ferner ist nicht von vornherein klar, inwiefern Paulus die jesajanischen Kontexte beachtet hat. Daher darf man „weder moderne exegetisch begründete Abgrenzungen noch antik-jüdische Einteilungen, wie sie etwa in den Bibelhandschriften und Pescharim aus Qumran dokumentiert sind, […] ohne Weiteres für den Apostel“140 voraussetzen. Dazu kommt, dass wir nur bruchstückhaft über „die hermeneutischen Grundsätze und […] Auslegungsverfahren“ des Apostels, mit denen „er sich Jesajatexte erschlossen hat“141 Bescheid wissen. Dies verbietet es, dass wir von vornherein die Fragen danach beantworten können, „[w]ie sich die Lektüre und Interpretation eines Abschnitts des Jesajabuches durch Paulus […] in concreto vollzog, und ob das jedes Mal auf dieselbe Weise geschah“142. Daher gilt nach Wilk: Der Kontext des Prätextsegments darf nicht a priori in die Interpretation des Ausgangstextes einbezogen, sondern es müssen erst 135

Vgl. z.B. WAGNER 2002. Vgl. BORMANN 2003: 176, der auf DODD 1952 verweist. 137 Vgl. u.a. RESE 1997 und BORMANN 2003. 138 WILK 2005: 99. 139 WILK 2005: 98. 140 WILK 2005: 99. 141 WILK 2005: 99. 142 WILK 2005: 99. 136

2. Methodologische Überlegungen

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die tatsächlichen sprachlichen/motivischen/gedanklichen Konvergenzen zwischen atl. Kontext und ntl. Umfeld, auf der Basis des Ausgangstextes, ermittelt werden.143 Für diese Konvergenzen oder Resonanzen – die Wilk zufolge „eher ohne Absicht […] entstanden“144 sind (im Gegensatz zur absichtlich gemachten Anspielung145), aber auf jeden Fall die kontextgemäße Rezeption eines Prätextsegments unterstreichen146 – sollte seiner Auffassung nach der Terminus „Echo“147 reserviert werden.148 Echos kommen demnach nur in Verbindung mit Zitaten oder im Konnex mit Anspielungen vor. Wilk macht hier eine für die Paulusexegese nützliche Einschränkung, die auch für das JohEv brauchbar ist. Es erscheint mir ebenfalls notwendig, von Fall zu Fall zu prüfen, ob und inwiefern der Kontext des Prätextsegments im Umfeld des Ausgangstextes rezipiert wird. Unter bestimmten Umständen149 muss man aus heuristischen Gründen versuchen, relevante Konnotationen des Prätextes in die Interpretation des Ausgangstextes einfließen zu lassen. Dabei gilt es, sich von den semantischen Vorgaben des Ausgangstextes leiten zu lassen. Dieses Vorgehen weist gewisse Ähnlichkeiten zum Verstehen von nichtstandardisierter nichtwörtlicher Rede auf. Wenn in einem Text nichtwörtliche Sprechweise vorliegt, die daran erkannt wird, dass sie – wörtlich verstanden – kontextuell unangemessen wäre, dann kommt es für das Verständnis darauf an, ob es sich um eine standardisierte Form der uneigentlichen Sprechweise handelt (wie z.B. bei standardisierten Metaphern wie „Zeit ist Geld“) oder um eine (relativ) ungewöhnliche, d.h. nichtstandardisierte. Ist das Letztere der Fall, dann muss man „not only reason from various cues and context that the utterance is in fact nonliteral, but also use these cues and contextual information to

143

Vgl. WILK 2005: 98ff. WILK 2005: 100 (auch für das Folgende). 145 Siehe Anm. 130. 146 Vgl. WILK 2005: 99. 147 Dort im Bezug auf die Rezeption des Jesajabuches bei Paulus. 148 Anders HAYS (2016: 10f.), der drei Arten von „scriptural intertextual references“ unterscheidet. Neben Zitat („quotation“) und Anspielung („allusion“) spricht er auch von „echo“. „These terms are approximate markers on the spectrum of intertextual linkage, moving from the most to the least explicit forms of reference“ (HAYS 2016: 10). Dabei ist der Begriff „Echo“ definiert als „the least distinct, and therefore always the most disputable, form of intertextual reference; it may involve the inclusion of only a word or phrase that evokes, for the alert reader, a reminiscence of an earlier text. Readers who hear the echo will discern some semantic nuance that carries a surplus of significance beyond the literal sense of the text in which the echo occurs; ordinarily, however, the surface meaning of the text would be intelligible to readers who fail to hear the echoed language“ (HAYS 2016: 10). 149 Dies wäre z.B. der Fall, wenn eine nicht-wörtlichen intertextuellen Einschreibung, die explizit markiert ist, vorliegt, allerdings keine sprachlichen Konvergenzen zwischen Kontext des Prätextes und Umfeld des Ausgangstextes auszumachen sind. 144

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1. Kapitel: Einleitung

figure out what the speaker means – what the speaker’s message is“150. Das heißt aber, dass die Informationen in diesem Fall nicht explizit im Ausgangstext enthalten sind, sondern implizit bleiben. Man ist gehalten, bei Anspielungsdeutungen151 die inhaltlichen Vorgaben des Ausgangstextes als hermeneutischen Rahmen hinreichend zu beachten, auch wenn keine sprachlichen Übereinstimmungen des Umfelds desselben zum Kontext des Prätextsegments identifiziert werden können. Diese Überlegungen werden noch von anderer Seite gestützt. Anspielungen beruhen nämlich auf dem Prinzip der Kontiguität oder der Analogie.152 Somit empfiehlt es sich bei der Interpretation einer Anspielung auf diejenigen „Momente beider [Texte, d.h. Ausgangs- und Prätext/e], die miteinander kompatibel sind (strukturelle Verwandtschaft mit der Metapher)“153, zu achten.154 Auch würde diese Herangehensweise der notwendigen „kreativen Eigenleistung“155 beim Übertragen relevanter Konnotation aus dem Prätext für die vertiefte Interpretation des Ausgangstextes durch die Lesenden methodisch nicht „die Luft abschnüren“, jedoch gewisse Grenzen abstecken. Damit haben auch folgende Überlegung zu tun. Wie oben angedeutet, kann nicht einfach ein (post-)modernes oder sonstiges Verständnis eines antiken Prätextes für die Autoren (die zugleich Lesende waren) antiker Ausgangstexte ohne Weiteres vorausgesetzt werden, selbst wenn man auf eine Art Arbeitsinterpretation nicht verzichten kann. Das Erkennen und Verstehen intertextueller Bezüge, insbesondere von Anspielungen, hat nämlich unmittelbar damit zu tun, wie weit der Wissens- und Kulturhorizont der Rezipienten bzw. Interpreten mit dem des Autors bzw. der Autorin eines Textes korrespondiert. Je mehr diese Horizonte übereinstimmen, desto eher wird z.B. die Anspielung erfolgreich sein und die Rezipienten sie als solche erkennen und verstehen.156 Die Aufgabe des Auslegers bzw. der Auslegerin ist es daher, sich möglichst weit in den jeweils relevanten Ausschnitt des Wissensund Kulturhorizonts hinein zu versetzen,157 soweit dies aus solch großer 150

AKMAJIAN 1995: 360. Vgl. zu diesem Begriff TISCHER 2006: 20. 152 Vgl. STENZEL 1997: 93. 153 STENZEL 1997: 93. 154 Allerdings soll das nicht heißen, dass es nur Kontinuität, aber keine Diskontinuität zwischen Prä- und Ausgangstext gäbe; dieser Möglichkeit muss ebenfalls Rechnung getragen werden. 155 Nach HELBIG kommt es spätestens bei der „Aktualisierung von Konnotationen, die im Zusammenhang mit dem Referenztext freigesetzt werden“ zu einer „kreative[n] Eigenleistung des Rezipienten […], die der Autor, wenn überhaupt, nur noch bedingt steuern kann“ (1996: 162). Auch wenn die Steuerung bei antiken Texten vielleicht stärker ausfällt als bei (post-)modernen ist die „kreative Eigenleistung“ deshalb doch nicht ausgeschaltet. Für weitere Überlegungen in diese Richtung vgl. PUCCI 1998: 27ff. 156 Vgl. TISCHER 2006: 21. 157 Ähnlich auch HUIZENGA 2009: 61. 151

2. Methodologische Überlegungen

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zeitlicher und soziokultureller Entfernung möglich ist, um „den […] möglichen Intentionen des Senders auf die Spur zu kommen“158. Deshalb und da das spezifische Profil und die Intention der johanneischen Bezüge im Vergleich mit (früh-)jüdischen Deutungen erst klar erkennbar werden, wird eine Teilaufgabe dieser Arbeit darin bestehen, sich mit der Sinaitradition in der Schrift und im (Früh-)Judentum vertraut zu machen. Denn es ist davon auszugehen, dass der Verfasser des JohEv nicht unmittelbar und unabhängig vom jüdischen Wissens- und Kulturhorizont auf die Sinaitradition zugegriffen hat. Viel wahrscheinlicher ist die Annahme, dass der vierte Evangelist eingebettet war in die Rezeptions- und Wirkungsgeschichte der Sinaitradition, wie sie sich schon in der Schrift selbst abzeichnet und im (Früh-)Judentum fortgeführt wurde. Es ist nicht möglich und auch nicht nötig, diese umfassend darzustellen. Stattdessen werde ich den Fokus an geeigneter Stelle auf bestimmte Aspekte richten. Dass dabei auch rabbinische und targumische Traditionen, die bekanntermaßen (z.T. wesentlich) später literarisch fixiert wurden als das JohEv, in den Blick genommen werden, hat seine Berechtigung darin, dass hier keine genealogischen Verbindungen oder irgendwelche Abhängigkeiten nachgewiesen, sondern ein Ausschnitt aus dem jüdischen Auslegungshorizont skizziert werden soll, um die johanneische Deutung zu profilieren. 2.4 Zusammenfassung Ausgehend von einer textlinguistischen Definition des Textbegriffs greife ich auf Einsichten aus der literaturwissenschaftlichen Intertextualitätsforschung zurück. Aus den zahlreichen Auffassungen des Begriffs Intertextualität erscheint mir diejenige am sinnvollsten zu sein, die für die Menge der Text-TextBeziehungen in einem Text (= Ausgangstext) steht, die sowohl fakultativen Charakter haben als auch von der „normalen“ Bedeutungskonstitution eines Textes fundamental unterschieden werden, zu dieser Bedeutungskonstitution bzw. zur Botschaft eines Textes jedoch durch eben solche Relationen zu einem bzw. mehreren Prätexten einen Beitrag leisten. Somit rückt die Frage nach der Bedeutung und Funktion des intertextuellen Bezugs im Ausgangstext in den Fokus. Dies führt zu weiteren Überlegungen hinsichtlich des Zusammenhangs von Intertextualität und der Trias Autor, Text und Leser unter besonderer Beachtung eines Modells intertextueller Lektüre und der Frage nach der Bedeutung von Markierungen innerhalb dieser Lektüre. Traditionelle Termini für Textbeziehungen wie „Anspielung“ und „Zitat“ lassen sich mit der Markierungstheorie korrelieren, sodass sie weiterhin genutzt werden können. Bei der konkreten Analyse eines intertextuellen Bezugs ist es notwendig zu prüfen, ob und inwiefern der Kontext des Prätextsegments im Umfeld des Ausgangstextes rezipiert wird. Denn man kann nicht von vorherein wissen, wie weit der 158

TISCHER 2006: 23.

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1. Kapitel: Einleitung

Evangelist den Kontext überhaupt wahrgenommen hat. Da der Evangelist die Sinaitradition nicht unmittelbar und isoliert von einer Interpretationsgemeinschaft gelesen hat, ist es für eine sachgemäße Deutung unabdingbar, sich so gut wie möglich mit der (früh-)jüdischen Auslegung der Sinaitradition zu befassen.

3. Zur Vorgehensweise 3. Zur Vorgehensweise

Aus den vorhergehenden Überlegungen resultiert das weitere Vorgehen: Das 3-Phasen Modell der intertextuellen Lektüre gibt den methodischen Rahmen für den Hauptteil vor. Zuerst (unter „Desintegration“) wird der intertextuelle Bezug zur Sinaitradition jeweils aufgespürt und vorgestellt. Besondere Aufmerksamkeit verdient hier die möglichst präzise Beschreibung dessen, was die Desintegration bei der Lektüre auslöst bzw. wodurch diese erfolgt. Notwendige Voraussetzung dafür ist jedoch eine vorläufige Analyse der Erzählung bzw. der Argumentation innerhalb der Erzählung. Sodann wird (unter „Digression“) der Prätext oder ggf. auch mehrere Prätexte aufgrund von vorhandenen Signalen im Ausgangstext identifiziert und in Verbindung mit bestehender Aufnahme innerhalb der Schrift analysiert,159 um sich eine Art Arbeitsverständnis anzueignen. Die Analyse der betreffenden Texte erfolgt vorrangig auf synchroner Ebene. Denn die Entstehungsgeschichte dieser Texte ist für die Frage nach ihrer Rezeption und Deutung im JohEv nicht unmittelbar relevant. Ferner ist diese Analyse leserorientiert. Das heißt, dass ich versuche, Möglichkeiten der Lektüre aufzuzeigen. Anschließend werden relevante antik-jüdische Auslegungstraditionen dargestellt, insbesondere unter dem Aspekt der in ihnen enthaltenen Schriftinterpretation. Denn man kann nicht ohne Weiteres voraussetzen, dass die Deutung eines antiken Textes durch den Evangelisten mit einem an der Endgestalt orientierten Verständnis völlig übereinstimmt. Stattdessen muss man sich möglichst gut mit antik-jüdischen Deutungen des betreffenden Prätextes vertraut machen, da davon auszugehen ist, dass der offenkundig 159 Folgende Gründe sprechen dafür, auch den hebräischen Text in der Form des MT zu beachten: Der hebräische Text ist Grundlage sowohl „der“ LXX als auch der weiteren (früh-)jüdischen Auslegungstraditionen, ohne den jene nicht oder nicht angemessen zu verstehen sind. In der Forschung herrscht kein Konsens über die textliche Grundlage der Schriftzitate, sodass man eine johanneische Kenntnis des hebräischen Textes nicht von vornherein ausschließen kann. Der Evangelist bezieht sich nicht nur auf konkrete Schriftworte, sondern auch auf größere Textkomplexe wie Erzählungen (vgl. z.B. die Anspielung auf die Erzählung von der ehernen Schlange [Num 21] in Joh 3,14) und Traditionen (vgl. z.B. Joh 4,5f.12; Joh 5,45; 6,14; 7,31; 8,33–58 usw.), deren genaue textliche Grundlage nicht immer eindeutig identifizierbar ist. Für das Verständnis des johanneischen Textes ist auf jeden Fall die Vertrautheit mit den Erzählungen und den damit verbundenen Traditionen als solchen wichtiger als die Kenntnis eines bestimmten Wortlauts.

3. Zur Vorgehensweise

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judenchristliche Verfasser des JohEv eingebettet war in den antik-jüdischen Traditionsstrom. Dabei werden auch rabbinische und targumische Traditionen in den Blick genommen, die mehrheitlich später literarisch fixiert wurden als das JohEv. Das hat seine Berechtigung darin, dass hier keine genealogischen Verbindungen oder historisch-literarischen Abhängigkeiten nachgewiesen, sondern ein Ausschnitt aus dem jüdischen Auslegungshorizont skizziert werden soll. So ist es möglich, die johanneische Deutung klarer zu profilieren. Dann kann auf der Grundlage des Ausgangstextes die sprachliche und/oder inhaltlich-semantische Rezeption des Prätext-Kontextes im Umfeld des Ausgangstextes nachgezeichnet werden. Außerdem können die Konvergenzen zwischen Prä- und Ausgangstext sowie Entsprechungen zwischen Ausgangstext und antik-jüdischen Auslegungstraditionen notiert werden. Denn erst auf der Basis der tatsächlich nachweisbaren Konvergenzen und Entsprechungen kann die interpretatorische Berücksichtigung des Prätextes im Ausgangstext sachgemäß erfolgen. Anschließend wird (unter „Reintegration“) der Ausgangstext im Lichte der gewonnenen Erkenntnisse erneut gedeutet. Schlussendlich unternehme ich den Versuch, ein Gesamtbild der Rezeption der Sinaitradition im JohEv zu präsentieren, insofern sich dessen Konturen und Merkmale darstellen lassen. Die Auswahl der zu untersuchenden johanneischen Primärtexte gründet sich auf der Art der Markierung des intertextuellen Bezugs. Ist ein Bezug explizit markiert und enthält er ein konkretes Prätext-Signal (oder auch mehrere), wird er in dieser Arbeit untersucht. Im JohEv taucht zwar kein Zitat aus der Sinaierzählung auf. Allerdings findet sich – wie noch zu dieser und der im Folgenden genannten Passagen jeweils zu zeigen sein wird – ein explizit markierter intertextueller Bezug zur Sinaitradition schon im Prolog in Joh 1,14–18 (vgl. Ex 33–34). Diese an einer wichtigen Stelle platzierte Bezugnahme führt zu einer gesteigerten Sensibilität für weitere johanneische Bezüge zur Sinaierzählung. Solche explizit markierten Bezüge finden sich denn auch in der Polemik gegen „die Juden“ in Joh 5,37f. , ferner in der Erzählung von Brotwunder und Brotrede in Joh 6,32 und öfter und schließlich in der Verteidigungsrede Jesu in Joh 10,35f. (beide als Deutung der Schrift im Anschluss an Zitate aus derselben). Ist ein Bezug jedoch implizit markiert oder nicht ausreichend „durchsichtig“ hinsichtlich des konkreten Prätextes, wird er nicht analysiert (auch wenn er explizit markiert ist). Dies betrifft den Verweis auf das Sprechen Gottes mit Mose (Joh 9,29). Diese allgemeine Aussage lässt keinen Rückschluss auf einen konkreten Prätext zu, auf den „die Juden“ sich beziehen.160 Joh 2,1–11 und 160 In Joh 7,19.22 steht das Geschehen der Gesetzesübergabe durch Mose (der auch wie Jesus [vgl. Joh 7,17f.] als Gottes Gesandter die Ehre Gottes suchte und darum nicht aus sich selbst redete [vgl. nur Num 16,28]) nur entfernt und sehr unscharf im Hintergrund; die Identifizierung einer konkreten Erzählung der Schrift ist nicht wichtig, oder es geht lediglich um

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1. Kapitel: Einleitung

12,28f. werden in dieser Arbeit ebenfalls nicht ausführlich in den Blick genommen, da ein expliziter Bezug zur Sinaitradition in diesen Passagen nicht gegeben ist.161 Diese Auswahl der johanneischen Primärtexte sollte die Antwort auf die Frage nach der Rezeption der Sinaitradition im JohEv zumindest in methodischer Hinsicht auf eine stabile Grundlage stellen.

ein spezifisches Gebot, welches als mosaisches qualifiziert wird. Die Verweise stellen das jüdische Gesetz dar als den von Mose übermittelten normativen Gotteswillen (vgl. 7,17), den es zu tun gilt (vgl. 7,19b–c.23b) und der demjenigen, der ihn tun will, zur Erkenntnis über die Herkunft von Jesu Lehre verhilft. „Die Juden“ aber, denen doch das Gesetz gegeben wurde, erweisen sich als Gesetzesübertreter mit einer sehr oberflächlichen Beurteilung, wenn sie Jesus und seine Lehre im Namen Moses und des Gesetzes nicht annehmen. 161 Für Joh 2,1–11 wurde u.a. von OLSSON ein „Sinai screen“ postuliert. Er stützt sich auf „some agreements between our text and the Jewish interpretation of the events at Sinai (Ex 19–24)“ (OLSSON 1974: 102): Der Ausdruck „am dritten Tag“ (Joh 2,1; vgl. Ex 19,10.11.16 [vgl. OLSSON 1974: 102ff.), das Gehorsam-Motiv (vgl. OLSSON 1974:104f.), die Offenbarung der Herrlichkeit Jesu und der Glaube der Jünger an ihn (vgl. OLSSON 1974: 105), das Reinigungs-Motiv (vgl. OLSSON 1974: 105ff.), das Hochzeits-Motiv (vgl. OLSSON 1974: 107) u.a. Man kann die Kana-Episode in Verbindung mit der Sinaierzählung wohl zumindest teilweise plausibel deuten, wenn man diese Verbindung erst einmal voraussetzt. Doch ob der Text diese Verbindung selbst nahelegt, ist angesichts mangelnder expliziter Hinweise fraglich. Zu Joh 12,28f.: Die Rede vom Erschallen der Stimme Gottes und im Zusammenhang damit vom Donner bzw. von der Reden eines Engels können die Lesenden u. U. an das Sinaigeschehen erinnern bzw. teilweise analog dazu verstanden werden (vgl. Ex 19,5.13.16.19; 20,18.22). Jedoch bleibt letztlich aufgrund fehlender eindeutiger Signale im Text unklar, ob hier lediglich Elemente erscheinen, die auf eine Theophanie hinweisen, oder ob hier eine gezielte Anspielung auf das Sinaigeschehen vorliegt. Letzteres ist aus folgenden Gründen sogar eher unwahrscheinlich: In der „ersten“ Sinaioffenbarung erschallt die Stimme Gottes (vgl. besonders Ex 19,19), jedoch nicht explizit „vom Himmel“ (vgl. aber das Reden Gottes „vom Himmel“ zu euch [Ex 20,22]). Von einem Donner ist in der Sinaierzählung wohl die Rede, jedoch wird dort nicht βροντή (Joh 12,29) verwendet, sondern der Plural φωναί (vgl. z.B. Ex 19,16). Die „Stimme“ Gottes spielt in der „ersten“ Sinaioffenbarung eine wichtige Rolle, aber nicht in der „zweiten“, wo wiederum die Herrlichkeit des Namens Gottes im Vordergrund steht (vgl. Ex 33,19; 34,5 mit Ex 33,18f.22); explizit „verherrlicht“ wird jedoch nicht der Name Gottes, sondern Mose (vgl. Ex 34,29f.35).

Kapitel 2

„Die Gnade und die Wahrheit ist durch Jesus Christus geworden“: Die Rezeption der Sinaitradition in Joh 1,14–18 1. Desintegration 1. Desintegration

Der sog. Prolog (nach Klaus Haacker „die Binneneinleitung“)1 des JohEv gehört zweifellos zu den theologisch einflussreichsten2 und zu den am intensivsten bedachten Texten der Bibel.3 Für die Frage nach der johanneischen Rezeption der Sinaitradition bildet er als hermeneutischer Leittext für die, die das JohEv lesen oder hören, den Ausgangspunkt:4 Innerhalb dieser Lektüreanweisung wird in V.17a explizit auf die Gabe des Gesetzes durch Mose angespielt; die Formulierung im Passiv betont die Rolle Moses als Vermittler des Gesetzes: ὁ νόµος διὰ Μωϋσέως ἐδόθη.5 Der Schriftbezug ist evident, denn der Eigenname „Mose“ fungiert in V.17a als explizite Markierung. „Mose“ ist ja eine „re-used figure“ und kann als prominentester (menschlicher) Akteur in der Exodusgeschichte angesehen werden. Allerdings ist die Funktion dieser 1

Vgl. HAACKER 2004: 308. Vgl. HENGEL 2008: 289: „The Prologue is the most influential christological text in the New Testament.“ 3 Aus der Fülle der Literatur seien hier besonders THEOBALDS umfassende Arbeit „Die Fleischwerdung des Logos: Studien zum Verhältnis des Johannesprologs zum Corpus des Evangeliums und zu 1 Joh“ von 1988 und KARL BARTHS wenig beachtete Auslegung (1976) genannt. 4 Vgl. die Ausführungen bei ZUMSTEIN 2016: 65ff. (Fazit: „der Prolog ist auf metalinguistischer Ebene einzuordnen. Er äußert sich zu der Geschichte, die erzählt werden soll, genauer gesagt, er stellt den hermeneutischen Rahmen her, in dem diese Geschichte zu lesen ist. Noch bevor sich die Erzählung entwickelt, enthüllt der Prolog dank des im Mythos enthaltenen Sinnüberschusses die Tragweite und die Bedeutung der folgenden Geschichte. Der Prolog setzt den Logos mit dem absoluten und grundlegenden Beginn in Bezug und zeichnet die aus der Präexistent in die Inkarnation führende Bewegung nach, um dem Leser zu zeigen, dass der Mensch Jesus, der im Mittelpunkt des folgenden Berichts stehen wird, die Gestalt Gottes inmitten der Welt ist“ [67]). 5 Vgl. Lev 26,46 (LXX: ταῦτα τὰ κρίµατα καὶ τὰ προστάγµατα καὶ ὁ νόµος ὃν ἔδωκεν κύριος ἀνὰ µέσον αὐτοῦ καὶ ἀνὰ µέσον τῶν υἱῶν Ισραηλ ἐν τῷ ὄρει Σινα ἐν χειρὶ Μωυσῆ); 1Chr 33,8; Esr 7,6; Neh 9,13f.; 10,30; 2Makk 7,30 (τοῦ δὲ προστάγµατος ἀκούω τοῦ νόµου τοῦ δοθέντος τοῖς πατράσιν ἡµῶν διὰ Μωυσέως); Sir 45,5; Dan 9,10 LXX. 2

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2. Kapitel: Die Rezeption der Sinaitradition in Joh 1,14–18

explizit markierten intertextuellen Einschreibung nicht klar, zumal als Teil einer – durch ὅτι als solcher ausgewiesenen – Erläuterung oder Begründung des Vorhergehenden. Sowohl Mose als auch das Gesetz kommen scheinbar aus dem Nichts zur Sprache. Im Anschluss an V.17a – ohne Konjunktion/Partikel6 – heißt es dann aber in V.17b: ἡ χάρις καὶ ἡ ἀλήθεια διὰ Ἰησοῦ Χριστοῦ ἐγένετο. Die syntaktische Parallelität der beiden Aussagesätze V.17a und V.17b liegt auf der Hand: V.17a V.17b

ὅτι

ὁ νόμος ἡ χάρις καὶ ἡ ἀλήθεια

διὰ διὰ

Μωϋσέως ἐδόθη, Ἰησοῦ Χριστοῦ ἐγένετο.

Nebeneinander stehen also: das Gesetz – die Gnade und die Wahrheit, durch Mose – durch Jesus Christus, wurde gegeben – ist geworden. Die asyndetische Formulierung für sich betrachtet lässt dabei durchaus Raum für verschiedene Deutungen (z.B.: synthetischer oder antithetischer Parallelismus); auch das doppelte „durch“ birgt mehrere Möglichkeiten der Interpretation. Diesen sprachlichen Befund gilt es zu klären. Geradezu weichenstellend ist die Frage: In welchem Verhältnis stehen die jeweiligen Größen zueinander, zumal „das Gesetz“ auf der einen und „die Gnade und die Wahrheit“ auf der anderen? Warum taucht der, im JohEv nicht bloß als Name gebrauchte, sondern mit spezifischen jüdischen Erwartungen (bezüglich einer königlich-davidischen Retter-Figur) verknüpfte, Christustitel gerade hier auf?7 Wieso ist gerade hier so plötztlich explizit in unmittelbarem Zusammenhang von Jesus Christus, von Mose und vom Gesetz die Rede? Ferner zeigt sich: Mit der Anspielung auf die Gabe des Gesetzes durch Mose verbinden sich im unmittelbaren Umfeld (V.17b) auffällige Formulierungen, die zumindest auch die Frage aufwerfen, ob sie nicht ebenfalls als intertextuelle Bezüge zu begreifen und entsprechend zu deuten sind: Weshalb steht nach den beiden durch καί zusammengehaltenen Substantiven χάρις und ἀλήθεια der Singular ἐγένετο und jeweils der Artikel? Bildet ἡ χάρις καὶ ἡ ἀλήθεια eine Einheit (wie genau?) oder ist es gar ein Hendiadyoin (in welcher Weise?)? Dabei ist V.17b ja eng verzahnt mit dem Vorhergehenden. So greift ἡ χάρις καὶ ἡ ἀλήθεια auf (πλήρης) χάριτος καὶ ἀληθείας in V.14 und (zumal im Zusammenhang der Begründung) auf χάριν ἀντὶ χάριτος in V.16 zurück; das ἐγένετο in V.17b 6 Das δέ u.a. in 66 ist textkritisch sekundär. Selbst dieses weist jedoch nicht zwingend auf ein antithetisches Verständnis hin. 7 WENGST macht zu Recht darauf aufmerksam, dass „[d]er Fortgang des Evangeliums […] deutlich [macht], dass für ihn [sc. den Evangelisten] das zweite Wort nicht bloß Teil eines Doppelnamens ist, sondern seinen messianischen Klang bewahrt hat“ (2000: 73); vgl. Joh 1,20.25.41; 3,28; 4,25.29; 7,26f.41f.; 9,22; 10,24; 11,27; 12,34; 17,3; 20,31 und dazu BAUCKHAM 2006: 54–67.

1. Desintegration

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begegnete zuletzt in V.14a (das Wort wurde [ἐγένετο] Fleisch). Aufgrund dieser Rückbezüge ist es ratsam, das nähere Umfeld der Anspielung ebenso in den Blick zu nehmen. Als dieses Umfeld kann der Passus Joh 1,14–18 gelten, der innerhalb des Prologs Joh 1,1–18 (oder der Binneneinleitung des JohEv) einen eigenen Abschnitt bildet.8 Setzt man also in V.14 ein, „stolpert“ man bereits in V.14b über das für den vorliegenden Zusammenhang ungewöhnliche und sonst im JohEv nicht gebrauchte Verb ἐσκήνωσεν9: „Und das Wort (ὁ λόγος; Rückbezug zu Joh 1,1ff. )10 wurde Fleisch (σὰρξ ἐγένετο) und zeltete (ἐσκήνωσεν) unter11 uns …“ Aus semantischer Sicht stellt das Verb eine „kotextuelle Störung“ dar, da nichts darauf schließen lässt, dass das fleischgewordene Wort (V.14a) tatsächlich in einem Zelt „unter uns zeltete“. Koester meint: „The verb resembles the noun σκῆνος, which can be connected with the idea of flesh’ because it often refers to the tabernacle of the human body (Wis 9:15; 2 Cor 5:1,4; Par. Jer. 6:6–7), as does the term σκήνωµα (2 Pet 1:13–14)“12? Tatsächlich wird σκηνόω (und σκῆνος, σκηνή, σκήνωµα sowie κατασκηνόω13) jedoch für gewöhnlich nicht mit σάρξ verbunden und die σάρξ dann metaphorisch als „Zelt“ umschrieben, sondern eher das σῶµα (hier aber nicht erwähnt). Allerdings dürfte nicht zu bestreiten sein, dass das Verb an dieser Stelle metaphorische Bedeutung hat. Doch worin besteht sie? Warum und wozu wird dieses Verb bzw. diese Vorstellung eines Zeltens „unter uns“ hier gebraucht? Ist es vielleicht als eine die

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Dies wird später noch begründet werden. Im NT sonst nur noch in Apk 7,15; 12,12; 13,6; 21,3. In der LXX taucht das Verb σκηνόω selten auf (vgl. Gen 13,12; Ri 5,17; 8,11); das Kompositum κατασκηνόω (im Gegensatz zum ebenfalls in der LXX sehr seltenen ἀποσκηνόω und dem in der LXX nicht, aber im NT einmal begegnenden ἐπισκηνόω [2Kor 12,9]) dagegen recht häufig. Das Kompositum bezeichnet das Wohnen bzw. Wohnenlassen, „not in a house, but not specifically in encampment or tent“ (MURAOKA 2009: 383), wie dies bei σκηνόω typischerweise impliziert ist (vgl. MURAOKA 2009: 624; BÜHNER 1992: 603f.). 10 Im Folgenden werde ich aufgrund des primären Bezugs meiner Arbeit auf die Sinaierzählung in Joh 1,14–18 nicht ausführlich auf die schon oft notierten (mehr oder weniger deutlichen) Parallelen zwischen den im Prolog gemachten Aussagen über das Wort und (früh-)jüdischen Vorstellungen über die Weisheit/Tora eingehen (vgl. dazu u.a. EPP 1975: 130–135; EVANS 1993: 83–94; FREY 2014: 247–250). 11 Für diese Bedeutung von ἐν s. VON SIEBENTHAL 2011: §184i. 12 Vgl. KOESTER 1989: 102. 13 Apg 2,26 (Ps 15,9 LXX) ist keine Ausnahme, wie der nächste Vers deutlich macht, wo es u.a. um die Verwesung (des Fleisches) geht. 9

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2. Kapitel: Die Rezeption der Sinaitradition in Joh 1,14–18

Aussage über die Fleischwerdung erläuternde14 Anspielung zu betrachten?15 Wenn ja, wie „funktioniert“ dies? Auffällig ist ferner die Rede vom Schauen/Betrachten (θεάοµαι im Aorist) der Herrlichkeit (δόξα) des fleischgewordenen Wortes. Aufgrund dessen, was in Joh 1,1f. über das Wort ausgesagt worden ist – daran knüpft Joh 1,14 ja durch die erneute explizite Nennung von ὁ λόγος an –, wird man hier an „eine Gott eignende und von Menschen nur respondierend anerkannte Qualität“16 zu denken haben. Die Herrlichkeit Gottes ist nach Jacob „die glanzvolle, Anerkennung heischende Manifestation seiner Macht, Würde und Majestät, wie sie sich in der Natur, und seines heiligen Waltens, seines Gesetzes und Gerichtes, wie sie sich in Geschichte und Gewissen kundtun. Diese Herrlichkeit kann und soll der Mensch sehen.“17

Es geht also um die Manifestation oder Offenbarung von Gottes „Wesen“, und diese wurde von der Gruppe der „Wir“18 im/am fleischgewordenen Wort in der Vergangenheit geschaut (ἐθεασάµεθα [Aorist!]). Das Verb θεάοµαι wird noch in Joh 1,32.38; 4,35; 6,5; 11,45 (vgl. 1Joh 1,1; 4,12.14)19 verwendet und bezeichnet „stets das intensive, eingehende, verweilende, bewundernde, nachdenkliche, begreifende Betrachten“ mit den leiblichen Augen, wodurch es zum „Innewerden nicht sinnlich sichtbarer Sachverhalte kommen [kann]“20. Mit Recht merkt Theobald an: „Wann und woran im einzelnen die Zeugen sie erfahren haben, etwa an den Semeia Jesu, wird nicht gesagt und ist anscheinend

14 Vgl. FREY 2014: 234: Das „und er zeltete unter uns“ ist „als Erläuterung und Verständnishilfe zum σὰρξ ἐγένετο von kaum zu unterschätzender Bedeutung“. Als Grund dafür nennt FREY (2014: 251) zu Recht den Sachverhalt, dass die ersten beiden Aussagen in V.14 durch das gemeinsame Subjekt „das Wort“ verknüpft sind und von der dritten Aussage (mit zwei Erläuterungen) „etwas weiter abgerückt“ sind, zugleich in semantischer Hinsicht dazu überleiten. 15 Vgl. u.a. KOESTER 1989: 102 (geht von einer bewussten Doppeldeutigkeit aus); GESE 1983: 168; THYEN 2005: 93: „Als Intertextualitäts-Signal stiftet das Verb σκηνοῦν zu wechselseitiger Lektüre von Prolog und Sinai-Erzählung an.“ 16 AALEN/KVALBEIN 2005: 304. 17 JACOB 1997: 958. 18 Vgl. 1Joh 1,1. 19 Die Heranziehung der johanneischen Briefe bei der Auslegung des JohEv ist u.a. durch die gemeinsame Sprache, die theologischen Gemeinsamkeiten sowie die auf einen Autor (nach manchen Forschern: eine johanneische Schule) weisenden Überschriften des JohEv und der drei Briefe gerechtfertigt. Dazu s. FREY 2008b: 758: „In jedem Fall sind die Briefe bei der Interpretation des Evangeliums mit zu berücksichtigen. Sie sind sprachlich und sachlich der nächste Kommentar zu diesem, und selbst wenn sie geringfügig später und durch einen anderen Autor abgefasst sein sollten, lassen sie sich für die Erklärung der joh Sprache und Theologie nicht beiseiteschieben.“ 20 PEISKER 1992: 336.

1. Desintegration

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auch nicht wichtig. Es geht um eine ganzheitliche Erfahrung Jesu, weshalb der Ausdruck δόξαν αὐτοῦ auch auf seine Person bezogen ist.“21 V.14d entfaltet mit Hilfe einer Apposition das Syntagma „seine Herrlichkeit“ aus V.14c: δόξαν ὡς µονογενοῦς παρὰ πατρός. Demgemäß schauten „wir“ die Herrlichkeit des fleischgewordenen Wortes, eine Herrlichkeit, die das fleischgewordene Wort in seiner Eigenschaft als22 der23 Einzigartige (µονογενής)24 besaß, der vom Vater ist (Ursprung) oder kommt (Sendung), 21 THEOBALD 1988: 249. Rainer Riesner sieht zusätzlich Bezüge zur Verklärung Jesu (vgl. Lk 9,28–36 par). Diese werde zwar nicht erzählt, aber aus jenem Ereignis habe der Evangelist seine Sicht des Lebens und Sterbens Jesu entwickelt, welche dann so präsentiert werden, dass sie insgesamt mit dem Vorzeichen der Herrlichkeit versehen sind (vgl. RIESNER 2013: 303–336). 22 ὡς kann einen Vergleich anzeigen oder eine Eigenschaft einführen, die im Zusammenhang wichtig ist. Ist mit „Herrlichkeit“ tatsächlich eine Gott eignende Qualität im Blick, wäre ein Vergleich mit einer Herrlichkeit, die (irgend)ein µονογενής von dem Vater (nach V.12f. ist damit Gott gemeint) hat oder die (irgend)ein µονογενής, der von dem Vater herkommt, gänzlich unpassend, zumal dann völlig unklar ist, welche Herrlichkeit (irgend)ein µονογενής von dem Vater herkommend hat bzw. von dem Vater bekommen hat. Wesentlich besser passt, dass es hier um eine Manifestation des Wesens Gottes geht, die das inkarnierte Wort, Jesus Christus, kundtut (so auch THEOBALD 1988: 250). 23 Für eine Determination von µονογενής spricht der Rückbezug auf αὐτοῦ. Auch in V.18 steht bei µονογενής kein Artikel (zumindest nach der besten Lesart, s.u.), wo aber ausweislich von ἐκεῖνος sehr wahrscheinlich eine Determination vorliegt. Vgl. daneben den Hinweis auf die Beobachtung von Michaelis bei MCHUGH 2009: 58: „Michaelis observes that wherever ὡς introduces a fact, it is never followed by an article.“ 24 Das Wort µονογενής kann in der Regel mit „einzig, einer seiner Art, einzigartig“ (so BA) übersetzt werden. LSJ gibt als Übersetzung von µονογενής an: „the only member of a kin or kind: hence, generally, only, single“. Es erscheint im JohEv hier, in V.18 und dann nur noch in 3,16.18, dort jedoch in Verbindung mit υἱός, wo wahrscheinlich „der/sein einzige(r) (und damit besonders wertvoller und geliebter) Sohn“ gemeint ist (FITZMYER 1992: 1082). Wie ist aber der absolute Gebrauch von µονογενής in V.14 und V.18 (jedenfalls nach der besten Lesart [s.u.]) zu verstehen? Etwa im Sinne von „einzigerzeugt“ bzw. „einziggeboren“ (so BA, s.v.; THEOBALD 2009: 130)? Was wäre dann mit der „(Er)zeugung“ genau intendiert? Etwa die Inkarnation (vgl. evtl. 1Joh 5,18 und dazu KLAUCK 1991: 334ff.)? Allerdings ist zu fragen, ob µονογενής wirklich etwas mit „Erzeugung“ bzw. dem Verb γεννᾶσθαι zu tun hat, wie die Wiedergabe mit „einzigerzeugt“ suggeriert. Vielleicht ist diese Bedeutung etymologisch nicht völlig auszuschließen (jedenfalls nach PENDRICK [1995: 588]; anders HARRIS [1992: 86], der diese Herleitung ganz ablehnt). Doch macht der allgemeine Gebrauch des Wortes deutlich, dass µονογενής typischerweise nicht die Konnotation von Geburt/Zeugung beinhaltet oder in den Vordergrund stellt (vgl. die Belege in der LXX [Ri 11,34; Tob 3,15; 6,11; 8,17; Ps 21,21; 24,16; 34,17; Weish 7,22; PsSal 18,4) und im NT (Lk 7,12; 8,42; 9,38; Hebr 11,17]; keiner dieser Texte fordert die Übersetzung mit „einzigerzeugt/einziggeboren“; dazu und zu den außerbiblischen Belegen für µονογενής vgl. PENDRICK 1995, dem sich THYEN [2005: 97] anschließt). Ich halte es daher für wahrscheinlich, dass das absolute µονογενής gemäß seinem typischen Gebrauch und in Übereinstimmung mit seiner johanneischen Zuspitzung des dem Wort inhärenten ausschließenden Moments betont, dass Jesus der Einzigartige ist, weil nur er „vom Vater her

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2. Kapitel: Die Rezeption der Sinaitradition in Joh 1,14–18

mithin in einer einzigartigen Beziehung zu ihm steht.25 Durch die Rede von „seiner Herrlichkeit“, die geschaut wurde, wird also des Inkarnierten einzigartige Beziehung zum Vater bzw. seine Einheit mit dem Vater zum Ausdruck gebracht.26 Auf die Präpositionalphrase folgt eine weitere Charakterisierung: πλήρης χάριτος καὶ ἀληθείας. Am besten ist die Syntax so aufzufassen, dass damit das inkarnierte Wort umschrieben wird.27 Dann wäre die vorhergehende ist“ und er in seiner Menschheit an jener einzigartigen Beziehung zwischen dem Wort (das im Anfang schon da und Gott war) und Gott (bei dem das Wort war) partizipiert (ähnlich MCHUGH 2009: 103). 25 Der Bezug der gedanklich um ein Wort wie „sein“ oder vielleicht „kommen“ zu ergänzenden Präpositionalphrase παρὰ πατρός ist nicht klar. Das „Fehlen“ des Artikels bei πατρός bedeutet nicht, dass πατρός indeterminiert ist, sondern kann bedingt sein durch die Abhängigkeit des Substantivs von der Präposition wie z.B. in Joh 1,6; 9,16.33 (vgl. VON SIEBENTHAL 2011: § 133a). Von V.12f. her ist jedenfalls klar, dass auch in V.14 Gott, der Vater, im Blick ist. Ist/kommt die δόξα vom Vater zum µονογενής (so CHIBICI-REVNEANU 2007: 62) oder ist/stammt/kommt der µονογενής vom Vater? Beides ist möglich, sowohl was die Grammatik als auch was die sachliche Verankerung im JohEv angeht (vgl. für die Herrlichkeit vom Vater: Joh 5,44 [καὶ τὴν δόξαν τὴν παρὰ τοῦ µόνου θεοῦ οὐ ζητεῖτε]; 17,7 [νῦν ἔγνωκαν ὅτι πάντα ὅσα δέδωκάς µοι παρὰ σοῦ εἰσιν] mit 17,22 [κἀγὼ τὴν δόξαν ἣν δέδωκάς µοι δέδωκα αὐτοῖς, ἵνα ὦσιν ἓν καθὼς ἡµεῖς ἕν] sowie 17,24 [Πάτερ, ὃ δέδωκάς µοι, θέλω ἵνα ὅπου εἰµὶ ἐγὼ κἀκεῖνοι ὦσιν µετ᾽ ἐµοῦ, ἵνα θεωρῶσιν τὴν δόξαν τὴν ἐµήν, ἣν δέδωκάς µοι ὅτι ἠγάπησάς µε πρὸ καταβολῆς κόσµου]; vgl. für die Herkunft/Sendung Jesu vom Vater Joh 6,46 [οὐχ ὅτι τὸν πατέρα ἑώρακέν τις εἰ µὴ ὁ ὢν παρὰ τοῦ θεοῦ, οὗτος ἑώρακεν τὸν πατέρα]; 7,29 [ἐγὼ οἶδα αὐτόν, ὅτι παρ᾽ αὐτοῦ εἰµι κἀκεῖνός µε ἀπέστειλεν]; 9,16.33; 16,27f.]). Doch was ist an dieser Stelle plausibler? Für den Bezug der Präpositionalphrase zu µονογενής spricht ihre syntaktische Nähe zu µονογενής und die aus einem solchen Bezug resultierende (sachliche) Entsprechung zum Gedanken, dass das Wort, welches im Anfang (schon da) war, Gott war und bei Gott war (V.1f.) und „in die Welt/in sein Eigentum“ kam (V.9ff.), indem es gemäß V.14a– b „Fleisch wurde und unter uns zeltete“. Dann verdeutlicht die Präpositionalphrase, in welcher Hinsicht der µονογενής einzig ist in seiner Art: als Einziger ist/stammt/kommt er vom Vater, steht mithin in einer einzigartigen Beziehung zu ihm. 26 Vgl. IBUKI 1972: 195. 27 Ist πλήρης hier indeklinabel gebraucht (vgl. mit Hinweis auf den nachfolgenden Genitiv BDR § 137,1; TURNER 1899/1900; SCHNACKENBURG 1986: 248; THEOBALD 1988: 195, Anm. 68.) oder nicht (so WENGST 2000: 66f.)? Wer oder was war πλήρης χάριτος καὶ ἀληθείας? Das fleischgewordene Wort bzw. der µονογενής, die Herrlichkeit (vgl. BDR §137,1; s. auch die Aufzählung frühkirchlicher Auslegungen, die „voller Gnade und Wahrheit“ auf „Herrlichkeit“ beziehen, bei TURNER 1899–1900) oder gar der Vater? Sucht man in der LXX nach der Kombination von πλήρης mit δόξα so ergibt dies: Niemals ist die δόξα von etwas erfüllt, sondern immer erfüllt die δόξα etwas (z.B. das Werk Gottes [Sir 42,16], die Erde [Jes 6,3], den Tempel [Jes 6,1] bzw. das Haus des Herrn [Ez 43,5; 44,4]). Zum gleichen Ergebnis führt die Suche nach der Kombination des Verbs πληρόω mit δόξα (vgl. Ps 71,19). Zwar begegnet der Ausdruck „Fülle der Herrlichkeit“ (πλῆθος τῆς δόξης; Ex 15,7), doch ist damit nicht gesagt, dass die Herrlichkeit von etwas anderem voll war, sondern nur, dass Gott über eine Fülle von Herrlichkeit verfügt. Diese Beobachtungen lassen es als unplausibel erscheinen, dass die δόξα voller Gnade und Wahrheit war (so aber IBUKI 1972: 198; CHIBICI-REVNEANU 2007: 63), zumal solch eine Aussage kaum Sinn ergibt (vgl. THYEN

1. Desintegration

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Präpositionalphrase ein Einschub.28 Damit ist allerdings nicht behauptet, dass zwischen der Charakterisierung πλήρης χάριτος καὶ ἀληθείας und der δόξα des fleischgewordenen Wortes keine Beziehung besteht. Im Gegenteil: Es steht angesichts der Satzkonstruktion zu vermuten, dass die δόξα des inkarnierten Wortes darin besteht, dass es πλήρης χάριτος καὶ ἀληθείας war,29 da die Phrase sonst deplatziert wäre.30 Doch was besagt das? Es ist ja nicht unmittelbar einsichtig, inwiefern die δόξα und die Wendung πλήρης χάριτος καὶ ἀληθείας etwas miteinander zu tun haben, geschweige denn, dass man ohne Weiteres versteht, inwiefern man in dem, dass das inkarnierte Wort πλήρης χάριτος καὶ ἀληθείας war, seine δόξα bzw. die Offenbarung des „Wesens“ Gottes schauen konnte. Die Kombination der Lexeme χάρις und ἀλήθεια ist im Griechischen sehr ungewöhnlich und schwer zu verstehen; sie findet sich so31 auch weder im übrigen NT noch in der LXX. Dodd vermutet daher: „we must suppose that the expression was derived from a Hebrew source“32. Doch was bedeutet der Ausdruck? Handelt es sich vielleicht um ein Hendiadyoin, wie oft vorgeschlagen wird33 – welcher Begriff trägt dann den Akzent und welcher hat attributive Funktion? Besonders problematisch für die Deutung ist, dass das im Prolog gleich viermal (1,14f.16[2x].17b) gebrauchte, dabei in seiner konkreten Bedeutung und Referenz jedoch unklare Wort χάρις im JohEv sonst überhaupt nicht mehr vorkommt. Das JohEv bietet somit keinen klaren Anhaltspunkt dafür, die Frage zu klären, worin genau die χάρις in V.14 und V.17 besteht bzw. was konkret jeweils als χάρις charakterisiert wird.34 2005: 98). V.16 (aus seiner Fülle wird Gnade empfangen) und 17b (die Gnade und die Wahrheit sind durch Jesus Christus geworden) weisen ohnehin eher in die Richtung eines Bezugs von πλήρης χάριτος καὶ ἀληθείας auf Jesus Christus (so auch DE LA POTTERIE 1977: 175). Allerdings wird der Name „Jesus Christus“ an dieser Stelle mit Absicht noch nicht genannt; stattdessen ist hier die Rede vom inkarnierten Wort. 28 Vgl. die Interpunktion der Herausgeber von NA28. 29 Der Konnex von „Herrlichkeit“ mit „voller Gnade und Wahrheit“ sowie die Aussage über die Realisierung „der Gnade und der Wahrheit“ (V.17b) sprechen dagegen, in Apg 6,8 (Στέφανος δὲ πλήρης χάριτος καὶ δυνάµεως ἐποίει τέρατα καὶ σηµεῖα µεγάλα ἐν τῷ λαῷ) mehr als nur eine sprachliche Parallele zu sehen. 30 MOWVLEY (1984: 136) meint jedoch im Anschluss an Bultmann, freilich ohne durchschlagende Argumente nennen zu können, dass „believers have seen God’s doxa in the skēnē, that is, the sarx Iēsou“. 31 Vgl. aber Kol 1,6 (hier fungiert ἐν ἀληθείᾳ adverbial); 2Joh 3. 32 DODD 1953: 175. Mit dem Hinweis auf die Möglichkeit eines Bezugs auf den hebräischen Text kann der mögliche Einwand entkräftet werden, dass Joh 1,14.17 keine Anspielung auf Ex 34,6 ist, weil die LXX die entsprechende hebräische Wendung anders wiedergibt, denn es geht nicht an, einfach vorauszusetzen, dass der Evangelist immer nur die LXX benutzt hat und keinen Zugang zum hebräischen oder aramäischen Text der Tora bzw. von Ex 34,6 hatte. 33 Vgl. z.B. GESE 1983: 186. 34 Wenn man „Anmut, Lieblichkeit“ bzw. „Schönheit“ (objektiv) und „Dank“ (subjektiv; als Reaktion auf die konkrete Betätigung des Wohlwollens einer anderen Person) als

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ἀλήθεια ist demgegenüber ein im JohEv recht häufig anzutreffender Begriff.35 „Der Ausdruck ἀλήθεια und seine Derivate haben […] in den johanneischen Schriften eine jeweils bestimmbare semantisch-ontologische Dimension“36 wie auch in der hebräischen und griechischen Tradition. „Seine Besonderheit bekommt der Ausdruck ἀλήθεια in den johanneischen Schriften in materialer Hinsicht dort, wo in theologischer Perspektive eine semantische Näherbestimmung vorgenommen wird.“37 Hier brauchen nun nicht alle Aspekte der materialen Bestimmtheit von „Wahrheit“ im JohEv beleuchtet zu werden; stattdessen gehe ich im Folgenden aufgrund der Verknüpfung von ἀλήθεια mit dem inkarnierten Wort (V.14) bzw. Jesus Christus (V.17) im Prolog nur kurz auf die christologische bzw. theologische Dimension ein. Nach Joh 3,33, 8,26, 7,28 ist Gott, der Jesus gesandt hat, „wahrhaftig“.38 Jesus kommt also von dem wahrhaftigen Gott her. Dies ist denn auch die Voraussetzung dafür, dass Jesus von sich sagen kann: ἐγώ εἰµι ἡ ὁδὸς καὶ ἡ ἀλήθεια καὶ ἡ ζωή (Joh 14,6), womit er sich selbst mit der Wahrheit gleichsetzt. In diesem Zusammenhang ist damit gemeint, dass Jesus in seinen Werken und Worten, ja in seiner Person, Gott, den Vater, der „in ihm ist“, wie Jesus „im Vater ist“ (14,10), und daher seine Einheit mit dem Vater offenbart (14,7.9). Die Wahrheit in diesem Sinne (vgl. auch Joh 18,37) ist nach Joh 14,6 eindeutig soteriologisch konnotiert, da sie durch den Glauben zur Erkenntnis und zur Gemeinschaft mit dem Vater (14,3ff.) führt (bzw. zum ewigen Leben).39 Jesus ist die Wahrheit, und er verkündet die Wahrheit, die er unmittelbar von Gott gehört hat (8,40.45f.). Die von Jesus ausgesprochene, Leben gebende (vgl. 8,51) Wahrheit40 – nach 8,47 kontextuell unangemessen ausschließt, bleiben noch zur Auswahl „Gunst, Huld, Wohlwollen“ bzw. (etwas verständlicher) „liebevolle Zuwendung“ (die jemand gewährt oder erfährt [subjektiv]) oder „Huldbeweis, Gnadentat, Gnadenwerk“ (als konkrete Betätigung des subjektiven Wohlwollens). 35 Vgl. dazu u.a. die Arbeiten von IBUKI 1972 und DE LA POTTERIE 1977 (zwar ist der Forschungsüberblick, den DE LA POTTERIE [1977: 117–127] bietet, nicht auf dem aktuellsten Stand, doch kann er nach wie vor zur Orientierung dienen). Im Rückblick auf die v.a. „von Bultmann geprägte Diskussion“, die „von der Meinung bestimmt [ist], dass die neutestamentlichen Texte von einem hebräischen und einem davon zu unterscheidenden griechischphilosophischen Wahrheitsbegriff beeinflusst worden seien“, urteilt LANDMESSER: „Die Unterscheidung verschiedener Wahrheitsbegriffe lässt sich […] weder exegetisch noch philosophisch hinreichend begründen“ (2003: 340). 36 LANDMESSER 2003: 341 (vgl. 5,31f.; 8,13f.; 18,37 mit 4,17b.18; 10,41; 19,35 und 8,17). 37 LANDMESSER 2003: 342. 38 Vgl. auch Joh 17,3: αὕτη δέ ἐστιν ἡ αἰώνιος ζωὴ ἵνα γινώσκωσιν σὲ τὸν µόνον ἀληθινὸν θεὸν (vgl. Dtn 6,4f.) καὶ ὃν ἀπέστειλας Ἰησοῦν Χριστόν (vgl. 1Joh 5,20). 39 Zur Auslegung vgl. besonders IBUKI 1972: 208–230. 40 Wichtig ist mit Blick auf den Prolog, dass in 8,12 von Jesus als „dem Licht der Welt“ die Rede ist, welches demjenigen, der ihm folgt, „das Licht des Lebens“ geben wird, wodurch er nicht mehr in der „Finsternis (des Todes)“ umhergehen muss.

1. Desintegration

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Worte Gottes41 – bzw. der Sohn befreit (vgl. 8,32 mit V.36) von der todbringenden (8,21.24) Sklaverei der vom Vater trennenden Sünde (8,34f.)42 hin zur Gemeinschaft mit dem Vater (vgl. 8,35f.).43 Der Grund dafür, dass die Offenbarung Gottes in Jesus Christus als „Wahrheit“ bezeichnet wird, liegt nach Landmesser darin, dass „so die Exklusivität der Person Jesu hinsichtlich seiner Herkunft wie auch hinsichtlich seiner soteriologischen Funktion beschrieben [wird]“44. Was meint dann aber „Wahrheit“ in Kombination mit χάρις im Prolog? Gemäß V.15 zeugt Johannes, der gottgesandte Prophet, aus Sicht der Lesenden des JohEv gegenwärtig und permanent (µαρτυρεῖ [Ind. Präs.]45 … κέκραγεν [Ind. Perf.]46) in einem Zeugenruf47 von der Identität Jesu als inkarniertem, präexistentem Wort48 und sagt: „Dieser war49 der, über den ich sagte: ‚Der

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Vgl. Joh 17,17.19. Der Gebrauch von Leben spendender „Wahrheit“ und seinen Derivaten in Joh 8 hat seinen semantischen Gegenpol im Gebrauch von „Lüge“, die aus dem Teufel als dem Lügner schlechthin und dem Menschenmörder von Anfang an (vielleicht ein Bezug zur Sündenfallerzählung) kommt (vgl. Joh 8,44ff.), also letztlich todbringend ist (vgl. die ähnlichen Aussagen in Joh 8,21ff. zur Sünde). Vgl. dazu die erhellende Deutung von IBUKI 1972: 102: „Der Teufel hört niemanden und auf niemanden, während der Sohn im Hinhören auf den Vater diesen hört. Das bedeutet, dass der Teufel im totalen Bruch mit Gott steht. Die Lüge ist alles das, was aus diesem Bruch hervorgeht.“ 43 Vgl. IBUKI 1972: 88–116. 44 LANDMESSER 2003: 342. 45 Zumal im Kontrast zu den zuvor verwendeten Aorist-Formen (vgl. in V.14 ἐγένετο, ἐσκήνωσεν, ἐθεασάµεθα; vgl. auch die Aorist-Formen in V.6ff.) und in Verbindung mit dem nachfolgenden (οὗτος) ἦν ist das Präsens µαρτυρεῖ auffällig. Es unterstreicht, dass die folgende „Zeugenaussage“ eminent wichtig ist und relevant bleibt. Auch wenn der Täufer selbst schon lange tot ist (was wohl vorausgesetzt ist, wie sich aus Joh 3,24 erschließen lässt), seine Zeugenstimme erklingt immerfort, weil er der Prophet ist, der von Gott (Joh 1,6ff.) vor dem Christus bzw. dem Kyrios und Sohn Gottes her gesandt worden ist (vgl. Joh 3,28 mit 1,23ff. und 1,30ff.). 46 Zu diesem „Intensiv-Perfekt“ und seiner präsentischen Bedeutung vgl. VON SIEBENTHAL 2011: §200c („Bei einigen [meist älteren intransitiven] Perfekten lässt sich die vorhandene präsentische Bedeutung kaum mit einem vorausgehenden Geschehen in Verbindung bringen. Indikativ Präsens und Indikativ Perfekt werden so gut wie bedeutungsgleich verwendet, wobei der Indikativ Perfekt häufig eine Verstärkung auszudrücken scheint“). 47 Das Rufen passt gut zum jesajanischen ἐγὼ φωνὴ βοῶντος ἐν τῇ ἐρήµῳ (Joh 1,23) im Munde des Täufers. 48 (µαρτυρεῖ) περὶ αὐτοῦ und οὗτος ἦν sind anaphorisch und beziehen sich auf das inkarnierte Wort. 49 Im Vergleich mit Joh 1,30 ([οὗτός] ἐστιν), welches selbst wiederum ein modifiziertes Selbstzitat des Täufers ist (vgl. 1,27, wo eindeutig eine Rangstellung im Blick ist), erklärt sich das (οὗτος) ἦν als Anpassung an die Retrospektive des Prologs. 42

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hinter mir her Kommende50 ist (schon) vor mir zu stehen gekommen51, denn er war (immer schon) der Erste im Vergleich zu mir‘“52. Johannes bestätigt so in anderen Worten mit prophetischer Autorität den im Fokus stehenden „Tatbestand“, nämlich das, was die Augenzeugen zuvor schon über Jesu (göttliche) Identität gesagt haben; er weist somit bleibend auf Jesus hin. Der auf V.15 folgende ὅτι-Satz53 ὅτι ἐκ τοῦ πληρώµατος αὐτοῦ ἡµεῖς πάντες ἐλάβοµεν καὶ χάριν ἀντὶ χάριτος liefert einen Grund oder eine Erläuterung. Die 50 ὀπίσω kann sowohl lokal (dafür argumentiert MCHUGH 2009: 61f.) als auch temporal (so THEOBALD 2009: 132) gebraucht werden. Im zweiten Fall handelt es sich um eine relative Zeitangabe. Dagegen würde der lokale Sinn implizieren, dass Jesus ein Nachfolger des Johannes war. Daraus ließe sich leicht die Inferiorität Jesu gegenüber dem Täufer schlussfolgern. Tatsächlich gibt es im NT Stellen, wo die Konstruktion ἔρχοµαι ὀπίσω τινος verwendet wird, die ausweislich des Zusammenhangs eindeutig im Sinne von „jemandem nachfolgen“ bzw. „jemandes Nachfolger (Jünger) sein“ (im wörtlichen, aber auch übertragenen Sinne) zu verstehen ist: Mt 16,24 (vgl. die Parallele in Mk 8,34 [ὀπίσω µου ἀκολουθεῖν]); Lk 9,23; Lk 21,8. Daneben sind noch verwandte Stellen zu notieren wie Mk 4,19 = Mk 1,17 (δεῦτε ὀπίσω µου), die eindeutig auf Nachfolge (lokal und dann wohl auch metaphorisch) abheben (vgl. MCHUGH 2009: 62). Beachtet man ferner die gebräuchliche Phrase πορεύεσθαι ὀπίσω τινος in der LXX (z.B. Dtn 4,3; 6,14; 8,19; 28,14; Jos 3,3; Ri 2,12.19; 9,4.49; 19,3; 3Kgt 19,21), die im Sinne eines lokalen „hinter jemandem hergehen“ oder im Sinne eines davon abgeleiteten „jmd. nachfolgen“ zu verstehen ist, so lässt sich ein lokales bzw. übertragenes Verständnis für die Phrase in Joh 1,15 kaum von der Hand weisen (vgl. noch Joh 12,19). Demgemäß war Jesus zunächst ein Nachfolger des Täufers. 51 Trifft die in Fußnote 50 dargelegte lokal-metaphorische Deutung zu, legt sich für ἔµπροσθέν µου γέγονεν eine von der lokalen Bedeutung ausgehende metaphorische Interpretation nahe. Hier wird dann das Unterordnungsverhältnis, welches sich aus der Tatsache ergab, dass Jesus ein Nachfolger des Täufers war, umgedreht. Zum Zeitpunkt der Äußerung ist (einer) der Nachfolger des Johannes paradoxerweise schon vor ihm zu stehen gekommen (im metaphorischen Sinne) und übertrifft ihn damit schon (vgl. MCHUGH 2009: 63). Die Deutung, dass der Nachfolger des Johannes schon vor ihm da gewesen (vgl. 3Kgt 3,12 [ἰδοὺ πεποίηκα κατὰ τὸ ῥῆµά σου ἰδοὺ δέδωκά σοι καρδίαν φρονίµην καὶ σοφήν ὡς σὺ οὐ γέγονεν ἔµπροσθέν σου καὶ µετὰ σὲ οὐκ ἀναστήσεται ὅµοιός σοι]; häufiger wird in der LXX ἔµπροσθεν mit γίνοµαι im Aorist konstruiert [vgl. 3Kgt 16,25.33; 22,54; 4Kgt 18,5 und öfter]) oder vor ihm geworden sei, ist abwegig, zumal dann der Konnex zum nachfolgenden Begründungssatz kaum einleuchtet. 52 Der Grund (vgl. ὅτι) für die tatsächliche Unterordnung des Täufers unter Jesus lautet gemäß V.15f: ὅτι πρῶτός µου ἦν. µου ist ein genitivus comparationis (vgl. VON SIEBENTHAL 2011: §145a), sodass man wie oben angegeben übersetzen kann. Mit dieser Aussage kann nur die Präexistenz des Wortes, nicht aber die Geburt Jesu vor Johannes gemeint sein (dann würde man den Aorist erwarten), denn zum einen ist von einer Geburt Jesu vor der des Johannes nirgends berichtet (weder im JohEv noch in den Synoptikern) – und wie könnte diese die Vorrangstellung vor Johannes begründen? –, zum anderen knüpft ἦν an Joh 1,1ff. an, wo von eben jener Präexistenz im Verein mit der göttlichen Würde des Wortes die Rede ist. Mit der Präexistenz des fleischgewordenen Wortes ist der qualitative Unterschied zwischen Johannes und Jesus benannt. 53 ὅτι ist aufgrund der besseren Bezeugung ( 66.75 ‫ א‬B C* D L 33. 579. l 844. l 2211 pc it co; Or) und als lectio difficilior, dabei durchaus als sinnvolle, der Lesart mit καί (A C3 K

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Frage ist nur, was begründet/erläutert wird. Etwa die Zeugenaussage des Johannes in V.15? Dies wäre zwar möglich, doch die offensichtlichen terminologischen Bezüge zwischen V.14 und V.16 (vgl. τοῦ πληρώµατος54 [V.16] mit πλήρης [V.14], χάριν ἀντὶ χάριτος [V.16] mit χάριτος καὶ ἀληθείας [V.14]) sprechen eher für V.14, konkret die Phrase πλήρης χάριτος καὶ ἀληθείας und speziell das Adjektiv πλήρης.55 Dann aber wird nicht der betreffende Sachverhalt, sondern die Äußerung des Sachverhalts begründet und dieser erläutert. Denn der Empfang von Gnade ἀντὶ χάριτος aus der Fülle von „Gnade und Wahrheit“ des inkarnierten Wortes durch die „Wir alle“ kann gar nicht dessen Fülle, sondern nur das Bekenntnis der Augenzeugen von dessen Fülle begründen und so dieses erläutern oder jene Fülle durch den Empfang aus seiner Fülle erweisen. In diesem Zusammenhang ist von ἡµεῖς πάντες die Rede. Eine im Vergleich zur Gruppe der „Wir“ in V.14 größere Gruppe Christusgläubiger kommt nun in den Blick. Nicht nur wenige oder gar einer, sondern „wir alle“ haben χάρις empfangen – es liegt also ein Übermaß an χάρις vor, und deshalb ist die Rede vom Voll-Sein des inkarnierten Wortes an χάρις und ἀλήθεια angemessen. Überbietet also der Empfang von χάρις im nicht mehr zu steigernden Übermaß aus seiner Überfülle oder Vollkommenheit (von χάρις und ἀλήθεια) einen anderen Empfang von χάρις, wo eben nur wenige oder nur eine Person χάρις empfing?56 Weist die Rede vom Voll-Sein oder Vollkommen-Sein (πλήρης) des inkarnierten Wortes an χάρις καὶ ἀλήθεια und vom Empfangen aus „(seiner) Fülle (πλήρωµα)“ auf die eschatologisch-messianische Heilszeit, eine Zeit der Fülle57 und Erfüllung, hin?58 Dafür spricht der johanneische Gebrauch des mit πλήρης und πλήρωµα verwandten Verbs πληρόω;59 der Rekurs auf den

Ws Γ ∆ Θ Ψ f1.13 565. 700. 892. 1241. 1424 lat sy boms) vorzuziehen (mit SCHNACKENBURG 1986: 250; THYEN 2005: 103 gegen THEOBALD 2009: 132f., nach dessen Auslegung V.16 an V.15 anschließt). 54 Zu den Parallelen zu Kol 1,15–20 s. HOOKER 1974: 55f. Vgl. zur möglichen Rezeption im Zusammenhang des hier nicht weiter zu diskutierenden antiken Bildmotivs des (z.T. von Gnade, konkret Geld oder Weizen [vgl. z.B. AUGUSTUS, Res Gestae 15ff.; HARRISON 2011: 121]) überfließenden Füllhorns KÜCHLER 2009: 135–155. 55 Etwas anders SCHNACKENBURG 1986: 250: Der Evangelist möchte „die Herrlichkeit des Logos an der Fülle der empfangenen Gaben erläutern“. 56 Anders BARTH 1976: 142: „Nicht eine offenbar überflüssige beteuernde Verstärkung des ἡµεῖς bedeutet das πάντες, sondern […] den ausschließenden Gegensatz der πάντες zu dem Einen: wir anderen, wir übrigen alle, wir alle, die ihm vorangehen oder nachfolgen, wir stehen zu ihm in dem unumkehrbaren Verhältnis, dass wir aus seiner Fülle empfingen, was wir empfangen haben.“ 57 Vgl. SCHNACKENBURG 1986: 341. 58 Vgl. OBERMANN 1996: 81–87. 59 Das Motiv der eschatologisch-messianischen Fülle spielt im JohEv eine wichtige Rolle in Joh 2,6ff. (Wein in Fülle und von höchster Qualität [vgl. dazu SCHNACKENBURG 1986: 341]; man beachte die Häufung messianischer Titel in der vorherigen Szene) und

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Gebrauch dieser verwandten Lexeme im JohEv liegt deshalb nahe, weil πλήρης und πλήρωµα selbst im JohEv nicht mehr auftauchen. πληρόω wird im JohEv verwendet mit Bezug auf Jesu Worte (diese haben damit göttliche Autorität; s. u. zur Erfüllung der Schrift) bzgl. der Bewahrung der Jünger und der Art seines Todes (18,9.32), mit Bezug auf die „Stunde“ Jesu (7,8) und dann auch mit Bezug auf die sich in den Ereignissen der Ablehnung (12,38), des Verrats durch Judas (13,18), des grundlosen Hasses gegen Jesus und den Vater (15,25), des Verlorengehens von Judas (17,12), des Umgangs der Soldaten mit den Kleidern Jesu (19,24), der Unversehrtheit der Knochen Jesu (19,36) erfüllenden Schriftprophetien. Die Schrift kommt gemäß 19,28 mit der Vollendung (τελειόω) von „allem“ am Kreuz Jesu (d.h. dem zur Gemeinschaft zwischen Vater, Sohn und den Glaubenden führenden Heils- und Offenbarungswerk; vgl. 4,34; 17,4.23) auch zu ihrer eschatologischen Vollendung (ἵνα τελειωθῇ ἡ γραφη). Daneben erscheint πληρόω noch im Zusammenhang mit dem Geruch des Salböls, der das Haus von Lazarus und seinen Schwestern erfüllt (12,3), und der Erfüllung der Jüngerherzen durch Traurigkeit (16,6). Ein besonderes Augenmerk verdient der Konnex von πληρόω mit χαρά. So ist nach Joh 3,29 die Freude Johannes des Täufers „erfüllt“ worden (ἡ χαρὰ ἡ ἐμὴ πεπλήρωται [Perf.!]). Das Ereignis, das zur gegenwärtigen „Erfüllung“ der Freude geführt hat, ist, dass er als „der Freund des Bräutigams“ (d.h. als Brautführer, der die „Braut“ dem „Bräutigam“ zuführt)60 sich mit „unbändiger Freude freut“61 (χαρᾷ χαίρει) wegen der Stimme62 des „Bräutigams“ (3,29), der die „Braut“ hat. Die „Braut“ ist zu identifizieren mit denjenigen, die zur Taufe durch Jesus kommen (3,22.26), und diese Menschen sind aufgrund der atl. Vorgabe (Jes 62,4f; Jer 2,2; 3,20; Ez 16,8ff; Hos 2,21; Zeph 3,17) mit dem erwählten, endzeitlichen Gottesvolk gleichzusetzen (unter dem Vorbehalt des Erweises von wahrem Glauben an Jesus; vgl. 3,32.36). Der „Bräutigam“ des endzeitlichen Gottesvolkes ist gemäß jenen atl. Passagen Gott; nach Joh 3,28f. aber kann das nur Jesus, der Christus (3,28) sein, dem mit dem Geist in Fülle (3,34) auch „alles“ vom Vater übergeben worden ist (3,35). In diesem Zusammenhang ist dann die Freude des Täufers, die soweit wie möglich gesteigert worden ist durch die freudig erregte „Stimme“ des „Bräutigams“, zu interpretieren als an den Gipfelpunkt gekommene endzeitliche, „unbändige Freude“ anlässlich des verheißenen Heilsereignisses der „Hochzeit“ des „Bräutigams“ mit seiner „Braut“, dem Gottesvolk. Die weiteren Stellen mit πληρόω und χαρά (Joh 15,11; 16,24; 17,13) lassen sich so deuten, dass es um die endzeitliche, vollkommene Freude aus der andauernden, Heil gebenden (Liebes)Gemeinschaft mit dem Sohn nach seinem Weggehen zum Vater (zugleich ein Kommen zu ihnen durch den Geist; vgl. 14,18) geht. Diese Freude sollen die Abschiedsreden Jesu bewirken.

Gemäß V.16 haben „wir alle“ (also alle Christusgläubigen, die Adressaten inkludierend) aus seiner Fülle (von χάρις καὶ ἀλήθεια) empfangen, nämlich63 χάριν ἀντὶ χάριτος. Deutlich ist, dass χάριν ἀντὶ χάριτος das erste Wort des Joh 6,11ff. Damit ist Jesu Aussage in Joh 10,10 zu vergleichen, wonach er gekommen ist, damit das Gottesvolk Leben habe und(zwar) περισσὸν ἔχωσιν. 60 Vgl. THYEN 2005: 230f. 61 THYEN 2005: 231. 62 Nach THYEN (2005: 330) selbst ein Ausdruck der Freude anlässlich der Hochzeit mit seiner „Braut“. 63 Das καί ist hier am sinnvollsten explikativ aufzufassen (vgl. zu dieser Möglichkeit VON SIEBENTHAL 2011: §252,29).

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Ausdrucks χάριτος καὶ ἀληθείας aus V.14 aufgreift, wie schon ἐκ τοῦ πληρώµατος αὐτοῦ einen Rückbezug auf πλήρης darstellt. Für das Verständnis dieser Aussage – die die Gesamtdeutung des vorliegenden Prologabschnitts und (aufgrund der hermeneutischen Funktion des Prologs) des JohEv in erheblichem Maße beeinflusst – ist entscheidend, in welchem Sinne ἀντί im vorliegenden Kontext (sonst nirgends im JohEv) im Zusammenhang mit λαµβάνω gebraucht wird.64 Die einzige Möglichkeit, das ἀντί als solches ernst zu nehmen und es nicht umzudeuten in eine andere Präposition wie ἐπί,65 besteht in der Annahme, dass hier der Gedanke einer Ersetzung vorliegt. „ἀντί impliziert in diesen Fällen immer eine Negation (im Sinne von ‚anstelle von‘ oder ‚und nicht‘)“66; häufig liegt eine semantische Opposition vor. Letzteres ist hier jedoch nicht der Fall. Der Gedanke einer Ersetzung einer χάρις durch eine andere χάρις wirft Fragen auf: Um welche χάρις handelt es sich jeweils? Kommen sowohl die „erste“ (aber als zweite nach der Präposition ἀντί genannte), ersetzte χάρις als auch die an ihre Stelle tretende „zweite“ χάρις aus der Fülle des inkarnierten Wortes?67 Welche χάρις aber haben dann „wir alle“, also alle (die Adressaten wohl inkludierenden) Christusgläubigen empfangen, die schließlich durch eine neue ersetzt wurde?68 Haben „wir alle“ aus „seiner Fülle“ etwa zuerst eine minderwertige χάρις empfangen? Denn warum sonst wurde die „erste“ durch die „zweite“ χάρις ersetzt? Ist es wirklich vorstellbar, dass aus „seiner Fülle“ oder „Vollkommenheit“ etwas (Minderwertiges) empfangen wurde, was anschließend ersetzt wurde? Die Syntax fordert dieses Verständnis nicht, denn strenggenommen wurde nur die erstgenannte, ersetzende χάρις aus „seiner Fülle“ von der Gruppe der „wir alle“ empfangen.69 „Empfangen“ aus „seiner Fülle“ impliziert ein „Geben“ aus „seiner“, des inkarnierten Wortes „Fülle“. Nun spricht Joh 1,12 davon, dass er (das Wort als Licht, welches in sein „Eigentum“ oder zu den „Seinen“ kam; V.11) allen, die ihn aufnahmen bzw. an seinen Namen glaubten bzw. aus Gott gezeugt sind, die Vollmacht gab (ἔδωκεν αὐτοῖς ἐξουσίαν), Kinder Gottes zu werden (τέκνα θεοῦ γενέσθαι). Vom Kontext aus gesehen steht folglich zu vermuten, dass die aus „seiner“ Fülle empfangene 64

Vgl. u.a. EDWARDS 1988; BLUMENTHAL 2001. Vgl. den Überblick über die Forschungspositionen bei EDWARDS 1988: 3ff.; BLUMENTHAL 2001: 290f. 66 BLUMENTHAL 2001: 292. 67 In Analogie zu PHILO, post. 145. 68 Eine damit verbundene Auslegungsmöglichkeit bestünde darin, dass man nicht von einer einmaligen Ersetzung einer χάρις durch eine andere χάρις, sondern von einem ständigen Wechsel der gleichen χάρις ausgeht, sodass die erste χάρις durch eine zweite, diese durch eine dritte usw. in einer schnellen Abfolge ersetzt wird (vgl. HARRIS 1978: 1179; auch ZELLER 1990: 136; BEASLEY-MURRAY 1999: 15). Dagegen spricht jedoch der Aorist ἐλάβοµεν in Verbindung mit ἀντί. 69 Vgl. RUCKSTUHL 1985: 474. 65

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χάρις die gegebene (Vollmacht zur) Gotteskindschaft zum Inhalt hat. Sie würde dann dazu mit χάρις umschrieben, um so den Aspekt der freien, erwählenden Zuwendung Gottes in seinem Handeln an der Gruppe der „wir alle“ hervorzuheben. Und diese χάρις ersetzt eine andere χάρις. Von jener ersetzten χάρις wird in V.16 gar nicht gesagt, dass „wir alle“ sie empfangen haben. Damit hängt eine (schon von einigen Kirchenvätern favorisierte) weitere Auslegungsoption zusammen, wonach die „Gnade“, die durch den Empfang von „Gnade“ aus „seiner Fülle“ ersetzt wird, in dem durch Mose gegebenen Gesetz (V.17a) besteht.70 Diese Deutung nimmt auch den ersten Teil des nachfolgenden zweiteiligen Begründungsatzes ernst. Ihr Verdienst ist ferner, dass sie darauf aufmerksam macht, dass ein Konnex zwischen der ersetzten χάρις und der Gesetzgebung durch Mose bestehen könnte. Zu prüfen gilt es allerdings, ob man das Gesetz selbst wirklich identifizieren kann mit der ersetzten χάρις. V.17a käme bei dieser Auslegung jedenfalls nicht völlig überraschend auf die Gesetzgebung durch Mose zu sprechen. In welcher Weise aber die Gesetzgebung durch Mose und die ersetzte χάρις miteinander und diese mit der ersetzenden χάρις (der Gotteskindschaft) zusammenhängen, die „wir alle“ aus der Fülle der in Jesus Christus realisierten Gnade und Wahrheit empfangen haben, bleibt undeutlich. Aufgrund der hier „fehlenden“ semantischen Opposition (die typisch ist, wenn ἀντί verwendet wird) ist auf jeden Fall Vorsicht geboten, das in dem Gedanken der Ersetzung enthaltene Moment der Überbietung auf Kosten anderer Aspekte, die hier mitschwingen könnten, überzubetonen. Ohne Konjunktion schließt V.1871 an das Vorhergehende an (zumal an 1,172, aber auch an V.14), wobei der auf die Wirksamkeit des inkarnierten Wortes zurückblickende Modus beibehalten wird. Bringt V.18 das zuvor Gesagte mit anderen Worten noch einmal prägnant auf den Punkt, gleichsam als Leitgedanken für die eigentliche Erzählung,73 die danach (beginnend mit dem „Zeugnis des Johannes“ [Joh 1,19]) einsetzt?74 Diese Vermutung muss durch den Inhalt 70 Vgl. z.B. BROWN 1966: 16; EDWARDS 1988: 8f.; THYEN 2005: 103f.; MCHUGH 2009: 65ff. 71 THEOBALD (1988: 197) sieht in V.18 eine den Prolog „abschließende Periode“ und weist ihr eine „relative Sonderstellung“ zu, deren Verbindungen zu V.14–17 nicht einfach zu bestimmen sind. 72 Vgl. THEOBALD 1988: 207. 73 Vgl. ZUMSTEIN 2016: 87. 74 WILLIAMS zeigt, dass die frühesten Ausleger (griechische Handschriften, Lektionare, frühe Übersetzungen und Auslegungen (2011: 376–380) keinen so starken Einschnitt zwischen Joh 1,18 und V.19 gesehen haben, wie es heute üblich ist. Er folgert daraus u.a. „The insights provided by all of these earlier divisions may be able to coexist peacefully, and they may even live alongside the view that 1.18 echoes 1.1 or that there is some level of natural sense break after 1.18, provided that this is not given pre-eminence as a unity boundary. Even as we seek to discern authorial indications of natural groups of material, we should recognize that the thematic and textual connection [sic] across any boundaries in the work

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von V.18 bestätigt werden. Zunächst wird in V.18a eine universale Behauptung formuliert: „Gott hat niemand (also kein Mensch) jemals gesehen“ (Θεὸν οὐδεὶς ἑώρακεν πώποτε). Wichtig ist festzuhalten, dass hier nicht steht, dass Gott (generell oder nur für Menschen) unsichtbar wäre (vgl. z.B. 1Tim 1,17). Da οὐδείς (kein Mensch bzw. keiner von allen Menschen) das Subjekt des Satzes ist und nicht θεός, wird über die Menschen im Verhältnis zu Gott eine Aussage gemacht. Das Perfekt ἑώρακεν in Kombination mit dem umfassenden πώποτε lässt kaum eine andere Schlussfolgerung zu als die, dass diese Aussage bis in die Gegenwart des Autors und seiner Adressaten Gültigkeit hat. Dabei ist zu beachten, dass sich das Christusgeschehen vom Standpunkt des Autors und seiner Adressaten aus gesehen in der Vergangenheit befindet. Mithin hat auch das Christusereignis nichts an jener allgemeinen Feststellung geändert.75 Hinzuweisen ist hier noch auf den bedeutsamen Zusammenhang zwischen Sehen und Erkennen bzw. Kennen im JohEv (vgl. Joh 1,31.33 mit 1,33f.; 3,11; 8,38; 8,57; 14,7ff.). Demzufolge gibt es für die Menschen aus johanneischer Sicht keinen unmittelbaren Zugang zu Gott und kein unmittelbares (Er-)Kennen Gottes, das mit dem Sehen Gottes einhergeht. Ist das als Polemik zu lesen – gegen wen richtet sie sich dann; wer hat (für sich oder für jemand anderen [für wen?]) ein Sehen Gottes beansprucht76? Oder wird ein aus Sicht des Autors allgemein anerkannter Sachverhalt rekapituliert, zumal der ganze V.18a einbettende Abschnitt keinen polemischen Eindruck macht? Für diese Auffassung spricht, dass in Joh 1,18 kein Versuch unternommen wird, solch eine universale Behauptung zu untermauern. Dies aber wäre wohl nötig, wenn sie umstritten ist. Ein intertextueller Bezug zu Ex 33,20.23 würde denn auch gut zur expliziten Erwähnung der Gabe des Gesetzes durch Mose passen. Dann erhebt sich umso drängender die Frage, wie sich V.18a zu V.18b und zum Umfeld verhält. Denn V.18b wird asyndetisch angeschlossen: µονογενὴς θεὸς77 ὁ ὢν εἰς τὸν κόλπον τοῦ πατρὸς ἐκεῖνος ἐξηγήσατο. Mit vielen Auslegern are usually greater than the divisions themselves. This way of conceiving of the material, with continuity more prominent than discontinuity, is more likely to reflect the author’s own conception of the work precisely because it is more likely to reflect the physical layout of the first manuscripts of the work to be produced“ (WILLIAMS 2011: 383). 75 Vgl. 1Joh 4,12 (θεὸν οὐδεὶς πώποτε τεθέαται) und 4,20 (ὁ γὰρ µὴ ἀγαπῶν τὸν ἀδελφὸν αὐτοῦ ὃν ἑώρακεν, τὸν θεὸν ὃν οὐχ ἑώρακεν οὐ δύναται ἀγαπᾶν). Gemäß 1Joh 3,2 wird die unmittelbare Gottesschau (vgl. KLAUCK 1991: 178f.) als etwas noch Ausstehendes und für das Eschaton erwartet; sie zieht die Verwandlung in die Gottähnlichkeit nach sich. 76 Vgl. THEOBALD 1988: 259: „Das nimmt nicht nur Bezug auf eine unmittelbare Gottesschau mit leiblichen Augen, die auch das Judentum für die irdische Existenz ausschloß und für den künftigen Äon vorbehielt, sondern ist vor allem gegen die Beanspruchung einer unmittelbaren Gotteserkenntnis durch mystische Entrückung und Vision gerichtet.“ 77 Den Text µονογενὴς θεός bieten P66 ‫ *א‬B C* L syp.hmg; Orpt Did. Den Artikel ὁ vor µονογενὴς θεός haben 75 ‫א‬1 33; Clpt ClexThd pt Orpt. A C3 K Γ ∆ Θ Ψ f1.13 565. 579. 700. 892. 1241. 1424 lat syc.h.; Clpt ClexThd pt haben υἱός statt θεός, also ὁ µονογενὴς υἱός. ὁ µονογενὴς υἱός ist auf jeden Fall die „leichtere“ Lesart und entspricht Joh 3,16.18 und 1Joh 4,9. Sie ist

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fasse ich θεός als Apposition zu dem als Nomen fungierenden µονογενής auf.78 Denn die Vorstellung Jesu Christi als eines Gottes (von vielen) oder die völlige Gleichsetzung mit dem einzig(artig)en Gott ist im vorliegenden Zusammenhang völlig abwegig. Demgemäß wird der Einzigartige als Gott bezeichnet (wie in V.1, dort aber das präexistente Wort); er hat an Gottes „Wesen“ teil. Ferner fügt der Evangelist noch eine weitere Beschreibung in Form einer Metapher hinzu, die ihrerseits zumindest sachlich an Joh 1,1f. anknüpft: „der (immerfort) an die Brust/im Schoß des Vaters (gelehnt) ist79“ (ὁ ὢν εἰς τὸν κόλπον τοῦ πατρὸς). In Joh 13,23 (und nur hier im JohEv) wird eine ganz ähnliche Formulierung verwendet, allerdings steht in 13,23 ἐν + Dativ statt εἰς + Akk.80: „Einer von seinen Jüngern, den Jesus liebte, lag zu Tisch an der Brust Jesu“ (ἦν ἀνακείµενος εἷς ἐκ τῶν µαθητῶν αὐτοῦ ἐν τῷ κόλπῳ τοῦ Ἰησοῦ, ὃν ἠγάπα ὁ Ἰησοῦς). Daraus lässt sich schlussfolgern, dass die Metapher, wie auch immer man sie präzise bestimmen mag,81 in Joh 1,18 die kaum enger vorstellbare darum wohl eine absichtliche Änderung des in Kombination mit µονογενής ungleich schwierigeren θεός. Ob ursprünglich ein Artikel gestanden hat, der dann absichtlich getilgt wurde (in Angleichung an die durch den Artikel signalisierte Unterscheidung in V.1 zwischen ὁ θεός und θεός, was aber voraussetzt, dass µονογενής als Adjektiv zu ὁ θεός fungiert), ist schwer zu entscheiden; determiniert ist (jedenfalls nach der hier favorisierten Deutung der Syntax mit θεός als Apposition) µονογενής auf jeden Fall. Folglich ist die sehr gut bezeugte und sinnvolle Lesart (ὁ) µονογενὴς θεός vermutlich die ursprünglichere (vgl. METZGER 1971: 198; THYEN 2005: 105f.; v.a. die ausführliche Diskussion bei HARRIS 1992: 74–83). 78 Vgl. u.a. THYEN 2005: 106; THEOBALD 2009: 136. 79 Der zeitliche Bezug des attributiv gebrauchten Partizip Präsens ὢν ist unklar. Das Partizip als solches hat keine Zeitbedeutung, sondern drückt lediglich einen bestimmten (hier den durativen) Aspekt aus. Hebt der Satz ὁ ὢν εἰς τὸν κόλπον τοῦ πατρὸς auf den „Ort“ ab, wo sich der µονογενής jetzt, also nachösterlich, befindet, wie MCHUGH meint (2009: 71)? MCHUGH nimmt zusätzlich eine Anspielung auf Ex 3,15 (via Jes 43,10 LXX) an (vgl. 2009: 72f.), allerdings ohne durchschlagende Argumente zu nennen. Eine gewisse Parallele dazu böte sich in V.5, wenn man das im Kontext auffällige φαίνει so deutet, dass das Licht (des Lebens) nachösterlich in der Finsternis scheint, weil die Finsternis das Licht nicht überwältigen konnte, als es zum „Kampf“ zwischen Finsternis und Licht kam (dessen Kulmination das Kreuz, dessen Sieger aufgrund der Auferweckung aber Jesus war). Oder bezieht sich das Partizip auf das ständige (Gelehnt-)Sein „an die Brust des Vaters“ zeit seines irdischen Wirkens (vgl. Joh 6,46; 7,29; vgl. THEOBALD 2009: 138)? Diese Auslegungsoption fügt sich m.E. besser in die Gesamtperspektive in diesem Prologabschnitt, wo auf die nun in der Vergangenheit liegende Zeit des „Zeltens“ des inkarnierten Wortes Rückschau gehalten wird (vgl. die Aoristverben). Eine Parallele zu solch einem Gebrauch des Ptz. Präs. von εἰµί für einen vergangenen „Zustand“ findet sich in Joh 11,31 (οἱ οὖν Ἰουδαῖοι οἱ ὄντες µετ᾽ αὐτῆς ἐν τῇ οἰκίᾳ καὶ παραµυθούµενοι αὐτήν, ἰδόντες τὴν Μαριὰµ ὅτι ταχέως ἀνέστη καὶ ἐξῆλθεν, ἠκολούθησαν αὐτῇ δόξαντες ὅτι ὑπάγει εἰς τὸ µνηµεῖον ἵνα κλαύσῃ ἐκεῖ). 80 ἐν und εἰς werden im NT manchmal austauschbar gebraucht (vgl. VON SIEBENTHAL 2011: § 184g). Ob dies auch hier der Fall ist, ist angesichts der Sorgfalt, mit der der Evangelist seine Worte wählt, eher zu bezweifeln. 81 Vgl. HOFIUS 1996: 24–32; sowie die Diskussion verschiedener Deutungsmöglichkeiten (Bild der Freundschaft oder der Sohnschaft) bei THEOBALD 2009: 136f.

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Beziehung82 des Einzigartigen (Sohnes) zum Vater (analog zu der des präexistenten Wortes [vgl. Joh 1,1f.: πρὸς τὸν θεόν])83 unterstreicht.84 Die drei Beschreibungen Jesu als Einzigartiger, Gott, immerfort in enger Beziehung zum Vater stehend, zielen darauf ab (vgl. das ἐκεῖνος), ihn als qualifiziert für etwas darzustellen, was durch das Verb ἐξηγήσατο zum Ausdruck kommt.85 Seine „Qualitäten“ unterscheiden ihn von allen anderen Menschen, die in V.18a durch das οὐδείς zur Sprache kamen. Von daher erklärt sich wohl das auffällige Attribut θεός zum Subjekt „der Einzigartige“ in V.18b. Das Verständnis von V.18 ist besonders dadurch erschwert, dass das Verb ἐξηγήσατο kein explizites Objekt hat, aber eines fordert. Dies gilt auch dann, wenn die Tätigkeit als solche im Blick ist. Der Autor setzt offenbar voraus, dass sich das Objekt sehr leicht aus dem unmittelbaren Kontext erschließen lässt, weshalb es nicht eigens erwähnt werden muss. Im Zusammenhang mit der Frage nach dem Objekt steht auch die Frage, wie das Verb ἐξηγήσατο am besten zu übersetzen und zu deuten ist.86 ἐξηγέοµαι87 kann im eigentlichen Sinne mit „Anführer sein, leiten“ wiedergegeben werden. Diese Wiedergabe passt jedoch nicht ohne Weiteres in den Zusammenhang; sie wirft mehr Fragen auf als sie löst.88 Im uneigentlichen Sinne, der sich im allgemeinen wie auch im biblischen Sprachgebrauch offenbar durchgesetzt hat, meint das Verb so etwas wie „ausführen, auseinandersetzen, erzählen, darstellen, berichten, beschreiben“ und je nach Kontext auch „auslegen, interpretieren (des Gesetzes oder der Dichter)“.89 Im pagan-religiösen Sprachgebrauch schließlich ist das Wort „[o]ft t. t. für die Tätigkeit Auskunft erteilender, göttliche Geheimnisse kundtuender Priester u. Wahrsager, auch in Bez. auf d. Götter selbst gebr.[aucht]“90. Welche Bedeutung/Wiedergabe ist dem Kontext am angemessensten?

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DE LA POTTERIE sieht in der Metapher die Liebesbeziehung ausgedrückt: „En langage biblique, nous l’avons vu, ce terme exprime l’affection, l’amour (de l’homme pour la femme, de la femme pour l’homme, de la mère pour son enfant, de Moïse our son peuple). Appliquée à Dieu, ou plutôt au Père et à ses rapports au Fils, la métaphore suggère la même nuance : elle èvoque, non pas directement l’intimité, mais le rapport d’amour entre le Fils et le Père, leur réciprocité dans l’amour“ (1977: 233). 83 Vgl. THEOBALD 1988: 260f. 84 Vgl. den Hinweis auf den hebräischen Text von Spr 8,30 bei THEOBALD 2009: 136. 85 So auch THEOBALD 1988: 261. 86 ἐξηγέοµαι begegnet im JohEv (und auch in den Johannesbriefen) nicht mehr. 87 Zum Bedeutungsspektrum des Verbs s. STADELMANN 2005: 1923. 88 Vgl. die Diskussion bei OBERMANN 1996: 339f.; GUNDRY 2002: 98ff. (gegen DE LA POTTERIE, dem MCHUGH [2009: 73ff.] folgt). 89 Vgl. LXX: Lev 14,57; Ri 7,13; 4Kgt 8,5; 1Makk 3,26; 2Makk 2,13; Spr 28,13; Hiob 12,8; 28,27; im NT vgl. Lk 24,35; Apg 10,8; 15,12.14; 21,19. 90 BA, s.v., 557. Vgl. auch den Begriff des ἐξηγητής für „heidnische“ Wahrsagepriester Gen 41,8.24. Spr. 29,18 (LXX weicht vom MT ab; s. LXX.E zur Stelle [z.St.]) hat wohl

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Für Lesende, die den Text optimal verstehen möchten, ist es nicht möglich, die Anspielung auf die Gabe des Gesetzes durch Mose einfach zu übergehen. Das lässt die Art des intertextuellen Bezugs bzw. (in meiner Terminologie) die Art der intertextuellen Einschreibung nicht zu. Stattdessen muss man relevante Zusatzinformationen aus dem kulturellen Wissen, hier speziell Textwissen, aktivieren bzw. diese zuvor aus den verfügbaren atl. und (früh-)jüdischen Texten rekonstruieren, um den johanneischen Text zu verstehen.91 Die Frage, die sich nun stellt, ist, ob und auf welchen konkreten Prätext der Sinaitradition angespielt wird. Die Formulierung ἡ χάρις καὶ ἡ ἀλήθεια διὰ Ἰησοῦ Χριστοῦ ἐγένετο (V.17b) sticht aufgrund der sehr ungewöhnlichen Kombination der Lexeme χάρις und ἀλήθεια im Verein mit dem Singular ἐγένετο heraus, zumal χάρις außerhalb des Prologs im JohEv nicht mehr begegnet, hier aber gleich mehrfach und evtl. mit Bezug auf die Gabe des Gesetzes durch Mose. Möglicherweise erklärt sich diese Formulierung von der Anspielung her. Wie schon erwähnt, knüpft ἡ χάρις καὶ ἡ ἀλήθεια an V.14 an, wo die gleiche Lexemkombination (aber ohne Artikel) auftaucht. Dort wird unmittelbar vorher gesprochen vom „Zelten“ (singulär im JohEv; im NT nur noch in Apk) des fleischgewordenen Wortes und dem Schauen seiner δόξα, welche darin besteht, dass es πλήρης χάριτος καὶ ἀληθείας war. Besteht mithin ein Konnex zwischen der Herrlichkeit des fleischgewordenen Wortes und χάρις καὶ ἀλήθεια sowie der Gabe des Gesetzes durch Mose und schließlich der Aussage, dass niemand Gott jemals gesehen hat, dann lässt sich die Erzählung der „zweiten“ Gabe des Gesetzes nach der Sünde Israels mit dem goldenen Kalb (Ex 32–34) als Prätext von Joh 1,14–18 (und evtl. darüber hinaus) relativ sicher identifizieren.92 Denn in jener Erzählung ist ganz ähnlich wie in Joh 1,14–18 die Rede vom „Zelt“ (Ex 33,7), vom Zeigen bzw. SehenLassen der „Herrlichkeit“ Gottes (Ex 33,18; vgl. 33,19.22), von der Größe bzw. dem „Reichtum an Gnade und Wahrheit“ (Ex 34,6), von der „Gnade“, die Mose findet vor Gott (Ex 33,9 u.a.), von der Gabe des Gesetzes durch Mose (Ex 34,28f.32) und schließlich von der Unmöglichkeit, Gott bzw. sein „Angesicht“ zu „sehen“ (Ex 33,20). keinen „heidnischen“ Wahrsagepriester, sondern einen jüdischen Gesetzesausleger im Blick (vgl. u.a. die Erwähnung des jüdischen Gesetzes). 91 SCHWINDT sieht zwar „[d]ie atl.-typologischen Bezüge“ zur Sinaierzählung, unterschätzt aber deren Bedeutung, wenn er meint, dass diese Bezüge „nicht den Eindruck [machen], dass ihnen eine eigenständige theologische Bedeutung zukäme. Sie sind Erinnerungsstücke, die eine eher vordergründige Strukturgleichheit der Mose- und Christusoffenbarung gestalten“ (SCHWINDT 2007: 409). 92 So auch HANSON 1976: 90–101 („It would be impossible to find a scripture passage which contains more fundamental elements in common with John i. 14–18“ [1976: 95]); KUYPER 1964: 3f.; MOWVLEY 1984: 135ff.; BOISMARD 1988: 100–105; EVANS 1993: 79 (dem schließt sich auch FREY [2014: 247] an); GRAPPE 2000: 158–163; THYEN 2005: 94; PAROSCHI 2006: 111.

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Dies lässt sich auch durch die Gegenprobe erhärten: Die Kombination χάρις καὶ ἀλήθεια erscheint in der LXX so nirgends. Nimmt man daher zunächst aus heuristischen Gründen ‫ ֶח ֶסד‬und ‫ ֱא ֶמת‬als hebräische Äquivalente für χάρις καὶ ἀλήθεια an und sucht im AT nach der Kombination von ‫ ֶח ֶסד‬und ‫ ֱא ֶמת‬, stößt man auf folgende Stellen: Mit Bezug auf Gott erscheint die Kombination in Gen 24,27; 32,11; 1Sam 2,6; 15,20; Ps 25,10; 40,11f.; 57,4; 57,11; 61,8; 69,14; 85,11; 86,15; 89,15.25.34; 108,5; 115,1; 117,2; 138,2; Spr 3,3 (?); 14,22 (?); 16,6 (?); 20,28; Mi 7,20. Mit Bezug auf Menschen begegnet sie in Gen 24,49; 47,29; Jos 2,14; Jes 16,5; Hos 4,1; Sach 7,9. In einigen Texten kommt zwar im Kontext die Herrlichkeit Gottes (vgl. Ps 57,6.12; 85,10; 108,6; 115,1; 138,5) zur Sprache, dennoch sind diese Stellen nicht direkt relevant,93 da dort die Kombination der oben genannten Elemente nicht begegnet.94 Da sich in Joh 1,14–18 mehrere Elemente der besagten Episode finden, steht zu vermuten, dass der Evangelist den Zusammenhang der Erzählung wahrgenommen hat.95 Um seine in Joh 1,14–18 implizite Deutung jenes Geschehens nachvollziehen zu können und so den johanneischen Text angemessen zu verstehen, ist eine Analyse mindestens des Zusammenhangs der ins „Spiel“ gebrachten „Elemente“ im Prätext und damit des Erzählzusammenhangs von Ex 32–34 unentbehrlich. An dieser Stelle kann noch keine definitive Entscheidung hinsichtlich der Textgrundlage des Evangelisten getroffen werden, sodass im Folgenden sowohl der MT als auch die LXX und danach die Targumim sowie (früh-)jüdische Auslegungstraditionen untersucht werden sollen. Die sich aus Joh 1,14–18 ergebenden Leitfragen sind dabei folgende: Welche Rolle spielt das „Zelt/en“ Gottes? Wie wird Mose in Ex 32ff. charakterisiert? Welche Position hat er im Verhältnis zu Gott und zu Israel inne? Wer empfängt „Gnade“, und worin besteht diese? Was darf/hat Mose am Sinai von Gott sehen/gesehen? Was darf/hat er nicht sehen/gesehen und warum? Worin besteht die Herrlichkeit (Gottes) gemäß der „zweiten“ Sinaitheophanie? Was bedeutet die Wendung „reich an Gnade und Wahrheit“ in Ex 34,6?

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Indirekt vielleicht schon, denn Ps 85 spielt „unüberhörbar auf die in Ex 32–34 erzählte bzw. theologisch reflektierte Ursprungsgeschichte der Beziehung JHWH – Land (V 2a: ‚dein Land‘) – Volk (V. 3a: ‚dein Volk‘)“ (HOSSFELD/ZENGER 2000: 530) an (vgl. auch die Anspielungen in Ps 86 und die Auslegung von HOSSFELD/ZENGER dazu). Zudem ist in Ps 85,8 vom Sehen der Gnade und in V.10 vom Zelten der Herrlichkeit in „unserem“ Land die Rede. 94 Der teilweise parallele Bericht über den Bundesbruch Israels in Dtn 9f. wird hier nicht untersucht, da dort keine Rede von der Herrlichkeit sowie von der Namensoffenbarung ist, wenngleich die Gesetzgebung durch Mose erwähnt wird (Dtn 9,9ff.; 10,4). 95 Anders SCHNACKENBURG 1986: 256f.: „Ohne die Anklänge zu verkennen, wird man eher von einzelnen Motiven als einem durchgängigen typologischen Zusammenhang sprechen müssen.“

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2. Digression 2. Digression

2.1 Ex 32ff. gemäß MT96 Nach den in Ex 19,1–24,17 berichteten Ereignissen am Sinai steigt Mose auf Geheiß Gottes auf den Gipfel des Berges, „mitten hinein in die Wolke“ (Ex 24,18), mit der sich die Herrlichkeit Gottes auf den Berg niederließ (‫;וַ יִּ ְשׁכֹּן‬ Ex 24,15f.). Mose entschwindet so den Blicken des Volkes für „40 Tage und 40 Nächte“ (Ex 24,18). Nach dem Ende seiner langen Rede gibt Gott Mose „die zwei Tafeln des Zeugnisses (MT: ‫) ְשׁנֵ י ֻלחֹת ָה ֵ ֻדת‬, steinerne Tafeln, beschrieben mit dem Finger Gottes“ (Ex 31,18). Warum werden die Tafeln als Tafeln „des Zeugnisses“ bezeichnet? Ex 31,18 nimmt ja als Ausführungsnotiz die Ankündigung in Ex 25,16 auf („In die Lade aber lege das Zeugnis [‫] ָה ֵ ֻדת‬, das ich dir geben werde“); jene Aussage greift ihrerseits auf die entsprechende Ankündigung in Ex 24,12 zurück („Und der HERR sprach zu Mose: Steig zu mir herauf auf den Berg und sei dort, damit ich dir die steinernen Tafeln, das Gesetz ָ ‫ ] ַה‬und das Gebot gebe, das ich geschrieben habe, um sie zu unterweisen“) [‫תּוֹרה‬ zurück.97 Die „Tafeln des Zeugnisses“ sind demgemäß die Steintafeln, auf denen die von Gott selbst aufgeschriebene Tora steht. Ex 24,12 folgt direkt auf die Gottesoffenbarung und den Bundesschluss. Nach Dohmen „[will] Gott das gesamte Geschehen vom Sinai dadurch bestätigen und bekräftigen […], dass er etwas Besonderes gibt“98, nämlich die von ihm selbst auf Steintafeln verschriftete Tora. Die Steintafeln fungieren also als permanentes „Zeugnis“ , d.h. als Bestätigung und Bekräftigung der Gottesoffenbarung mit dem Bundesschluss am Sinai für alle nachfolgenden Generationen.99 Die lange Abwesenheit des Mittlers der Beziehung zwischen Israel und Gott und des Führers auf der Wanderung durch die Wüste führt schließlich dazu, dass das Volk – gegen Gottes Gebot (vgl. Ex 20,4.23) – Aaron dazu drängt: „Auf! Mache uns ‫ ֱא ִהים‬, die vor uns herziehen! Denn dieser Mose, der Mann, der uns aus dem Land Ägypten heraufgeführt hat, – wir wissen nicht, was ihm geschehen ist“ (Ex 32,1). Moses Platz als Mittler sollen also der/die von Aaron gemachte/n ‫ ֱא ִהים‬einnehmen (vgl. Ex 32,1 mit 32,4.7f.).100 Moberly weist darauf hin, dass Ex 34,29ff. die Frage nach der Mittlerschaft wieder aufgreift; dort wird deutlich gemacht, dass Mose ausweislich seines strahlenden Antlitzes Gottes Herrlichkeit vermittelt.101 Aaron führt jene Aufforderung aus 96 Text: BHS; Übersetzung: Revidierte Elberfelder Übersetzung (z.T. von mir modifiziert). 97 Vgl. DOHMEN 2004: 250. 98 DOHMEN 2004: 250. 99 Vgl. DOHMEN 2004: 251. 100 Vgl. CHILDS 1974: 564; MOBERLY 1983: 46: „the calf is a challenge to Moses’ leadership; it is a rival means of mediating Yahweh’s presence to the people […]“; Apg 7,39f. 101 MOBERLY 1983: 46.

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(Ex 32,2–4)102, und am nächsten Tag findet seiner Ankündigung zufolge103 „ein Fest für JHWH (‫( “)לַ יהוָ ה‬Ex 32,5) statt (vgl. Ex 32,6).104 Gott tut Mose den „Abfall“ des Volkes kund und sagt nach Ex 32,9f. MT: „Ich habe dieses Volk gesehen, und siehe, es ist ein halsstarriges Volk. Und nun lass mich, damit mein Zorn gegen sie entbrenne und ich sie vernichte, dich aber will ich zu einer großen Nation machen.“ Entsprechend seiner Funktion als Mittler „lässt“ Mose seinen (!) Gott (Ex 32,11) eben nicht. Stattdessen tritt er für das Volk ein (Ex 32,11–13) und kann Gott von seiner Absicht abbringen, Israel auszulöschen (Ex 32,14). Dann steigt Mose den Berg hinab. In seiner Hand hält er die beiden Tafeln des Zeugnisses (‫) ְשׁנֵ י לֻ חֹת ָה ֵ ֻדת‬, die Gott selbst beschrieben hatte (vgl. die Betonung in V.15f.). Als Mose das Geschehen im Lager sieht, reagiert er wie zuvor Gott reagiert hatte (vgl. Ex 32,10ff.): „da entbrannte der Zorn (‫ר־אף‬ ַ ‫ )וַ יִּ ַח‬Moses“ (Ex 32,19). Mose zerbricht in seinem Zorn die Tafeln (Ex 32,19), die er von Gott erhalten hatte, „am Fuß des Berges“ (Ex 32,19 [der Ort des ersten Bundesschlusses; vgl. Ex 24,4])105. Damit wird deutlich, dass auch der gerade erst geschlossene Bund gebrochen ist.106 Am nächsten Tag macht sich Mose auf, um bei Gott Sühnung für die „große Sünde“ (vgl. Ex 32,21.30) des Volkes zu erwirken. Diese scheint Gott jedoch zunächst nicht gewähren zu wollen (Ex 32,33ff.). Vielmehr fordert er Mose auf, mit dem Volk vom Sinai aufzubrechen und in das verheißene Land zu ziehen (Ex 33,1ff.). Entscheidend ist nun, dass Gott zwar einen "‫( ַמ ְל ָא‬vgl. Ex 32,34) vor Israel hergehen lässt, aber selbst nicht mitziehen will. Der Grund dafür wird in Ex 33,5 genannt (vgl. 32,9): „Ihr seid ein halsstarriges Volk. Zöge ich nur einen Augenblick in deiner Mitte hinauf, so würde ich dich vernichten.“ Der heilige Gott kann demnach nicht mehr inmitten des nicht mehr heiligen Israels wohnen (im Zeltheiligtum).107 Dies wird im nachfolgenden, aus dem Zusammenhang etwas herausstehenden, Textabschnitt dadurch verdeutlicht, dass Mose gemäß Ex 33,7 „das 102 DOHMEN (2004: 284) macht darauf aufmerksam, dass der Tag der Herstellung des Goldenen Kalbs und die Übergabe der Tafeln an Mose auf den selben Tag fallen. „Das vom Volk hergestellte Goldene Kalb steht unzweideutig gegen die Offenbarung Gottes, die ihren sinnenfälligen Ausdruck einerseits in den Tafeln, die Mose von Gott erhält, und andererseits in den Mose von Gott vorgelegten Anordnungen zu einem Heiligtum und seinem Kult gefunden hat.“ 103 Vgl. HOUTMAN 2000: 641: Aaron „now attempts to forestall idolatry by specifically making YHWH the focus of the worship. Aaron – not the people! – takes the name of YHWH upon his lips, so thinking he can restrict the sin to that of sin against the second commandment“. 104 Aaron als Stellvertreter Moses steht in äußerst zweifelhaftem Licht und dient so u.a. als Kontrastfolie für Mose (so CHILDS 1974: 569f.). 105 Vgl. DOHMEN 2004: 307. 106 Vgl. CHILDS 1974: 569; HOUTMAN 2000: 658; DOHMEN 2004: 307. 107 Vgl. DOHMEN 2004: 330.

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(Offenbarungs-)Zelt“ 108 außerhalb des Lagers, fern vom Lager aufschlägt, welches er „Zelt der Begegnung“ nennt. Dies steht deutlich im Kontrast zu der ursprünglichen Intention Gottes bezüglich des Zeltes der Begegnung: „Und sie sollen mir ein Heiligtum machen, damit ich in ihrer Mitte wohne (‫“)וְ ָשׁ ַכנְ ִתּי‬ (Ex 25,8109; [als Zielpunkt des Exodus:] 29,45; vgl. Ex 40,34ff. 40,28–29.32). Daran anknüpfend spricht das Buch Dtn vom „Zelten“ oder „Wohnen“ des Namens Gottes an dem „Ort“, den Gott sich erwählen wird. Folgende Auswahl von Texten soll dies belegen (vgl. daneben Ps 74[73],7): − Dtn 12,5: „Sondern ihr sollt die Stätte aufsuchen, die JHWH, euer Gott, aus all euren Stämmen erwählen wird, um seinen Namen (‫ת־שׁמוֹ‬ ְ ‫ ) ֶא‬dort niederzulegen, dass er dort wohne (‫“…)לְ ִשׁ ְכנוֹ‬ − Dtn 12,11: „dann soll es geschehen: die Stätte, die der HERR, euer Gott, erwählen wird, seinen Namen dort wohnen zu lassen (‫“…)לְ ַשׁ ֵכּן ְשׁמוֹ‬ − Dtn 14,23: „und sollst essen vor dem HERRN, deinem Gott, an der Stätte, die er erwählen wird, um seinen Namen dort wohnen zu lassen (‫“…) ְל ַשׁ ֵכּן ְשׁמוֹ‬ Im Gegensatz zur Beschreibung der Distanz des Volkes zu Gott heißt es über Mose in Ex 33,11: „Und JHWH redete mit Mose von Angesicht zu Angesicht (‫ל־פּנִ ים ָפּנִ ים‬ ָ ‫) ֶא‬, wie ein Mann mit seinem Freund redet.“ Die Wendung „von Angesicht zu Angesicht“ steht augenscheinlich in Spannung zu Ex 33,20.23. Man kann sie allerdings aufgrund des Verbs „reden“ idiomatisch verstehen.110 Mose steht in einer engen, freundschaftlichen Beziehung zu Gott wie sonst niemand in Israel (vgl. auch Num 12,6ff.; Dtn 34,10). Er ist der Offenbarungsmittler. Im Anschluss wirft Mose bei Gott für das Volk seine einzigartige, auf der Gnadenwahl Gottes beruhende Gottesbeziehung in die Waagschale. Dabei ist bemerkenswert, wie Mose gegen Gottes Absicht argumentiert, ihn zu einem großen Volksstamm zu machen (vgl. Ex 32,10).111 Mose setzt alles daran, dass Israels Beziehung zu Gott wiederhergestellt wird (Bundeserneuerung). Er tut dies, indem er Gott an dessen eigene Zusage erinnert, dass er Mose „mit Namen kennt, ja, du hast Gunst gefunden in meinen Augen“ (‫את ֵחן ְבּ ֵ ינָ י‬ ָ ‫ם־מ ָצ‬ ָ ַ‫;יְ ַד ְ ִתּי) ְב ֵשׁם וְ ג‬ 33,12).112 In den Versen Ex 33,12–17 wird die „durch nichts begründete […] 108 Da das Zelt der Begegnung noch nicht gebaut ist und V.7 einfach von „dem Zelt“ spricht, kann man annehmen, dass Moses eigenes Zelt gemeint ist (vgl. Ex 18,7: Mose und Jithro gehen „in das Zelt“ hinein [‫)]וַ ָיּבֹאוּ ָהא ֱֹהלָ ה‬. Auf jeden Fall ist klar, dass das „Zelt von Ex 33,7.11 […] das Zelt von Ex 29, in der Funktion des Offenbarungsortes [ist]. Es ist ausdrücklich ‚außerhalb des Lagers‘ (‫) ִמחוּץ ַל ַמּ ֲחנֶ ה‬, um anzuzeigen, dass seine zweite wesentliche Funktion, die Wohnstätte inmitten des Volkes, nach der Sünde des Volkes nicht möglich wird“ (DOHMEN 2004: 338). 109 Aquila, Symmachus sowie Theodotion geben das hebräische Verb für „zelten“ in Ex 25,8 (MT: ‫תוֹכם‬ ָ ‫ )וְ ָ שׂוּ ִלי ִמ ְק ָדּשׁ וְ ָשׁ ַכנְ ִתּי ְבּ‬mit σκηνώσω wieder. 110 Vgl. HOUTMAN 1993: 51. 111 Vgl. die Zusagen u.a. an Abraham in Gen 12,2; 18,18 und an Jakob in Gen 46,3. 112 Vgl. Ex 3,4; 19,9.

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Gnadenwahl Gottes“113 (vgl. Ex 33,19) ingesamt fünf Mal wiederholt.114 Sehr geschickt verwebt Mose seine Sonderstellung bzw. Erwählung (sein GnadeFinden bei Gott) mit der Erwählung Israels als Gottes Volk. So heißt es in Ex 33,13: „damit ich Gunst finde in deinen Augen, und bedenke, dass diese Nation dein Volk ist“. Laut Ex 33,13 ist Moses Erwählung Bedingung und Ziel seiner Bitte („wenn ich also Gnade gefunden habe in deinen Augen … damit ich Gnade finde in deinen Augen“). Nach Dohmen „kann es nur darum gehen, dass das, was vorausgesetzt wird, sich auch ‚sichtbar‘ erweist“. Dazu soll Gott Mose „seine Wege erkennen lassen“115. Moses Bitte nach einer „sichtbaren“ Bestätigung der Erwählung ist erfolgreich aufgrund dessen, dass er „Gunst gefunden hat in Gottes Augen“ und Gott ihn „mit Namen kennt“116. Gott sagt gemäß Ex 33,17: „Auch diesen Wunsch, den du (jetzt) ausgesprochen hast, werde ich erfüllen“. Der Zusammenhang von V.17 und V.16 beinhaltet, dass der Weg zur Erneuerung des Bundes, an den die Gegenwart Gottes im Volk geknüpft ist, nun frei ist. In Anknüpfung an die „erste“ Sinaitheophanie und im Anschluss an Ex 33,13.16 bittet Mose dann: „Lass mich doch deine Herrlichkeit ()‫ת־כּב ֶֹד‬ ְ ‫ ) ֶא‬sehen!“ (Ex 33,18).117 Nach allen bisherigen Fürbitten Moses für das Volk ist diese Bitte nicht als eine rein auf seine eigene Person bezogene zu verstehen; vielmehr kommt – damit greife ich allerdings schon etwas vor – die „sichtbare“ Bestätigung der Gnadenzusage Gottes durch die Offenbarung des Gottesnamens vor Mose in vermittelter Weise (vgl. die Herrlichkeit auf Moses Antlitz bei der Vermittlung des Gesetzes und damit des Bundes) dem Volk zugute;118 Gottes Herrlichkeit wird durch Mose vermittelt, und so wird Israel vor den Völkern ausgezeichnet. Anders gesagt: Die Namensoffenbarung vor Mose ist der höchste Ausdruck und die Bestätigung seines Erwähltseins. Daher wird er zum Mittler des mit dem Gesetz gegebenen Bundes.

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REVENTLOW 1985: 464. Die Phrase oder Formel „Gefallen finden vor“ findet sich so oder ähnlich in Gen 6,8; 18,3; 30,27; 32,6; 33,8.10.15; 34,11; 39,4.21; 43,14; 47,25.29; 50,4; 3,21; 11,3; 12,36; Num 11,11; 32,5; Dtn 24,1 u.ö; s. dazu ZIMMERLI 1973: 370f. 115 Vgl. die Verbindung des Kundtuns der „Wege“ Gottes Mose und Israel gegenüber mit dem gnädigen Charakter Gottes in Ps 103,7ff. 116 Dem (der Erwählung bzw. der Gnade und dem Beim-Namen-Kennen) entspricht die Offenbarung des Namens Gottes vor Mose. 117 Mit HARTENSTEIN ist hier anzumerken, dass „[d]er ‚Ort‘ der in Ex 33,18 erbetenen Gottesschau […] normalerweise der Tempel bzw. die mit der Tempelsymbolik verbundene mentale Szenerie der Thronsphäre Gottes [ist]“ (HARTENSTEIN 2008: 279). 118 Vgl. JACOB 1997: 954: Aus „der […] Kundgebung auf dem Berge Sinai erfahren wir das Tiefste und Letzte, was von Gott zu wissen dem Menschen frommt, und mitgeteilt wird es dem Manne, als welcher kein andrer jemals Gott näher stand und der diese Gunst einzig und allein zum Besten seines Volkes mit ebenso heißer Lieber wie beredter Klugheit geltend macht“. 114

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Auf Moses Aufforderung antwortet Gott gemäß Ex 33,19, dass er „all“ seine „Güte“ (‫ל־טוּבי‬ ִ ‫) ָכּ‬119 vor Moses „Angesicht“ vorbeiziehen lassen und seinen Namen „JHWH“ vor ihm verkünden120 und diesen so offenbaren wird. Mit „all meine Güte“ weist Gott nach Dohmen „auf das Beste“ hin, „das er – sozusagen als Quintessenz seiner Offenbarung – Mose anbietet, nämlich die Offenbarung seines Namens“121; das zweite „und“ in V.19 könnte man demgemäß als epexegetisches „und“ deuten.122 Erfasst diese Interpretation den Sinn des Textes, lässt sich folgern, dass die Namensoffenbarung in Ex 34,6f. die Erfüllung jener Ankündigung des Vorbeiziehens „all meiner Güte“ darstellt. Die beiden Vorgangsbeschreibungen „Vorbeiziehen all meiner Güte“ (V.19) und „Vorbeiziehen meiner Herrlichkeit“ (V.22) meinen ausweislich der Verwendung des gleichen Verbs (‫ )עבר‬doch wohl nicht zwei verschiedene Dinge.123 Wird vielmehr ein Vorgang bezeichnet, lassen sich die Beschreibungen als Interpretamente der Offenbarung des Namens Gottes auffassen.124 Die Verknüpfung der Herrlichkeit mit dem Namen Gottes ist im AT auf jeden Fall nicht singulär, sondern begegnet häufiger.125 Wohl als Explikation seines Namens sagt Gott (in Anknüpfung an die Offenbarung seines Namens in Ex 3,14; 6,2–8126, in Antizipation von Ex 34,6f. und im Anschluss an die Rede von der Gnadenwahl in Ex 33,12–17): „Ich werde gnädig sein, wem ich gnädig bin (‫ת־א ֶשׁר ָאחֹן‬ ֲ ‫)וְ ַחנּ ִֹת י ֶא‬, und mich erbarmen, über wen ich mich erbarme.“ Souverän/frei127 (nach anderen Auslegungen 119 „Usually in the Old Testament the goodness of God signifies his benefits which are experienced by Israel (Hos. 3:5; Jer. 31.12, 14; Ps. 27.13, etc.). Of course, the usage in v.19 is unique and without an exact parallel, but the concern is clearly to define God’s revelation in terms of his activity toward Israel“ (CHILDS 1974: 596); ähnlich DOHMEN 2004: 348; vgl. Ps 86,5; 145,9; Jes 63,7. 120 MOBERLY folgert aus dieser ungewöhnlichen Vorstellung Folgendes: „The writer reverses the customary use of the formula so as to stress the initiative of Yahweh here; men can only call upon the name of God and rehearse his attributes, as they customarily do in the cult, because at the critical moment in Israel’s history Yahweh revealed himself and proclaimed his name first. It is a striking conception of the basis of Israel’s worship“ (1983: 77). 121 DOHMEN 2004: 348; vgl. auch HOUTMAN 2000: 701. 122 Nach HOUTMAN schärft der Satz mit … ‫ וְ ַחנּ ִֹתי‬den Fokus der beiden vorhergehenden Aussagen. „YHWH is going to manifest himself to Moses as the God who is merciful and compassionate“ (2000: 702). 123 Vgl. JACOB 1997: 959. 124 Vgl. MOBERLY 1983: 77: „Yahweh is presenting an understanding of the divine glory in terms of the divine goodness. God’s glory is experienced in his graciousness“; ähnlich DOHMEN 2004: 349. 125 Vgl. z.B. Jes 48,11; 59,19; Ps 29,2; 66,2; 72,19; 79,9; 96,8; 102,16; 1Chr 16,29; Neh 9,5. 126 Zu den Bezügen zwischen Ex 33f. und Ex 3 vgl. POLAK 1996: 144ff. 127 In diesem Sinne deutet die idem per idem Formel MOBERLY 1983: 77f.; WEVERS 1990: 552; anders JACOB 1997: 960 („Hier ist der Sinn: Wer es verdient, wird Gunst und Erbarmen bei mir finden. Zu entscheiden, wer dies sein wird, behalte ich mir vor. Das

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allen/jedem128 oder überreich129) gewährte Gnade und Erbarmen bzw. Erbarmen und Mitleid sind demzufolge das, was Gottes Namen auszeichnet.130 Trotz der engen Beziehung zwischen Mose und Gott kann Mose Ex 33,20 zufolge nicht Gottes „Angesicht sehen“131: „Dann sprach er: Du kannst (es) nicht (ertragen), mein Angesicht zu sehen (‫ת־פּנָ י‬ ָ ‫ ;)לִ ְר אֹת ֶא‬denn mich sieht nicht der Mensch und lebt (‫)ל ֹא־י ְִר ַאנִ י ָה ָא ָדם וָ ָחי‬.“ Parallelen aus dem profanen Bereich legen nahe, dass es beim „Sehen des Angesichts“ Gottes darum geht, Gott selbst (vgl. Gen 44,26; 1Sam 17,11; 1Kön 10,24; 12,6; Jes 3,15), d.h. sein Wesen oder seine Person durch ein die unmittelbare Nähe zu Gott implizierendes Sehen (vgl. besonders Ex 10,28)132 zu erkennen. Der grundsätzliche Charakter der Begründung spricht dafür, dass die Unmöglichkeit eines Sehens des „Angesichtes“ Gottes mit der „qualitative and ontological difference between God and man“133 zusammenhängt.134 Folglich kann nicht einmal der Vertraute Gottes (Ex 33,11b) Gott selbst oder sein Wesen aus umittelbarer Nähe sehen, um es „fully and intimately“135 zu erkennen. Denn auch „Mose [ist] Mensch und Verhalten des Betreffenden und die Umständen werden bestimmend sein, nicht etwa eine grundlose Willkür von mir, mit der jedes weitere Fragen und Dringen abgeschnitten werden soll“). 128 Vgl. OGDEN 1992: 117: „[I]n the present context, the point being made is that God’s mercy and goodness are freely given to all the people. This we can render in translation as ‚I am/will be gracious to all; I will show mercy to everyone‘.“ 129 Vgl. HOUTMAN 2000: 701. 130 Vgl. DOHMEN 2004: 348. 131 Ohne die präpositionalen Belege ist in Ex 32–34 an folgenden Stellen vom Angesicht Gottes die Rede: Ex 32,11 („Besänftigen“ des „Angesichts“ JHWHs durch Moses); Ex 33,11 (JHWH spricht mit Mose „von Angesicht zu Angesicht“); Ex 33,14f. (das mit Mose/dem Volk gehende „Angesicht“); Ex 33,20.23 (s. Haupttext); Ex 34,20.23f. (an den drei Jahresfesten soll man nicht ohne Gaben vor dem „Angesicht“ Gottes erscheinen). Sachlich verbunden ist Ex 34,6.29–35 (das Vorbeigehen an Moses „Angesicht“ und das strahlende/verherrlichte „Angesicht“ Moses). Daneben kann man für das Motiv des „Angesichtes Gottes“ auf Num 6,25f. verweisen. 132 Auf diese Parallele macht SCORALICK (2002: 96f.) aufmerksam. 133 MOBERLY 1983: 81. 134 Vgl. JACOB 1997: 960f.: „der Mensch, dieweil, d.h. insofern, weil und während er lebt, ist nicht dazu geschaffen, seine Fähigkeit zu ‚sehen‘, ist dem göttlichen ‚Angesicht‘ inadäquat […] Diese Zurückhaltung ist nur daraus zu verstehen, dass sich der Hebräer bewusst war, was alles in dem Angesicht des wahren Gottes liege: eine nicht fassbare noch auszudenkende unermessliche Fülle und ungeheure Gewalt des Lebens und unnahbare Heiligkeit.“ 135 HOUTMAN 2000: 703. Meines Erachtens ist es jedoch etwas irreführend zu sagen, dass „YHWH’s real identity remains hidden even to Moses, YHWH’s confidant. He is so overwhelmingly great and exalted that a human can endure but a weak reflection, a glimpse of him, his contours“ (HOUTMAN 2000: 704; kursiv von mir). Legt die Namensoffenbarung gemäß dem Text etwa nicht Gottes „real identity“ offen, wenn auch nicht im Modus des Sehens?

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[bleibt] Mensch“136. Diese Art des Zugangs zu Gott ist dem (lebenden) Menschen als solchem und damit auch Mose grundsätzlich verschlossen; er muss sogar von Gott selbst vor dieser unmittelbaren Nähe beschützt werden. Mit der negativen Aussage wird aber weder Moses Person noch sein Auftrag abgewertet, sondern die Art der Offenbarung Gottes, die er empfängt und vermittelt, akzentuiert.137 Im Anschluss heißt es, dass Mose beim Vorüberziehen der Güte Gottes (Ex 33,19 MT) bzw. seiner Herrlichkeit (Ex 33,22) bzw. Gottes selbst (Ex 34,6) in einer Felsenhöhle o.ä. stehen wird, die von Gottes „Hand“ zudeckt wird. Mose wird erst dann ‫ת־אח ָֹרי‬ ֲ ‫ ֶא‬sehen,138 wenn Gott seine „Hand“ von dort 139 abzieht. Gegen die übliche Übersetzung von ‫ת־אח ָֹרי‬ ֲ ‫ ֶא‬mit „Rücken“140 spricht sich Dohmen aus. Er deutet als einer von wenigen Auslegenden den hebräischen Ausdruck zeitlich: „das Spätere, im Sinne dessen, was ‚im Nachhinein‘ zu erkennen ist“141. Dohmen bezieht dies auf die Namensoffenbarung: „Dieses ‚Nachher‘, die Offenbarung Gottes aus den Wirkungen seiner besonderen Nähe heraus […] beschreibt konsequent Ex 34,6f. in Aufnahme von Ex 33,19 in der Entfaltung der so genannten Gnadenformel als Erweis der übergroßen Barmherzigkeit Gottes“142. Alternativ wäre zu erwägen: Dass Gott besonders am Felsen präsent war, Mose dort in der Proklamation des Namens Gottes Offenbarung empfangen hat und in gewissem Sinne Gottes Herrlichkeit „gesehen“ hat, wird Mose erst im „Nachhinein“ an den Wirkungen jener Präsenz Gottes an sich selbst „sehen“ bzw. erkennen (vgl. Ex 34,29ff.). M.E. legt der Text tatsächlich nahe, wenn auch in paradoxer Weise, dass Mose die Herrlichkeit Gottes „sehen“ durfte. Dies würde dem vorherigen Gesprächsverlauf entsprechen, insofern Moses Bitten Zug um Zug von Gott gewährt werden.143 Innerhalb von Ex 33f. weisen die Verse Ex 34,10.29ff. in die Richtung eines „Sehens“ der Herrlichkeit Gottes durch Mose; auf diesen Teil der Erzählung komme ich noch zu sprechen. Wichtig ist, dass Mose, unmittelbar bevor die angekündigte Theophanie in Kontinuität, aber auch Diskontinuität144 zur „ersten“ Sinaitheophanie stattfindet, den Auftrag erhält (Ex 34,1), neue Tafeln herzustellen, auf die Gott erneut 136

DOHMEN 2004: 349. Vgl. DOHMEN 2004: 350. 138 In dieser Form und mit Gottesbezug ist der Ausdruck singulär (vgl. aber Ex 26,12; 1Kön 7,25; 1Chr 4,4; Ez 8,16). 139 Einige Ausleger meinen, Mose hätte „nur“ Gottes Rücken, nicht aber seine Herrlichkeit sehen dürfen (u.a. MOWVLEY 1984: 137; BEASLEY-MURRAY 1999: 15). 140 Diese Übersetzung wäre nach MOBERLY ohne Sachparallele im AT und in der Umwelt (vgl. 1983: 82). 141 DOHMEN 2004: 352; vgl. LIPTON 2008: 287. 142 DOHMEN 2004: 352. 143 Um das Sehen des Angesichts Gottes hatte Mose ja nicht gebeten. 144 Vgl. MOBERLY 1983: 84f. 137

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die Worte schreiben wird, wie sie auf den ersten beiden Tafeln standen. Damit wird zum einen Moses Assoziation mit der Gesetzgebung und seine Rolle als Bundesvermittler verstärkt145 und zum anderen ein Bogen zur „ersten“ Sinaitheophanie146 mit der Gabe des Dekalogs geschlagen (Ex 31,18). Zugleich umschließt das Motiv der Gesetzestafeln ausweislich von Ex 34,28f. wie eine Klammer die ganze folgende Szene. „Der mehrfache ausdrückliche Rückbezug auf die früheren Tafeln bestätigt, was aus dem angekündigten Vorüberzug Gottes zu erahnen ist, nämlich die Vergebungsbereitschaft Gottes und die daraus resultierende Ermöglichung der Gottesgemeinschaft.“147 Mose führt den ihm gegebenen Auftrag gemäß V.4 aus, sodass er die Tafeln bei sich hat, als er auf den Berg steigt.148 Ex 34,5a zufolge kommt Gott in der Wolke herab – es fällt auf, dass das eigentliche Ereignis nicht vollständig mit der Ankündigung desselben übereinstimmt. Insbesondere sticht ins Auge, dass hier keine Rede ist von (einem Sehen) der Herrlichkeit Gottes. Ferner ist im Folgenden unklar, wer nun den Namen ausruft, Mose oder Gott: „und er trat dort neben ihn, und er rief den Namen JHWH“ (‫)וַ ֵיּ ֶרד ְיהוָ ה ֶבּ ָ נָ ן וַ יִּ ְת ַי ֵצּב ִ מּוֹ ָשׁם וַ ִיּ ְק ָרא ְב ֵשׁם יְ הוָ ה‬. Auch der folgende Vers bringt keine Klärung: „Und JHWH ging vor seinem Angesicht vorüber, und er rief…“ Im Lichte von V.19 scheint es jedenfalls am plausibelsten, das Folgende als Explikation des Namens Gottes durch Gott selbst aufzufassen (vgl. Num 14,17f.).149 Als Gott vor Moses Angesicht (‫על־פּנָ יו‬ ָ ) vorbeizieht, ruft Gott gemäß Ex 34,6f.: 6

JHWH, JHWH, Gott, barmherzig und gnädig, langsam zum Zorn und reich an Gnade und Wahrheit, 7 der Gnade bewahrt an Tausenden, der Schuld, Vergehen und Sünde vergibt, aber keineswegs ungestraft läßt, sondern die Schuld der Väter heimsucht an den Kindern und Kindeskindern, an der dritten und vierten (Generation).

In einzigartiger Weise im AT wird Gottes Name150 hier durch Anhäufung verschiedener, sich in semantischer Hinsicht jedoch überschneidender Termini entfaltet (nach späterer jüdischer Exegese die sog. 13 middot [„Attribute“] Gottes)151; vor dem Hintergrund der „großen Sünde“ Israels sind die BeziehungsAttribute Gottes umso bedeutsamer.152

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Die ersten Tafeln waren noch von Gott selbst hergestellt (vgl. Ex 32,16). Vgl. für weitere Bezüge zu Ex 19 DOHMEN 2004: 353. 147 So DOHMEN 2004: 352 mit Recht. 148 Zum Sinn dessen s. JACOB 1997: 963f. 149 Vgl. CHILDS 1974: 603. 150 S. ergänzend zum Namen Gottes Ex 34,14. 151 Vgl. JACOB 1997: 969f. 152 Eine ausführliche Analyse bieten z.B. FRANZ 2003: 111–153; SCORALICK 2002: 35– 130. Daneben ist u.a. HERMANN SPIECKERMANNS Aufsatz von 1990 wichtig (darin hat er den weithin rezipierten Begriff der „Gnadenformel“ geprägt). 146

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Im Zusammenhang meiner Arbeit interessiert mich besonders die Phrase „reich an Gnade und Wahrheit“. Im hebräischen Text steht: ‫ב־ח ֶסד וֶ ֱא ֶמת‬ ֶ ‫ ַר‬.153 Eine Reihe von Forschern versteht diese Formulierung so, dass der erste Begriff ‫ֶח ֶסד‬ durch den zweiten Begriff ‫ ֱא ֶמת‬näher bestimmt wird.154 Zwar ist die Bedeutung des häufig untersuchten Wortes ‫ ֶח ֶסד‬nicht unumstritten, doch „[f]asst man die vorhandenen semantischen Arbeiten zusammen, ergibt sich: Das Wort kann eine gute Tat selbst meinen. Es bezeichnet zugleich die Gesinnung des Wohltäters, wenn diese schließlich zu Taten führt“155. In Verbindung mit ‫ ַרב‬könnten verschiedene Erweise von ‫ ֶח ֶסד‬im Blick sein, die auch nötig wären, da Gottes Zorn durch das sündige Verhalten Israels immer aufs Neue provoziert wird.156 Das Bedeutungsspektrum von ‫ ֱא ֶמת‬wird von HAL angegeben mit „1. Festigkeit, Zuverlässigkeit“, „2. Beständigkeit, Dauer“, „3. Treue“ und „4. Wahrheit“,157 wobei die einzelnen Bedeutungen nicht immer scharf voneinander zu unterscheiden sind. Fasst man ‫ ֶח ֶסד וֶ ֱא ֶמת‬in dem Sinne auf, dass der erste Begriff durch den zweiten Begriff näher charakterisiert wird, so bezeichnet die Formulierung mit Bezug auf Gott so etwas wie die beständige, verlässliche, bleibende Liebe, Güte oder Zuwendung Gottes zu seinem Volk,158 die im Zusammenhang „den tragenden Grund [bildet], der das Zurückhalten des Zorns ermöglicht“159. Die Qualifizierung von ‫ ֶח ֶסד‬durch ‫ ֱא ֶמת‬macht deutlich, dass ‫„ ֶח ֶסד‬in seiner Intention erhalten bleibt und nicht plötzlich abbricht“160. In gewisser Weise brachte dies schon ‫ ַרב‬vor ‫ ֶח ֶסד‬zum Ausdruck, ‫ ֱא ֶמת‬vertieft den Gedanken jedoch zusätzlich.161 Es ist beachtenswert, dass „[a]ls Eigenschaft […] ‫ ֶח ֶסד וֶ ֱא ֶמת‬nur von Jhwh ausgesagt [wird]“162, zumal in der Kombination mit ‫ ַרב‬.163 Dies veranlasst Clark zu der Deutung, dass die außergewöhnliche Hinzufügung von ‫ ַרב‬bei Gottes ‫ֶח ֶסד‬

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Die weiteren atl. Belege für die Kombination von ‫ ֶח ֶס ד‬und ‫ ֱא ֶמת‬sind mit Bezug auf Gott: Gen 24,27; 32,11; 2Sam 2,6; 15,20; Ps 25,10; 40,11f.; 57,4; 57,11; 61,8; 69,14; 85,11; 86,15; 89,15.25; 108,5; 115,1; 117,2; 138,2; Spr 3,3 (?); 14,22 (?); 16,6 (?); 20,28; (Jes 16,5); Micha 7,20; mit Bezug auf Menschen: Gen 24,49; 47,29; Jos 2,14; Hos 4,1; Sach 7,9. Ausführlich analysiert wurde die Konstruktion u.a. von KELLENBERGER 1982. 154 Vgl. z.B. FRANZ 2003: 126 (und die dort, in Anm. 86, genannten Forscher und Forscherinnen). 155 FRANZ 2003: 125. KELLENBERGER (1982: 79) spricht von „offenherzigem und hilfreichem Handeln“ als Ziel von ‫ ֶח ֶסד‬. 156 Vgl. KELLENBERGER 1982: 114. 157 HAL s.v. ‫ ֱא ֶמת‬, 66f. 158 Vgl. SCORALICK 2002: 55. 159 KELLENBERGER 1982: 112. 160 KELLENBERGER 1982: 114. 161 Vgl. KELLENBERGER 1982: 114. 162 FRANZ 2003: 126. 163 Von der Fülle/Größe der göttlichen Gnade/Barmherzigkeit ist auch die Rede z.B. in Ps 5,8 (Ich aber darf dank der Fülle deiner Gnade eingehen in dein Haus…); 51,3; 69,14; 106,7; Dan 3,42; vgl. auch 1QS 4,4.

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nicht so sehr auf die Quantität, sondern auf die Qualität von Gottes „verlässlicher Zuwendung“ abhebt.164 Gottes Reichtum an ‫ ֶח ֶסד וֶ ֱא ֶמת‬konkretisieren sich gemäß V.7 (vgl. die Aufnahme von ‫ ֶח ֶסד‬in V.7) u.a. darin,165 dass er „Schuld, Vergehen und Sünde“ vergibt und damit auch Israels vorangegangene Sünde. Die Namensoffenbarung wird folglich zugespitzt auf die konkrete Situation. Gott spricht den Schuldigen gemäß der Fortsetzung nicht einfach frei; Gottes Gnade ist nicht berechenbar in dem Sinne, dass man „fröhlich sündigen“ kann, weil Gott ja ohnehin vergeben wird (vgl. Ex 34,14).166 Dennoch zeigt sich hier „das Übermaß der göttlichen Barmherzigkeit gegenüber seiner Strafgerechtigkeit“167. Nach der Offenbarung des Namens Gottes wirft sich Mose eilends anbetend vor Gott nieder und sagt: „Wenn ich doch Gnade gefunden habe (‫אתי ֵחן‬ ִ ‫ ) ָמ ָצ‬in deinen Augen, Herr, so möge doch der Herr in unserer Mitte mitgehen.“ Die Bedingung, die Mose hier nennt, ist offensichtlich durch das (seine Erwählung bestätigende) Geschehen der Namensoffenbarung als erfüllt anzusehen. Daraus folgt nach Mose, dass Gott nun – aufgrund seiner Gnade – unter seinem (nach wie vor halsstarrigen [vgl. Ex 32,9; 33,3.5])168 Volk mitgehen kann und auch soll. Deshalb muss der gebrochene Bund erneuert werden (vgl. V.10 als Antwort auf die Bitte um Vergebung). Daher bittet Mose in Anlehnung an die „Gnadenrede“ (M. Franz) Gottes und in Solidarität mit dem Volk um Vergebung169 „unserer Schuld und Sünde“ bzw. „unserer Gesetzlosigkeiten und Sünden“ und schließlich darum, dass Gott „uns“ als sein Erbe/Eigentum annimmt (‫)וּנְ ַחלְ ָתּנוּ‬. Dies muss im Konnex gelesen werden mit Aussagen Gottes wie die in Ex 32,7170, die eine Distanzierung vom Volk ausdrücken, und mit Moses Bitte um Überwindung dieser Distanz und um Annahme des Volkes als „dein Volk“, aber auch in Verbindung mit Ex 19,5. Schließlich steht Israels Status als Eigentum/Volk Gottes (vgl. Ex 19,5f.) auf dem Spiel. Wird Gott auf der Basis seines Namens und aufgrund der Vermittlung seines Erwählten Mose das Volk als sein Volk vollends wieder annehmen und den Bund wiederherstellen? Auf Moses Bittgesuch geht Gott ein (Ex 34,10) und sagt: ‫וֶ ֱא ֶמת‬

Siehe, ich schließe einen Bund: Vor deinem ganzen Volk will ich Wunder tun, wie sie (bisher) nicht vollbracht worden sind (‫ )ל ֹא־נִ ְב ְראוּ‬auf der ganzen Erde und unter allen Nationen. 164

Vgl. CLARK 1993: 251. Vgl. SCORALICK 2002: 43. 166 Vgl. Sir 5,4ff. 167 DOHMEN 2004: 355. 168 MOBERLY (1983: 90) deutet das ‫ ִכּי‬dahingehend, dass dadurch angezeigt werde, „that Israel has not changed but remains as sinful as at the time of making the calf. Any change which could herald something other than their being cast off must therefore be on the part of God.“ 169 ‫„( סלח‬vergeben“) begegnet hier zum ersten Mal in der Tora (vgl. DOHMEN 2004: 357). 170 „Denn dein (Moses) Volk ()‫) ַ ְמּ‬, das du aus dem Land Ägypten heraufgeführt hast, hat schändlich gehandelt.“ 165

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2. Kapitel: Die Rezeption der Sinaitradition in Joh 1,14–18

Und das ganze Volk, in dessen Mitte du (lebst), soll das Tun JHWHs sehen; denn furchterregend (‫נוֹרא‬ ָ ) ist, was ich an dir ("‫ ) ִ ָמּ‬tun werde.

Gott will demzufolge einen Bund schließen. Aufgrund der Feststellung eines Bundesschlusses in V.27171, wo Mose und durch ihn auch das Volk im Blick sind, wird man davon ausgehen können, dass auch hier Mose und durch ihn das Volk „Bundespartner“ sind. Gott verspricht mit dem Bundesschluss zugleich Vergebung. Das Folgende ist allerdings etwas rätselhaft: Gott will etwas an Mose tun, das das ganze Volk, in dessen Mitte Mose lebt, sehen wird und das „furchterregend“ ist. Folgt man Dohmens Analyse, dann reagiert „die auf den ersten Blick so fremd wirkende Aussage schließlich doch konzentriert und pointiert auf die Fürbitte von Ex 33 […], indem sie Mose, der seine Person ganz und gar für das Volk eingesetzt hatte, um für es Vergebung zu erwirken, als einzigartigen Mittler der Offenbarung Gottes und des Bundes herausstellt.“172

Am Ende der Gottesrede (Ex 34,10–27) wird vollends deutlich, dass Gott den Bund mit Mose und (durch ihn)173 mit Israel (Ex 34,27) nun tatsächlich schließt bzw. erneuert.174 Gott (vgl. Ex 34,1 mit Ex 34,28) schreibt gemäß Ex 34,28 die „Worte des Bundes“, gemeint sind die „zehn Worte“, die auf den ersten Tafeln standen, die Mose als Zeichen des Bundesbruches zerbrochen hatte (Ex 34,1). Bund und Dekalog sind somit untrennbar verbunden. Die Voraussetzung der Gabe des Dekalogs und des damit einhergehenden Bundesschlusses (als Bundeserneuerung) ist dem Zusammenhang nach die Offenbarung des Namens Gottes, aus dem die Vergebung der Sünde/n und Schuld/Gesetzlosigkeiten Israels sowie die erneute Annahme als Volk Gottes fließen. Die Erneuerung des Bundes mit der erneuten Gabe der „zehn Worte“ ist insofern Ausdruck der Gnade Gottes.175 Als Mose vom Berg hinuntersteigt – der Text betont, dass er dabei die beiden Tafeln des Zeugnisses (‫ ) ְשׁנֵ י ֻלחֹת ָה ֵ ֻדת‬in seiner Hand hielt –, „strahlte176 die Haut seines Angesichts“ (‫ ; ָק ַרן עוֹר ָפּנָ יו‬Ex 34,29). Aufgrund dessen fürchten (‫ )וַ ִיּ ְיראוּ‬sich Aaron und alle Israeliten davor, in Moses Nähe zu kommen. Darin 171

Zum „Koinzidenzfall“ („hiermit schließe ich“) im MT vgl. DOHMEN 2004: 363.366. DOHMEN 2004: 367. 173 Vgl. JACOB 1997: 983: „Es ist Mose, mit dem Gott den Bund erneuert, und erst durch ihn und um seinetwillen mit Israel, und indem Gott mit diesem letzten Wort dem Volke seinen Ehrennamen zurückgibt, ist es in Gnaden wiederaufgenommen.“ 174 Vgl. DOHMEN 2004: 365. 175 Vgl. CHILDS 1974: 600: „The giving of the law is above all a revelation of God as ‚a God merciful and gracious, slow to anger, and abounding in steadfast love and faithfulness … forgiving iniquity, transgression, and sin…’ This essential message of the gospel did not have to await the New Testament’s proclamation, but was fundamental to the old covenant from the outset“; DOHMEN 2004: 365: „Das Gesetz, das macht Ex 34 ganz klar, ist […] Evangelium“; Ps 119,29 (‫תוֹר ְת) ָחנֵּ נִ י‬ ָ ְ‫ ;)ו‬SPIECKERMANN 2001: 27. 176 Für eine Diskussion des Verbs ‫ ָק ַרן‬in diesem Zusammenhang vgl. MOBERLY 1983: 107ff.; HOUTMAN 2000: 730ff. 172

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erfüllt sich das, was Gott Mose gemäß Ex 33,23 und nach Ex 34,10 angekündigt hatte: „Und das ganze Volk, in dessen Mitte du lebst, soll das Tun JHWHs sehen; denn furchterregend (‫נוֹרא‬ ָ ) ist, was ich an dir tun werde.“177 Die Funktion des strahlenden/verherrlichten Angesichts besteht wohl darin, zumal vor dem Hintergrund der wiederholten Ablehnung des Mose,178 die schließlich in seiner Ersetzung durch das goldene Kalb gipfelt, Mose als Vermittler der Offenbarung zu legitimieren. Die Herrlichkeit auf seinem Angesicht zeugt von seiner Begegnung mit Gott, als er mit Gott sprach (vgl. Ex 34,29). Seine Worte sind mithin vermittelte Offenbarung, ja, Mose selbst wird „geradezu mit der Offenbarung identifiziert“179 (Ex 34,34f.). So „wird ‚Mose‘ zum Inbegriff der von ihm vermittelten Offenbarung, der ‚Tora‘“180. Moses „Schau“ der Herrlichkeit Gottes in der Offenbarung des Namens Gottes und der Glanz auf seinem Angesicht bestätigen seine Sonderstellung bei Gott. Durch ihn als Vermittler gibt Gott das Gesetz und erneuert Gott den Bund (impliziert ist dabei die Vergebung der Sünden). 2.2 Ex 32ff. gemäß LXX181 Der Verlauf der Erzählung, wie ihn die LXX schildert, entspricht in Ex 32ff. im Wesentlichen dem des MT. Daher braucht dieser hier nicht wiederholt zu werden. Stattdessen notiere ich im Folgenden nur solche Abweichungen der LXX vom MT und diejenigen griechischen Wiedergaben des hebräischen Wortlauts, die im Rahmen der vorliegenden Untersuchung von Joh 1,14–18 (einschließlich des Umfelds dieser Textpassage) relevant sind oder zumindest relevant sein könnten. Nach dem „Abfall“ Israels droht Gott dem Volk gemäß Ex 33,5 LXX, die hier etwas ausführlicher ist als der MT: „Ihr seid ein halsstarriges Volk; passt auf, dass ich nicht einen weiteren Schlag (vgl. Ex 32,35) gegen euch führen und euch völlig auslöschen werde.“ Interessanterweise sollen die Israeliten nach Ex 33,5 LXX nicht nur ihren Schmuck ablegen (so auch der MT), sondern auch „eure Gewänder der Herrlichkeit“ (τὰς στολὰς τῶν δοξῶν ὑµῶν). John William Wevers deutet diese als „the festal garments which the Israelites wore when worshipping the golden bull calf“182. Die sprachlichen Parallelen zu Sir 6,29.31; 50,11 deuten vielleicht in eine andere Richtung: Durch das Ablegen der „Gewänder der Herrlichkeit“ wird der Verlust von Israels Status als Priesternation (Ex 19,5) zum Ausdruck gebracht. 177

Vgl. JACOB 1997: 973 (mit weiteren jüdischen Auslegern); DOHMEN 2004: 366. Vgl. Ex 4,1; 5,21; 6,9; 14,11ff.; 15,24; 16,2.7ff.; 17,2ff.; besonders Num 12. 179 DOHMEN 2004: 374. 180 DOHMEN 2004: 375. 181 Text: GÖLXX (für Ex und Dtn) bzw. RAHLFS (als Modul in dem Computerprogramm BibleWorks 9); Übersetzung: LXX.D. 182 WEVERS 1990: 543. 178

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2. Kapitel: Die Rezeption der Sinaitradition in Joh 1,14–18

Im gleichen Atemzug mit der Distanzierung Gottes vom Volk wird die Nähe Moses zu Gott geschildert. So muss „jeder, der den Herrn sucht“, aus dem Lager hinaus- und zum fernab aufgestellten Zelt Moses (Ex 33,7: τὴν σκηνὴν αὐτοῦ; anders MT: ‫ת־הא ֶֹהל‬ ָ ‫) ֶא‬, bzw. „Zelt des Zeugnisses“ (das Zelt also, wo sich die als Bestätigung der Gottesoffenbarung fungierenden Steintafeln mit der verschrifteten Tora befinden; MT: „Zelt der Begegnung“) gehen. Dort redete Gott mit Mose ἐνώπιος ἐνωπίῳ (Ex 33,11). Der Übersetzer „affirms that Yahweh spoke with Moses ‚person to person,‘ with direct interaction, but in the perspective of the translator this did not include the opportunity for Moses actually to see Yahweh’s person“183. Gott „kennt“ Mose gemäß Ex 33,12 LXX „besser als alle, und du hast Gefallen gefunden bei mir“. Das griechische Wort für „Gefallen“, welches man auch mit „Gnade“ übersetzen kann, ist χάρις (als Wiedergabe von ‫) ֵחן‬. Es taucht im weiteren Verlauf des Textes immer wieder auf, wenn Mose seine Erwählung mit der Erwählung Israels zum Volk Gottes verwebt. So heißt es in Ex 33,13 LXX: „dass ich Gefallen (χάριν) vor dir gefunden habe und damit ich weiß, dass dieser Volksstamm dein Volk ist“ (LXX). Nach 33,16 LXX sagt Mose: „Und wie soll es unzweifelhaft erkennbar sein, dass ich bei dir Gefallen (LXX: χάριν für MT ‫ ) ֵחן‬gefunden habe, ich und dein Volk…“ Und direkt danach: „Und ich werde verherrlicht (LXX.D: gepriesen) werden (ἐνδοξασθήσοµαι), ich und dein Volk, mehr als alle Volksstämme, die auf der Erde sind.“ Moses Erwählung soll sich „sichtbar“ erweisen. Dazu soll Gott „selbst ihm erscheinen“ oder „sich selbst ihm offenbaren“ (ἐµφάνισόν µοι σεαυτόν).184 Ferner bittet Mose Gott: „Lass mich doch deine Herrlichkeit (τὴν σεαυτοῦ δόξαν) sehen!“ (Ex 33,18). Daraufhin will Gott gemäß Ex 33,19 LXX in seiner Herrlichkeit vor Mose vorbeiziehen (ἐγὼ παρελεύσοµαι185 πρότερός σου τῇ δόξῃ µου; MT: ‫ל־טוּבי‬ ִ ‫) ָכּ‬. Dann wird Gott vor Mose seinen Namen „Herr“ verkünden (καὶ καλέσω ἐπὶ τῷ ὀνόµατί µου κύριος ἐναντίον σου); und er wird sich „erbarmen“, wessen er sich „erbarmt“ (ἐλεήσω ὃν ἂν ἐλεω), und „bemitleiden“, wen er „bemitleidet“ (καὶ οἰκτιρήσω ὃν ἂν οἰκτίρω). Durch ihre Änderung von „Güte“ zu

183

PERKINS 2013: 41. So auch LXX.E z.St. Vgl. zur Diskussion LXX.E z.St. („der oft in der ExLXX zu beobachtende ‚Ordnungssinn‘ der Übersetzer und die ebenso feststellbare Tendenz zur ‚Erklärung‘ des Textes durch Glättungen“ [2011: 318] sprechen dafür, das ἐµφάνισόν µοι σεαυτόν abstrakter als gemeinhin angenommen aufzufassen, sodass V.13 als Antizipation von V.18 verstanden werden kann. Sowohl V.13 als auch V.18 laufen dann auf V.19 zu – „und da geht es ja sehr wohl um Offenbarung, aber gerade nicht um die Sichtbarkeit Gottes für den Menschen“ [2011: 318]). 185 Die letzte Erwähnung vom Vorbeiziehen Gottes findet sich im Zusammenhang der Passahnacht, als Gott „vorbeizog“, um die Ägypter zu „schlagen“, Israel aber bei diesem „Vorbeiziehen“ durch das Blut auf dem Türrahmen geschützt war (Ex 12,23). Von einem schonenden „Vorbeiziehen“ Gottes ist auch in Am 7,8; 8,2 die Rede. 184

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„Herrlichkeit“186 unterstreicht die LXX den Konnex zwischen Gottes Herrlichkeit und seinem Namen.187 In der Offenbarung seines Namens besteht demnach Gottes Herrlichkeit. Treffend ist dies in LXX.E kommentiert: „Die Selbstoffenbarung Gottes ist die Offenbarung seines Namens, nicht sein Sichtbarwerden für Menschen.“188 Obwohl Mose in einer engen Beziehung zu Gott steht, darf er Ex 33,20 zufolge nicht Gottes „Angesicht sehen“189: „Du sollst mein Antlitz nicht erblicken (ἰδεῖν µου τὸ πρόσωπον) können; denn auf keinen Fall wird ein Mensch mein Antlitz sehen (οὐ γὰρ µὴ ἴδῃ ἄνθρωπος τὸ πρόσωπόν µου) und dann weiterleben (καὶ ζήσεται).“ Dies wird in V.23 noch verstärkt. Die LXX deutet und übersetzt V.23 so: „Und ich werde meine Hand wegziehen, und dann wirst du τὰ ὀπίσω µου (LXX.D: meinen Rücken)190 sehen, mein Angesicht (τὸ πρόσωπόν µου) aber soll nicht von dir gesehen werden.“

186 Demnach wird Gottes „Güte“ mit seiner „Herrlichkeit“ identifiziert (vgl. SOMMER 2000: 58f.). 187 Vgl. LXX.E 2011: 319. Nach DAMGAARD (2013: 43) wird eine zunehmende Betonung auf einer „name-of-God theology“ sichtbar. Als ein Beispiel nennt er Lev 24,16 (MT: „Und wer den Namen JHWHs lästert, muss getötet werden“ [‫וּמת‬ ָ ‫ ;]וְ נ ֵֹקב ֵשׁם־ ְי הוָ ה מוֹת י‬LXX: „Wer aber den Namen des Herrn nennt, soll durch den Tod hingerichtet werden“ [ὀνοµάζων δὲ τὸ ὄνοµα κυρίου θανάτῳ θανατούσθω]). 188 LXX.E 2011: 319. 189 Die LXX gibt die Stellen, wo im hebräischen Text von Ex 32ff. vom „Angesicht Gottes“ die Rede ist, unterschiedlich wieder: Gemäß Ex 32,11 LXX „betete Mose vor (ἐδεήθη Μωυσῆς ἔναντι) dem Herrn“ (MT: „Besänftigen“ des „Angesichts“ JHWHs durch Moses Fürbitte); nach Ex 33,11 LXX spricht Gott mit Mose ἐνώπιος ἐνωπίῳ (MT: JHWH spricht mit Mose „von Angesicht zu Angesicht“); Ex 33,14f. LXX zufolge sagt Gott: „ich selbst werde dir vorangehen (αὐτὸς προπορεύσοµαί σου)“ (im MT ist die Rede von dem mit Mose/dem Volk gehenden „Angesicht“); Ex 33,20.23 (s. Haupttext); in Ex 34,20.23f. LXX wird Israel geboten: „vor mir (ἐνώπιόν µου)“ bzw. „vor dem Herrn“ (ἐνώπιον κυρίου oder ἐναντίον κυρίου) erscheinen“ (MT: an den drei Jahresfesten soll man nicht ohne Gaben vor dem „Angesicht“ Gottes erscheinen;). In Num 6,25f., wo ebenfalls die Rede ist vom „Angesicht Gottes“, weicht die LXX von der hebräischen Vorlage ab. Die Wendung ἐπιφάναι κύριος τὸ πρόσωπον αὐτοῦ ἐπὶ σὲ καὶ ἐλεήσαι σε scheint eine Bitte um ein göttliches Eingreifen zugunsten seines Volkes bzw. eine Theophanie zu implizieren (vgl. 3Makk 6,18; JOOSTEN 2012: 164). 190 Für „Rücken“ als Körperteil steht im Griechischen z.B. das Nomen νῶτος zur Verfügung. Für „Rücken“ als Referenzobjekt wäre die Konstruktion mit ἐκ τῶν ὀπίσω (+ Pronomen im Genitiv) auch möglich, wie sie belegt ist in Ex 14,19 („die Wolkensäule erhob sich vor ihnen [ἀπὸ προσώπου αὐτῶν] und stellte sich hinter sie [καὶ ἔστη ἐκ τῶν ὀπίσω αὐτῶν]“); Ex 26,22 (Und an der Rückseite des Zeltes [ἐκ τῶν ὀπίσω τῆς σκηνῆς], and der Seite, die zum Meer hinzeigt, sollst du sechs Säulen machen“; Dtn 11,4 (…da sie [sc. das ägyptische Heer] euch verfolgten [καταδιωκόντων αὐτῶν ἐκ τῶν ὀπίσω ὑµῶν]); 2Kgt 2,23 („Aber er wollte nicht von ihm ablassen. Und Abenner schlug ihn mit der Rückseite des Speeres [ἐν τῷ ὀπίσω τοῦ δόρατος] in die Lende, und der Speer drang durch [und kam] aus seinem Rücken [ἐκ τῶν ὀπίσω αὐτοῦ] [wieder heraus]) und öfter.

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Muraoka gibt für ὀπίσω als Präposition mit Genitiv folgendes Bedeutungsspektrum an. „1. behind (of place). 2. close behind in time“191. In einer dritten Kategorie verzeichnet er diverse andere Stellen, wo τὰ ὀπίσω mit unterschiedlichen Bedeutungen erscheint, u.a. Ex 33,23. Eine Durchsicht der LXX-Belege für τὰ ὀπίσω ergibt folgendes Bild: Im Pentateuch wird τὰ ὀπίσω nicht sehr häufig gebraucht, einerseits mit εἰς und ohne zusätzlichem Pronomen wie in Gen 19,17.26; Gen 49,17, andererseits ohne εἰς und mit zusätzlichem Pronomen wie in Dtn 24,20. Außerhalb des Pentateuchs erscheint es mit εἰς und ohne zusätzlichem Pronomen in Jos 8,2; 2Kgt 1,22; 4Kgt 20,10; 1Makk 9,47; Ps 49,17, mit εἰς und mit zusätzlichem Pronomen in Jos 8,20 (vgl. 2Kgt 1,7; 2,20); 4Kgt 9,18f. In Joel 2,20 gibt die LXX.D τὰ ὀπίσω zwar mit „Rücken“192 (und τὸ πρόσωπον αὐτοῦ mit „sein Angesicht“) wieder, aber da mit dem Objekt „den vom Norden“ das zahlreiche und starke „Volk“ bzw. die „Armee“ (vgl. Joel 2,2ff.) vom Norden gemeint ist, ist wohl kaum „Angesicht“ und „Rücken“, die Körperteile (eines Menschen) suggerieren, zu übersetzen, sondern die Vor- bzw. Nachhut des feindlichen „Heeres“.193

Erstaunlich ist, dass τὰ ὀπίσω sich in der LXX außer in Ex 33,23 nie mit Bezug auf Gott findet. Es gibt keine stichhaltigen Belege in der LXX für die Bedeutung der Wendung τὰ ὀπίσω + Pronomen im Sinne von „Rücken“ als Körperteil. Aber auch sonst passt die Vorstellung des Sehens des „Rückens“ Gottes schlecht in den Zusammenhang von Ex 33f., weil sie ein Abwenden Gottes impliziert. Daher halte ich die obige Auslegung des hebräischen auch für den griechischen Text für sachgemäß, die besagt, dass τὰ ὀπίσω µου im zeitlichen Sinne aufzufassen ist (das, was „hinter“ Gott kommt, als das „Spätere“, im Sinne dessen, was „im Nachhinein“ erkennbar ist von Gott). Bei der Frage, ob Mose aus Sicht der LXX die Herrlichkeit Gottes „geschaut“ hat oder nicht, spielt auch Num 12,8 LXX eine wichtige Rolle. Im Zusammenhang der göttlichen Legitimation des Mose angesichts von Versuchen, seine Autorität zu relativieren, wird sein enges Verhältnis zu Gott beschrieben. Dabei heißt es in Num 12,8: „Mit ihm rede ich von Mund zu Mund, im Sehen (‫ ) ַוּמ ְר ֶאה‬und nicht in Rätselworten, und die Gestalt JHWHs (‫ ) ְוּת ֻמנַ ת ְיהוָ ה‬schaut er. Warum habt ihr euch nicht gefürchtet, gegen meinen Knecht, gegen Mose, zu reden?“ Die LXX weicht deutlich davon ab194: „Von Mund zu Mund werde ich 191

MURAOKA 2009: 500. „Und den vom Norden (vgl. 2,2) werde ich wegtreiben von euch und ihn hinausstoßen in wasserloses Land, und verschwinden lassen sein Angesicht (τὸ πρόσωπον αὐτοῦ) in das erste Meer und seinen Rücken (τὰ ὀπίσω αὐτοῦ) ins letzte Meer, und aufsteigen wird seine Fäulnis, und aufsteigen wird sein Gestank…“ 193 Vgl. Joel 2,3: „Vor ihm (τὰ ἔµπροσθεν) ist ein verzehrendes Feuer und hinter ihm (τὰ ὀπίσω αὐτου) eine auflodernde Flamme; wie ein Garten der Üppigkeit ist das Land vor seinem Angesicht (πρὸ προσώπου αὐτου) und nach ihm (τὰ ὄπισθεν αὐτοῦ) eine Ebene der Vernichtung, und keiner wird gerettet werden.“ Mit dem „Volk“, „Heer“ usw. könnte aufgrund der Vergleiche in V.4f. und wegen der Erwähnung „der Heuschrecke“ usw. in 2,25, das „mein großes Heer“ (ἡ δύναµίς µου ἡ µεγάλη) genannt wird, eben jene Heuschreckenplage zu verstehen sein. 194 Dabei gibt es keine guten Gründe zur Annahme einer anderen Textvorlage (vgl. DORIVAL 1995: 264). 192

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mit ihm reden, in einer sichtbaren Gestalt (ἐν εἴδει) und nicht in Rätseln, und den Glanz [oder die Herrlichkeit] des Herrn hat er gesehen (τὴν δόξαν κυρίου εἶδεν)…“ Die Formulierung mit dem Aorist εἶδεν weist auf eine konkrete Situation in der Vergangenheit hin, wo Mose die Herrlichkeit Gottes gesehen hat, die ihn in besonderer Weise als Vertrauten Gottes auszeichnet. Im Erzählverlauf kann damit eigentlich nur auf Ex 33f. zurückverwiesen werden (vgl. Sifre Num §103).195 Wie schon im MT ist auch im Text der LXX unklar, wer den Namen Gottes ausruft. Der griechische Text lässt sich so deuten, dass zuerst Mose (Ex 34,5c) mit dem Namen des Herrn (diesen) ruft. Daraufhin nennt/ruft Gott selbst seinen Namen (Ex 34,6b), als er (Gott) vor Moses Angesicht (πρὸ προσώπου αὐτοῦ) vorbeizieht: 6 Der Herr, der Herr, Gott, mitleidig und barmherzig, langmütig und mitleidsvoll und wahrhaftig (πολυέλεος καὶ ἀληθινός), 7 und er bewahrt die Gerechtigkeit und verhält sich mitleidig gegen Tausende, er vergibt Gesetzlosigkeiten und Ungerechtigkeiten und Sünden; und er wird den Schuldigen nicht freisprechen; er überträgt die Gesetzlosigkeiten der Väter auf die Kinder und Kindeskinder bis in die dritte und vierte Generation. (Ex 34,6f. LXX)

Die LXX gibt ‫ב־ח ֶסד וֶ ֱא ֶמת‬ ֶ ‫ ַר‬adjektivisch wieder196: „und mitleidsvoll und wahrhaftig“ (καὶ πολυέλεος καὶ ἀληθινὸς; vgl. Num 14,18197; Ps 85,15)198. Es gibt jedoch auch LXX-Belege für andere Übersetzungen von ‫ ֶח ֶסד וֶ ֱא ֶמת‬z.B. durch die Substantive δικαιοσύνη καὶ ἀλήθεια (vgl. z.B. Gen 24,27; 32,11) oder ἐλεηµοσύνη καὶ ἀλήθεια (z.B. Gen 47,29). Interessant ist, dass zur Wiedergabe von ‫ נ ֵֹצר ֶח ֶסד‬in V.7 ein einfaches ἔλεος διατηρῶν offenbar nicht ausreicht, sondern es zweier sich gegenseitig ergänzender Phrasen bedarf, nämlich δικαιοσύνην διατηρῶν und ποιῶν ἔλεος.199 Die Übersetzer der LXX erblickten in der Phrase ‫ נ ֵֹצר ֶח ֶסד‬an dieser Stelle mehr semantisches Potential, als ἔλεος allein abbilden konnte, wenngleich ‫ ֶח ֶסד‬in der

195

Vgl. RÖSEL 2001: 37, Anm. 44. DORIVAL (1995: 264) schlägt Ex 24,17 als Prätext vor, was aber der Funktion von Num 12,8 gerade zuwiderlaufen würde, denn nach Ex 24,17 sahen ja nicht nur Mose, sondern noch andere die Herrlichkeit Gottes. 196 Haben die Übersetzer die entsprechenden hebräischen Ausdrücke also nicht so aufgefasst, dass „Wahrheit/Treue“ die „Gnade“ näher bestimmt? 197 Im masoretischen Text gibt es kein Äquivalent zu ἀληθινός. Bemerkenswert ist die Wiedergabe der Wendung in V.19 der LXX. 198 πολυέλεος allein begegnet noch in Neh 9,17 (hier „fehlt“ zwar das Adjektiv ἀληθινός, doch könnte der Satz καὶ οὐκ ἐγκατέλιπες αὐτούς und das darauf Folgende ein semantisches Äquivalent darstellen), 3Makk 6,9; Ps 85,5; 102,8; 144,8; Od 12,7; Joel 2,13; Jona 4,2. 199 Vgl. WEVERS 1990: 557.

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LXX meist mit ἔλεος wiedergegeben wird,200 sehr selten aber mit χάρις201 (vgl. [mit Bezug auf Menschen] Esth 2,9.17; Sir 7,33); wenn es ein hebräisches Äquivalent für χάρις gibt, ist dieses zumeist ‫ ֵחן‬.202 Jedoch haben spätere Übersetzungen der hebräischen Bibel ins Griechische ‫ ֶח ֶסד‬z.T. mit χάρις wiedergegeben, wenn auch nicht in Ex 34,6. So zählt u.a. Kellenberger folgende Belege auf, die zeigen, dass diese Wiedergabe in der Antike zumindest möglich war:203 Symmachus hat χάρις für ‫ ֶח ֶסד‬in 1Sam 10,2; Jer 31,2; Ps 31,8; 89,25; χάρις καί ἀλήθεια in 1Sam 2,6; Ps 40,11. Theodotion bietet diese Wiedergabe in Jer 31,2; Spr 31,26. Eigentlich ist es erstaunlich, dass die LXX so konsequent ἔλεος für ‫ ֶח ֶסד‬verwendet.204 Denn obwohl die beiden Begriffe ‫ ֶח ֶסד‬und ἔλεος eine semantische Schnittmenge aufweisen,205 gibt es auch deutliche Unterschiede. 1. „ἔλεος ist im griechischen ein πάθος, nämlich der Affekt der Rührung, die jemanden angesichts eines Übels, das einen andern (unverschuldet) betroffen hat, ergreift“206. ‫ ֶח ֶסד‬dagegen beschreibt nicht einen Affekt, der jemanden ergreift, sondern eine Haltung oder Gesinnung.207 In einen Bundeskontext fügt sich ἔλεος, von der lexikalischen Bedeutung her gesehen, eigentlich nur schlecht im Gegensatz zu ‫ ֶח ֶסד( ֶח ֶסד‬setzt in der lexikalischen Bedeutung allerdings kein Bundesverhältnis voraus). 2. ‫ ֶח ֶסד‬kann jedem und jeder gegenüber entgegengebracht werden und beinhaltet nicht notwendigerweise eine Herablassung eines Stärkeren zum Schwächeren; ἔλεος beinhaltet dagegen immer das Moment der spontanen Herablassung und ist einseitig. Es ist zwar grundsätzlich denkbar, 200 Vgl. JOOSTEN 2012: 97 (in 213 Fällen [von insges. 245]). Der LXX-Pentateuch übersetzt ‫ ֶח ֶסד‬an einigen Stellen (7x von 20 Vorkommen) mit δικαιοσύνη (vgl. Gen 19,19; 20,13; 21,23; 24,27; 32,11; Ex 15,13). 201 Vgl. CONZELMANN 1973: 379: „χάρις wird in der LXX nicht zum theologischen Begriff.“ 202 Vgl. EßER 2005: 818. Für ‫ ֵחן‬steht z.B. in Gen 19,19 und Num 11,15 ἔλεος aufgrund des Kontextes. Die meisten Belege für χάρις finden sich in der Formel „Gnade/Gunst finden in den Augen“ bzw. „vor“ jemandem, der stärker oder mächtiger ist. Zu beachten ist jedoch, dass in der LXX das mit ‫ ֵחן‬verbundene und häufig mit Bezug auf Gott gebrauchte Verb (ca. 41x, in der Mehrzahl in den Psalmen [vgl. z.B. Ps 4,2; 6,3; 41,5]) ‫( חנן‬ca. 56x im AT) z.B. in Ex 33,19 mit dem Verb ἐλεέω übersetzt wird (vgl. ZIMMERLI 1973: 369). 203 Vgl. KELLENBERGER 1982: 180, Anm. 7. Aus Sicht SPIECKERMANNS darf aufgrund der Semantik von ‫ ֶח ֶסד‬durchaus das Wort „Gnade“ verwendet werden, „weil dadurch der biblisch-theologische Brückenschlag zum Gnadenverständnis des Neuen Testaments ohne Begriffsverwirrung vollzogen werden kann“ (2001: 23). 204 Für das Folgende vgl. v.a. JOOSTEN 2012. 205 Daher passt die Wiedergabe aufgrund des Kontextes manchmal besser (vgl. z.B. Gen 40,14) und manchmal schlechter (vgl. z.B. Gen 24,49). Ergibt sie jedoch keinen Sinn, wird sie vermieden vgl. z.B. Gen 20,13). 206 BULTMANN 1935: 474. 207 Ähnlich JOOSTEN 2012: 99; vgl. auch SPIECKERMANN 2001: 27 (mit Blick auf Ex 34,6): „Die Gnade ist […] kein Affekt, sondern Gottes wesentliche Selbstbestimmung, wie sie angesichts der Urschuld Israels offenbar geworden ist.“

2. Digression

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dass ἔλεος innerhalb der LXX eine neue oder zusätzliche lexikalische Bedeutung annehmen kann, doch ist dies nach Joostens Analyse für ἔλεος nicht der Fall.208 Allerdings gewinnt ἔλεος eine komplementäre syntagmatische Bedeutung,209 wenn ἔλεος in Verbindung mit Ausdrücken wie „Wahrheit“/„Treue“ o.ä. steht (so besonders in den Psalmen). Das Gleiche gilt für Zusammenhänge, wo Bundesterminologie begegnet, wie eben in Ex 34,6.210 Weshalb haben die Übersetzer nicht das scheinbar gut dafür geeignete Wort χάρις als Wiedergabe für ‫ ֶח ֶסד‬benutzt? Eine Antwort auf diese Frage ist u.a. angesichts der Möglichkeit einer „semantic evolution“ von Begriffen nicht einfach, zumal die heutigen Forscher sich nicht einig sind, worin die Bedeutung der beiden Lexeme ‫ ֶח ֶסד‬bzw. χάρις jeweils besteht. Wenn man wie Harrison ‫ – ֶח ֶסד‬im Anschluss an die mittlerweile überholte Arbeit von N. Glueck211 – definiert als Beschreibung für „a wide variety of mutually obligatory relationships between human beings“212 und χάρις ein „central leitmotiv of the Graeco-Roman reciprocity system“ ist, dann ist es tatsächlich „strange that the standard Hebrew term for covenantal grace – hesed […] is not translated as χάρις in the LXX“213, wenn doch die Begriffe etwas Ähnliches meinen. Allerdings muss man auch dann staunen, dass χάρις in der LXX kein theologisch bedeutsamer Begriff ist,214 wenn man ‫ ֶח ֶסד‬umschreibt als „offenherziges und hilfreiches Handeln“, welches aus freier Initiative „Gemeinschaft erst schafft“215, und χάρις im paulinischen Sinne versteht,216 sodass χάρις dann jener Umschreibung von ‫ֶח ֶסד‬ 208

Vgl. JOOSTEN 2012: 103: „the facts do not leave a shadow of doubt, that the Greek term ἔλεος has the same meaning in the Pentateuch as it does in Greek literature. The use of the term to translate the Hebrew words ‫ רחמים‬and ‫ חן‬clearly indicates that the translators gave it that meaning. Moreover, the non-use of ἔλεος to translate ‫ חסד‬when the context does not refer to pity confirms this conclusion.“ 209 Nach JOOSTEN (2012: 107) „perhaps something like ‚sympathy‘, or ‚disposition to come in aid to‘“. 210 Hier nähert sich JOOSTEN zufolge (2012: 107) die Bedeutung von ἔλεος der von ‫ ֶח ֶסד‬. 211 Vgl. GLUECK 1927 (der Titel der Arbeit fasst das Ergebnis gut zusammen: „Das Wort hesed im alttestamenlichen Sprachgebrauch als menschliche und göttliche gemeinschaftsgemäße Verhaltungsweise“). 212 HARRISON 2003: 109. 213 HARRISON 2003: 107. 214 Vgl. KELLENBERGER 1982: 180. 215 KELLENBERGER 1982: 81, vgl. auch 185: „Wer häsäd tut, öffnet sich von innen heraus dem Andern und geht hilfreich auf ihn zu. Eine so spontan begründete Beziehung ist zugleich stets gefährdet und kann, statt sich immer neu zu aktualisieren, schliesslich jederzeit versanden.“ 216 Zum paulinischen Gnadenbegriff im Verhältnis zum griech.-röm. sowie biblischen Verständnis von Gnade (und zur Untersuchung von HARRISON von 2003) vgl. BREYTENBACHS Studie, die zu folgendem Ergebnis kommt: „Paul’s notion of the χάρις of God has its foundation in this important and influential biblical tradition [Israelite-Jewish tradition of the abundance of God’s mercy towards the sinner], and not in the benefactor ideology of the Roman Empire. The latter provides the metaphor in which Paul wraps the Jewish notion of God’s ἔλεος. The χάρις-terminology is mapped from the domain of the benefactor ideology unto the basic Israelite-Jewish belief that God is merciful and compassionate towards humankind“ (2009: 265).

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sehr nahesteht. Doch auch wenn man Harrisons (bzw. Gluecks) Definition von ‫ ֶח ֶסד‬nicht teilt, sondern zu Kellenbergers tendiert, dafür aber Harrisons Ergebnisse zu χάρις überzeugend findet und das griech.-röm. Verständnis dieses Begriffes für die Übersetzer der LXX zugrunde legt, bleibt die Frage schwer zu beantworten. Man könnte als eine plausible Möglichkeit in Erwägung ziehen, dass die LXX-Übersetzer unter ‫ ֶח ֶס ד‬etwas anderes verstanden haben, als das, was moderne Rekonstruktionen der biblischen Semantik dieses Wortes nahelegen. So sieht Joosten den Grund für die eigentümliche Wiedergabe von ‫ ֶח ֶסד‬durch ἔλεος in einer „semantic evolution of the word ‫“ ֶח ֶסד‬217, die schon in späten biblischen Texten und dann noch stärker in der nachbiblischen Zeit sichtbar wird, sodass sich ‫ ֶח ֶסד‬tatsächlich in seiner Bedeutung stark an die von ἔλεος angenähert hat. Worin auch immer die genauen Gründe liegen mögen – die Übersetzung von ‫ ֶח ֶסד‬durch ἔλεος führt dazu, dass Gottes Emotionen in der LXX stärker betont werden als im MT.218

Gottes Eigenschaften als πολυέλεος καὶ ἀληθινὸς erweisen sich konkret darin, dass er V.7 zufolge (vgl. die Aufnahme von [πολυ]έλεος in V.7) „Gesetzlosigkeiten (dies ist ein Rückbezug zu Ex 32,7) und Ungerechtigkeiten und Sünden“ (LXX) vergibt, somit auch Israels vorangegangene „Gesetzlosigkeit“. Im Anschluss an die Offenbarung des Namens Gottes sagt Mose ehrerbietig (Ex 34,9): „Wenn ich vor dir Gefallen [oder Gnade] gefunden habe (εὕρηκα χάριν), soll mein Herr mit uns ziehen; denn das Volk ist halsstarrig, und du wirst unsere Sünden und Gesetzlosigkeiten vergeben, und wir werden zu dir gehören (καὶ ἐσόµεθα σοι).“ Wie reagiert Gott darauf? Nach Ex 34,10 LXX sagt er: Siehe, ich setze für dich (τίθηµί σοι) eine Verfügung ein: Vor deinem ganzen Volk werde ich Herrliches (ἔνδοξα) tun […] und das ganze Volk, in dem du bist (ἐν οἷς εἶ σύ), soll sehen, dass die Werke des Herrn, die ich für dich (oder: an dir) machen werde, wunderbar (θαυµαστά) sind.

Es liegt nahe, dass dieses „Herrliche“ (ἔνδοξα), das Gott an Mose tun will und wodurch er für ihn eine Verfügung einsetzt, in Verbindung steht mit der Herrlichkeit (δόξα) Gottes, die Mose sehen wollte und auch gesehen hat. Denn als Mose vom Berg herabkommt, „hatte die Hautfarbe seines Angesichts einen glänzenden Ausdruck angenommen“. Damit der Konnex zu Ex 34,10 und Ex 33,18 deutlicher wird, könnte man auch übersetzen: „der Anblick seiner Gesichtsfarbe war verherrlicht worden (δεδόξασται)“. 2.3 Innerbiblische Rezeption der Namensoffenbarung Es würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen, würde man auf alle Passagen im Detail eingehen, die die Sinai-Offenbarung des Namens Gottes rezipieren. 217

JOOSTEN 2012: 111 (zu dieser Entwicklung s. 2012: 107ff.). Vgl. JOOSTEN 2012: 111, der zusätzliche Beispiele aus dem Buch Jesaja nach der LXX nennt, die auch zeigen, dass Gottes Mitleid für die jüdische Gemeinschaft in Alexandrien keine „strange idea imposed for better or for worse by the Hebrew Scriptures“ (JOOSTEN 2012: 111) war. Vielmehr sei Gottes Barmherzigkeit „a central and cherished notion belonging to their theology“ (2012: 111). 218

2. Digression

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Daher gebe ich im Folgenden nur einen kurzen Überblick über die wichtigsten Texte.219 Daraus soll deutlich werden, welche fundamentale Bedeutung jene Offenbarung für das atl. Gottesbild sowie für die Gebetspraxis und Heilshoffnung Israels hat. An der Schwelle zum verheißenen Land will Gott das Volk aufgrund seines Unglaubens austilgen wie schon nach der Sünde mit dem goldenen Kalb (Num 14,12). Erneut tritt Mose fürbittend für das Volk ein (Num 14,13–19). Dabei erinnert er Gott gemäß Num 14,17f. explizit an seine Rede am Sinai, als Gott seinen Namen offenbarte, und bittet um die „Gnadenkraft“ (Num 14,17) sowie um erneute Vergebung der Schuld gemäß der großen Gnade bzw. Barmherzigkeit Gottes (Num 14,19): Num 14,18 MT ‫נַקּה לֹא‬ ֵ ְ‫ב־ח ֶסד נ ֵֹשׂא ָ וֹן וָ ָפ ַשׁע ו‬ ֶ ‫יְ הוָ ה ֶא ֶר" ַא ַפּיִם וְ ַר‬ ‫ל־ר ֵבּ ִ ים‬ ִ ַ ְ‫ל־שׁ ֵלּ ִשׁים ו‬ ִ ַ ‫ל־בּנִ ים‬ ָ ַ ‫יְנַ ֶקּה פּ ֵֹקד ֲ וֹן ָאבוֹת‬

JHWH ist langsam zum Zorn und groß an Gnade, der Schuld und Treubruch vergibt, aber keineswegs ungestraft läßt, der die Schuld der Väter heimsucht an den Kindern, an der dritten und vierten Generation.

Num 14,18 LXX κύριος µακρόθυµος καὶ πολυέλεος καὶ ἀληθινός ἀφαιρῶν ἀνοµίας καὶ ἀδικίας καὶ ἁµαρτίας καὶ καθαρισµῷ οὐ καθαριεῖ τὸν ἔνοχον ἀποδιδοὺς ἁµαρτίας πατέρων ἐπὶ τέκνα ἕως τρίτης καὶ τετάρτης Der Herr ist großmütig, barmherzig und wahrhaftig, wenn er wegnimmt die Verfehlungen und Ungerechtigkeiten und Sünden, und er wird durch keine Reinigung den Schuldigen für rein erklären, weil er die Sünden der Väter zurückgibt an die Kinder bis ins dritte und vierte Glied.

Gott antwortet Mose mit der Zusage seiner Barmherzigkeit (Num 14,20). Tatsächlich rottet er nicht das gesamte Volk aus. Aber alle, die sich ihm durch Unglauben widersetzt haben, müssen in der Wüste sterben und dürfen nicht in das verheißene Land einziehen (Num 14,21ff.28–35). Innerhalb der Erzählung des Pentateuchs ist Mose somit der erste, der Gott auf der Basis seines Namens, wie er ihn am Sinai offenbart hat, in einer neuen Situation um Vergebung der Schuld des Volkes bittet. Von besonderer Bedeutung ist mit Blick auf Joh 1,14–18 der Ps 85(84), nach Frank-Lothar Hossfeld und Erich Zenger eine „betende Vergewisserung der großen Heilszusagen JHWHs“220. JHWHs Heilshandeln an seinem Land und Volk (Rückkehr des Volkes aufgrund von Vergebung bzw. Abwendung 219 Ich orientiere mich dabei v.a. an FRANZ 2003: 222–265 (dort finden sich auch Begründungen für eine Rezeption von Ex 34,6f. in den jeweiligen Texten); ergänzend SCORALICK 2002: 131–203. 220 HOSSFELD/ZENGER 2000: 528.

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des Zorns [vgl. V.4b mit Ex 32,12) wird gemäß V.2–4 in einer Art prophetischen Vision als ein abgeschlossen in der Vergangenheit liegendes Geschehen betrachtet. In der Gegenwart jedoch stellt sich die Situation ganz anders dar. Deshalb bitten die Betenden den „Gott unseres Heils“ (‫ ; ֱא ֵהי ִי ְשׁ ֵ נוּ‬LXX: ὁ θεὸς τῶν σωτηρίων ἡµῶν) um ihre Wiederherstellung und um die Beendigung des Zorns (V.5f.), um neues Leben (‫ ; ְתּ ַח ֵיּנוּ‬LXX: ζωώσεις) und neue Freude an Gott (V.7), um das Sehen der Gnade (LXX: Erbarmen) JHWHs (vgl. V.8a mit Ex 33,18) und das Gewähren seines Heils () ֲ ‫ ; ֶי ְשׁ‬LXX: τὸ σωτήριόν σου; V.8). Im Anschluss wird die Antwort Gottes präsentiert (V.9ff.); es ist eine prophetische Botschaft des Friedens/Heils (‫ ָשׁלוֹם‬/εἰρήνη) für Gottes Volk. Darin wird etwas „verkündet“, das „wie ein Kompendium der großen Heilsverheißungen der biblischen Prophetie, vor allem des Jesajabuchs und des Zwölfprophetenbuchs“221 wirkt: Gottes Heil (‫ ; ִי ְשׁעוֹ‬LXX: τὸ σωτήριον αὐτοῦ) ist nahe (V.10), „es ist im Kommen – und zwar in denen, die sich ihm öffnen und sich von ihm ergreifen lassen“222 (vgl. V.10a), sodass Gottes Herrlichkeit (‫ ; ָכּבוֹד‬LXX: δόξα), seine erfahrbare Gegenwart, in „unserem Land“ (V.10; vgl. V.2) wohne ( ‫לִ ְשׁכֹּן‬ ‫ ; ָכּבוֹד‬LXX: κατασκηνῶσαι; vgl. Ex 25,8; 29,43–46). Dann wird „Wahrheit (‫; ֱא ֶמ ת‬ LXX: ἀλήθεια) aus der Erde sprossen, und Gerechtigkeit (‫ ) ֶצ ֶדק‬herniederschauen vom Himmel“ (V.12), „auch wird JHWH das Gute geben, und unser Land wird seinen Ertrag bringen“ (V.13) – eine „kosmische Wiederherstellung der Schöpfung“223. Personifizierend heißt es in V.11 (wieder mit prophetischem Perfekt), dass sich – Gottes Gegenwart gleichsam begleitend – „Gnade (LXX: Erbarmen) und Wahrheit“ (‫ ; ֶח ֶסד־וֶ ֱא ֶמת‬LXX: ἔλεος καὶ ἀλήθεια) getroffen und „Gerechtigkeit und Frieden“ sich geküsst haben (oder: „gekämpft haben“?)224. In Ps 86(85),15 (vgl. auch V.5) findet sich innerhalb des Klage- und Bittgebets eines Einzelnen225 die folgende, auf Ex 34,6 Bezug nehmende Aussage über Gott: Ps 86,15 MT

Ps 85,15 LXX

‫ב־ח ֶסד‬ ֶ ‫ל־רחוּם וְ ַחנּוּן ֶא ֶר" ַא ַפּיִם וְ ַר‬ ַ ‫וְ ַא ָתּה ֲאד ֹנָ י ֵא‬ ‫וֶ ֱא ֶמת‬

Du aber, Herr, bist ein barmherziger und gnädiger Gott, langsam zum Zorn und groß an Gnade und Wahrheit.

221

καὶ σύ κύριε ὁ θεός οἰκτίρµων καὶ ἐλεήµων µακρόθυµος καὶ πολυέλεος καὶ ἀληθινός Und du, Herr, Gott, bist mitleidig und barmherzig, langmütig und erbarmungsvoll und wahrhaftig.

HOSSFELD/ZENGER 2000: 532. HOSSFELD/ZENGER 2000: 532. 223 HOSSFELD/ZENGER 2000: 533. 224 Vgl. zur Diskussion HOSSFELD/ZENGER 2000: 525f. 225 Vgl. zu dieser Gattungsbestimmung FRANZ 2003: 227f. 222

2. Digression

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Gottes „Wesen“ im obigen Sinne ist die Basis dafür, dass er den Beter vor seinen Hassern rettet (vgl. 86[85],14.16f.). Esra ruft in seinem langen Bußgebet Gottes Geschichte mit seinem Volk in Erinnerung (Neh 9,6–10,1; LXX: 2Esdr 19,6–38). Dabei kommt Esra darauf zu sprechen, dass das Volk des Auszugs trotz aller Wunder nicht auf Gottes Gebote hörte (Neh[2Esdr] 9[19],16ff.). Statt das Land einzunehmen, wollten sie lieber zurück nach Ägypten ziehen. Sie schufen sich sogar das goldene Kalb. Aber Gott verließ sie nicht, weil er „ein Gott der Vergebung, gnädig und barmherzig, langsam zum Zorn und groß an Gnade“ (Neh 9,17) bzw. (gemäß der LXX) „der Gott ist, der Sünden vergibt, der barmherzig und mitleidig, langmütig und voll Erbarmen ist“ (2Esdr 19,17). Ihnen taten ihre Nachkommen gleich (Neh[2Esdr] 9[19],23ff.). „Doch in deinen großen Erbarmungen hast du nicht ein Ende mit ihnen gemacht und sie nicht verlassen. Denn ein gnädiger und barmherziger Gott bist du!“ (Neh 9,31; 2Esdr 19,31 ist sehr ähnlich). Diese Gnadenerweise in der Vergangenheit und der sich darin zeigende Charakter Gottes bilden denn auch die Basis für die Bitte um helfendes und rettendes Eingreifen Gottes in der Gegenwart zugunsten des Volkes Gottes (Neh[2Esdr] 9[19],32ff.), mit dem Gott seinen Bund aufgerichtet hat (Neh[2Esdr] 9[19],32). Ähnlich wie Neh 9 bietet auch Ps 78(77) einen Geschichtsrückblick. In V.37f. werden die Israeliten und Gott einander gegenübergestellt. Auf der einen Seite steht das Volk, das Gottes Bund nicht treu gehalten hat (V.37). Auf der anderen Seite steht Gott, der barmherzig ist, die Schuld Israels vergibt und nicht vernichtet (V.38). Gottes heiliger Name (Ps 103[102],1) wird in Ps 103(102) gelobt, weil „der Herr“ u.a. „barmherzig und gnädig ist, langsam zum Zorn und groß an Gnade“ (‫ב־ח ֶסד‬ ָ ‫ ) ַר חוּם וְ ַחנּוּן ְיהוָ ה ֶא ֶר" ַא ַפּ יִ ם וְ ַר‬bzw. „mitleidig und barmherzig, langmütig und reich an Erbarmen“ (οἰκτίρµων καὶ ἐλεήµων ὁ κύριος µακρόθυµος καὶ πολυέλεος); diese seine „Wege“ hat er Mose kundgetan (Ps 103[102],7; vgl. Ex 33,13). Gott vergibt daher die Sünden bzw. Gesetzlosigkeiten seines Volkes (Ps 103[102],3.9ff.; vgl. Ex 34,7.9). Seine Gnade (‫ ) ֶח ֶסד ְיהוָ ה‬bzw. Barmherzigkeit (τὸ ἔλεος τοῦ κυρίου) gilt denen, die Gottes Bund halten bzw. bewahren (Ps 103[102],17f.).226 In Ps 145(144) wird Gottes Name (145[144],1) gepriesen und gelobt: „JHWH“ bzw. „der Herr“ ist gemäß V.8 „gnädig und barmherzig, langsam zum Zorn und groß an Gnade“ (‫ל־ח ֶסד‬ ָ ‫ ) ַחנּוּן וְ ַרחוּם ְיהוָ ה ֶא ֶר" ַא ַפּ יִ ם וּגְ ָד‬bzw. „mitleidig und barmherzig, langmütig und reich an Erbarmen“ (οἰκτίρµων καὶ ἐλεήµων ὁ κύριος µακρόθυµος καὶ πολυέλεος).227 In dieses Lob wird „Generation um Generation“ einstimmen (V.4ff.). Es wird „alles Fleisch seinen heiligen Namen preisen“ (V.21), wohl deshalb, weil sie (möglicherweise sind darin

226

Nach FRANZ (2003: 234) „stellt [die Redaktion] nun jenen Psalm, der die Gnadenrede vom Sinai preist, direkt nach 102 und lässt so 103,8 auf 102,14 antworten“. 227 Vgl. Ps 111(110),4; 112(111),4; Ps 116(114),5.

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2. Kapitel: Die Rezeption der Sinaitradition in Joh 1,14–18

auch Menschen aus den Völkern eingeschlossen) Gottes Rettung erfahren (vgl. V.14–20).228 Beim Propheten Joel wird das Volk Gottes angesichts des drohenden Gerichts zur Umkehr aufgefordert: Jo 2,13 MT

Jo 2,13 LXX

‫יכם‬ ֶ ‫יכם וְ שׁוּבוּ ֶאל־יְ הוָ ה ֱא ֵה‬ ֶ ‫ל־בּגְ ֵד‬ ִ ‫וְ ִק ְרעוּ לְ ַב ְב ֶכם וְ ַא‬ ‫ב־ח ֶסד וְ נִ ָחם ַ ל־‬ ֶ ‫י־חנּוּן וְ ַרחוּם הוּא ֶא ֶר" ַא ַפּיִם וְ ַר‬ ַ ‫ִכּ‬ ‫ָה ָר ָ ה‬

Und zerreißt euer Herz und nicht eure Kleider und kehrt um zu JHWH, eurem Gott! Denn er ist gnädig und barmherzig, langsam zum Zorn und groß an Gnade, und lässt sich das Unheil gereuen.

καὶ διαρρήξατε τὰς καρδίας ὑµῶν καὶ µὴ τὰ ἱµάτια ὑµῶν καὶ ἐπιστράφητε πρὸς κύριον τὸν θεὸν ὑµῶν ὅτι ἐλεήµων καὶ οἰκτίρµων ἐστίν µακρόθυµος καὶ πολυέλεος καὶ µετανοῶν ἐπὶ ταῖς κακίαις Und zerreißt eure Herzen und nicht eure Kleider, und kehrt um zum Herrn, eurem Gott, denn barmherzig und mitleidig ist er, langmütig und voll Erbarmen und reumütig über die bösen Dinge.

Der Grund dafür, dass es die Möglichkeit zur Umkehr und zum Heil für das Volk noch gibt, ist demnach Gottes große Gnade bzw. sein gnädiges „Wesen“. In eine ähnliche Richtung gehen auch 2Chr 30,9 und Jon 4,2. Zu Jon 4,2 ist zu notieren, dass Gottes Reichtum an Gnade nicht nur Israel, sondern auch den Leuten von Ninive gilt (vgl. Jon 4,11), eben weil Gnade und Barmherzigkeit Gottes Wesen ausmachen. Ebenfalls im Zusammenhang mit Gericht, allerdings mit gegenwärtig andauerndem Gericht, steht Mi 7,18ff. Hier wird Gott dafür gelobt, dass er aufgrund seines Willens zur Gnade (MT) bzw. zur Barmherzigkeit (LXX) dem Rest seines Erbbesitzes nicht ewig zürnen, sondern seine Sünde vergeben und sich seinem Volk wieder zuwenden wird. Gottes Wesen wird so zum Grund der Hoffnung auf eine zukünftige Zuwendung Gottes. Ähnliche Sprache wie in Ex 34,6 findet sich in Prophetien von zukünftigem Heil und Wiederherstellung angesichts von Unheil und „Krisen“ (Exil) des Volkes, wobei der Bund in diesen Zusammenhängen teilweise explizit erwähnt oder metaphorisch umschrieben, teilweise implizit vorausgesetzt wird: − Dtn 4,31: „Denn ein barmherziger Gott (‫ ) ֵאל ַרחוּם‬ist JHWH, dein Gott. Er wird dich nicht aufgeben und dich nicht vernichten und wird den Bund deiner Väter nicht vergessen, den er ihnen geschworen hat.“

228 FRANZ meint (2003: 254f.), dass „Güte und Barmherzigkeit Wesenseigenschaften Jhwhs sind und nicht nur für Israel oder die Frommen gelten. Sicherlich möchte Ps 145, dass alle Menschen diesen Satz bekennen. Die Reaktion der Menschen ist nicht unwichtig. Die Gnade gilt jedoch unabhängig von Bund und Gesetz allen“.

2. Digression

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− Jes 54,7–10229: „7 Einen kleinen Augenblick habe ich dich verlassen, aber mit großem Erbarmen (‫ ) ְב ַר ֲח ִמים גְּ ד ֹלִ ים‬werde ich dich sammeln. 8 Im aufwallenden Zorn habe ich einen Augenblick mein Angesicht vor dir verborgen, aber mit ewiger Gnade (‫ ) ְב ֶח ֶסד עוֹלָ ם‬werde ich mich über dich erbarmen ("‫) ִר ַח ְמ ִתּי‬, spricht JHWH, dein Erlöser. 9 Wie die Tage Noahs gilt mir dies, als ich schwor, dass die Wasser Noahs die Erde nicht mehr überfluten sollten, so habe ich geschworen, dass ich dir nicht mehr zürnen noch dich bedrohen werde. 10 Denn die Berge mögen weichen und die Hügel wanken, aber meine Gnade (‫ ) ַח ְס ִדּי‬wird nicht von dir weichen und mein Friedensbund nicht wanken, spricht JHWH, dein Erbarmer ("‫) ְמ ַר ֲח ֵמ‬.“230 − Jer 31,2–3: „So spricht JHWH: Das Volk derer, die dem Schwert entronnen sind, hat Gnade (‫ ) ֵחן‬gefunden in der Wüste, als Israel wanderte, um zu seiner Ruhe zu kommen. JHWH ist ihm von ferne erschienen: ‚Ja, mit ewiger Liebe (‫עוֹלם‬ ָ ‫ ) ַא ֲה ַבת‬habe ich dich geliebt; darum habe ich dir (meine) Güte bewahrt (‫) ָח ֶסד‬.‘“231 − Klgl 3,22–24: „Ja, die Gnadenerweise (‫ ) ַח ְס ֵדי‬JHWHs sind nicht zu Ende, ja, sein Erbarmen (‫ ) ַר ֲח ָמיו‬hört nicht auf, es ist jeden Morgen neu. Groß ist deine Treue ()‫) ַר ָבּה ֱאמוּנָ ֶת‬.“ − Hos 2,21–22: „Und ich will dich mir verloben in Ewigkeit, und ich will dich mir verloben in Gerechtigkeit und in Recht und in Gnade (‫ ) ְב ֶח ֶסד‬und in Erbarmen (‫) ְב ַר ֲח ִמים‬, ja in Treue (‫ ) ֶבּ ֱאמוּנָ ה‬will ich dich mir verloben; und du wirst JHWH erkennen.“232

229 Man beachte: Jes 54,13 wird in Joh 6,45 zitiert (dazu vgl. den Abschnitt zu Joh 6 in der vorliegenden Arbeit) unter der Voraussetzung der gegenwärtigen Erfüllung. 230 Die LXX lautet: „7 für eine kurze Zeit (nur) habe ich dich verlassen, aber mit großen Erbarmen (ἐλέους µεγάλου) werde ich mich deiner erbarmen (ἐλεήσω), 8 in geringem Zorn wandte ich mein Antlitz von dir ab, aber in ewigem Erbarmen habe ich mich deiner erbarmt (textkritisch ist jedoch mit RAHLFS die futurische Lesart zu bevorzugen [vgl. LXX.D Anm. z.St.]: „werde ich mich … erbarmen ἐν ἐλέει αἰωνίῳ ἐλεήσω σε) – sprach der, der dich erettet hat, der Herr. 9 Seit dem Wasser zur Zeit des Noah ist dies meine Art: So wie ich ihm geschworen habe in jener Zeit, der Erde nicht mehr zu zürnen um deinetwillen, dass auch nicht, um dir zu drohen, 10 die Berge von ihrem Platz rücken, und deine Hügel werden sich nicht von ihrem Platz bewegen – so wird auch mein Erbarmen (ἔλεος) für dich nicht aufhören, und der Bund deines Friedens wird gewiss nicht vom Platz weichen, denn (das) hat gesagt der Herr, (der) dir gnädig (ist) (ἵλεώς σοι).“ 231 Jes 38,2f. LXX lautet: „2 So hat der Herr gesprochen: Ich fand Wärme in der Wüste unter den durch das Schwert Gefällten. Schreitet fort, aber bringt Israels nicht zu Fall. 3 Der Herr erschien ihm von fern: Mit ewiger Liebe (ἀγάπησιν αἰωνίαν) habe ich dich geliebt, deshalb zog ich dich in (mein) Mitleid (οἰκτίρηµα).“ 232 Der entsprechende Text in der LXX (Hos 2,19f.) lautet: „19 Ich will dich mit mir verloben in Ewigkeit; ich will dich mit mir verloben mit Gerechtigkeit, mit Urteil, mit Erbarmen (ἐλέει) und mit Gefühlen des Mitleids (οἰκτιρµοῖς), 20 ich will dich mit mir verloben mit Treue (πίστει), dann wirst du den Herrn erkennen.“

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2. Kapitel: Die Rezeption der Sinaitradition in Joh 1,14–18

2.4 Ex 32ff. gemäß den Targumim233 TgO Ex 33,13 deutet Moses Bitte „lass mich doch deine Wege erkennen, sodass ich dich erkenne“ folgendermaßen: So now, if now I have found compassion before You, make known to me now the way of Your goodness (‫ובך‬ ָ ‫אוֹר ח ֻט‬ ַ ) that I may know Your love (‫חמך‬ ָ ‫ ) ַר‬in order that I may find {further} compassion before you, and reveal to You that this people is Your people.

Demnach will Mose nicht viele Wege, sondern nur einen „Weg“ Gottes, d.h. wohl so etwas wie einen Umgang Gottes mit den Menschen erkennen, nämlich den „Weg“ der Güte und Liebe Gottes zu seinem Volk. TgO löst die Schwierigkeiten des MT hinsichtlich der genauen Bedeutung der Bitten Moses schon am Anfang auf und lässt diese Bitte und die Ankündigung Gottes gemäß TgO Ex 33,19, wonach Gott seine „ganze Güte“ (‫ )כֹל ֻט ִובי‬an Mose vorbeiziehen lassen will, aufeinander zulaufen. Auch nach TgO Ex 33,20 darf Mose nicht „das Angesicht meiner Schekina“ (‫ ) ַא ֵפי ְשׁ ִכינְ ִתי‬sehen, denn niemand kann Gott sehen und leben. Hier wie auch im Folgenden werden die zahlreichen Anthropomorphismen des hebräischen Textes ersetzt durch die targumischen Ausdrücke wie Schekina, Memra, Diberah usw. Um nur ein Beispiel zu nennen: So will Gott Mose, wenn seine Herrlichkeit vorbeizieht, in eine Felsspalte stellen und ihn mit seiner Memra (statt MT „Hand“) schützen (TgO Ex 33,22). Wenn er dann vorbeigezogen ist, wird er ‫בר ת ְי ָק ִרי‬ ַ ‫ ִד‬entfernen, und Mose wird das sehen, was „hinter“ Gott ist (‫) ְד ָב ְת ַרי‬, nicht jedoch, was „vor“ ihm (‫קד ַמי‬ ָ ‫ )וְ ִד‬ist (TgO 33,23). In der Ausführung der Theophanieankündigung nach TgO Ex 34,5 offenbart sich Gott selbst in einer Wolke, und „er (Mose oder Gott?) rief“ den Namen des Herrn an. Die Spannung zwischen Ex 34,6 und Ex 33,20.23 löst TgO zugunsten letzterer Passage auf und gibt Ex 34,6 so wieder: „Then the Lord (‫)יוי‬ made His Presence (‫ ) ְשׁ ִכינְ ֵתיה‬pass in front of him, and he [Mose oder Gott?] proclaimed …“ Die hebräische Phrase, dass Gott „reich ist an Gnade und Wahrheit“ (‫ב־ח ֶסד וֶ ֱא ֶמת‬ ֶ ‫) ַר‬, lautet nach TgO: „God […] abounds in doing true goodness (oder: goodness and truth)“ (‫) ַוּמסגֵ י לְ ַמ ְ ַבד ָטבוָ ן וּקשׁוֹט‬, allerdings vergibt er nur denen, die zu seinem Gesetz zurückkehren (TgO Ex 34,7). Die Assoziation der Herrlichkeit Gottes mit Mose wird in TgO unterstrichen, wenn es dort heißt (TgO Ex 34,29): Now when Moses descended from Mt. Sinai, and the two tablets of the Testimony were in Moses’ hand(s) during his descent from the mountain, Moses did not realize that the radiance ִ ‫ )זיו יְ ָק ָרא ְד ַא‬increased (‫ ) ְסגִ י‬since He had spoken with him (vgl. of the glory of his face (‫פוֹהי‬ auch die folgenden Verse).

233

Text: CAL project (enthalten in dem Computerprogramm BibleWorks 9); Übersetzung: vgl. den jeweiligen Band in der von MCNAMARA herausgegebenen Reihe „The Aramaic Bible“.

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TgPs-J und TgN bieten in Ex 32–34 zahlreiche Erweiterungen. Mit Blick auf die oben genannten Leitfragen sind folgende Erweiterungen für meine Untersuchung relevant. TgPs-J Ex 33,11 deutet den hebräischen Ausdruck ‫ָפּנִ ים ֶאל־‬ ‫ ָפּנִ ים‬nicht wörtlich und damit potenziell missverständlich, sondern löst die mögliche Spannung zu Ex 33,20.23 von dort her folgendermaßen auf: „The Lord would converse with Moses in direct 234 to his fellow man.“ Moses erste Bitte zielt gemäß TgPs-J Ex 33,13 auf „den Weg deiner Güte“, sodass Mose Gottes Gnade erkennt, „wie er mit den Menschensöhnen umgeht“. Denn für Mose ist es offenbar ein Rätsel, dass den Gerechten in dieser Welt Dinge widerfahren, wie sie den Sündern widerfahren sollten, und den Sündern Dinge widerfahren, wie sie den Gerechten widerfahren sollten, aber auch umgekehrt, wie es der „natürlichen“ Ordnung entspricht.235 TgN lässt Mose dagegen einfach nach den „Wegen Gottes“ fragen. Gottes Antwort auf diese Bitte lautet TgPs-J Ex 33,14 zufolge: „Wait until (my) countenance of anger has passed, and after that I will give you rest.“236 Im hebräischen Text ist nur die Rede vom „Angesicht“ Gottes, welches mit Mose mitgehen und Mose zur „Ruhe“ bringen sollte. Nach TgPs-J wird Gott Moses Bitte erfüllen, aber erst, wenn er nicht mehr zornig ist. Bis dahin solle Mose sich gedulden. Beachtenswert ist, dass nach TgN Ex 33,16 die Herrlichkeit der Gegenwart Gottes, die inmitten Israels mitgehen soll und Israel von allen Nationen unterscheidet, eng verknüpft wird mit den Zeichen und Wundern zugunsten Israels: And in what will it be known, now, that I have found grace and favor before you, I and your people, if not by the Glory of your Shekinah accompanying with us, and signs and wonders (‫ )נסין ופלאין‬shall be performed with us, I and your people, (a nation distinct) from all peoples that are upon the face of the earth.237

Gemäß TgPs-J Ex 33,19 ist die Zeit, dass Gottes Ärger verflogen ist, nun gekommen, da Gott ankündigt: „Behold, I will make the whole measure of my 234

Der mit „“ gerahmte Teil fehlt in der Londoner Handschrift Library MS 27031 von Pseudo-Jonathan. 235 Vgl. Sifre Num §103. 236 Vgl. bTBer 7a: „Ferner sagte R. Johanan im Namen des R. Jose: Woher dies, dass man einen Menschen während seines Zornesausbruchs nicht zu besänftigen suchen soll? – denn es heisst: Mein Zorn wird vorübergehen, und ich werde mich dir beruhigen. Es sprach der Heilige, gebenedeiet sei er zu Mošeh: Warte ein wenig, bis das zornige Gesicht vorüber ist und ich willfahre dir“ (Übersetzung: GOLDSCHMIDT 1897: 19). 237 Vielleicht wird hier TgN Ex 34,10 antizipiert, da auch dort die Rede ist von ‫נסין ופלאי‬ (mit Bezug auf Mose). TgPs-J Ex 33,16 unterscheidet sich davon: „For how will it be known that I have found mercy before you, , unless your Shekinah speaks with us and wonders are performed for us when you remove the spirit of prophecy from the nations and speak in the Holy Spirit to me and to your people, so that we become different from all the peoples that are on the face of the earth?“

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goodness pass before you, and I will proclaim the name of the Memra of the Lord before you, and I will show favor to him who is worthy of favor, and I will show mercy to him who is worthy of mercy.“238 Gottes „Weg seiner Güte“, d.h. sein gütiger Umgang mit den Menschen wird für Mose nur dahingehend gedeutet, dass Gott Gunst und Gnade dem erteilen wird, der es verdient. Was genau dies bedeutet, wird hier nicht weiter ausgeführt. Angesichts der entsprechenden rabbinischen Diskussion z.B. in Sifre Num §103239 oder in bTBer 7a (s.u.) ist hier wohl an den Lohn im eschatologischen Gericht in der zukünftigen Welt zu denken, welcher mit dem, was hinter Gott folgt (also die Zukunft), identifiziert wird: Ferner sagte R. Johanan im Namen des R. Jose: Drei Dinge erbat sich Mošeh von dem Heiligen, gebenedeiet sei er, und er gewährte sie ihm […] Er bat ihn erkennen zu lassen die Wege des Heiligen, gebenedeiet sei er, und er gewährte es ihm, wie es heisst: Lass mich erkennen deine Wege. Er sprach vor ihm: Herr der Welt, warum giebt es einen Gerechten, dem es wol ergeht, und einen Gerechten, dem es schlecht geht? einen Frevler, dem es wol ergeht, und einen Frevler, dem es schlecht geht? Er antwortete ihm: Mošeh! der Gerechte, dem es wol ergeht, ist ein Gerechter und Sohn eines Gerechten; der Gerechte, dem es schlecht geht, ist ein Gerechter und Sohn eines Frevlers, der Frevler, dem es wol ergeht, ist ein Frevler und Sohn eines Gerechten; der Frevler, dem es schlecht geht, ist ein Frevler und Sohn eines Frevlers. Der Meister sagte: „Der Gerechte, dem es wol ergeht, ist ein Gerechter und Sohn eines Gerechten; der Gerechte, dem es schlecht geht, ist ein Gerechter und Sohn eines Frevlers“. Dem ist doch nicht so, es heisst ja: Er sucht heim die Sünde der Väter an den Kindern; dagegen heisst es: Nicht sollen Kinder wegen der Väter getötet werden; worauf wir fragten, die Schriftverse widersprechen ja einander, und antworteten: es sei kein Widerspruch: der eine [Schriftvers spricht], wo sie noch an den Werken ihrer Väter festhalten, der andere aber, wo sie an den Werken ihrer Väter nicht mehr festhalten. – Vielmehr, so sprach er zu ihm: Der Gerechte, dem es wol ergeht, ist ein vollkommen Gerechter, der Gerechte, dem es schlecht geht, ist ein unvollkommen Gerechter; der Frevler, dem es wol ergeht, ist kein vollkommner Frevler, der Frevler, dem es schlecht geht, ist ein vollkommner Frevler. Dieses widerspricht der Ansicht des R. Meir, denn R. Meir sagte: Zwei Dinge gewährte er ihm, und das eine gewährte er ihm nicht, denn es heisst: Ich bin gnädig, dem ich gnädig sein will, obgleich er dessen nicht würdig ist; und ich erbarme mich, dessen ich mich erbarmen will, obgleich er dessen nicht würdig ist. Und er sprach, du vermagst nicht mein Antlitz zu schauen. Es wird im Namen des R. Jejošuâ b. Qorha gelehrt: So sprach der Heilige, gebenedeiet sei er, zu Mošeh: Als ich wollte, hast du nicht gewollt; jetzt, wenn du willst, will ich nicht. Dieses widerspricht dem von R. Šemuël b. Nahmani im Namen des R. Jonathan Gesagten, denn R. Šemuël b. Nahmani sagte im Namen des R. Jonathan: Als Belohnung für drei Dinge ist Mošeh mit drei Dingen bedacht worden; als Belohnung für: Und Mošeh verbarg sein Antlitz, wurde er mit [strahlendem] Antlitz bedacht, als Belohnung dafür, dass: er fürchtete, erreichte er, dass: sie fürchteten sich, ihm zu nahen, und als Belohnung dafür, dass: er vom Schauen [sich enthielt], wurde ihm beschieden, dass: er schaute das Gesicht des 238 TgN Ex 33,19 lässt die Anrufung des Namens weg: „And he said: ‚Behold, I made the entire measure of my goodness pass before you, and I will have pity on whoever is worth of pity, and I will have mercy on whoever is worthy of mercy‘.“ 239 Dieser Text wird später zitiert und kurz diskutiert.

2. Digression

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Herrn. – Und ich will meine Hand entfernen und du wirst meine Rückseite schauen; hierüber sagte R. Hana b. R. Bizna im Namen R. Šimôn des Frommen: Dies lehrt, dass der Heilige, gebenedeiet sei er, dem Mošeh den Knoten der Tephillin gezeigt hat.240

Jedenfalls kann Mose auch TgPs-J Ex 33,20 zufolge „mein Angesicht“ nicht sehen und überleben; hier bleibt der scheinbare Anthropomorphismus erstaunlicherweise stehen (vgl. auch TgN), nicht so wenige Verse weiter. TgPs-J deutet Ex 33,23 nämlich folgendermaßen: Zunächst sollen die Engel, die vor Gott stehen und ihm dienen, an Mose vorbeiziehen.241 Anschließend wird festgehalten, dass Mose zwar nicht das Angesicht der Herrlichkeit der Schekina, jedoch den Knoten der Gebetsriemen der Herrlichkeit der Schekina242 sehen darf. Der Knoten des Gebetsriemens befindet sich normalerweise auf der Rückseite der Hand und am Hinterkopf der jüdischen Betenden. Diese originelle, wenn auch zunächst seltsam anmutende Vorstellung deutet an, was Ex 34,6f. gemäß dem MT (vgl. auch LXX) als Leseoption offen lässt, nämlich, dass Gott als vorbildlicher Beter erscheint, der Mose (und dann Israel) lehrt, wie man zu ihm beten soll,243 sodass das Gericht abgewendet wird. 240

Übersetzung: GOLDSCHMIDT 1897: 21. Vgl. die Auslegung in PRE 46, wo deutlich wird, dass die Engel an Mose vorbeiziehen ohne ihm schaden zu können, denn sie wollen ihn töten. Sie sind zornig und neidisch, weil er die Herrlichkeit Gottes ausnahmsweise sehen darf, die die Engel, die Gott doch Tag und Nacht dienen, nicht sehen dürfen. 242 Die Phrase lautet nach dem Text von CAL ‫קטר דבידא דתפילי איקר שׁכינתי‬. Diese syntaktisch schwierige und für TgPs-J ungewöhnlich anthropomorphistische Lesart (zumal in Ex 33,22 Gottes „Hand“ durch „Memra“ ersetzt wurde) mit ‫„ דבידא‬an der Hand“ stammt aus der Londoner Handschrift British Library MS 27031 von Pseudo-Jonathan. Anders liest die Editio Princeps: Sie hat ‫ דבירא‬statt ‫דבידא‬. Auch die Herausgeber der Textausgabe der Londoner Handschrift weisen darauf hin, dass die Lesart ‫ דבידא‬ein Fehler ist und das Wort ‫דבירא‬ heißen müsse (CLARKE 1984: xi). Die Übersetzung von MAHER (1994: 258), die sich hier an der Editio Princeps und an bTBer 7a orientiert, lässt ‫ דבירא‬unübersetzt, da, so MAHER, „Ps.-J.’s rendering may be a conflate reading“ (1994: 258). Anders VERMES 1973: 158f.: „bearing in mind that the interpreter’s task was to forge a reasonable link between God’s back and his Name, the Ps.-Jonatan rendering is also acceptable as it stands“. Gemäß VERMES Deutung von TgPs-J ist das Wort der herrlichen Schekina in dem Phylakterium der Gottesname JHWH und damit ein Verweis auf die nachfolgende Namensoffenbarung (1973: 159). LIPTONS Deutung (2008: 307ff.) geht von der Lesart der Londoner Handschrift aus und bietet folgende Erklärung: „the targumist chose a form of the word ‚hand‘ that enabled him to reflect both the tefillin tradition found in b. Ber. 7a, and the ‚word‘ or ‚oracle‘ tradition of other targumim“ (LIPTON 2008: 309). 243 Vgl. bTBer 7a: „R. Johanan sage im Namen des R. Jose: Woher dies, dass der Heilige, gebenedeiet sei er, betet? – weil es heisst: Und ich werde sie nach meinem heiligen Berg bringen, und ich werde sie in meinem Bethaus erfreuen. Es heisst nicht ‚in ihrem Bethaus‘, sondern ‚in meinem Bethaus‘, woraus folgt, dass der Heilige, gebenedeiet sei er, betet. Was betet er? R. Zutra b. Tobia sagte im Namen Rabhs: Es möge mein Wille sein, dass meine Barmherzigkeit meinen Zorn bezwinge, dass meine Barmherzigkeit sich über meine Eigenschaften [des Rechts] wälze, dass ich mit meinen Kindern nach der Eigenschaft der 241

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TgN Ex 33,23 zufolge darf Mose „die Rede/das Wort244 der Herrlichkeit der Schekina“ (‫ )דבורה דאיקר שׁכינתי‬sehen,245 aber nicht „das Angesicht der Herrlichkeit meiner Schekina“ (‫)אפי איקר שׁכינתי‬. Damit wird eine interessante Unterscheidung innerhalb der „Herrlichkeit der Schekina“ vollzogen, die die Spannung in der Erzählung widerspiegelt zwischen den Hinweisen dafür, dass Mose etwas „sehen“ durfte – die Herrlichkeit Gottes, paradoxerweise bestehend in der Namensoffenbarung246 –, und denen, dass er etwas nicht sehen durfte – das „Angesicht“ Gottes.247 Die Frage, ob Mose die Herrlichkeit Gottes gesehen hat oder nicht, lässt sich also aus Sicht von TgN nicht einfach mit „Ja“ oder „Nein“ beantworten. Erstaunlicherweise ist es gemäß TgN Ex 34,6 (vgl. auch TgFrag V Ex 34,6) Mose, der, nachdem die Herrlichkeit der Schekina Gottes vorbeigezogen ist (die Herrlichkeit Gottes erwähnen weder der MT noch die LXX), betet und sagt: „O Lord, O Lord, gracious and merciful God, patient, far removed from anger and nigh of mercy and bounteous to do grace and truth …“ Demnach ist Mose hier der vorbildliche Beter. Als Mose mit den neuen Tafeln zum Volk hinabkommt, geschieht nach TgPs-J Ex 34,29 (vgl. auch TgN) Folgendes: „Moses did not know that the splendour of the features of his face shone because of the splendour of the Glory of the Shekinah of the Lord at the time that he spoke with him.“ So wird das explizit gemacht, was im hebräischen Text enthalten ist: Mose hat die Herrlichkeit der Schekina Gottes gesehen, denn sein strahlendes Angesicht bezeugt dies.

Barmherzigkeit verfahre und dass ich ihretwegen innerhalb der Rechtslinie eintrete“ (Übersetzung nach GOLDSCHMIDT 1897: 19); bTRH 17b: „Der Herr zog an ihm vorüber, indem er rief. R. Johanan sagte: Wäre es nicht ein geschriebener Schriftvers, so dürfte man es gar nicht sagen: dies lehrt nämlich, dass der Heilige, gepriesen sei er, sich wie ein Vorbeter [in den Gebetsmantel] hüllte und Moše die Gebetsordnung zeigte, indem er zu ihm sprach: So oft die Kinder Jisraél sündigen werden, mögen sie vor mir nach dieser Ordnung verfahren, und ich vergebe ihnen. O Herr, o Herr; ich bin [gnädig] bevor der Mensch sündigt, und bin es nachdem er gesündigt und Buße getan hat. Ein barmherziger und gnädiger Gott. R. Jehuda sagte: Es ist ein geschlossenes Bündnis, dass die dreizehn Eigenschaften [Gottes] nicht erfolglos bleiben, denn es heißt: siehe, ich schließe ein Bündnis“ (Übersetzung: GOLDSCHMIDT 1899: 335). 244 Die verschiedenen Targumim und auch die Randnotizen in TgN haben hier ganz unterschiedliche Schreibweisen (vgl. MCNAMARA 1994: 137). 245 Vgl. TgFrag P Ex 33,23: „And I shall remove the groups of angels who stand and serve before Me, and you shall see the dibbura of the Lord, but it is impossible for you to see My ’iqar šekhinta“ (Text: KLEIN 1980; Übersetzung: KLEIN 1980); ähnlich auch TgFrag V Ex 33,23; vgl. Sifre Num §103. 246 S.u. Sifre Num §103. 247 Vgl. VERMES 1973: 155ff.

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2.5 Ex 32ff. in weiteren (früh-)jüdischen Auslegungen248 Im Folgenden sollen anhand der o.g. Leitfragen die für die Auslegung von Joh 1,14–18 relevanten Aspekte der Erzählung Ex 32–34 in einigen frühjüdischen Texten untersucht werden. In 1Hen 14,20f.249 wird festgehalten, dass niemand Gott schauen kann. Nach 1Hen 14,8ff. hat Henoch (eine Figur mit Anklängen an Mose) eine Vision, in der er in den Himmel entrückt wird, wo er ein überaus herrliches, prachtvolles und großes Haus sieht, welches aus Feuerzungen erbaut ist (1Hen 14,15f.). Auf dem darin befindlichen hohen Thron sieht er „die große Herrlichkeit“ sitzen, „und ihr Gewand war strahlender als die Sonne und weißer als aller Schnee“. Nicht einmal die Engel können eintreten, „noch sein Angesicht [gemeint ist das Angesicht eines der Engel; E. K.] den Erhabenen und Herrlichen sehen, und keiner, der zum Fleisch gehört, vermag ihn zu sehen“250. Die Rede von solchen, die zum „Fleisch“ gehören, d.h. irdisch verhaftet und dem Irdischen verfallen sind251, und Gott daher nicht sehen können,252 erinnert an Ex 33,20. Gemäß 2Hen253 22,1 sah Henoch „im zehnten Himmel […] eine Erscheinung des Angesichtes des Herrn – wie Eisen, das glühend gemacht [und] aus dem Feuer genommen, Funken sprüht und brennt. So sah ich das Angesicht des Herrn. Und ich sah den Herrn [von Angesicht] zu Angesicht [vgl. Ex 33,11 MT], und sein Angesicht ist mächtig und überhaus herrlich, wunderbar und überaus furchtbar, schrecklich und schaudervoll“254. Es ist signifikant, dass das

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Die Untersuchung von SUOMALA 2004 behandelt die Rezeption von Ex 32–34 in der nachbiblischen Literatur, jedoch unter anderen Gesichtspunkten als in meiner Arbeit. Sie ist daher nur bedingt relevant für meine Belange. 249 Übersetzung: UHLIG 1984. 250 Vgl. die in der Anmerkung zu 14,21b angegebene alternative Lesart (nach L09 (= British Library 491) C021 (?) (= Ethiopian Microfilm Manuscript Library 1768, Aeth II): „Und den Anblick seines Angesichts, der erhaben und herrlich (ist), vermochte keiner, der dem Fleisch angehört, zu sehen.“ 251 Vgl. UHLIG 1984: 540: Anm. 21c. 252 1Hen 89,23.26.30 ist zwar auch vom „Angesicht Gottes“ die Rede, doch macht der Kontext deutlich, dass es sich um die Gegenwart Gottes in der Wolken- und Feuersäule beim Auszug Israels aus Ägypten bzw. bei der Theophanie am Sinai handelt 1Hen 89,26), welche man durchaus sehen konnte. Der vorliegende unterschiedliche Gebrauch von „Angesicht“ zeigte sich ja schon in Ex 33f. (vgl. Ex 33,14 mit 33,20.23). 253 Nach BÖTTRICH steht „[d]er jüdische Charakter des Hen(sl) […] außer Zweifel. Wo christlicher Sprachgebrauch vorliegt, ist er entweder als Interpolation oder als traditionsgeschichtliche Vorstufe zu erweisen“ (1995: 814). BÖTTRICH datiert 2Hen ins 1. Jahrhundert n.Chr. (vgl. 1995: 812f.). 254 Übersetzung: BÖTTRICH 1995. BÖTTRICH meint, in 2Hen 21,6–22,3 liegt eine spätere Interpolation vor, die einen Einfluss der jüdischen Mystik aufweist (vgl. 1995: 889: Anm. XXI 6a). Einige Handschriften (V/N/B2), die die kürzere Rezension von 2Hen bieten, lassen 21,6–22,3 aus und fügen stattdessen ein (nach Böttrich in bewusstem Gegensatz zur

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Angesicht Gottes mit Licht- und Feuerterminologie beschrieben wird. Dies knüpft an biblische Theophaniebeschreibungen an, wo die Herrlichkeit Gottes mit Feuer assoziiert wird.255 Ein prominentes Beispiel ist Ex 24,17. Der demütige Henoch kann die Vision kaum in Worte fassen: „Wer bin ich, um das unumfaßbare Sein des Herrn zu erzählen, und sein überaus wunderbares und unaussagbares Angesicht?“ (2Hen 22,2; vgl. auch 22,3). Es erhebt sich die Frage, ob 2Hen das „Angesicht des Herrn“ hier tatsächlich als „stereotype Formel für die Gegenwart Gottes“ verwendet (wie z.B. in 2Hen 2,2 oder 2Hen 22,5f.), „in der sich der hebr. Sprachgebrauch spiegelt“256, oder ob nicht doch ein speziellerer Gebrauch vorliegt. Letzteres könnte nahegelegt sein durch 2Hen 39257, eine Passage, die insgesamt an Ex 33f. erinnert.258 Im Zuge der Legitimation des Henoch als eines Gesandten Gottes und Offenbarungsvermittlers (2Hen 39,2) spricht Henoch davon, dass seine „Kinder“ zwar nur Worte aus Henochs menschlichem Mund hören, sein menschliches Angesicht, seine Augen, seine Rechte (Hand/Arm), seinen Körper259 sehen, er aber Worte „von dem feurigen Mund des Herrn“ hörte, ein „Seher des Angesichtes des Herrn [war], [das] wie vom Feuer glühend gemachtes und [dann] herausgenommenes Eisen Funken sprüht und brennt“, „die Augen des Herrn [sah], wie die Strahlen der Sonne, die leuchten und die Augen der Menschen erschrecken“, ebenso wie Gottes Rechte (Hand/Arm) und „das Ausmaß des Herrn, unermesslich und beispiellos, und es hat kein Ende“ usw. (2Hen 39,3–7). Damit wird eine Körperlichkeit Gottes einerseits evoziert, andererseits durch die Übersteigerungen ins Unermessliche wieder der Vorstellungskraft enthoben. Henoch sagt dann zu seinen Kindern: „Angstvoll und gefährlich ist es, vor dem Angesicht eines irdischen Königs zu stehen, furchtbar und sehr gefährlich ist es. Denn der Wille des Königs ist Tod, und der Wille des Königs ist Leben“ (2Hen 39,8). Hier scheint der „höfische“ Gebrauch von „Angesicht“ vorzuliegen: Es geht um eine Audition beim Herrscher. In einem Schluss vom Kleineren zum Größeren formuliert Henoch im Anschluss daran und in Aufnahme von Ex 33,20.23260: „So viel furchtbarer und gefährlicher ist es, vor dem Angesicht des Königs der Könige, des Herrschers über Lebende und Tote und der Interpolation): „Und ich fiel nieder, und ich konnte Gott den Herrn nicht sehen, und ich betete den Herrn an.“ 255 Vgl. ORLOV 2000: 135. 256 So BÖTTRICH 1995: 890: Anm. XXII 1b). 257 2Hen 39,3–8 „verrät“ nach BÖTTRICH „die Hand einer späteren Interpolation aus dem Bereich der frühen jüd. Mystik“ (1995: 943, Anm. XXXIX 3a), der sich auch 21,6–22,3 verdankt (vgl. Fußnote 254). 258 Vgl. ORLOV 2000: 136. 259 Diese Lesart (statt „Taten“) zieht BÖTTRICH hier vor (1995: 944: Anm. XXXIX 6a), da „die Aufzählung einzelner Körperteile (Mund, Gesicht, Augen, rechte Hand) […] zwangsläufig darauf zuzuführen“ scheint. 260 Vgl. ORLOV 2000: 139.

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irdischen und himmlischen Heerscharen zu stehen. Wer besteht jene unendliche Ohnmacht?“. Die Antwort ist aufgrund von 2Hen 20ff. (bzw. der Ansicht des Interpolators) offensichtlich: Henoch. Er ist die große Ausnahme. Er hat das „Angesicht Gottes“ gesehen und überlebt. Durfte Henoch also das sehen, was Mose noch verwehrt wurde? Oder geht 2Hen (bzw. der Interpolator) davon aus, dass Mose das Angesicht Gottes sehen durfte (gegen den Wortlaut von Ex 33,20.23) und darum auch Henoch, der Mose ja ähnlich ist? Henoch wird nach 2Hen 22,9 gesalbt und neu eingekleidet261 durch Michael, den „Archistrategen des Herrn“. Wichtig ist nun, von welcher Qualität das Öl und die Kleidung Henochs sind: „Er [sc. Michael] salbte mich und kleidete mich, und das Aussehen jenes Öles war mehr als großes Licht, und sein Salböl war wie guter Tau, und sein Wohlgeruch wie Myrrhe, und es war wie die glänzenden Strahlen der Sonne“ (2Hen 22,9). Henoch steht damit „seinen Herrlichen“, d.h. den Engeln hinsichtlich ihrer Herrlichkeit in nichts nach (2Hen 22,10). 2Hen 37,1f. zufolge muss Henochs Gesicht jedoch „abgekühlt“ werden, weil es durch die Schau des Angesichtes Gottes nun auch wie jenes „glüht“, aber so nicht von den Menschen auf der Erde, zu denen Henoch gesandt wird, gesehen werden kann.262 „[D]er Abglanz von Gottes Herrlichkeit muss auf ein für irdische Verhältnisse erträgliches Maß reduziert werden.“263 Den Hintergrund dieser Passage dürfte Ex 34,29–35 bilden.264 Zwar folgt Sir 45 nicht exakt der Erzählreihenfolge in Ex, aber es finden sich doch einige Bezüge zu jener Erzählung. Gemäß Sir 45,2 machte Gott Mose „gleich der Herrlichkeit [LXX.D übersetzt δόξα mit „Ehre“] der Heiligen“. Da die Heiligen δόξα haben und Mose diese nicht hat, er aber sicherlich über den Israeliten steht, sind mit den Heiligen wahrscheinlich Engel gemeint. Der beschriebene Vorgang des „Gleichmachens“ mit der Herrlichkeit der Heiligen könnte sich auf Ex 34,29ff. beziehen.265 Im nächsten Vers ist dann die Rede von den Anordnungen, die Gott Mose für sein Volk gab (ἐνετείλατο αὐτῷ πρὸς λαὸν αὐτοῦ; vgl. Ex 34,27–35), und der Herrlichkeit Gottes, die Gott Mose zeigte (ἔδειξεν αὐτῷ τῆς δόξης αὐτοῦ). Letztere Formulierung spielt wohl auf Ex 33,18 an: δεῖξόν µοι τὴν σεαυτοῦ δόξαν. Daraus folgt, dass Mose am Sinai aus Sicht des Verfassers von Sir durchaus die Herrlichkeit Gottes sehen durfte (vgl. Num 12,8 LXX) und dadurch der Herrlichkeit der Heiligen gleichgemacht 261 Zur Bedeutung dessen vgl. die Anmerkungen BÖTTRICHS z.St. (1995: 893) und die Diskussion bei BACK 2002: 62ff. 262 2Hen 37,2: „Und der Herr sprach zu mir: ‚Henoch, wenn dein Gesicht nicht hier abgekühlt wird, kann kein Mensch dein Angesicht sehen.“ Es ist allerdings verwirrend, dass offenbar auch Henoch selbst der Abkühlung bedarf (vgl. dazu BÖTTRICH 1995: 941: Anm. XXXVII 1f). 263 BÖTTRICH 1995: 941: Anm. XXXVII 2b). 264 Vgl. u.a. ORLOV 2000: 141. 265 Der hebräische Text legt eher einen Bezug zu Ex 7,1 nahe (so WRIGHT 2008: 192, der in Anm. 26 allerdings auch noch auf Ps 8,6 und Ex 34,29 hinweist).

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wurde (vgl. 2Hen 22,9ff. ). Wie sich dies zu der negativen Aussage Gottes in Ex 33,20.23 verhält, wird jedoch nicht deutlich. In EzTrag wird zwar nicht explizit die „zweite“ Sinaitheophanie, in Zeile 90–95 wird jedoch die damit in Verbindung stehende Begegnung Moses mit dem rätselhaften brennenden Dornbusch beschrieben. Im Anschluss (EzTrag 96ff.) spricht Gott zu ihm und fordert ihn auf, seine Sandalen auszuziehen, bevor er heilige Erde betritt. Gott löst dann das Rätsel des brennenden Dornbusches auf. Vogt übersetzt den Satz in Zeile 99 folgendermaßen: „die Stimme Gottes ist es, die dir aus dem Dornbusch strahlt“ (kursiv von mir). Tatsächlich steht im griechischen Text, dass aus dem Dornbusch (ein) θεῖος λόγος „strahlt“266 (ἐκλάµπει).267 Aufgrund des biblischen Textes, wonach es der/ein ἄγγελος κυρίου war, der Mose in einer Feuerflamme aus dem Dornbusch erschien (Ex 3,2: ὤφθη δὲ αὐτῷ ἄγγελος κυρίου ἐν φλογὶ πυρὸς ἐκ τοῦ βάτου), ist hier mit dem göttlichen Logos wohl nicht „Stimme“ gemeint. Eher wird hier mit dem θεῖος λόγος ein göttliches Wesen bezeichnet. Gleichwohl ist, wie im biblischen Text, so auch hier, deutlich, dass Gott zu Mose spricht, was die hier nicht zu beantwortende Frage aufwirft, in welchem Verhältnis der göttliche Logos und der Gott der Väter stehen. Gemäß Zeile 100f. sagt Gott zu Mose, dass er am Dornbusch Gottes Worte (λόγων ἐµῶν) hören darf, „denn mein Antlitz zu sehen ist unmöglich für einen Sterblichen (ἰδεῖν γὰρ ὄψιν τὴν ἐµὴν ἀµήχανον θνητὸν γεγῶτα), auf meine Worte (τῶν λόγων […] ἐµῶν) aber kannst du hören, um derentwillen bin ich gekommen“. Diese Aussage findet sich allerdings nicht im Zusammenhang der biblischen Schilderung der Erscheinung Gottes am Dornbusch, sondern erst in Ex 33,20.23. In der biblischen Erzählung heißt es, dass „Mose sein Angesicht verhüllte, denn er fürchtete sich, Gott anzuschauen (‫ל־ה ֱא ִהים‬ ָ ‫( “) ָי ֵרא ֵמ ַה ִבּיט ֶא‬MT) bzw. nach der (wohl bewusst davon abweichenden Fassung der) LXX: „Mose aber wandte sein Angesicht ab. Er scheute sich nämlich, in der Gegenwart Gottes niederzublicken“ (ἀπέστρεψεν δὲ Μωυσῆς τὸ πρόσωπον αὐτοῦ εὐλαβεῖτο γὰρ κατεµβλέψαι ἐνώπιον τοῦ θεου). Folglich hat der Tragiker beide Sinai-Texte in Verbindung miteinander gesehen (was auch in der rabbinischen Literatur belegt ist). Angesicht dessen ist es bemerkenswert, dass direkt vor dieser Szene ein Traum Moses und seine Deutung durch seinen Schwiegervater erzählt werden (EzTrag 68–82; 83–89), in dem Mose auf dem Gipfel des Sinai zum kosmischen Herrscher268 eingesetzt wird (EzTrag 74ff.) und Folgendes sehen darf (EzTrag 77–81): „Ich aber erblickte das ganze Erdenrund und was unter der 266 Möglicherweise ist der Text bewusst doppeldeutig, zumal wenn man den Prätext nicht kennt. So gibt LSJ, s.v. neben „scheinen“ auch folgende Bedeutung an: „of sound, to be clearly heard“. 267 Text: JACOBSON 1983; Übersetzung: VOGT 1983. 268 Eine knappe Diskussion bietet HURTADO 1998: 57ff.

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Erde und über dem Himmel ist, und eine Fülle von Sternen fiel mir zu Knien, ich aber zählte sie alle, und sie zogen an mir vorbei wie ein Heer von Sterblichen269.“ Moses Schwiegervater deutet diesen Traum und sagt (EzTrag 83–89): Freund, Herrliches (oder: Gutes [καλόν]) hat Gott dir da angezeigt: ich wollte, ich lebte (noch), wenn sich dir dies einst erfüllt [wohl am Sinai; E.K.]. Wahrlich, einen Großen wirst du vom Thron vertreiben und selbst als Richter walten und Menschen (an)führen. Der Anblick aber der ganzen bewohnten Erde und dessen, was unter der Erde ist und über Gottes Himmel ist, (bedeutet, dass) du schauen wirst, was ist und was war und was sein wird (ὄψει τά τ᾽ ὄντα τά τε πρὸ τοῦ τά θ᾽ ὕστερον).270

„Was ist und was war und was sein wird“ (entspricht der Phrase „das ganze Erdenrund und was unter der Erde und über dem Himmel ist“) ist nach Meeks271 ein summarischer Ausdruck für die Geheimnisse (vielleicht des göttlichen Handelns), in die Mose umfassenden Einblick auf dem Sinai (bzw. im Himmel) erhält.272 Grundsätzlich gilt für die Rezeption von Ex 32–34 bei Philo: „Although he does discuss both the Golden Calf episode and the desire of Moses to see God’s glory, he never puts them together within an integrated story of Israel’s sin and divine mercy.“273 Im Rahmen meiner Arbeit interessiert mich besonders, wie Philo Moses Bitte nach einer Gottesschau274 deutet. Eine ausführliche allegorische Deutung findet sich u.a. in spec. I 41–50. Im Kontext geht es um die Frage nach der Beschaffenheit des Wesens (οὐσία) Gottes (vgl. spec. I 32.36). Zwar können wir nach Philo „keine klare Vorstellung von dem wahrhaft seienden Gotte haben“ (τῆς κατὰ τὸν ὄντως ὄντα θεὸν ἐναργοῦς φαντασίας ἀµοιροῦµεν), das heißt aber nicht, dass das Forschen an sich sinnlos ist und zu gar keinem Ergebnis führt (spec. I 40). In diesem Zusammenhang kommt Philo auf die Bitte des Mose „offenbare dich mir“ (ἐµφάνισόν µοι σαυτόν; fast identisch mit Ex 33,13 LXX [MT: „Lass mich deine Wege erkennen“]) zu sprechen. Philo versteht dies so, dass Mose damit zum Ausdruck bringt, dass ihn der Kosmos zuvor über die Existenz Gottes belehrt hat, sich nun aber kein Lehrer findet, der ihn bezüglich des Wesens Gottes (κατὰ τὴν οὐσίαν) unterrichtet als allein Gott selbst, zumal „kein einziges Geschöpf dazu imstande ist, aus eigener Kraft das Wesen Gottes zu studieren“ (τῶν γεγονότων ἱκανὸς οὐδὲ εἷς ἐξ ἑαυτοῦ τὸν κατὰ τὸ εἶναι θεὸν ἀναδιδαχθῆναι; post. 16). Für Philos Mose, den Prototyp eines „Flehenden, der Dich liebt und Dir allein zu 269 Zu den Sternen bzw. Engeln, die an Mose vorbeiziehen vgl. TgN Ex 33,22f.; TgPs-J Ex 33,23. 270 Kursiv von mir. 271 Vgl. MEEKS 1967: 208. 272 S.u. ExR 45 zu Ex 33,18, wonach Mose diese Einsicht in das, „was oben und was unten ist, was gewesen ist und was sein wird“, jedoch gerade nicht erhält; vgl. 4Esr 14,5. 273 BARCLAY 2010: 89. 274 Das komplexe Thema „Gottesschau bei Philo“ wird ausführlich erörtert bei MACKIE 2009/2012.

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dienen wünscht“, steht fest, dass, „wie das Licht durch nichts anderes erkannt wird, (sondern indem) es selbst sein eigenes Erkennungszeichen ist (ὡς τὸ φῶς ὑφ᾽ ἑτέρου µὴ γνωριζόµενον αὐτὸ ἑαυτοῦ γνώρισµά ἐστιν), so kannst auch Du allein Dich offenbaren“ (οὕτως καὶ σὺ σεαυτὸν µόνος ἂν φῆναι δύναιο; spec. I 42). Demgemäß kann nur Gott selbst Gott offenbaren. Philo lässt Gott den Lerneifer Moses zunächst loben, aber seine Bitte ablehnen, und zwar mit der folgenden Begründung: „Sie ziemt sich für keines der erschaffenen Wesen“ (τὸ δ᾽ αἴτηµα οὐδενὶ τῶν εἰς γένεσιν ἡκόντων ἐφαρµόζει), zu denen auch Mose gehört (spec. I 43). Damit greift Philo wahrscheinlich Ex 33,20 auf, wonach Mose und auch sonst „kein Mensch (ἄνθρωπος) mein Angesicht sehen darf“, sodass man annehmen kann, dass Philo unter dem „Angesicht“ Gottes sein Wesen versteht. Die Erkenntnis des Wesens Gottes könnte Gott Mose zwar geben. Aber da er ein Geschöpf ist, übersteigt sie seine Kapazitäten bei Weitem, auch wenn er ein Gottliebender und Gottgeliebter war (Mos. II 67). Daher bittet Philos Mose gemäß spec. I 45 nun darum, statt des Wesens Gottes zumindest „die dich umgebende Herrlichkeit zu schauen“ (τὴν περὶ σὲ δόξαν θεάσασθαι), d.h. nach Philos Mose „die dienstbaren Kräfte zu Deiner Seite“ (τὰς περὶ σὲ δορυφορούσας δυνάµεις).275 Doch auch darauf ist die Antwort Gottes (spec. I 46f. ) negativ: Die Kräfte (bzw. „Ideen“ [ἰδέα], wie sie „einige von euch“ [τινες τῶν παρ᾽ ὑµῖν; spec. I 48] – wohl die Platoniker – nennen) sind genau wie Gott unsichtbar (ἀόρατος), ihr Wesen kann nicht erfasst werden.276 Demgemäß durfte Mose auch Gottes Herrlichkeit nicht direkt schauen (indirekt wohl schon, wie aus Mos. II 69f. hervorgeht). Gleichwohl „lassen sie [die Kräfte] einen Abdruck und ein Abbild ihrer Wirksamkeit (ἐκµαγεῖόν τι καὶ ἀπεικόνισµα τῆς ἑαυτῶν ἐνεργείας) in Erscheinung treten“ (spec. I 47). Daraus folgt für Mose, dass er zwar nicht das Wesen Gottes und seine Herrlichkeit, d.h. seine Kräfte direkt sehen kann, doch soll er den Kosmos und das, was in ihm ist, mit den „niemals schläfrigen Augen des Denkens“ (τοῖς διανοίας ἀκοιµήτοις ὄµµασι; eigene Übersetzung) betrachten als eben jenen Abdruck und Abbild der Kräfte (spec. I 49). Zwar wird dies im Text nicht explizit gesagt, doch lässt sich vermuten, dass Philo den biblischen Ausdruck τὰ ὀπίσω µου (Ex 33,23) gleichsetzt mit dem Kosmos als dem besagten Abdruck und Abbild der Kräfte.277

275

Vgl. zur philonischen Verbindung der Herrlichkeit mit den Kräften Gottes QE II 45.47. 276 Man beachte, dass die (fünf) „Kräfte“ nach PHILO, Fug 94–105 in enger Verbindung stehen zum göttlichen Logos, der über diesen „Kräften“ steht (Fug 101), selbst wiederum unmittelbar von Gott Anweisungen erhält bezüglich der Lenkung des Alls (Fug 101). Der göttliche Logos kommt gemäß Fug 101 allerdings nicht zum sichtbaren Ausdruck wie die „Kräfte“, da er ja selbst ein εἰκὼν θεοῦ ist. 277 Die eigentliche Schau wird hier nicht berichtet, vgl. aber Mos. II 69f.

2. Digression

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Diese Schlussfolgerung wird bestätigt durch eine ähnliche Passage in mut. 7ff. Hier geht es auch um den Wunsch Moses nach Erkenntnis des Wesens Gottes, der ihm jedoch nicht erfüllt wird. Das, was „dem Besten der sterblichen Geschlechter“ (τῷ θνητῶν ἀρίστῳ γένει) höchstens geschenkt werden kann, ist „das Wissen von den Körpern und Sachverhalten, die nach dem Seienden“ (τῆς τῶν µετὰ τὸ ὂν σωµάτων τε ὁµοῦ καὶ πραγµάτων ἐπιστήµης) sind. Zur Begründung wird Ex 33,23 angeführt und ausgelegt: Die Aussage Gottes, dass Mose ὄψει τὰ ὀπίσω µου, τὸ δὲ πρόσωπόν µου οὐκ ὀφθήσεταί σοι „bedeutet, dass die Körper wie die Sachverhalte, die nach dem Seienden kommen [also τὰ ὀπίσω µου; E.K.], erfasst werden können (wenn auch nicht alle schon wirklich erfasst werden), jenes allein sich der Sichtbarkeit entzieht“ (mut. 9).278 In LA III 100ff. findet sich eine weitere allegorisch-philosophische (im Hintergrund steht deutlich platonische Philosophie) Deutung von Ex 33,13 LXX, die, so scheint es, in Spannung steht zu seiner eigenen, oben dargelegten Interpretation desselben Schriftworts: 100 Es gibt aber noch eine vollkommenere und reinere Geistesrichtung (τελεώτερος καὶ µᾶλλον κεκαθαρµένος νοῦς), die in die grossen Geheimnisse eingeweiht ist (τὰ µεγάλα µυστήρια µυηθείς): diese erkennt nicht aus den gewordenen Dingen die Ursache (ἀπὸ τῶν γεγονότων τὸ αἴτιον γνωρίζει), wie aus dem Schatten das Bleibende, sie überspringt vielmehr das Gewordene und empfängt einen deutlichen Eindruck von dem Ungewordenen (ἀc ᾽ ὑπερκύψας τὸ γενητὸν ἔµφασιν ἐναργῆ τοῦ ἀγενήτου λαµβάνει), sodass sie durch diesen sowohl ihn selbst wie seinen Schatten, das heisst die (göttliche) Vernunft und diese Welt begreifen kann (ὡς ἀπ᾽ αὐτοῦ αὐτὸν καταλαµβάνειν καὶ τὴν σκιὰν αὐτοῦ, ὅπερ ἦν τόν τε λόγον καὶ τόνδε τὸν κόσµον). 101 Von solcher Art ist Moses, der spricht: „Offenbare dich mir, dass ich dich erkennend sehe“ (ἐµφάνισόν µοι σαυτόν, γνωστῶς ἴδω σε; 2Mos. 33,13), das heisst: offenbare dich mir nicht (µὴ γὰρ ἐµφανισθείης µοι) durch Himmel, Erde, Wasser, Luft und überhaupt etwas Erschaffenes; ich möchte auch nicht dein Bild in irgend etwas anderem widergespiegelt sehen, sondern es in dir, der Gottheit, erblicken (µηδὲ κατοπτρισαίµην ἐν ἄλλῳ τινὶ τὴν σὴν ἰδέαν ἢ ἐν σοὶ τῷ θεω); denn die Erscheinungen (oder: Eindrücke; αἱ ἐµφάσεις) in den gewordenen Dingen lösen sich auf, die in dem Ungewordenen aber bleiben dauernd fest und ewig. Deswegen ruft Gott den Moses hinauf und spricht zu ihm (3 Mos. 1,1). 102 Auch den Bezaleel beruft er, aber doch nicht in gleicher Weise, sondern jenen, der den Begriff (oder: den Eindruck) von Gott von dem Schöpfer (oder: der Ursache) selbst empfängt (ἀλλὰ τὸν µὲν τὴν ἔµφασιν τοῦ θεοῦ λαµβάνοντα ἀπ᾽ αὐτοῦ τοῦ αἰτίου), anders 278

Vgl. auch Fug 165: „Gleichwohl vermochte er [sc. Mose] nichts über das Wesen des Seienden zu erforschen; denn es heißt [es folgt das Zitat aus Ex 33,23 und die Deutung:] Denn der Weise begnügt sich damit, zu erkennen, was mit Gott zusammenhängt, ihm nachfolgt und nächst ihm ist (τὰ ἀκόλουθα καὶ ἑπόµενα καὶ ὅσα µετὰ τὸν θεὸν); wer aber das herrschende Wesen (τὴν δ᾽ ἡγεµονικὴν οὐσίαν) schauen will, wird von dem Glanz der Strahlen (τῷ περιαυγεῖ τῶν ἀκτίνων), bevor er es erblickt hat, erblinden“; post. 169: „alles, was nach Gott kommt, ist dem Strebsamen fassbar, er selbst allein aber ist unfassbar; unfassbar ist er durch das direkt und in gerader Richtung auf ihn zielende Streben – denn hierdurch wäre seine Beschaffenheit offenbart worden –, fassbar aber ist er durch die Kräfte in seinem Gefolge und in seiner Begleitung; denn diese zeugen nicht für sein Wesen, wohl aber für seine Existenz aus den vollbrachten Werken.“

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als diesen, der aus dem Schatten, aus dem Gewordenen, den Baumeister durch Schlussfolgerung zu erkennen sucht…

Demnach ist Mose der Repräsentant einer „vollkommeneren und reineren Geistesrichtung“, die direkt von „dem Ungewordenen einen deutlichen Eindruck empfängt“, infolgedessen Erkenntnis des Ungewordenen sowie Logosund Welterkenntnis entsteht (LA III 100). Allerdings geht es dabei nicht um eine direkte Erkenntnis des Wesens Gottes – vom Wesen Gottes ist hier gar nicht die Rede. Vielmehr möchte Mose die [platonische] „Idee“ Gottes (τὴν σὴν ἰδέαν) in (ἐν) Gott selbst erblicken, da die Eindrücke (αἱ ἐµφάσεις) in (ἐν) dem Ungewordenen „dauernd fest und ewig bleiben“ (µόνιµοι καὶ βέβαιοι καὶ ἀίδιοι ἂν διατελοῖεν; LA III 101). Doch was besagt das? Philo selbst bringt es in LA III 102 noch einmal auf den Punkt: Mose (in Überbietung von Bezaleel, dem Vertreter derjenigen, die aus den Werken auf den Meister schließen) empfängt, gleichsam passiv, von der Ursache aller gewordenen Dinge und somit von dem Ungewordenen selbst, den Eindruck von Gott (τὸν µὲν τὴν ἔµφασιν τοῦ θεοῦ), d.h. Mose erhält die Erkenntnis von Gottes Existenz direkt, nämlich durch Offenbarung. Folglich wird die Bitte Moses (Ex 33,13 LXX) gemäß philonischer Interpretation von Gott sowohl negativ als auch positiv beantwortet: Gott offenbart Mose zwar nicht direkt das Wesen Gottes, aber doch unmittelbar seine Existenz. Mit einer physischen Gottesschau aber hat dies offensichtlich nichts zu tun. Liber Antiquitatum Biblicarum (LAB) 11 schildert die Gabe des Gesetzes an Israel.279 Nach LAB 11,1f. sagt Gott: Ich werde der Welt Licht (lumen mundo) geben und ich werde erleuchten die bewohnten (Gegenden) und ich werde einen Bund schließen mit den Söhnen der Menschen und werde mein Volk verherrlichen über alle Völker (glorificabo populum meum super omnes gentes); in ihm habe ich ewige Erhabenheit angeordnet, die ihm zum Licht dienen wird (que eis erunt in lumine), den Gottlosen indes zur Bestrafung.“ 2 Und der Herr sprach zu Mose: „Siehe, ich werde dich rufen am morgigen Tag; du sollst bereit sein; […] und ich werde meine Worte in deinen Mund geben (verba mea in ore tuo), und du wirst mein Volk erleuchten (illuminabis populum meum) darum, weil ich in deine Hände das ewige Gesetz (legem sempiternam) legen werde…

Die Rede von Licht wird in LAB 12,1 wieder aufgegriffen, nun mit Bezug auf Mose:

279 Text: HARRINGTON 1976; Übersetzung: DIETZFELBINGER 1975. Vgl. auch die Analyse dieser Passage in der vorliegenden Arbeit im Abschnitt zu Joh 5.

2. Digression

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Da stieg Mose herab, und da er überströmt war von unsichtbarem Licht (lumine invisibile)280, als er herabgestiegen war an den Ort, wo das Licht (lumen) der Sonne und des Mondes ist,281 besiegte er mit dem Licht (lumen) seines Angesichts den Glanz (splendorum) der Sonne und des Mondes, und dies wusste er selbst nicht […] Und es geschah danach, als Mose wusste, dass sein Angesicht überaus glänzend (gloriosissima) gemacht worden war, machte er sich einen Schleier, womit er sein Angesicht überdeckte.

Dieser Bericht erfolgt in LAB im Gegensatz zum biblischen Prätext vor der Szene mit dem Goldenen Kalb, die gleich im Anschluss dargestellt wird. So wird der Zusammenhang zwischen dem Gesetz und dem Gesetzesübermittler sowie -deuter282 durch das Motiv des Lichts283 unterstrichen und Mose in seiner Funktion legitimiert. Dabei ist zu beachten, dass die Lichtterminologie eng zum biblischen Motiv der Herrlichkeit/des Glanzes (lat. gloria) gehört. Der Glanz kommt am Ende des obigen Zitats zur Sprache, wenn die Rede vom Angesicht Moses ist, welches „überaus glänzend (gloriosissima) gemacht worden war“ (vgl. auch LXX und die Targumim z.St.). Es liegt ausweislich dessen nahe, dass Mose aus Sicht des Autors von LAB die Herrlichkeit Gottes gesehen hat, vermutlich in Verbindung mit dem „ewigen Gesetz“. Obwohl LAB der Szene mit dem Goldenen Kalb und dem (Fürbitte-)Gebet Moses viel Raum gibt (vgl. LAB 12,2–9), fällt die Reaktion Gottes sehr knapp aus. Gemäß LAB 12,10 sprach Gott: „Siehe, ich bin barmherzig geworden gemäß deinen Reden. Haue dir darum zwei steinerne Tafeln aus von (eben) dem Ort, von wo aus du die früheren ausgehauen hattest, und schreibe auf sie wieder die Rechtssatzungen, die auf den ersten waren.“ Der erste Satz erinnert an Num 14,20. Der Vers ist Teil einer Erzählung, in der sich Mose explizit auf Ex 34,6f. bezieht (vgl. Num 14,17ff.). Demzufolge übernahm der Autor von LAB diese knappe Notiz der Erzählung aus Num 14, um seinen Bericht der Szene mit dem Goldenen Kalb in aller Kürze abzuschließen, ohne jedoch ausführlich auf die Namensoffenbarung Ex 34,6f. einzugehen. Ferner wird hier der Konnex zwischen Barmherzigkeit und Bundeserneuerung in Form der erneuten Gabe des Gesetzes durch Mose deutlich. Folgt man Newmans Analyse,284 dann ist die Namensoffenbarung Gottes zwar nicht an ihrem eigentlichen „Ort“, jedoch in anderen Zusammenhängen 280

Mit DIETZFELBINGER (dem sich JACOBSON [1996: 482] anschließt) ist hier ausweislich der biblischen Erzählung (Ex 34,30–35) und der Notiz, dass Moses Licht das Licht der Sonne und des Mondes weit übertraf (bzw. „besiegte“), nicht an ein Licht zu denken, dass nicht sichtbar, sondern „an ein Licht, in das hineinzusehen der Mensch nicht ertragen kann“ (DIETZFELBINGER 1975: 133, Anm. XII, 1a). 281 Vgl. JACOBSON 1996: 482: „One assumes that this is not merely a way of saying ‚the earthly world‘“; zu diesem speziellen Ort s. etwa 1Hen 41,5. 282 Vgl. LAB 12,2: „Mose wird kommen und […] das Gesetz wird er uns hellmachen (legem illuminabit nobis).“ 283 Vgl. zu Gott als Licht LAB 12,9. 284 Vgl. NEWMAN 2008: 137–156.

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in LAB rezipiert worden. Bei der Nacherzählung des Vorfalls, der in Num 14 berichtet wird, kündigt Gott gemäß LAB 15,5f. Strafe für das murrende Volk an. Direkt im Anschluss daran findet sich in LAB 15,8 signifikanterweise eine Bitte Moses um Barmherzigkeit, Milde und Erbarmen, die sich aufgrund der biblischen Vorgabe (expliziter Bezug von Num 14,17ff. auf Ex 34,6) plausibel als Aufnahme der Namensoffenbarung lesen lässt285: Habe etwa ich, bevor du den Samen nahmst, mit dem du den Menschen machtest auf der Erde, ihre Wege festgesetzt? Und darum möge jetzt deine Barmherzigkeit uns ertragen bis zum Ende und deine Milde bis in die Länge der Tage; denn wenn du dich nicht erbarmst, wer wird (dann noch) geboren werden?

In ähnlicher Weise findet sich ein weiterer Bezug zur Namensoffenbarung im Rahmen der Erzählung von Moses Tod.286 Beachtenswert ist, dass diese Anspielung erneut innerhalb eines Gebets bzw. einer Fürbitte Moses, nun aber am Ende seines Lebens erfolgt. Gemäß Newman präsentiert Pseudo-Philo „Moses, Israels prophet par excellence, as establishing an efficacious system of divine forgiveness for sins immediately preceding the momentous occasion of his death“287: …und jetzt erbitte ich deine Barmherzigkeit mit deinem Volk und dein Erbarmen mit deinem Erbe. Es möge festgemacht werden, Herr, deine Langmut gegen deinen Ort und über das Geschlecht der Erwählung, weil du sie vor allen geliebt hast […] Wer ist nämlich der Mensch, der nicht gegen dich gesündigt hat? Und wenn nicht deine Langmut bleibt, wie wird dein Erbe befestigt werden, wenn du ihnen nicht barmherzig sein wirst? (LAB 19,8f. )

Darauf antwortet Gott zustimmend und garantiert seine Barmherzigkeit288: „Und jetzt wird dein Stab, mit dem die Zeichen geschehen sind, zum Zeugnis dienen zwischen mir und meinem Volk, und es wird geschehen, wenn sie gesündigt haben, werde ich ihnen zürnen und werde mich erinnern meines Stabes und werde sie verschonen nach meiner Barmherzigkeit“ (LAB 19,11). Auf einige rabbinische Deutungen wurde am Rande der Analyse der Targumim schon kurz verwiesen, darunter Sifre Num §103 zu Num 12,6ff. Die relevanten Passagen jenes Paragraphen lauten: Im Schauen. Das (bezeichnet) das Schauen der Rede – Du sagt: Das (bezeichnet) das Schauen der Rede. Oder (bezeichnet es vielleicht) vielmehr das Schauen der Schekina289? – Da ist es eine Belehrung, dass es heißt: „Und er sprach: Mein Angesicht kannst du nicht schauen, denn es schaut mich kein Mensch und lebt“ (Ex 33,20) […] Und die Gestalt des Herrn schaut er. Das ist das Schauen der Rückseite (Gottes). – Du sagst: Das ist das Schauen der Rückseite. Oder ist das (vielleicht) vielmehr das Schauen des 285

Vgl. NEWMAN 2008: 144f. Vgl. NEWMAN 2008: 148ff. 287 NEWMAN 2008: 149f. 288 Vgl. NEWMAN 2008: 156. 289 Die Berliner Handschrift hat dagegen „das Schauen Gottes (‫( “)אלהים‬vgl. KUHN 1959: 269, Anm. 11). 286

2. Digression

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Angesichts? – Da ist es eine Belehrung, dass es heißt: „Dann werde ich meine Hand wegziehen und du wirst meine Rückseite schauen“ (Ex 33,23). [Das ist (also) das Schauen der Rückseite. „Aber mein Angesicht kann nicht geschaut werden“ (V. 23 b): Das ist das Schauen des Angesichts.] Und (ferner) sagt (die Schrift): „Und er breitete (die Schriftrolle) vor mir aus, und sie war auf der Vorderseite und auf der Rückseite beschrieben“ (Hes 2,10). – […] Welche Belehrung ergibt sich aber (dann) daraus, dass es heißt: „Auf der Vorderseite und auf der Rückseite“?: „Auf der Vorderseite“ (=) in dieser Welt; „und auf der Rückseite“ (=) in der zukünftigen Welt. „Auf der Vorderseite“ (=) Ruhe der Gottlosen und Leiden der Gerechten in dieser Welt; „und auf der Rückseite“ (=) Empfang des Lohnes für die Gerechten und der Strafen für die Gottlosen in der zukünftigen Welt.290

In aller Kürze wird ‫ במראה‬in Num 12,8291 so ausgelegt, dass Mose Gottes Reden bzw. seine Worte sieht.292 Die offensichtliche Paradoxie dessen fällt auch dem Fragesteller auf, denn das Konzept des Schauens passt doch eher zur Schekina, die gewöhnlich ein visuelles Phänomen ist. Zur gebotenen Auslegung wird als Begründung Ex 33,20 herangezogen, wonach Mose Gottes Angesicht (die Schekina) nicht sehen darf. Allerdings scheint damit der weitere Zusammenhang mit in den Blick genommen zu sein, denn Ex 33,20 für sich allein genommen vermag das Sehen von Gottes Rede nicht zu begründen, sondern lediglich dies, dass in Num 12,8 nicht die Schekina gemeint ist. Vermutlich hat der Ausleger die Namensoffenbarung im Blick. Diese Gottesrede (Ex 34,6f.) wird ja zuvor in Ex 33,23 mit dem Sehen dessen, was hinter Gott ist (‫ת־אח ָֹרי‬ ֲ ‫) ֶא‬, verbunden. Wie genau man sich ein Sehen der Rede Gottes vorgestellt hat, bleibt hier jedoch offen. Im weiteren Verlauf der Auslegung kommt erneut Ex 33f. ins Blickfeld zur Erklärung von Num 12,8. Nach Sifre Num §103 bezieht sich ‫ תמנת יהוה‬nicht auf das Angesicht, sondern auf die „Rückseite“ Gottes. Dies wiederum ist im zeitlichen Sinne zu verstehen. Folglich wurde Mose nicht erklärt, weshalb die Gottlosen293 in der gegenwärtigen Welt „Ruhe“ haben, doch die Gerechten leiden müssen. Dies bleibt gemäß dieser Auslegung Gottes Geheimnis. Allerdings wird diese Spannung in einen eschatologischen Rahmen gestellt und so abgemildert, indem Mose sehen darf, dass in der zukünftigen Welt die Gerechten ihren Lohn und die Gottlosen ihre Strafe schließlich doch erhalten werden. Weitere rabbinische Deutungen finden sich in ExR 45. In ExR 45 zu Ex 33,18 heisst es u.a.: 290

Übersetzung: KUHN 1959 (die eingeklammerten Gleichheitszeichen stammen von ihm). Der in eckige Klammern gesetzte Text „ist nachträgliche erläuternde Glosse“ (KUHN 1959: 271, Anm. 22) und fehlt in wichtigen Handschriften. 291 Der erste Teil von Num 12,8 MT lautet: „Mit ihm rede ich von Mund zu Mund, ‫וּמ ְר ֶאה‬ ַ und nicht in Rätselworten, und die Gestalt JHWHs schaut er.“ Einige Manuskripte (MSS) sowie die LXX, der syrische Text, der Samaritanus und TgO setzen die Lesart ‫ במראה‬statt ‫ ומראה‬voraus, so auch Sifre Num (vgl. KUHN 1959: 269, Anm. 9). 292 Vgl. KUHN 1959: 269, Anm. 9 und 12. 293 Damit sind wohl die gemeint, die nicht den Gott Israels, sondern Götzen anbeten.

86

2. Kapitel: Die Rezeption der Sinaitradition in Joh 1,14–18

R. Josua ben Karcha sagte: Mose that nicht recht, sein Angesicht zu verbergen, denn wenn er sein Angesicht nicht verborgen hätte, so würde ihm Gott offenbart haben, was oben und was unten ist, was gewesen ist und was sein wird. Zuletzt wollte er sehen, denn er sagte doch: „Lass mich deine Herrlichkeit sehen!“ Da sprach aber Gott zu ihm: Als ich wollte, wolltest du nicht, jetzt, da du willst, will ich nicht.294

R. Josua ben Karcha legt Moses Bitte nach der Schau der Herrlichkeit, die implizit identifiziert wird mit dem nicht gewährten Sehen des Angesichts, räumlich und zeitlich aus als „was oben und was unten ist, was gewesen ist und was sein wird“, welche Mose hätte sehen können, wenn er sein Angesicht beim Dornbusch nicht verborgen hätte. Vom Kontext her gesehen könnte damit der zukünftige Lohn der Gerechten gemeint sein, vielleicht ist es aber auch eine umfassende Formel für die Menge aller Geheimnisse (des göttlichen Handelns[?]) analog zu EzTrag 77f.89295. Jedenfalls ist er der Meinung, dass Mose die Herrlichkeit Gottes, hier identifiziert mit dem Angesicht Gottes, nicht sehen durfte. Demgegenüber vertreten andere die Meinung, dass Mose durchaus richtig gehandelt hat, als er sein Angesicht verbarg, und Gott dafür mit ihm redete (so R. Josua von Sichnin im Namen des R. Levi) und ihm seine Herrlichkeit zeigte. Denn im Gegensatz zu ihm „entblössten Nadab und Abihu ihre Häupter und sättigten ihre Augen an der Schechina, wie es heisst Ex. 24,11: ‚An die Edlen der Kinder Israels legte er nicht seine Hand‘“; dafür wurden sie dann später mit dem Tode bestraft (vgl. Lev 10,1ff. ). Moses Wunsch, die Herrlichkeit Gottes zu sehen, wird daneben auch so gedeutet (ohne Angabe einer Autorität), dass Mose „wegen der Belohnung der Gerechten und der Ruhe der Frevler aufgeklärt“ werden will. Die fragliche Deutung der „Herrlichkeit/Ehre“ i.S.v. „Belohnung“ wird begründet mit Spr 3,35; Jes 24,23; Ps 73,21. Gottes Antwort, dass Mose sein Angesicht nicht sehen dürfe, wird dann unter Verweis auf Dtn 7,10 auf die „Ruhe der Frevler“ bezogen. Demnach hat Mose jenes „Angesicht“, d.h. die „Ruhe der Frevler“ (ihr eschatologisches Schicksal) nicht gesehen im Gegensatz zur Belohnung der Gerechten. Doch auch hier besteht keine Einigkeit unter den rabbinischen Auslegern (vgl. den wenig später zitierten Ausspruch von R. Asi). Zur Herrlichkeitsschau des Mose findet sich ferner eine Aussage in DtnR 11 zu Dtn 31,14 (im Kontext geht es darum, dass Mose zentrale Figuren des AT übertrifft [Adam, Noah, Abraham, Isaak, Jakob]). Im Vergleich zu Isaak, dessen Augen vom Sehen der Schekina trübe geworden waren (so wird ‫ ֵמ ְראֹת‬in Gen 27,1 ausgelegt), hat Mose „mit der Schechina von Angesicht zu Angesicht geredet“296, und seine Augen sind nicht trübe geworden (vgl. Dtn 34,7).

294

Übersetzung: WÜNSCHE 1882: 317. R. Josua ben Karcha widerspricht also in diesem Fall der in EzTrag 77f.89 belegten Vorstellung. 296 Übersetzung: WÜNSCHE 1882: 108. 295

2. Digression

87

Eine weitere rabbinische Auslegung findet sich in NumR 16 zu Num 14: In einer ähnlich prekären Lage wie nach dem Götzendienst mit dem Goldenen Kalb tritt Mose später bei der Wüstenwanderung erneut bei Gott für Israel ein. Dabei packt er Gott gleichsam bei der Ehre und fordert ihn auf, Israel um seiner selbst willen nicht zu vernichten. Explizit bezieht sich Mose gemäß Num 14,17ff. auf Ex 34,6f. Hier setzt die folgende Auslegung „der Wege Gottes“ im Sinne seiner Eigenschaften an: Und nun zeige sich doch groß die Kraft des Herrn! (Num 14,17) d.i. möge doch die Eigenschaft der Barmherzigkeit siegen, sowie du geredet und gesprochen hast. Ich sprach vor dir: Durch welche Eigenschaften richtest du deine Welt? Ex 33,13: „Tue mir doch kund deine Wege!“ Du fährst vor mir vorüber, wie es heißt: „Und der Ewige fuhr an ihm vorüber und rief: Jene Eigenschaft, von der du mir gesagt, besteht: Ewiger, Ewiger, Gott, barmherzig und gnädig.“297

Demzufolge kann Mose Gott dazu bringen, dass Gott seine Eigenschaft der Barmherzigkeit, wie er sie gemäß Ex 34,6f. kundgetan hat, zu Gunsten Israels „siegen“ lässt über seine strafende Gerechtigkeit. Klaus Wengst weist in seinem Kommentar zum JohEv298 noch auf folgende Deutung in EstR hin (10,15): „Du findet [in der Schrift], dass die guten Eigenschaften des Heiligen, gepriesen sei er, in Überfluss, Gedeihlichkeit und Reichhaltigkeit sind“299. Dann werden einige dieser Eigenschaften genannt wie das Gute, die Gnade, die Barmherzigkeit, Gerechtigkeit, Treue, Erlösung, Segen, Preis, Friede. Ex 34,6 dient dann dazu, die „Reichhaltigkeit der Gnade“ mit der Schrift zu untermauern (EstrR 10,15). Damit bin ich bei der fundamentalen Bedeutung der Namensoffenbarung (Ex 34,6f.) für das (Früh-)Judentum angelangt, was sich in vielen (früh-)jüdischen Texten zeigt (einige rabbinische Texte wurden eben genannt), die die Rede vom gnädigen bzw. barmherzigen Gott aufnehmen. Kürzlich hat Breytenbach eine Fülle von Belegen – oft Teil von Gebetstexten – zusammengestellt,300 von denen ich nur kleine Auswahl nennen kann: − Sir 2,11: „Denn mitleidig und barmherzig (ist) der Herr, und er vergibt Sünden und rettet zur Zeit der Bedrängnis“ (διότι οἰκτίρµων καὶ ἐλεήµων ὁ κύριος καὶ ἀφίησιν ἁµαρτίας καὶ σῴζει ἐν καιρῷ θλίψεως); vgl. auch Sir 16,11f. ; 48,20; 50,19. − PsSal 5,1f.15: „1 Herr, Gott, ich werde deinen Namen loben mit Jubel […], 2 weil du gütig und barmherzig bist (χρηστὸς καὶ ἐλεήµων), die Zuflucht des Armen“; vgl. auch PsSal 10,7; 16,3. − Weish 9,1: „Gott der Väter und Herr des Erbarmens (κύριε τοῦ ἐλέους)“; 15,1: „Du aber, unser Gott, bist gütig und wahr, langmütig und mit 297

Übersetzung: WÜNSCHE 1885: 424. Vgl. WENGST 2000: 67. 299 Übersetzung: BÖRNER-KLEIN/HOLLENDER 2000: 265. 300 Vgl. BREYTENBACH 2009: 253ff. 298

88



− −





2. Kapitel: Die Rezeption der Sinaitradition in Joh 1,14–18

Erbarmen alles regierend“ (σὺ δέ ὁ θεὸς ἡµῶν χρηστὸς καὶ ἀληθής µακρόθυµος καὶ ἐλέει διοικῶν τὰ πάντα). JosAs 11,10f.: „Aber viele habe ich sagen hören, dass der Gott der Hebräer ein wahrhaftiger (ἀληθινός) und lebendiger Gott ist, ein barmherziger (ἐλεήµων), mitleidiger (οἰκτίρµων), großherziger (µακρόθυµος), vielerbarmender (πολυέλεος) und milder (ἐπιεικὴς) Gott, der die Sünde eines niedrigen Menschen nicht anrechnet und die Ungesetzlichkeit eines betrübten Menschen in der Stunde seiner Trübsal nicht tadelt. Daher will auch ich es wagen, mich zu ihm hinzuwenden, mich zu ihm flüchten, ihm alle meine Sünden eingestehen und mein Gebet vor ihm ausgießen.“301 1QHa VI 24: Gott ist „reich an Erbarm]en, der Vergehen vergibt und Verschuldung von Frevlern heimsucht“302. 1QHa VIII 16ff. : „(16) Und D[u………gnädig] und barmherzig [lang]mütig und voll Huld und Wahrheit, und der aufhebt Vergehen [und Verschuldung für seine Freunde] (17) und sich reuen lässt das [………] und Bewahrer [Deiner] Gebo[te, die] umkehren zu Dir in Vertrauen und ganzen Herzens [….]“ 1QH XIX 29ff.: „(29) Gepriesen bist Du, Gott des Erbarmens und der Gnade in Deinen Groß[ta]ten und der Fülle Deiner Wahrheit und der Men[ge] (30) Deiner Hulderweise in all Deinen Werken. Mach froh die Seele Deines Knechts durch Deine Wahrheit und reinige mich (31) durch Deine Gerechtigkeit.“ Vgl. u.a. Tob 6,18; 2Makk 8,29; 11,9; 13,12; Jdt 6,19; 7,30; 13,14; PHILO, Deus 74ff.

Man kann Barclay angesichts dieser Texte kaum widersprechen, wenn er schreibt: „The disclosure of God’s gracious identity in Ex 34:6–7 […] constitutes perhaps the most influential definition of God within the Hebrew tradition“303.

301

Text und Übersetzung: REINMUTH 2009: 76f. Zum Ausdruck „ein wahrhaftiger und lebendiger Gott“ s. die Diskussion bei WOYKE 2005: 113ff., der zum Schluss kommt: „In diesem Kontext geht es […] nicht um die Wahrhaftigkeit und Treue Gottes – so die Bedeutung von ἀληθινός in Ex 34,6; Num 14,18 LXX und Ps 85,15 LXX –, sondern um den Gegensatz zum Irrtum bzw. zur Unkenntnis. Die „Wahrheit“ und das „Leben“ Gottes sind also nicht unter seine ‚Barmherzigkeit‘ zu subsummieren […] Vielmehr sind sie eigenständige schöpfungstheologische Begriffe, die im Kontext von Idolatrie und Bekehrung polemische Qualität bekommen“ (2005: 115). 302 Übersetzung der Qumrantexte: (wenn nicht anders angegeben) MAIER 1995. Zu ‫חסד‬ in den Qumrantexten vgl. SCHLENKE 2011. 303 BARCLAY 2010: 87.

2. Digression

89

2.6 Zusammenfassung Nach Ex 32ff. ist Mose Fürbitter Israels vor Gott und Vermittler des Gesetzes Gottes an Israel. In dieser Funktion wird er legitimiert durch die Herrlichkeit Gottes, die er widerspiegelt und so vermittelt. Mose steht aufgrund der Gnadenwahl Gottes in einer herausgehobenen Beziehung zu Gott wie sonst niemand in Israel und setzt diese geschickt zugunsten Israels ein. Trotz alledem darf der Vertraute Gottes sein „Angesicht“ bzw. sein Wesen nicht unmittelbar sehen (um es so zu erkennen), weil Mose ein (lebender) Mensch ist, dem (lebenden) Menschen aber dieser Zugang zu Gott aufgrund des fundamentalen Unterschieds zwischen Gott und Mensch verwehrt ist. Doch damit ist Moses Bitte, dass Gott ihm seine Herrlichkeit zeigen möge, nicht abgewiesen. Vielmehr lässt sich der Text plausibel so lesen, dass Mose die Herrlichkeit Gottes in einem bestimmten Sinne „schauen“ darf. Diese Herrlichkeit wird wahrscheinlich mit dem Namen Gottes verknüpft, den Gott Mose gegenüber offenbart, da er Gnade gefunden hat bei Gott. Die Namensoffenbarung Gottes durch Gott bildet den Höhepunkt der Erzählung. Dabei zeigt Gott, was seinen Namen ausmacht, nämlich, dass er u.a. reich an Gnade und Wahrheit ist. Angeregt durch die Fürbitte Moses fließen daraus die Vergebung der Sünde Israels, die Erneuerung des Bundes mit der erneuten Gabe der Worte des Bundes, die Wiederherstellung des Status Israels als Volk Gottes bzw. Gottes Eigentum, in dessen Mitte Gott „zeltet“. Folglich handelt es sich bei der Theophanie in Ex 34 um eine heilbringende Erscheinung des herrlichen Namens Gottes, den Mose „sehen“ darf. Sein Gnade-Finden-vor-Gott bzw. seine Erwählung wird so bestätigt und Mose darf (erneut) die Gabe der Tora und mit ihr die Gottesgemeinschaft vermitteln. Die innerbiblische und (früh-)jüdische Rezeption der Sinai-Namensoffenbarung verdeutlicht die immense Bedeutung von Gottes Selbstoffenbarung am Sinai für die Gebetspraxis und Heilshoffnung Israels. Gottes Wesen ermöglicht Umkehr. Gottes zu lobender „Name“, sein Gnädig-Sein, bildet die Basis für gegenwärtige Rettung und/oder Sündenvergebung und ist die Grundlage für die Verheißung, dass Gott sich seinem Volk in Zukunft erneut in Liebe zuwenden wird, um ihm Heil zu schenken. In den Targumim und in anderen (früh-)jüdischen Texten zeigt sich, dass Ex 33,20.23 (mit wenigen Ausnahmen [vgl. evtl. 2Hen, auch wenn die entsprechenden Texte Interpolationen sind]) als grundsätzliche Aussage bezüglich der Unmöglichkeit des Sehens Gottes bzw. seines „Angesichts“ durch sterbliche Menschen aufgefasst wurde (vgl. 1Hen 14,20f.; EzTrag 100f. ; Philo [jeweils mit anderen Begründungen!]), die auch für Mose gültig ist. Zugleich wird die außerordentliche Stellung Moses als Gesetzesübermittler im Anschluss an seine im biblischen Text berichtete Verherrlichung hervorgehoben, und zwar so weit, dass Mose sich hinsichtlich seiner Herrlichkeit kaum noch von den Engeln unterscheidet (vgl. Sir 45,2; über Henoch wird in 2Hen 22,9f.

90

2. Kapitel: Die Rezeption der Sinaitradition in Joh 1,14–18

Ähnliches gesagt). Es wird also z.T. davon ausgegangen oder dafür argumentiert, dass Mose die Herrlichkeit Gottes gesehen hat (vgl. 2Hen 37,1f. ; LAB 12,1; TgO und TgPs-J Ex 34,29; R. Šemuël b. Nahmani im Namen des R. Jonathan [bTBer 7a]; anders R. Jejošuâ b. Qorha [bTBer 7a]). Bisweilen dient das Herrlichkeits- bzw. Lichtmotiv dazu, das Gesetz (als Licht) mit Mose (als Lichtträger) zu verknüpfen (vgl. LAB 11f. mit 12,1). Dadurch wird die Offenbarungsvermittler-Funktion Moses nochmals deutlich unterstrichen. Die Bitten Moses werden in (früh-)jüdischen Texten unterschiedlich gedeutet: Gemäß Philo möchte Mose das Wesen Gottes sehen, um es zu erfassen. Das heißt: Das Sehen Gottes impliziert für Philo das Erkennen Gottes. Mose (und damit jeder Mensch) kann aber aufgrund seines Mensch-Seins weder das göttliche Wesen selbst noch die Herrlichkeit Gottes sehen, d.h. nach Philo, die dienstbaren Kräfte Gottes, die unsichtbar sind, sondern höchstens den Abdruck der Kräfte, also das, was sich weiter „hinten“ in der metaphysischen Rangfolge befindet (vgl. u.a. spec. I 40–50). Eine andere Deutung besagt, dass Mose „die Wege“ (z.T. auch nur einen, den Weg der Güte [TgO; TgPs-J]) Gottes mit den Gottlosen und Gerechten in dieser (und in der zukünftigen) Welt erkennen will (vgl. bTBer 7a; TgPs-J Ex 33,13). Welche der Bitten Moses von Gott erfüllt werden und wie, darüber herrscht keine Einigkeit unter (früh-)jüdischen Auslegern. Nach einer Darstellung (EzTrag 89; vgl. auch ExR 45) schaut Mose, „was ist und was war und was sein wird“ (d.h. wohl alle göttlichen Geheimnisse). Nach einer anderen lässt Gott Mose den Knoten seines Gebetsriemens sehen (R. Hana b. R. Bizna im Namen R. Šimôn des Frommen [bTBer 7a]; TgPs-J Ex 33,23); Gott wird so als vorbildlicher Beter charakterisiert, der vormacht, wie man zu Gott beten soll, um Sündenvergebung zu erlangen und so dem Zorn Gottes zu entgehen. Gemäß einer weiteren Interpretation darf Mose paradoxerweise die Rede/das Wort (der Herrlichkeit der Schekina), mithin den Namen Gottes, aber nicht „das Angesicht der Herrlichkeit der Schekina“ „sehen“ (vgl. damit die Rede vom göttlichen Logos, der aus dem Dornbusch leuchtete, in EzTrag 99). „Das Angesicht“ (teilweise identifiziert mit der Herrlichkeit) und „das, was hinter Gott liegt“, wird vielfach, aber nicht einheitlich, auf das Schicksal der Gerechten und Gottlosen in der Gegenwart und Zukunft bezogen. Einige Ausleger kommen zu dem Schluss, dass Mose nur das zukünftige Schicksal der Gerechten (so TgPs-J Ex 33,19; nach einigen auch der Gottlosen; vgl. Sifre Num §103) sehen durfte, nicht aber das gegenwärtige Handeln Gottes begreifen darf (R. Meir [in bTBer 7a]; vgl. auch die anderen Meinungen in bTBer 7a).

3. Echos und Entsprechungen 3. Echos und Entsprechungen

Folgende Berührungen zwischen Ex 32–34 LXX auf der sprachlichen Ebene sind zu verzeichnen. Überwiegend lassen sie bei genauerer Betrachtung eine

3. Echos und Entsprechungen

91

semantische Konvergenz nicht bzw. eine semantische Differenz erkennen oder sind zu unspezifisch, als dass sie als intentionale Bezugnahmen angesehen werden müssen, geschweige denn entscheidend auf die LXX als Textgrundlage hinweisen. Ex 32–34 LXX

Joh 1

33,20

καὶ εἶπεν οὐ δυνήσῃ ἰδεῖν µου τὸ πρόσωπον οὐ γὰρ µὴ ἴδῃ ἄνθρωπος τὸ πρόσωπόν µου καὶ ζήσεται

1,4

ἐν αὐτῷ ζωὴ ἦν, καὶ ἡ ζωὴ ἦν τὸ φῶς τῶν ἀνθρώπων

34,6

κύριος κύριος ὁ θεὸς οἰκτίρµων καὶ ἐλεήµων µακρόθυµος καὶ πολυέλεος καὶ ἀληθινὸς

1,9

Ἦν τὸ φῶς τὸ ἀληθινόν,

33,5f.

ἀφέλεσθε τὰς στολὰς τῶν δοξῶν ὑµῶν καὶ τὸν κόσµον …

1,9f.

Ἦν τὸ φῶς τὸ ἀληθινόν, ὃ φωτίζει πάντα ἄνθρωπον, ἐρχόµενον εἰς τὸν κόσµον …

34,25

οὐ σφάξεις ἐπὶ ζύµῃ αἷµα θυµιαµάτων µου…

1,13

οἳ οὐκ ἐξ αἱµάτων οὐδὲ ἐκ θελήµατος σαρκὸς οὐδὲ ἐκ θελήµατος ἀνδρὸς ἀλλ᾽ ἐκ θεοῦ ἐγεννήθησαν

34,27f.

27 καὶ εἶπεν κύριος πρὸς Μωυσῆν γράψον σεαυτῷ τὰ ῥήµατα ταῦτα ἐπὶ γὰρ τῶν λόγων τούτων τέθειµαί σοι διαθήκην καὶ τῷ Ισραηλ

1,14

Καὶ ὁ λόγος σὰρξ ἐγένετο

28 […] καὶ ἔγραψεν τὰ ῥήµατα ταῦτα ἐπὶ τῶν πλακῶν τῆς διαθήκης τοὺς δέκα λόγους 33,23

καὶ ἀφελῶ τὴν χεῖρα καὶ τότε ὄψῃ τὰ ὀπίσω µου τὸ δὲ πρόσωπόν µου οὐκ ὀφθήσεταί σοι

1,15

οὗτος ἦν ὃν εἶπον· ὁ ὀπίσω µου ἐρχόµενος ἔµπροσθέν µου γέγονεν, ὅτι πρῶτός µου ἦν.

34,1.4

καὶ εἶπεν κύριος πρὸς Μωυσῆν λάξευσον σεαυτῷ δύο πλάκας λιθίνας καθὼς καὶ αἱ πρῶται καὶ ἀνάβηθι πρός µε εἰς τὸ ὄρος καὶ γράψω ἐπὶ τῶν πλακῶν τὰ ῥήµατα ἃ ἦν ἐν ταῖς πλαξὶν ταῖς πρώταις αἷς συνέτριψας

1,15

οὗτος ἦν ὃν εἶπον· ὁ ὀπίσω µου ἐρχόµενος ἔµπροσθέν µου γέγονεν, ὅτι πρῶτός µου ἦν.

92

2. Kapitel: Die Rezeption der Sinaitradition in Joh 1,14–18

− Joh 1,4 / Ex 33,20: Im Wort war gemäß Joh 1,4 „Leben“. Dabei handelt es sich um göttliches Leben (vgl. Joh 5,26), welches in Jesus Christus als dem Licht (des Lebens; vgl. Joh 8,12) den Menschen leuchtet (Joh 1,9), d.h. ihnen das göttliche Leben mitteilt. In Ex 33,20 wird jedoch gesagt, dass Mose Gottes „Angesicht“ nicht sehen darf, weil er sonst nicht weiterleben darf. Das Schauen des Angesichtes Gottes würde ihm so, wie er ist, den Tod bringen und kein Leben. − Joh 1,9 / Ex 34,6: Im Unterschied zu Johannes, der nicht das Licht war (Joh 1,8), sondern vom Licht zeugen sollte, ist Jesus „das wahre Licht“. Das bedeutet nicht zwangsläufig, dass Johannes sozusagen ein falsches Licht war. Gemäß Joh 5,35 war Johannes ja eine „Lampe, die brennt und scheint (ὁ λύχνος ὁ καιόµενος καὶ φαίνων)“, die also durchaus Licht abgibt (vgl. Joh 5,35fin: ὑµεῖς δὲ ἠθελήσατε ἀγαλλιαθῆναι πρὸς ὥραν ἐν τῷ φωτὶ αὐτου). „Wahr“ scheint in diesem Zusammenhang eher die göttliche Qualität anzuzeigen: Das Wort, welches in die Welt kam, ist das „wahre“, nämlich das göttliche und damit Leben-spendende Licht (Joh 8,12). Ein Echo von Ex 34,6 ist in Joh 1,9 nicht zu verzeichnen, zumal in Joh 1,14.17, wo die Anspielung auf Ex 34,6 evident ist, der Begriff der Wahrheit benutzt wird. − Joh 1,9f.13 / Ex 33,5f.; 34,25: Es ist evident, dass die Opferbestimmung in Ex 34,25 nichts mit der Aussage über die an Jesu Namen Glaubenden zu tun hat. Gleiches gilt für die Aufforderung in Ex 33,5f., den κόσµος (Schmuck) abzulegen, und die Aussage über das Kommen des Lichts in den κόσµος in Joh 1,9f. − Joh 1,14 / Ex 34,27f.: Eine direkte Bezugnahme auf die zehn Worte durch die Rede vom Wort in Joh 1,14 ist unplausibel. Dagegen spricht u.a. die Verwendung des Plurals von λόγος in Ex 34,27f. und die fehlende semantische Konvergenz. Jesus Christus wird in Joh 1,14–18 nicht mit dem Gesetz in Verbindung gebracht, sondern mit dem Namen Gottes. − Joh 1,15 / Ex 33,23: Das ὀπίσω in „der, der ὀπίσω µου kommt“ (Joh 1,15), ist wahrscheinlich im lokal-übertragenen Sinne zu begreifen, wobei das Subjekt Johannes ist. Jesus war demnach zunächst ein Nachfolger des Johannes. „Das hinter Gott Befindliche“ (Ex 33,23) kann mit seinem im Anschluss offenbarten Namen (Ex 34,6f.) oder aber mit den Nachwirkungen seiner Gegenwart auf Moses verherrlichtem Angesicht verbunden werden. Jedenfalls ist die jeweilige Bezugsgröße des Personalpronomens eine andere: hier Johannes und dort Gott. Außerdem steht in Joh 1,15 vor ὀπίσω der Artikel ὁ im Nom. mask. Sg., in Ex 33,23 dagegen τό im Akk. neutr. Pl. Die Unterschiede sind zu gewichtig; sie sprechen gegen eine bedeutungsvolle Konvergenz. − Joh 1,15 / Ex 34,1.4: Auch hier liegt offensichtlich kein Bezug zwischen den ersten Steintafeln des Gesetzes und Jesus, der „eher als“ Johannes war, vor.

3. Echos und Entsprechungen

93

Anders sieht es bei den folgenden Übereinstimmungen (Echos) auf der sprachlichen Ebene aus: Ex 33–34 (MT und LXX)

Joh 1

33,19; 34,5

1,12

ὅσοι δὲ ἔλαβον αὐτόν, ἔδωκεν αὐτοῖς ἐξουςίαν τέκνα θεοῦ γενέσθαι, τοῖς πιστεύουσιν εἰς τὸ ὄνοµα αὐτοῦ,

1,14

Καὶ ὁ λόγος σὰρξ ἐγένετο καὶ ἐσκήνωσεν ἐν ἡµῖν,

1,14

καὶ ἐθεασάµεθα τὴν δόξαν αὐτοῦ

1,14.17

14

33,19 καὶ καλέσω ἐπὶ τῷ ὀνόµατί µου κύριος ἐναντίον σου; )‫את י ְב ֵשׁם יְ הוָ ה ְל ָפנֶ י‬ ִ ‫;וְ ָק ָר‬ 34,5

καὶ ἐκάλεσεν τῷ ὀνόµατι κυρίου ‫וַ ִיּ ְק ָרא ְב ֵשׁם יְ הוָ ה‬

33,7

καὶ λαβὼν Μωυσῆς τὴν σκηνὴν αὐτοῦ ἔπηξεν ἔξω τῆς παρεµβολῆς µακρὰν ἀπὸ τῆς παρεµβολῆς καὶ ἐκλήθη σκηνὴ µαρτυρίου καὶ ἐγένετο πᾶς ὁ ζητῶν κύριον ἐξεπορεύετο εἰς τὴν σκηνὴν ἔξω τῆς παρεµβολῆς ‫ת־הא ֶֹהל וְ נָ ָטה־לוֹ ִמחוּץ‬ ָ ‫וּמ ֶֹשׁה ִי ַקּ ח ֶא‬ ‫ן־ה ַמּ ֲחנֶ ה וְ ָק ָרא לוֹ‬ ַ ‫לַ ַמּ ֲחנֶ ה ַה ְר ֵחק ִמ‬ ‫ל־מ ַב ֵקּשׁ ְיהוָ ה ֵי ֵצא‬ ְ ָ‫א ֶֹהל מוֹ ֵ ד וְ ָה יָ ה כּ‬ ‫ֶאל־א ֶֹהל מוֹ ֵ ד ֲא ֶשׁר ִמחוּץ לַ ַמּ ֲחנֶ ה‬

33,18 (vgl. auch V.19 u. V. 22)

33,18

καὶ λέγει δεῖξόν µοι τὴν σεαυτοῦ δόξαν )‫ת־כּב ֶֹד‬ ְ ‫אמר ַה ְר ֵאנִ י נָ א ֶא‬ ַ ֹ ‫וַ יּ‬ 33,19 καὶ εἶπεν ἐγὼ παρελεύσοµαι πρότερός σου τῇ δόξῃ µου…

)‫ל־פּנֶ י‬ ָ ַ ‫ל־טוּבי‬ ִ ָ‫אמר ֲאנִ י ַא ֲ ִב יר כּ‬ ֶ ֹ ‫וַ יּ‬ 33,22

ἡνίκα δ᾽ ἂν παρέλθῃ µου ἡ δόξα… ‫וְ ָהיָ ה ַבּ ֲ בֹר ְכּב ִֹדי‬

34,6f.

κύριος ὁ θεὸς οἰκτίρµων καὶ ἐλεήµων µακρόθυµος καὶ πολυέλεος καὶ ἀληθινὸς ‫ְיהוָ ה ְיהוָ ה ֵאל ַר חוּם וְ ַחנּוּן ֶא ֶר" ַא ַפּ ִים‬ ‫ב־ח ֶסד וֶ ֱא ֶמת‬ ֶ ‫וְ ַר‬

καὶ ἐθεασάµεθα τὴν δόξαν αὐτοῦ, δόξαν ὡς µονογενοῦς παρὰ πατρός, πλήρης χάριτος καὶ ἀληθείας. 17 …ἡ χάρις καὶ ἡ ἀλήθεια διὰ Ἰησοῦ Χριστοῦ ἐγένετο

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2. Kapitel: Die Rezeption der Sinaitradition in Joh 1,14–18

Ex 33–34 (MT und LXX) 32,15;

32,15 καὶ ἀποστρέψας Μωυσῆς κατέβη ἀπὸ τοῦ ὄρους καὶ αἱ δύο πλάκες τοῦ µαρτυρίου (MT: ‫ )לֻ חֹת ָה ֵ ֻדת‬ἐν ταῖς χερσὶν αὐτοῦ πλάκες λίθιναι καταγεγραµµέναι ἐξ ἀµφοτέρων τῶν µερῶν αὐτῶν ἔνθεν καὶ ἔνθεν ἦσαν γεγραµµέναι

Joh 1 1,15 (vgl. auch V.7f.)

15

1,16

16

Ἰωάννης µαρτυρεῖ περὶ αὐτοῦ καὶ κέκραγεν λέγων· οὗτος ἦν ὃν εἶπον· ὁ ὀπίσω µου ἐρχόµενος ἔµπροσθέν µου γέγονεν, ὅτι πρῶτός µου ἦν.

‫ וַ ְי ִהי ְבּ ֶר ֶדת מ ֶֹשׁה ֵמ ַהר ִסינַ י‬34,29 ‫וּשׁנֵ י לֻ חֹת ָה ֵ ֻדת ְבּיַ ד־מ ֶֹשׁ ה ְבּ ִר ְדתּוֹ‬ ְ ‫ן־ה ָהר וּמ ֶֹשׁה לֹא־יָ ַד ע כִּ י ָק ַרן עוֹר‬ ָ ‫ִמ‬ ‫ָפּנָ יו ְבּ ַד ְבּרוֹ ִאתּוֹ‬ 33,7

34,29 MT

καὶ λαβὼν Μωυσῆς τὴν σκηνὴν αὐτοῦ ἔπηξεν ἔξω τῆς παρεµβολῆς µακρὰν ἀπὸ τῆς παρεµβολῆς καὶ ἐκλήθη σκηνὴ µαρτυρίου (MT: ‫ )א ֶֹהל מוֹ ֵ ד‬καὶ ἐγένετο πᾶς ὁ ζητῶν κύριον ἐξεπορεύετο εἰς τὴν σκηνὴν ἔξω τῆς παρεµβολῆς

33,7; 34,9 (vgl. 33,12– 17)

34,9

εἰ εὕρηκα χάριν ἐνώπιόν σου (o.ä.)

ἐλάβοµεν καὶ χάριν ἀντὶ χάριτος

)‫אתי ֵחן ְבּ ֵ ינֶ י‬ ִ ‫ִאם־נָ א ָמ ָצ‬

− Joh 1,12 / Ex 33,19; 34,5: Mit dem Glauben an „seinen Namen“ wird in Joh 1,12 die Vollmacht zur Gotteskindschaft verbunden (vgl. Joh 20,31).304 Wie Franz Georg Untergaßmair und auch Adelheid Ruck-Schröder gezeigt haben,305 gehört der ὄνοµα-Begriff zur Offenbarungstheologie des JohEv, er „steht jedoch nicht nur umschreibend für den Anspruch Jesu [Offenbarer zu sein, wie Untergaßmair meint; E.K.], sondern hat ein spezifisches Gewicht. Es ergibt sich durch die Verwurzelung der Aussage im Alten Testament und erschließt sich im Fortgang des Prologs“306. Ruck-Schröder weist zu Recht auf die Wendung „voller Gnade und Wahrheit“ in Joh 1,14.17 hin, wodurch 304 Joh 1,6 (Ἐγένετο ἄνθρωπος, ἀπεσταλµένος παρὰ θεοῦ, ὄνοµα αὐτῷ Ἰωάννης) ist unauffällig, da der Name ja explizit genannt wird. 305 Vgl. UNTERGAßMAIR 1974; RUCK-SCHRÖDER 1999. 306 RUCK-SCHRÖDER 1999: 206.

3. Echos und Entsprechungen

95

auf Ex 34,6 angespielt wird. Dort wird gemäß Ex 33,19; 34,5 der Name Gottes offenbart (Ex 33,12 ist hier nicht relevant). Folglich legt Joh 1,14.17 aus, worin das Spezifische des „Namens“ Jesu in V.12 besteht bzw. um welchen „Namen“ es sich handelt.307 Jesus Christus ist der Träger des Namens Gottes,308 den ihm dieser gegeben hat und durch dessen Offenbarung die Liebe zwischen dem Vater und dem Sohn auch in den Glaubenden ist (vgl. Joh 17,6.11f.26). Der (unter dem Aspekt seiner Menschlichkeit) Jesus vom Vater verliehene Name Gottes unterstreicht also die Einheit des Sohnes mit dem Vater, in die auch die Glaubenden einbezogen werden (das ist der Sinn des Ausdrucks des ewigen Lebens), indem sie an „seinen Namen“ glauben (vgl. Joh 3,16ff.) und dadurch zu Kindern Gottes werden. − Joh 1,14 / Ex 33,7: Gemäß Joh 1,14 „zeltete“ das inkarnierte Wort unter „uns“. Dagegen wird nach Ex 33,7 das Zelt des Zeugnisses (LXX) bzw. das Zelt der Begegnung (MT) außerhalb und fern des Lagers aufgeschlagen, sodass deutlich wird, welche Konsequenzen die „große Sünde“ Israels nach sich zieht: Gott zeltet nicht mehr unter seinem Volk, sondern fern von ihnen. Nun ist zu beachten, dass gemäß Joh 1,14–18 vom inkarnierten Wort gilt, was (aus Sicht des Evangelisten und gemäß seiner Deutung der Sinaierzählung) den Namen Gottes auszeichnet. Möglicherweise hat die in Dtn 12,5.11; 14,23 (MT) belegte Vorstellung eines „Zeltens“ des Namens Gottes zur Formulierung in Joh 1,14 geführt.309 Demgemäß ist der irdische Jesus der temporäre „Ort“ oder das temporäre Heiligtum, wo das göttliche Wort „zeltete“ und sich daher der Name Gottes auf Erden offenbarte. − Joh 1,14 / Ex 33,18 (vgl. auch V.19.22): Joh 1,14 zufolge schauten „wir“ die Herrlichkeit des inkarnierten Wortes. Die Bitte Moses, dass Gott ihm seine Herrlichkeit zeigen soll, wird von Gott gemäß einer Deutung der Erzählung nicht abgewiesen, sondern gewährt (vgl. Num 12,8 LXX), sodass man hier keinen Gegensatz konstruieren muss, als hätte Mose die Herrlichkeitsschau erbeten, aber nicht erhalten, den Christusgläubigen dagegen wurde sie gewährt.310 Viel eher wird Moses Herrlichkeitsschau am Sinai und 307

Vgl. RUCK-SCHRÖDER 1999: 206. Die Erläuterung des Namens in V.14.17 spricht dagegen, eine Anspielung auch auf Ex 34,14 anzunehmen, zumal die Eifersucht Gottes überhaupt nicht im Prolog des JohEv erscheint und auch nicht dort hineinpasst. 308 Vgl. die absoluten Ich-bin-Worte Jesu im JohEv (4,26; 6,20; 8,24.28.58; 13,19; 18,5.6.8), die mindestens z.T. auf Ex 3,14f. (vgl. EPP 1975: 143) und/oder (offenbar plausibler als primäre Prätexte) auf Dtn 32,39; Jes 41,4; 43,10 (vgl. auch Jes 43,25; 45,18; 46,4; 51,12) anspielen (so z.B. BAUCKHAM 2007: 243–250 mit Hinweis auf die Entsprechung zur LXX). 309 KOESTER (1989: 104) rechnet damit, dass prophetische Texte wie Sach 2,14; Jo 3,17; Ez 37,27 (vgl. auch PsSal 7,6) Einfluss hatten auf die Formulierung in Joh 1,14; vgl. auch PAROSCHI 2006: 126; FREY 2014: 255. 310 Vgl. THEOBALD 2009: 130: „Ex 33,18 bittet Mose JHWH: ‚Lass mich doch deine Herrlichkeit sehen! Aber diese Bitte wird ihm nur eingeschränkt gewährt: ‚du wirst mich von hinten sehen, aber mein Angesicht darf nicht gesehen werden‘ (Ex 33,23). Jetzt aber wird

96

2. Kapitel: Die Rezeption der Sinaitradition in Joh 1,14–18

die der Augenzeugen Jesu verknüpft, sodass das Christusereignis als Epiphanie des Namens, der Mose schon am Sinai erschienen ist, präsentiert wird, wobei nun nicht eine, sondern viele Personen schauen dürfen.311 Eine Anspielung auf die Herrlichkeit Moses bzw. sein verherrlichtes Angesicht nach seinem Abstieg liegt aufgrund der johanneischen Verknüpfung der Herrlichkeit mit dem „Zelten“ sowie mit dem Namen Gottes nicht vor. − Joh 1,14.17 / Ex 34,6f.: Im dritten Prologabschnitt kommt dem Begriffspaar „(voller) Gnade und Wahrheit“ (Joh 1,14; vgl. auch „die Gnade und die Wahrheit“ in Joh 1,17) zentrale Bedeutung zu. Aller Wahrscheinlichkeit nach spielt diese Phrase auf die sinaitische Namensoffenbarung Gottes (Ex 34,6) an, und zwar nach dem hebräischen Text,312 wonach der Name Gottes dadurch charakterisiert ist, dass er „reich“ oder „groß“ an „Gnade und Wahrheit“ (‫ב־ח ֶסד וֶ ֱא ֶמת‬ ֶ ‫ ) ַר‬ist.313 Was dies genau bedeutet, muss in der Reintegration ausführlicher erläutert werden. − Joh 1,15 / Ex 32,15; 34,29 (nur MT); 33,7: Die primäre Aufgabe des von Gott gesandten Johannes (des Täufers) besteht dem JohEv zufolge darin, von dem Licht (Joh 1,7f.) bzw. von dem inkarnierten Wort, welches unter „uns“ zeltete, zu zeugen und so die Offenbarung Gottes in Christus zu bestätigen (Joh 1,15). Bemerkenswert ist, dass sein Zeugenruf nicht auf die Vergangenheit beschränkt ist. Johannes, der Zeuge des Wortes steht gleichsam bei den Augenzeugen und zeugt permanent in der Gegenwart (aus Sicht der „wir“ und der „wir alle“, aber auch aller nachfolgenden Lesenden des JohEv). Darin ähnelt seine Funktion derjenigen, die die Steintafeln mit der Tora gemäß der Sinaitradition innehaben: Sie sind von Gott gegeben und von ihm selbst beschrieben; in der Lade im Zelt liegend sind sie permanentes „Zeugnis“, d.h. eine Bestätigung und Bekräftigung der Offenbarung Gottes und des Bundesschlusses am Sinai für die nachfolgenden Generationen. − Joh 1,16 / Ex 33,12–1 7; 34,9: Da sich der auf V.16 folgende Begründungssatz in V.17 explizit auf die Gabe des Gesetzes durch Mose bezieht und V.14, an den V.16 anknüpft, auf die Sinaitheophanie anspielt, steht zu vermuten, dass auch V.16 auf jene Erzählung referiert. Darüber muss in der Reintegration weiter nachgedacht werden. nach Überzeugung des Hymnus die göttliche Doxa im inkarnierten Logos anschaubar“. Ähnlich auch WILLOUGHBY 2014: 124f. 311 So auch HANSON 1976: 97. 312 Denkbar ist natürlich die Möglichkeit, dass „voller Gnade und Wahrheit“ auf „eine andere, uns unbekannte Übertragung der hebräischen Wendung ins Griechische“ (THEOBALD 2009: 130) Bezug nimmt. Doch das bleibt rein hypothetisch. 313 Damit ist jedoch nicht gesagt, dass „(voller) Gnade und Wahrheit“ in Joh 1,14–18 im gleichen Sinn zu verstehen ist wie die Phrase in Ex 34,6 nach moderner Rekonstruktion des „ursprünglichen“ Sinns, zumal der Evangelist keine Übersetzung präsentieren will. Der Evangelist kann ja auf Ex 34,6 Bezug nehmen, den Text jedoch in seinem Sinne gedeutet haben.

3. Echos und Entsprechungen

97

Desweiteren finden sich folgende Echos auf der inhaltlichen Ebene: Ex 32–34

Joh 1

32,1

Ablehnung des Moses (vgl. auch Ex 4,1; 5,21; 6,9; 14,11ff.; 15,24; 16,2.7ff.; 17,2ff.; besonders Num 12)

1,11

Die Seinen nahmen ihn nicht auf

34,9

(Wieder-)Annahme Israels als Eigentum Gottes = sein Volk (vgl. Ex 19,5f.)

1,12

zu Kindern Gottes werden

33,20.23

Kein Mensch und somit auch nicht Mose, der Vertraute Gottes, darf Gottes „Angesicht“ bzw. „mich“ = Gott (so Ex 33,20 MT) sehen

1,18

Niemand hat Gott jemals gesehen

33,11f. u.ö.

Moses (LXX: unvergleichlich) enge Beziehung zu Gott: Gott redet mit ihm wie zu einem Freund; Gott ist „sein“ Gott (Ex 32,11)

1,18

Jesu exklusive Beziehung zum Vater: Der Einzige (Sohn), der Gott ist, der zur Brust des Vaters (gelehnt) war

− Joh 1,11 / Ex 32,1: Joh 1,11 fasst zusammen, was die Erzählung des JohEv ausführlich darstellen wird: das Wort, das in sein Eigentum bzw. zu den Seinen kam, wurde von diesen nicht aufgenommen, sondern abgelehnt. Mose erging es ähnlich, wie (nicht nur, aber auch) in Ex 32,1 deutlich wird (vgl. noch Ex 4,1; 5,21; 6,9; 14,11ff.; 15,24; 16,2.7ff.; 17,2ff.; besonders Num 12). − Joh 1,12 / Ex 34,9: Das zentrale Motiv der Gabe (der Vollmacht zur) Gotteskindschaft durch den Glauben an seinen „Namen“ (d.h. an Jesus Christus als Träger des Namens Gottes [„voller Gnade und Wahrheit“]) erinnert an die mosaische Bitte um Vergebung und (Wieder-)Annahme Israels als Eigentum Gottes bzw. als sein Volk (vgl. Ex 19,5.f) nach der Offenbarung des Namens Gottes. Folglich bestätigt es sich, dass die Gnade, die „wir alle“ aus seiner Fülle von Gnade und Wahrheit empfangen haben, letztlich identisch ist mit der Gotteskindschaft bzw. dem ewigen Leben. − Joh 1,18 / Ex 33,20.23: Die universale Aussage in Joh 1,18a „Gott hat niemand jemals gesehen“ verneint in grunsätzlicher Weise den menschlichen Zugang zur Gotteserkenntnis durch eine Gottesschau. Dies entspricht Ex 33,20,314 steht dabei aber dem Wortlaut des hebräischen Textes besonders nahe, wonach „kein Mensch mich (selbst) sehen kann und am Leben 314

So auch MOWVLEY 1984: 137.

98

2. Kapitel: Die Rezeption der Sinaitradition in Joh 1,14–18

bleibt“. Wichtig ist, dass diese Feststellung gemäß dem biblischen Text auch für Mose, aus atl.-(früh)jüdischer Sicht: den Vertrauten Gottes, gilt. − Joh 1,18 / Ex 33,11f. u.ö.: Joh 1,18 betont mehrfach Jesu einzigartige Beziehung zum Vater. Auch Ex 33,11f. u.ö. (besonders nach der LXX) kommt immer wieder auf die enge Beziehung Moses zu Gott zu sprechen, die im Vergleich zu anderen Menschen herausgehoben ist. Jesu Beziehung zu Gott ist mit Moses Beziehung zu Gott allerdings gar nicht wirklich vergleichbar, denn Jesus Christus ist der Einzigartige, das fleischgewordene Wort, selbst Gott und Träger des Namens Gottes, der Mose gegenüber offenbart wurde. Als Mensch partizipiert Jesus an der innergöttlichen Beziehung des präexistenten Wortes, wie sie in Joh 1,1f. konzise beschrieben ist. Folglich sollte im Sinne des Evangelisten keine Konkurrenz zwischen Jesus und Mose konstruiert werden. Was die innerbiblische Rezeption der Namensoffenbarung angeht, sind folgende Entsprechungen zu notieren: Innerbiblische Rezeption der Namensoffenbarung

Joh 1

Num 14,18

1,14

Καὶ ὁ λόγος σὰρξ ἐγένετο καὶ ἐσκήνωσεν ἐν ἡµῖν, καὶ ἐθεασάµεθα τὴν δόξαν αὐτοῦ, δόξαν ὡς µονογενοῦς παρὰ πατρός, πλήρης χάριτος καὶ ἀληθείας

1,14

Καὶ ὁ λόγος σὰρξ ἐγένετο καὶ ἐσκήνωσεν ἐν ἡµῖν, καὶ ἐθεασάµεθα τὴν δόξαν αὐτοῦ, δόξαν ὡς µονογενοῦς παρὰ πατρός, πλήρης χάριτος καὶ ἀληθείας

κύριος µακρόθυµος καὶ πολυέλεος καὶ ἀληθινός ἀφαιρῶν ἀνοµίας καὶ ἀδικίας καὶ ἁµαρτίας καὶ καθαρισµῷ οὐ καθαριεῖ τὸν ἔνοχον ἀποδιδοὺς ἁµαρτίας πατέρων ἐπὶ τέκνα ἕως τρίτης καὶ τετάρτης ‫ב־ח ֶסד נ ֵֹשׂא‬ ֶ ‫ְיהוָ ה ֶא ֶר" ַא ַפּ ִים וְ ַר‬ ‫ָ וֹן וָ ָפ ַשׁ ע וְ נַ ֵקּ ה ל ֹא ְינַ ֶקּה פּ ֵֹק ד‬ ‫ל־שׁלֵּ ִשׁים‬ ִ ַ ‫ל־בּנִ ים‬ ָ ַ ‫ֲ וֹן ָאבוֹת‬ ‫ל־ר ֵבּ ִ ים‬ ִ ַ ְ‫ו‬

Ps 85(84)

85(84),8

δεῖξον ἡµῖν κύριε τὸ ἔλεός σου καὶ τὸ σωτήριόν σου δῴης ἡµῖν ‫ַה ְר ֵאנוּ יְ הוָ ה ַח ְס ֶדּ) וְ ֶי ְשׁ ֲ ) ִתּ ֶתּן־‬ ‫לָ נוּ‬

85(84),10

πλὴν ἐγγὺς τῶν φοβουµένων αὐτὸν τὸ σωτήριον αὐτοῦ τοῦ κατασκηνῶσαι δόξαν ἐν τῇ γῇ ἡµῶν ‫ַא" ָקרוֹב ִל ֵיר ָאיו ִי ְשׁעוֹ לִ ְשׁכֹּן‬ ‫ָכּבוֹד ְבּ ַא ְר ֵצנוּ‬

3. Echos und Entsprechungen Innerbiblische Rezeption der Namensoffenbarung

99

Joh 1

85(84),11 ἔλεος καὶ ἀλήθεια συνήντησαν δικαιοσύνη καὶ εἰρήνη κατεφίλησαν

‫ֶח ֶסד־וֶ ֱא ֶמת נִ ְפ גָּ שׁוּ ֶצ ֶדק וְ ָשׁלוֹם‬ ‫נָ ָשׁקוּ‬

Ps 86(85),15

καὶ σύ κύριε ὁ θεός οἰκτίρµων καὶ ἐλεήµων µακρόθυµος καὶ πολυέλεος καὶ ἀληθινός

1,14

Καὶ ὁ λόγος σὰρξ ἐγένετο καὶ ἐσκήνωσεν ἐν ἡµῖν, καὶ ἐθεασάµεθα τὴν δόξαν αὐτοῦ, δόξαν ὡς µονογενοῦς παρὰ πατρός, πλήρης χάριτος καὶ ἀληθείας

1,14

Καὶ ὁ λόγος σὰρξ ἐγένετο καὶ ἐσκήνωσεν ἐν ἡµῖν, καὶ ἐθεασάµεθα τὴν δόξαν αὐτοῦ, δόξαν ὡς µονογενοῦς παρὰ πατρός, πλήρης χάριτος καὶ ἀληθείας

1,14

Καὶ ὁ λόγος σὰρξ ἐγένετο καὶ ἐσκήνωσεν ἐν ἡµῖν, καὶ ἐθεασάµεθα τὴν δόξαν αὐτοῦ, δόξαν ὡς µονογενοῦς παρὰ πατρός, πλήρης χάριτος καὶ ἀληθείας

1,14

Καὶ ὁ λόγος σὰρξ ἐγένετο καὶ ἐσκήνωσεν ἐν ἡµῖν, καὶ ἐθεασάµεθα τὴν δόξαν αὐτοῦ, δόξαν ὡς µονογενοῦς παρὰ πατρός, πλήρης χάριτος καὶ ἀληθείας

"‫ל־ר חוּם וְ ַחנּוּן ֶא ֶר‬ ַ ‫וְ ַא ָתּ ה ֲאד ֹנָ י ֵא‬ ‫ב־ח ֶסד וֶ ֱא ֶמת‬ ֶ ‫ַא ַפּ יִ ם וְ ַר‬

Neh(2Esdr) 9,6– 10,1 (19,6–38); vgl. Ps 78(77),37f.

9,17(19,17)

καὶ σὺ θεὸς ἐλεήµων καὶ οἰκτίρµων µακρόθυµος καὶ πολυέλεος καὶ οὐκ ἐγκατέλιπες αὐτούς ‫לוֹ; ְסלִ יחוֹת ַחנּוּן וְ ַרחוּם‬ ַ ‫וְ ַא ָתּ ה ֱא‬

[‫"־א ַפּיִ ם וְ ַרב־)וְ ֶח ֶסד( ] ֶח ֶסד‬ ַ ‫ֶא ֶר‬

‫וְ ל ֹא ֲ זַ ְב ָתּם‬

Ps 103(102),8; 145(144),8

103(102),8

οἰκτίρµων καὶ ἐλεήµων ὁ κύριος µακρόθυµος καὶ πολυέλεος ‫ַר חוּם וְ ַחנּוּן ְיהוָ ה ֶא ֶר" ַא ַפּיִ ם‬ ‫ב־ח ֶסד‬ ָ ‫וְ ַר‬

145(144),8

οἰκτίρµων καὶ ἐλεήµων ὁ κύριος µακρόθυµος καὶ πολυέλεος ‫ַחנּוּן וְ ַרחוּם יְ הוָ ה ֶא ֶר" ַא ַפּ יִ ם‬ ‫ל־ח ֶסד‬ ָ ‫וּגְ ָד‬

Joel 2,13 (vgl. auch 2Chron 30,9; Jon 4,2); Mi 7,18ff.

Joel 2,13

καὶ διαρρήξατε τὰς καρδίας ὑµῶν καὶ µὴ τὰ ἱµάτια ὑµῶν καὶ ἐπιστράφητε πρὸς κύριον τὸν θεὸν ὑµῶν ὅτι ἐλεήµων καὶ οἰκτίρµων ἐστίν µακρόθυµος καὶ πολυέλεος καὶ µετανοῶν ἐπὶ ταῖς κακίαις ‫יכ ם‬ ֶ ‫ל־בּגְ ֵד‬ ִ ‫וְ ִק ְרעוּ לְ ַב ְב ֶכם וְ ַא‬ ‫י־חנּוּן‬ ַ ‫יכם ִכּ‬ ֶ ‫וְ שׁוּבוּ ֶאל־יְ הוָ ה ֱא ֵה‬ ‫וְ ַרחוּם הוּא ֶא ֶר" ַא ַפּיִ ם וְ ַרב־‬ ‫ל־ה ָר ָ ה‬ ָ ַ ‫ֶח ֶסד וְ נִ ָחם‬

100

2. Kapitel: Die Rezeption der Sinaitradition in Joh 1,14–18

Innerbiblische Rezeption der Namensoffenbarung

Joh 1

Mic 7,20

δώσεις ἀλήθειαν τῷ Ιακωβ ἔλεον τῷ Αβρααµ καθότι ὤµοσας τοῖς πατράσιν ἡµῶν κατὰ τὰς ἡµέρας τὰς ἔµπροσθεν ‫ִתּ ֵתּן ֱא ֶמ ת לְ ַי ֲ קֹב ֶח ֶסד‬ ‫לְ ַא ְב ָר ָהם ֲא ֶשׁר־נִ ְשׁ ַבּ ְ ָתּ ַל ֲאב ֵֹת ינוּ‬ ‫ימי ֶק ֶדם‬ ֵ ‫ִמ‬

Die vorstehende Tabelle braucht hier nicht im Einzelnen erläutert zu werden. Sie macht insgesamt deutlich, dass nach atl. Zeugnis Gottes (am Sinai offenbarter) Name, konkret seine große Gnade bzw. seine Gnadenfülle die Basis bildet für die Möglichkeit zur Vergebung der Sünden des Volkes und den tragenden Grund darstellt für die Hoffnung auf zukünftige Vergebung und Errettung; sie ist eng mit dem Bund verknüpft (teils explizit, teils implizit). Vor diesem Hintergrund dürfte die Gnadenfülle, von der Joh 1,14.16 spricht, zumindest implizit mit den Zukunftshoffnungen sowie mit dem Bund in einem Konnex stehen. Es sind folgende Entsprechungen zu (früh-)jüdischen Deutungen von Ex 32–34 auf der sprachlichen Ebene zu verzeichnen: Ex 32–34 in (früh-)jüdischen Deutungen

Joh 1

LAB 11,1f.; 12,1

Das Gesetz als Licht; Mose als Lichtträger, der die Herrlichkeit gesehen hat (Verbindung zwischen Licht und Herrlichkeit)

1,4f.9

das Wort als Licht

Sir 45,3

ἐν λόγοις αὐτοῦ σηµεῖα κατέπαυσεν ἐδόξασεν αὐτὸν κατὰ πρόσωπον βασιλέων ἐνετείλατο αὐτῷ πρὸς λαὸν αὐτοῦ καὶ ἔδειξεν αὐτῷ τῆς δόξης αὐτοῦ

1,14

καὶ ἐθεασάµεθα τὴν δόξαν αὐτοῦ

− Joh 1,4f.9 / LAB 11,1f. ; 12,1: Das göttliche Leben, welches im Wort war, und sich zum Heil der Menschen offenbart hat, wird gemäß Joh 1,4f.9 metaphorisch als Licht beschrieben und schließlich gleichgesetzt mit dem Wort, welches in die (in Finsternis liegende) Welt kam. Dieses in die Finsternis der Welt gekommene, wahre Licht ist Jesus Christus. Im Kontrast dazu wird in LAB 11,1f.; 12,1 das Gesetz als Licht und Mose als Lichtträger beschrieben; durch das mosaische Gesetz soll die Welt mit Gottes Licht

3. Echos und Entsprechungen

101

erleuchtet werden. In LAB zeigt sich eine auch für den Prolog anzunehmende Verbindung (allerdings mit Bezug auf Jesus Christus) zwischen der Lichtterminologie und der Herrlichkeitsvorstellung, insofern Mose deshalb Lichtträger ist, weil er die Herrlichkeit gesehen hat. − Joh 1,14 / Sir 45,2: Gemäß Joh 1,14 durften „wir“ die Herrlichkeit des inkarnierten Wortes schauen, wobei es sich um Gottes Herrlichkeit bzw. die Herrlichkeit seines Namens handelt. Auch Mose durfte aus Sirachs Sicht die Herrlichkeit Gottes am Sinai sehen (entsprechend seiner Bitte [Ex 33,18]). Daneben gibt es noch folgende Entsprechungen zu (früh-)jüdischen Deutungen von Ex 32–34 auf der inhaltlichen Ebene: Ex 32–34 in (früh-)jüdischen Deutungen

Joh 1

TgN Ex 33,16

Verknüpfung der Herrlichkeit mit Zeichen und Wundern

1,14

Sir 45,2;

Gott macht Mose gleich der Herrlichkeit der Heiligen (d.h. wohl Engel)

Die Augenzeugen schauten „seine Herrlichkeit“, d.h. die Herrlichkeit des inkarnierten Wortes – er war voller Gnade und Wahrheit

(2Hen 37,1f.) LAB 12,1;

Mose (und Henoch) durfte die Herrlichkeit Gottes sehen

1,14.16f.

„(er war) voller Gnade und Wahrheit“; Empfang von Gnade aus der Gnadenfülle Jesu Christi, in dem die

TgO und TgPs-J Ex 34,29; bTBer 7a TgN Ex 33,23; Sifre Num §103

Mose darf das Wort der Herrlichkeit der Schekina / die göttliche Rede oder das göttliche Wort (die Namensoffenbarung) „sehen“

Sifre Num §103; ExR 45 zu Ex 33,18

Mose schaute die „Rückseite“ (Gottes) = Empfang des Lohnes für die Gerechten und der Strafen für die Gottlosen in der zukünftigen Welt; Mose darf nur die zukünftige Belohnung der Gerechten sehen;

Sir 2,11 u.ö.; PsSal 5,1f.15 u.ö.; Weish 9,1; 15,1 u.a.

Gott als mitleidsvoll, barmherzig, reich an Gnade o.ä. im Anschluss an die

102

2. Kapitel: Die Rezeption der Sinaitradition in Joh 1,14–18

Ex 32–34 in (früh-)jüdischen Deutungen

Joh 1

Namensoffenbarung (Ex 34,6f.)

Gnade und die Wahrheit Gottes manifest geworden sind

EstrR 10,15

Gottes gute Eigenschaften wie Gnade sind im Überfluss da

1,14.16

Die Gnadenfülle Gottes in Jesus Christus, von der alle Gnade für Gnade empfangen

Tgg zu Ex 33,20.23;

Kein Mensch darf Gott(es Angesicht) sehen

1,18

Niemand hat Gott jemals gesehen

TgPs-J Ex 33,11; 1Hen 14,20f.; EzTrag 100f. 2Hen 22,1ff.

Henoch sah „im zehnten Himmel […] eine Erscheinung des Angesichtes des Herrn – wie Eisen, das glühend gemacht [und] aus dem Feuer genommen, Funken sprüht und brennt. So sah ich das Angesicht des Herrn. Und ich sah den Herrn [von Angesicht] zu Angesicht [vgl. Ex 33,11 MT], und sein Angesicht ist mächtig und überhaus herrlich, wunderbar und überaus furchtbar, schrecklich und schaudervoll“ Henoch fragt: „Wer bin ich, um das unumfaßbare Sein des Herrn zu erzählen, und sein überaus wunderbares und unaussagbares Angesicht?“ (2Hen 22,2; vgl. auch 22,3 und 2Hen 39,2–8)315

Philo, spec. I 41–50 u.ö. 315

Mose kann das Wesen Gottes = sein Angesicht nicht

Man beachte aber, dass es sich um spätere Interpolationen handeln könnte (s. Fußnoten 254, 257 in diesem Kapitel). Doch selbst diese sind ein Beleg für jüdische Vorstellungen und Schriftdeutungen, wenn auch im Bereich der Mystik des 2. Jahrhundert n. Chr.

3. Echos und Entsprechungen Ex 32–34 in (früh-)jüdischen Deutungen

103

Joh 1

sehen, wobei Sehen = Erkennen bedeutet Philo, spec. I 42

Gott allein kann Gott offenbaren

1,18

Jesus Christus. der Einzigartige, der Gott ist, der zur Brust des Vaters (gelehnt) war, der berichtet/erzählt

− Joh 1,14 / TgN Ex 33,16: Joh 1,14 zufolge schauten die Augenzeugen die Herrlichkeit des inkarnierten Wortes. Im Laufe einer fortgeführten Lektüre des JohEv können Lesende die Herrlichkeitsschau u.a. mit den Zeichen Jesu (vgl. Joh 2,11; 11,4.40) in Verbindung bringen. Die Präsenz der Herrlichkeit Gottes inmitten von Israel wird in TgN Ex 33,16 auch eng verbunden mit Zeichen und Wundern. − Joh 1,14 / Sir 45,2: Gemäß Sir 45,2 machte Gott Mose, dem er seine Herrlichkeit zeigte und der folglich seine Herrlichkeit sah, gleich der Herrlichkeit der Heiligen (das sind wohl Engel). Daraus ließe sich folgern, dass die, die die Herrlichkeit des inkarnierten Wortes schauten, in gewisser Weise mit Mose in Analogie stehend präsentiert werden. Man beachte in diesem Zusammenhang, dass Jesus – aus der Perspektive des vollendenten Heilswerks (vgl. Joh 17,4) – nach Joh 17,22 seine Herrlichkeit, die ihm der Vater gegeben hat und die er somit besitzt, den Jüngern gegeben hat und sie diese nun haben, sodass/damit sie „eins sind, wie wir eins sind“ (Joh 17,22), mithin durch Jesus in der Gemeinschaft mit dem Vater (Joh 17,23). − Joh 1,14 / 2Hen 37,1f. ; LAB 12,1; TgO und TgPs-J Ex 34,29; bTBer 7a: Die genannten (früh-)jüdischen Texte machen deutlich, dass Mose, was auch immer er nicht sehen durfte, doch die Herrlichkeit Gottes sah. Im johanneischen Text weist m.E. nichts darauf hin, dass dies bestritten werden soll. Viel eher wird dies in Joh 1,14 vorausgesetzt und ist wichtig für das Gesamtverständnis der nachfolgenden Verse. − Joh 1,14 / TgN Ex 33,23; Sifre Num §103: In der jüdischen Auslegungstradition findet sich die paradoxe Vorstellung, dass Mose das Wort der Herrlichkeit der Schekina bzw. die göttliche Rede oder das göttliche Wort, nämlich die Namensoffenbarung sehen darf. Ähnlich paradox ist es, wenn die Augenzeugen davon berichten, dass sie die Herrlichkeit des inkarnierten Wortes schauen durften, die darin bestand, dass er voller Gnade und Wahrheit war – was eigentlich ein nicht sichtbarer Sachverhalt ist, dessen Erkenntnis aber doch eng verbunden ist mit der konkreten, sinnliche Wahrnehmung einschließenden Erfahrung der Augenzeugen mit Jesus, dem fleischgewordenen Wort. − Joh 1,14 / Sifre Num §103; ExR 45 zu Ex 33,18: Gemäß den genannten Texten konnte Mose die „Rückseite“ Gottes, d.h. die Zukunft, genauer: den

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Empfang des Lohnes für die Gerechten (nach manchen: auch die Strafen für die Gottlosen) in der zukünftigen Welt schauen. Von einer, zumal minderwertigen, Schau des anthropomorphistisch verstandenen Rückens Gottes ist weder hier noch sonst in der (früh-)jüdischen Auslegungstradition und wahrscheinlich auch im Bibeltext selbst keine Rede. Auch im Prolog weist nichts darauf hin, dass Mose am Sinai nur den Rücken Gottes gesehen hat, „wir“ aber das Angesicht Gottes sehen durften/dürfen. Vielmehr betont der Evangelist die Analogie und Kontinuität zur Sinaitheophanie. Innerhalb dieser Kontinuität stellt die Inkarnation des Wortes allerdings die Klimax dar. Joh 1,14.16f. / Sir 2,11 u.ö.; PsSal 5,1f.15 u.ö.; Weish 9,1; 15,1 u.a.: Es wurde schon deutlich, dass in Joh 1,14.16f. die Namensoffenbarung rezipiert wird: Durch Jesus Christus sind die Gnade und die Wahrheit Gottes realisiert; aus seiner Gnadenfülle haben „wir alle“ Gnade empfangen. Die breite Rezeption der Namensoffenbarung im (Früh-)Judentum zeigt: Man war sich dessen bewusst, dass die Möglichkeit der Vergebung der Sünden Israels und des Einzelnen im Namen Gottes begründet liegt. Demgemäß präsentiert der Prolog Jesus Christus so, dass deutlich wird: In ihm hat Gott seinen Namen erneut und endgültig Israel und der Welt authentisch offenbart, und in ihm hat er sich seinem Volk gnädig zugewandt und schenkt allen, die an den Namen Jesu glauben, aus seiner Fülle göttliches, ewiges Leben. Joh 1,14.16 / EstrR 10,15: Gemäß Joh 1,14.16 war die Gnade Gottes in Jesus Christus in Fülle präsent, sodass „wir alle“ von dieser Fülle Gnade empfangen konnten. Die Rede von einer Fülle oder einem Überfluss an Gnade Gottes ist ein zentraler Aspekt der atl. Gottesvorstellung, der auch tief in der jüdischen Gottesvorstellung verankert ist, wie z.B. EstrR 10,15 zeigt. Joh 1,18 / Targumim zu Ex 33,20.23; TgPs-J Ex 33,11; 1Hen 14,20f.; EzTrag 100f.; Philo, spec. I 41–50: Das, was in Joh 1,18a über die Gottesschau gesagt wird, entspricht jüdisch belegter Überzeugung: Gott (bzw. sein Wesen) hat niemals jemand gesehen (bzw. erkannt). Es gibt gleichwohl auch die jüdisch belegte Ausnahme: Henoch hat Gott gesehen und kann von seiner Gottesschau erzählen (2Hen 22; 39). Ob diese Tradition schon im zeitgenössischen Judentum des Evangelisten vertreten wurde, muss offen bleiben. Joh 1,18 / Philo, spec. I 42: Dass Jesus der Einzigartige ist, der Gott ist, der zur Brust des Vaters (gelehnt) war, qualifiziert Jesus Christus dazu, zu erzählen. Dies erinnert an Philo, wonach (spec. I 42) allein Gott selbst Gott offenbaren kann.

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4.1 Abgrenzung und Funktion von Joh 1,14–18 Die hier im Fokus stehenden Verse Joh 1,14–18 befinden sich am Ende des sog. Prologs des JohEv, die darin einen eigenen Abschnitt bilden. Dafür sprechen folgende Beobachtungen: − In V.14 wird wieder explizit von „dem Wort“ (ὁ λόγος) gesprochen wie sonst nur noch in V.1. − Das Ende des Abschnitts fällt mit dem Ende des Prologs in eins. − Ab V.19 beginnt die eigentliche Erzählung des JohEv mit der Explikation des Zeugnisses des Johannes. − In V.14–18 kommen, anders als in V.1–13 (Er-Stil), „wir“ (V.14), Johannes (V.15) und „wir alle“ (V.16f[f.]) direkt zu Wort, die ihr Zeugnis von Jesus Christus ablegen. − Anders als zuvor werden in V.14–18 folgende Wörter gebraucht, z.T. in wiederkehrender Kombination: δόξα (2x V.14); πατήρ (2x [V.14 und V.18]); χάρις (4x [V. 14, V.16 und V.17]; ἀλήθεια (2x [V. 14 und V.17]); µονογενής (2x [V.14 und V.18]); πλήρης/πλήρωµα (V.14 und V.16). Der Prolog ist als Leseanweisung der kommenden Erzählung „auf die Frage konzentriert […], wer dieser Jesus ist, wie er zu Gott steht und dieser zu ihm“316. In mehreren Anläufen, gleichsam auf verschiedenen Ebenen um einen Mittelpunkt kreisend wird „das Ganze der Christusoffenbarung aus wechselnder Perspektive zur Ansicht“317 gebracht. Das geschieht im Rahmen der Kommunikation zwischen dem Autor und den Adressaten. Ersterer gehört offensichtlich zu den Augenzeugen, den „wir“ in V.14. Dieses „wir“ ist umso erstaunlicher als dass der Autor es normalerweise vermeidet, in der 1.Person von sich zu sprechen.318 Er tut dies nicht einmal in Joh 20,31, wo er die Adressaten als „ihr“ anspricht (vgl. Joh 19,35), wenn auch nicht besonders betont. Dort formuliert er im Passiv über den Zweck der Abfassung „dieses Buches“ (gemeint ist das JohEv): „Diese [sc. Zeichen] aber sind geschrieben, damit ihr glaubt (πιστεύ[σ]ητε), dass Jesus der Christus ist, der Sohn Gottes, und damit ihr (ἔχητε) durch den Glauben Leben habt in seinem Namen.“ Auf den Glauben der Adressaten, durch den sie Leben haben in Jesu Christi Namen, zielt also der Autor mit dem Zeugnis der Augenzeugen, zu denen er sich zählt. Dieser 316

THEOBALD 2009: 103. THEOBALD 2009: 104. Dieser Sichtweise schließen sich an FREY 2014: 245f. (dort auch der Hinweis auf andere Sichtweisen: „fortlaufende Erzählung“; „temporale Abfolge im Sinne der biblischen Heilsgeschichte“; „Mythos der präexistenten Weisheit oder einer göttlichen Erlösergestalt“); ZUMSTEIN 2016: 70. 318 Das „Wir“ und das „ich“ in Joh 21,24f. befinden sich nicht auf derselben auktorialen Ebene, sondern auf der Ebene der Redaktion. 317

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Kreis der Augenzeugen (die „wir“ aus V.14) ist zwar enthalten in dem Kreis der „wir alle“ (V.16). Jedoch ist letztgenannter Kreis größer als der Kreis der Augenzeugen. Jene Personengruppe dürfte keine dritte Gruppe neben den Adressaten sein, sondern ist wohl mit ihr identisch (den „ihr“ aus 20,31). In dem „wir alle“ sind also die Adressaten eingeschlossen. Folglich haben die Adressaten (mitsamt den Augenzeugen) „Gnade“ (wohl die Gotteskindschaft) aus der „Gnadenfülle“ Jesu Christi empfangen, die die „Gnade“, von der V.17a spricht, ersetzt. Die Adressaten sind also schon Christusgläubige und Gotteskinder. Aber ihr Glaube an Jesus als den Christus ist angefochten und ihre Identität als Christusgläubige und Gotteskinder steht unter Beschuss. Angesichts dessen soll ihr Glaube und ihre Identität durch das Zeugnis der Augenzeugen (und durch das Zeugnis des Täufers Johannes) gestärkt werden. 4.2 Gliederung Die folgende Gliederung ergibt sich aus dem Subjektwechsel von V.14a–b zu V.14c–f., den asyndetischen Anschlüssen von V.15 und V.18, dem Zusammenhang von V.16 und V.14 sowie dem von V.17 und V.16. 1,14a–b: Das Ereignis: die Inkarnation und das Zelten des Wortes unter „uns“ 1,14–17: Das Zeugnis der Augenzeugen Jesu und seine Erläuterung sowie das bestätigende Zeugnis des Johannes 1,14c–f: Das Zeugnis der Augenzeugen Jesu: Die Schau der Herrlichkeit des inkarnierten Wortes 1,15: Das das Zeugnis der Augenzeugen Jesu bestätigende Zeugnis des Johannes 1,16–17: Erläuterung: Der Empfang der Gnade der Gotteskindschaft aus der Gnadenfülle der Christusoffenbarung, die die Gnade der Gesetzgebung durch Mose ersetzt 1,18: Überleitende Zusammenfassung: Kein unmittelbarer Zugang zu Gott durch Gottesschau – Zugang zu Gott durch die Selbstauslegung des Einzigartigen 4.3 Syntaktische Struktur und Übersetzung von Joh 1,14–18 14 a b c d e f

Καὶ ὁ λόγος σὰρξ ἐγένετο Und das Wort wurde Fleisch καὶ ἐσκήνωσεν ἐν ἡµῖν, und zeltete unter uns, καὶ ἐθεασάµεθα τὴν δόξαν αὐτοῦ, und wir schauten seine Herrlichkeit, δόξαν ὡς µονογενοῦς eine Herrlichkeit als des Einzigartigen παρὰ πατρός, vom Vater, πλήρης χάριτος καὶ ἀληθείας.

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voller Gnade und Wahrheit. Ἰωάννης µαρτυρεῖ περὶ αὐτοῦ Johannes zeugt von ihm b καὶ κέκραγεν λέγων· und ruft mit lauter Stimme319: c οὗτος ἦν „Dieser war der, d ὃν εἶπον· über den ich sagte: e ὁ ὀπίσω µου ἐρχόµενος ἔµπροσθέν µου γέγονεν, ‚Der hinter mir her Kommende ist (schon) vor mir zu stehen gekommen, f ὅτι πρῶτός µου ἦν. denn er war (immer schon) der Erste im Vergleich zu mir‘.“ 16 a ὅτι ἐκ τοῦ πληρώµατος αὐτοῦ ἡµεῖς πάντες ἐλάβοµεν Denn aus seiner Fülle haben wir alle empfangen, b καὶ χάριν ἀντὶ χάριτος· nämlich Gnade anstelle von Gnade. 17 a ὅτι ὁ νόµος διὰ Μωϋσέως ἐδόθη, Denn das Gesetz wurde durch Mose gegeben, b ἡ χάρις καὶ ἡ ἀλήθεια διὰ Ἰησοῦ Χριστοῦ ἐγένετο. die Gnade und die Wahrheit ist durch Jesus Christus geworden. 18 a Θεὸν οὐδεὶς ἑώρακεν πώποτε· Gott hat niemand jemals gesehen. b µονογενὴς Der Einzigartige, c θεὸς der Gott ist, d ὁ ὢν εἰς τὸν κόλπον τοῦ πατρὸς der (fortwährend) an die Brust des Vaters (gelehnt) ist, (b) ἐκεῖνος ἐξηγήσατο. jener hat kundgetan.

15 a

4.4 Interpretation der intertextuellen Bezüge innerhalb des Prologs Die aufgezeigten vielfältigen intertextuellen Bezüge zur „zweiten“ Sinaitheophanie leisten einen wichtigen Beitrag zur Botschaft des Prologs über die Identität Jesu Christi im Verhältnis zu Gott und zu den Menschen, insbesondere zu so bedeutsamen wie Johannes (dem Täufer) und Mose. Angesichts der oben skizzierten fundamentalen, kaum zu überschätzenden Bedeutung jener Erzählung vom Sinaigeschehen und speziell von der Namensoffenbarung für die atl.(früh-)jüdische Gottesvorstellung, Gebetspraxis und Zukunftshoffnung ist es kaum verwunderlich, dass der Evangelist (neben den evidenten Bezügen zur Schöpfungserzählung am Anfang des Prologs) gerade auf diese Erzählung an gerade dieser Stelle – innerhalb der Lektüreanweisung des Evangeliums – 319

Das Partizip λέγων wird hier nicht übersetzt, da dies im Deutschen redundant wirkt.

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Bezug nimmt. Im Folgenden will ich den dritten Prologabschnitt unter Beachtung dieser intertexuellen Bezüge auslegen. Gemäß Joh 1,14 wurde (ἐγένετο) das ewige Wort tatsächlich „Fleisch“,320 also ein vergänglicher und sterblicher Mensch in Entsprechung zu allen anderen Menschen (vgl. V.13, wo auch von „Fleisch“ die Rede ist, mit dem Vorhergehenden). So überwand das Wort durch die Inkarnation (und das Kreuz, auf das die Rede vom „Fleisch“ vorausweisen könnte; vgl. Joh 6,51ff.), die Distanz zwischen „Fleisch“ und „Geist“ (vgl. Joh 3,3ff.) bzw. „Welt“ und Gott. Dem entspricht, dass der in der Vergangenheit liegende Aufenthalt des inkarnierten Wortes unter „uns“ mit dem Verb σκηνόω umschrieben/erläutert wird. Ausweislich der Anspielung auf das „Zelten“ Gottes bzw. seines Namens321 im Zelt bzw. Wüstenheiligtum inmitten seines Volkes Israel322 zielt dies darauf, den Inkarnierten auch als den temporären323 „Ort“ bzw. das temporäre Heiligtum324 zu präsentieren, wo Gottes Name sich auf der Erde offenbart.325 Zugleich bedeutet dies für diejenigen, unter denen er so weilte, dass sie von Gott in besonderer Weise erwählt sind.326 Als das inkarnierte Wort unter „uns“ zeltete, konnten „wir“ seine Herrlichkeit schauen, eine Herrlichkeit, die er deshalb besaß, weil er als der Einzigartige παρὰ πατρός ist. Begreift man dies als Anspielung auf die Herrlichkeitsschau Moses am Sinai, zeigt sich eine Verknüpfung der Herrlichkeitsschau der Augenzeugen mit der Herrlichkeitsschau Moses, sodass das Auftreten des 320 Das V.14 einleitende καί ist mit THEOBALD (1988: 266) wohl so zu deuten, dass „es genau die Leistung signalisiert, die der Hörer beim Bedenken der ‚Leerstellen‘ erbringen soll: Die verschiedenen Dimensionen der ‚Arché‘ Jesu, die bisher in 1,1f und 1,6 angesprochen bzw. assoziiert wurden, selbst zusammenzubringen und zusammenzudenken, um dann mit Überzeugung das Glaubensurteil der Identität des ewigen Logos mit dem irdischen Jesus mitsprechen zu können: ‚in der Tat, führwar, der Logos ist Fleisch geworden.‘“ 321 Vgl. daneben ähnliche Aussagen über die Weisheit (Sir 24,8ff. ). Diese Bezüge betont FREY 2014: 255. Gleichwohl bezieht sich diese weisheitliche Tradition ihrerseits auf die Sinaitradition, sodass man hier keinen Gegensatz sehen muss. 322 Als metaphorische Anspielung auf das Offenbarungszelt verstehen das Verb u.a. KOESTER 1989: 102 (er erwägt zusätzlich, ob das Motiv der Stiftshütte „may echo Jewish and Samaritan forms of the hidden tabernacle tradition“ [115], doch finden sich im joh. Text keine klaren Hinweise dafür); THEOBALD 1988: 255; THEOBALD 2009: 129; THYEN 2005: 93. 323 Vgl. Joh 9,4f.; besonders 12,35f. Anders THYEN 2005: 93: Es gehe nicht um den „bloß episodischen Charakter des Zeltens im Unterschied zum dauerhaften Wohnen im festen Tempelgebäude aus Stein […], sondern“ der Akzent liege „auf der unverbrüchlichen Zusage des Mitseins Gottes mit seinem durch die Wüsten seiner Exile wandernden Volk“. 324 Nicht Jesus ist jedoch das Zelt Gottes (so aber KOESTER 1989: 104), sondern in Analogie zu Joh 2,21 sein Leib, wobei dies hier jedoch nicht expliziert wird. 325 Ähnlich FREY 2014: 255f. 326 Dieser Gedanke ließe sich fortführen mit dem Hinweis auf die Erwählung der Zwölf (Joh 6,70) als Repräsentanten des erneuerten Gottesvolkes, wenn man die Augenzeugen mit diesem engsten Jüngerkreis identifiziert (vgl. u.a. Joh 2,11; 15,27).

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inkarnierten Wortes als Theophanie und somit – aufgrund der Identität des inkarnierten Wortes mit Jesus Christus – Jesus Christus mit göttlicher Herrlichkeit ausgestattet, dargestellt wird. Die Augenzeugen dürfen folglich dort „stehen“, wo nur Mose allein stehen durfte. Was nur Mose aufgrund seiner Sonderstellung bei Gott gestattet war, dürfen nun die Augenzeugen schauen, nämlich die Offenbarung des Namens Gottes. Von diesem Namen ist in Joh 1,14 unter Bezug auf die Sinaitheophanie die Rede, wenn es heißt, dass das inkarnierte Wort als der Einzigartige (der vom Vater ist/kommt) „voller Gnade und Wahrheit“ war. Die Vorstellung einer Fülle von Gnade und Wahrheit würde einem aus Ex 34,6 gewonnenen wesentlichen Aspekt atl.-jüdischer Gottesvorstellung entsprechen (vgl. z.B. Ps 5,8; 51[50],3; 69[68],14; 106[105],7; Dan 3,42; 1QS 4,4; 1QHa VI 24; 1QHa VIII 16ff.; 1QH XIX 29ff.; 4Q511 Frgm 52–59; EstR 10,15).327 Ist „[er war] voller Gnade und Wahrheit“ nun in Entsprechung zum von einigen modernen Auslegenden rekonstruierten Sinn der Wendung in Ex 34,6, auf die hier angespielt wird, als Hendiadyoin zu verstehen,328 wonach Gott „reich/groß an beständiger liebevoller Zuwendung ist“? Fungiert also „Wahrheit“ adjektivisch als Näherbestimmung der „Gnade“ („wahre Gnade“)?329 Denkbar wäre ja auch das Umgekehrte: „Gnade“ bestimmt „Wahrheit“ näher, sodass die Wahrheit als Geschenk zu betrachten ist, von dem Jesus Christus „voll“ war.330 Oder müssen die beiden verknüpften Begriffe voneinander unterschieden werden?

327

Ähnliche Vorstellungen begegnen auch bei Paulus z.B. im Römerbrief (vgl. dazu BREYTENBACH 2009: 259–265 und passim). 328 Vgl. auch die bei DE LA POTTERIE (1977: 119) referierte (offenbar schon sehr alte) Deutung, wonach es in Joh 1,14.17 um Gnade als Realität („Wahrheit“ in diesem Sinne) im Gegensatz zu den atl. Präfigurationen derselben gehe. 329 Der Vorschlag von MOWVLEY (1984: 137), die Phrase πλήρης χάριτος καὶ ἀληθείας zu übersetzen mit „truly full of grace“ und dann eine Bezugnahme auf Ex 33,16 (καὶ πῶς γνωστὸν ἔσται ἀληθῶς ὅτι εὕρηκα χάριν παρὰ σοί ἐγώ τε καὶ ὁ λαός σου…) zu postulieren, ist nicht überzeugend, da „Wahrheit“ in Joh 1,14 (und in 1,17) in keinem Fall als Adverb fungiert (auch gegen SCHWINDT 2007: 418). 330 So THYEN 2005: 95.

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Da in V.16 „Gnade“ (aus seiner, des inkarnierten Wortes Fülle) gesondert erscheint331 und in V.17b der Artikel332 sowohl bei χάρις als auch bei ἀλήθεια steht,333 halte ich es für wahrscheinlich, dass hier kein Hendiadyoin vorliegt. Gleichwohl ist aufgrund des in V.17b nachgestellten Singulars ἐγένετο nach dem zweigliedrigen Subjekt (Sg. + Sg.) naheliegend, dass sich χάρις und ἀλήθεια gegenseitig interpretieren, aber nicht so, dass einer der Begriffe die Funktion eines Adjektivs bekommt.334 Gnade und Wahrheit sind also als zwei Größen (und nicht als eine) zu betrachten, die unterschieden werden müssen, aber nicht voneinander getrennt werden dürfen. Sie fassen extrem verdichtet 331

DE LA POTTERIE (1975: 280; 1977: 146ff.) versucht zu zeigen, dass die erstgenannte „Gnade“ in V.16 „Wahrheit“ (als Inhalt der Gnade/Gabe) meint (die die Gabe des Gesetzes ersetzt), wodurch er seine Interpretation von „Gnade“ = Gabe der Wahrheit aufrechterhalten kann. Dem steht jedoch die Formulierung in V.17b entgegen (die Gnade und die Wahrheit als wahrscheinlich zu differenzierende, wenn auch verbundene Größen [vgl. die Anmerkungen in Fußnote 332]). Außerdem wird λαµβάνω im JohEv (auch nicht in 1–3Joh) nicht mit „Wahrheit“ kombiniert, jedoch mit „Zeugnis“ (Joh 3,11) oder „Worten“ (12,48), infolgedessen bekommt λαµβάνω den Sinn von „annehmen“, d.h. „glauben“, weil es ein aktives Subjekt impliziert. In Joh 1,16 ist aber eindeutig ein passives Subjekt im Blick, welches aus „seiner Fülle“ lediglich empfängt, ganz abgesehen davon, was mit „Gnade“ genau gemeint ist. Dies aber passt in semantischer Hinsicht wesentlich besser zum passiven Heilsempfang als zur aktiven Annahme der Wahrheit, die gleichbedeutend ist mit dem aktiven Glauben der Wahrheit (der im Sinne des Evangelisten jedoch von Gott her möglich wird). 332 Die Artikel sprechen natürlich nicht absolut zwingend gegen ein Hendiadyoin. Aber die ntl. Beispiele, die DE LA POTTERIE (1977: 139, Anm. 53) zur Stützung seiner Auslegung von „die Gnade und die Wahrheit“ als Hendiadyoin nennt, können nicht überzeugen (vgl. Lk 2,47; 2Tim 4,1; Jak 5,10; 1Petr 4,14; [evtl. Mk 6,26], wo zwei durch καί koordinierte Begriffe auch jeweils mit Artikel versehen sind und diese Konstruktion als Hendiadyoin aufzufassen ist). In Mk 6,26 (καὶ περίλυπος γενόµενος ὁ βασιλεὺς διὰ τοὺς ὅρκους καὶ τοὺς ἀνακειµένους οὐκ ἠθέλησεν ἀθετῆσαι αὐτήν) liegt wahrscheinlich kein Hendiadyoin vor, sondern eher so etwas wie „Sparsamkeit“ des Erzählers: Herodes wollte den Wunsch der Tochter der Herodias nicht abweisen wegen der zuvor gesprochenen „Eide“ (dies bezieht sich wohl auf den zuvor berichteten wiederholten Schwur des Herodes; vgl. 6,22f.), und wegen der Gäste, in deren Beisein die Eide gesprochen wurden. In den anderen Beispielen dient die möglicherweise im Sinne der besagten Stilfigur zu verstehende Konstruktion mit καί und dem wiederholten Artikel dazu, eine Reihe aufeinanderfolgender und sich aufeinander beziehender Genitive zu vermeiden (Lk 2,47 [ἐξίσταντο δὲ πάντες οἱ ἀκούοντες αὐτοῦ ἐπὶ τῇ συνέσει καὶ ταῖς ἀποκρίσεσιν αὐτοῦ.]; 2Tim 4,1 [∆ιαµαρτύροµαι ἐνώπιον τοῦ θεοῦ καὶ Χριστοῦ Ἰησοῦ τοῦ µέλλοντος κρίνειν ζῶντας καὶ νεκρούς, καὶ τὴν ἐπιφάνειαν αὐτοῦ καὶ τὴν βασιλείαν αὐτου]; Jak 5,10 [ὑπόδειγµα λάβετε, ἀδελφοί, τῆς κακοπαθίας καὶ τῆς µακροθυµίας τοὺς προφήτας οἳ ἐλάλησαν ἐν τῷ ὀνόµατι κυρίου]; 1Petr 4,14 [εἰ ὀνειδίζεσθε ἐν ὀνόµατι Χριστοῦ, µακάριοι, ὅτι τὸ τῆς δόξης καὶ τὸ τοῦ θεοῦ πνεῦµα ἐφ᾽ ὑµᾶς ἀναπαύεται]). Dies ist in Joh 1,17 jedoch nicht der Fall, wo zwei Substantive im Nominativ mit Artikel koordiniert werden. 333 Vgl. RUCKSTUHL 1985: 474. 334 Gegen GESE 1983: 186f.; PAROSCHI 2006: 154 u.a. (Akzent auf „Gnade“), aber auch gegen THYEN 2005: 95 (die Wahrheit als Gnade bzw. die Gnade, d.h. das Geschenk der Wahrheit [im Anschluss an DE LA POTTERIE 1977: 139 und öfter]) u.a. (Akzent auf „Wahrheit“).

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die Einsicht zusammen, dass Jesus Christus der Träger des Namens Gottes ist. Das Verhältnis von Gnade und Wahrheit hat Söding so beschrieben: Indem der Evangelist mit seinem Prolog den Begriff der Wahrheit einführt, lässt er das Heilsgeschehen als Offenbarungsgeschehen entdecken und die Offenbarung Gottes als Selbstoffenbarung in Jesus Christus erkennen. Indem umgekehrt die Wahrheit dieser Offenbarung als Gnadenmitteilung eingeführt wird, erhellt, dass die Offenbarung, die Jesus ist und bringt, nicht nur den immer schon gefassten Plan Gottes aus der Verborgenheit ins Licht der Öffentlichkeit stellt, sondern eschatologisch Neues schafft.335

Etwas einfacher und treffender bringt Spieckermann den Sachverhalt auf den Punkt: Dabei ist die Verbindung von Gottes Gnade und Wahrheit essentiell. Gott handelt in seiner gnädigen Zuwendung zur Welt nicht punktuell-situationsgebunden, sondern seinem Wesen gemäß, genau wie in Ex 34. Gottes Gnade ist Gottes Wahrheit, wie alle Selbstentäußerungen Gottes wahr sind: das Wort, das Leben, das Licht.336

Diese Einsicht, dass in Jesus Christus, der Inkarnation des Wortes, derselbe Name Gottes offenbart ist, der am Sinai durch Gott selbst kundgetan wurde,337 ist klar soteriologisch konnotiert (vgl. Joh 1,12, wonach die Gotteskindschaft [das ewige Leben; vgl. Joh 20,31] verbunden ist mit Glauben). Damit zielt die Epiphanie der Herrlichkeit des inkarnierten Wortes auf die Gotteskindschaft, ähnlich wie die Erscheinung der Herrlichkeit Gottes in seinem Namen am Sinai zur der Vergebung und (Wieder-)Annahme Israels als Eigentum Gottes bzw. als sein Volk (vgl. Ex 19,5.f) führte. Das in der Gegenwart zu hörende, mithin permanente prophetische Zeugnis des Johannes dient der Bestätigung dessen, was die Augenzeugen in V.14 gesagt haben, nämlich, dass sich in dem Menschen Jesus tatsächlich der ewige Gott Israels selbst, d.h. sein Wesen als liebevolle Zuwendung zu seinem Volk endgültig offenbart hat. So übt „Johannes als Christuszeuge in Person“ (Obermann), wenn er die Offenbarung Gottes in Jesus Christus bestätigt, für die nachfolgenden Generationen von Lesenden des JohEv eine ähnliche Funktion aus wie das atl. „Zeugnis“. Dieses waren die von Gott gegebenen Steintafeln mit der Tora, die die Offenbarung an Mose und Israel für die nachfolgenden Generationen permanent bestätigten. Das Zeugnis des Täufers in V.15 ist dazu an dieser Stelle nötig, so schreibt Hooker, „so that we may understand that the one who follows him in the story – Jesus – is in fact the one who was before him, whose glory is spoken of in the pages of the Old Testament“338. Es geht hier um mehr als eine Analogie oder um mehr als um eine Christologie aus Elementen, die einer der bedeutsamsten Theophanieerzählungen des AT 335

SÖDING 2001: 327. SPIECKERMANN 2001: 30. 337 Davon, dass Gnade und Wahrheit am Sinai angekündigt wurden, in Jesus jedoch „geworden“ sind, ist im johanneischen Text keine Rede (gegen KOESTER 1989: 104). 338 HOOKER 1974: 55. 336

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entnommen und auf Jesus übertragen worden sind.339 Es geht vielmehr darum, die geschichtliche Kontinuität in der Offenbarung Gottes deutlich zu machen.340 Nach V.16 haben „wir alle“ aus der Fülle an Gnade und Wahrheit des inkarnierten Wortes empfangen, und zwar (epexegetisches καί) χάριν ἀντὶ χάριτος. Dieser Empfang aus „seiner Fülle“ (an Gnade und Wahrheit) durch die „Wir alle“ erläutert oder erweist den in V.14 behaupteten Sachverhalt, nämlich, dass Jesus Christus „voller Gnade und Wahrheit“ und somit der Träger des Namens Gottes ist. Ferner ersetzt341 (vgl. das ἀντί)342 die aus „seiner Fülle“ empfangene „Gnade“ eine andere „Gnade“.343 Begründet wird V.16 durch V.17: „Denn das Gesetz wurde durch Mose gegeben, die Gnade und die Wahrheit ist durch344 339

So THEOBALD 1988: 255.257f.: „Der Transfer von […] Aussagen zur Epiphanie Gottes im Alten Bund auf den Logos wird keine heilsgeschichtliche Erfüllungstheologie begründen, sondern das Erinnerte ausschließlich für den Logos-Christus als die wahre und eigentliche Epiphanie Gottes reklamieren […] Diese Selbstoffenbarung Jahwes [in Ex 34,6] greift nun die Sentenz mit ihrer Formel ἡ χάρις καὶ ἡ ἀλήθεια auf, reduziert sie auf ihren Heilsaspekt und transponiert sie so auf den einen Mittler Jesus Christus. Ist er der Ort, an dem ‚Gnade und Wahrheit‘ Jahwes Wirklichkeit geworden sind, dann bleibt für das Gesetz nur ein Vakuum an göttlicher Wirklichkeit, wie das dann auch V.18a mit einem Seitenblick auf die Epiphanie Jahwes vor Mose zu sagen scheint […] Ist der unsichtbare Gott allein in Jesus Christus sichtbar und erfahrbar geworden, dann verblasst auch die Epiphanie Jahwes vor Mose hinter der Übergabe der Tora an ihn, wie diese nach dem 4. Ev ja auch vor allem Zeugnis der außerhalb ihrer selbst liegenden Heilswirklichkeit Jesu Christi ist“; THEOBALD 2009: 134: „Was in Ex 34 als Selbstverpflichtung JHWHs ist, seinem Volk trotz des vorangegangenen Bundesbruchs die Treue zu bewahren und auf seinem weiteren Weg mitzuziehen, das greift die Sentenz als Selbst-Offenbarung JHWHs auf und überträgt es auf den Mittler Jesus Christus, von dem sie sagt, dass er der Ort ist, an dem nun ‚Gnade und Wahrheit‘ Wirklichkeit geworden sind.“ 340 Ähnlich OBERMANN 1996: 54f. In eine andere Richtung geht HANSON (1976: 96), gefolgt von PAROSCHI (2006: 158ff.), die davon reden, dass Jesus Mose am Sinai erschienen sei. Diese Vorstellung lässt sich mit dem johanneischen Text nicht belegen. 341 Vgl. DE LA POTTERIE 1975: 279 (wobei s.E. „Wahrheit“ Inhalt der „Gnade“ ist und somit das Gesetz durch „die Wahrheit“ ersetzt wird); THYEN 2005: 103ff.; AUGENSTEIN 1999: 171f.; anders z.B. THEOBALD 2009: 133 und ZELLER 1990: 136. 342 Zur Diskussion s.o unter „Desintegration“. 343 THYEN (2005: 105) meint, dass „auch die Gnadengabe der Tora vom Sinai der Fülle Jesu Christi entstammt“. BARTH schreibt: „Einen Wechsel, einen Tausch, muss und kann ἀντί auch so bedeuten, nur nicht einen Wechsel zwischen verschiedenen Gaben, die aus dem πλήρωµα empfangen werden, sondern den Wechsel, der darin besteht, dass dieselbe Gabe verschiedene Male – immer wieder, dürfen wir vielleicht sofort interpretieren – gegeben und empfangen wird, ohne dass sie darum – gerade auf ihre sachliche Identität fällt also der Nachdruck – eine andere wird“ (BARTH 1976: 146). Die Syntax fordert dieses Verständnis jedoch nicht; außerdem finden sich innerhalb des JohEv keine Parallelen für die Vorstellung eines iterativen Gebens/Empfangens von Gnade, Leben o.ä. 344 Zwar steht das zweite διά parallel zum ersten διά, gleichwohl ergibt sich durch die Kombination des zweiten διά mit ἐγένετο ein gewichtiger Unterschied zum ersten διά,

4. Reintegration

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Jesus Christus geworden.“ Die „Gnade“, die ersetzt wurde, lässt sich aufgrund der terminologischen Übereinstimmung zur eingespielten Sinaitheophanie in der Erwählungsgnade, der Sonderstellung Moses, erblicken. Die Gnade, die Mose vor Gott fand, wurde dadurch bestätigt, dass Gott (nur) Mose seinen herrlichen Namen offenbarte und ihn (allein) zum Mittler des mit dem Gesetz gegebenen Bundes machte. Mose allein steht am Sinai in engster Gottesgemeinschaft; die Gottesbeziehung des Volkes wird durch Mose vermittelt. Daher besteht der Sinn des „wir alle haben aus seiner Fülle Gnade empfangen“ in Folgendem: Nun, in der messianischen Heilszeit, da die Gnade als die Wahrheit Gottes345 durch346 Jesus Christus geworden347 und aufgrund der Inkarnation des Wortes in ihrer endzeitlichen Fülle bzw. göttlichen Vollkommenheit vorhanden ist, sind alle Christusgläubigen gleich welcher Provenienz unmittelbar Empfänger von Gnade, und zwar Gnade im Übermaß, geworden. Die empfangene Gnade für alle/im Übermaß ersetzt die Gnade für Mose, die durch ihn dem Gottesvolk vermittelt wurde. Da hier keine semantische Opposition vorliegt (wie es sonst häufig der Fall ist, wenn ἀντί gebraucht wird), schwingt jedoch neben dem Moment der Überbietung auch das Moment der Vollendung mit, zumal man in Rechnung stellen sollte, dass das Gesetz nach johanneischer Auffassung Zeuge für Jesus ist. Die Gnade, die Mose einst vor Gott fand, findet ihr Ziel in der Gnade, die durch Jesus Christus Wirklichkeit geworden ist. Für das hier präsentierte Verständnis von „Gnade“ in Joh 1,16 spricht der Konnex welches mit ἐδόθη verbunden ist. Dieser Umstand wird von WENGST (2000: 71, besonders Anm. 69) nicht ausreichend beachtet, wenn er Mose und Jesus Christus jeweils als Mittler bezeichnet. 345 So wird man die Artikel hier deuten können. Dies entspricht V.14, insofern „voller Gnade und Wahrheit“ dort mittels der Verknüpfung mit der göttlichen „Herrlichkeit“, die der vom Vater kommende/stammende Einzigartige (Sohn) besaß, als Gottes Gnade und Wahrheit kenntlich gemacht sind. 346 Durch das an (ὁ λόγος σὰρξ) ἐγένετο in V.14 anknüpfende ἐγένετο in Verbindung mit διὰ Ἰησοῦ Χριστου in V.17b wird deutlich, dass die Gnade und die Wahrheit nicht etwas sind, was von Jesus Christus zu trennen wäre, sondern in seiner Person als dem inkarnierten Wort realisiert wurden. Vgl. THEOBALD 1988: 258: „Bezeichnet (ὁ νόµος) ἐδόθη in Übereinstimmung mit jüdischem Sprachgebrauch die Übermittlung des Gesetzes, so signalisiert ἐγένετο, das an V.4, aber auch an V.14 anschließt, die neue und einzigartige Qualität der Vermittlung göttlicher Heilswirklichkeit in Jesus Christus, also das Kommen von ‚Gnade und Wahrheit‘ in der Person Jesu selbst.“ Interessant ist, dass ‫ חסד‬in den Texten von Qumran gemäß SCHLENKES Auskunft eine Eigenständigkeit erhält, die „bis zur Hypostase Gottes [reicht]. So ist ‫ חסד‬als Erscheinung am himmlischen Thron sichtbar (11QPsa 26,10 [Zion])“ (2011: 1028; allerdings ist die Rede von „Hypostase“ in diesem Zusammenhang nicht unproblematisch). 347 Bei DE LA POTTERIES Deutung (1977: 139f.) der „Gnade“ als „Gabe“, deren Inhalt „die Wahrheit“ und die durch Jesus Christus „geworden ist“, würde man in V.17b eher die Verwendung eines Verbs wie „geben“ (vgl. Joh 1,16.17a) erwarten. Tatsächlich wandelt DE LA POTTERIE den Satz seiner Auslegung sinngemäß um und erhält dann einen „exact parallélisme des deux membres“: ἡ ἀλήθεια διὰ Ἰησοῦ Χριστου ἐχαρίσθη (1977: 140).

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2. Kapitel: Die Rezeption der Sinaitradition in Joh 1,14–18

zu Joh 1,12. Es ist offensichtlich, dass „wir alle“, die Gnade empfingen (ἐλάβοµεν), zu identifizieren sind mit denen, die Jesus Christus „annahmen“ (ἔλαβον) bzw. an seinen „Namen“ glaubten und denen er die Vollmacht gab (ἔδωκεν), Gotteskinder zu werden. Die Gabe der Gotteskindschaft impliziert den Empfang der Gotteskindschaft. V.12 und V.16 sprechen über das Gleiche, zuerst aus der Perspektive des Gebers und dann aus der Perspektive der Empfänger. Mithin besteht die Gnade, die „wir alle“ aus seiner Fülle empfangen haben, in der unmittelbaren Gottesgemeinschaft, die der Einzigartige aus seiner Beziehung zum Vater heraus dem ganzen eschatologischen Gottesvolk eröffnet hat. „Wir alle“ stehen nun in jener Sonderstellung bei Gott, die einst nur Mose innehatte. Sachlich entspricht dies der mit dem neuen Bund gegebenen Unmittelbarkeit der Gottesbeziehung des ganzen Gottesvolkes (vgl. Jer 31[38],34).348 Die hier vorgelegte Deutung von V.17 impliziert, dass Moses hohe Geltung im AT und (Früh-)Judentum ohne Weiteres vorausgesetzt wird. Das ist insofern unproblematisch, als zwischen ihm und Jesus Christus im Sinne des Evangelisten kein Konkurrenz- oder Kontrastverhältnis besteht,349 ebenso wenig wie zwischen Mose und Gott am Sinai. Wie könnte es auch anders sein, wenn ein Mensch, selbst der bedeutsamste in der atl.-jüdischen Erinnerung, der

348 Etwas anders PAROSCHI (2006: 165), der meint, es gehe hier um „one covenant being replaced by another, in that the symbol meets its reality and the promise its fulfilment. Only in this sense is one superior to the other, for both were covenants of grace, of the same grace, which in both instances was abundantly revealed by Jesus Christ himself“. 349 So mit BARTH 1976: 151. Anders SCHNACKENBURG 1986: 252f.: „Der Evangelist greift die Wendung ‚Gnade und Wahrheit‘ von V.14 auf und sinnt darüber nach, wie die göttliche Gnadenwirklichkeit erst mit dem inkarnierten Logos auf die Erde kam.“ Wenig später sagt er dann noch: „Der Vers soll […] die Überbietung der bisherigen Gesetzesordnung durch die Gnadenwirklichkeit Jesu Christi herausstellen.“ Eine radikale Konfrontation bzw. Kontrast sehen KLEIN (vgl. 1985: 72: „Im Eingang des Johannesevangeliums [1,17] wird das Mosegesetz der Christusgnade in einer die paulinische Dalektik auflösenden Radikalität konfrontiert, ohne dass der Gegensatz sachlich entfaltet wird“); SÄNGER 2004: 195f.; WILLOUGHBY 2014: 125. Allerdings wird leicht übersehen, dass nicht einfach Gesetz und Gnade kontrastiert werden (zumal für einen Kontrast keine sprachlich eindeutigen Signale vorliegen), sondern zwei Ereignisse („das Gesetz wurde durch Mose gegeben“ und „die Gnade und die Wahrheit ist durch Jesus Christus geworden“) nebeneinanderstehen. EPP meint zunächst, dass für den Evangelisten die Tora durch Jesus Christus „displaced“ und „superseded“ sei (1975: 139), versucht diese These dann jedoch wieder zu relativieren, indem er sagt: „Clearly, there is a contrast or a sharp line drawn between Torah and Christ in vs. 17 and elsewhere in the Prologue, but this difference should be viewed more in terms of fulfillment and continuity than in terms of opposition or antithesis“ (EPP 1975: 140). Die Spannung in diesen Aussagen geht darauf zurück, dass Epp nicht konsequent zwischen der Sicht des Evangelisten und der Sicht von Lesenden unterscheidet, die mit jüdischen Aussagen über die Weisheit/Tora vertraut waren und ähnlich klingende Aussagen über das Wort, welches vom Gesetz unterschieden und zugleich mit Jesus Christus identifiziert wird, als Ersetzung auffassen könnten.

4. Reintegration

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Offenbarung empfangen/vermittelt hat, neben diesem Menschen steht, der in seiner Person Gottes Namen offenbart und selbst die Wahrheit ist? „Gott hat niemand jemals gesehen. Der Einzigartige (Sohn), der Gott ist, der zur Brust des Vaters gelehnt ist, jener hat kundgetan.“350 So schließt der letzte Satz den Prolog ab, indem er das Wesentliche zusammenfasst, sodass er zugleich als Kernsatz fungiert, der auch über der ganzen anschließenden Erzählung steht.351 V.18a gibt sich nicht als Polemik zu erkennen. Vielmehr entspricht diese grundsätzliche Aussage Ex 33,20.23 und einem daran anschließend breit belegten (früh-)jüdischen Konsens:352 Gott bzw. sein „Wesen“ kann der Mensch grundsätzlich nicht durch eine Gottesschau erkennen. V.18b behauptet nun von Jesus Christus, der der Einzigartige (Sohn), selbst Gott und in engster Gemeinschaft mit dem Vater ist, dass er kundgetan hat (ἐξηγήσατο). Gotteserkenntnis wird folglich nur von Gott her möglich. Das für V.18 zentrale Verb ἐξηγέοµαι wird im Rahmen der jüdischen Gesetzesauslegung technisch gebraucht.353 Dass Jesus Christus das Gesetz auslegt, ist zwar im Zusammenhang von V.18 und in Verbindung mit den auf Exklusivität zielenden Beschreibungen in V.18b wenig plausibel. Dennoch ist der (im JohEv singuläre) Gebrauch eines Verbs, das die Auslegung des Gesetzes bezeichnen kann, kaum zufällig, zumal das Gesetz ja kurz zuvor explizit erwähnt worden ist. In sachlicher Hinsicht findet sich in Joh 5,39 eine gewisse Parallele, die möglicherweise zur Erhellung von Joh 1,18 beitragen kann. So erforschen „die Juden“ die Schriften (ἐραυνᾶτε τὰς γραφάς), denn sie meinen, in ihnen ewiges Leben zu haben. Schriftforschung und Schriftauslegung dürften mehr oder weniger das Gleiche sein; sie zielen nach Auffassung „der Juden“ auf das ewige Leben von Gott, zu dem man den Zugang durch die Schrift und ihre Auslegung hat. Wenn der Evangelist also einen Terminus für die jüdische Exegese der Schrift aufgreift und ihn absichtsvoll (metaphorisch) auf Jesu Tätigkeit überträgt, dabei aber nicht Gesetzesauslegung im Blick hat – was hat er dann vor Augen? Vom unmittelbaren Kontext aus gesehen kommt wohl nur „die Gnade und die Wahrheit“ als der Name Gottes und – sofern dieser offenbart wird – als der Heilswille Gottes in Frage als leicht zu ergänzendes Objekt zu ἐξηγήσατο. Demgemäß hat Jesus, aufgrund seiner Identität als Einzigartiger, der Gott ist und der in engster Gemeinschaft mit dem Vater steht, Gottes Namen und seinen Heilswillen „ausgelegt“. Da aber „die Gnade und die Wahrheit“ Gottes durch ihn geworden ist, legt Jesus nichts anderes aus als – sich selbst (wie es im 350

Die Kombination von „sehen“ und „erzählen“ begegnet u.a. in Hiob 28,27. Vgl. besonders Sir 43,31 (mit Bezug auf Gott; vgl. den Kontext): τίς ἑόρακεν αὐτὸν καὶ ἐκδιηγήσεται καὶ τίς µεγαλυνεῖ αὐτὸν καθώς ἐστιν. 351 Vgl. ZUMSTEIN 2016: 87 (V.18 ist „Abschluss des Prologs“ und „Überschrift für die nun beginnende Erzählung“). 352 So auch ZUMSTEIN 2016: 87. 353 Vgl. u.a. PHILO, spec. II 159 und JOSEPHUS, Bell. I 649; II 162; Ant. XVII 149 und 17,214.216.

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2. Kapitel: Die Rezeption der Sinaitradition in Joh 1,14–18

JohEv dann ja auch ständig geschieht); damit erklärt sich dann auch das Fehlen eines expliziten Objekts. Daher führt der Weg zum Leben durch Gotteserkenntnis nicht über die Gesetzesauslegung. Der Weg zum Leben ist nämlich identisch mit Jesus Christus, dem Träger des Namens Gottes. Seiner Selbstauslegung kommt dann aber entscheidende Bedeutung zu. Das Gesetz bzw. die Auslegung des Gesetzes ist damit jedoch nicht obsolet geworden, sondern hat fundamentale Bedeutung, da das Gesetz als Zeuge für Jesus begriffen wird. Folglich gelangt die „erste“ Gnade gleichsam an ihr Ziel und zu ihrer Vollendung in der „zweiten“ Gnade. Zugleich erhellt die „erste“ Gnade, worum es bei der „zweiten“ Gnade geht. 4.5 Zusammenfassung Im Prolog, der als Lektüreanweisung konzipiert ist, findet sich eine evidente Anspielung (bzw. eine nichtwörtliche, explizit markierte intertextuelle Einschreibung) auf die Sinaitradition, konkret auf die Gabe des Gesetzes durch Mose (V.17a). Daneben gibt es im Umfeld einige Auffälligkeiten, die sich im Zusammenhang mit diesem intertextuellen Bezug ebenfalls als motivische (vgl. das „Zelten“) und paraphrasierende (vgl. das Schauen der Herrlichkeit; das Nicht-Sehen Gottes) sowie wörtliche (vgl. die Rede von „voller Gnade und Wahrheit“) Anspielungen auf die Erzählung der Namensoffenbarung am Sinai zu erkennen geben. Dabei bringt der Evangelist bestimmte Elemente in einen Zusammenhang, wie er in ähnlicher Weise auch im Prätext besteht. Daraus lässt sich ableiten, dass er größere Zusammenhänge im Prätext wahrgenommen hat und die Kenntnis dieser bei den Lesenden voraussetzt. Die Textgrundlage ist nicht mit Sicherheit zu bestimmen, an einigen Stellen scheint aber ein Bezug zum hebräischen Text nahe zu liegen. Vermutlich macht er – so lässt sich aus seinen Ausführungen indirekt erschließen – in seiner Deutung des Sinaigeschehens von jüdischen Auslegungstraditionen Gebrauch. Die Anspielungen dienen vornehmlich dazu, die Identität Jesu Christi im Verhältnis zu Mose, der wichtigsten menschlichen Person in der erinnerten Geschichte Israels, und damit auch zum Gesetz, v.a. aber zum Gott Israels und seiner Offenbarung am Sinai zu beschreiben. Sie haben also eine christologische Funktion. So wird im Anschluss an das „Zelten“ Gottes bzw. seines Namens innerhalb des Volkes Israel die Inkarnationsaussage durch die Rede vom „Zelten“ des inkarnierten Wortes unter „uns“ erläutert, indem Jesus Christus in Analogie zum Wüstenheiligtum als temporärer „Ort“ der Offenbarung Gottes auf Erden dargestellt wird. Die durch das „Zelten“ des Wortes auf Erden, genauer: unter „uns“, ermöglichte Herrlichkeitsschau der Augenzeugen wird mit der Herrlichkeitsschau Moses verbunden, sodass Mose und die Augenzeugen in ein Entsprechungsverhältnis zu stehen kommen. Derselbe Name Gottes, der Mose kundgetan wurde, wurde auch in Jesus Christus offenbart: Gottes Wahrheit als Gnadenfülle, d.h als liebevolle Zuwendung im Übermaß ist im Messias Jesus,

4. Reintegration

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dem Einzigartigen, realisiert worden. Wie die Steintafeln mit der Tora permanentes Zeugnis der Offenbarung Gottes und des erneuerten Verhältnisses Israels zu Gott waren, so ist gemäß V.15 Johannes (der Täufer) permanenter Zeuge der Offenbarung Gottes in Jesus Christus, der anfänglich sein Nachfolger war. V.16 erläutert die Aussage in V.14, wonach Jesus Christus „voller Gnade und Wahrheit“, mithin der Träger des Namens Gottes ist. Er ist dies ausweislich der Tatsache, dass „wir alle“ empfangen haben, was einst nur Mose gewährt wurde (Gnade), und zwar im eschatologischen Übermaß (aus „seiner“ Fülle). Konkret besteht die Gnade, die unmittelbar aus „seiner“ Fülle der Gnade bzw. liebevollen Zuwendung Gottes als seiner Wahrheit fließt, in der Gotteskindschaft für alle, die an den Namen Jesu glauben. So zielt die Offenbarung des Namens Gottes in Jesus Christus auf die Bildung des neuen Gottesvolkes (in johanneischer Terminologie: Kinder Gottes) durch die Genese aus Gott. Diese Gnade überbietet und vollendet die Gnade, die nur Mose vor Gott fand, an der einst das Gottesvolk indirekt partizipierte (durch die Gabe des Gesetzes). Zuletzt benennt der Evangelist in V.18a einen (früh-)jüdischen Konsens bzgl. der Unmöglichkeit einer Gotteserkenntnis durch Gottesschau, um dann aufzuzeigen, dass Jesus Christus (aufgrund seiner „Qualitäten“) die Wahrheit Gottes bzw. sein Wesen von Gott her kundgetan hat. Die Konsequenz daraus ist klar: Nicht das Gesetz bzw. seine Auslegung führt zur ewiges Leben spendenden Gotteserkenntnis und -beziehung, sondern der, durch den die Gnade und die Wahrheit „geworden“ ist (indem er sie dargelegt hat), sofern die Lesenden an ihn glauben.

Kapitel 3

„Weder habt ihr jemals seine Stimme gehört, noch habt ihr seine Gestalt gesehen, und sein Wort habt ihr nicht bleibend in euch“: Die Rezeption der Sinaitradition in Joh 5,37f. 1. Desintegration 1. Desintegration

Im zweiten Hauptteil seiner Verteidigungsrede in Joh 5 nimmt der johanneische Jesus verschiedene Zeugen für sich in Anspruch. In Joh 5,36 führt er die Werke, die der Vater ihm gegeben hat, an. Diese Werke, die Jesus mehrfach „tut“ (ποιῶ [Präs.; iterativer bzw. durativer Aspekt]) „zeugen“ gegenwärtig (µαρτυρεῖ [Präs.; durativer Aspekt]) von ihm, dass der Vater ihn gesandt hat.1 Anschließend weist er auf das Zeugnis des Vaters hin (µεµαρτύρηκεν). Dieses ist (eben weil es Zeugnis des Vaters ist) von fundamentaler Relevanz, insofern es den von Jesus im ersten Teil seiner Rede erhobenen Anspruch „bezeugt“, d.h. wohl in irgendeiner Weise bestätigen bzw. beglaubigen soll2, dass Jesus der vom Vater gesandte Sohn ist: 37 a b c d 38 a b

καὶ ὁ πέµψας µε πατὴρ Und der Vater, der mich gesandt hat, ἐκεῖνος µεµαρτύρηκεν περὶ ἐµοῦ. jener hat über mich bezeugt. οὔτε φωνὴν αὐτοῦ πώποτε ἀκηκόατε Weder habt ihr jemals seine Stimme gehört, οὔτε εἶδος αὐτοῦ ἑωράκατε, noch habt ihr seine Gestalt gesehen, καὶ τὸν λόγον αὐτοῦ οὐκ ἔχετε ἐν ὑµῖν µένοντα, und sein Wort habt ihr nicht bleibend in euch, ὅτι ↓ denn dem,

1 Die gemeinten Werke sind nach WILK (2016: 81) „die am Sabbat, in der Nähe des Tempels und im Horizont eines Festes vollzogenen Heilungen“, die besonders dazu geeignet sind, „Jesu Verbindung mit dem Vater anzuzeigen (vgl. Joh 5,16 f.; 9,32 f.)“. 2 So auch BEUTLER 1972: 256.

1. Desintegration c

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ὃν ἀπέστειλεν ἐκεῖνος, den jener gesandt hat, ↑ τούτῳ ὑµεῖς οὐ πιστεύετε. diesem glaubt ihr nicht.

Jörg Frey betont mit Nachdruck, dass das Perfekt im JohEv generell „sehr wahrscheinlich nicht einfach zufällig und unbewußt gebraucht, sondern, wie die sachlich eindeutigen Tempuskontrastierungen erweisen, Resultat einer absichtsvollen Wahl der sprachlichen Ausdrucksmittel [ist]“3; gleichwohl muss Frey zufolge differenziert und präzisiert werden, „[i]nwiefern und für welche Perfekt-Belege eine solche Interpretation zutrifft“. Sie trifft nach Frey nicht zu für die „statischen Lexeme“ (wie z.B. φιλεῖν, ἐλπίζειν, ἀγαπᾶν, µισεῖν, ταράσσεσθαι, πιστεύειν) im Perfekt.4 Zu µεµαρτύρηκεν, das nach Freys Kategorisierung zu den „dynamisch-resultativen Lexemen“ gehört, sagt er: „Hier bezeichnet das Perfekt in der Regel den Akt bzw. Prozeß und den resultierenden Zustand zugleich, wobei der Akzent stärker auf der dynamischen oder der resultativ-statischen Komponente liegen kann.“5 Nimmt man das Perfekt µεµαρτύρηκεν6 ernst, was grundsätzlich und gerade im JohEv angebracht ist,7 muss man fragen, wann bzw. wo der Vater in der Vergangenheit ein Zeugnis über Jesus als seinen gesandten Sohn abgelegt hat, das in der Gegenwart der Erzählung noch Gültigkeit besitzt. Einige Ausleger8 setzen das Zeugnis des Vaters mit den Werken Jesu gleich, sodass letztlich „der Vater mittels der von ihm seinem Sohn anvertrauten 3

FREY 1998: 102. Vgl. FREY 1998: 103–107. 5 FREY 1998: 112. 6 Das Perfekt von µαρτυρεῖν wird noch mit dem Täufer als Subjekt in Joh 1,34; 3,26; 5,33 und mit dem Evangelisten als Subjekt in 19,35 verwendet. Immer ist ein vergangenes Geschehen mit gegenwärtigen Auswirkungen im Blick. 7 Anders jedoch VON WAHLDE (1981: 38ff.), der der Wahl des Perfekts µεµαρτύρηκεν keine große Bedeutung zumessen möchte. Seine Argumente sind folgende: 1. µεµαρτύρηκεν sei lediglich Angleichung an δέδωκέν in V.36. 2. In V.33 wird auch das Perfekt µεµαρτύρηκεν benutzt, obwohl man es dort nicht erwarten würde. 3. Im JohEv gibt es Stellen, wo sowohl das Perfekt als auch das Präsens in ähnlichen Ausdrücken und scheinbar austauschbar vorkommt (vgl. Joh 5,19.30 mit 3,32; 6,37 mit 10,25). Zu 1. und 2. Diese beiden Einwände stellen m.E. keine stichhaltigen Argumente für eine Bedeutungslosigkeit des Perfekts µεµαρτύρηκεν dar, denn damit wäre lediglich die Erklärungsbedürftigkeit der entsprechenden Verben festgestellt. Zu 3. vgl. FREY 1998: passim. 8 Wie z.B. WELCK 1994: 92f.99 im Anschluss an SCHNACKENBURG 1971: 174 (wobei er selbst auf der folgenden Seite für eine Ausweitung des Perfekts plädiert: „So wird man das Zeugnis Gottes, das durch µεµαρτύρηκεν als schon erfolgtes und gültig bleibendes gekennzeichnet ist, nicht auf die Werke beschränken, sondern in einem umfassenden Sinn auf all das beziehen, worin es nach joh. Anschauung konkret hörbar wird: auf die Werke Jesu, auf seine Worte (vgl. V 24) und auf die heiligen Schriften, die Gottes Wort enthalten“); ASIEDUPEPRAH 2001: 106; THEOBALD 2009: 412; ZUMSTEIN 2016: 235. 4

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3. Kapitel: Die Rezeption der Sinaitradition in Joh 5,37f.

‚Werke‘ auch selbst für ihn verbürgt“9. Dafür werden folgende Argumente ins Feld geführt:10 Das einleitende καί kann auch epexegetisch interpretiert werden; der Sendungsgedanke aus V.36 wird wiederholt; µεµαρτύρηκεν ist ebenso wie δέδωκέν in V.36c ein Perfekt. Dem könnte noch hinzugefügt werden, dass sowohl in Joh 5,32 als auch in Joh 8,18 von einem gegenwärtigen Bezeugen durch den Vater die Rede ist. Allerdings ist keines dieser Argumente wirklich überzeugend. Dass das καί epexetisch ausgelegt werden kann, ist richtig. Aber ob diese Option hier die beste ist, ist fraglich und hängt von der Deutung von V.37f. ab. Die bloße Wiederholung des Sendungsgedankens aus V.36 in V.37 spricht noch nicht zwingend für die Identifizierung des in V.37 intendierten Vaterzeugnisses mit dem Zeugnis der Werke, ebensowenig wie die Tatsache, dass sowohl in V.36c als auch in V.37a ein Perfekt erscheint. Denn das Vaterzeugnis besteht auch nach Meinung der Befürworter dieser Auslegung in den ausgeführten bzw. noch während Jesu irdischer Wirksamkeit auszuführenden Werken. Nach V.36 ist eindeutig, dass die Werke, die Jesus fortwährend tut, seine Sendung vom Vater ebenso fortwährend bezeugen. Folgendes lässt sich zum präsentischen Bezeugen durch den Vater in Joh 5,32 und 8,18 sagen: In Joh 5,32 ist zunächst nicht klar, wer der „andere“ ist, der Zeugnis für Jesus ablegt. Ist der Vater gemeint, ließe sich dieses präsentische Bezeugen (in V.32) mit dem gegenwärtigen Zeugnis der Werke verbinden. Doch damit wäre ein vergangenes Bezeugen mit gegenwärtiger Gültigkeit in V.37a nicht ausgeschlossen. Joh 8,18 und der Kontext dieser Stelle lassen nicht leicht einen eindeutigen Rückschluss darauf zu, worauf genau sich das präsentische Bezeugen des Vaters bezieht. Am ehesten ist an die Werke Jesu zu denken (vgl. 10,25; besonders 8,12 mit 9,5). Auf jeden Fall steht auch Joh 8,18 einem Zeugnis des Vaters in der Vergangenheit, welches aktuelle Gültigkeit besitzt, nicht grundsätzlich entgegen. Und ferner: Meint der Evangelist mit dem Vaterzeugnis in V.37a das Zeugnis durch die Werke, dann ist schwer zu erklären, weshalb in V.37a nicht auch das Präsens µαρτυρεῖ erscheint. Aber der johanneische Jesus meint ausweislich des Perfekts µεµαρτύρηκεν mit dem Vaterzeugnis ein vergangenes Bezeugen mit Auswirkungen bzw. Gültigkeit für die Gegenwart. Denn er hat das Perfekt µεµαρτύρηκεν zuvor (V.33) schon eindeutig mit Bezug auf das vergangene und für die Gegenwart gültige Zeugnis des Täufers gebraucht. Außerdem erklärt eine Deutung des Vaterzeugnisses auf die bereits gewirkten Werke (2,1ff; 2,23; 4,46–54; 5,1–16)11 nicht befriedigend, weshalb im Nachstehenden von der Stimme und Gestalt des Vaters die Rede ist, die „die Juden“ niemals gehört bzw. nicht gesehen haben. 9

THEOBALD 2009: 412. Vgl. THEOBALD 2009: 412; SCHNACKENBURG 1971: 174. 11 So WELCK 1994: 99. Fraglich ist daran auch die völlige Identifizierung der Zeichen mit den Werken Jesu (s. Fußnote 1 in diesem Kapitel). 10

1. Desintegration

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Eine etwas andere Position als die soeben diskutierte vertritt Urban von Wahlde. Er argumentiert dafür, dass „the witness of the Father mentioned in 5:37–38 is precisely the word of the Father which he has given to Jesus and which Jesus gives to the world“12. Seiner Meinung nach stehen „seeing and hearing in the FG […] in a contrast between Jesus and the Jews”; dieser Kontrast „is at the basis of the meaning of 5:37–38”13. Demgemäß schließt Jesus in Joh 5,37c–d den direkten Zugang zum Vater („contact with God face to face“14) für „die Juden“ aus15, zugleich beansprucht er aber genau das für sich selbst. Da Jesus „had direct experience of God and since he speaks what he heard and saw, the Jews do have the opportunity to be in contact with the word of God through Jesus”16. Allerdings akzeptieren sie Jesus nicht und damit haben sie das Wort Gottes nicht in sich, so von Wahlde. Von Wahlde macht einige weiterführende Beobachtungen, z.B. zur paradigmatischen Bedeutung der Zeugen in Joh 5,31–40 hinsichtlich der Glaubenszugänge im JohEv17 und zum Kontrast zwischen Jesu Anspruch und dem Anspruch „der Juden“ hinsichtlich des Hörens und Sehens Gottes im Joh-Ev. Allerdings erheben sich gegen seine Auslegung einige Einwände: Vor allem ist kritisch anzumerken, dass er das Perfekt µεµαρτύρηκεν zu schnell übergeht, als wäre hier „the tense […] not of significance“18. Es ist fernerhin nicht zwingend, dass Jesus und „die Juden“ einschließlich ihres Anspruchs in genau der Weise kontrastiert werden, wie von Wahlde vorschlägt.19 Ist also näherliegend, dass sowohl mittels des emphatischen ἐκεῖνος als auch des Perfekts µεµαρτύρηκεν in Kombination mit dem Subjektwechsel ein gewisser Neueinsatz markiert wird,20 bleibt die Frage nach dem Bezug des Vaterzeugnisses im Raum stehen. Von dem Zeugnis der Schriften (Joh 5,39; vgl. auch V.45ff.) ist jenes Zeugnis ebenfalls zu differenzieren (wenn auch nicht zu

12

VON WAHLDE 1981: 390. VON WAHLDE 1981: 391. 14 VON WAHLDE 1981: 393. 15 Vgl. VON WAHLDE 1981: 390, Anm. 19: „[T]hese words could refer to that historical event [sc. Sinai]. In that case, John is denying that that was really a case of ‚hearing and seeing‘.“ 16 VON WAHLDE 1981: 393f. 17 Vgl. VON WAHLDE 1981: 394–404. 18 VON WAHLDE 1981: 388. 19 Ein zeitgenössischer jüdischer Anspruch im 1. Jahrhundert n. Chr. auf direkten und unmittelbaren Zugang zu Gott, wie er in Joh 5,37c–d gemäß VON WAHLDES Auslegung impliziert sein soll (vgl. 1981: 394), ist unwahrscheinlich (s. meine exemplarische Analyse [früh-]jüdischer Texte im Zusammenhang mit der Rezeption der Sinaitradition in Joh 1,14– 18). VON WAHLDE jedenfalls bringt keine Belege für eine zeitgenössische jüdische Behauptung eines direkten und unmittelbaren Zugangs zu Gott durch Sehen und Hören bei. 20 Vgl. THYEN 2005: 323. 13

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3. Kapitel: Die Rezeption der Sinaitradition in Joh 5,37f.

trennen), da die Schriften später explizit erwähnt werden und in Joh 5,39 das Präsens µαρτυροῦσαι verwendet wird.21 1Joh 5,9ff. führt hier nicht weiter.22 Zwar begegnet auch an dieser Stelle ἡ µαρτυρία (τοῦ θεοῦ; V.9), µείζων (V.9) und das Perfekt µεµαρτύρηκεν (V.9 und V.10). Doch ebenso wie in Joh 5,37a ist zunächst unklar, worauf genau „das Zeugnis Gottes“ (das nicht einfach gleichzusetzen ist mit dem dreifachen Zeugnis aus V.6–8)23 referiert, zumal V.9cd tautologisch wirkt. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich aber: Es geht bei dem Zeugnis Gottes darum, dass Jesus der Christus (vgl. 1Joh 5,1), der Sohn Gottes (1Joh 5,9) ist.24 Allein, woher sollen die Adressaten das wissen? Nach 1Joh 5,10f. offenbar aufgrund dessen, dass Gott ewiges Leben gibt, dies durch seinen Sohn geschieht und die Adressaten selbst das ewige Leben durch den Sohn haben. Ihr (hier nicht zur Diskussion stehendes)25 „Empfangenhaben“ und gegenwärtiges „Besitzen“ des ewigen Lebens (von Gott durch den Glauben an Jesus Christus) spricht dafür, dass Jesus der Sohn Gottes ist. Vorausgesetzt scheint dabei, dass Gott niemals ewiges Leben durch Jesus Christus schenken würde, wenn Jesus nicht sein Sohn wäre. Wie ist dann das Perfekt µεµαρτύρηκεν in 1Joh 5,9.10 zu verstehen? Vielleicht folgendermaßen: Einerseits hat Gott in der Vergangenheit bezeugt, nämlich durch den Empfang des ewigen Lebens durch (den Glauben an) Jesus Christus (in der Vergangenheit; vgl. V.11: ἔδωκεν); dies ist jedoch untrennbar verbunden mit dem vergangenen Jesusgeschehen (vgl. 1Joh 1,1–4 und Joh 20,30f.). Da die Möglichkeit des Nichtglaubens des Zeugnisses besteht (vgl. 1Joh 5,10b–d), kann es nicht rein innerlich sein, sondern muss auch „objektiven“ Charakter haben.26 Andererseits ist dieses Zeugnis (d.h. das ewige Leben von Gott durch den Sohn als Zeugnis für Jesu Identität) gegenwärtig vorhanden, nämlich in den Glaubenden (vgl. V.10: ὁ πιστεύων εἰς τὸν υἱὸν τοῦ θεοῦ ἔχει τὴν µαρτυρίαν ἐν ἑαυτῷ; vgl. auch V.12), und insofern bezeugt es den Sohn immer noch. Gerade das passt jedoch unvermittelt nur schwer zu Joh 5,37, wo der Kontext ein völlig anderer ist (Auseinandersetzung mit der die Todesstrafe implizierenden Anklage „der Juden“; Beiziehen von Zeugen, die auch für „die Juden“ gültig sind). Ich schließe daraus, dass es sich in Joh 5,37 um ein etwas anders gelagertes vergangenes Bezeugen (mit Auswirkungen für die Gegenwart) des Vaters über seinen Sohn handeln muss.27 21

Vgl. PANCARO 1975: 227; THYEN 2005: 323. Gegen BROWN 1966: 227f.; BARRETT 1990: 281 u.a. 23 Vgl. KLAUCK 1991: 313. Allerdings ist es auch nicht von jenem dreifachen Zeugnis abzutrennen. 24 Vgl. KLAUCK 1991: 313, der zum „Zeugnis Gottes“ kommentiert: „Am ehesten kann man dafür das gesamte Christusgeschehen anführen.“ 25 Unter anderem dafür wurde schon in 1Joh (vgl. besonders 2,17b.25; 3,14; 4,7) argumentiert. 26 Ähnlich KLAUCK 1991: 314. 27 So auch PANCARO 1975: 218. 22

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Pancaro erwähnt kurz u.a. die (von Chrysostomus, Hilarius und Thomas von Aquin vertretene) Möglichkeit, dass mit dem Vaterzeugnis in Joh 5,37a–b auf das Bezug genommen werden könnte, was nach den synoptischen Evangelien nach Jesu Taufe geschah.28 Pancaro selbst lehnt diese Deutung jedoch mit der Begründung ab, dass im johanneischen Taufbericht keine Rede ist von einer Stimme vom Himmel; die sichtbare Manifestation (des Geistes) sei dort „for the Baptist alone“29. Diese Begründung ist jedoch nicht zwingend. Gewiss ist gemäß V.34 die sichtbare Herabkunft und das Bleiben des Geistes auf Jesus – was aber gar nicht erzählerisch dargestellt wird – die Basis für das Zeugnis von Johannes (dem Täufer): „Ich habe gesehen“, d.h. ausweislich der Verwendung des Perfekts ἑώρακα „ich weiß aus eigener Anschauung und habe bleibend gültig bezeugt (µεµαρτύρηκα), dass dieser (Jesus) der Sohn Gottes ist.“ Doch kann man daraus noch nicht schließen, dass die sichtbare Manifestation des Geistes nach dem Joh-Ev eine Funktion ausschließlich mit Blick auf das Zeugnis des Johannes hat. Dass in Joh 1,19ff. explizit keine Gottesstimme vom Himmel erwähnt wird, trifft zwar zu. Allerdings setzt die Passage über das Zeugnis Johannes des Täufers (Joh 1,19ff.) eindeutig auf Seiten des Evangelisten, aber wahrscheinlich auch der johanneischen Lesenden „[e]ine Kenntnis der synoptischen Tauftradition“30 voraus (vgl. Mk 1,10f.; Mt 3,16f.; Lk 3,21f. ). Gemäß der Überlieferung dieser Tauftradition in Mk und Mt sieht Jesus, wie der Geist aus dem geöffneten Himmel wie eine Taube auf (oder in [so Mk 1,10]) ihn herabkommt. Bei Lukas steht die Herabkunft des Geistes noch stärker im Vordergrund, weshalb nicht explizit erwähnt wird, dass Jesus (oder jemand anderes) etwas sieht; der Geist ist hier Subjekt und nicht Objekt. Doch Lukas macht unmissverständlich klar, klarer sogar als dies in Mk und Mt ist, dass die Herabkunft des Geistes eine sichtbare Manifestation war. Denn er schreibt, dass der heilige Geist, also der Geist Gottes, herabkam in leiblicher Gestalt (σωµατικῷ εἴδει) wie eine Taube. Ferner ergeht nach dem einhelligen Bericht der Synoptiker die Stimme Gottes vom Himmel, die zu Jesus (so Mk und Lk) sagt, dass „du mein Sohn“ bist oder (so Mt) „dieser (Jesus) mein Sohn ist“. Zumindest aus Mk und Lk geht klar hervor, dass Jesus der Adressat der Stimme ist, er mithin die Stimme Gottes und diesen Ausspruch oder dieses Wort Gottes gehört hat. Im JohEv gibt es Passagen, die darauf hindeuten, dass nicht nur der Täufer, sondern auch Jesus die Herabkunft des Geistes auf ihn selbst gesehen und die Stimme Gottes, des Vaters, gehört hat, als sie ihn als Sohn Gottes bestätigte. So sagt Jesus, sich mit Johannes dem Täufer zusammenschließend,31 zu Nikodemus (Joh 3,11): „Wir reden, was wir wissen, und bezeugen, was wir 28

Vgl. PANCARO 1975: 216. PANCARO 1975: 217. 30 FREY 2003: 95. 31 Vgl. Joh 3,11 mit Joh 1,32ff. (s. auch 1,7.8.15.19). 29

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gesehen haben (ὃ ἑωράκαµεν µαρτυροῦµεν), und unser Zeugnis nehmt ihr nicht an (τὴν µαρτυρίαν ἡµῶν).“ Der Kontext legt nahe (vgl. 3,13–21), dass das, was Jesus und Johannes wissen und reden sowie was sie gesehen haben und bezeugen, irgendwie Jesu Identität bestätigt, der der von Gott gesandte Sohn Gottes ist. Denn dies ist genau das, was die jüdischen Führer (vgl. das „ihr [nehmt unser Zeugnis nicht an]“ in Joh 3,11 mit Joh 3,1) nicht annehmen bzw. glauben wollen. Dann kann aber nur die sichtbare und hörbare Bestätigung der Gottessohnschaft Jesu durch Gott selbst gemeint sein, von der Jesus redet und die auch er gesehen hat und gemeinsam mit Johannes dem Täufer selbst bezeugt (vgl. Joh 3,32; 8,38.40). In diese Richtung weist auch der in Joh 3,32f. hergestellte Konnex zwischen der Annahme des Zeugnisses Jesu von dem, was er gesehen und gehört hat (Joh 3,32), und der (damit einhergehenden) „Besiegelung“, dass Gott (und nicht Jesus, wie man erwarten könnte) wahrhaftig ist (Joh 3,33). Es ist also m.E. durchaus nicht abwegig, dass gemäß Joh 5,37a–b der Vater nach der Taufe Jesu durch die für Jesus sichtbare Herabkunft des Geistes in leiblicher Gestalt (σωµατικῷ εἴδει) wie eine Taube und durch die für Jesus hörbare Stimme Gottes und durch das Wort „du bist mein Sohn“ bleibend gültig bezeugt hat, dass Jesus sein Sohn ist, den er gesandt hat. Dieses Zeugnis des Vaters ist für „die Juden“ nicht direkt zugänglich, sondern nur indirekt im Zeugnis von Johannes dem Täufer und dann v.a. im Zeugnis Jesu. Dann stellt sich die Frage, wie ein solcher Bezug zum Vaterzeugnis nach der Taufe Jesu zu dem passt, was Jesus im Anschluss daran sagt. V.37c–d schließt asyndetisch an die Aussage in V.37b an. Nun richtet sich Jesus direkt an seine Zuhörer (angezeigt durch den Subjektwechsel). Durch die dreifache Negation οὔτε … οὔτε (καὶ) … οὐκ wird Joh 5,37c–38a in den Aufmerksamkeitsfokus der Leserinnen und Leser gerückt. Ebenso wie zuvor µεµαρτύρηκεν stehen die beiden Verben der sinnlichen Wahrnehmung ἀκηκόατε und ἑωράκατε im Perfekt. Dadurch deutet sich an, dass das vergangene, aktuell gültige Bezeugen des Vaters etwas mit den umfassend verneinten Wahrnehmungsakten zu tun haben könnte. Dafür spricht, dass die jeweiligen Objekte der Wahrnehmung (φωνή, εἶδος) determiniert sind durch das anaphorische Possessivpronomen αὐτοῦ, wodurch ein Rückverweis auf „den Vater“ hergestellt wird. In der dritten Negation (V.38a) wird durch „sein Wort“, also das Wort des Vaters, in semantischer Hinsicht an den zuvor erwähnten (negativen) Vorgang des Hörens seiner „Stimme“ angeknüpft. Das Verb des Satzes steht jedoch nicht im Perfekt, sondern im Präsens (ἔχετε). Demgemäß ist das Wort des Vaters also zumindest potenziell gegenwärtig zugänglich, sodass man es „in sich

1. Desintegration

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haben“ kann.32 Dies würde gut zum resultativen Aspekt von µεµαρτύρηκεν passen. Mittels der Determination der Akkusativobjekte φωνήν, εἶδος und λόγον entsteht der Eindruck, dass etwas Bekanntes im Blick ist. Allein, wo und wann hätten „die Juden“ die Stimme des Vaters hören und seine Gestalt sehen können? Innerhalb der Erzählung des JohEv (zumindest bis Joh 5,37f.) war davon jedenfalls noch nicht die Rede.33 Stattdessen stand die Stimme des Gottessohnes im Fokus (vgl. V.25.28). Das JohEv und der 1Joh (1Joh 4,12.20) beharren außerdem darauf, dass „niemand Gott jemals gesehen hat“ (Θεὸν οὐδεὶς ἑώρακεν πώποτε; Joh 1,18a; vgl. 6,46). Heißt das dann, dass sich nach johanneischem Verständnis vor der Offenbarung in Jesus keine Offenbarung Gottes jemals ereignet hat, Joh 5,37f. mithin eine allgemein gültige Feststellung ist, die sich möglicherweise prinzipiell gegen jegliche Behauptungen eines Sehens Gottes und Hörens seiner Stimme „außerhalb“ der Offenbarung in/durch Jesus richtet?34 Es scheint ratsam, andere johanneische Texte in Augenschein zu nehmen, wo es um eine Erkenntnis Gottes durch Sehen bzw. Hören geht. Von Jesus heißt es, dass er, im Gegensatz zu allen anderen Menschen, den Vater gesehen hat (Joh 6,46; vgl. auch Joh 3,11.32). Andererseits sagt Jesus selbst in Joh 14,7 über seine Jünger: „Wenn ihr mich erkannt habt, werdet ihr auch meinen Vater erkennen; und von jetzt an erkennt ihr ihn und habt ihn gesehen“ (εἰ ἐγνώκατέ 32 Es scheint mir keineswegs näherliegend, wie THEOBALD meint, „‚sein Wort‘ ‚auf Jesus als den Offenbarer‘ zu beziehen“ (2009: 414). Außer im Prolog wird Jesus im JohEv nirgends als „(das) Wort“ bezeichnet. Zwar begegnet sowohl im JohEv als auch im 1Joh ähnliche Phraseologie, wenn es um Jesu Worte (vgl. Joh 15,7; 1Joh 2,14.24) oder um „die Salbung“, „den Samen“, „die Liebe Gottes“, „die Wahrheit (1Joh 2,27; 3,9.17; 2Joh 2) geht. Aber weder im JohEv noch in den Johannesbriefen begegnet die Vorstellung, dass Jesus als das Wort in jemandem ist. Innerhalb der Erzählung wäre es auch schwer vorstellbar, wie Jesus als Wort „bleibend“ in „den Juden“ sein soll. 33 Ein Beleg für das Erschallen der Stimme Gottes (die im Übrigen nicht identisch ist mit der Stimme Jesu) in der Erzählung des JohEv ist Joh 12,28ff. Dort wird deutlich, dass diejenigen (die Volksmenge), um derentwillen die Stimme aus dem Himmel erging (12,30), diese Stimme als Donner oder als Engelsstimme missdeuten, anstatt sie als Gottes Stimme zu hören, womit zusammenhängt, dass ihnen das, was die Stimme spricht (diese Rede oder dieses „Wort“ ist nicht identisch mit Jesu Rede oder seinem „Wort“), verborgen bleibt. So wird in gewisser Weise Joh 5,37c bestätigt. Für die Ansicht ASIEDU-PEPRAHS, dass „for the reader, Jesus is indeed the φωνή and the εἶδος of God in human history“ (2001: 107), finden sich keine stichhaltigen Belege im johanneischen Text. 34 So z.B. VON WAHLDE 1981: 390ff. Diese Vermutung ist schon allein aufgrund der Tatsache, dass das AT im JohEv als Schrift auf vielfache Weise rezipiert wird, als haltlos zu bezeichnen. Ohne hier (vgl. aber den entsprechenden Teil der vorliegenden Arbeit) näher auf die diesbezüglich wichtige Stelle Joh 10,34f. eingehen zu können, spricht diese Passage eine deutliche Sprache: Das Wort Gottes erging demgemäß schon früher an jemanden (wahrscheinlich an Israel am Sinai). Grundlage dieses Textes für die Argumentation mithilfe der Schrift ist, dass sie nicht „aufgelöst“ werden kann (Joh 10,35).

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µε, καὶ τὸν πατέρα µου γνώσεσθε. καὶ ἀπ᾽ ἄρτι γινώσκετε αὐτὸν καὶ ἑωράκατε αὐτόν). Oder auch in 14,9: „Jesus spricht zu ihm: So lange Zeit bin ich bei euch, und du hast mich nicht erkannt, Philippus? Wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen (ὁ ἑωρακὼς ἐµὲ ἑώρακεν τὸν πατέρα). Und wie sagst du: Zeige uns den Vater?“ Daraus folgert Marianne Meye Thompson zu Recht: „[I]t is clear that the disciples of Jesus do not see God as he does, for whereas the Son sees the Father directly, others see the Father in and through the Son“35. Gemäß dem JohEv hat Jesus gehört und hört immerzu vom Vater (Joh 3,32; 5,30; 8,26.40; 15,15). Gerade darum hört derjenige, der Jesu Wort hört, das Wort des Vaters, der Jesus gesandt hat (Joh 14,24). Aber bestätigt dies nicht, dass alle Offenbarung (Sehen und Hören Gottes) nur durch Jesus geschieht? Hier muss man die wichtige Unterscheidung zwischen Hören und Sehen Gottes im JohEv wahrnehmen. Menschen ist ein direktes, unmittelbares Sehen Gottes generell nicht erlaubt; damit bewegt sich der Evangelist im (früh-)jüdischen Traditionsstrom (s. zu Joh 1,14–18). Das unmittelbare Sehen ist allein dem Sohn vorbehalten.36 Indirektes Sehen Gottes ist jedoch nach johanneischer Auffassung durchaus möglich (vgl. nur Joh 14,7.9). Etwas anders verhält es sich mit dem Hören; hierzu fehlt etwas Vergleichbares wie das in Joh 1,18a oder 6,46 Gesagte, was zu der Annahme führt, dass das Hören der Stimme Gottes nicht notwendigerweise die gleiche Unmittelbarkeit impliziert wie das Sehen Gottes. Schon zum Täufer hat Gott bezüglich des Kommenden gesprochen (Joh 1,33) – von einer irgendwie gearteten Vermittlung wird nichts gesagt.37 Besonders deutlich tritt die johanneische Unterscheidung zwischen Hören und Sehen dann in Joh 6,45f. zu Tage. Da diese Passage in der vorliegenden Untersuchung ausführlich analysiert wird (s.u.), reicht der folgende Hinweis. Den Vater unmittelbar zu hören und von ihm zu lernen, geschieht nach der Auffassung des johanneischen Jesus in der Endzeit, konkret im Verein mit, jedoch auch in Unterscheidung von Jesu Tätigkeit als Offenbarer, da niemand Gott, den Vater, jemals unmittelbar gesehen hat, außer dem, der von Gott her ist, dieser hat ihn gesehen.38 „These verses allow that while others have heard the Father, only the one from God, the Son, has actually seen him.“39 Thompsons Fazit lautet denn zu Recht, dass Johannes’ Behauptung 35

THOMPSON 2001: 104 (kursiv von mir). In 1Joh 3,1–2 wird die zukünftige Schau Gottes (zum Referenten von αὐτόν vgl. THOMPON 2001: 116f.) jedoch in Aussicht gestellt. 37 Auf die beim Anbruch der Stunde Jesu ergehende Stimme Gottes, die offensichtlich von der Stimme Jesu differenziert wird, (vgl. Joh 12,28) wurde schon hingewiesen (s. Fußnote 33 in diesem Kapitel). 38 Zur typischen Vorzeitigkeit des Partizips Aorist vgl. VON SIEBENTHAL 2011: §206f und §228. Meines Erachtens ist es aufgrund der Konstruktion der beiden Aoriste mit anschließendem Präsens eher unwahrscheinlich, dass Gottes Lehre und Jesu Wort hier in eins fallen (vgl. auch THOMPSON 2001: 108), wenngleich sie miteinander verknüpft werden. 39 THOMPSON 2001: 110. 36

1. Desintegration

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bezüglich des „Sehens“ und „Hörens“ Gottes sich auf die Offenbarung und Kenntnis Gottes in Jesus konzentrieren. „Yet even that formulation must be qualified, for elsewhere the Gospel assumes that God has been present and revealed to Israel by various means – through Scripture, the workings of miraculous deeds in the wilderness, and particular prophets and persons“40. Es ist folglich unklar, ob die negierte Aussage in Joh 5,37 vom Nicht-Sehen der Gestalt des Vaters eine Art „common ground“ zwischen dem johanneischen Jesus und seinen Gegnern darstellt (ähnlich wie in Joh 1,18a) oder nicht (wenn es sich auf ein konkretes vergangenes Ereignis bezieht, für das sie ein wie auch immer geartetes indirektes Sehen des Vaters beansprucht hätten). Entsprechend der von Thompson vorgenommenen und dem JohEv angemessenen Qualifizierung in dem voranstehenden Zitat („Yet even that formulation must be qualified…“) scheint auch in Joh 5 durch die Formulierung εἶδος αὐτοῦ eine wichtige Unterscheidung angezeigt zu sein. Dementsprechend stellt ein Sehen der Gestalt Gottes gar keinen Widerspruch zu der Feststellung dar, dass (außer dem Sohn) niemals jemand Gott bzw. den Vater gesehehen habe, weil jenes indirekte „Sehen“ von dieser direkten und exklusiv dem Sohn vorbehaltenen Gottesschau unterschieden ist.41 Hätten die Gesprächsgegner Jesu seiner Feststellung in diesem Sinne aber immer noch zugestimmt? Impliziert der Text also einen „common ground“ mit „den Juden“ oder eine Leugnung einer (impliziten) Behauptung „der Juden“? Zumindest bei der letzten Negation V.38a kann man wohl davon ausgehen, dass sie keine triviale, sondern eine polemische Aussage ist, weil es für „die Juden“ sicherlich essenziell war, das Wort Gottes „in sich“ zu haben (was auch immer dies im Einzelnen heißt). Dies gilt aufgrund der semantischen Verknüpfung zum Wort wohl auch für das Hören der Stimme des Vaters. Denn dass „die Juden“ niemals die Stimme Gottes gehört haben sollen, ist „für jüdische Ohren ein Affront – lebt doch aller Glaube und alle Frömmigkeit Israels davon, dass Gott zu Mose ‚wie mit einem Freunde‘ geredet hat (Ex 33,11) und dass er in der Tora sein Volk sein Wort verbindlich und verlässlich hören lässt: ‚Höre, Israel‘ (Dtn 6,5) ist das Grundbekenntnis Israels!“42

Es ist zwar an dieser Stelle nicht möglich, völlig auszuschließen, dass V.37d tatsächlich eine Aussage ist, der auch die Gegner Jesu nicht widersprochen hätten. Doch scheint es mir aufgrund des oben Gesagten zur kontextuellen Einbindung dieses Satzes eher so, dass auch er in polemischer Absicht fungiert. Darüber hinaus lässt sich gegen die Auffassung, es gehe in V.37d um eine bloße Feststellung, der ὅτι-Satz in V.38b–c anführen.43 Dort wird offensichtlich 40

THOMPSON 2001: 105. So auch PANCARO 1975: 219. 42 WILCKENS 1998: 123. 43 Dieser (neben anderen kontextuellen Argumenten) spricht auch gegen die Interpretation von THYEN (vgl. 2005: 326; ähnlich auch HANSON 1991: 73.80), der meint, dass es die 41

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3. Kapitel: Die Rezeption der Sinaitradition in Joh 5,37f.

etwas in negativ-polemischer Absicht formuliert, was in irgendeiner Weise als Basis für den negativen Sachverhalt oder, kontextuell eher zutreffend, als Basis im Sinne eines Erkenntnisgrunds für das vorher Gesagte dient.44 Der Logik der Argumentation folgend, müsste in dem (positiven und eigentlich zu erwartenden) Falle, dass jemand „demjenigen glaubt, den jener (sc. der Vater) gesandt hat“, auch die negativen Sätze zuvor positiv lauten, sodass von diesen Personen gelten würde, dass sie die Stimme Gottes, des Vaters Jesu, gehört, seine Gestalt gesehen und sein Wort bleibend in sich haben.45 Auf welches Ereignis bzw. welche Ereignisse wird hier referiert? Etwa auf jenes Geschehen nach Jesu Taufe, bei der der Vater Zeugnis über Jesus abgelegt hat? Das halte ich für sehr unwahrscheinlich. Warum sollte Jesus dies leugnen? Haben „die Juden“ etwa dies beansprucht? Die polemischen Aussagen in Joh 5,37c–38a sind für einen Bezug zum Zeugnis des Vaters nach der Taufe Jesu zu umfassend formuliert, zumal die Perfektformen wären damit nicht ausreichend erklärt. Es liegt m.E. näher, zu unterscheiden zwischen dem Ereignis nach der Taufe Jesu, als der Vater Jesus als seinen gesandten Sohn bestätigt hat, und dem Ereignis bzw. den Ereignissen, auf die Jesus sich in polemischer Absicht bezieht. Ist „sein Wort“ (τὸν λόγον αὐτοῦ) in Joh 5,38a möglicherweise auch und v.a. zu identifizieren mit dem am Sinai ergangenen Wort Gottes, der Tora, welches in der Gegenwart für alle Beteiligten Gültigkeit besitzt (vgl. Joh 10,35 und meine Überlegungen dazu in der vorliegenden Arbeit)?46 Die Annahme einer Anspielung auf biblisch bezeugte Gotteserscheinungen generell, aber auch und v.a. auf die Gotteserscheinung am Sinai wird verstärkt durch die direkt im Anschluss erfolgende Erwähnung der mosaischen Schriften (V.39) sowie den Rekurs auf Mose (in V.45ff.), der in seinen Schriften von Jesus geschrieben hat. Nimmt man für das Vaterzeugnis einen Bezug auf das an, was direkt nach der Taufe Jesu geschah – die Herabkunft des Geistes Gottes in leiblicher Herrlichkeit, Erscheinung und Stimme „Jesu waren, die Mose einst am brennenden Dornbusch hörte und die er und die Israeliten am Sinai dann ‚gesehen‘ und ‚gehört haben‘“. Wenn man THYEN folgte, dann würde Jesus in Joh 5,37f. in etwa sagen: „Der Vater, der mich gesandt hat, jener hat über mich bezeugt. Ihr habt weder jemals seine Stimme gehört, noch habt ihr jemals seine Erscheinung gesehen noch habt ihr sein Wort bleibend in euch, stattdessen habt ihr meine Stimme gehört und meine Erscheinung am Sinai gesehen und [das Folgende wäre zwangsläufig auch anzunehmen] ihr habt mein Wort bleibend in euch, weil ihr dem nicht glaubt, den jener gesandt hat.“ Sofern diese Paraphrase THYENS Auffassung korrekt wiedergibt, ist der Sinn des Satzes schwer nachzuvollziehen, ebenso wie sein Platz im Argumentationsverlauf. 44 Vgl. BEUTLER 1972: 262. 45 Ähnlich PANCARO 1975: 230. 46 So auch PANCARO 1975: 225. Nach ZUMSTEIN (2016: 235) „[h]andelt es sich jedoch um das Wort des joh Jesus, das nicht angenommen werde und auf Dauer keine persönliche Aneignung erfahre“. Dagegen spricht jedoch die Rede von „seinem Wort“ (ὁ λόγος αὐτοῦ), das gerade eine Unterscheidung zu Jesu Wort (5,24) signalisiert.

2. Digression

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Gestalt wie eine Taube, die vom Himmel ergehende Stimme Gottes, des Vaters Jesu, und das Wort von der Sohnschaft Jesu –, und geht man vorsichtig von einer Anspielung auch und v.a. auf die Gotteserscheinung am Sinai aus, stellt sich die Frage: Wie ist der Zusammenhang zwischen Vaterzeugnis nach der Taufe Jesu (Joh 5,37a–b) und den Gotteserscheinungen und insbesondere der Gotteserscheinung am Sinai, an denen „die Juden“ nicht partizipiert haben sollen (Joh 5,37c–38), zu begreifen? Wie kommt Jesus vom Vaterzeugnis zu den polemischen Aussagen? Die Art der Markierung lässt sich nun folgendermaßen bestimmen: Es handelt sich hier (ausweislich der Determination von „Stimme“, „Gestalt“ und „Wort“ sowie des semantischen Kontrastes, da im näheren und weiteren Umfeld keine Rede ist von der Stimme, Gestalt und dem Wort des Vaters) um eine explizit markierte Anspielung. Folglich entsteht bei den Lesenden ein Bruch in der Rezeption, sodass sie ihr intertextuelles Wissen47 aktivieren müssen, um den Text optimal zu verstehen.

2. Digression 2. Digression

2.1 Annäherung Nach den obigen Überlegungen könnte in Joh 5,37f. eine Anspielung auch und v.a. auf die Sinaioffenbarung vorliegen. Einige Ausleger teilen diese Annahme.48 Nach von Wahlde jedoch ist „the exact determination of this [type of experience referred to in 5:37–38] not essential since the function of the verse (a contrast with the experience of Jesus) is already established and the point is made that only Jesus has had direct experience of any kind“49. Zwar leugnet von Wahlde nicht prinzipiell die Möglichkeit einer Sinaireferenz,50 aber letztlich spielt eine Bestimmung dessen, worauf angespielt wird, seiner Meinung nach keine große Rolle. Von Wahlde ist m.E. nicht nur hinsichtlich seiner Gesamtinterpretation von Joh 5,37f. zu widersprechen. Auch ist es zweifelhaft, dass es nicht so wichtig sei, genau zu bestimmen, worauf der Text verweist. Natürlich können Lesende einfach weiterlesen und nur eine grobe Ahnung von der Funktion von Joh 5,37f. haben. Doch wenn man den Text verstehen will – zumal die Plausibilität der Argumentation in Joh 5,37–38 davon abhängt –, muss man nach der Referenz fragen. Da häufiger Dtn 4,12 und die Sinaioffenbarung generell als Prätexte angegeben werden, muss diesen Hinweisen weiter 47 Das intertextuelle Wissen (d.h. das Wissen um biblische Texte) wird hier privilegiert behandelt, da dies vom engeren und weiteren Umfeld von Joh 5,37f. gefordert wird. 48 Vgl. u.a. MEEKS 1967: 299f.; BEUTLER 1972: 260f.; SCHNACKENBURG 1971: 174; PANCARO 1975: 209 und öfter; DAHL 1997: 156; THYEN 2005: 325; THEOBALD 2009: 413. 49 VON WAHLDE 1981: 394. 50 Vgl. VON WAHLDE 1981: 390, Anm. 19.

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3. Kapitel: Die Rezeption der Sinaitradition in Joh 5,37f.

nachgegangen werden. Zunächst beleuchte ich aber in aller Kürze den atl. Horizont zu den Motiven „Hören der Stimme Gottes“ und „Sehen seiner Gestalt“. Es gibt einige atl. Texte, die von einem Hören der Stimme bzw. einem Sehen der Erscheinung Gottes (Theophanie) sprechen. Zum Sehen Gottes: − Gen 32,31[30]f.: Jakob hat Gott (allerdings im Dunkel der Nacht und in Form eines Mannes) von Angesicht zu Angesicht gesehen ( ‫ָר ִא ִיתי ֱא ִהים ָפּנִ ים‬ ‫ל־פּנִ ים‬ ָ ‫ ) ֶא‬und nennt die Stätte, wo dies geschah, daher ‫יאל‬ ֵ ִ‫ ְפּנ‬. − Ex 3,2–6: Gott bzw. der Engel Gottes erscheint Mose im brennenden Dornbusch − Num 12,8a: Gott redet zu Mose „von Mund zu Mund, im Sehen und nicht in Rätselworten“, und er schaut Jhwhs ‫ְת ֻמנַ ת‬ − Ps 63,3: Der Psalmbeter will Gottes Macht und Herrlichkeit sehen − Ez 1: Sehen der Herrlichkeit Gottes und Hören einer Stimme; die Visionsbeschreibung erinnert an den Tempel − Jes 6: Jesaja sieht den Herrn im Tempel − Hi 19,26f.: Hiobs Zuversicht, Gott zu sehen − Hi 33,26: (Elihus Rede:) Der Mensch, der zu Gott fleht, darf Gottes Angesicht schauen Zum Hören der Stimme Gottes:51 O. Betz schreibt im Theologischen Wörterbuch zum NT: „Von den etwa 560 Vorkommen wird an rund 50 St[ellen] Gott als Urheber von ‫ קוֹל‬genannt.“52 Nachfolgend sei eine kleine Auswahl jener Stellen genannt: − Ps 103,20: Der Hall/Klang seines Wortes − Nu 7,89: Gottes Stimme vom Cherubenthron − Am 1,2; Jes 29,6; 30,30f. vgl. Jer 25,30; Jo 2,11; 4,16; 1Sam 22,14 par Ps 18,14: Hall des Donners als Gottes Stimme − Hi 37,4 vgl. 1Sam 7,10: Gott donnert mit seiner erhabenen Stimme − Jes 29,6; Hi 37,2–5; 40,9: Machtbekundung durch den Donnerhall − Ps 18,8–16 par 1Sam 22,8–16; Ps 68,34, Hab 3,15f.: Das Zittern der Erde durch JHWHs Donnerstimme − Ez 10,5; vgl. 1,24: Das Rauschen der Cherubenflügel hört sich an wie die Stimme des Allmächtigen, wenn er redet − Ausführlich zur Stimme Gottes: Ps 29; daneben noch Ps 104,7; Ps 77,17– 21; Ps 46,7

51 52

Vgl. BETZ 1973: 276–278. BETZ 1973: 276.

2. Digression

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Daneben existieren Texte, die ein direktes Sehen Gottes als tödlich für den menschlichen Betrachter erklären. Zu den theologisch und wirkungsgeschichtlich gesehen bedeutsamsten Stellen zählen die folgenden: − Ex 19,21 (MT und LXX53) Ex 19,21 MT ‫אמר ְי הוָ ה ֶאל־מ ֶֹשׁה ֵר ד ָה ֵ ד ָבּ ָ ם ֶפּן־יֶ ֶה ְרסוּ ֶאל־‬ ֶ ֹ ‫וַ יּ‬ ‫ְיהוָ ה לִ ְראוֹת וְ נָ ַפל ִמ ֶמּנּוּ ָרב‬

Und JHWH sprach zu Mose: Steig hinab, warne das Volk, daß sie nicht zu JHWH durchbrechen, um zu schauen; sonst müßten viele von ihnen fallen.

Ex 19,21 LXX καὶ εἶπεν ὁ θεὸς πρὸς Μωυσῆν λέγων καταβὰς διαµάρτυραι τῷ λαῷ µήποτε ἐγγίσωσιν πρὸς τὸν θεὸν κατανοῆσαι καὶ πέσωσιν ἐξ αὐτῶν πλῆθος Und Gott sagte zu Mose: Steige hinab und warne das Volk, dass sie sich Gott nicht nähern, um (ihn) wahrzunehmen, und eine große Zahl (von ihnen tot) hinfalle.

− Ex 33,20.23 Ex 33,20.23 MT ‫ת־פּנָ י ִכּי לֹא־ ִי ְר ַאנִ י‬ ָ ‫תוּכל לִ ְראֹת ֶא‬ ַ ‫ֹאמר ל ֹא‬ ֶ ‫ וַ יּ‬20 ‫ָה ָא ָדם וָ ָחי‬ ‫וּפנַ י ל ֹא‬ ָ ‫ת־אח ָֹרי‬ ֲ ‫ית ֶא‬ ָ ‫ת־כּ ִפּ י וְ ָר ִא‬ ַ ‫ וַ ֲה ִסר ִֹת י ֶא‬23 ‫ֵי ָראוּ‬

Ex 33,20.23 LXX 20 καὶ εἶπεν οὐ δυνήσῃ ἰδεῖν µου τὸ πρόσωπον οὐ γὰρ µὴ ἴδῃ ἄνθρωπος τὸ πρόσωπόν µου καὶ ζήσεται 23

καὶ ἀφελῶ τὴν χεῖρα καὶ τότε ὄψῃ τὰ ὀπίσω µου τὸ δὲ πρόσωπόν µου οὐκ ὀφθήσεταί σοι

20 Dann sprach er: Du kannst es nicht ertragen, mein Angesicht zu sehen, denn kein Mensch kann mich sehen und am Leben bleiben.

20 Und sagte: Du sollst mein Antlitz nicht erblicken können; denn auf keinen Fall wird ein Mensch mein Antlitz sehen und dann weiterleben.

23 Dann werde ich meine Hand wegnehmen, und du wirst mich von hinten sehen; aber mein Angesicht darf nicht gesehen werden.

23 Und ich werde meine Hand wegziehen und dann wirst du meinen Rücken sehen, mein Angesicht aber soll nicht von dir gesehen werden.

Welche Prätexte müssen also stärker in den Blick genommen werden bzw. welche spezifischen Prätexte sollen aufgerufen werden? Aus sprachlichen Gründen erfolgt der Zugang über die LXX. Die Belege für ἀκούω + (τὴν) φωνὴν, wobei die „Stimme“ Gottes im Blick ist, sind in der LXX: Gen 3,8.10 (Adam 53

Die Übersetzungen des MT und der LXX stammen im Folgenden, wenn nicht anders vermerkt, jeweils aus der Elberfelder Übersetzung (z.T. von mir modifiziert) bzw. aus LXX.D.

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und Eva); Num 7,89 (Mose); (unklar: Ijob 4,16; 37,4 [Hiob]); Jer 49,6 (die Überlebenden in Juda); Ez 1,28 (der Prophet Ezechiel); Dan 4,31 (der König Nebukadnezar). Keine der eben genannten Stellen ist jedoch direkt relevant. In den meisten Fällen hören nur Einzelne die Stimme Gottes und nicht das Volk. In Jer 49,6, wonach das Volk in Form des durch den Propheten vermittelten Gottesworts die Stimme Gottes hören will, ist keine Rede von Gottes Gestalt (ebenso wenig wie im Kontext). Die folgenden Stellen aus Dtn, wo die Konstruktion ἀκούω + (τὴν) φωνὴν ebenfalls begegnet, sind dagegen von Belang und werden später behandelt: Dtn 4,12.33; 5,23.24.25.26; 18,16. Das Substantiv εἶδος kommt in der LXX mit direktem Bezug auf Gott (z.B. in einer Genitivkonstruktion) nur in Gen 32,30f. vor, was jedoch nicht sehr überraschend ist, da es Menschen nicht gestattet ist, Gott zu sehen: 30

Und Jakob gab jenem Ort den Namen „Aussehen Gottes“ (Εἶδος θεοῦ): Denn ich sah Gott von Angesicht zu Angesicht (εἶδον γὰρ θεὸν πρόσωπον πρὸς πρόσωπον) und meine Seele wurde gerettet. 31 Die Sonne aber ging ihm auf, als er am „Aussehen Gottes“ (Εἶδος τοῦ θεοῦ) vorbeizog. Er selbst aber hinkte von seiner Hüfte her.

Mit indirektem Gottes-Bezug erscheint εἶδος in Num 9,15f. : 15 Und an dem Tag, an dem das Zelt aufgestellt worden war, verhüllte die Wolke das Zelt, das Haus des Zeugnisses. Und am Abend war sie über dem Zelt wie eine Feuergestalt (ὡς εἶδος πυρὸς) bis zum Morgen. 16 So geschah es immer: Die Wolke bedeckte es am Tag und eine Feuergestalt (εἶδος πυρὸς) in der Nacht.

Num 12,8 wäre hier vielleicht auch zu nennen („Von Mund zu Mund werde ich mit ihm reden, in einer sichtbaren Gestalt [ἐν εἴδει] und nicht in Rätseln, und den Glanz des Herrn hat er gesehen“)54 und eventuell Ez 1,26 („Wie ein Anblick von Saphirstein war die Gestalt eines Thrones auf ihr, und auf der Gestalt des Thrones war eine Gestalt wie das Aussehen eines Menschen [ὡς εἶδος 54 Diese Stelle und ihr Kontext heben den besonderen Rang Moses als Offenbarungsempfänger hervor und kontrastieren zu diesem Zwecke die Art der Offenbarungsvermittlung ihm gegenüber mit der Offenbarungsweise einem Propheten gegenüber. Einem Propheten offenbart Gott sich gemäß V.6f. in einem Gesicht (ἐν ὁράµατι) bzw. im Schlaf (ἐν ὕπνῳ) und durch Rätsel (δι᾽ αἰνιγµάτων) – also indirekt, so dass es einer Deutung der Rätsel bedarf. Aber nicht so Mose. Zu ihm spricht (das Futur λαλήσω ist hier am besten zeitlos/durativisch aufzufassen [zu dieser Möglichkeit vgl. VON SIEBENTHAL 2011: §202i]) Gott von „Mund zu Mund“, d.h. wohl so etwas wie „unmittelbar, direkt“. Die folgende Präpositionalphrase ἐν εἴδει ist von hierher gesehen und aufgrund des semantischen Gegensatzes zum nachstehenden „nicht in/durch Rätsel“ (οὐ δι᾽ αἰνιγµάτων) wahrscheinlich zu verstehen im Sinne von „eindeutig, klar“ (anders LXX.D: „in einer sichtbaren Gestalt“). Zum etwas anderen MT vgl. SEEBASS 2003: 57–75; UEHLINGER 2003: 230–259; für den LXX-Bezug von τὴν δόξαν κυρίου εἶδεν zu Ex 33f. (MT anders) s. meine Analyse der Rezeption von Ex 33f. in Joh 1,14–18. Als Prätext für Joh 5,37f. ist Num 12,8 ausweislich der im Verbund mit dem Verb λαλήσω erfolgenden Verwendungsweise mit der Präposition ἐν, der semantischen Opposition zu αἰνιγµάτων und dem „Fehlen“ der Stimme Gottes nicht unmittelbar in Erwägung zu ziehen.

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ἀνθρώπου] oben“). Dem direkten Bezug kommt aber Ex 24,17 am nächsten: „Das Aussehen der Herrlichkeit des Herrn (τὸ δὲ εἶδος τῆς δόξης κυρίου) war aber wie loderndes Feuer (ὡσεὶ πῦρ φλέγον) über dem Gipfel des Berges den Israeliten gegenüber.“ In Dtn 4,12, einer Stelle, die von NA28 und einigen Exegeten als Prätext für Joh 5,37b–38a angegeben wird,55 steht nicht εἶδος, sondern der Relationsbegriff ὁµοίωµα für hebr. ‫ ְתּמוּנָ ה‬.56 Nichtsdestotrotz erscheint in Dtn 4,12 und auch im dortigen Kontext ἀκούω + (τὴν) φωνὴν gehäuft. Beide Verse (Ex 24,17 und Dtn 4,12) beziehen sich auf die Theophanie am Sinai, bei der eine Gruppe von Menschen, nämlich das Volk Israel zugegen war. In Joh 5,37f. wird einer Gruppe von Menschen das Hören der Stimme Gottes und das Sehen seiner Gestalt abgesprochen. Die Kombination von „Hören der Stimme“ Gottes, des Vaters, und das „Sehen seiner Gestalt“ (zumal mit dem Lexem εἶδος) durch eine Gruppe von Menschen sowie die Erwähnung des Wortes Gottes, d.h. des Wortes, das von Gott kommt bzw. das er spricht, schränkt die Zahl der potenziellen Bezugstexte rasch ein, sodass v.a. die Texte, die die Sinaioffenbarung zum Inhalt haben, als Prätexte für Joh 5,37f. in Frage kommen. Man kann nun vermuten, dass Joh 5,37c–38a eine narrative Abbreviatur jener Theophanie darstellt, wie sie sich ähnlich z.B. in Sir 17,13 findet: „Die Größe seiner Herrlichkeit sahen ihre Augen (µεγαλεῖον δόξης εἶδον οἱ ὀφθαλµοὶ αὐτῶν), und die Herrlichkeit seiner Stimme hörte ihr Ohr (δόξαν φωνῆς αὐτοῦ ἤκουσεν τὸ οὖς αὐτῶν).“ Im Folgenden soll diese Vermutung durch eine leserorientierte Analyse der einschlägigen Texte (wie Ex 19–20; 24 und Dtn 4–5 sowie einiger ergänzender Passagen und Querverbindungen) in den verschiedenen Überlieferungen (MT, LXX, Targumim) untermauert werden, wobei ich mich auf die für Joh 5 relevanten Verse konzentriere. Die Untersuchung der Sinaiepisode in der Version von Ex 19–20 und in derjenigen von Dtn 4–5 ist u.a. dadurch gerechtfertigt, dass es antike Vorbilder für die (ja an sich sehr nahe liegende) Zusammenschau beider Texte gibt: Hinweise dafür finden sich bei Philo in seiner Schrift De migratione Abrahami 47ff. und wahrscheinlich auch in De decalogo 47f., bei Pseudo-Philo (LAB 11,5.14), im Samaritanischen Pentateuch (Ex 20,19ff.) sowie in den Schriftrollen vom Toten Meer (vgl. 4Q158 Frg. 6; 4Q175=4QTest[imonia]; 4Q377 Frg. 2 Kol. ii). Daneben gilt es, auch einen Blick auf die (früh-)jüdische Rezeption der Sinaitheophanie zu werfen.57 Dabei sollen die entsprechenden Texte immer unter Berücksichtigung von Joh 5,37f. sowie der diese Verse einbettenden Rede Jesu betrachtet werden, wenngleich die ausführliche Exegese erst später präsentiert wird. So können Echos in Joh 5, die sonst unerkannt blieben, identifiziert werden.

55 Vgl. u.a. MEEKS 1967: 299f.; BEUTLER 1972: 260f.; SCHNACKENBURG 1971: 174; PANCARO 1975: 209 und öfter; DAHL 1997: 156; THYEN 2005: 325; THEOBALD 2009: 413. 56 ‫ ְתמוּנָ ה‬wird in der LXX nie mit εἶδος übersetzt. 57 Umfassender zusammengestellt von SCRIBA 1995.

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Besonders folgende Fragen sollen dabei leitend sein, wenngleich andere Aspekte hinzukommen können: − Welche Bedeutung und Funktion hat die Stimme Gottes und seine Gestalt für die, die sie wahrnehmen? − Worin besteht die „Gestalt“ Gottes? − In welchem Konnex stehen Stimme und Gestalt Gottes zueinander und zu seinem Wort? − Findet sich ein (positives) Äquivalent zum johanneischen Ausdruck „ihr habt sein Wort nicht bleibend in euch“? Da der hebräische Text mit seinen interpretatorischen Herausforderungen und „Leerstellen“ grundlegender Ausgangspunkt ist, beginne ich mit dem Masoretischen Text. 2.2 Die Sinaitradition nach dem MT In der Wüste Sinai angekommen (nach Ex 19,1 im dritten Monat)58 – überraschenderweise an „diesem“, nicht aber an „jenem“, Tag (‫– ) ַבּיּוֹם ַהזֶּ ה‬, soll Israel sich heiligen, „denn am dritten Tag wird JHWH vor den Augen des ganzen Volks (‫ל־ה ָ ם‬ ָ ‫ )לְ ֵ ינֵ י ָכ‬auf den Berg Sinai herabsteigen“ (Ex 19,11), obwohl er gemäß Ex 19,3 schon auf dem Berg ist. „Am dritten Tag“, geschieht dies nach Ex 19,16 zunächst begleitet von „Stimmen“ (‫ ;קֹ ת‬gemeint ist wohl Donner), Blitzen (‫) ְב ָר ִקים‬, einer „schweren“ Wolke (‫ ) ָ נָ ן ָכּ ֵבד‬und einer sehr „starken“ bzw. lauten „Stimme“ des Schofarhorns (‫)קֹל שׁ ָֹפר ָחזָ ק ְמאֹד‬. Hier wie auch im Folgenden sticht das Lexem ‫„( קוֹל‬Stimme“ oder „Klang“) hervor. Nachdem sich das Volk am Fuß des Berges aufgestellt hat, kommt JHWH dann auf den Sinai „im Feuer“ (‫( ) ָבּ ֵאשׁ‬Ex 19,18). Immer „stärker“ bzw. lauter wird die „Stimme“ des Schofars (‫שּׁוֹפר‬ ָ ‫ ;קוֹל ַה‬V.19a). V.19a schließt mit dem Tempusmarker ‫ וַ יְ ִהי‬an die vorherige Erzählung an; V.19a präsentiert also ein Ereignis der Vergangenheit. V.19b steht jedoch asyndetisch neben V.19a, was für einen Erzählkontext, wie er hier vorliegt, eher untypisch ist: Mose spricht und Gott antwortet ihm nach Ex 19,19b „mit einer Stimme“ (‫) ְבקוֹל‬59; mit Blick auf Ex 19,9 geschieht dies wohl zum Zwecke von Moses Legitimation als Offenbarungsmittler. Es ist 58

Vgl. DOHMEN 2004: 50: „Vorangestellt ist dem aber ein markantes Datum, das nicht nur zur chronologischen Einordnung am Anfang steht, sondern die Funktion übernimmt, einen Anfang zu bestimmen. Das ist auch an der fehlenden – sonst typischen – Einleitungsformel (Tempusmarker) ‫‚ ויהי‬Es war/geschah…‘ abzulesen“; KRAUS (1962: 75) geht wohl zu weit, in der chronologischen Angabe einen Hinweis auf das Wochenfest zu sehen: „Unverkennbar ist es die Tendenz der Priesterschrift, mit diesem Datum das Sinai-Geschehen mit dem Zeitraum des Wochenfestes in Zusammenhang zu bringen.“ 59 Nach KEDAR-KOPFSTEIN 1989: 1240: „hörbar“. Vgl. DOHMEN 2004: 48: „Da von einer besonderen Mitteilung im Medium des Donners im Kontext nie die Rede ist (vgl. Ex 19,9; 20,18), ist in V 19b die ‚Stimme‘ als hör- und wohl auch für Mose verstehbare Sprachartikulation anzusetzen.“

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unwahrscheinlich, dass V.19b die Erzählung fortführt. „Der Satz der Form xjiqtol zeigt einen iterativen bzw. durativen Aspekt an, der aufgrund der Asyndese als ‚Kommentierung‘ außerhalb der Erzählebene zu verstehen ist.“ Mit anderen Worten: „Spricht V 19a im Bild des andauernden Schofartons vom Geschehen der Erscheinung Gottes, so erläutert V 19b, worum es bei diesem Geschehen geht.“60 Als hätte Gott den Dekalog nicht gesprochen, heißt es in Ex 20,18 (vgl. Ex 19,16ff.), dass das ganze Volk die „Stimmen“ bzw. Donnerschläge (‫ֶאת־‬ ‫) ַהקּוֹ ת‬, die Fackeln (‫ת־ה ַלּ ִפּ ִידם‬ ַ ‫ ) ֶא‬und die „Stimme“ des Schofarhorns (‫)קוֹל ַהשּׁ ָֹפר‬ „sah“ (‫)ר ִֹאים‬.61 Die Wahl des Verbs ist auffällig. Wie kann man eine Stimme bzw. einen Klang sehen? Oder ist mit „sehen“ eher „wahrnehmen“ gemeint?62 Man kann dies auch zu Ex 20,22 fragen, als Gott zum Volk durch Mose sagt: „Ihr habt selbst gesehen (‫) ַא ֶתּם ְר ִא ֶיתם‬, dass ich vom Himmel her mit euch geredet habe.“ Das Volk kann die direkte, an sie gerichtete Ansprache Gottes gemäß Ex 20,19 jedoch nicht ertragen („Gott soll nicht mit uns reden, damit wir nicht sterben“) und bittet daher Mose um Vermittlung (Ex 20,19). Das Volk akzeptiert folglich „die Art der von Gott gewählten Vermittlung seines Willens“63. Dafür spricht, wie Mose auf ihre Bitte antwortet (Ex 20,20): Sie brauchen sich nicht zu fürchten, denn Gott „kam“, um sie zu „prüfen“ (‫לב ֲ בוּר נַ סּוֹת‬ ַ )64. Offenbar haben sie die Prüfung ausweislich ihrer Bitte um Vermittlung der Gottesrede durch Mose bestanden, denn der Zweck der beeindruckenden Theophanie am Sinai bestand nach der Fortsetzung dieses Verses darin, dass „die Furcht vor Gott euch vor Augen sei, damit ihr nicht sündigt“. Gottesfurcht und Sünde sind demnach zwei Pole. Besteht nun die Gottesfurcht kontextgemäß im Glauben an Mose (vgl. Ex 19,9.19 mit Ex 20,19), so ist das Sündigen im Gegenteil dessen zu sehen, nämlich dem Unglauben gegenüber Mose als dem Offenbarungsmittler (vgl. dazu Ex 32ff. und meine Analyse in der vorliegenden Arbeit). Moses Sonderstellung vor Gott kommt denn auch im Anschluss (Ex 20,21) dadurch zur Geltung, dass er sich – im Unterschied zu dem in der Ferne verbleibenden Volk (vgl. Ex 20,21 mit V.18 und die Anweisung dazu Ex 19,12f.21–25) – dem Dunkel, wo Gott war, näherte und dort Offenbarung empfängt. Es erheben sich an dieser Stelle folgende Fragen: Hat Israel zum Zeitpunkt der Bekundung ihrer Furcht schon den Dekalog unmittelbar von Gott gehört und kann daher kein erneutes direktes Reden Gottes ertragen, sodass Mose vermitteln soll? Oder fürchten sie sich wegen der Begleitphänomene vor 60

DOHMEN 2004: 48 und 72. Vgl. zum Satzanschluss CHILDS 1974: 371: „The initial participial form of the verb indicates that a circumstantial clause is intended. The people’s reaction which is described did not first emerge after the giving of the Decalogue, but runs parallel with the whole theophany.“ 62 Vgl. z.B. CHILDS 1974: 371. 63 DOHMEN 2004: 130. 64 Vgl. Ex 15,25. 61

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einem bevorstehenden direkten Reden Gottes zu ihnen? Bitten sie also angesichts dessen um Vermittlung durch Mose, sodass die Israeliten zwar das „Dass der Mitteilung Gottes“ an Mose, „nicht aber das Was“65 sahen (bzw. wahrnahmen)? Wie dem auch sein mag, klar ist, dass sie die Stimme Gottes gehört haben. Der Bundesschluss wird in Ex 24,1–8 berichtet. Nach der zugehörigen Opferzeremonie (Ex 24,4–8) steigen Mose, Aaron, Nadab und Abihu sowie siebzig von den Ältesten Israels hinauf (Ex 24,9). „Stellvertretend für das, was Israel zugesagt war (Ex 19,5f.) und was Israel sein zu wollen bekundet hatte (Ex 24,7), erleben diese Repräsentanten eine erneute Theophanie und die damit gegebene besondere Gottesnähe“66, die sonst nur Priestern (wenn auch nicht in der gleichen Unmittelbarkeit) vorbehalten blieb. In Ex 24,10a (vgl. auch V.11) liest man dann: „Sie sahen den Gott Israels“ (‫)וַ ִיּ ְראוּ ֵאת ֱא ֵהי ִי ְשׂ ָר ֵאל‬. Diese Aussage ist im AT außergewöhnlich. Sie steht in starker Spannung zum Grundsatz, der nach dem „Sündenfall“ des Volkes geäußert wird, dass kein Mensch Gott unmittelbar sehen darf (Ex 33,20). V.10 und die folgenden Ausführungen erinnern an eine prophetische Schau, wie sie etwa Jesaja und Ezechiel zuteil wurde (vgl. Jes 6 und Ez 1)67. Hat der ausgewählte, sich auf der Erde befindende, Personenkreis eine Vision Gottes, oder halten sich diese Menschen im Thronraum des himmlischen Heiligtums auf, wo die Engel Gott dienen? Oder befindet sich das himmlische Heiligtum temporär auf der Erde bzw. dem Berg Sinai? Bemerkenswert ist an Ex 24,10a u.a. auch das Syntagma „Gott Israels“. „Israel“ ist ja im Pentateuch zunächst der Name, den Jakob von Gott nach dem nächtlichen „Ringkampf“ erhält (Gen 32,25ff.). Spielt das Syntagma vielleicht auf die Schau Gottes durch Jakob an (vgl. Gen 32,31)? Das im AT sehr seltene direkte Sehen Gottes an einem besonderen Ort und das explizit erwähnte Verschontwerden (Ex 24,11) lassen eine Assoziation beider Texte zu: Schon der Stammvater des Volkes wurde als jemand, der Gott besonders nahe war, dargestellt. Ebenso wird auch Israel als ganzes Volk (repräsentiert durch die 70 Ältesten) durch die Schau Gottes besonders gewürdigt und hervorgehoben. Etwas relativiert wird V.10 dadurch, dass Gottes Aussehen in Ex 24 nicht beschrieben wird. Stattdessen liest man eine Schilderung dessen, was „unter seinen Füßen“ (‫ ) ַת ַחת ַרגְ ָליו‬war: „etwas wie ein Werk von Saphierplatten und wie der Himmel selbst so klar“. Dass es lebensgefährlich ist, sich in solch einer Nähe zu Gott zu befinden, wird in Ex 24,11 vorausgesetzt, da es hier heißt,

65

DOHMEN 2004: 129. DOHMEN 2004: 205. Oder aber handelt es sich gar nicht um eine erneute Theophanie, sondern um zusätzliche Informationen zur Theophanie aus Ex 19–20 (vgl. CHILDS 1974: 364, der auf jüdische Exegeten wie Akiba und Raschi hinweist)? 67 bTMeg 31a nennt zum Toraabschnitt Ex 19,1ff. als prophetischen Begleittext Ez 1. 66

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dass Gott „seine Hand nicht gegen die Edlen der Söhne Israels ausstreckte“ (um sie zu töten), sondern „sie schauten Gott und aßen und tranken“. Wenig später muss Mose zum Empfang der von Gott geschriebenen Gesetzestafeln weiter auf den Berg hinauf.68 Um den Zusammenhang zwischen dem Gesetz und der Herrlichkeit Gottes zu unterstreichen, wird erneut gesagt, dass sich „die Herrlichkeit JHWHs“ (‫„ ) ְכּבוֹד־ ְיהוָ ה‬niederlässt“ (‫ ) ִיּ ְשׁכֹּן‬und die Wolke den Berg bedeckt (Ex 24,16), obwohl man davor nicht den Eindruck hat, dass die Herrlichkeit JHWHs den Berg verlassen hätte. Im Anschluss an Ex 19,18 (Herabkunft JHWHs im Feuer; vgl. auch Ex 3,2) wird in Ex 24,17 – aus der Perspektive des Volkes – das Aussehen der Herrlichkeit folgendermaßen beschrieben: „Das Aussehen der Herrlichkeit JHWHs (‫ ) ַוּמ ְר ֵאה ְכּבוֹד ְיהוָ ה‬aber war vor den Augen der Söhne Israel wie ein verzehrendes Feuer (‫ ) ְכּ ֵאשׁ א ֶֹכ ֶלת‬auf dem Gipfel des Berges“. Nach Dohmen „wird [damit] nicht nur Ex 19,18 eingespielt, sondern durch die Verbindung von Wolke und Feuer wird auf die Gegenwartsweise JHWHs in der Wolken- bzw. Feuersäule vor (Ex 14,24) und nach (Ex 40,38; Num 9,15ff.) dem Sinaiaufenthalt identifizierend verwiesen“69. Die Nacherzählung der Sinaitheophanie in Dtn 4–570 wird eröffnet mit der Aufforderung zum Gehorsam gegenüber den Ordnungen und Rechtsbestimmungen, die Mose das Volk lehrt, „damit ihr lebt …“ (Dtn 4,1). Ganz konkret zielt die Paränese auf das Verbot, welches in Dtn 4,15f. so formuliert wird: „So hütet eure Seelen sehr, … dass ihr nicht zu (eurem eigenen) Verderben handelt und für euch ein Götterbild herstellt in Gestalt irgendeines Götzenbildes ( ‫ְתּמוּנַ ת‬ ‫ל־ס ֶמל‬ ָ ‫) ָכּ‬.“ Begründet wird diese Aufforderung mit der Sinai- bzw. Horebtheophanie und dem, was dort geschah. Israel soll sich immer, in jeder Generation aufs Neue, dessen bewusst sein und ‫ת־ה ְדּ ָב ִרים‬ ַ ‫„( ֶא‬die Worte“ oder „Ereignisse“71) nicht vergessen, die deine Augen gesehen haben, dass sie nicht aus deinem Herzen weichen alle Tage deines Lebens“ (Dtn 4,9). Mose erinnert daran, dass „der Berg im Feuer brannte bis ins Herz des Himmels“ und dass dort „Finsternis, Wolken und Dunkel“ waren, aber vor allem, dass „JHWH mitten aus dem Feuer zu euch gesprochen hat“ – „Feuer“ wird hier also verknüpft mit den Worten Gottes –, dabei zwar die „Stimme“ bzw. der Klang der Worte hörbar, aber keine Gestalt (‫ ; ְתמוּנָ ה‬vgl. 4,15f.) zu sehen war (Dtn 4,12).72 Letztere 68 Die zahlreichen mosaischen Auf- und Abstiege zum/vom Berg sind auffällig und werfen die Frage nach ihrem Sinn auf. Dem kann hier jedoch nicht weiter nachgegangen werden. 69 DOHMEN 2004: 208 (kursiv im Original). 70 Vgl. zu den Abweichungen BRETTLER 2008: 247–268. Im Rahmen meiner Untersuchung ist es nicht nötig, alle diese Abweichungen/Deutungen umfassend zu benennen und zu erklären. 71 Vgl. OTTO 2012 I: 555. 72 Vgl. WILSON 1995: 74: „It […] seems likely that in vv.11–12 the writer is appealing to the people’s experience both of the sight of the fire and of the sound of the voice which proceeded from it.“

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Feststellung beabsichtigt im Zusammenhang offensichtlich nicht die Leugnung visueller (zugunsten rein auditiver) Phänomene am Horeb überhaupt – das Feuer ist ja sichtbar –, sondern dem Sehen einer „sichtbaren Gestalt“ JHWHs selbst, aufgrund dessen ein Kultbild angefertigt werden könnte.73 Somit fungiert V.12, wie V.15f. zeigt, ganz spezifisch als Begründung des Kultbildverbots.74 JHWH war am Horeb tatsächlich anwesend, angezeigt durch und gleichzeitig verborgen im Feuer. Die schon erwähnte narrative Abbreviatur, in der Gottes Reden bzw. seine Stimme mit dem Feuer assoziiert wird, begegnet immer wieder in Variation in Dtn 4–5 (4,33.36; 5,4f.7522.23–26). Hervorzuheben ist noch Folgendes: Erstens, das Volk Israel ist vor allen anderen Menschen u.a. dadurch ausgezeichnet, dass es die Stimme Gottes mitten aus dem Feuer gehört hat, die sie unterwies (vgl. Dtn 4,8.33). Zweitens, die Anwesenheit bei der Sinai- bzw. Horebtheophanie und das Hören der Stimme JHWHs und Sehen seiner Herrlichkeit sollten nach Dtn 5,29 „Furcht“ vor JHWH und das Halten der Gebote bewirken. Dtn 6,6 zufolge sollen die Worte, die Mose Israel „heute“ gebietet, „auf deinem Herzen sein“ ()‫) ַ ל־לְ ָב ֶב‬.76 Damit ist sicherlich mehr gemeint, als nur das Gesetz auswendig zu lernen; es geht auch darum, das Gesetz „im täglichen Leben präsent zu machen“77. Von Belang sind ferner folgende Beobachtungen zur Sinai- bzw. Horebszene in Dtn und Ex: − In Entsprechung zum programmatischen „Dies sind die Worte, die Mose zu ganz Israel geredet hat“ (Dtn 1,1) wird auch in Dtn 5,1 ganz Israel durch Mose zusammengerufen, um die Ordnungen und Rechtsbestimmungen zu hören. − Zu dieser umfassenden Perspektive passt Dtn 5,2ff. Demnach hat JHWH den Bund „nicht mit unseren Vätern geschlossen, sondern mit uns, die wir heute hier alle am Leben sind“. Daran ist auffällig, dass die Angesprochenen gar nicht am Sinai waren. Die Generation, die den Bund am Sinai schloss, starb ja gemäß Num 14,23.30; Dtn 1,35; 2,14–16 in der Wüste. Dadurch entsteht der Eindruck, dass die adressierte aktuelle Generation „on the plains of Moab is […] conceived as standing at Sinai“78. Um es mit Braulik zu 73

Vgl. OTTO 2012 I: 557. Vgl. WILSON 1995: 62f. 75 Vgl. WILSON 1995: 81: „It is […] reasonable to presume that in Deut. 5:5, Moses’ ‚standing between‘ YHWH and the people is intended to be taken in the same locative sense. The verse thus portrays Moses as occupying the physical space which separates the Israelites from the Deity, who is thereby represented as being localized in their immediate vicinity. In fact Moses does also mediate between YHWH and the people, but not simply by virtue of being between them, but rather because of what he does when he stand there, i.e. declares to the Israelites the divine word.“ 76 Vgl. u.a. Dtn 11,18. 77 BRAULIK 1986: 56. 78 WEINFELD 1991: 238. 74

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sagen: „Über den geschichtlichen Abstand hinweg wird im ‚Heute‘ der Verkündigung der Horebbund vergegenwärtigt. Er betrifft das Gottesverhältnis der jetzt Lebenden.“79 Mit Blick auf Stellen wie Dtn 6,21ff. könnte man auch schlussfolgern, dass „Israel throughout its generations is thus presented in Deuteronomy as one body, a corporate personality“80. Die häufig verwendete Zeitangabe „heute“ weist ebenfalls auf die Aktualisierung des Sinaigeschehens für alle (zukünftigen) Generationen des Volkes Israel hin bzw. eröffnet auf jeden Fall die Möglichkeit dazu. In Dtn 4,26 werden Himmel und Erde als Zeugen gegen Israel aufgerufen, was nach Otto zeigt, „dass die Promulgation dieser Lehre [sc. der Moserede] in Gestalt der Auslegung der Sinaitora und Erfüllung des JHWH-Auftrags in Ex 24,12 selbst ein Rechtsakt ist“81. Dieser zielt „über die Zweite Generation der erzählten Zeit hinaus auf die Adressaten des Buches Deuteronomium in der Erzählzeit“82. Mose erscheint teilweise (z.T. hat man den Eindruck des unvermittelten Redens Gottes zu Israel) als der Vermittler des Wortes bzw. der Worte JHWHs, nachdem Israel die direkte Rede Gottes aus dem Feuer nicht weiter ertragen kann (Dtn 5,4f.). Gemäß Dtn 4,10ff. ist der Tag, an dem Israel vor JHWH, seinem Gott, am Berg Horeb stand, das Feuer sah und JHWHs Stimme hörte, ein Tag, an dem Israel sich versammeln sollte, um die Worte zu hören, „die sie lernen sollen, um mich zu fürchten […] und die sie ihre Kinder lehren sollen“. Folglich geschieht die Vergegenwärtigung des Sinaiereignisses im Rahmen der Versammlung des Volkes zur Unterweisung83 im Gesetz (vgl. auch Dtn 5,1).84 Dadurch, dass das Volk am Sinai als „Idealgemeinschaft“ präsentiert wird, werden spätere Generationen geradezu zur Identifikation mit Israel eingeladen.85 Der Sinai und das Geschehen um den Berg weisen große Ähnlichkeit zum Zeltheiligtum (und dem späteren Tempel auf dem Zionsberg) auf. „Der Berg ist in Bereiche gestufter Heiligkeit unterschieden. Der äußere Bereich, in den Mose das Volk Gott entgegenführt (Ex 19,17), dann der innere Bereich, 79

BRAULIK 1986: 49. WEINFELD 1991: 238. 81 OTTO 2012 I: 589. 82 OTTO 2012 I: 590. 83 Das Motiv des Lehrens/Lernens ist charakteristisch für Dtn (vgl. WEINFELD 1991: 200), was sich u.a. daran zeigt, dass die Wurzel ‫ למד‬im Pentateuch ausschließlich in Dtn erscheint. Besonders wichtig ist hier Dtn 31,12. 84 Vgl. WEINFELD 1991: 203: „‚Standing before the Lord‘ at Sinai is the origin of the existentialistic concept in Judaism: ma‘mād har Sīnaî ‚the scene of Mount Sinai‘, which was understood as a collective experience of Israel bequeathed to all coming generations. Every Israelite is committed to God’s rules because he was sworn to them from Mount Sinai.“ 85 Vgl. Ex 19,8.10–15; 24,3.7; dazu PHILO, Dec 45; PRE 41; VANDERKAM 2002: 244ff. 80

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in den die Priester und die siebzig Ältesten dürfen (Ex 24,1f.), und schließlich der innerste Bereich, in den allein Mose vordringen darf (Ex 19,24; 24,2). Diese Gestaltung der Heiligkeitsbereiche entspricht der späteren Konzeption des Wüstenheiligtums und darüber auch der des Jerusalemer Tempels.“86 Zur Präsentation des Sinai als einem in Heiligkeitsbereiche gestuften Heiligtum (bzw. Tempel) passen auch die folgenden Aspekte: 1. In Ex 19,12 wird das Anfassen des Berges unter Androhung des Todes verboten. Damit vergleiche man die ähnliche Anordnung hinsichtlich des portablen Heiligtums in Num 4,15: „Und wenn Aaron und seine Söhne beim Aufbruch des Lagers das Zudecken des Heiligtums und aller Geräte des Heiligtums beendet haben, dann sollen danach die Söhne Kehats kommen, um es zu tragen, damit sie das Heilige nicht berühren und sterben. Das ist es, was die Söhne Kehats vom Zelt der Begegnung zu tragen haben.“ 2. Der Sinai wird in Ex als „Berg Gottes“ bezeichnet (so in Ex 3,1; 18,5; 24,13); ebenso wird auch der Zion genannt (vgl. Jes 2,3; Mi 4,2 [hier in einem Atemzug mit „Haus Gottes“ = Tempel]). 3. Es gibt einen Altar im äußeren Bereich des Berges. Hier werden Opfer gebracht (Ex 24,5f.), die offenbar als eine Art Vorbild galten (vgl. Num 28,6). − Die Zehn Gebote sind die einzigartige Mitteilung des Willens Gottes. Nur sie werden von Gott selbst aufgeschrieben und später in die Bundeslade, die Zeichen der göttlichen Präsenz ist, gelegt. In Ex 24,12 werden die Tafeln zum erstenmal direkt im Anschluss an die exemplarische Gottesschau der Priester und Ältesten erwähnt. Das dürfte kein Zufall sein, sondern es soll so zum Ausdruck kommen, dass und „wie das Volk und vor allem alle späteren Generationen an dem teilhaben können, was die Repräsentanten Israels nach Ex 24,10–11 auf dem Berg Sinai erleben konnten“87. Mit Breitmaier könnte man auch sagen, dass „[d]urch die Verschriftlichung […] die weitreichendste Ausdehnung der ‚Stimme Gottes ‘ in der Zeit ermöglicht [wird]“88, sodass die Israeliten späterer Generationen die Stimme Gottes vom Sinai immer wieder hören können, wenn das Gesetz (vor)gelesen wird (vgl. Dtn 31,9.11).89 − Mit dem „Hören der Stimme“ korrespondiert das „auf die Stimme hören“, d.h. der Gehorsam der Unterweisung gegenüber.90 Aus dem Hören auf die Stimme folgt Segen, aus dem Nichthören folgt Fluch.91

86

DOHMEN 2004: 71. DOHMEN 2004: 214. 88 BREITMAIER 2003: 160. 89 Vgl. auch JACOB 1997: 603. 90 Vgl. AURELIUS 1999: 65–78. 91 Vgl. u.a. Ex 19,5; Num 14,22; Dtn 8,20. 87

2. Digression

141

2.3 Die Sinaitradition nach der Septuaginta Einige der voranstehenden Beobachtungen werden durch die LXX bestätigt. Speziell die Aspekte, die den Sinai als Heiligtum erscheinen lassen, treten hier deutlich hervor. Dahinter könnte man eine Tendenz zur Aktualisierung der Sinaitheophanie vermuten. Der Zweck (ἵνα) des Herabsteigens Gottes in der Wolkensäule92 (MT hat „dichte“ bzw. „dunkle Wolke“) auf den Berg Sinai wird in Ex 19,9 explizit von Gott angegeben, wobei LXX und MT hier übereinstimmen: Dem Volk soll aufgrund ihres eigenen Hörens unzweifelhaft klar sein, dass Gott mit Mose redet. Moses Worte sind demnach nicht seine eigenen, sondern Gottes Worte. Folglich soll das Volk Mose für immer glauben (καὶ σοὶ πιστεύσωσιν εἰς τὸν αἰῶνα).93 In Ex 19,18 heißt es dann, dass Gott auf den Berg Sinai „im Feuer“ (ἐν πυρί) hinab gekommen sei. Doch anstatt des „Zitterns“ (MT: ‫ )יֶּ ֱח ַרד‬des Berges94 hat die LXX das große Erstaunen bzw. Außer-sich-Geraten des ganzen Volkes (καὶ ἐξέστη πᾶς ὁ λαὸς σφόδρα).95 Ex 19,16 MT zufolge „erzitterte“ (‫ ) ֶיּ ֱח ַרד‬das Volk schon einmal, was die LXX dort entsprechend mit ἐπτοήθη übersetzt. Ex 19,16.18 MT

Ex 19,16.18 LXX 16

16

καὶ ἐπτοήθη πᾶς ὁ λαὸς

‫ל־ה ָהר ְמאֹד‬ ָ ‫ וַ יֶּ ֱח ַרד ָכּ‬18

18

καὶ ἐξέστη πᾶς ὁ λαὸς σφόδρα

‫ל־ה ָ ם‬ ָ ‫וַ יֶּ ֱח ַרד ָכּ‬

16

das ganze Volk erzitterte

16

das ganze Volk erzitterte

18

der ganze Berg erzitterte sehr

18

das ganze Volk erstaunte96 sehr

Auffällig ist daran, dass in der LXX zwar das Subjekt in V.18 mit dem aus V.16 identisch ist (sowohl in MT als auch in LXX „das Volk“), aber nicht das Verb (statt ἐπτοήθη [V.16] hat V.18 ἐξέστη). Eine mögliche Erklärung könnte aufgrund der sprachlichen und sachlichen Parallelen Lev 9,22ff. bieten, zumal Ex 19,18 und Lev 9,24 die einzigen 92

WEVERS 1990: 297: „it hides God’s presence so that no one can see him, and it permits the people to hear him when he speaks to Moses.“ 93 Für dieses Motiv des Glaubens vgl. besonders Ex 4,1.5.8.9.31; 14,31. Im Pentateuch wird „glauben an (Mose oder Gott)“ stets mit dem Dativ ausgedrückt (vgl. Gen 15,6; 45,26; Ex 4,1.5.8.9.31; 14,31; Num 14,11; 20,12; Dtn 9,23; 28,66). 94 Allerdings lesen wenige Mss mit LXX ‫ ָה ָ ם‬. Vgl. auch TgFrag V Ex 19,18: „And all the people who were in the camp trembled.“ 95 So auch LAB 11,4: „und Entsetzen entstand im ganzen Volk, das im Lager war“ (pavorque factus est in omni populo, qui erat in castris). 96 In Angleichung an Lev 9,24 sollte man hier wohl besser übersetzen mit „das ganze Volk geriet außer sich“.

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Stellen im Pentateuch sind, wo ὁ λαὸς das Subjekt des Verbs ἐξίστηµι ist. Am Ende der feierlichen Einsetzung Aarons und seiner Söhne in ihren Priesterdienst erscheint die Herrlichkeit des Herrn dem ganzen Volk (V.23; vgl. Lev 9,4.6), vermutlich um das Heiligtum inklusive des Kultes in seiner Legitimität zu bestätigen.97 Direkt im Anschluss an diese Notiz ist davon die Rede, dass Feuer vom Herrn ausging, welches das Brandopfer und die Fettstücke auf dem Altar verzehrt (V.24). Herrlichkeit und Feuer werden somit verknüpft, so wie es auch im Erzählzusammenhang der Sinaitheophanie an Stellen wie Ex 19,18 und 24,17 (vgl. auch Ex 40,28–32) geschieht, jedoch nicht in der gleichen Deutlichkeit wie in Ex 24,17. Allerdings könnte man das καί als epexegetisches „und“ verstehen. Folglich bestünde die Manifestation der Herrlichkeit eben in jenem Feuer.98 Dafür sprechen folgende Beobachtungen: Nicht schon am Ende von V.23, sondern erst in V.24 wird berichtet, dass das Volk außer sich gerät (ἐξέστη; MT: „jauchzten“ [‫ ;] ָיּר ֹנּוּ‬vgl. Ex 19,18 LXX), obwohl doch die Herrlichkeit Gottes wohl kaum weniger staunenswert ist als Feuer. Außerdem scheinen die Elemente des folgenden Satzes aus V.23 mit denjenigen aus V.24 zu korrespondieren: V.23 καὶ V.24 καὶ

ὤφθη ἡ δόξα κυρίου εἶδεν (das Feuer vom Herrn)

παντὶ τῷ λαῷ πᾶς ὁ λαὸς

Demgemäß könnte man Ex 19,18 in Verbindung mit Lev 9 lesen, sodass die Sinaitheophanie in einem kultischen Rahmen (der natürlich mit dem Zeltheiligtum bzw. Tempel zusammenhängt) erscheint. Ex 19,21f. zufolge darf sich das Volk Gott, der auf dem Berggipfel ist, nicht „nähern“ (ἐγγίσωσιν πρὸς τὸν θεὸν), um „(ihn) wahrzunehmen“ (κατανοῆσαι). Die Priester dagegen, die sich Gott „nähern“ (οἱ ἐγγίζοντες), müssen sich „heiligen“ (ἁγιασθήτωσαν), „damit der Herr sich nicht von ihnen abwende“ (ἀπαλλάξῃ99; MT: „damit nicht JHWH in sie einbricht]). Diese Anweisung zur Heiligung der Priester am Sinai passt zu den späteren Anordnungen zur Heiligung der Priester, die im Zelt- und dann im Tempelheiligtum ihren Dienst verrichten (Ex 28,37; 29,1.21.27), und ist somit als ein weiterer Hinweis auf den Sinai als Heiligtum zu werten. In Ex 20,18 wird die Reaktion des ganzen Volkes berichtet, als es „die Stimme und die Fackeln und die Posaunenstimme und den rauchenden Berg sah“ (πᾶς ὁ λαὸς ἑώρα [Ipf.] τὴν φωνὴν καὶ τὰς λαµπάδας100 καὶ τὴν φωνὴν τῆς 97

Vgl. RENDTORFF 2004: 301; TgPs-J Lev 9,23. Vgl. WEVERS 1997: 127f. und zum MT RENDTORFF 2004: 301, der mit der Herrlichkeit sowohl Feuer als auch die Wolke assoziiert. 99 Im LXX-Pentateuch nur hier. Die anderen Vorkommen (I Sam 14,29; 3Makk 6,30; 4Makk 9,16; Hiob 3,10; 7,15; 9,12.34; 10,19; 27,5; 34,5; Weish 12,2.20; Jes 10,7; Jer 39,31) helfen für die Interpretation nicht weiter. 100 Im LXX-Pentateuch nur noch in Gen 15,17. Die Perikope vom Bund Gottes mit Abraham erinnert insgesamt stark an die Sinaitheophanie und den Sinaibund (für diese 98

2. Digression

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σάλπιγγος καὶ τὸ ὄρος τὸ καπνίζον): Weil sie sich fürchteten (φοβηθέντες; MT: „(das Volk) sah“ [‫)]וַ ַיּ ְרא‬, blieben sie von Ferne stehen. Auffällig ist hier (u.a.) ein Doppeltes: Erstens, die LXX hat im Unterschied zum Plural im MT den Singular ἡ φωνή.101 Zweitens, sie verbindet ebenso wie der MT das Verb „sehen“ mit ἡ φωνή (und dann auch mit ἡ φωνή τῆς σάλπιγγος; zu den Fackeln und zum rauchenden Berg passt das ja noch ganz gut).102 Von besonderer Relevanz für die Frage nach Aktualisierungstendenzen in der Sinaierzählung ist Ex 24,9–11, da die Differenzen zwischen LXX und MT an dieser Stelle sehr aufschlussreich sind. Nach dem Bundesschluss, bei dem das Volk zweimal seine Absicht bekundet (Ex 24,3fin.7fin), alle Worte des Herrn „zu tun und zu hören“ (ποιήσοµεν καὶ ἀκουσόµεθα)103, dürfen Mose, Aaron, Nadab und Abiud sowie siebzig vom Ältestenrat Israels (ἑβδοµήκοντα τῆς γερουσίας Ισραηλ; MT hat „siebzig von den Ältesten Israels“ [‫)] ִמזִּ ְקנֵ י ִי ְשׂ ָר ֵאל‬ hinaufsteigen. Doch sie sahen nicht „den Gott Israels“ (Ex 24,10 MT), sondern „den Ort, wo der Gott Israels sich hingestellt hatte“ (καὶ εἶδον τὸν τόπον οὗ εἱστήκει ἐκεῖ ὁ θεὸς τοῦ Ισραηλ).104 Die Beschreibung dessen, was „unter seinen Füßen“ war, weicht nur geringfügig vom MT ab. Wichtiger ist dann V.11: Zwar werden auch hier die Ausgewählten Israels erwähnt, aber von ihrer Verschonung durch Gott ist nicht die Rede. Stattdessen heißt es: „und von den Ausgewählten Israels fehlte auch nicht einer“. Daran schließt sich Folgendes an: „und sie erschienen an dem Ort Gottes, und sie aßen und tranken“ (καὶ τῶν ἐπιλέκτων τοῦ Ισραηλ οὐ διεφώνησεν οὐδὲ εἷς καὶ ὤφθησαν ἐν τῷ τόπῳ τοῦ θεοῦ καὶ ἔφαγον καὶ ἔπιον).

Verbindung vgl. u.a. 4Q158 Frg. 4 [die Angabe 1Q158 Frg. 4 bei MAIER 1995 II: 60 ist wohl ein Schreibfehler]; Mek Bachodesch 9 zu Ex 20,18; bemerkenswert ist auch PSEUDO-PHILOS Bezug zum Tempel und Jerusalem in seiner Wiedergabe der Gottesrede an Abraham in LAB 23,6f. ). 101 Innerhalb des Pentateuch taucht der Plural ‫ =( קּוֹ ת‬Donner) nur in Ex auf (Ex 9,23.28f.33f; 19,16; 20,18). Die LXX gibt ‫ קּוֹ ת‬in Ex bis auf 20,18 immer mit dem Plural von φωνή wieder. 102 WEVERS erklärt Letzteres folgendermaßen: „The verb [sc. ἑώρα] must here be taken in the sense of ‚to perceive, experience, ‘ since the objects of the verb are auditory and visual ones“ (1990: 314f.). Allerdings zeigt z.B. PHILOS auf der LXX basierende Interpretation dieser Stelle (z.B. Dec 47f.), dass das „Sehen“ der Stimme durchaus wörtlich verstanden werden konnte. 103 Vgl. Ex 19,8. Im MT fehlt „und zu hören“ sowohl in Ex 24,3.7 als auch in Ex 19,8. Möglicherweise liegt der Grund für diese Hinzufügung darin, eine Verknüpfung zu Ex 19,5ff. herzustellen, sodass die Bereitschaft des Volkes, wirklich auf Gottes Stimme zu hören (Ex 19,5) und so ein λαὸς περιούσιος ἀπὸ πάντων τῶν ἐθνῶν und ein βασίλειον ἱεράτευµα καὶ ἔθνος ἅγιον sein zu wollen (Ex 19,6), unterstrichen werden soll. 104 Symmachus liest καὶ εἶδον ὁράµατι τὸν θεὸν Ἰσραήλ; Aquilla hat erstaunlicherweise καὶ εἶδον ὁράµατι τὸν θεὸν Ἰσραήλ (vgl. FIELD 1875: 122).

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3. Kapitel: Die Rezeption der Sinaitradition in Joh 5,37f.

Eine von der konventionellen Erklärung dieser Wiedergabe105 – meist mit Hinweis auf Ex 33,20 und der in der LXX zum Ausdruck kommenden Scheu vor einem direkten Sehen Gottes durch Menschen – abweichende Interpretation bietet Hayward106: Die vom MT differierende Wortwahl der LXX in Ex 24,10f. kommt ganz offensichtlich aus dem Bereich des Heiligtums/Tempels und weist dorthin. Die Formulierung in V.11 καὶ ὤφθησαν ἐν τῷ τόπῳ τοῦ θεοῦ stellt einen Bezug zu den Wallfahrtsgeboten in Ex 23,17; 34,23 her, wonach jeder Israelit drei Mal im Jahr vor Gott erscheinen muss. Dass dieses „Erscheinen“ im Tempel geschieht, macht dann Dtn 16,16 deutlich, wo auch „der Ort“, von dem in Ex 24,10f. die Rede war, erwähnt wird: − Ex 24,11: Und von den Ausgewählten Israels fehlte auch nicht einer. Und sie erschienen an dem Ort Gottes (καὶ ὤφθησαν ἐν τῷ τόπῳ τοῦ θεοῦ)… − Ex 23,17: Zu drei festen Zeiten im Jahre soll alles Männliche bei dir vor dem Herrn, deinem Gott, erscheinen (ὀφθήσεται πᾶν ἀρσενικόν σου ἐνώπιον κυρίου τοῦ θεοῦ σου). − Ex 34,23: Zu drei festen Zeiten im Jahre soll alles Männliche bei dir vor dem Herrn, dem Gott Israels erscheinen (ὀφθήσεται πᾶν ἀρσενικόν σου ἐνώπιον κυρίου τοῦ θεοῦ Ισραηλ). − Dtn 16,16: Drei Mal im Jahr soll jeder Mann von dir vor dem Herrn, deinem Gott, an dem Ort erscheinen (ὀφθήσεται πᾶν ἀρσενικόν σου ἐναντίον κυρίου τοῦ θεοῦ σου ἐν τῷ τόπῳ), den der Herr sich erwählen wird: am Fest der ungesäuerten (Brote) und am Wochenfest und am Laubhüttenfest… Daraus schließt Hayward zu Recht: „Readers of LXX of Exod 24:10 might reasonably suppose, therefore, that ‚the place where the God of Israel stood‘ was the sanctuary“107. Diese Schlussfolgerung wird durch eine faktische Lektüre von Ex 24,10, wie sie Ps 131,7 LXX bietet, bestätigt: „Wir werden in sein Zelt eintreten, werden an den Ort niederfallen, wo seine Füße standen“ (εἰσελευσόµεθα εἰς τὰ σκηνώµατα αὐτοῦ προσκυνήσοµεν εἰς τὸν τόπον οὗ ἔστησαν οἱ πόδες αὐτου; MT: „lasst uns niederfallen vor dem Schemel seiner Füße!“ [‫)]נִ ְשׁ ַתּ ֲחוֶ ה ַל ֲהד ֹם ַרגְ ָליו‬. Die verbalen Übereinstimmungen sind frappierend.108 Die Phrase „der Ort, wo seine [sc. Gottes] Füße standen (ἔστησαν)“ (Ps 131,7 LXX) weist eindeutig auf Ex 24,10. Aufgrund des in dem besagten Psalm nachfolgenden Verses (Ps 132[131],8) und Stellen wie 1Chr 28,2 und Ex 25,22 lässt sich dieser „Ort“ problemlos auf die Bundeslade und die Cherubim im Allerheiligsten beziehen.109 105

Stellvertretend sei hier FELSCH 2011: 124 genannt. HAYWARD 2008: 274f. 107 HAYWARD 2008: 274. 108 Auch bei PHILO, somn. I 62–63 ist diese Verbindung zwischen dem „Ort, wo Gott stand“ (Ex 24,10) und dem Ort, den er sich als Heiligtum erwählen würde, erkennbar. 109 Vgl. HAYWARD 2008: 275. 106

2. Digression

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Einen weiteren kleinen Hinweis für einen Heiligtums- bzw. Tempelbezug in der Sinaierzählung der LXX kann man in der gerinfügigen Abweichung vom MT in Ex 19,9 sehen.110 Gott kündigt in Ex 19,9 sein Erscheinen an; gemäß dem MT in einer „dichten Wolke“ (‫) ְבּ ַ ב ֶה ָ נָ ן‬, nach der LXX jedoch in einer „Wolkensäule“ (ἐν στύλῳ νεφέλης). Möglicherweise ist dies eine Anpassung der LXX an Ex 13,21.22; 14,19.24, wo στύλῳ νεφέλης das hebräische ‫ַ מּוּד ָ נָ ן‬ wiedergibt. Allerdings ist in jenen Versen keine Rede davon, dass Gott aus der Wolkensäule spricht. Dies ist aber der Fall in Ps 99,7 MT: „In der Wolkensäule redete er zu ihnen (‫) ְבּ ַ מּוּד ָ נָ ן יְ ַד ֵבּר ֲא ֵל ֶיהם‬. Sie bewahrten seine Zeugnisse und die Ordnung, die er ihnen gegeben hatte.“ Aufgrund dessen, dass in Ps 99,6 Mose und Aaron (beide sind unter seinen Priestern) erwähnt werden, ist der Bezug zur Sinaiepisode klar. Direkt vor diesem Hinweis auf das göttliche Reden aus der Wolkensäule erfolgte die Aufforderung zur Anbetung vor „dem Schemel seiner Füße“ (προσκυνεῖτε τῷ ὑποποδίῳ τῶν ποδῶν αὐτοῦ). Der „Schemel seiner Füße“ ist natürlich die Bundeslade und evoziert die Cherubim (vgl. Ps 99,1) und schließlich das Zeltheiligtum bzw. den Tempel (vgl. 1Chr 28,2; Ps 132,5– 7). Nimmt man noch Ex 33,9 hinzu, wo Heiligtum, Reden Gottes und Wolkensäule ebenfalls verbunden werden, verstärkt das die Beziehung von Sinai und Heiligtum. Ex 24,16 zufolge stieg die Herrlichkeit Gottes (ἡ δόξα τοῦ θεοῦ)111 auf den Berg hinab, der zugleich von der Wolke verhüllt wird. Für die Israeliten, die dem Berg gegenüberstehen, war „das Aussehen“ oder „die Erscheinung“ (τὸ εἶδος)“ dieser „Herrlichkeit“, die sich auf dem Gipfel befand, „wie loderndes Feuer“ (ὡσεὶ πῦρ φλέγον; V.17). Diese Stelle ist von großer Bedeutung, da hier der enge Zusammenhang zwischen der Herrlichkeit Gottes, der Wolke, dem Feuer und den steinernen Tafeln mit dem Gesetz deutlich wird.112 Dieser Zusammenhang verweist u.a. auf die Gegenwartsweise Gottes nach dem Sinaiaufenthalt in Kontinuität zu diesem, wie sie programmatisch in Ex 40,28f.32 dargestellt wird:113 28

Und die Wolke verhüllte das Zelt des Zeugnisses, und das Zelt wurde erfüllt von der Herrlichkeit des Herrn; 29 und Mose vermochte nicht, in das Zelt des Zeugnisses hineinzugehen, weil die Wolke es überschattete und das Zelt erfüllt war von der Herrlichkeit des Herrn … 110

Zum Folgenden vgl. HAYWARD 2008: 274, Anm. 13. Das Syntagma δόξα τοῦ θεοῦ kommt so im Pentateuch nur hier vor. In anderen Verbindungen oder allein begegnet δόξα im Pentateuch dagegen häufiger (vgl. Gen 31,1.16; 45,13; Ex 15,7.11; 16,7.10; 24,16f; 28,2.40; 29,43; 33,5.18f.22; 40,34f; Lev 9,6.23; Num 12,8; 14,10.21f; 16,19; 17,7; 20,6; 23,22; 24,8.11; 27,20; Dtn 5,24 [der einzige Beleg in Dtn!]). In den meisten Fällen handelt es sich um die δόξα Gottes. Zu δόξα in der LXX insgesamt (und darüber hinaus) vgl. CHIBICI-REVNEANU 2007: 360–464. 112 Interessant ist, dass die in der LXX relativ seltene Phrase πῦρ φλέγον u.a. noch in Jer 23,29 begegnet (daneben noch in Ps 103,4; vgl. Dan [Th] 7,9): „Sind nicht meine Worte (MT hat Sg.) wie loderndes Feuer, spricht der Herr …“ 113 Vgl. auch Haupttext vor Fußnote 69 in diesem Kapitel. 111

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32 Denn die Wolke war tagsüber auf dem Zelt und Feuer war auf ihm nachts, vor ganz Israel auf all seinen Wanderungen.

Am Ende des Berichtes vom Bau des Zeltheiligtums werden u.a. das Motiv der Wolke und des Feuers als Ausdruck der Herrlichkeit Gottes wieder aufgegriffen in Kombination mit „dem Zelt des Zeugnisses“, d.h. mit dem Zeltheiligtum, wo die Tafeln mit dem von Gott verschrifteten Dekalog als Zeugnisse aufbewahrt wurden. Die Nacherzählung der Sinaitheophanie in Dtn weist schon im MT deutliche Tendenzen zur Aktualisierung des Sinaigeschehens auf. Diese werden in der LXX noch stärker betont. So fügt die LXX in ihrer Übersetzung von Dtn 4,1f. „heute“ (σήµερον) ein:114 1 Und nun, Israel, höre auf die Rechtssätze und auf die Rechtssatzungen, die ich euch heute zu tun lehre, damit ihr lebt und, nachdem ihr hineingegangen seid, das Land erbt, das der Herr, der Gott eurer Väter, euch gibt. 2 Ihr sollt zu dem Wort, das ich euch gebiete, weder etwas hinzufügen noch etwas davon entfernen. Haltet die Gebote des Herrn, eures Gottes, alle, welche ich euch heute gebiete.

Daneben schaffen diese Verse eine Art Unterrichts- bzw. Unterweisungskontext für die mosaische Nacherzählung der Sinaitheophanie und des Dekalogs, da Israel aufgefordert wird zum Hören auf die Rechtssätze und auf die Rechtssatzungen, die Mose sie heute lehrt (διδάσκω ὑµᾶς σήµερον)115. Der ἵνα-Satz in V.1 gibt das Ziel dieser Unterweisung an: „damit ihr lebt (ζῆτε) und, nachdem ihr hineingegangen seid, das Land erbt, das der Herr, der Gott eurer Väter, euch gibt“. In Dtn 4,9f. wird die Belehrung über das Sinaigeschehen einschließlich der Worte Gottes explizit befohlen. So sollen πάντας (dazu hat MT kein Äquivalent) τοὺς λόγους (MT: ‫) ַה ְדּ ָב ִרים‬, „die deine Augen gesehen haben“, im Gedächtnis bleiben. „The expression ‚(the matters) which your eyes have seen‘ means ‚which you have experienced‘.“116 Die nachfolgende Ermahnung, dass sich die Worte „nicht entfernen von deinem Herzen während aller Tage deines Lebens“ (µὴ ἀποστήτωσαν ἀπὸ τῆς καρδίας σου πάσας τὰς ἡµέρας τῆς ζωῆς σου) erinnert an Dtn 6,6, wenn man sie positiv formuliert: … damit die Worte dauerhaft „in deinem Herzen“ bleiben. Ausdrücklich geboten wird hier auch die Unterweisung über den „Tag, an dem ihr vor dem Herrn, eurem Gott, am Horeb am Tage der Versammlung standet“, d.h. Sinaitheophanie und Tora gehören in der Belehrung zusammen, wie schon in der mosaischen Unterweisung selbst evident ist (Dtn 4f.). Auf das Lehren (διδάξωσιν) und Lernen (µάθωσιν) der Gottesfurcht zielt denn auch das Hören der Worte Gottes (τὰ ῥήµατά µου) am Sinai 114

WEVERS 1995: 67: „The addition is ex par.“ Man beachte den Hinweis auf den Synagogenunterricht in der Diaspora in DOGNIEZ/HARL 1992: 133: „En période hellénistique, le terme tà didaskaleîa désigne les synagogues, écoles de sagesse.“ 116 WEVERS 1995: 71. 115

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(vgl. die Rede Gottes in V.10). Bemerkenswert ist, dass die Adressaten der Moserede am Sinai gar nicht anwesend waren, jedoch so angesprochen werden, als wären sie „am Tage der Versammlung“ (τῇ ἡµέρᾳ τῆς ἐκκλησίας117; dies fehlt im MT) dort gewesen.118 Offenbar reicht die Nacherzählung der Sinaiepisode aus, um die Angesprochenen in jenes Geschehen am Sinai bzw. Horeb vor Gott zu versetzen. Kurz werden in Dtn 4,11 einige Phänomene jenes Geschehens erwähnt, um dann in V.12ff. auf die zentrale Mahnung, das Bilderverbot, zu sprechen zu kommen: „Und der Herr sprach zu euch aus der Mitte des Feuers (ἐλάλησεν κύριος πρὸς ὑµᾶς ἐκ µέσου τοῦ πυρός). Ihr hörtet den Klang der Worte (φωνὴν ῥηµάτων ὑµεῖς ἠκούσατε), aber ihr saht keine Gestalt (καὶ ὁµοίωµα οὐκ εἴδετε), nur den Klang (ἀc ᾽ ἢ φωνήν).“ Dtn 4,12 hält hierbei fest, dass Gott aus der Mitte des Feuers119 zu Israel gesprochen hat. Visuelle und auditive Aspekte werden in dieser Aussage also zusammengehalten, wenngleich sofort im Anschluss der auditive Aspekt durch Wiederholung betont wird. Zugleich wird ausgeschlossen, dass eine „Gestalt“ bzw. ein „Abbild“ (ὁµοίωµα) am Sinai sichtbar war. Der Relationsbegriff ὁµοίωµα weist dabei auf das generelle Bilderverbot hin (vgl. Ex 20,4; Dtn 5,8), das in Dtn 4,16ff. näher bestimmt wird. Dtn 4,36 lässt keinen Zweifel daran, dass das Volk die Stimme Gottes gehört, sein Feuer gesehen und die Worte Gottes von ihm selbst, der im Feuer „verhüllt“ war, vernahm120: Aus dem Himmel erschallte hörbar seine Stimme (wörtl.: aus dem Himmel wurde seine Stimme hörbar [ἐκ τοῦ οὐρανοῦ ἀκουστὴ ἐγένετο ἡ φωνὴ αὐτοῦ])121, um dich zu erziehen, und auf der Erde zeigte er dir sein großes Feuer (καὶ ἐπὶ τῆς γῆς ἔδειξέν σοι τὸ πῦρ αὐτοῦ τὸ µέγα), und seine Worte hörtest du aus der Mitte des Feuers (καὶ τὰ ῥήµατα αὐτοῦ ἤκουσας ἐκ µέσου τοῦ πυρός).

Hier begegnen in komprimierter Form drei zentrale Elemente der Sinaitheophanie: das hörbare Erschallen der Stimme Gottes, das Sehen des Feuers (welches dem Zeigen desselben korrespondiert) und das Hören der Worte Gottes. Dtn 5,4f.22ff. unterstreicht die Wichtigkeit des Motivs der Stimme bzw. des Redens Gottes aus dem Feuer. Beachtenswert ist, neben der Häufung des Motivs in diesen Versen, dass in Dtn 5,24 die δόξα Gottes (singulär in Dtn) 117

Vgl. im Pentateuch nur noch Dtn 9,10; 18,16. Man beachte auch, dass die LXX, anders als in V.9 und anders als der MT in V.9f. (2.Sg.), die (inklusivere?) 2. Person Plural in V.10 benutzt. 119 Vgl. Dtn 4,24 („Denn der Herr, dein Gott, ist ein verzehrendes Feuer, ein eifersüchtiger Gott“); Jes 30,27; 33,14. 120 Vgl. Dtn 5,22. 121 MT: „seine Stimme hat er dich hören lassen“ (‫) ִה ְשׁ ִמ י ֲ ) ֶא ת־קֹלוֹ‬. Zu dieser Abweichung bietet WEVERS folgende Erklärung: „It is hardly probable that the translator was avoiding making God the subject for theological reasons since in the very next clause he is active in ἔδειξέν σοι. More probable is the translator’s desire for a stricter parallel with the last clause in which a second person verb is used, ἤκουσας“ (1995: 88). 118

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erwähnt wird. Gemäß dem Zusammenhang wird mit δόξα wahrscheinlich das Feuer gemeint sein, von dem so häufig die Rede ist. Dies aber weist auf Ex 24,17, wo festgehalten wird, dass das Aussehen der Herrlichkeit des Herrn wie Feuer war. Mit Blick auf Joh 5,37f. erwähne ich noch Dtn 6,6, wo das Sein der Worte „im Herzen und in der Seele“ geboten wird, wenngleich sich dieses Gebot strenggenommen nicht nur auf die zehn Worte bezieht: „Und diese Worte (τὰ ῥήµατα ταῦτα), die ich dir heute gebiete, sollen in deinem Herzen (ἐν τῇ καρδίᾳ σου) und in deiner Seele sein (καὶ ἐν τῇ ψυχῇ σου [kein Äquivalent im MT]).“ Nach Wevers ist damit gemeint, dass „not only that you will always remember them (ἐν τῇ καρδίᾳ σου), but they will also become part of you, they will be in your ψυχῇ“122. Bisher wurde u.a. deutlich, dass der Berg Sinai, auf dem Gott seine Herrlichkeit wie bzw. als Feuer zeigte, seine Stimme hören ließ und sein Wort gab, Charakteristika des Heiligtums aufwies. Erhellend ist, dass Indizien existieren, die dafür sprechen, dass das Zeltheiligtum (und damit auch der Tempel auf dem Berg Zion) gemäß der LXX der Ort ist, wo Gott in Kontinuität zum Berg Sinai erscheint.123 Zu Beginn der Instruktionen zum Bau des Zeltheiligtums wird Mose an einer zentralen Stelle befohlen (Ex 25,7): „Und du sollst mir ein Heiligtum machen, und ich werde unter euch erscheinen (καὶ ὀφθήσοµαι ἐν ὑµῖν).“ Im MT lautet dieser Vers (25,8): „Und sie sollen mir ein Heiligtum machen, damit ich in ihrer Mitte wohne (‫תוֹכם‬ ָ ‫)וְ ָשׁ ַכנְ ִתּי ְבּ‬.“ Die LXX hat bei der Angabe des Zwecks der Anordnung „erscheinen“ (ὀφθήσοµαι) statt „wohnen“ bzw. „zelten“ (‫) ָשׁ ַכנְ ִתּי‬. Typischerweise geben die Übersetzer die Wurzel ‫ שׁכן‬mit einer Form von κατοικεῖν wieder,124 d.h. sie wissen um ihre eigentliche Bedeutung.125 So übersetzen sie jene Wurzel in Num 14,30 und 35,34 ganz wörtlich mit „(in einem Zelt o.ä.) wohnen“ (κατασκηνώσω). Umso auffälliger ist daher ihre Wiedergabe in Ex 25,7. Allerdings ist sie nicht völlig singulär, sondern findet sich noch in Dtn 33,16b: „…Und das, was dem, der im Dornbusch erschien (τῷ ὀφθέντι), angenehm ist, möge über das Haupt Josephs kommen, und der, der geehrt wird unter den Brüdern, (sei) an der Spitze.“ Hier steht für das hebräische Partizip ‫„( שׁ ְֹכנִ י‬der, der wohnt“) das griechische Partizip τῷ ὀφθέντι („der, der erschien“). Dabei bezieht sich die Charakterisierung Gottes als „der, der im Dornbusch erschien“ augenscheinlich auf Ex 3,2: „Es erschien ihm aber ein Bote des Herrn im Feuer einer Flamme aus dem Dornbusch, und er sieht, dass der Dornbusch im Feuer brennt, aber der Dornbusch verbrannte nicht.“ Es wird 122

WEVERS 1995: 115. Im Folgenden orientiere ich mich besonders an HAYWARD 2005: 385–400. 124 In Gen ist dies durchgängig der Fall (vgl. Gen 3,24; 9,27; 14,13; 16,12; 25,18; 26,2; 35,22; 49,13). 125 Vgl. HAYWARD 2005: 386. 123

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berichtet, dass auf dem Berg Horeb (V.2), auf heiligem Boden (V.5), ein Engel des Herrn bzw. der Herr selbst (vgl. ab V.4) dem Mose im Feuer aus dem Dornbusch „erschien“ (ὤφθη); vielleicht soll dies eine Vorwegnahme der späteren Sinaitheophanie sein.126 Ex 3,6.13.15f will zeigen, dass derjenige, der Mose am Horeb „erscheint“, derselbe Gott ist, der auch den Patriarchen „erschienen“127 ist. Von hierher gesehen dient die Abweichung der LXX vom MT in Ex 25,8 einem doppelten Zweck:128 Erstens, die Erscheinung Gottes im Heiligtum wird rückgebunden an seine Erscheinung am Horeb bzw. Sinai (Ex 3; indirekt vielleicht auch an die am Sinai vor dem ganzen Volk [Ex 19–20; 24]), dann aber über Ex 3 auch an die Erscheinungen Gottes in der Patriarchenzeit. Folglich steht sie in Kontinuität zu jenen. Zweitens, es soll klar werden, dass Gott nun nicht mehr an vielen verschiedenen Orten oder Heiligtümern, sondern in dem einen Heiligtum gesehen werden will, das gemäß Lev 9,4.6.23; 16,2; Num 14,10; 16,19 (MT und LXX) der Ort ist, wo Gott erscheint. Ein mit dem Gesehenwerden Gottes verwandtes Motiv taucht in Num 6,26 auf, im Rahmen der Anweisungen zum Priestersegen (Num 6,22–27). Dort heißt es im MT (V.25): „JHWH lasse sein Angesicht über dir leuchten (‫) ָי ֵאר‬ und sei dir gnädig!“ Die LXX übersetzt „leuchten“ (‫ )יָ ֵאר‬durch das Verb „erscheinen“ (ἐπιφάναι): „Der Herr lasse sein Angesicht über dir aufstrahlen (oder erscheinen [ἐπιφάναι]) und erbarme sich deiner.“ Die Bitte um eine Epiphanie Gottes ist sehr untypisch, da die Übersetzer des Pentateuchs Epiphanie-Terminologie sehr spärlich einsetzen.129 Aufschlussreich ist daher, dass sie diese in Gen 35,7 und Dtn 33,2 gebrauchen. In der ersten Stelle wird erzählt, wie der Patriarch Jakob einen Altar baute und den Ort Bethel nannte, weil Gott ihm dort erschienen war (ἐπεφάνη; MT hat „sich (ihm) geoffenbart hatte“ [‫)]נִ גְ לוּ‬. Dies stellt einen Rückverweis auf Gen 28,12–13 dar, wo es um die Vision Jakobs geht. Darin sieht er eine von der Erde zum Himmel reichende Leiter, auf der die Engel hinauf und hinabsteigen, an deren Spitze Gott steht. Dtn 33,2, die zweite Stelle, wo das Verb ἐπιφαίνω im Pentateuch Verwendung findet, steht

126

Vgl. TgPs-J Ex 3,5.12 (s. Haupttext nach Fußnote 162 in diesem Kapitel). Schon ARISTOBUL, Fragment 2 liest die Sinaierzählung offenbar in Verbindung mit der Episode vom brennenden Dornbusch, wenn er davon redet, dass das Feuer am Sinai „ohne materiellen Brennstoff loderte, also ohne irgend etwas zu verzehren“ (Übersetzung: WALTER 1975: 273). 127 Vgl. Gen 17,1; 18,1; 26,2.24; 35,1.9; 48,3. 128 Zum Folgenden vgl. HAYWARD 2005: 387. 129 Sowohl das Substantiv ἐπιφάνεια (nach BA s.v. ἐπιφάνεια, 615 u.a. „relig.[öser] t.[erminus] t.[echnicus]“) als auch das dazugehörige Adjektiv ἐπιφανής tauchen im LXX-Pentateuch nicht auf, möglicherweise aufgrund der Konnotationen aus dem religiösen Umfeld (vgl. HAYWARD 2005: 391). Vgl. dagegen die Erzählung von den Erscheinungen Gottes, um sein Volk und den Tempel vor den Feinden Israels zu retten in 2Makk 3,24–30; 14,15; 15,27–36.

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3. Kapitel: Die Rezeption der Sinaitradition in Joh 5,37f.

im Kontext des Segens Moses. Nach dem MT sagt Mose mit Blick auf die Sinaitheophanie: Dtn 33,2 MT

Dtn 33,2 LXX

?‫הוֹפ ַי‬ ִ ‫אמר ְיהוָ ה ִמ ִסּ ינַ י ָבּא וְ זָ ַרח ִמ ֵשּׂ ִ יר ָלמוֹ‬ ַ ֹ ‫וַ יּ‬ ‫ימינוֹ‬ ִ ‫ארן וְ ָא ָתה ֵמ ִר ְבבֹת ק ֶֹדשׁ ִמ‬ ָ ‫ֵמ ַהר ָפּ‬ ‫) ֵא ְשׁ ָדּת( ] ֵאשׁ[ ] ָדּת[ ָלמו‬

καὶ εἶπεν κύριος ἐκ Σινα ἥκει καὶ ἐπέφανεν ἐκ Σηιρ ἡµῖν καὶ κατέσπευσεν ἐξ ὄρους Φαραν σὺν µυριάσιν Καδης ἐκ δεξιῶν αὐτοῦ ἄy ελοι µετ᾽ αὐτοῦ

JHWH kam vom Sinai und leuchtete ihnen auf von Seir. Er strahlte hervor vom Berg Paran und kam von heiligen Myriaden. Zu seiner Rechten war feuriges Gesetz für sie.

Und er sagte: Der Herr ist gekommen vom Sinai, und er erschien uns aus Seir, und zusammen mit Zehntausenden von Kades eilte er vom Gebirge Pharan herbei, Engel sind bei ihm zu seiner Rechten.

Zur Wiedergabe von ‫ זָ ַרח‬verwendet die LXX ἐπέφανεν. Das schwer verständliche hebräische ‫ ֵא ְשׁ ָדּת‬, das im MT als „feuriges Gesetz“ interpretiert wird, versteht die LXX im Sinne von „Engel“. Sie waren bei der Theophanie am Sinai („Sinai“ nur hier in Dtn) zur Rechten Gottes präsent.130 Wenn die LXX im Priestersegen Epiphanie-Terminologie enthält, kann man in der Bitte um eine Epiphanie Gottes ein bestimmtes Verständnis des Zeltheiligtums und des Jerusalemer Tempels ausgedrückt sehen. Das Heiligtum auf dem Zion steht demnach in Kontinuität sowohl zum Berg Sinai, wo Gott sich offenbarte, um Israel seine Tora zu geben, als auch zu Bethel, dem „Haus Gottes“, wo der Stammvater Jakob in einer Epiphanie Erde und Himmel verbunden sah.131 Ein weiterer wichtiger Aspekt ist folgender:132 Die Bundeslade soll auf Befehl Gottes im Allerheiligsten platziert werden. Diese wird in der LXX regelmäßig als „Truhe der Zeugnisse“ bzw. „Truhe des Zeugnisses“ (κιβωτός τῶν µαρτυρίων bzw. τοῦ µαρτυρίου) bezeichnet (z.B. in Ex 30,6 und 40,19), um auf die zwei Steintafeln mit den zehn Worten zu verweisen, die Mose nach Ex 25,15 (vgl. Dtn 10,1–5) in die Truhe legen sollte. Die LXX charakterisiert das Zelt durch den Genitiv „des Zeugnisses“ (σκηνῇ τοῦ µαρτυρίου; MT: „Zelt der Begegnung“ [‫)]א ֶֹהל מוֹ ֵ ד‬, wahrscheinlich mit der gleichen Intention. Zu beachten ist, dass „Zeugnis“ und „Zeugnisse“ keinen unterschiedlichen Referenten haben. Gemäß MT Ex 25,22; 29,42f.; 30,6.36; Num 17,19 verheißt Gott Mose, dass er ihm innerhalb des Zeltheiligtums begegnen will. Der MT verwendet an den genannten Stellen für „treffen“ bzw. „begegnen“ die Wurzel ‫יעד‬ im Nifal. In der LXX dagegen ist, bis auf Ex 29,43 (dazu gleich mehr), immer davon die Rede, dass Gott sich „zu erkennen geben wird“ bzw. „zu erkennen 130

Zu den Abweichungen vom MT vgl. WEVERS 1995: 540. Vgl. HAYWARD 2005: 392. 132 Für das Folgende vgl. HAYWARD 2005: 393ff. 131

2. Digression

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gibt“ (γνωσθήσοµαί)133. Als Beispiel sei Ex 30,6 genannt: „Und du sollst sie (sc. die Opferstätte des Räucherwerks; V.1) aufstellen vor dem Vorhang, der bei der Truhe der Zeugnisse ist, von wo aus ich mich dir zu erkennen geben werde (ἐν οἷς γνωσθήσοµαί σοι ἐκεῖθεν).“ Die Übersetzung der Septuaginta Deutsch, die hier verwendet wurde, ist nicht ganz eindeutig, von wo aus sich Gott zu erkennen geben wird. Das Bezugswort von ἐν οἷς kann eigentlich nur der Genitiv τῶν µαρτυρίων („[der Truhe] der Zeugnisse“) sein. Wörtlich könnte man den Nebensatz dann übersetzen: „durch die (instrumental) / bei denen (lokal; gemeint sind die Zeugnisse) ich mich dir von dort her zu erkennen geben werde“. Damit käme ein Doppeltes zur Sprache:134 Zum einen wäre das Heiligtum (das Zelt bzw. der Tempel) aus Sicht der LXX der Ort, von wo Gott sich zu erkennen gibt. Zum anderen wäre diese Erkenntnis Gottes eng mit „den Zeugnissen“ verknüpft, d.h. mit den Steintafeln, die Mose am Sinai empfing und die in der Truhe aufbewahrt werden sollten. Gegen diese Deutung von ἐν οἷς erhebt sich jedoch ein Einwand. Kurz zuvor wurde die Phrase ἐν οἷς γνωσθήσοµαί σοι ἐκεῖθεν schon einmal verwendet (Ex 29,42; vgl. auch Ex 30,26). Dieser Vers einschließlich der beiden folgenden lautet: 42

[Als] ein eure Generationen hindurch fortwährendes Opfer [sollst du das zweite Lamm machen bzw. darbringen], am Eingang des Zeltes des Zeugnisses vor dem Herrn, von wo aus ich mich dir zu erkennen geben werde, um mit dir zu sprechen. 43 Und dort werde ich den Israeliten Anordnungen geben und ich will geheiligt werden, indem (ihr) mich preist (wörtl. ich werde geheiligt werden durch meine Herrlichkeit). 44 Und ich werde das Zelt des Zeugnisses und die Opferstätte heiligen, und Aaron und seine Söhne werde ich heiligen, damit sie mir Priesterdienste leisten.

In V.42a hat die LXX „Zelt des Zeugnisses“ (Sg.; MT: „Zelt der Begegnung“), um auf „das Zeugnis“, das sich im Zelt befand, hinzuweisen. Der folgende Relativsatz V.42b wird mit dem Plural „in denen“ bzw. „durch die“ (ἐν οἷς) angeschlossen. Dies ist überraschend, weil im Kontext ein passendes Bezugswort fehlt. Dem Zusammenhang nach geht es um die beiden täglichen „Feueropfer“. Sind vielleicht jene beiden Opfer mit ἐν οἷς oder „all the foregoing matters, presumably then […] the ταῦτά of v.38“135 gemeint? Meiner Meinung nach weist der vor ἐν οἷς erwähnte Genitivausdruck τῆς σκηνῆς τοῦ µαρτυρίου in eine andere Richtung. Man könnte nun gegen einen Bezug von ἐν οἷς auf τῆς σκηνῆς τοῦ µαρτυρίου die grammatische Inkongruenz geltend machen. Dies spricht jedoch nicht zwangsläufig gegen eine solche Beziehung. Entscheidend erhellt werden Ex 29,42f.; 30,6 und 30,36 von Ex 25. Dort gibt Gott Anweisungen zur Herstellung und Funktion der Truhe des Zeugnisses (Ex 25,9–21). In die Truhe sollen nach V.15 die Zeugnisse (τὰ µαρτύρια; MT: ‫ ) ָה ֵ ֻדת‬hineingelegt werden. Dies wird in V.20 wiederholt (wieder findet sich der Pl. τὰ µαρτύρια, MT: 133

Nach WEVERS (1990: 401, 486) wurde diese Abweichung mit Absicht vorgenommen. Vgl. HAYWARD 2005: 394 (auch für das folgende Zitat). 135 WEVERS 1997: 486. 134

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3. Kapitel: Die Rezeption der Sinaitradition in Joh 5,37f.

‫) ָה ֵ ֻדת‬. Im Anschluss daran sagt Gott in V.21: „Und ich werde mich dir von dort zu erkennen geben und ich werde mit dir von der Sühnestätte herab sprechen, (von der Stelle) zwischen den beiden Cherubim, die auf der Truhe des Zeugnisses sind, und (so werde ich tun) bei allem, was ich dir für die Israeliten gebieten werde.“ Der Ort, von wo aus sich Gott zu erkennen geben wird, ist demnach über der „Sühnestätte“, zwischen den beiden Cherubim. Diese befinden sich auf der Truhe mit den Zeugnissen bzw. dem Zeugnis. Von dort wird Gott „mit dir“ sprechen und bezüglich Israel Gebote erteilen (vgl. Ex 29,42f.). Es ist wahrscheinlich, dass Stellen wie Ex 29,42f.; 30,6 und 30,36 auf jene grundlegende Passage verweisen. Folglich erscheint das Heiligtum als „ein wandernder Sinai“136, oder um es mit Dohmen zu sagen: „ein beweglicher, ortsunabhängiger Offenbarungsort“137. Zu Ex 29,43f. sind noch folgende Anmerkungen zu machen: Die LXX weicht in V.43 von ihrer sonst üblichen Übersetzungspraxis ab, wenn sie „ich werde Anordnungen geben“ (τάξοµαι)138 für „ich werde begegnen“ (‫ )נֹ ַ ְד ִתּי‬hat anstatt des zu erwartenden „ich werde erkannt werden“ (γνωσθήσοµαί). Vielleicht soll dadurch eine Wiederholung im Ausdruck vermieden werden. Jedenfalls deckt sich die vorliegende Bedeutung des Verbs τάσσω mit der Bedeutung von ἐντέλλοµαι in Ex 25,21. Wevers erklärt τάξοµαι als „I will order, i.e. I will give further directions“ und fügt hinzu: „What is meant is that where God makes himself known so as to speak is where he will be in charge, will give instructions to the Israelites“139. Dem schließt sich Hayward an: „In this sense, it might rightly be said that the sanctuary becomes another Sinai, both a holy place and a place where God’s will is made known to his people.“140 Nach biblischem Verständnis geschieht dies durch die Priester, die Tora erteilen (vgl. u.a. Dtn 17,8–12). In V.43b ändert die LXX die Person des Verbs.141 Hatte der MT die 3. Sg. „es (sc. das Zelt) wird geheiligt werden“, heißt es in der LXX nun in der 1. Sg. mit Bezug auf Gott „ich werde geheiligt werden“ (ἁγιασθήσοµαι).142 Unklar ist, was der Satz καὶ ἁγιασθήσοµαι ἐν δόξῃ µου zu bedeuten hat. Die Septuaginta Deutsch übersetzt ἐν δόξῃ µου im Sinne eines objektiven Genitivs relativ frei mit „indem (ihr) mich preist“ und ergänzt dann eine etwas wörtlichere Übersetzung in der Anmerkung zu diesem Vers: „ich will geheiligt werden durch 136

JACOB 1997: 1032. DOHMEN 2004: 398. 138 Die wenigen Belege zu diesem Verb im Pentateuch (Gen 3,24; Ex 8,5.8) tragen für die Interpretation von Ex 29,43 nichts aus. 139 WEVERS 1990: 486. 140 HAYWARD 2005: 395. 141 Vgl. auch TgO und TgPs-J z.St. 142 Das Verb ἁγιασθήσοµαι kommt so im Pentateuch nur noch in Lev 10,3 und 22,32 vor. In der jüdischen Auslegungstradition (Raschi z.St.; TgPs-J Ex 29,43 und TgPs-J Lev 10,3) wurden Ex 29,43 und Lev 10,3 miteinander verknüpft (vgl. PRIJS 1948: 41f.). 137

2. Digression

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meinen Lobpreis“ (im Kultgottesdienst)143. Die Alternative wäre ἐν δόξῃ µου als subjektiven Genitiv „in/durch meine Herrlichkeit“ und die folgenden Verse als Konkretisierung aufzufassen. Demnach wird Gott sich heiligen lassen144 bzw. als heilig erweisen in/durch die Erscheinung seiner Herrlichkeit,145 indem jene das Zelt, die Opferstätte und die Priester heiligt (vgl. Ex 29,44: ἁγιάσω [2x]). Realisiert wird das, was Gott hier avisiert, am Ende von Ex, nachdem Mose alle Anweisungen bezüglich des Heiligtums ausgeführt hat (Ex 40,27): „Und die Wolke verhüllte das Zelt des Zeugnisses und das Zelt wurde erfüllt von der Herrlichkeit des Herrn […] [d]ie Wolke war tagsüber auf dem Zelt und Feuer war auf ihm nachts, vor ganz Israel auf all seinen Wanderungen.“146 Die Motive in Ex 29,42–46 von der Unterweisung der Israeliten von der Truhe mit den Zeugnissen, die im Zelt des Zeugnisses aufbewahrt wurden, und von der Herrlichkeit, die sich im Feuer manifestiert, weisen enge Parallelen auf zu der Schilderung der Gabe der Tora auf Steintafeln, als die Wolke und die Herrlichkeit auf den Berg Sinai herabkommen (Ex 24,12.16f.; vgl. auch Ex 40,28f.). Dies verstärkt das Bild des Sinai als eines Heiligtums. 2.4 Die Sinaitradition nach den Targumim Überblickt man die Überlieferung in den Targumim, kann man Hayward darin zustimmen, dass die aramäischen Übersetzungen zwar generell mit den in den hebräischen Schriften vorgegebenen „possible lines of communication between the sacred ceremonies accompanying the giving of the Torah at Sinai and the later Temple and its service“ übereinstimmen, gleichwohl Tendenzen erkennbar sind (besonders in TgO und TgPs-J), diese Verbindungslinien „with ideas of their own“147 zu verstärken. Diese Beobachtung wird in der folgenden Analyse der Targumim einen Schwerpunkt bilden. Zumindest erwähnt werden soll auch, dass in TgN, TgKG, TgFrag P und V „Torah study and prayer are equal to the service of the Temple: when Torah was given, not only was the service of the sanctuary apparent, but the world of academy, schoolhouse, and synagogue was present with it“148. Ex 19 wird komplett in sechs Targumim überliefert: TgO, TgPs-J, TgFrag P und V, TgKG, TgN. Ex 24 findet sich vollständig nur in TgO, TgPs-J, TgN. 143

Vgl. die Erklärung dazu in LXX.E 2011: 315. Zur Möglichkeit einer „kausativen“ Verwendungsweise des Passivs vgl. VON SIEBENTHAL 2011: §191h. 145 Vgl. WEVERS 1990: 487: „I would suggest that what is meant is ‚I will be seen as holy (i.e. recognized as God) by my splendour (i.e. through my appearance)‘.“ 146 Dies wird bestätigt durch die Beobachtung, dass δόξα in Verbindung mit dem Zeltheiligtum nach Ex 29,43 erst wieder in Ex 40,27f. erscheint (dazwischen kommt die δόξα natürlich in Ex 33 vor, jedoch nicht im Zusammenhang mit dem Zeltheiligtum). 147 HAYWARD 2008: 271. 148 HAYWARD 2008: 284 (entfaltet auf 275–278). 144

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TgFrag P hat Ex 24,10f. TgFrag V bietet nur Ex 24,10.149 Bei der Analyse der Targumim werde ich nur das erwähnen und diskutieren, was in signifikanter Weise vom MT abweicht. Die Targumim werden in nachstehender Reihenfolge behandelt: Zunächst TgO, dann TgPs-J und TgN, anschließend – soweit sie von diesen abweichen bzw. etwas ergänzen – TgFrag und die Targumim aus der Kairoer Genizah. Zu Beginn der Sinaierzählung in Targum Onqelos (TgO)150 wird Mose aufgefordert, das Volk an das zu erinnern, was Gott für Israel getan hat und wie er sie nahe zu seiner Verehrung gebracht hat (‫ולחנִ י‬ ָ ‫יבית יָ ְתכוֹן ְל ֻפ‬ ִ ‫ ;וְ ָק ֵר‬TgO Ex 19,4). Der MT hat „(wie) ich euch zu mir gebracht habe“ (‫)וָ ָא ִבא ֶא ְת ֶכם ֵא ָלי‬. Grossfeld zufolge lässt sich dies als Versuch verstehen, den direkten Kontakt zwischen Gott und Menschen (hier: Israel bei Gott) zu vermeiden.151 Allerdings kann man die Änderung ebenso gut darauf zurückführen, dass die (schon erwähnten) Verbindungslinien zwischen den Zeremonien am Sinai und denen im Tempel vertieft werden sollen. Dafür spricht, dass in TgO Ex 3,12 der kultische Aspekt des Sinaiaufenthaltes vorweggenommen und dabei das Verb ‫ ִתפלְ ֻחון‬verwendet wird, das verwandt ist mit dem in TgO Ex 19,4 begegnenden Substantiv ‫פלחן‬.152 Der gemeinte Gottesdienst erweist sich aufgrund von TgO Ex 19,6a („And you will be kings, priests, and a holy nation“) und TgO 19,22 („And even the priests, who approaches to minister before the Lord should sanctify themselves, lest the Lord shall kill of them“) als Priesterdienst, der natürlich integraler Bestandteil des Zeltheiligtums- bzw. Tempelkultes ist. Besonders in der interpretierenden Wiedergabe von Ex 24 zeigt sich TgO darum bemüht, die Verbindung zwischen Sinai und dem Zeltheiligtum bzw. späteren Tempel und seinem Opferkult zu unterstreichen. So sind es nach TgO Ex 24,5 „die Erstgeborenen (‫כוֹרי‬ ֵ ‫ ) ְב‬der Israeliten“, die die Opfer darbringen. Im MT werden „die jungen Männer (‫ ) ֶאת־נַ ֲ ֵרי‬der Söhne Israels“ von Mose gesandt, diesen Dienst auszuüben. Die Abweichung vom MT liegt wohl in der Information begründet, die Num 3,11–13; 8,14–19 MT liefert. Demgemäß sind die Leviten der Ersatz für die Erstgeborenen. Folglich scheinen die Erstgeborenen den Dienst, den die Leviten später im Zeltheiligtum und Tempel tun, vorher am Sinai inne gehabt zu haben.153 Nach dem MT besprengt Mose mit dem Blut das Volk (den Altar hat er schon gemäß V.6 vorher mit Blut besprengt). Gemäß TgO Ex 24,8, sprengt Mose das Blut auf den Altar, um für das Volk zu sühnen. Im Anschluss sagt er: „Here, this is the blood of the covenant which the Lord has established with you in accordance with all these words.“ Das Blut des Opfers soll demnach Sühne für das Volk bewirken, das 149

Vgl. HAYWARD 2008: 269. Text: SPERBER 1959; Übersetzung: GROSSFELD 1988a und GROSSFELD 1988b. 151 Vgl. GROSSFELD 1988b: 53, Anm. 2. 152 Vgl. JASTROW 1903: 1178 (s.v. ‫ )פלח‬bzw. 1141 (s.v. ‫)פולחנ‬. 153 Vgl. HAYWARD 2008: 271. 150

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in Kürze die (erneute) Gegenwart Gottes erlebt. Anders gesagt: „The people, as well as the place, are to be duly cleansed and in a fit state to participate in a momentous, indeed unique, event in the history of the world.“154 Diese Funktion des Blutes am Sinai antizipiert in TgO aber seine zentrale Aufgabe als Sühnemittel innerhalb des Kultes. Kaum überraschend (Ex 33.18.20 dürfte auch hier eine wichtige Rolle gespielt haben) wird aus Ex 24,10 MT „sie sahen den Gott Israels“ in TgO „and they (Moses und Aaron, Nadab und Abihu, als auch die siebzig Ältesten) perceived the Glory (‫ )וַ חזוֹ יָ ת ְי ָקר‬of the God of Israel“. Es wird hinzugefügt: „[B]eneath the throne of His Glory like the work of a precious stone155 and in appearance like the sky for purity.“ Der „Thron seiner Herrlichkeit“ bzw. sein herrlicher Thron (‫ורסי ְי ָק ֵריה‬ ֵ ‫ ; ֻכ‬MT hat „unter seinen Füßen“)156 befindet sich eigentlich im „Himmel“. Aber eine Art „Miniaturnachbildung“ stand auch im „Allerheiligsten“, nämlich die Bundeslade mit der Deckplatte, auf bzw. über der Gott thront. Somit wird den Repräsentanten Israels der Zugang zum himmlischen Heiligtum gewährt, dorthin, wo die Engel Gott dienen.157 Dies wird durch den nächsten Vers (V.11) gestützt: „Yet the leaders of the Israelites were not injured158 even though they perceived the Glory of the Lord; and they rejoiced in their sacrifices which were accepted as though they were eating and drinking.“ Besonders ins Auge springt der letzte Satz. TgO betont, dass die Opfer (vgl. Ex 24,5–8) angenommen wurden (MT hat etwas kryptisch: „sie schauten Gott und aßen und tranken“): Deshalb freuen sie sich „as though they were eating and drinking“. Allein, woher wissen die Anführer Israels, dass die Opfer angenommen wurden und warum heißt es, dass sie nur „als ob“ aßen und tranken? Letzteres kann man damit erklären, dass sich die Anführer im himmlischen Heiligtum befinden, wo normalerweise die Engel den Gottesdienst verrichten. Engel brauchen aber nicht zu essen, weshalb sie TgN und TgPs-J Gen 18,8; TgPs-J Gen 19,3 zufolge nur so erscheinen, als ob sie essen und trinken. Mithin werden die Anführer Israels wie Engel präsentiert.159 Woran aber haben die Anführer erkannt, dass ihre Opfer angenommen wurden? Grossfeld weist in einer Anmerkung160 darauf hin, dass zwar keine rabbinische Parallele hierzu, jedoch folgende Erklärung von B. Z. J. Berkowitz existiert: Demnach erschien die Herrlichkeit Gottes in Form von

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HAYWARD 2008: 272. Für ‫ ַא ַבן ָט ָבא‬vgl. TgO Ez 1,16.26; 10,1 mit 1Chr 3,6. 156 Das Syntagma ‫ורסי ְי ָק ֵר יה‬ ֵ ‫ ֻכ‬kommt noch in TgO in Ps 68,5; 1Chr 2,5; 18,18; 33,13 vor. 157 Damit erinnert dieser Vers stark an Tg Ez 1 (z.B. 1,1.26) und Tg Jes 6,1. 158 TgO bringt hier explizierend das Ergebnis des „Ausstreckens der Hand gegen die Edlen“ (MT) zum Ausdruck (vgl. GROSSFELD 1988b: 73, Anm. 11). 159 Eine ähnliche Vorstellung von Priestern als/wie Engel begegnet auch in Qumran (vgl. nur die „Sabbatopfer-Gesänge“; BROOKE 2008: 85ff.). 160 Vgl. GROSSFELD 1988b: 73, Anm. 12. 155

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Feuer (vgl. Ex 24,17) und verzehrte die Opfer, analog zu 1Kön 18,38f. 161 Eine Bestätigung erfährt diese Deutung durch die Entsprechung zu Lev 9,23f. Dort erscheint die Herrlichkeit Gottes als Feuer und verzehrt das Brandopfer (vgl. Ex 24,5). Nach dem MT „jauchzt“ (‫ ) ָיּר ֹנּוּ‬das Volk (wohl aus freudigem Erstaunen), nach TgO Lev 9,24 „preisen“ (‫ ) ַשׁ ַב ֻחו‬sie Gott daraufhin. Dann wird in Lev 10,2 geschildert, wie Nadab und Abihu von dem Feuer, das von Gott ausgeht, verzehrt werden. Vor diesem Hintergrund ist auch verständlich, warum TgO feststellt, dass die Anführer Israels keinen Schaden durch die Herrlichkeit Gottes (in Form von Feuer) erlitten. Die Verbindung von Ex 3 und dem Sinaigeschehen, zumal vor dem Hintergrund der Legitimierung der mosaischen Sendung durch Gott (vgl. Ex 19,9 mit 3,12), spielt eine wichtige Rolle in Ex. TgPs-J162 macht diese Verknüpfung in Ex 3,5.12 explizit, indem der heilige Ort, an dem Mose Gott im Dornbusch begegnet, identifiziert wird mit demjenigen, an dem er das Gesetz empfangen und Israel Gott anbeten wird: − Ex 3,5: „And he said, ‚Do not approach hither! Take off your shoes from your feet, for the place where you stand is a holy place and on it you are to receive the Law to teach it to the children of Israel‘“ − 3,12: „and this [shall be] a sign for you that it was I who sent you: when you have brought the people out of Egypt you shall worship before the Lord because you will receive the Law on this mountain“ Das Sinaigeschehen selbst wird in TgPs-J in einer genauen zeitlichen Sequenz dargestellt (vgl. Ex 19,1.3.7.9.10.16; 24,1), sodass sich die Theophanie (Ex 19,16ff.) nach dieser Chronologie am sechsten des dritten Monats (Sivan) ereignet,163 genau an dem Tag, an dem das Wochenfest nach rabbinischer Überlieferung gefeiert wurde.164 Israel steht nach Ex 19,2 („Israel encamped there, united in heart, in front of the mountain“)165 als Einheit vor Gott. Wie schon in TgO ist auch in TgPs-J an den Hinzufügungen im Vergleich zum MT ein besonderes Interesse am Heiligtum und seinem Kult zu beobachten. Israel wurde auf Wolken166 wie auf Adlersflügeln von „Pelusium“ (= Ramses; vgl. TgPs-J 161 1Kön 18,38f: „Da fiel Feuer von JHWH herab und verzehrte das Brandopfer und das Holz und die Steine und die Erde; und das Wasser, das im Graben war, leckte es auf. Als das ganze Volk das sah, da fielen sie auf ihr Angesicht und sagten: JHWH, er ist Gott! JHWH, er ist Gott!“ 162 Text: GINSBURGER 1903; Übersetzung: MAHER 1994. 163 Etwas unklar ist, ob TgPs-J in Ex 24 eine zweite Theophanie am siebten Tag erblickt oder die Theophanie vom sechsten fortgesetzt wird. 164 Vgl. den Exkurs zur Frage nach der Verknüpfung von Sinai und Wochenfest am Ende dieses Abschnitts. 165 Der Grund: Im MT stehen die ersten drei Verben in der 3.Pl. Das letzte Verb „lagerte“ (‫ )וַ ִיּ ַחן‬jedoch in der 3.Sg (vgl. MAHER 1994: 214, Anm. 3). 166 Vgl. TgPs-J Ex 12,37.

2. Digression

157

Ex 1,11) zum Tempel, wo sie das Passahfest feierten, von dort wieder zurück nach „Pelusium“ (in der gleichen Nacht), und schließlich zur Unterweisung im Gesetz (TgPs-J Ex 19,4167; TgO: zum Gottesdienst) an den Sinai gebracht. Gemäß TgPs-J Ex 19,6 wird Israel in Aussicht gestellt, „ministering priests“ zu sein. Die Priester, die sich Gott nähern „to minister before the Lord“ (TgPs-J Ex 19,22) sollen sich heiligen. Dass der Sinai als Heiligtum dargestellt ist, zeigt sich denn auch in Ex 24. Es spricht einiges dafür, dass Israel am Sinai aus Sicht von TgPs-J eine prophetische Vision hat.168 Doch Israel wird nicht entrückt in das himmlische Heiligtum, sondern „the Lord had inclined the heavens to it and revealed himself upon it in glowing fire; and the smoke of it went up like the smoke of a furnace, and the whole mountain trembled violently“ (TgPs-J Ex 19,18). Die Vorstellung einer „Beugung des Himmels“ stammt wahrscheinlich aus Ps 18,10169. Das himmlische Heiligtum ist somit zumindest zeitweise identisch mit dem Berg Sinai, auf den es herabkommt. Die Charakterisierung des Feuers, das als Medium der Selbstoffenbarung Gottes dient, durch „glowing“ (‫;מצלהבא‬ ein Äquivalent zum Partizip fehlt im MT) weist in die gleiche Richtung, nämlich in den Kontext des Kults. So finden sich die meisten Belege in TgPs-J für die Konstruktion „glowing fire“ (‫ )אישׁא מצלהבא‬in Zusammenhängen, die mit dem Zeltheiligtum bzw. Tempel zu tun haben.170 Feuer spielt denn auch in TgPs-J Ex 20,1–3171 eine Rolle: 1 The Lord spoke all these words, saying: 2 The first word when it came forth from the mouth of the Holy One, may his name be blessed, was like shooting stars, like lightning, and 167

Vgl. auch TgN z.St. Nachdem Mose das Volk aus dem Lager geführt hat, um der Schechina zu begegnen, heißt es in TgPs-J Ex 19,17: „Immediately the Lord of the world uprooted the mountain and lifted it up in the air and it was transparent like glass (‫ ;כאספקלריא‬lateinisch: specularia), and they stationed themselves under the mountain.“ Was bedeutet es, dass der Berg über den Israeliten transparent wie Glas war? ‫ אספקלריא‬kann nach JASTROW nicht nur ein Fensterglas bezeichnen, sondern auch eine Metapher für eine prophetische Vision sein (vgl. 1903: 96 (s.v. ‫)אספקלריא‬. Man ist erinnert an 1Kor 13,12). Vgl. Mekhilta de R. Simeon b. Joachai (MRS) zu Ex 20,18: R. Elieser ben Hyrcanus (Ende des 1./Anf. des 2. Jahrhundert): „‚Und das Volk sah‘ (Ex 20,18b). Was sahen sie? Sie sahen große Herrlichkeit. R. Elieser sagte: Woher [wissen wir], dass eine [einfache] Magd im [Volk] Israel sah, was der größte unter den Propheten nicht sah? Die Schrift lehrt: ‚Und das Volk sah‘. Was sahen sie? Sie sahen große Herrlichkeit“ (die Übersetzung stammt von NEUDECKER 1997 nach der Textausgabe: EPSTEIN/MELAMED 1955). 169 Ps 18,10 MT: „Er neigte die Himmel (‫ )וַ יֵּ ט ָשׁ ַמ יִ ם‬und fuhr hernieder, und Dunkel war unter seinen Füßen.“ Psalmentargum: „And he bent the heavens, and his glory was revealed, a dense cloud made out a path before him“ (Übersetzung: STEC 2004). Vgl. Mek zu Ex 19,20; 4Esr 3,18. 170 Vgl. Ex 28,35; 29,37; 30,20.29; Lev 16,1.13; 22,9; Num 1,51; 3,4.10.38; 4,15.19.29; 11,1.3; Dtn 29,22. 171 Fast identisch in TgN Ex 20,1–3 und in TgN Dtn 5,6f. 168

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3. Kapitel: Die Rezeption der Sinaitradition in Joh 5,37f.

like flames of fire; a fiery torch on its right and a fiery torch on its left, flying and floating in the air of the heavens; it returned and was seen over the camps of Israel; it circled round and was engraved on the tables of the covenant that had been given into the palm of Moses’ hands, it was changing from one side to another on them. Then he cried out and said, “My people, children of Israel, I am the Lord your God who redeemed you and brought (you) out redeemed from the land of the Egyptians, from the bondage of slaves.” 3 The second word, when it came forth from the mouth of the Holy One, may his name be blessed, was like shooting stars, like lightning, and like flames of fire; a fiery torch on its right, and a fiery torch on its left, flying and floating in the air of the heavens; it circled round and was seen over the camps of Israel, it returned and was engraved on the tables of the covenant, and it was changing from one side to another on them. Then he cried out and said, “My people, house of Israel, .”

Eine eingehende Analyse des zitierten Abschnitts kann hier nicht erfolgen, da dies den Rahmen sprengen würde. Nur soviel sei gesagt: Die interpretatorische Einfügung beim ersten Gebot, die fast wörtlich beim zweiten Gebot, nicht jedoch bei den folgenden Geboten wiederholt wird, hebt jene beiden heraus. Sie basiert, wie aus rabbinischen Texten ersichtlich ist, auf Ps 29,7, wo es heißt: „Die Stimme JHWHs sprüht Feuerflammen“ (‫)קוֹל־ ְיהוָ ה ח ֵֹצב ַל ֲהבוֹת ֵאשׁ‬.172 Die Betonung liegt darauf, dass das gesprochene Wort sich für das Volk Israel sichtbar (nicht nur hörbar) in einer Art „Feuerwerk“173 manifestiert und dass es sich in die Tafeln eingemeißelt hat. Dadurch entsteht über das Motiv des Feuers174 eine Verbindung zwischen der Gegenwart Gottes im Feuer, seiner Stimme bzw. seiner Worte als Feuer und den ersten beiden Geboten, die durch seine Stimme bzw. Worte als Feuer in die Steintafeln gemeißelt werden.175 Im Endeffekt wird so ein Bogen geschlagen zwischen der am Sinai für zukünftige Generationen gegebenen Tora und der Gegenwart Gottes am Sinai. Mit anderen Worten: Gottes Herrlichkeit und seine Stimme sind in/durch die Tora präsent.176

172

Vgl. Mek Bachodesch 9 zu Ex 20,18; TgPs-J Dtn 33,2: „And he said: ‚the Lord was revealed from Sinai to give the Law to his people, the house of Israel. The splendour of the Glory of his Shekinah shone from Gabla to give it to the sons of Esau but they did not accept it. He shone in the splendour of Glory from the Mountain of Paran to give it (the Law) to the sons of Ishmael but they did not accept it. He was again revealed in holiness to his people, the house of Israel, and with him were many myriads of holy angels. The writing of his right hand, and the Law from the midst of a flaming fire, he gave them the commandments‘.“ 173 Vgl. LAB 11,5. 174 Man beachte, dass, wenn von Feuer die Rede ist, der Konnex zur Herrlichkeit JHWHs mitzudenken ist. 175 Vgl. TgPs-J Dtn 33,2. TgN hat an dieser Stelle einen ähnlichen, aber noch etwas ausführlicheren Midrasch. 176 Beachtenswert ist auch Folgendes: HAYWARD (MCNAMARA/HAYWARD 1994: 84, Anm. 2 mit Verweis auf andere Forscher) zufolge hat der in dem Midrasch zu Ex 20,1–4 häufig wiederholte Ausdruck „My people, children of Israel“ liturgischen Charakter. So werde deutlich, dass Gott bei der liturgischen Rezitation des Dekalogs mit seiner Herrlichkeit präsent sei.

2. Digression

159

Nach dem reichlich mit halachischen Auslegungen versehenen Dekalog kommt TgPs-J Ex 20,15 (MT: 20,18] wieder zur Erzählung zurück. Nun sieht das Volk u.a. die ‫קליא‬: „All the people were watching the thunder [‫)]קליא‬, how it was changed in the hearing of each one of them, and how it came out from the midst of the torches.“ Versteht man den Plural ‫ קליא‬als „Stimmen“, die von Gott ausgehen, lässt sich dieser Satz einschließlich des nächsten folgendermaßen interpretieren:177 Das ganze Volk sah „die Stimmen“, d.h. die Worte der Tora, die aus dem Munde Gottes bzw. aus dem Feuer kamen, und sie wurden in einem jeden Israeliten „verwandelt“ (‫)מתהפכין‬178, d.h. jeder verstand die göttlichen Worte, weil sie sich an die Auffassungskraft eines jeden anpassten, ohne ihn zu überfordern.179 Dann ist in TgPs-J Ex 20,18 überraschenderweise noch die Rede vom Wiederbeleben der Toten durch die „Stimme“ des Schofarhorns: „All the people were watching […] the sound of the horn (‫)קל שׁופרא‬, how it revived the dead (‫)מאחי מיתיא‬.“ Unklar ist, welche Toten gemeint sind. Das Motiv von der Wiederbelebung der Israeliten, nachdem sie starben, als sie das erste Wort gehört hatten, wird zwar auch in anderen (rabbinischen) Texten erwähnt (PRE 41; bTSchab 88b; Mek Bachodesch 9)180, kommt dort aber nicht in Verbindung mit der „Stimme“ des Schofarhorns vor, sondern mit dem „Tau des Lebens“ (so bTSchab 88b; Mek Bachodesch 9 mit Verweis auf Ps 68,10) bzw. mit „der Stimme des zweiten [Gebotes]“ (so PRE 41).181 Allerdings heißt es im Tg Sach 14,4 gemäß Codex Reuchlinianus in eschatologischem Zusammenhang: „At that time (‫ )בעידנא ההוא‬the Lord will take in his hand the great trumpet (‫ )שׁופרא רבא‬and will blow ten blasts upon it to revive (‫ )לאחאה מיתיא‬the dead“182. Da dies einen Einschub im Vergleich zum MT darstellt und hier die Bezeichnung „das große Schofar“ (‫ )שׁופרא רבא‬gewählt wird, ist nach der Herkunft dieser Vorstellung zu fragen. Jes 27,13 könnte hier von Belang sein,183 da nur noch hier im Prophetentargum ‫ שׁופרא רבא‬verwendet wird.184 Dort heißt es (ähnlich wie im MT), ebenfalls über die endzeitliche Rückkehr der Exilierten185 aus Assur und Ägypten am eschatologischen „Tag“ (vgl. ‫ ; ְב ִ ָדנָ א ַה ֻהוא‬MT: ‫) ַבּיּוֹם ַההוּא‬:186 177

Vgl. POTIN 1971: 104. Zu den Wortbedeutungen von ‫ הפך‬im Itpe. vgl. DALMAN 1901: 110 (s.v. ‫)הפך‬. 179 Vgl. Mek Bachodesch 9 zu Ex 20,18 (mit Hinweis auf Ps 29,4); Philo, post. 142–145. 180 Vgl. MAHER 1994: 219, Anm. 20. 181 Vgl. HOUTMAN 2006: 198, mit dem Hinweis auf eine Lesart am Rand des Targums zu Richter 5,4 im Codex Reuchlinianus, wo auch die Rede ist von „dews of revivification to revive by them the dead of your people, the House of Israel“. 182 Text: SPERBER 1962; Übersetzung: CATHCART/GORDON 1989; vgl. dazu Tg Hhld 8,5. 183 Zu Jes 27,13 im MT vgl. JENNER 2000: 157–182. 184 Zur Verknüpfung von Ex 19,19 und Jes 27,13 vgl. Mek Bachodesch 4 zu Ex 19,19. 185 OSWALT (1986: 499) übersetzt ‫ ָהא ְֹב ִדים‬mit „the dead“. 186 Text: SPERBER 1962; Übersetzung: CHILTON 1987. 178

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3. Kapitel: Die Rezeption der Sinaitradition in Joh 5,37f.

„And it will come to pass in that time that the great trumpet will be blown, and those who where exiled in the land of Assyria and those who were cast out to the land of Egypt will come and worship before the Lord on the holy mountain in Jerusalem.“ Demnach leitet „das große Schofar“ die Rückkehr aus dem Exil ein. Zunächst ist unklar, wer „das große Schofar“ bläst und wo es geblasen wird. Möglicherweise ist ‫( יִ ְת ַקע‬peal) im Sinne eines passivum divinum aufzufassen und somit Gott als Agens anzusehen.187 Ferner könnte im Zusammenhang mit der Beobachtung, dass der Sinai ein „heiliger Berg“ mitsamt Kult ist, bedeutsam sein, dass das Ziel der Rückkehr in Jes 27,13 nicht einfach Jerusalem, sondern die Gottesanbetung auf dem „heiligen Berg in Jerusalem“ ist. Aus diesem Blickwinkel gesehen weckt „das große Schofar“ – man wird dies wohl im Sinne von „sehr lautes Schofar“ deuten dürfen188 – Assoziationen zu Ex 19,16.19 (vgl. auch Ex 20,18),189 zumal es im Unterschied zum MT („ein großes Schofar“) determiniert ist. Die Determination findet sich ebenfalls in der LXX (τῇ σάλπιγγι τῇ µεγάλῃ; vgl. Ex 19,16: φωνὴ τῆς σάλπιγγος ἤχει µέγα). Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang auch die in Dtn 5,22 begegnende Bezeichnung „gewaltige“ bzw. „große“, d.h. wohl laute Stimme“ (‫ ;קוֹל גָּ דוֹל‬LXX.D: „lauter Klang“; φωνὴ µεγάλη). Zu beachten ist schließlich, dass die Rückkehr aus dem Exil z.B. in Ez 37,1–14 als Totenauferstehung bzw. Neuschöpfung präsentiert wird.190 Doch muss man eigentlich gar nicht so weit gehen, da schon kurz vor Jes 27,13 die Auferstehung der Toten angekündigt wurde (Jes 26,19).191 Auf jeden Fall zeigt sich, dass das Motiv des Ertönens des großen bzw. lauten Schofars eine Verknüpfung verschiedener Texte zulässt192 und die Vorstellung existierte, dass Gott in der Endzeit das Schofar erklingen lassen wird, woraufhin die Exilierten bzw. Toten zurückkehren bzw. zu neuem Leben gelangen.193 187 Vgl. Sach 9,14; TgJ zu Sach 9,14 („And the Lord shall reveal himself over them and his words shall go forth like lightnings, and the trumpet [‫שׁוֹפ ָרא‬ ָ ‫ ְב‬ist determiniert] shall be sounded before the Lord God, and he shall go forth in the whirlwind of the south“). Im jüdischen Achtzehnbittengebet, dessen Herkunft und Alter umstritten sind, geht es in der 10. Bitte darum, dass Gott in das große Schofar stößt und sein Volk von den vier Enden der Erde aus dem Exil führt; vgl. LICHTENBERGER 1992: 537. 188 So auch BEUKEN 2007: 412 zum MT. 189 Vgl. JENNER 2000: 173 (zum MT). BEUKEN (2007: 409) erblickt in MT Jes 27,1 und V.12–13 einen „Exodusrahmen“, sodass man vielleicht sogar von einer Anspielung sprechen kann. 190 Vgl. LEVENSON 2006 (darin besonders Kapitel 10 „Israel’s Exodus from the Grave“). 191 Tg Jes 26,19: „You are he who brings alive the dead, you raise the bones of their bodies. All who where thrown in the dust will live and sing before you! For your dew is a dew of light for those who perform your law, and the wicked to whom you have given might, and they transgressed against your Memra, you will hand over to Gehenna.“ 192 Die exegetische Verbindung von Ex 19,16.19; 20,18 mit Jes 27,13 wäre aufgrund „des großen Schofars“ auch ohne Sach 14,4 möglich. 193 Vgl. u.a. 4Esr 6,23; ApkAbr 31,1; LICHTENBERGER 1992: 537.

2. Digression

161

Auch bei Paulus findet sich eine ähnliche Vorstellung. In 1Thess 4,16 spricht Paulus von der eschatologischen Auferstehung der Toten bei der Herabkunft des Herrn vom Himmel, die begleitet ist von „der Stimme eines Erzengels“ (ἐν φωνῇ ἀρχαγγέλου) und von der „Trompete Gottes“ (ἐν σάλπιγγι θεου). In 1Kor 15,52 ist dagegen die Rede von der Auferweckung der Toten bei der „letzten Trompete“ (ἐν τῇ ἐσχάτῃ σάλπιγγι194), wobei hier noch deutlicher ist, dass die Trompete die Auferstehung in irgendeiner Weise auslöst. Wahrscheinlich sind die beiden Ausdrücke „Trompete Gottes“ (1Thess 4,16) und „letzte Trompete“ referenzidentisch, zielen jedoch auf verschiedene Aspekte. Klar ist, dass letztlich Gott der Urheber des Trompetenklanges ist. Wird vorausgesetzt, dass auch im (Früh-)Judentum das Motiv der Auferstehung der Toten eschatologisch konnotiert ist, zeigt sich: Durch die an dieser Stelle in TgPs-J erfolgende Assoziation der Auferstehung der Toten mit der „Stimme des Schofars“ kommen Sinaizeit und Endzeit in Entsprechung zueinander zu stehen. Offenbar sollte auf diese Weise die Leben spendende Kraft der Stimme, die die Tora spricht, herausgestellt werden. Wichtig ist nun die Beobachtung, dass sowohl in rabbinischen Texten als auch bei Philo die „Stimme“ des Schofars interpretiert wird als die Stimme Gottes195. So kann man in Mek Bachodesch 4 zu Ex 19,19 folgendes lesen: [Und der Hörnerschall] Wurde immer lauter: Bei einem gewöhnlichen Menschen wird die Stimme immer schwächer, je weiter sie kommt; hier aber wird seine Stimme (‫ )קולו‬immer lauter, je weiter sie kommt. Und warum war sie am Anfang sanft? Um das Ohr darauf einzustimmen, was es hören kann.

Dass in dieser Passage tatsächlich die Stimme Gottes gemeint ist, zeigen folgende Texte: Auch TgPs-J sprach in Ex 20,18 von einer Akkomodation der göttlichen Stimmen bzw. Worte an die Fassungskraft der Zuhörer. Schon Philo (post. 143ff.) weiß darum, dass Gott die Begrenztheit des Menschen kennt, der Gottes Worte in ihrer ganzen Kraft nicht zu hören vermag, weshalb sich Gott menschlicher Auffassungskraft anpasst. Dabei bezieht sich Philo explizit auf die Sinaioffenbarung (vgl. das Zitat von Ex 20,19 in post. 143). Von daher ist plausibel, dass auch in Mek Bachodesch 4 „seine Stimme“ (‫ )קולו‬Gottes Stimme meint. In Philos Schrift zum Dekalog (decal. 32ff.) zeigt sich denn auch der Konnex zwischen Trompetenklang und Gottesstimme. Da die Stelle später ausführlicher diskutiert wird, kann hier der Hinweis auf jene Passage genügen. Diese Auslegungen des Schofarhorns scheinen einen gewissen Anhalt im MT zu haben. Auch einige moderne Interpreten verstehen die Trompete bzw. das Schofarhorn bildlich. So bemerkt z.B. Lichtenberger: „Bei der Theophanie

194 Das Lexem σάλπιγξ, das er in beiden Stellen benutzt, wird auch von der LXX zur Wiedergabe von ‫שׁוֹפר‬ ָ verwendet. 195 Der Vergleich der Stimme mit einer Trompete begegnet im AT z.B. in Jes 58,1; allerdings ist in Jes 58,1 eine menschliche Stimme im Blick.

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3. Kapitel: Die Rezeption der Sinaitradition in Joh 5,37f.

Ex 19,16ff erschallt nach LXX die σ.[άλπιγξ] (MT schôphār) wohl als Bild der göttlichen Stimme.“196 Ausgehend von der Identifizierung der „Stimme“ des Schofars mit der Stimme Gottes, die die zehn Gebote spricht, ist es nicht verwunderlich, dass gemäß Tg Sach 14,4 Gott zehn Mal ins Schofar stößt, um die Toten zu beleben. Aus alledem lässt sich schlussfolgern, dass es wahrscheinlich Gottes, die Tora kundtuende Stimme ist, die die Toten gemäß TgPs-J Ex 20,18 auferweckt. Die früher begonnene Chronologie wird in TgPs-J Ex 24,1 fortgeführt: Mose erhält am siebten Tag den Befehl von Michael, dem Prinzen der Weisheit, auf den Berg zu kommen, er und Aaron, Nadab und Abihu und die siebzig Ältesten. Ganz besonders in diesem Kapitel zeigt sich das Interesse von TgPs-J an der Verbindung zwischen Sinai und Zeltheiligtum bzw. Tempel. In V.5 fügt TgPs-J eine Erklärung für die Ersetzung von „die jungen Männer der Söhne Israels“ durch „die Erstgeborenen der Israeliten“ ein, die die vorgelegte Deutung197 zu TgO (mit der gleichen Ersetzung, aber ohne Erklärung) stützt: „He sent the first-born of the sons of Israel – for until that time the worship was in (the hands of) the first-born, because the tent of meeting had not yet been made, and the priesthood had not yet been given to Aaron – and they offered up burnt offerings…“ Demnach gab es am Sinaiheiligtum eine Priesterschaft, nämlich die Erstgeborenen, die den Priesterdienst versahen. Als einziger Targum zu Ex 24,10 spezifiziert TgPs-J,198 dass Nadab und Abihu (nicht aber Mose und die siebzig Ältesten) „lifted up their eyes and saw the glory of the God of Israel“. Der anschließende Einschub zeigt, dass TgPs-J den entsprechenden hebräischen Text dahingehend verstanden hat, dass es sich dort um eine angedeutete Beschreibung des Thrones Gottes einschließlich Schemel und Podest handelt, wie er auch im Allerheiligsten des Zelt- und später des Tempelheiligtums stand: 10 Nadab and Abihu lifted up their eyes and saw the glory of the God of Israel; under the footstool of his feet that was placed under his throne (there was) the likeness of a work of sapphire stone, recalling the slavery with which the Egyptians had enslaved the children of Israel with clay and bricks. As the women treaded the clay with their men, there was a delicately reared maiden there who was pregnant. She lost the embryo, and it was tread on with the clay. Gabriel came down and made a brick out of it, and bringing it up to the heavens on high, he placed it as a platform under the footstool of the Lord of the world. Its splendour was like (that of) a work in precious stone and like the glorious beauty of the heavens when they are clear of clouds.

In V.11 wird dann etwas klarer, weshalb nach TgPs-J Ex 24,10 nur Nadab und Abihu die Herrlichkeit Gottes sahen:

196

LICHTENBERGER 1992: 537 (kursiv im Original). S. bereits Haupttext bei Fußnote 153 in diesem Kapitel. 198 Vgl. MAHER 1994: 231, Anm. 11. 197

2. Digression

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11 But, at that time, he did not send his plague against the handsome young men Nadab and Abihu. But it was reserved for them until the eighth day of ordination, when it would afflict them. And they saw the Glory of the Shekinah of the Lord, and they rejoiced in their offerings that had been accepted with favour, as if they ate and drank.

Offenbar galt das Aufheben der Augen, um die Herrlichkeit zu sehen, als strafwürdige Handlung, möglicherweise weil sie anmaßend war. Jedenfalls wird in V.11 auf die Strafe durch das Feuer, welches vom Herrn ausging (Lev 10,2f. ), verwiesen. LevR 20 (zu Lev 16,1) bietet eine Parallele: Dort wird ein Gegensatz aufgebaut zwischen Mose auf der einen Seite und Nadab und Abihu auf der anderen. Von Mose heißt es mit Bezug auf Ex 3,6 und 34,29: Obwohl Mose seine Augen nicht an der Schechina geweidet hat, so hat er doch einen Genuss an ihr gehabt. Er hat seine Augen nicht an der Schechina geweidet, wie es heisst Ex. 3,6: „Und Mose verbarg sein Angesicht,“ er hat aber einen Genuss an der Schechina gehabt, wie es heisst das.[elbst] 34,29: „Mose wusste nicht, dass die Haut seines Angesichts Strahlen warf“ […] Dagegen Nadab und Abihu haben ihre Augen an der Schechina geweidet, ohne aber einen Genuss davon zu haben, weil es heisst: „Nadab und Abihu starben vor dem Ewigen“.199

Aus dem Zusammenhang geht eindeutig hervor, dass hier u.a. Ex 24,10f. und Lev 10,2 miteinander verknüpft werden.200 Was die Nacherzählung des Sinaigeschehens in Dtn in der Version von TgPs-J angeht, erscheint mir folgendes von Belang zu sein. Gemäß TgPs-J Dtn 5,22 sprach Gott „with (all) your assembly on the mountain from the midst of the fire, from the clouds and from the mist, a great voice without interruption. And the sound being spoken was written on two marble tablets and he gave them to me.“ Bemerkenswert ist hier u.a., dass „die Stimme, die gesprochen wurde“ (‫)קל דבירא‬201, auf die Marmortafeln fixiert wird; anders der MT: hier sind es, wie zu erwarten, die Worte, die auf die Steintafeln geschrieben werden. Zwar ist die konsequente Unterscheidung zwischen Wort(en) und Stimme(n) innerhalb der Sinaierzählung ganz besonders in TgPs-J schwierig, aber die Ersetzung an dieser Stelle ist doch auffällig. Durch die enge Verbindung der „Stimme“ mit dem Dekalog wird angedeutet, dass die Erfahrungen der Sinaigeneration auch deren Nachkommen mittels der Tora zugänglich sind. In den bisher betrachteten Targumim waren mehr oder weniger implizite Hinweise dafür erkennbar, dass der Sinai als Heiligtum zu betrachten ist. In

199

Übersetzung: WÜNSCHE 1884: 136. Der letzte Teil von V.11 entspricht im Wesentlichen TgO (zur Diskussion s. Haupttext bei Fußnote 158 in diesem Kapitel), weshalb ich ihn hier nicht weiter kommentiere. 201 Nach CLARKE (1998: 23, Anm. 23) handelt es bei ‫ דבירא‬eher um ein Partizip passiv und nicht um das Dibbur JHWHs. 200

164

3. Kapitel: Die Rezeption der Sinaitradition in Joh 5,37f.

TgN202 Ex 4,27 findet sich jedoch eine explizite Aussage dazu: „And he [sc. Aaron] went and met him [sc. Mose] on the mountain of the sanctuary of the Lord (‫)בטור בית־מוקדשׁא דייי‬, and he kissed him.“ Der Ausdruck ‫בטור בית־מוקדשׁא דייי‬ („auf dem Berg des Tempels des Herrn“) meint dabei wahrscheinlich den Sinai.203 Ansonsten hat TgN im Vergleich zu TgPs-J in Ex 24 wenige Einschübe, Erklärungen usw., die über das bereits zu TgPs-J Gesagte erwähnenswert wären. Obwohl Dtn 6,6 nicht ausschließlich den zuvor zitierten Dekalog im Blick hat, ist dieser Vers in der Version von TgN relevant, speziell weil TgN hier das Adjektiv „beständig“ (‫ )תדירין‬einfügt: „And these words which I teach you this day shall be constantly (‫ )תדירין‬upon your heart.“ Fragmententargum (TgFrag) P, V, J und Targum Cairo Genizah (TgKG) bietet kaum etwas, das sowohl über das in TgPs-J und TgN Gebotene hinausgeht als auch für meine Fragestellung relevant wäre.204 Folgendes erscheint mir aber notierenswert: Am Anfang des mosaischen Segens in Dtn 33 hat auch TgFrag P (vgl. TgPs-J und TgN) einen längeren Midrasch, der sich auf die Sinaioffenbarung bezieht. Dort heißt es in Dtn 33,3: Though loving: Was it not manifest and known that neither the children of Esau nor Ishmael would accept the Torah; rather [the offers were made] in order to endear the Israelites to the myriads of holy angels; that even though He brings upon them great sufferings, they do not slacken or rest from the study of the Torah; and behold they continue to be lead at the foot of His clouds; and they encamp according to His words.205

Von besonderem Interesse ist, was am Ende des Verses gesagt wird, nachdem das unablässige Studium der Tora durch die Israeliten trotz aller Widrigkeiten gelobt wurde: Die Israeliten werden fortwährend an den Sinai geführt. Der Text impliziert also, dass Israel beim Studium der Tora gleichsam an den Berg Sinai versetzt wird, wo die Herrlichkeit Gottes sich in Form einer Wolke niederließ und Israel sein Lager aufschlug.206

202 Text: CAL project; Übersetzung: CLARKE 1997. Um unnötige Wiederholungen so weit wie möglich zu vermeiden, werde ich im Folgenden nur die relevanten Unterschiede zum MT und zu TgPs-J erwähnen und diskutieren. 203 Vgl. die Marginalie in TgN zu diesem Vers: „on the mountain on which the glory of the Shekinah of the Lord was revealed“; diese Phrase kommt in TgN Ex 24,13 ebenfalls vor (MCNAMARA/HAYWARD 1994: 25, Anm. 17). 204 Die Parallelen zwischen TgFrag und TgN bzw. TgPs-J sind in der Regel in der jeweiligen Übersetzung in den Anmerkungen verzeichnet. 205 Übersetzung: KLEIN 1980 II: 88 (kursiv am Ende von mir). 206 Eine explizite Angabe zum liturgischen Kontext, in welchem die Sinaierzählung aktualisiert wurde, findet sich in TgKG Oxford Ms. Heb. e 43 Folio 61. Ex 19 ist hier überschrieben mit „zu Schawuot“ (‫)לשׁבועת‬, d.h. der dieser Angabe folgende Text bildete die Toralesung für das Wochenfest.

2. Digression

165

2.5 Die Sinaitradition in (früh-)jüdischen Deutungen Im nachstehenden Abschnitt präsentiere und kommentiere ich eine Auswahl jüdischer Traditionen zur Sinaierzählung. Ein Grundzug der (früh-)jüdischen Interpretation der Sinaierzählung findet sich verdichtet in Jub 8,19, weshalb ich diesen Text als faktische Lektüre der Sinaitradition an den Anfang dieses Abschnitts stelle. In dieser Passage wird nämlich explizit ausgesprochen, was an anderen Stellen in der Auslegungstradition zumeist lediglich implizit bleibt, jedoch von fundamentaler Bedeutung ist: Und er [Noah] erkannte, dass der Garten Eden das Heilige des Heiligen sei und Wohnung des Herrn und der Berg Sinai die Mitte der Wüste und der Berg Sion die Mitte des Nabels der Erde. Und diese drei, dieses gegenüber jenem, sind zu Heiligtümern geschaffen.207

Jub 8,19 bringt die Einsicht zum Ausdruck, dass der Berg Sinai, neben dem Garten Eden und dem Zion, ein Heiligtum war. Daher ist zu den oben genannten Leitfragen zusätzlich ein besonderes Augenmerk auf Heiligtumsbezüge zu legen, nicht zuletzt deshalb, weil sich die Szene in Joh 5 z.T. im Tempel abspielt (dies scheint nach 5,14 auf jeden Fall der Ort zu sein, wo Jesu Rede zu lokalisieren ist) und der Tempel (der natürlich auch ein bzw. das Heiligtum ist) und das Tempelmotiv in der Christologie des JohEv eine zentrale Stellung inne haben (vgl. nur Joh 2,19ff. ).208 Inhaltlich spricht Sir209 sehr wahrscheinlich ab 17,11, vielleicht aber auch schon vorher (ab V. 9[?]), von Israel, wenngleich Israel nicht explizit genannt wird. Ab V.11 ist das Sinaigeschehen im Blick, obwohl auch hier Lexeme wie „Sinai“, „Horeb“ oder „Berg“ nicht erscheinen.210 Dicht hintereinander werden Gesetzgebung, Bundesschluss, Mitteilung der Gebote sowie die Theophanie erwähnt. Die Theophanie (V.13) setzt sich aus den Elementen „(ihre Augen) sahen die machtvolle Herrlichkeit“ (µεγαλεῖον δόξης εἶδον οἱ ὀφθαλµοὶ αὐτῶν) und „(ihr Ohr) hörte die Herrlichkeit seiner Stimme“ (καὶ δόξαν φωνῆς αὐτοῦ ἤκουσεν τὸ οὖς αὐτῶν) zusammen. Da gleich im Anschluss die Aufforderung erfolgt, sich vor allem Unrecht zu hüten (V.14), kann man vermuten (καί in V.14 ist etwas unspezifisch), dass die Theophanie für den Verfasser in einem engen Konnex zur Vermeidung des Unrechts oder positiv: zum Toragehorsam steht.

207

Text: VANDERKAM 1989; Übersetzung: BERGER 1981: 372f. Zum Tempel im JohEv vgl. u.a. FRÜHWALD-KÖNIG 1998; RAHNER 1998; LIEU 1999: 51–69; KERR 2002; FUGLSETH 2005; COLOE 2009: 368–381. 209 Text: GÖLXX; Übersetzung: LXX.D. 210 Vgl. zur Erklärung MARBÖCK 2010: 215f. 208

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3. Kapitel: Die Rezeption der Sinaitradition in Joh 5,37f.

Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang noch der Ausdruck νόµον ζωῆς211 – nach Marböck eine „Eigenprägung Sirachs“212: „Er machte ihnen Einsicht zur Pflicht, und das Gesetz des Lebens gab er ihnen zum Erbteil, damit sie erkennen, dass sie, obwohl sie sterblich sind, (hier und) jetzt Bestand haben.“ Eine Möglichkeit wäre, den Genitiv ζωῆς im Sinne eines Genitivs der Richtung oder Absicht213 zu interpretieren. Demgemäß würde das Gesetz zum Leben führen. Oder man könnte die Genitivkonstruktion in dem Sinne auffassen, dass das Gesetz für das Leben gegeben wurde bzw. das Gesetz das Leben ([vermutlich] aller Menschen)214 bestimmt, sodass es der Intention des Schöpfers für seine Schöpfung entspricht (vgl. den Kontext ab Sir 16,26). Vielleicht schließen sich beide Optionen ein: das Gesetz soll das Leben bestimmen und führt so zum Leben.215 Die eschatologische Bedeutung der Sinaitheophanie wird in 1Hen216 1,3–9 sichtbar (vgl. auch TgPs-J Ex 20,18; CD XX, 25f.; LAB 11,3ff [vgl. LAB 32,7f.]; PRK 12), wobei der Akzent (entsprechend einem Hauptmotiv in 1Hen)217 in 1Hen 1,3–9218 auf dem Gerichtsaspekt der eschatologischen Sinaitheophanie liegt:219 3

Über die Auserwählten redete ich, und über sie sprach ich die Bilderrede: „Es wird der Heilige und Große heraustreten aus seiner Wohnstätte, 4 und der Gott der Welt, und von dort wird er auf den Berg Sinai treten, und er wird erscheinen mit seinen Heerschaaren, und er wird erscheinen in der Stärke seiner Macht. 5 Und alle werden sich fürchten, und die Wächter werden beben, und große Furcht und (großes) Zittern wird sie ergreifen bis an die Enden der Erde. 6 Und die hohen Berge werden erschüttert, und die hohen Hügel werden sich senken, und sie werden schmelzen wie Honigwachs vor der Flamme. 7 Und die Erde wird zerbrechen, und alles, was auf der Erde (ist), wird zugrunde gehen. Und ein Gericht über alle und über alle Gerechten wird stattfinden. 8 Den Gerechten aber wird er Frieden schaffen, und die Auserwählten wird er behüten, und Gnade wird über ihnen walten, und sie werden alle zu Gott gehören, und es wird wohl gehen und sie werden gesegnet sein, und das Licht Gottes wird ihnen leuchten. 9 Und siehe, er kommt mit Myriaden von Heiligen, damit er Gericht über sie halte. Und er wird vertilgen die Frevler, und er wird alles Fleisch überführen wegen aller (Dinge), mit denen sie gegen ihn gehandelt und gefrevelt haben, die Sünder und Frevler.“220

211

Vgl. auch Sir 45,5. MARBÖCK 2010: 216. Gleichwohl macht REITERER (2011: 211–223) auf prägende Einflüsse inhaltlicher (Propheten) und terminologischer (Weisheitsliteratur) Art aufmerksam, wobei Neh 9 von ihm diesbezüglich am bedeutendsten eingeschätzt wird. 213 Vgl. zu diesem Genitiv VON SIEBENTHAL 2011: § 164. 214 Vgl. REITERER 2011: 208. 215 Ähnlich MARBÖCK 2010: 216. 216 Text: KNIBB 1978; Übersetzung: UHLIG 1984. 217 Vgl. SHIVELY 2012: 126. 218 Vgl. 4Q201 Kol. I, Frg. a + b (vgl. 1Hen 1,1–6); 4Q204 Kol. I (vgl. 1Hen 1,9–5,1). 219 Vgl. ZAGER 1996: 81–93. 220 Vgl. 1Hen 25,3: „Und er [sc. der Engel Michael] antwortete mir, indem er sprach: ‚Dieser hohe Berg, den du gesehen hast, dessen Gipfel dem Throne Gottes gleicht, ist sein 212

2. Digression

167

Diese Beschreibung des eschatologischen Gerichts auf dem Sinai speist sich mitunter aus Texten wie Dtn 33, Mi 1, und Sach 14,5. Warum aber findet das Endgericht nach 1Hen auf dem Sinai statt? Vielleicht deshalb, um klarzustellen, dass der Maßstab für das Gericht nur das am Sinai gegebene Gesetz sein kann.221 In 1Hen 89,30f. kommt Henoch innerhalb der sog. Tierapokalypse (1Hen 85–90) erneut auf die Sinaitheophanie zu sprechen – man beachte die komprimierte Darstellung, in der vor allem visuelle Aspekte begegnen –, diesmal jedoch nicht in eschatologischem Zusammenhang, sondern innerhalb einer etwas „verfremdeten“ Nacherzählung biblischer Geschichte: 30

Und danach schaute ich den Herrn der Schafe, der vor ihnen stand, und seine Erscheinung war majestätisch und ehrfurchtgebietend und mächtig; und alle jene Schafe sahen ihn und fürchteten sich vor seinem Angesicht. 31 Und sie alle fürchteten sich und zitterten vor ihm, und sie schrieen jenem Schaf, (das) sie führte [= Mose], und dem anderen Schaf in ihrer Mitte [= Aaron] nach und sprachen: „Wir können vor unserem Herrn nicht stehen und ihn nicht ansehen.“

1Hen schwächt die Theophanie nicht ab, sondern betont ein Sehen des „Herrn der Schafe“ durch alle „Schafe“.222 Doch die „Erscheinung“ des Herrn war für die „Schafe“ zu überwältigend, um sie weiterhin ertragen zu können. Sie äußern daraufhin vor Mose ihre Furcht. Dabei ist wohl die Bitte impliziert, dass die Theophanie in dieser Form aufhört. Im Anschluss wird der Abfall Israels am Sinai geschildert (1Hen 89,32f.; vgl. Ex 32). Dabei benutzt der Autor für die Abwendung von Gottes Geboten Ausdrücke wie „die Augen begannen, verblendet zu werden“,223 die in semantischem Kontrast zu der vorherigen Schau stehen: 32

… aber die Augen der Schafe begannen, verblendet zu werden und vom Wege abzuirren, den es ihnen gezeigt hatte;224 aber jenes Schaf [sc. Mose] wusste (es) nicht. 33 Und der Herr der Schafe ergrimmte über sie in großem Zorn; und jenes Schaf erfuhr es, und es stieg herab vom Gipfel jenes Felsens, und es kam zu den Schafen und traf die meisten von ihnen (mit) verblendeten Augen und (von ihrem Wege) abgewichen an.

Thron, wo sich der Heilige und Große, der Herr der Herrlichkeit, der König der Welt niedersetzen wird, wenn er herabkommt, um die Erde mit Gutem heimzusuchen‘.“ 221 Vgl. DILLMANN 1853: 90: „Vom Sinai her, wo Gott einst in glänzender Erscheinung sein Gesetz der Welt gab, wird er wieder erscheinen, um die Welt nach diesem Gesetze zu richten; der Sinai hat fast appellative Bedeutung als der Ort der Gerechtigkeitsoffenbarung Gottes.“ Vgl. LAB 11,2. 222 Vgl. aber 1Hen 14,20f. (dazu s. Haupttext nach Fußnote 249 im 2. Kapitel). 223 Vgl. auch 1Hen 89,41: „Und manchmal waren ihre Augen offen, und manchmal waren sie geblendet, bis sich ein anderes Schaf erhob und sie führte und sie alle zurückbrachte, und ihre Augen wurden geöffnet.“ 224 Davon ist vorher jedoch nicht berichtet worden; der Text setzt die atl. Erzählung offenbar voraus.

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3. Kapitel: Die Rezeption der Sinaitradition in Joh 5,37f.

Zu vermerken ist noch 1Hen 94,5 aufgrund der im Vergleich zu Dtn 6,6 ähnlichen Ausdrucksweise (wenngleich mit anderem Bezug): „Und behaltet meine Rede [oder „meine Worte“; so Kautzsch 1900] in den Gedanken eures Herzens, und (sie) soll nicht aus euren Herzen getilgt werden…“ Am Sinai wurde Israel gemäß folgendem Text (1QM X,8–11) aus Qumran225 vor den Völkern durch die Theophanie ausgezeichnet: (8) Wer ist wie Du, Gott Israels, im Himmel und auf Erden, der es Deinen großen Werken gleichtut (9) und Deiner kraftvollen Stärke? Und wer [(Lücke?)] ist wie Dein Volk Israel, das Du Dir erwählt hast aus allen Völkern der Länder? (10) Ein Volk von Bundes-Heiligen und Gesetzes-Gelehrten, Verständige in der Ein[sicht -- -- ] Die eine geehrte Stimme ( ‫קול‬ ‫ )נכבד‬hören (‫ )ושׁומעי‬und (11) heilige Engel (‫ )מלאכי קודשׁ‬schauen (‫)ורואי‬, offenen Ohres und Tiefes vernehmend, [ --

In diesem Gebet wird Gottes Unvergleichlichkeit226 und Israels Erwählung hervorgehoben.227 Israel wird in Z.10 bezeichnet als „ein Volk von Bundes-Heiligen228 und Gesetzes-Gelehrten229, Verständige in der Ein[sicht230“. Im Anschluss daran findet sich etwas, das eine Zusammenfassung der Sinaitheophanie sein könnte. Demgemäß wäre Israel (das sich nach eigenem Verständnis wohl in der Qumrangemeinschaft realisiert) u.a. dadurch als besonders gekennzeichnet, dass es „eine geehrte Stimme hören und heilige Engel schauen“ darf. Der Ausdruck „geehrte Stimme“ (‫ )קול נכבד‬könnte auf die Stimme Gottes am Sinai referieren, wie es schon in Sir 17,13 mit einer äquivalenten Formulierung (δόξαν φωνῆς) der Fall war. Die Bezeichnung „heilige Engel“ (‫ )מלאכי קודשׁ‬lässt sich leicht mit dem „Feuer“ am Sinai (vgl. Ex 19,18; 24,17; Dtn 4f. mit Dtn 33,2ff.) in Verbindung bringen wie 4Q403 Frg. 1, ii Z.6ff zeigt.231 Die Erscheinung Gottes am Sinai bzw. Horeb wurde in der Qumrangemeinschaft liturgisch vergegenwärtigt. In dem liturgischen Text 1Q34 Kol. ii (= 4Q509 Frg. 97–98 Kol. i) heißt es: (1) [ ] gro[ßes] Licht für den Festtermin der/s[ -- ] (2) [ ].[….]. und es gibt kein Überschreiten ihrer Vorschriften; und sie alle [ -- ] (3) [ ]. und ihre Herrschaft in der ganzen Welt. Aber es begriff die Nachkommenschaft des Mensch[en] nicht alles, was Er ihm zum Erbe gegeben, und sie haben Dich nicht erkannt, (4) [um zu handeln nach a]ll Deinem Wort, und sie verursachten Frevel von allem her, und sie begriffen nicht Deine Kraft, die große. Da verwarfst Du sie, denn Du hast kein Gefallen (5) an Un[recht] und Frevel hat keinen Bestand vor Dir, und Du wähltest ein Volk zur Zeit Deines Wohlgefallens, denn Du 225

Text: DSSR 2004–05; Übersetzung: (wenn nicht anders angegeben) MAIER 1995 I–II. Zur Formulierung „Wer ist wie Du, Gott Israels, im Himmel und auf Erden, der es Deinen großen Werken gleichtut (9) und Deiner kraftvollen Stärke?“ vgl. Dtn 3,24. 227 Vgl. Dtn 4,33f. 228 Vgl. Ex 19,6. 229 Vgl. Dtn 4,1.5.14; 5,1.31; 6,1. 230 Vgl. Dtn 4,6. 231 Wenngleich „Feuer“ in Qumran auch den göttlichen Glanz beschreiben kann; vgl. NEEF 2011: 306–308. 226

2. Digression

169

dachtest an Deinen Bund (‫)כי זכרתה בריתכה‬. (6) Und Du [bestelltest] sie dazu, sich für Dich abzusondern zu einem Heiligtum aus allen Völkern, und du erneuertest Deinen Bund für sie durch eine Erscheinung von Herr[lichkeit] (‫ )במראת כבוד‬und Worte (7) [des Geistes] Deiner Heiligkeit mittels Deiner Hände Werk (‫ )במעשׂי ידיכה‬und der Schrift Deiner Rechten (Hand) (‫)וכתב ימינכה‬, um ihnen kundzutun Grundlagen (/Bindungen) von Herrlichkeit und ewige Werke (8) [ ]für [s]ie als getreuer Hirte..[ ]. demütig und .[ ]…

Für meine Belange ist der Text besonders ab Z.5 interessant, da hier mit knappen Strichen die ganze Geschichte des Exodus bis zum Sinai rekapituliert wird. Dabei ist vorausgesetzt, dass die Teilnehmer des Festes in der Lage sind, sich aufgrund dieser wenigen Anspielungen das gemeinte Geschehen in Erinnerung zu rufen. Als Essenz der Sinaioffenbarung ist sowohl von der Erscheinung der Herrlichkeit als auch von den Worten Gottes die Rede („Stimme“ ist wohl durch „Worte des Geistes Deiner Heiligkeit“ impliziert): Die Phrase „Gott dachte an seinen Bund“ (gemeint ist der Bund mit Noah und den Patriarchen [vgl. 4Q508 Frag. 3]) erinnert an Ex 2,24; das „Heiligtum aus allen Völkern“ evoziert Ex 19,5f. Der Bund am Sinai ist nach Z.6 eine Erneuerung des (einen) Bundes (der zuerst mit Noah und den Patriarchen geschlossen wurde [vgl. besonders Jub 6]). Er wird geschlossen bzw. erneuert durch die „Erscheinung von Herrlichkeit“ (vgl. Ex 24,17), d.h. durch die Theophanie einschließlich der „Worte des Geistes Deiner Heiligkeit mittels Deiner Hände Werk und der Schrift Deiner Rechten (Hand), um ihnen kundzutun Grundlagen (/Bindungen) von Herrlichkeit und ewige Werke“. Vermutlich beziehen sich die unterschiedlichen Begriffe allesamt auf die Worte, die von Gott selbst offenbart und auf die von ihm gemachten Tafeln eingraviert wurden (vgl. u.a. Ex 32,16 MT; Dtn 33,2 MT). Auch hier wird wieder das Herausgehoben-Sein Israels aus den Völkern (Israel als abgesondertes Heiligtum)232 durch die Theophanie und die Worte Gottes deutlich. Dabei zeigt sich ferner, dass Theophanie und Worte Gottes nach diesem Text konstitutiv für den Bund Gottes mit Israel sind. Ein weiterer Text, der belegt, dass das Sinaiereignis in Qumran eine wichtige Rolle gespielt hat, ist 4Q504 Frg. 3 Kol. ii233: (Gebet am vierten Tag der Woche): Gedenke, Herr[ --] (6) [ -- ]Deine ..[ ], es werde geheiligt in der Herrlichkeit[ -- ] (7) [ -- Auge ] in Auge erschienst Du in unserer Mitte[ -- ] (8) [ -- ]. und die Worte Deiner Heiligkeit hörten [wir -- ] (9) [ -- ].. vor uns ohne .[ -- ] (10= [ -- ]den großen[Namen] Deiner [Heil]igkeit,[ -- ] (11) [ -]Erde der/die/das ..[ -] (12) [ -- ]und damit wir glauben .[ -- ] (13) für ewig. Und Du schlossest mit uns einen Bund am Ho[reb -- ] (14) in Bezug auf alle die[se] Vors[ch]riften und Gesetze (15) und die gut[en ….]… und heiligen und .[ -- ] (16) der [ -- ]Mose und [ -- ] (17) in all[......]von

232 Nach EISS (1997: 172, Anm. 43) zeigt sich hier eine offenkundige Parallelität zu den Stellen im Jub, wo eine Bundeserneuerung im Rahmen des Wochenfest stattfindet und bestimmte „identity markers“, die Israel von den Völkern unterscheiden, in den Fokus gerückt werden. 233 In der DSSR-Ausgabe 4Q504 Kol. XI (Frg. 3 ii).

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3. Kapitel: Die Rezeption der Sinaitradition in Joh 5,37f.

Angesicht zu Angesicht {sprachst Du} mit[ihm] (18) Herrlich[keit -- ] nahmst Du ihn/es an und diese finden [Gnade -- ] (19) [ -- ]ihre[ -- ] durch ihn vor unseren Augen[ -- ]

4Q504 Frg. 3 Kol. ii, Z.5–12[8–22]234 erinnert z.T. an Dtn 5,2ff.; allerdings ist aufgrund des bruchstückhaften Charakters eine eindeutigere Identifikation von Bezugstexten sehr spekulativ. Bemerkenswert ist nichtsdestotrotz, dass die Verfasser bzw. Beter sich als am Horeb anwesend sehen, da sie sich als Teil des Volkes Israel verstehen. Dafür sprechen Formulierungen wie: Gott „erschien in unserer Mitte“ (‫ ;נראיתה בקרבנו‬Z.7[10]) und „die Worte Deiner Heiligkeit hörten wir“ (‫ ;שׁמענו‬Z.8[11]) usw. Zeile 11[14] könnte vielleicht auf Dtn 4,36 Bezug nehmen („auf der Erde hat er dich sein großes Feuer sehen lassen“). Zeile 12–13[15–16] „und damit wir glauben [ -- ] für ewig“ ist möglicherweise zu ergänzen durch „Mose“ (in Entsprechung zu Ex 19,9); „Mose“ kommt ja in Z.16[19] vor. Wie dem auch sein mag, „[i]t is thus clear from that text [4Q504] and from the communal purification and initiation ceremony that Sinai/Horeb played a part in the liturgical life of the community that collected the library together at Qumran“235. Mittels Nennung der wichtigsten Elemente konnte die Sinaitheophanie zusammengefasst werden, wie der folgende Text zeigt (4Q377 Frg. 2 Kol. ii)236: 4. Cursed is the man who will not stand and keep and d[o ] 5. all m[ ] through the mouth of Moses his anointed one, and to follow YHWH, the God of our fathers, who m [ ] 6. to us from Mt. Sin[ai ] vacat And he spoke wi[th] the assembly of Israel face to face as a man speaks 7. with his friend and a[s ]r š[ ]r He showed us in a fire burning above [from] heaven vacat [ ] 8. and on the earth; he stood on the mountain to make known that there is no god beside him and there is no rock like him [ ] 9. the assembly {the congrega[tion}]they answered. Trembling seized them before the glory of God (‫ )כבוד אלוהים‬and because of the wondrous sounds (‫)ומקולות הפלא‬, [ ]

Zu notieren ist hier u.a. Folgendes: Gott hat am Sinai einerseits durch den Mund des Mose, seines Gesalbten und andererseits mit Israel ‫„ פנים עם אל פנים‬von Angesicht zu Angesicht“ gesprochen, wie man mit einem Freund spricht. Letzteres scheint eine Mischung aus Dtn 5,4 und Ex 33,11 zu sein.237 Die Bezeichnung Moses als „Gesalbter“ hebt vielleicht auf seine Rolle als Prophet ab.238 Der Sprecher bzw. Schreiber und seine Adressaten werden in 4Q377 zu Israel am Sinai gezählt, was sich daran erkennen lässt, dass hier häufiger die Rede von „(zu) uns“, aber auch von Israel ist. Das Feuer am Sinai wird dem Himmel 234

Im Folgenden beziehen sich die Zeilenangaben in eckigen Klammern auf den Text in der DSSR-Ausgabe. 235 BROOKE 2008: 85 (Kursivierung von mir). 236 Text und Übersetzung DSSR 2005: 599. MAIER (1995 II) bietet keine Übersetzung für dieses Fragment. Für eine Interpretation dieses Textes vgl. FELDMAN 2011: 155–172. 237 Vgl. FELDMAN 2011: 162. 238 Vgl. 1Kön 19,16; Jes 61,1; Ps 105,15; 1Chr 16,22 erwähnt; vgl. CD II,12; vgl. CD XI,1 [=4Q267 Frg. 2,6; 6Q15 Frg. 3,4]; 1QM 11,7–8); FELDMAN 2011: 160f.; JASSEN 2007: 85–103.

2. Digression

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zugeordnet; Gott aber steht auf dem Berg. Die entsprechenden atl. Texte (Ex 19f. und Dtn 4f.) lassen diesbezüglich größere Interpretationsspielräume (vgl. Ex 19,18 mit 20,22; Dtn 4,36); 4Q377 Frg. 2 Kol. ii scheint in diesem Punkt Dtn 4,36 im Licht von Ex 19,18 zu verstehen.239 Während er auf dem Berg steht, offenbart Gott seine Einzigartigkeit (Z.8). Zeile 8 ähnelt dem ersten Gebot (Ex 20,3; Dtn 5,7).240 Wichtig ist noch, dass bei der Bezugnahme auf die Sinaitheophanie neben dem direkten bzw. vermittelten Reden Gottes auch „Feuer“ , die „Herrlichkeit Gottes“ und „wundersame Stimmen“ („wundersam“ sind sie vielleicht deshalb, weil ‫ ַהקּוֹ ת‬nach Ex 20,18 „gesehen“ wurden)241 erwähnt werden. Folgende Texte, die sich ebenfalls auf die Gabe der Tora am Sinai beziehen, lassen das Motiv des „Lebens durch die Tora“242 erkennen: 4Q270 Frg. 11 Kol. i,11*–12*: doch unsere Väter hast Du erwählt und ihrer Nachkommenschaft hast Du gegeben die Vorschriften Deiner Wahrheit (12*) und die Gesetze Deiner Heiligkeit, die der Mensch tun soll, damit er lebe…

4Q504 Frg. 6 (Gebetstext): (1) [ -].. .[ -- ] (2) [ -]. und die Frucht des Gedankens ..[ -- ] (3) [ ]. zu betrachten alle Vorschrift[en -- ] (4) [ -].. ihres Ernteertrages, zu betrach[ten -- ] (5) [ -]……. Durch(/an) deine Taten ständig [ -- ] (6) [ -Ge]denke doch, dass Dein Volk wir alle, und trage uns wunde[rbar (?) -- ] (7) [ -]Adler und bringe uns zu Dir, und wie ein Adler sein Nest beschirmt, [über] (8) [seinem Jungen rüttelt, seine Flügel ausbreitet und es aufnimmt und es trägt auf[ seinem Fittich] (vgl. Dtn 32,11) (9) […….]seine [W]ohnung ist abseits und unter die Völker wird es nicht gerechnet (Vgl. Num 23,9) und .[ -- ] (10) […….]. Du warst in unserer Mitte in einer Säule Wolken .[ -- ] (11) […..]Deiner [Heili]gkeit vor uns her gehend und Deine Herrlichkeit inmitten[ von uns -- ] (12) [………….]Antlitz des Mose, [Deines] Kne[chts -- ] (13) [……………]Denn Du .[ -- ] (14) [……………]wie in Zucht nimmt ein Mann[ seinen Sohn (vgl. Dtn 8,5) -- ] (16) […………… heil]ige und rein[e -- ] (17) […… dass sie tue 239

Vgl. FELDMAN 2011: 163. Vgl. FELDMAN 2011: 164f. mit Hinweis auf rabbinische Texte, die den Wechsel von der 1.Person Sg. (Ex 20,2–6) in die 3.Person Sg. (Ex 20,7–14) so erklärten, dass Gott Israel nur die ersten beiden Gebote direkt, die restlichen aber durch Mose offenbarte. Allerdings gesteht er auch die Möglichkeit zu, dass die Phrase in Zeile 8 auf den Dekalog insgesamt referiert, wofür es auch jüdische Parallelen gibt (vgl. oben die Texte von Philo, Josephus, LAB). 241 Vgl. FELDMAN 2011: 164. 242 Vgl. zu diesem Motiv auch CD III,12fin–16: „Doch durch jene, die festhielten an Gottes Gebot(en) (13) die von ihnen übriggeblieben waren, richtete Gott seinen Bund für Israel auf ewig auf, um zu offenbaren (14) für sie verborgene (Gesetze), bezüglich deren ganz Israel irregegangen: Seine heiligen Sabbate und die Festtermine (15) seiner Herrlichkeit, die Zeugnisse seiner Gerechtigkeit und die Wege seiner Wahrheit und Seines Wohlgefallens Begehren, die tun sollte (16) der Mensch, um durch sie zu leben. [(leer)]“ (Übersetzung nach MAIER 1995 I: 12). 240

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3. Kapitel: Die Rezeption der Sinaitradition in Joh 5,37f.

der ]Mensch und durch sie lebe (vgl. Lev 18,5) ..[ -- ] (18) [……… den Sch]w[u]r, welchen geschw[oren -- ] (19) [………..]… vor Dir[ -- ] (20) [………….]

Einige Auslegungstraditionen, die in den Targumim auffielen, begegnen ähnlich schon in den Werken Philos243: 32 … Die zehn Worte (τοὺς δέκα λόγους) oder göttlichen Aussprüche, die wahrhafte Gesetze oder göttliche Satzungen sind, hat der Vater des Weltalls (ὁ πατὴρ τῶν ὅλων) vor versammeltem Volke, vor Männern und Frauen zugleich, geoffenbart (ἐθέσπισεν). Also hätte Gott eine Art Stimme244 gehabt, mit der er selbst sie ausgesprochen? Nicht doch! […] Denn nicht wie ein Mensch ist Gott (οὐ γὰρ ὡς ἄνθρωπος ὁ θεός),245 dass er des Mundes, der Zunge, der Arterien bedürfe. 33 Vielmehr scheint er mir zu jener Zeit etwas Hehres und Wunderbares geschaffen zu haben, indem er befahl (κελεύσας), dass ein unsichtbarer Schall (ἦχον ἀόρατον) in der Luft sich bilde (δηµιουργηθῆναι), wunderbarer als alle Instrumente der Welt (πάντων ὀργάνων θαυµασιώτερον), ausgestattet mit vollkommenen Harmonien (ἁρµονίαις τελείαις ἡρµοσµένον), nicht ohne Seele (ἄψυχον), aber auch nicht wie ein aus Leib und Seele bestehendes Lebewesen, sondern bloss eine vernunftbegabte Seele (ψυχὴν λογικήν) voll Klarheit und Deutlichkeit; diese Seele, der Luft Gestalt gebend und sie weithin spannend und zur feuerroten Flamme wandelnd (καὶ πρὸς πῦρ φλογοειδὲς µεταβαλοῦσα), ließ wie ein Lufthauch, der durch die Trompete gestossen wird (καθάπερ πνεῦµα διὰ σάλπιγγος), eine Stimme mit so artikulierten Lauten ertönen (φωνὴν τοσαύτην ἔναρθρον ἐξήχησεν), dass die ganz entfernt Stehenden in gleicher Weise wie die Nächsten sie zu hören glaubten (ἀκροᾶσθαι δοκεῖν). […] 35 Diese neugeschaffene Stimme dagegen liess Gottes Allmacht [besser: Macht] durch einen Anhauch erwachen und anschwellen und überallhin erschallen (τὴν δὲ κεκαινουργηµένην φωνὴν ἐπιπνέουσα θεοῦ δύναµις ἤγειρε καὶ ἐζωπύρει καὶ ἀναχέουσα), und sie machte das Ende noch helltönender als den Anfang, indem sie in der Seele eines jeden einen andern und weit kräftigeren Schall (ἀκοήν) hervorrief, als es der gewöhnliche durch das körperliche Ohr ist; denn das körperliche Gehörvermögen, das von Natur langsamer ist, bleibt ruhig, bis es von der Luft berührt und in Bewegung gesetzt wird, das Ohr des Geistes aber, der von Gott erfüllt ist, eilt mit äusserster Geschwindigkeit der Rede sogar voraus (φθάνει δ᾽ ἡ τῆς ἐνθέου διανοίας ὀξυτάτῳ τάχει προϋπαντῶσα τοῖς λεγοµένοις). 36 Soviel über die göttliche Stimme. […] 44 Alles aber in der Umgebung des Ortes war, wie es sich von selbst verstand, voller Wunder (ἐθαυµατουργεῖτο) (2 Mos. 19,16 ff.): das Getöse von Donnerschlägen, grösser als ein Ohr auszuhalten vermag, das helle Aufflammen von Blitzen, der weithinreichende Schall einer unsichtbaren Trompete (ἀοράτου σάλπιγγος ἠχῇ πρὸς µήκιστον ἀποτεινούσῃ), eine niederschwebende Wolke, […] ein dahinflutendes himmlisches Feuer (πυρὸς οὐρανίου), das alles ringsumher in dichten Rauch einhüllte; denn da die Allmacht [besser: Macht] Gottes (θεοῦ δυνάµεως) nahte, durfte keiner der Teile der Welt still stehen, alles musste zu seinem Dienste sich in Bewegung setzen. 45 Das Volk aber stand da in aller Reinheit […] 46 Eine Stimme ertönte darauf mitten aus dem vom Himmel herabkommenden Feuer (φωνὴ δ᾽ ἐκ µέσου τοῦ ῥυέντος ἀπ᾽ οὐρανοῦ πυρὸς), alle mit ehrfurchtsvollem Schrecken erfüllend, indem die Flamme sich zu artikulierten Lauten wandelte (τῆς φλογὸς εἰς διάλεκτον), die den Hörenden vertraut waren, wobei das Gesprochene so deutlich klang, dass man es eher zu sehen als zu hören glaubte. 47 Es bestätigt mir meine Behauptung die heil. 243

Text: COHN/WENDLAND 1896–1930; Übersetzung: COHN/HEINEMANN/ADLER 1909–

1938. 244 245

Zur Offenbarungsstimme bei Philo vgl. KUHN 1989: 153ff. Vgl. Num 23,19; KUHN 1989: 159.

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Schrift, in der es heisst: „alles Volk sah die Stimme“ (2 Mos. 20,18); höchst bedeutsam, denn Menschenstimme ist zu hören, die Stimme Gottes aber ist in Wahrheit zu sehen (ὁρατὴν); warum? weil es nicht Worte sind, was Gott redet, sondern Taten (ἔργα), die das Auge besser unterscheidet als das Ohr. 48 Besonders schön und trefflich aber wird berichtet, dass die Stimme aus dem Feuer hervorkam; denn geklärt und geläutert sind die Worte Gottes wie Gold im Feuer. Es deutet ferner symbolisch etwa folgendes an. 49 Da die Aufgabe des Feuers eine doppelte ist, zu leuchten und zu brennen, so werden die, die dem Gotteswort gehorsam sein wollen, wie in schattenlosem Licht alle Zeit wandeln und die Gesetze selbst als leuchtende Sterne in der Brust tragen; die ihm aber ungehorsam sind, werden ewig entflammt und verzehrt werden von den Begierden in ihrem Innern, die einem Feuer gleich das ganze Dasein derer, die sie beherrschen, zerstören werden. (De decalogo 32ff.)

Nach Philo ist es der „Vater des Weltalls“246, der dem versammelten Volk den Dekalog (bzw. „wahrhafte Gesetze oder göttliche Satzungen“, d.h. absolut verbindlich und ewig)247 „offenbarte“ bzw. „verfügte“248 (ἐθέσπισεν; decal. 32), und zwar ohne menschliche Vermittlung.249 Dabei unterscheidet sich der wunderhafte Vorgang dieser Offenbarung grundsätzlich von jedem menschlichen Sprechen, im Einklang mit dem für Philo wichtigen biblischen Grundsatz aus Num 23,19: „denn nicht wie ein Mensch ist Gott“ und in gewisser Übereinstimmung mit platonischer Philosophie.250 Um sich zu offenbaren, befahl (κελεύσας) Gott, „dass ein unsichtbarer Schall in der Luft sich bilde (δηµιουργηθῆναι)“. Es klingt hier (Neu-)Schöpfungsterminologie an: durch den Befehl Gottes geschieht Schöpfung. Möglicherweise bietet Aristobul eine Vorstufe zu dieser philonischen Interpretation.251 Der jüdisch-hellenistische Philosoph präsentiert in Fragment 2 (Eusebius, Praep Ev VIII [9,38] 10,1–17) folgende Interpretation der Sinaioffenbarung, wobei für ihn die anthropomorphe Ausdrucksweise des göttlichen Herabsteigens in dieser Erzählung erklärungsbedürftig ist: 13 Es wird nämlich mitgeteilt, dass „der Berg in hellem Feuer stand“, wie der Gesetzgeber sagt, wegen des erfolgten Herabsteigens Gottes, (und dass dabei) Trompetenstöße (zu hören) (σαλπίγγων τε φωνὰς] und Feuer, das ohne materiellen Brennstoff loderte, (zu sehen) waren. 14 Denn obwohl sich im ganzen eine Volksmenge von nicht weniger als einer Million, noch abgesehen von den Kindern, rings um den Berg geschart hatte, und zwar (in einem Gebiet) mit einem Umfang von nicht weniger als fünf Tagereisen um ihn herum, konnten sie alle, von jedem Platz, von dem aus sie zuschauten, so wie sie sich im Kreise gelagert hatten, das lodernde Feuer sehen. 15 Also war das Herabsteigen nicht örtlich (begrenzt); denn Gott ist 246

Vgl. für einen ähnlichen Ausdruck 2Makk 14,35. Vgl. KUHN 1989: 157. 248 Vgl. LSJ, s.v. „θεσπίζω“. 249 Man beachte den wichtigen Hinweis von KUHN (1989: 156), dass „Philo das Phänomen der θεία φωνή mit Aristobul und im Gegensatz zu Artapan und Josephus auf das Sinaigeschehen einschränkt“. Dadurch gewinnt das Sinaigeschehen für Philo eine herausragende Stellung, da dort „die Offenbarung des Ethos schlechthin“ stattfinde. 250 Vgl. KUHN 1989: 158. 251 Vgl. KUHN 1989: 161. 247

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überall. Aber die Macht des Feuers, die ja überaus bewundernswert ist, weil sie alles verzehren kann, stellte er so dar, dass sie (in diesem Falle) ohne materiellen Brennstoff loderte, also ohne irgend etwas zu verzehren, außer dass ihr eine von Gott herrührende Energie zugute kam. 16 Denn von den Pflanzen auf dem Berge verzehrte sie keine einzige, obwohl doch die ganze Gegend heftig in Flammen stand; vielmehr blieb ihrer aller junges Grün vom Feuer unversehrt. (Ganz entsprechend) waren auch die Trompetenstöße gleichzeitig mit dem blitzartigen Aufstrahlen des Feuers recht kräftig zu hören, obwohl weder entsprechende Instrumente noch Bläser vorhanden waren, sondern alles nur durch göttliche Veranstaltung geschah (ἀλλὰ θεῖα κατασκευῇ γινοµένων πάντων). 17 Also geht aus diesen (Begleitumständen) eindeutig hervor, dass das göttliche Herabsteigen (wirklich) geschehen ist, eben weil die Zuschauenden alles so eindrücklich wahrgenommen haben, dass (nämlich) weder das Feuer, wie oben gesagt, irgend etwas verbrannt hat, noch die Trompetenstöße durch menschliche Betätigung oder unter Verwendung von Instrumenten zustande gekommen sind, dass vielmehr Gott ohne irgendwelche (Vermittlung) seine alldurchwaltende Majestät offenbart hat.252

Aristobul versucht das Herabsteigen Gottes nicht zu leugnen, sondern als unvermittelte Offenbarung der „alldurchwaltenden Majestät“ zu erläutern. Die Phänomene, die er besonders herausgreift, sind das Feuer und die Trompetenstöße. Zu den Trompetenstößen meint er, dass es sich dabei um eine „göttliche Veranstaltung“ handelte, d.h. dass Gott allein für diese Phänomene verantwortlich ist und sie bewirkt. In Fragment 4 (Eusebius, Praep Ev XIII 12,3–8) deutet er dann die „göttliche Stimme“ folgendermaßen: Man darf nämlich unter der göttlichen „Stimme“ (τὴν θεία φωνὴν) nicht ein gesprochenes Wort (ῥητὸν λόγον) verstehen, sondern die Veranstaltungen (göttlicher) Taten (ἔργων κατασκευάς), wie denn auch Mose im Gesetz uns die ganze Entstehung der Welt als „Worte“ Gottes (ὅλην τὴν γένεσιν τοῦ κόσµου θεοῦ λόγους) dargestellt hat…

Für diese Interpretation beruft er sich ausdrücklich auf die mosaische Darstellung der Entstehung der Welt, wonach Gott redete, die Worte aber keine gesprochenen Worte, sondern Taten waren. Bei Philo ist das, was geschaffen wird, „ein unsichtbarer Schall“ (ἦχον ἀόρατον; decal. 33). Das Adjektiv „unsichtbar“ könnte Philo hier deshalb einfügen, weil die Stimme wenig später im Text als „sichtbar“ beschrieben wird.253 Oder antizipiert dies den späteren Ausdruck „Klang einer unsichtbaren Trompete“ (decal. 44)? Wichtig scheint mir, dass Philo hier das Lexem ἦχος wählt. Nach Kuhns Analyse macht eine Zusammenschau der Belege für ἦχος bei Philo deutlich,254 „dass es sich hier um den Ton handelt im Unterschied zur verständlich geformten Sprache: φωνή (ἔναρθρος)“255. Zu ἦχος im Sinne eines musikalischen Klanges passt es denn auch, dass Philo diesen Ton

252

Text: DENIS 1970: 221; Übersetzung: WALTER 1975: 272f. Vgl. KUHN 1989: 162. 254 Vgl. somn. I 29.259; sacr. 69; decal. 148; LA III. 56; det. 157; post. 88; cont. 88. 255 KUHN 1989: 162 (kursiv im Original). 253

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„überirdischen Ursprungs“256 gleich danach über alle Instrumente der Welt erhebt (πάντων ὀργάνων θαυµασιώτερον) und mit einem Begriff aus dem Bereich der Musik beschreibt als „ausgestattet mit vollkommenen Harmonien (ἁρµονίαις τελείαις ἡρµοσµένον). Dieser „Ton“ ist Philo zufolge eine „vernunftbegabte Seele“ (ψυχὴν λογικὴν), ein lebendiges „Schall-Wesen“ (Kuhn), das „der Luft Gestalt gab und sie weithin spannte und zur feuerroten Flamme wandelte (καὶ πρὸς πῦρ φλογοειδὲς µεταβαλοῦσα)“. Sie brachte eine derart klar artikulierte Stimme hervor, dass es kein Problem für die entfernt Stehenden gewesen sei, die Stimme zu vernehmen. Der Vorgang des Ertönens der Stimme aus dem „Schall-Wesen“ vergleicht Philo bezeichnenderweise mit einem Lufthauch, der durch eine Trompete gestoßen wird (καθάπερ πνεῦµα διὰ σάλπιγγος). Sowohl die genannten Termini aus dem musikalischen Bereich als auch der Vergleich mit einer Trompete deuten darauf hin, dass Philo die Gottesstimme vom Sinai mit der „Stimme der Trompete“ in eine bestimmte Beziehung bringt und sich dabei wahrscheinlich auf die dreifache Erwähnung einer Stimme bzw. von Stimmen einer Trompete in Ex 19,16.19; 20,18 stützt257 – ein Phänomen, das in der Aufzählung der Begleiterscheinungen am Sinai etwas heraussticht. Nach decal. 35 bringt Gottes Kraft (δύναµις) die „neugeschaffene Stimme“ (τὴν κεκαινουργηµένην φωνὴν) aus dem ἦχος wie aus einer Trompete hervor. Die δύναµις Gottes wäre dann gleichsam der Trompetenspieler, der in die Trompete (das „Schall-Wesen“) hineinbläst, und die „neugeschaffenen Stimme“, die überall erschallte, entspräche dem Klang der Trompete. Die eigentliche Wahrnehmung dieser „Stimme“ geschieht, so Philo am Ende von decal. 35, sowohl unmittelbar nach ihrem Erschallen als auch innerlich bei demjenigen, dessen Vernunft von Gott besessen bzw. erfüllt wird. Folglich ist die Voraussetzung für das rechte, innere „Hören“ der Offenbarung Gottes, „dass er [sc. Gott] das Erkenntniszentrum des Menschen umschafft, diesem eine neue Art des Gehörs gibt“258. Philos Interpretation geht ab decal. 44 zu einer Beschreibung dessen über, was sich am Sinai ereignete. Er erwähnt neben anderen Phänomenen auch den Klang einer unsichtbaren Trompete (ἀοράτου σάλπιγγος ἠχη)259. In decal. 46ff. 256

KUHN 1989: 162. Für die Verbindung von Gottesstimme und Trompetenstimme vgl. Mek Bachodesch 4 zu Ex 19,19 (s. Haupttext nach Fußnote 195 in diesem Kapitel). Neben dieser Gemeinsamkeit zwischen Philos Interpretation in decal. 32ff. und der rabbinischen Auslegung in Mek Bachodesch 4 zu Ex 19,18 existieren zweifellos auch Unterschiede, die hier nicht weiter zu diskutieren sind (vgl. KUHN 1989: 165). 258 KUHN 1989: 167. 259 Zunächst scheint es, dass dieser Ausdruck die obige Deutung widerlegt, wonach der Schall (ἦχος) gleichsam eine unsichtbare Trompete darstellt. Allerdings könnte der Genitiv genau in diesem Sinne verstanden werden: „der Schall der unsichtbaren Trompete“ bedeutet „der Schall als eine unsichtbare Trompete“. Außerdem ist zu beachten, dass Philo schon 257

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gilt sein Interesse der Stimme aus dem Feuer. Nach Philo kommt die Stimme nicht nur aus dem Feuer (vgl. die zahlreichen deuteronomischen Belege für diese Vorstellung im Anschluss an Ex 3), sondern es findet auch eine Verwandlung der Flamme in die Sprache statt, die den Hörern bekannt war. Philo fügt hinzu: „wobei das Gesprochene so deutlich klang, dass man es eher zu sehen als zu hören glaubte“ (decal. 46). Es geht also bei dem Wahrnehmen der Stimme auch um ein Sehen. Explizit stützt sich Philo bei dieser seltsam anmutenden Auslegung (vgl. aber die Targumim) einer „sichtbaren Stimme“ auf die überraschende Aussage in Ex 20,18 LXX, die wörtlich übersetzt lautet „das ganze Volk sah (ἑώρα) die Stimme“. Für Philo ist die Wortwahl der LXX höchst bedeutsam. Dadurch kommt nämlich seines Erachtens der Grundsatz zum Tragen, dass Gott nicht nur Worte redet, sondern Taten (decal. 47) – ein Bezug zur Schöpfung scheint von Philo intendiert. Nach Kuhn bedeutet das: „Die Gottesworte setzen Wirklichkeit bzw. sind diese selbst und werden […] mit den Augen besser, nämlich unmittelbar, aufgenommen als mit den Ohren“260. Am Ende des zitierten Abschnitts interpretiert Philo die deuteronomischen261 Aussagen von dem Kommen der Stimme bzw. der Worte aus dem Feuer in ethischer Perspektive (decal. 49): Er hebt dabei auf die Eigenschaft des Feuers als Lichtspender ab und sagt, dass „diejenigen, die dem Gotteswort gehorsam sein wollen, wie in schattenlosem Licht alle Zeit wandeln und die Gesetze selbst als leuchtende Sterne in der Brust tragen (τοὺς νόµους αὐτοὺς ἀστέρας ἔχοντες ἐν ψυχῇ φωσφοροῦντας)“. Daneben macht er an der gleichen Stelle auf eine andere, strafende Seite des Feuers aufmerksam:262 alle, die dem Gotteswort „ungehorsam sind, werden ewig entflammt und verzehrt werden von den Begierden in ihrem Innern, die einem Feuer gleich das ganze Dasein derer, die sie beherrschen, zerstören werden“. In De migratione Abrahami 47ff. sagt Philo: 47 Denn welches Leben (βίος) könnte herrlicher sein als das betrachtende (θεωρητικοῦ), oder welches entspricht besser unserer Vernunftanlage (λογικῷ)? Deshalb sagt auch die Schrift [besser: die Orakel] (οἱ χρησµοί) – obwohl die Stimme aller sterblichen Lebewesen durch das Gehör erkannt wird –, dass die Worte Gottes wie ein Licht gesehen wurden, wie es ja heißt „Das ganze Volk sah die Stimme“ (Ex 20,18), nicht also „es hörte“, da die (damals) ergangene (Stimme) nicht eine Lufterscheinung war, (hervorgebracht) durch die Organe der Zunge und des Mundes, sondern ein strahlendens Aufleuchten der Tugend (φέγγος ἀρετῆς τὸ περιαυγέστατον), einer Vernunftquelle gleich (λογικῆς ἀδιαφοροῦν πηγῆς); dies wird an vorher über die „Seele“ sagt, dass sie „eine Stimme mit so artikulierten Lauten ertönen ließ“, wobei er das an ἦχος anknüpfende Verb ἐξήχησεν benutzt. 260 KUHN 1989: 168. 261 Zuvor scheint sich Philo eher an Ex anzulehnen. 262 Allerdings identifiziert er das Feuer nun mit den Begierden statt mit den Gesetzen Gottes, da er sonst sagen müsste, dass die Sünder innerlich verbrennen müssten durch jene göttlichen Gesetze.

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anderer Stelle auch so ausgedrückt: „ihr habt gesehen, das ich vom Himmel mit Euch geredet habe“ (Ex 20,22), nicht „ihr habt gehört“, und zwar aus demselben Grunde. 48 Mitunter indes scheidet (die Schrift) das Hörbare von dem Sichtbaren und das Hören vom Sehen, so wenn sie sagt „eine Stimme von Worten habt ihr gehört, doch irgendein Abbild habt ihr nicht gesehen, sondern nur eine Stimme“ (Dtn 4,12); (hier spricht die Schrift) äußerst genau; denn die in Nomen, Verbum und überhaupt in Redeteile teilbare Stimme nennt sie billigerweise hörbar, denn durch hören wird sie erkannt, – die Stimme Gottes (θεοῦ φωνήν) aber, die nicht Verbum noch Nomen hat und mit dem seelischen Auge wahrgenommen wird (ὁρωµένην τῷ τῆς ψυχῆς ὄµµατι), führt (die Schrift) mit Recht als sichtbar (ὁρατὴν) vor. 49 Nachdem (die Schrift) aber begonnen „ein Abbild habt ihr nicht gesehen“, fügt sie noch hinzu „sondern nur eine Stimme“; diese habt ihr allerdings gesehen; denn dies (Prädikat) dürfte zu ergänzen sein; die Reden Gottes werden also durch das seelische Sehen erkannt (ὥσθ᾽ οἱ µὲν τοῦ θεοῦ λόγοι ὅρασιν ἔχουσι τὴν ἐν ψυχῇ κριτήριον), durch das Gehör nur solche Reden, die sich in die Arten der Nomina und Verba teilen lassen […] 52 Indessen gleicht unser Stimmwerkzeug nicht dem göttlichen Stimmorgan; denn unsere Stimme mischt sich mit Luft und entschwindet zu dem ihr verwandten Ort, den Ohren; die göttliche Stimme hingegen, die (Organ des) reinen und unvermischten Logos ist, geht wegen ihrer Feinheit dem Gehör verloren, wird aber von der Seele wegen der ihr eigenen Sehschärfe erblickt.

Die Worte Gottes werden in migr. 47 mit „Licht“ verglichen (aufgrund des Kontextes ist an eine übertragene Bedeutung zu denken: die ἀρετή als Licht) – ein ähnlicher Gedanke wie in decal. 48f. (dort stehen die Worte mit Feuer in einem Konnex; Feuer aber wird als Lichtspender aufgefasst, weshalb die Worte Gottes ebenfalls Licht geben). Für Philo hat die Seele gleichsam Augen (migr. 48), die dieses „Licht“ der Worte Gottes „sehen“. Die Stimme Gottes ist für die Seele also „sichtbar“ (ὁρατός), nämlich (wiederum mit einem Begriff für Licht) als „ein strahlendens Aufleuchten der Tugend“ (φέγγος ἀρετῆς τὸ περιαυγέστατον), worin sie nicht unterscheidbar ist von der „Vernunftquelle“ (λογικῆς ἀδιαφοροῦν πηγῆς; migr. 47). Diese „sichtbare“ Stimme, die Philo mit den wie Licht „sichtbaren“ Worten Gottes identifiziert (migr. 47), und ihre Wahrnehmung durch das „seelische Auge“ (ὁρωµένην τῷ τῆς ψυχῆς ὄµµατι; migr. 48)263 ist bei Philo offenbar eng verbunden mit einem betrachtenden bzw. der Vernunftanlage entsprechenden Leben (migr. 47). Es geht Philo mithin darum, dass man für ein solches Leben das „Licht“ der Worte Gottes in sich „aufnimmt“ (wie auch immer dies genau zu verstehen ist: vielleicht in einem meditativ-mystischen Sinne, wobei exegetische Beschäftigung mit den Worten Gottes hier im Mittelpunkt stehen dürfte)264 und sie einen „erleuchten“ und wie Sterne durch das Leben „navigieren“, sofern man ihnen gehorsam sein will (decal. 49). In Philos Erläuterungen zu Ex heißt es (Quaestiones in Exodum II 37–47265):

263

Zu diesem für Philo wichtigen Begriff vgl. KUHN 1989: 171: Anm. 95. Vgl. MACKIE 2012: 162ff. 265 Übersetzung: MARCUS 1953 (im Anhang bietet er die erhaltenen griechischen Fragmente). 264

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37. (Ex. xxiv.10) What is the meaning of the words, “They saw the place where the God of Israel was standing, and under His feet (was something) like the work of plinth of sapphire and like the form of the firmament of heaven in purity”? All this is, in the first place, most suitable to and worthy of the theologian, for no one will boast of seeing the invisible God (τὸν ἀόρατον θεὸν ἰδεῖν), (thus) yielding to arrogance. And holy and divine is this same place alone in which He is said to appear, for He Himself does not go away or change His position but He sends the powers, which are indicative of His essence. And if it is right (to say so, we may) say that this place is that of His Logos, since He has never given a suspicion of movement but of always standing, for the nature of the Father remains fixed and unchanged and more lucid and simpler than the (number) one which alone is a form of likeness. 39. (Ex. xxiv. 11b) What is the meaning of the words, “They appeared to God in the place and they ate and drank”? Having attained to the face of the Father, they do not remain in any mortal place at all, for all such (places) are profane and polluted, but they send and make a migration to a holy and divine place, which is called by another name, Logos. Being in this (place) through the steward they see the Master in a lofty and clear manner, envisioning God with the keen-sighted eyes of the mind. But this vision is the food of the soul, and true partaking is the cause of a life of immortality. Wherefore, indeed, it is said, “they ate and drank”. For those who are indeed very hungry and thirsty did not fail to see God become clearly visible, but like those who, being famished, find an abundance of food, they satisfied their great desire. 45. (Ex. xxiv. 16a) What is the meaning of the words, “And the glory of God came down upon Mount Sinai”? […] what is said to come down is clearly not the essence (οὐσιώδη) of God […] but His glory. And the notion of glory is twofold. On the one hand, it denotes the existence of the powers, for the armed force of a king is also called “glory”. On the other hand, (it denotes) only a belief in and counting on the divine glory, so as to produce in the minds of those who happen to be there an appearance of the coming of God (φαντασίαν ἀφίξεως θεοῦ), Who was not there, as though He were coming for the firmest assurance of things about to be legislated. 47. (Ex. xxiv. 17) What is the meaning of the words, “The form of the glory of the Lord (was) like a fire burning before the sons of the seeing one”? (This is said) because, as has been said before, the glory of God is the power through which He now appears; the form of this power is like a flame or rather, it is not but appears (to be so) to the spectators (φαίνεσθαι τοῖς ὁρῶσι), for God showed both that which pertained to His essence but what He wished to seem to be to the amazement of the spectators. And so, (Scripture) adds, “before the sons of the seeing one,” indicating most clearly that there was an appearance of flame (φαντασία φλογὸς), not a veritable flame. In the second place, because he showed the mountain (to be) inaccessible and unapproachable to the people, He extended the appearance of a flame-like fire around it in order that no one, even if he wished, might be able to come near in disregard of his safety.

In QE II 37 deutet Philo Ex 24,10 offenbar auf Mose (wie auch in somn. I 62): Er ist an jenem „Ort“ gewesen, von wo aus man Gott (indirekt) „sehen“ kann. Der „Ort“ wird identifiziert mit dem „Ort“ des Logos, der (nimmt man somn. I 62 hinzu) erfüllt wird von den göttlichen Kräften (nach Marcus τὰς δυνάµεις)266. Der in QE II 37.39 begegnende Ausdruck „heiliger und göttlicher Ort, an dem er, wie es heißt, erscheint“ erinnert an das Zeltheiligtum (vgl. 266

Vgl. MARCUS 1953: 79, Anm. a.

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Ex 25,8 LXX). Die Vision Gottes,267 vermittelt durch Mose oder den Logos, ist nach Philo „Speise der Seele“; sie führt sogar zu einem „unsterblichen Leben“ (QE II 39). Gemäß QE II 45 ist Gottes Gegenwart vermittelt durch seine Herrlichkeit, die wiederum durch die Kräfte manifestiert ist. Sie wird unterschieden von seiner Essenz. Für die Anwesenden ist es aber, als wäre Gott selbst da. Offenbar ist dies auch für Philo wichtig, da Gottes Anwesenheit durch seine Herrlichkeit dazu dient, den Geboten göttliche Autorität zu verleihen. Seine Herrlichkeit bzw. seine Kraft erscheint den Anwesenden als Feuer (QE II 47), wenngleich es sich nicht um echtes Feuer handelte, das den Berg abgrenzt. In De confusione linguarum 56 führt Philo aus: Denn wir sind das Geschlecht „der Auserwählten“ (τῶν ἐπιλέκτων), des gottschauenden (τὸν θεὸν ὁρῶντος) „Israel“, von denen keiner anders gestimmt war (διεφώνησεν οὐδὲ εἷς; Ex 24,11), damit die Lyra des Alls, die ganze Welt in Harmonie wohlklingend gestimmt sei.

Nach Ex 24,11 „fehlte nicht“ (οὐ διεφώνησεν) einer „von den Ausgewählten Israels“ (τῶν ἐπιλέκτων τοῦ Ισραηλ). Dabei darf man wohl am ehesten an „Mose und Aaron und Nadab und Abiud und siebzig vom Ältestenrat Israels“ (Ex 24,9) denken. Für Philo stehen diese „Ausgewählten Israels“ offenbar pars pro toto für ganz „Israel“, weshalb er sagen kann: „wir sind das Geschlecht ‚der Auserwählten‘“. Augenscheinlich stützt sich Philo auf die LXX, wie die benutzte Terminologie zeigt. In der LXX ist ja, im Gegensatz zum MT, gerade nicht vom Sehen Gottes die Rede, weder in Ex 24,10 (LXX: „sie sahen den Ort, wo der Gott Israels sich hingestellt hatte“; MT: „sie sahen den Gott Israels“) noch im nächsten Vers (Ex 24,11 LXX: „sie erschienen an dem Ort Gottes“; MT: „sie schauten Gott“). Philo kann nichtsdestotrotz „des gottschauenden (Israel)“ (τὸν θεὸν ὁρῶντος)268 einfügen. Die von Philo gemeinte Gottesschau wurde schon in den zuvor genannten Texten angesprochen und ist auch von dorther zu verstehen. Sie ist es, die „Israel“ im philonischen Sinne definiert.269 Unter anderem in LAB270 11,1ff. findet sich eine (Nach-)Erzählung der Sinaitheophanie. 1 Und im dritten Monat des Aufbruchs der Söhne Israel aus dem Land Ägyptens kamen sie in die Wüste Sinai, und er gedachte seiner Worte und sprach: „Ich werde der Welt Licht (lumen mundo) geben und ich werde erleuchten die bewohnten (Gegenden) und ich werde einen Bund schließen mit den Söhnen der Menschen und werde mein Volk verherrlichen über alle Völker (glorificabo populum meum super omnes gentes); in ihm habe ich ewige Erhabenheit angeordnet, die ihm zum Licht dienen wird (que eis erunt in lumine), den Gottlosen indes zur Bestrafung (impiis vero in punitionem).“ 2 Und der Herr sprach zu Mose: 267

Zur Visio Dei bei Philo vgl. MACKIE 2009: 25–47 und 2012: 147–179. Vgl. auch congr. 51; migr. 18. 269 Vgl. dazu UMEMOTO 1994: 22–51. 270 Text: HARRINGTON 1976; Übersetzung: DIETZFELBINGER 1975. 268

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3. Kapitel: Die Rezeption der Sinaitradition in Joh 5,37f.

„Siehe, ich werde dich rufen am morgigen Tag; du sollst bereit sein; und sage meinem Volk: ‚Drei Tage lang soll nicht der Mann zur Frau gehen‘, und am dritten Tag werde ich zu dir und zu ihnen reden. Und danach sollst du zu mir heraufsteigen, und ich werde meine Worte in deinen Mund geben (verba mea in ore tuo), und du wirst mein Volk erleuchten (illuminabis populum meum) darum, weil ich in deine Hände das ewige Gesetz (legem sempiternam) legen werde, und durch dieses werde ich den ganzen Kreis (der Erde) richten (et in hac omnem orbem iudicabo). Es wird nämlich dieses zum Zeugnis (testimonium) dienen. Wenn nämlich die Menschen sagen: ‚Wir haben dich nicht gekannt, und darum haben wir dir nicht gedient’, (so) werde ich mich deswegen an ihnen rächen, weil sie mein Gesetz nicht erkannt haben.“

Hier fällt die häufig begegnende Lichtterminologie auf. LAB 11,1 zufolge wird am Sinai „der Welt Licht“ (lumen mundo) gegeben – offensichtlich ist die Tora gemeint. Durch dieses universale, aber Israel gegebene Licht ist Gottes Volk aus den anderen Völkern herausgehoben. Für Israel selbst wird die Tora – unter der Bedingung des Gehorsams – zum Licht (que eis erunt in lumine; vgl. LAB 15,6); sie sollen durch die Worte Gottes im Munde des Mose „erleuchtet“ werden (auch wenn Mose das Subjekt in dem Satz ist: illuminabis populum meum).271 Die Rede von der Tora als Licht erinnert dabei an die atl. Darstellung der Herrlichkeit Gottes in Form von Feuer, dessen Eigenschaft als Lichtspender schon von Philo betont wurde. Zu beachten ist auch der andere in LAB 11,1 genannte und auch bei Philo begegnende Aspekt von Feuer (decal. 49), nämlich Strafe272. Gemäß 11,2 ist die (Israel offenbarte und daher auch prinzipiell zugängliche) Tora ein Zeugnis (testimonium) gegen die,273 die Gott nicht kennen und sein Gesetz nicht anerkennen274; durch die ewige Tora werden alle Menschen gerichtet. In 11,3ff. wird die Sinaitheophanie nacherzählt. Allerdings finden sich hier im Vergleich zur biblischen Erzählung (besonders Ex) zusätzliche Elemente, die sonst eher in „apokalyptischen“ oder prophetischen Schriften begegnen und an eschatologische Zusammenhänge erinnern (vgl. 32,7f.): 4 Und es geschah am dritten Tag, siehe, schallende Stimmen und Glanz von Blitzen, und die Stimme von Posaunen tönte stark; und Entsetzen entstand im ganzen Volk, das im Lager war. Und Mose führte die Leute heraus, Gott entgegen. 5 Und siehe, die Berge brannten von Feuer und die Erde erzitterte; und die Hügel wurden verwirrt und die Berge herumgedreht, und die Abgründe sprudelten hervor, und jeder bewohnbare (Ort) wurde bewegt, und die Himmel falteten sich zusammen, und die Wolken schöpften Wasser, und Feuerflammen entzündeten sich (et flamme ignis exardescebant), und Donner und Blitze kamen oft, und Winde und Stürme tosten, Sterne versammelten sich, und Engel liefen hervor, bis Gott festlegte das

271

Vgl. für eine alternative Deutung JACOBSON 1996: 450. Vgl. LAB 23,6 und die Diskussion bei JACOBSON 1996: 447. 273 Vgl. DIETZFELBINGER 1975: 129: „Die Wendung hat hier belastenden Sinn.“ 274 Vgl. JACOBSON 1996: 452, der die Phrase „die mein Gesetz nicht kannten“ (quoniam non cognoverunt legem meam) auf Israel bezieht, wodurch seiner Meinung nach nicht „lack of knowledge, but lack of recognition and acceptance“ getadelt wird. 272

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Gesetz des ewigen Bundes für die Söhne Israel und ewige Vorschriften gab, die nicht vergehen werden.

Das Motiv der Feuerflammen (et flamme ignis exardescebant; 11,5) erscheint auch in LAB 11,14, ist dort jedoch stärker durch Lichtmetaphorik konnotiert: „Als aber der Herr aufhörte zu reden, fürchtete sich das Volks [sic!] sehr in Entsetzen, weil sie den Berg in Feuer brennen gesehen hatten in Fackeln (quia in lampadibus viderant montem ardentem igni).“ Relevant ist ferner LAB 23,1ff. wo erzählt wird, wie Josua vor seinem Tod mit Israel in Silo (so auch Jos 24,1 LXX; Jos 24,1 MT: „Schechem“)275 vor der Bundeslade bzw. nach 23,2 „vor dem Angesicht des Herrn“ den Bund schließt. Es dürfte in LAB 23 angesichts der auffälligen Datierung (LAB 23,2: der 16. des dritten Monat [XVI die mensis tertii])276 und ausweislich der kurz zuvor (LAB 22,7) berichteten Bitte der Stämme Ruben, Gad und des halben Stammes Manasse, dass Gott des Bundes gedenken soll, kein neuer Bund im Blick sein,277 sondern wahrscheinlich eine Bundeserneuerung. Bei dieser Gelegenheit wird die Geschichte Gottes mit Abraham, Isaak und Jakob in Form einer direkten Rede Gottes rekapituliert,278 um dann zunächst kurz auf den Exodus durch Mose und etwas ausführlicher auf die Sinaitheophanie zu sprechen zu kommen (LAB 23,9f.) – im biblischen Bericht fehlt dieser Rückbezug zur Sinaitheophanie völlig, was für LAB daher umso bedeutsamer ist: 9 Und ich gab dem Isaak Jakob und Esau. Und ich gab dem Esau das Land Seïr zum Erbe, Jakob aber und seine Söhne stiegen hinab nach Ägypten. Und die Ägypter erniedrigten eure Väter, wie ihr wisst, und ich erinnerte mich eurer Väter und sandte Mose, meinen Freund, und er befreite sie von dort, ihre Feinde aber schlug ich nieder, 10 und ich brachte sie heraus mit ausgereckter Hand und führte sie durchs Rote Meer und legte eine Wolke unter ihre Füße und führte sie heraus durch den Abgrund. Und ich führte sie an den Fuß des Berges Sinai und neigte die Himmel und stieg herab (et inclinavi celos et descendi) und ließ die Feuerflamme fest werden und verstopfte die Quelladern des Abgrundes und hinderte den Lauf der 275 Vgl. JACOBSON 1996 II: 710f. Für LAB gehören Bundesschluss bzw. -erneuerung und legitimer Kultort folglich zusammen. 276 Diese chronologische Angabe findet sich so weder in der LXX noch im MT. Daher schlägt JACOBSON vor: „It is […] quite clear that the dating of Joshua’s covenant to the month of Sivan must be due to the parallel with the Sinai covenant (and note the following reference to Oreb). It seems then eminently reasonable to follow Feldman […] in emending ‚sixteenth‘ to ‚sixth‘“ (1996 II: 711. JACOBSON verweist dann noch auf die rabbinische Diskussion hinsichtlich des Tages der Sinaioffenbarung, ob sie am sechsten oder siebten Tag stattfand). Selbst wenn man diesem Vorschlag nicht folgt und die Datierung auf den 16. des dritten Monats in Entsprechung zur Zählweise der Boethusäer begreift (mit SIGGELKOWBERNER 2011: 224, Anm. 97), liegt die Verbindung dennoch nahe (vgl. SIGGELKOW-BERNER 2011: 224). 277 Wie es wohl auch nicht der Fall ist in Jos 24. Man vergleiche nur den Bezug auf das Buch der Tora (MT) bzw. des Gesetzes (LXX) des Mose in Jos 23,6 und den Verweis auf den Sinaibund in 23,16. 278 Abraham nimmt dabei wesentlich mehr Raum ein als sein Sohn bzw. Enkel.

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3. Kapitel: Die Rezeption der Sinaitradition in Joh 5,37f.

Sterne und bändigte die Töne der Donner und tilgte die Fülle des Windes aus und schalt die Menge der Wolken und brachte die Bewegung zum Stehen und hemmte den Sturm der Heerscharen, damit ich nicht meinen Bund verdürbe, weil bei meinem Abstieg alles sich bewegte und belebt wurde das Gesamte bei meiner Ankunft. Und ich erlaubte nicht, dass mein Volk zerstreut wurde, sondern ich gab ihnen mein Gesetz und erleuchtete sie (dedi ei legem meam, et illuminavi eos ut), damit sie es tun und leben und hochbetagt werden und nicht sterben (facientes hec vivant et longevi fiant et non moriantur).

Dabei fallen folgende Dinge auf: Mit der Formulierung „und neigte die Himmel und stieg herab“ (et inclinavi celos et descendi; LAB 23,10) wird (wie in TgPs-J Ex 19,18)279 Ps 18,10 aufgenommen,280 was belegt, dass zu der Zeit der Abfassung von LAB die Sinaitheophanie in Verbindung zumindest mit diesem Psalm, vermutlich aber auch mit anderen Psalmen verstanden werden konnte. Im Gegensatz zu LAB 11,3ff. werden die Begleiterscheinungen der Theophanie am Sinai gemäß LAB 23,10 durch Gott zum Stillstand gebracht.281 Gemäß LAB 23,10 gab Gott Israel sein Gesetz und „erleuchtete sie“ (dedi ei legem meam, et illuminavi eos ut). Beachtenswert ist schließlich noch das Ende von LAB 23,10, da der Text unmittelbar nach der Theophanie und der Gabe des Gesetzes offenbar mit Bezug auf Lev 18,5 betont, dass derjenige leben und nicht sterben wird, der „diese Dinge tut“ (facientes hec282, vivant et longevi fiant et non moriantur).283 Auf diese Nacherzählung der Geschichte Israels einschließlich des Sinaigeschehens Rede reagiert das ganze Volk mit dem Bekenntnis: „Der Herr ist unser Gott“ (Dominus est Deus noster; LAB 23,14; vgl. Jos 24,17 [besonders LXX]). Die Bedeutung dessen wird durch den folgenden Satz deutlich: „und ihm allein wollen wir dienen“ (et ipsi soli serviemus). Das Bekenntnis zum alleinigen Gott korreliert demzufolge mit seiner Alleinverehrung.284 279

S.o. nach Fußnote 168 in diesem Kapitel. Vgl. JACOBSON 1996 II: 723. 281 „The point seems to be that the frightening storms, thunder etc. that accompany God’s descent on Sinai might terrify the people to such extent that they would decline to receive God’s covenant (cf. Exod. 20:14–17). Thus, God renders the world perfectly quiet to allay the people’s fear and to assure their acceptance of the covenant“ (JACOBSON 1996 II: 725). 282 Das Bezugswort ist nicht eindeutig (legem ist Akk. Sg. fem. und hec Akk. Pl. neutr.; aber vermutlich zielt LAB hier auf die „Ordnungen und Rechtsbestimmungen“ (Lev 18,5) des Gesetzes. 283 Vgl. LAB 19,9 (wenngleich hier eher an Dtn 4,1 zu denken ist); PsSal 14,1–3: „Treu ist der Herr denen, die ihn in Wahrheit lieben (τοῖς ἀγαπῶσίν αὐτὸν ἐν ἀληθείᾳ), die seine Züchtigung aushalten, die wandeln in der Gerechtigkeit seiner Weisungen, im Gesetz, das er uns geboten hat, damit wir leben (εἰς ζωὴν ἡµῶν). Die Frommen des Herrn werden leben in ihm (oder: durch es) in Ewigkeit (ζήσονται ἐν αὐτῷ εἰς τὸν αἰῶνα); das Paradies des Herrn, die Bäume des Lebens, sind seine Frommen.“ 284 Josua versammelt das Volk LAB 24,1 zufolge noch einmal und erwähnt in der folgenden Rede gleich zu Anfang, dass „jetzt […] der Herr als Zeuge heute unter euch [ist]“ (nunc Dominus est testatus in vobis). 280

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In der Nacherzählung der Sinaitheophanie von Josephus285 werden die „übernatürlichen“ Begleiterscheinungen der Theophanie in Ant. III 79ff. nicht ausgespart. Josephus betont dann nachdrücklich und mehrfach, dass die Gebote, die Israel empfing, nicht einfach Moses Worte waren, sondern dass sie von Gott stammten. Deshalb und aufgrund der herrlichen Werke Gottes (τὰ ἔργα), die Josephus Mose im Folgenden ausführlich aufzählen lässt (Ant. III 86f.), soll Israel Moses Worte nicht verachten (Ant. III 85). Diese Legitimation der Moseworte als Gottesworte am Sinai entspricht auch den biblischen Erzählungen selbst; allerdings findet sich keine solch lange Vorrede vor der Offenbarung des Dekalogs. Nichtsdestotrotz hält Josephus daran fest, dass alle eine Stimme von oben gehört haben, die an alle erging, sodass ihnen keins der Worte entging, die Mose auf die zwei Tafeln schrieb und zurückließ (vgl. Ant. III 90.: πάντες τε ἤκουον φωνῆς ὑψόθεν παραγενοµένης εἰς ἅπαντας ὡς διαφυγεῖν µηδένα καὶ λόγων οὓς Μωυσῆς ἐν ταῖς δύο πλαξὶ γεγραµµένους κατέλιπεν οὓς οὐ θεµιτόν ἐστιν ἡµῖν λέγειν φανερῶς πρὸς λέξιν τὰς δὲ δυνάµεις αὐτῶν δηλώσοµεν)286. Mekhilta Rabbi Jischmael (Mek)287 bietet im Traktat Bachodesch einige ähnliche Auslegungen wie die palästinischen Targumim.288 Das Sinaigeschehen wird in Mek chronologisch fixiert. Der „dritte Tag“ (Ex 19,11.15f.) ist dann identisch mit dem sechsten Tag des dritten Monats.289 Dies spielt für die Frage nach der Verbindung von Wochenfest und Sinai eine wichtige Rolle. Häufig verwendet Mek im Traktat Bachodesch Psalmen zur Erläuterung des Exodustextes. Auch hier wird also wieder (wie schon in den Targumim und anderen frühjüdischen Texten wie LAB) eine Verknüpfung von 285

Text: NIESE 1885–95 (als Modul enthalten in dem Computerprogramm Bibleworks 9). STEMBERGER übersetzt οὐ θεµιτόν ἐστιν ἡµῖν λέγειν φανερῶς πρὸς λέξιν so, dass für die zehn Gebote gilt, dass sie „nicht offen nach dem Buchstaben gesagt werden dürfen“ (2010b: 148). Diese Scheu erinnert an diejenige, den Namen Gottes auszusprechen (vgl. Ant. II 276: καὶ ὁ θεὸς αὐτῷ σηµαίνει τὴν αὑτοῦ προσηγορίαν οὐ πρότερον εἰς ἀνθρώπους παρελθοῦσαν περὶ ἧς οὔ µοι θεµιτὸν εἰπεῖν). Demnach zitiert Josephus nicht wörtlich, um die Aussprache des Namens Gottes zu vermeiden (so STEMBERGER 2010b: 148f.). 287 Text: LAUTERBACH 2004; Übersetzung: STEMBERGER 2010a (die folgenden Abschnittsbezeichnungen der Mek richten sich nach dieser Übersetzung). 288 Zum Beispiel: der schwebende Berg, das Beugen des Himmels, der Dekalog in einem Ausspruch gegeben, das feurige Wort, das sich auf den Tafeln einschlug (Ps 29,7), der Abstand Israels vom Berg von zwölf Meilen (mit Bezug auf Num 33,49 in Bachodesch 9 zu Ex 20,21), usw. 289 Die chronologischen Angaben finden sich in: Bachodesch 2 zu Ex 19,3 „Mose stieg zu Gott hinauf. Das war am zweiten Tag“; Bachodesch 3 zu Ex 19,10 „Der Herr sprach zu Mose: Gehe zum Volk, und heilige sie heute, das ist der vierte Tag (des Monats), und morgen, das ist der fünfte Tag. Sie sollen sich für den dritten Tag bereithalten. Das ist der sechste Tag, an dem die Tora gegeben wurde“; Bachodesch 3 zu Ex 19,11 „Sie sollen sich für den dritten Tag bereithalten. Das ist der sechste Tag (des Monats), an dem die Tora gegeben wurde“; vgl. TgPs-J Ex 19–24. 286

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3. Kapitel: Die Rezeption der Sinaitradition in Joh 5,37f.

pentateuchischer Sinaitheophanie und bestimmten Psalmen deutlich.290 Zur Frage nach dem, was Israel am Sinai aus Sicht der Rabbinen hörte und sah,291 liest man u.a. in Mek Bachodesch 9 zu Ex 20,18 („und das ganze Volk sah [‫ ]ר ִֹאים‬die Stimmen [‫ת־הקּוֹ ת‬ ַ ‫ “] ֶא‬usw.) zwei unterschiedliche Statements, die zwei unterschiedliche exegetische Traditionen widerspiegeln: Und das ganze Volk sah die Stimmen (und die Blitze). Sie sahen das Sichtbare und hörten das Hörbare – Worte des Rabbi Jishma‛el. Rabbi ‛Aqiva sagt: Sie sahen und hörten das Sichtbare. Sie sahen das feurige Wort, wie es aus dem Mund des Allmächtigen kam und sich auf den Tafeln einschlug. Es heißt ja: „Die Stimme des Herrn schlägt feurige Flammen aus.“

Die erste Auslegung versteht ‫ ר ִֹאים‬allgemeiner im Sinne von „wahrnehmen“, sodass das Verb zu den nachfolgenden Objekten passt.292 Dagegen fasst die zweite Interpretation ‫ ר ִֹאים‬wörtlich auf. Folglich müssen die Stimmen sichtbar gewesen sein.293 Begründet wird die Sichtbarkeit des feurigen Wortes (man beachte die Identifikation des Feuers mit dem Wort) mit Ps 29,7. Wie schon in Qumran findet sich in Mek die Verbindung zwischen Moseglauben und Prophetenglauben. Dabei ist wahrscheinlich, dass Dtn 18,15ff. nicht auf eine einzige eschatologische Figur, sondern der Singular „einen Propheten“ distributiv ausgelegt und auf die Propheten, die nach Mose aufstehen würden, bezogen wird. Am Sinai wird demnach nicht nur Mose, sondern es werden auch die Propheten insgesamt legitimiert und der Glaube „an sie“ (d.h. ihnen bzw. ihrer Botschaft gegenüber) durch die Theophanie begründet sowie implizit befohlen (man beachte auch, dass nach Bachodesch 9 zu Ex 20,19 Israel nur die zehn Gebote direkt von Gott hörte): Bachodesch 2 zu Ex 19,9: Damit sie auch an dich immer glauben: auch an dich und auch an die Propheten, die nach dir aufstehen werden.

Bachodesch 9 zu Ex 20,19: Sie sagten zu Mose: Rede du mit uns, dann wollen wir hören. Das besagt, dass sie keine Kraft hatten, mehr als die zehn Gebote zu empfangen. Es heißt ja: „Wenn wir noch einmal (die donnernde Stimme des Herrn, unseres Gottes, hören, werden wir sterben).“ (Dtn 5,25) Ich will nicht weiter die Stimme des Herrn hören, vielmehr „gehe du allein hin und höre“ (Dtn 5,27). Von dieser Stunde an war Israel würdig, dass Gott aus ihnen Propheten erstehen ließ. Es heißt ja: „Einen Propheten will ich ihnen erstehen lassen“ usw. Einen Propheten wollte ich aus ihnen in Zukunft erstehen lassen, doch sie kamen mir mit ihrem Verdienst zuvor. Es heißt ja: „Damals sagte der Herr zu mir: Was sie von dir verlangen, ist recht“.

290

Vgl. z.B. Ps 29 (Bachodesch 1 zu Ex 19,2 und öfter); Ps 68 (Bachodesch 4 zu Ex 19,18 und öfter); Ps 82 (Bachodesch 9 zu Ex 20,19); Ps 18 (Bachodesch 9 zu Ex 20,22). 291 Vgl. dazu FRAADE 2008: 247–268. 292 Vgl. z.B. Samaritanischer Pentateuch zu Ex 20,18, der „hören“ ergänzt und den Vers entsprechend umstellt; JOSEPHUS, Ant. III 79ff. 293 Vgl. z.B. PHILO, decal. 32ff. ; migr. 47ff.

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Nach Bachodesch 3 zu Ex 19,11 wurde Israel am Sinai ein Privileg zuteil, in dessen Genuss nicht einmal die großen Propheten Jesaja und Ezechiel kamen: Vor den Augen des ganzen Volkes: Das lehrt, dass sie in jener Stunde sahen, was weder Jesaja noch Ezechiel sahen. Es heißt ja: „Durch die Propheten offenbare ich mich in Bildern.“

Anstatt in Bildern (wie bei den Propheten üblich),294 dürfen sie mit ihren eigenen Augen sehen (impliziert ist wohl Gott oder die Tora als Objekt). Doch Israel am Sinai ist nicht nur im Vorteil gegenüber Jesaja oder Ezechiel, sondern gemäß Bachodesch 9 zu Ex 20,22 auch gegenüber den Völkern, die vielleicht die Worte Gottes gehört, aber nicht gesehen haben: Rabbi Natan sagt: Ihr habt gesehen. Warum ist das gesagt? Weil es heißt: „Dich sollen preisen, Herr, alle Könige der Welt; denn sie haben die Worte deines Mundes vernommen.“ Ist es vielleicht möglich: So wie sie gehört haben, so haben sie auch gesehen? (Nein.) Die Schrift lehrt: Ihr habt gesehen. Doch nicht haben die Völker der Welt gesehen.

Wie schon andernorts sichtbar wurde, spiegelt sich in Mek das Verständnis des Sinai als Heiligtum wider. So heißt es in Bachodesch 2 zu Ex 19,4 „Und hierher zu mir gebracht habe, zum Haus der Erwählung“. In Mek Bachodesch 3 zu Ex 19,12 findet sich folgende Assoziation: „Keine Hand soll ihn berühren, auch nicht (das Heiligtum von) Schilo, auch nicht das Stiftszelt und nicht den Tempel.“ Einerseits wird im ersten Text die lokale Angabe in Ex 19,4 „zu mir“ (MT: ‫ ) ֵא ָלי‬gleichgesetzt mit dem „Haus der Erwählung“, d.h. dem Tempel und andererseits wird (im zweiten Text) das Berührungsverbot des Berges mit dem Berührungsverbot hinsichtlich anderer Heiligtümer (Schiloheiligtum, Stiftszelt, Tempel) assoziiert. Die Tora wird gemäß Bachodesch 4 zu Ex 19,18 dargestellt als Licht und Wärme spendendes Feuer, das aber auch die Eigenschaft hat, denjenigen, der ihm zu nahe kommt,295 zu verbrennen: Der ganze Sinai war in Rauch gehüllt. Ich könnte meinen, nur der Ort der Herrlichkeit (Gottes). Doch die Schrift lehrt: der ganze Sinai. Warum? Weil der Herr im Feuer auf ihn herabgestiegen war. Das besagt, dass die Tora Feuer ist, aus dem Feuer gegeben wurde und mit Feuer vergleichbar ist. Was ist die Art des Feuers? Wenn ein Mensch ihm zu nahe kommt, verbrennt er sich; hält er sich davon fern, ist ihm kalt. Der Mensch kann sich nur an seinem Licht wärmen.

Es gab nach Bachodesch 9 zu Ex 20,18 keine Blinden, Stummen und Tauben am Sinai, als Israel die Tora erhielt: Und das ganze Volk sah die Stimmen (und die Blitze). Denn als sie alle vor dem Berg Sinai standen, um die Tora zu empfangen, da besagt (die Schrift), dass es bei ihnen keine Blinden gab. Es heißt ja: und das ganze Volk sah. Auch lehrt es, dass es bei ihnen keine Stummen 294

Vgl. Hos 12,11. Möglicherweise zeigt sich hier die Vorstellung, dass die Tora ihren Ort im Allerheiligsten hat (das ist „der Ort der Herrlichkeit Gottes“ bzw. „aus dem Feuer“), dem man nicht zu nahe kommen durfte. 295

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3. Kapitel: Die Rezeption der Sinaitradition in Joh 5,37f.

gab. Es heißt ja: „Das ganze Volk antwortete einstimmig.“ (Ex 19,8) Auch lehrt es, dass es bei ihnen keine Tauben gab. Es heißt ja: „Alles, was der Herr gesagt hat, wollen wir tun. Wir wollen hören.“ (Ex 24,7) Auch lehrt es, dass es bei ihnen keine Lahmen gab. Es heißt ja: „Und sie stellten sich unten am Berg hin.“ (Ex 19,17) Auch lehrt es, dass es bei ihnen keine Dummen gab. Es heißt ja: „Das hast du sehen dürfen, damit du erkennst.“ (Dtn 4,35)

Die exegetische Basis für diese Auslegung bilden die Aussagen vom Sehen und einstimmigen Antworten des ganzen Volkes, wobei andere Passagen zum Hören, Hinstellen und zur „Dummheit“ (vielleicht im Sinne von mangelnder Intelligenz und/oder von Geisteskrankheit), die nicht ausdrücklich vom ganzen Volk reden, für die gleiche universale Interpretation beigezogen werden. Eine weitere augenfällig exegetische Tradition begegnet in Bachodesch 9 zu Ex 20,18: Rabbi Jehuda bar Il‛ai sagt: Da die Israeliten vom himmlischen Feuer versengt wurden, sagte Gott den Wolken der Herrlichkeit: Träufelt Tau des Lebens auf meine Kinder! Es heißt ja: „Herr, als du auszogst aus Seir, (… die Himmel ergossen sich, ja, aus den Wolken ergoß sich das Wasser).“ (Ri 5,4) Und es heißt: „(Gott, du ließest) Regen strömen in Fülle.“ (Ps 68,10) Wann geschah all diese Ehre? Zur Stunde, als (Israel) das schönste aller Völker war und die Tora ehrte.

Demnach starben die Israeliten zuerst durch das himmlische Feuer. Anschließend wurden sie, die Kinder Gottes, durch den „Tau des Lebens“ wieder lebendig gemacht, nämlich zur Stunde, als sie die Tora empfingen. Interessanterweise wird weder in der Sinaierzählung in Ex noch in Dtn ausdrücklich etwas von Regen gesagt, wenngleich häufiger (dunkle) Wolken erwähnt werden. Diese Tradition stammt aus Ri 5,4 und Ps 68,10.296 Beides sind Stellen, die man ohnehin mit Bezug auf die Sinaitradition las. Man ergänzte also Elemente, die sich in jener Tradition nicht explizit fanden,297 und deutete sie theologisch aus. Ein ähnliches Motiv findet sich in Bachodesch 9 zu Ex 20,19 (eigentlich zu Dtn 5,29): „Möchten sie doch diese Gesinnung behalten“ usw. Wenn es möglich wäre, den Todesengel zu beseitigen, hätte ich ihn beseitigt. Doch dieser Beschluss ist längst gefasst worden. Rabbi Jose sagt: Unter dieser Bedingung standen die Israeliten vor dem Berg Sinai, nämlich unter der Bedingung, dass der Todesengel nicht über sie herrsche. Es heißt ja: „Wohl habe ich gesagt: Ihr seid Götter“ (Ps 82,6) usw. Doch habt ihr eure Werke verdorben; „daher sollt ihr sterben wie Menschen“ (Ps 82,7).

Als Israel am Sinai stand, waren sie, laut dieser sich aus der Auslegung von Ps 82 speisenden Tradition, nicht unter der Herrschaft des „Todesengels“, d.h. 296 Vgl. auch Jes 26,19 LXX: „Die Toten werden auferstehen, und die in den Gräbern werden auferweckt werden, und freuen werden sich die auf der Erde; denn der Tau, der von dir kommt, ist Heilmittel für sie…“ (ἀναστήσονται οἱ νεκροί καὶ ἐγερθήσονται οἱ ἐν τοῖς µνηµείοις καὶ εὐφρανθήσονται οἱ ἐν τῇ γῇ ἡ γὰρ δρόσος ἡ παρὰ σοῦ ἴαµα αὐτοῖς ἐστιν …). 297 Vom Regen am Sinai spricht auch JOSEPHUS, Ant. III 80.

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als Israel am Sinai die Tora erhielt und noch die „Gesinnung“ hatte, „mich allezeit zu fürchten und alle meine Gebote zu halten, damit es ihnen und ihren Kindern ewig gutgeht“ (Dtn 5,29), hatten sie ewiges Leben. Allerdings wird mit Verweis auf Ps 82,7 deutlich, dass der Wunsch Gottes in Dtn 5,29 sich nicht erfüllen würde,298 und Israel daher sterben würde. Gemäß PRK 12 wurde die Endzeit am Sinai antizipiert:299 So wollte der Heilige, gepriesen sei er, den Israeliten die Tora geben, sobald sie aus Ägypten ausgezogen waren; aber es waren unter ihnen Blinde, Lahme und Taube. Da sagte der Heilige, gepriesen sei er: „Die Tora ist in allem vollendet, wie es heißt: ‚Die Tora des Herrn ist vollkommen‘ (Ps 19,8); soll ich sie diesem Geschlecht geben, unter denen es Menschen mit Gebrechen gibt? Wenn ich aber warte, bis ihre Kinder (in einer neuen Generation) heranwachsen, verzögere ich die Freude der Tora“300. Was tat der Heilige, gepriesen sei er? Er heilte sie (die mit Gebrechen Behafteten) und gab ihnen (den Israeliten) die Tora. Und woher lässt sich beweisen, dass er sie geheilt hat? Wer blind war, wurde sehend; denn es heißt: „Und das ganze Volk sah die Stimmen“ (Ex 20,18) … [Der Heilige, gepriesen sei er, sagte:] „Es geschehen neue Dinge: Ich tue Neues an euch und nehme an euch vorweg, was in der zukünftigen Welt geschehen wird“. Wie es von der Zukunft [heißt]: „Dann werden die Augen der Blinden geöffnet werden“ (Jes 35,5), so auch hier: „Und das ganze Volk sah…“ (Ex 20,18). Wie es von der Zukunft [heißt]: „und die Ohren der Tauben werden aufgetan werden“ (Jes 35,5), so auch hier: „Und sie [alle] sagten: ‚Alles, was der Herr gesagt hat, wollen wir tun und hören‘“ (Ex 24,7). Wie es von der Zukunft [heißt]: „Dann wird der Lahme springen wie ein Hirsch“ (Jes 35,6), so auch hier: „Und Mose führte das Volk hinaus aus dem Lager, um Gott zu begegnen, und sie [alle] stellten sich unten am Berg auf“ (Ex 19,17). Wie es von der Zukunft [heißt]: „Und es wird jauchzen die Zunge des Stummen“ (Jes 35,6), so auch hier: „Und das ganze Volk sang gemeinsam und sprach“ (Ex 19,8).

Gemäß PRK 12 sollte die vollkommene Tora nicht einem (unvollkommenen) Volk mit Blinden, Lahmen und Tauben gegeben werden.301 Aber da Gott nicht wollte, dass die „Freude der Tora“ verzögert wird, heilte er das unvollkommene Israel kurzerhand von allen Gebrechen. Zur Begründung werden, wie schon in Mek, die Stellen angeführt, die explizit oder implizit das ganze Volk als Subjekt haben. Darüber hinaus wird diese „Massenheilung“ verstanden als Vorwegnahme der eschatologischen Heilungen, die in Jes 35 vorausgesagt sind; folglich stehen das Sinaigeschehen und die eschatische Zeit nach diesem Text in einem Entsprechungsverhältnis. Heilung und Leben werden demnach verbunden mit der Gabe der Tora am Sinai. Folgende Texte machen deutlich, dass die ungewöhnliche Formulierung in Ex 19,1 (MT: „an diesem [nicht: an jenem] Tag“ [‫ )] ַבּיּוֹם ַהזֶּ ה‬die Möglichkeit zur 298 Zu Dtn 5,29 vgl. u.a. die ähnliche Formulierungen enthaltende Ankündigung eines ewigen Bundes in Jer 32,39f.; WEINFELD 1991: 325. 299 Text: MANDELBAUM 1962; Übersetzung: NEUDECKER 1997: 338f. 300 Vgl. NEUDECKER 1997: Anm. 30: „Die Freude der Tora, mit Israel verheiratet zu sein.“ 301 Der Text setzt voraus, dass es im Volk Israel Blinde, Taube, Lahme usw. gegeben haben muss, auch wenn dies nicht explizit in der Sinaierzählung erwähnt wird.

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Identifikation mit Israel am Sinai und so zur Vergegenwärtigung des Sinaigeschehens bot. So heißt es zu Ex 19,1 in Bet ha-Midrash 6,40: Es steht geschrieben: „…an diesem Tag kamen sie in der Wüste Sinai an“ (…) [Die Schrift] will dich lehren, dass der Mensch sich jedes Jahr so betrachten muß, als ob er [persönlich] am Berg Sinai stehe. Deshalb steht in bezug [sic!] auf die Verleihung der Tora geschrieben: „an diesem Tag“.302

und von Simeon ben Soma ist in TanB Yitro 7 überliefert: „An jenem Tag“ steht nicht geschrieben, sondern: „an diesem Tag“, als ob sie an diesem (dem heutigen) Tag in der Wüste Sinai ankämen. [Die Schrift will dich lehren:] An jedem Tag, da du dich mit der Tora beschäftigst, sollst du sagen: „Es ist, als ob ich sie an diesem (dem heutigen) Tag vom Sinai empfange.“303

Die Beschäftigung mit bzw. das Studium der Schrift ist LevR 16 (zu Lev 14,2) zufolge auch das Mittel zur Aktualisierung des Sinaiereignisses, sodass das Feuer der Worte der Tora erneut erscheint: Ben Asai saß und predigte und das Feuer flammte um ihn ringsherum (er rief eine große Begeisterung hervor, was den Zuhörern auffiel), sie fragten, bist du vielleicht mit den Geheimnissen der Wagenerscheinung im Ezechiel beschäftigt? Nein, antwortete er, sondern ich reihe die Worte des Gesetzes an die Propheten und die Propheten an die Hagiographen und die Worte des Gesetzes erfreuen wie am Tage, da sie auf dem Berge Sinai gegeben wurden, was im Feuer geschah, wie es heißt Deut. 4,11: „Und der Berg brannte im Feuer.“304

In PRK 12,1 heißt es zur Aktualisierung der Sinaioffenbarung durch die Lesung der Schrift: Der Heilige, gelobt sei er, sagte zu Israel: „Meine Kinder, lest diese Parascha [Perikope] in jedem Jahr und ich werde euch ansehen, als ob ihr vor dem Berg Sinai stehen und die Torah empfangen würdet“. Wann? „Im dritten Monat nach dem Auszug der Kinder Israels aus dem Land Ägypten“ (Ex 19,1).305

2.6 Zusammenfassung der bisherigen Ergebnisse Aus der vorstehenden Analyse wurde Folgendes deutlich (einige der nachfolgenden Punkte beantworten die oben gestellten Leitfragen): − Das Erschallen und das entsprechende Hören der Stimme Gottes, das Erscheinen und das korrespondierende Sehen der Herrlichkeit Gottes durch bzw. wie Feuer und natürlich das Wort Gottes, d.h. die zehn Worte, die er spricht und auch selbst auf die Tafeln schreibt, konstituieren den Kern der Sinaitheophanie. 302

Text: JELLINEK 1853; Übersetzung: NEUDECKER 1997: 346 Text: BUBER 1885; Übersetzung: NEUDECKER 1997: 346. 304 Text: MARGALIOT 1999; Übersetzung: WÜNSCHE 1884: 106. Vgl. auch die ähnliche Tradition in HldR 1,10. 305 Text: MANDELBAUM 1962; Übersetzung: FELSCH 2011: 138. 303

2. Digression

189

− Besonders in Dtn 4–5 erscheint immer wieder eine narrative Abbreviatur für die Sinaitheophanie, die die Stimme Gottes und das Feuer, aus dem Gott die zehn Worte sprach, umfasst. − Mit der Nennung weniger, jedoch konstitutiver Elemente der Sinaitheophanie konnte in frühjüdischen Texten auf das ganze Sinaigeschehen verwiesen werden (Sir 17,13; 1QM X,10f. ; 4Q509 Frg. 97 + 98 Kol. i, Z. 7–10; 1Q34 Kol. ii, Z 5–8; 4Q504 Frg. 3 Kol. ii, Z. 7–19; 4Q377 Frg. 2 Kol. ii, Z. 5–9). − In einigen Auslegungstraditionen (z.B. TgPs-J Ex 20,1–3; Philo; Mek) findet sich die (aus Ps 29,7 stammende) Vorstellung, dass die Stimme Gottes am Sinai (mittels Feuer) sichtbar war und sich auf die Steintafeln eingegraben hat. Bei Philo und Aristobul wird dies unter Bezug auf die Schöpfung damit begründet, dass Gott nicht einfach Worte redet, sondern schöpferische Taten. − Dem Volk Gottes wird durch die Sinaitheophanie eine exklusive Gottesnähe zuteil, die Israel vor allen anderen Völkern auszeichnet. − Die Sinaierzählung wurde offenbar vergegenwärtigt, wie schon Dtn 4f. zeigt. − Erleichtert wird eine Vergegenwärtigung des Sinaigeschehens u.a. dadurch, dass der Sinai dargestellt wird als ein mit Heiligkeitsbereichen versehenes Heiligtum einschließlich Priestern, Opfer, Sühne, dem Thron Gottes wie im Allerheiligsten usw. Einige Texte (z.B. Jub und TgN) sprechen explizit vom Sinai als einem Heiligtum. − Die LXX macht deutlich, dass das Heiligtum bzw. Tempel der Ort ist, wo Gott in Kontinuität zur Theophanie am Sinai erscheint. − Ermöglicht scheint eine Vergegenwärtigung des Sinaigeschehens, weil die Erzählung selbst impliziert (u.a. in der LXX und v.a. in den Targumim noch verstärkt), dass JHWH bzw. seine Herrlichkeit und seine Stimme in enger Verbindung mit seinem Wort stehen: durch die Tora ist die Stimme und die Herrlichkeit Gottes präsent. − Daneben spielte sicherlich die Auffassung von der „corporate personality“ Israels eine wichtige Rolle (vgl. Dtn; Qumran). − Die Nacherzählung bzw. das Vorlesen der Sinaitheophanie, das Studium der Tora, aber auch von Schriftbezügen getränkte Gebete in liturgischem Rahmen waren Mittel zur Vergegenwärtigung der Sinaitheophanie. − In rabbinischen Texten gibt es die Vorstellung, dass die Endzeit, die u.a. durch Krankenheilungen geprägt sein würde, am Sinai antizipiert wurde. Auch hier schon erfuhr das Volk Heilung im Zusammenhang mit der Tora.306 306

Besteht diesbezüglich ein Zusammenhang zur Bundeserneuerung in Qumran, wo u.a. keine Blinde, Lahme, Hinkende oder Taube aufgrund der Engel der Heiligkeit in die Bundesgemeinschaft kommen durften (vgl. z.B. CD XV,5–19; vgl. die Gebote zur körperlichen Unversehrtheit der Priester in Lev 21,17–21)? Oder spielt hier nur die Prophetie aus Jes 35 eine Rolle?

190

3. Kapitel: Die Rezeption der Sinaitradition in Joh 5,37f.

− Ab und zu wird auch die Vorstellung geäußert, dass eine eschatologische Theophanie analog zur Sinaitheophanie stattfinden wird, die z.T. Gerichtskonnotationen aufweist (vgl. Jub 1,27f. ; 1Hen 1,3–9; CD XX, 25f. ; LAB 11,3ff [vgl. LAB 32,7f. ]). − In TgPs-J Ex 20,18 ist sogar von der Totenauferweckung durch „die Stimme“ des Schofarhorns die Rede – ein Motiv, das noch im Targum zu Sach 14,4 vorkommt und aus Jes 27,13 stammt (bei Paulus ist die Trompete klar eschatologisch konnotiert und mit der Auferstehung verbunden). Vermutlich dient das Schofarhorn als Bild für die Stimme Gottes (vgl. z.B. Philo), die Leben schafft. Dazu passt, dass in rabbinischen Texten hervorgehoben wird, dass der Tod keine Macht über Israel am Sinai hatte, d.h. mit anderen Worten, dass Israel durch die Offenbarung Gottes in der Tora Leben hatte. − Dem entspricht, dass einige Texte im Zusammenhang von Bezügen zur Sinaitheophanie vom „Gesetz des Lebens“ oder vom Leben durch die Tora reden (vgl. Sir; Qumran; LAB). − Gleichwohl kommt in LAB die Vorstellung zum Ausdruck, dass die Offenbarung Gottes gegen das abtrünnige Israel und/oder die Gott nicht kennende Welt Zeugnis ablegt. − Nach TgN Dtn 6,6 sollen die Worte bzw. Gebote ständig in den Adressaten sein (vgl. auch 1Hen; Philo). In negativer Entsprechung sagt dies auch Dtn 4,9. − Viele (früh-)jüdische Texte machen deutlich, dass die Sinaitheophanie nicht losgelöst von anderen biblischen Texten gelesen wurde; speziell die Psalmen spielen hier eine nicht zu unterschätzende Rolle.

3. Echos und Entsprechungen 3. Echos und Entsprechungen

Auf der sprachlichen Ebene lassen sich folgende Übereinstimmungen (Echos) beobachten: Sinaitradition

Joh 5

Ex 20,20

καὶ λέγει αὐτοῖς Μωυσῆς θαρσεῖτε ἕνεκεν γὰρ τοῦ πειράσαι ὑµᾶς παρεγενήθη ὁ θεὸς πρὸς ὑµᾶς ὅπως ἂν γένηται ὁ φόβος αὐτοῦ ἐν ὑµῖν ἵνα µὴ ἁµαρτάνητε

5,14

µετὰ ταῦτα εὑρίσκει αὐτὸν ὁ Ἰησοῦς ἐν τῷ ἱερῷ καὶ εἶπεν αὐτῷ· ἴδε ὑγιὴς γέγονας, µηκέτι ἁµάρτανε, ἵνα µὴ χεῖρόν σοί τι γένηται.

Ex 19,9

Da sprach JHWH zu Mose: Siehe, ich werde im Dunkel des Gewölks zu dir kommen, damit es das

5,38c.46

38

καὶ τὸν λόγον αὐτοῦ οὐκ ἔχετε ἐν ὑµῖν µένοντα, ὅτι ὃν

3. Echos und Entsprechungen Sinaitradition

Joh 5 Volk hört, wenn ich mit dir rede, und auch dir ewig glaubt (MT: ‫ם־בּ) יַ ֲא ִמ ינוּ‬ ְ ַ‫וְ ג‬ ‫עוֹלם‬ ָ ְ‫ ;ל‬LXX: καὶ σοὶ πιστεύσωσιν εἰς τὸν αἰῶνα). Und Mose teilte JHWH die Worte des Volkes mit

Ex 19,5

Dtn 4,1

Ex 19,5: Und nun, wenn ihr willig auf meine Stimme hören (MT: ‫וְ ַ ָתּה‬ ‫מוֹ? ִתּ ְשׁ ְמ עוּ ְבּקֹלִ י‬ ַ ‫ם־שׁ‬ ָ ‫ ; ִא‬LXX: ἀκοῇ ἀκούσητε τῆς ἐµῆς φωνῆς) und meinen Bund halten werdet …

ἀπέστειλεν ἐκεῖνος, τούτῳ ὑµεῖς οὐ πιστεύετε. 46

εἰ γὰρ ἐπιστεύετε Μωϋσεῖ, ἐπιστεύετε ἂν ἐµοί· περὶ γὰρ ἐµοῦ ἐκεῖνος ἔγραψεν

5,24f.28. 39.40

ἀµὴν ἀµὴν λέγω ὑµῖν ὅτι ἔρχεται ὥρα καὶ νῦν ἐστιν ὅτε οἱ νεκροὶ ἀκούσουσιν τῆς φωνῆς τοῦ υἱοῦ τοῦ θεοῦ καὶ οἱ ἀκούσαντες ζήσουσιν.

Und nun, Israel, höre (MT: Ordnungen und auf die Rechtsbestimmungen, die ich euch (LXX: heute) zu tun lehre, damit ihr lebt (MT: ‫ ; ִתּ ְחיוּ‬LXX: ζῆτε) und hineinkommt und das Land in Besitz nehmt, das JHWH, der Gott eurer Väter, euch gibt! 16

καὶ κατέβη ἡ δόξα τοῦ θεοῦ ἐπὶ τὸ ὄρος τὸ Σινα καὶ ἐκάλυψεν αὐτὸ ἡ νεφέλη ἓξ ἡµέρας καὶ ἐκάλεσεν κύριος τὸν Μωυσῆν τῇ ἡµέρᾳ τῇ ἑβδόµῃ ἐκ µέσου τῆς νεφέλης

24 Ἀµὴν ἀµὴν λέγω ὑµῖν ὅτι ὁ τὸν λόγον µου ἀκούων καὶ πιστεύων τῷ πέµψαντί µε ἔχει ζωὴν αἰώνιον καὶ εἰς κρίσιν οὐκ ἔρχεται, ἀλλὰ µεταβέβηκεν ἐκ τοῦ θανάτου εἰς τὴν ζωήν. 25

‫ ; ְשׁ ַמע‬LXX: ἄκουε) auf die

Ex 24,16f.

191

28

µὴ θαυµάζετε τοῦτο, ὅτι ἔρχεται ὥρα ἐν ᾗ πάντες οἱ ἐν τοῖς µνηµείοις ἀκούσουσιν τῆς φωνῆς αὐτοῦ 39 ἐραυνᾶτε τὰς γραφάς, ὅτι ὑµεῖς δοκεῖτε ἐν αὐταῖς ζωὴν αἰώνιον ἔχειν· καὶ ἐκεῖναί εἰσιν αἱ µαρτυροῦσαι περὶ ἐµοῦ·

5,41.44

41

∆όξαν παρὰ ἀνθρώπων οὐ λαµβάνω, 44 πῶς δύνασθε ὑµεῖς πιστεῦσαι δόξαν παρὰ ἀλλήλων λαµβάνοντες, καὶ τὴν δόξαν τὴν παρὰ τοῦ µόνου θεοῦ οὐ ζητεῖτε;

17

τὸ δὲ εἶδος τῆς δόξης κυρίου ὡσεὶ πῦρ φλέγον ἐπὶ τῆς κορυφῆς τοῦ ὄρους ἐναντίον τῶν υἱῶν Ισραηλ

− Joh 5,14 / Ex 20,20: Nachdem Jesus den ehemals Gelähmten im Tempel findet, ermahnt er ihn dazu, nicht mehr zu sündigen bzw. mit dem Sündigen aufzuhören (µηκέτι ἁµάρτανε [Imp. Präs.]). Da im Kontext aber gar keine Rede war von einer konkreten Sünde des Mannes, stellt sich die Frage nach der Bedeutung dieser Aufforderung. Zumal vor dem Hintergrund des johanneischen Sündenverständnis („[n]ach Joh 1,29; 8,21.24.34; 9,39–41;

192

3. Kapitel: Die Rezeption der Sinaitradition in Joh 5,37f.

15,22.24; 16,8 f.; 20,23 ist Sünde die im Unglauben gegenüber dem Offenbarer verwurzelte Todesmacht der Welt“307) ist die Aufforderung Jesu in Joh 5,14 so zu verstehen, dass „Jesus vor der Sünde des Unglaubens warnt, weil die Ablehnung Jesu als des Gesandten Gottes das Gericht mit der Folge des Todes nach sich zieht (Joh 5,24). Das ‚Schlimmere‘, das den Geheilten ergreifen kann (V. 14), ist daher der Tod als Strafe der Sünde.“308 Folgt man der oben vorgelegten Interpretation von Ex 20,20, wonach die (zu vermeidende) Sünde in der Ablehnung Moses des Offenbarungsmittlers besteht, dann zeigt sich eine auffällige Entsprechung. Im Sinne des Evangelisten müsste man diese wohl so verstehen: Wenn schon die Ablehnung des Offenbarungsmittlers schlimme Konsequenzen nach sich zog (vgl. Ex 32f.), wie viel schlimmer werden die Konsequenzen sein, wenn der Offenbarer selbst abgelehnt wird. − Joh 5,38c.46 / Ex 19,9: In Joh 5,38c bzw. 5,46a ist sowohl vom verweigerten Glauben dem Gesandten des Vaters, also seinem Sohn, als auch vom damit verbundenen Unglauben Mose gegenüber die Rede, denn Mose hat über Jesus geschrieben. Würden „die Juden“ also Moses Schriften glauben, würden sie auch Jesu Worten glauben. Der Glaube an Mose aber (und seinen Worten bzw. Schriften) und damit auch an Jesus, über den Mose geschrieben hat, ist ein wichtiges Ziel der Sinaitheophanie vor dem Volk (vgl. Ex 19,9). Folglich besteht die Sünde „der Juden“ nicht nur im Unglauben dem Sohn Gottes, sondern auch Mose und der Tora gegenüber, die „die Juden“ auf ihrer Seite wähnen (Joh 5,10.16.18.45). − Joh 5,24f.28.39 / Ex 19,5; Dtn 4,1 (vgl. Dtn 6,4): Das Hören (des Wortes und der Stimme bzw. das Hören auf die Stimme) Jesu in Verbindung mit (ewigem) Leben spielt offensichtlich eine wichtige Rolle in Joh 5. Jesus verspricht Auferstehung und (ewiges) Leben durch sein gehörtes Wort und seine gehörte Stimme. Ex 19,5 legt großen Wert auf das Hören auf die Stimme Gottes und verbindet damit die Existenz Israels als erwähltes Eigentumsvolk Gottes. In Dtn 4,1 (vgl. 6,4) wird Israel zum Hören auf die Ordnungen und Rechtsbestimmungen Moses aufgefordert, um zu leben. Dem entspricht, dass „die Juden“ gemäß Joh 5,39 die mosaischen Schriften erforschen, weil sie meinen, in ihnen das ewige Leben zu haben. Allerdings sind die mosaischen Schriften Jesus zufolge Zeugnis von ihm bzw. von dem Leben, das er gibt. Insofern müssten „die Juden“ durch die Schriften zu Jesus geleitet werden. Dies geschieht jedoch nicht, weil „die Juden“ nicht zu Jesus kommen wollen, um bei ihm das ewige Leben zu haben (5,40). − Joh 5,41.44 / Ex 24,16f.: Gemäß Joh 5,41 bekommt Jesus nicht δόξα (im Sinne von „Ehre“ oder „Anerkennung“) von Menschen. Ganz im Gegensatz zu „den Juden“. Sie bekommen Joh 5,44 zufolge voneinander δόξα und 307 308

METZNER 1999: 189. METZNER 1999: 189.

3. Echos und Entsprechungen

193

„suchen“ (ζητεῖτε) damit nicht die δόξα, die zu ihnen von dem einzigen Gott her kommt. Zwischen dieser δόξα und der δόξα, die im Aussehen wie Feuer auf den Sinai herabkommt (Ex 24,16f.), besteht kein unmittelbarer Bezug. Auf der inhaltlichen bzw. motivischen Ebene kommen folgende Konvergenzen in den Blick: Sinaitradition

Joh 5

MT, LXX, vgl. auch Tgg, Jub, Philo usw.

Sinai als Heiligtum: Ertönen der Stimme Gottes und Gabe seines Wortes, das den Hörenden Leben spendet; Erscheinung der Herrlichkeit Gottes; (kultische) Verehrung Gottes (mit Priestern, Altar, Opfer usw.)

5,23.24 u.ö.; 5,1–9

Jesus als Heiligtum (vorbereitet in Joh 2,19ff.): Jesu Wort und Stimme stiften den Hörenden Leben (Joh 5,24 u.ö.); (implizit:) Jesus offenbart seine Herrlichkeit in seinem Heilungswerk (Joh 5,1–9; vgl. Joh 1,14; 2,11); Verehrung Jesu in Übereinstimmung mit der Verehrung des Vaters (Joh 5,23)

Dtn 6,6 LXX

Inneres Bleiben der Worte:

5,38a

Nicht-Bleiben des Wortes Gottes im Innern:

καὶ ἔσται τὰ ῥήµατα ταῦτα ὅσα ἐγὼ ἐντέλλοµαί σοι σήµερον ἐν τῇ καρδίᾳ σου καὶ ἐν τῇ ψυχῇ σου

Dtn 6,4f. (vgl. Ex 20,2–5; Dtn 5,4– 10)

Gott ist einer:

Ex 20,6.9– 11.15; Dtn 6,5

Gebote/Verbote zu Sabbat, Töten, Liebe zu Gott

ἄκουε Ισραηλ κύριος ὁ θεὸς ἡµῶν κύριος εἷς ἐστιν

καὶ τὸν λόγον αὐτοῦ οὐκ ἔχετε ἐν ὑµῖν µένοντα, ὅτι ὃν ἀπέστειλεν ἐκεῖνος, τούτῳ ὑµεῖς οὐ πιστεύετε 5,18. 23.44

Vorwurf: Jesus macht sich selbst zu Gott; Ehren des Vaters und des Sohnes; Jesus als Träger der Herrlichkeit des einzigen Gottes

5,10.16. 18.42

Vorwurf des Sabbatbruchs; Tötungsabsicht „der Juden“; Liebe zu Gott

− Joh 5,23.24 u.ö.; 5,1–9 / MT, LXX, vgl. auch Targumim, Jub, Philo: Das Motiv von Jesus als Heiligtum spielt im JohEv eine wichtige Rolle. Am deutlichsten steht es in Joh 2,19ff. im Vordergrund, wo Jesu Leib als Tempel bezeichnet wird. In Joh 5 kommen Aspekte vor (wie Leben durch das Hören des Wortes bzw. der Stimme Jesu [Joh 5,24]; [implizit] die Offenbarung der Herrlichkeit Jesu in seinem Heilungswerk [Joh 5,1–9]; die Verehrung Jesu in Übereinstimmung mit derjenigen des Vaters [Joh 5,23]), die auch in der antik-jüdischen Darstellung des Sinai als Heiligtum erscheinen. Folglich wird Jesus (implizit) auch in Joh 5 als Heiligtum dargestellt.

194

3. Kapitel: Die Rezeption der Sinaitradition in Joh 5,37f.

− Joh 5,38a / Dtn 6,6 LXX: Jesus verneint, dass „die Juden“ das Wort des Vaters bleibend in sich haben (Joh 5,38a), was aber nach Dtn 6,6 befohlen wird (vgl. die negative Entsprechung dazu in Dtn 4,9). − Joh 5,18.23.44 / Dtn 6,4f. (vgl. Ex 20,2–5; Dtn 5,4–10): „Die Juden“ werfen Jesus in Joh 5,18 vor, er „löse“ den Sabbat „auf“. Sie missverstehen ihn dahingehend, dass er sich selbst, einen Menschen, Gott gleichmache. Nach Joh 5,23a–b ist es der Wille des Vaters, dass alle den Sohn genauso verehren wie den Vater. Später wirft Jesus seinerseits „den Juden“ in Joh 5,42.44c den Verstoß gegen das Gebot der Alleinverehrung Gottes vor, insofern sie nicht „die δόξα, die von dem einzigen Gott (τοῦ µόνου θεοῦ)309 herkommt, suchen“. Den Hintergrund dieser Aussagen bilden Texte wie der in die Sinaitheophanie eingebettete Dekalog Ex 20,2–5 sowie Dtn 5,6–10 und dann auch und v.a. Dtn 6,4, wo die Alleinverehrung Gottes geboten wird. − Joh 5,10.16.18.42 / Ex 20,6.9–11.15; Dtn 6,5: „Die Juden“ begreifen Jesu Wirken am Sabbat nicht als schöpferisches Wirken Gottes, sondern missverstehen es als dessen „Auflösung“ (Joh 5,10.16.18). Auf Jesu Erwiderung (Joh 5,17) reagieren sie mit der Tötungsabsicht (Joh 5,18), die im Sinne des Evangelisten unrechtmäßig ist. Jesus wirft „den Juden“ schließlich – ausweislich ihrer Reaktion auf ihn als den Gesandten seines Vaters (Joh 5,42) – fehlende „Liebe Gottes“ vor. Auch hier bildet die Sinaitradition den Hintergrund: Gemäß Ex 20,9–11 ist „Arbeit“ bzw. sind „Werke“ am Sabbat verboten (οὐ ποιήσεις ἐν αὐτῇ πᾶν ἔργον σὺ). In Ex 20,15 heißt es: „Du sollst nicht töten!“ Die Liebe zu Gott drückt sich Ex 20,6 zufolge im Tun der Tora aus und wird in Dtn 6,5 ausdrücklich geboten. Folgende Entsprechungen zu (früh-)jüdischen Deutung der Sinaitradition auf der sprachlichen Ebene sind zu notieren: (Früh-)Jüdische Deutungen der Sinaitradition

Joh 5

Philo, decal. 47 (vgl. Aristob Frgm. 2)

Joh 5,17.20.36

47 Es bestätigt mir meine Behauptung die heil. Schrift, in der es heisst: „alles Volk sah die Stimme“; höchst bedeutsam, denn Menschenstimme ist zu hören, die Stimme Gottes aber ist in Wahrheit zu sehen; warum? weil es nicht Worte sind, was Gott redet,

17 Ὁ δὲ [Ἰησοῦς] ἀπεκρίνατο αὐτοῖς· ὁ πατήρ µου ἕως ἄρτι ἐργάζεται κἀγὼ ἐργάζοµαι· 20 ὁ γὰρ πατὴρ φιλεῖ τὸν υἱὸν καὶ πάντα δείκνυσιν αὐτῷ ἃ αὐτὸς ποιεῖ, καὶ µείζονα τούτων δείξει αὐτῷ ἔργα, ἵνα ὑµεῖς θαυµάζητε. 36 Ἐγὼ δὲ ἔχω τὴν µαρτυρίαν µείζω τοῦ Ἰωάννου· τὰ γὰρ

309 Vgl. 4Kgt 19,15.19; Jes 37,20; Dan 3,45. µόνος kann im NT mit εἷς austauschbar gebraucht werden (vgl. Lk 5,21 mit Mk 2,7).

3. Echos und Entsprechungen (Früh-)Jüdische Deutungen der Sinaitradition

Joh 5

sondern Taten (ἔργα), die das Auge besser unterscheidet als das Ohr. Josephus, Ant. III 85ff.

195

ἔργα ἃ δέδωκέν µοι ὁ πατὴρ ἵνα τελειώσω αὐτά, αὐτὰ τὰ ἔργα ἃ ποιῶ µαρτυρεῖ περὶ ἐµοῦ ὅτι ὁ πατήρ µε ἀπέσταλκεν.

Annahme der durch Mose vermittelten Worte Gottes aufgrund der „Werke“ (τὰ ἔργα) Gottes

− Joh 5,17.20.36 / Philo, decal. 47 (vgl. Aristobul Frgm. 2); Josephus, Ant. III 85ff.: In Joh 5,17.20.36 wird deutlich, dass Jesu Werke (τὰ ἔργα) seine Identität als Sohn Gottes „bezeugen“: durch sie wird Leben geschenkt – ein schöpferischer Akt. Doch in der Heilung des Gelähmten „tut“ Jesus eigentlich gar nichts, sondern er spricht und es geschieht. Seine Worte wirken Leben. Diese Wirklichkeit setzende Eigenschaft der Worte Gottes wird nach Philo sowohl in der Schöpfung als auch am Sinai „sichtbar“ (im philonischen Sinne), da sich hier Gottes Stimme „sichtbar“ manifestiert. Jesu Worten hinsichtlich seiner Sendung vom Vater soll aufgrund seiner Werke (τὰ ἔργα) geglaubt werden (Joh 5,36). In ähnlicher Weise möchte Mose nach der Darstellung von Josephus, dass die Gottesworte, die er vermittelt, angenommen werden aufgrund der für Israel vollbrachten Werke (τὰ ἔργα) Gottes (u.a. in und beim Auszug aus Ägypten). In inhaltlicher Hinsicht ergeben sich folgende Entsprechungen zu (früh-)jüdischen Deutungen: (Früh-)jüdischen Deutungen der Sinaitradition

JohEv

Mek Bachodesch 9;

Heilungen (von Blindheit, Taubheit, Stummheit, Lähmung) im Konnex mit der Sinaitora (als Antizipation der Endzeit)

5,3.5.9.

Auferweckung der Toten am Sinai durch die „Stimme des Schofarhorns“ als Antizipation der Endzeit:

5,21. (24).25. 28f.:

PRK 12

TgPs-J Ex 20,18

All the people were watching […] the sound of the

17.36

Kranke, Blinde, Lahme, Dürre in den fünf Säulenhallen; Heilungswunder als eines der schöpferischen Werke, die der Vater dem Sohn gegeben hat Lebendigmachen bzw. Auferweckung durch den Vater und den Sohn bzw. durch die Stimme des Gottessohnes

196

3. Kapitel: Die Rezeption der Sinaitradition in Joh 5,37f.

(Früh-)jüdischen Deutungen der Sinaitradition

JohEv

horn, how it revived the dead Vgl. Tg Sach 14,4 (At that time the Lord will take in his hand the great trumpet and will blow ten blasts upon it to revive the dead); Tg Jes 27,13 Mek Bachodesch 9

Lebendigmachen Israels durch Tau des Lebens bzw. Regen; Todesengel herrscht am Sinai nicht über Israel

1Hen 1,3–9; Mek Bachodesch 4

Endzeittheophanie auf dem Sinai zum Gericht (Tora als entscheidender Maßstab); Gott als Richter

5,22–30

Der Sohn hat vom Vater die Vollmacht zu richten; Verhältnis zum Sohn entscheidend

TgN Dtn 6,6

Die Worte sollen beständig auf dem Herzen sein

5,38a

Nicht-Bleiben des Wortes Gottes im Innern

Philo, decal. 49

Die Gesetze sind im Inneren derjenigen, die dem Gotteswort gehorsam sein wollen

LevR 16,4; TanB Yitro 7; FragT P Dtn 33,3

Vergegenwärtigung des Sinai beim Studium der Schrift:

5,39

Studium der (mosaischen) Schriften zum Zweck des ewigen Lebens

Sir 17,11; 4Q270 Frg. 11 Kol. i, i,11*–12*; 4Q504 Frg. 6; Philo QE II 39 zu Ex 24,11b– c; LAB 23,10

Gesetz des Lebens bzw. Leben durch Tora; Unsterblichkeit durch „seelische“ Schau des Vaters; Leben durch Gesetzesgehorsam

3. Echos und Entsprechungen

197

− Joh 5,3.5.9.17.36 / Mek Bachodesch 9; PRK 12: Die Heilung des Gelähmten, der schon 38 Jahre310 krank war – einer von vielen Kranken, die in den Säulenhallen liegen und sich dort Heilung erhoffen (vgl. Joh 5,2f.7) – wird ausweislich von Joh 5,17.36 den schöpferischen Werken, die der Vater dem Sohn gegeben hat und die Jesus als seinen Gesandten bestätigen, zugerechnet.311 Sowohl nach Mek Bachodesch 9 zu Ex 20,18 als auch gemäß PRK 12 (hier explizit) geschahen Heilungen von Blindheit, Taubheit, Stummheit und Lähmung jedoch im Zusammenhang mit der Offenbarung der Tora. − Joh 5,21.(24).25.28f. / TgPs-J Ex 20,18; Mek Bachodesch 9: Die Werke des Sohnes entsprechen nach Joh 5 den Werken des Vaters: Sowohl der Vater als auch der Sohn machen lebendig bzw. wecken die Toten auf (vgl. Joh 5,21.[24].25.28f.). Dabei spielt die Stimme des Sohnes eine wichtige Rolle. Anders in den angegebenen jüdischen Texten, wo Leben mit der Offenbarung der Tora in Verbindung gebracht wird. Am Sinai werden gemäß TgPs-J Ex 20,18 die Toten durch die „Stimme des Schofarhorns“ auferweckt, was offenbar einen Bezug zu Tg Sach 14,4 herstellen soll, wo im Kontext endzeitlicher Ereignisse der Herr selbst „das große Schofarhorn“ nimmt, zehn mal in das Horn stößt und so die Toten auferweckt. Diese Vorstellung wiederum verdankt sich wohl einer bestimmten Deutung von Jes 27,13, der einzigen Stelle im Prophetentargum, wo sich „das große Schofar“ wiederfindet. Dieses (vermutlich von Gott geblasene) Schofar leitet die eschatologische Rückkehr der Exilierten zur Anbetung auf dem „heiligen Berg in Jerusalem“ ein. Dabei steht „die Stimme des Schofars“ bzw. das große Schofar wohl bildlich für die die zehn Gebote sprechende Stimme Gottes, die die Toten auferweckt. Eine Auferweckung bzw. ein Lebendigmachen Israels am Sinai (wenngleich nicht durch das Schofarhorn, sondern) durch den Tau des Lebens bzw. Regen kennen auch andere rabbinische Texte wie Mek Bachodesch 9 zu Ex 20,18 (mit Bezug auf Ri 5,4 und Ps 68,10). Einen ähnlichen Gedanken formuliert Mek Bachodesch 9 zu Ex 20,19 (Bezug auf Ps 82,6): Am Sinai herrschte der Tod(esengel) nicht über Israel (bis zu ihrem „Sündenfall“ mit dem goldenen Kalb). − Joh 5,22–30 / 1Hen 1,3–9; Mek Bachodesch 4: Das Gerichtsmotiv begegnet wiederholt in Joh 5,22–30. Ausdrücklich wird dort festgestellt – offenbar um eine gängige Vorstellung „der Juden“ zu korrigieren –, dass nicht der Vater, sondern der Sohn richtet und richten wird, weil ihm der Vater die Gerichtsvollmacht übergeben hat (V.27). Entscheidend für den Ausgang des 310 Die 38 Jahre als Angabe der Dauer der Krankheit werden bisweilen als Bezug auf Dtn 2,14 und die Dauer der Wüstenwanderung Israels als Konsequenz ihres Unglaubens, an deren Ende der Tod der Wüstengeneration (die ja die Tora empfangen hatte) stand, aufgefasst (so u.a. bei HENGEL 1989: 286f.; WELCK 1994: 155f.; LABAHN 2007: 89f.; FELSCH 2011: 57). Das scheint durchaus möglich zu sein (vgl. Joh 6,49), muss hier jedoch nicht weiter verfolgt werden. 311 Vgl. Jes 35,5f.

198

3. Kapitel: Die Rezeption der Sinaitradition in Joh 5,37f.

Gerichts – Auferstehung zum Leben oder zur Verurteilung – ist das Verhältnis zum Sohn und seiner Offenbarung. In gewissem Kontrast dazu ist z.B. in 1Hen 1,3–9 oder auch in Mek vorausgesetzt, dass die Sinaitora als Maßstab im Gericht entscheidend ist. − Joh 5,38a / TgN Dtn 6,6; Philo, decal. 49: Joh 5,38a zufolge haben „die Juden“ das Wort Gottes, des Vaters, nicht bleibend in sich. Gemäß TgN Dtn 6,6 sollen aber die Worte Gottes, die Mose Israel lehrt, beständig auf dem Herzen sein, also auf dem Herzen bleiben. Philo (decal. 49) spricht ähnlich von einem Sein der Gesetze im Inneren derjenigen, die ihnen gehorsam sein wollen. − Joh 5,39 / LevR 16,4; TanB Yitro 7; FragT P Dtn 33,3: Direkt im Anschluss an die negative Anspielung auf die Sinaioffenbarung und die Sinaitora wird in Joh 5,39 das Studium der (mosaischen) Schriften zum Zwecke des ewigen Lebens erwähnt. LevR 16,4; TanB Yitro 7 und FragT P Dtn 33,3 zufolge konnte der Sinai bzw. das Sinaierlebnis durch die Schrift immer wieder neu erlebt werden. − Joh 5,39 / Sir 17,11; 4Q270 Frg. 11 Kol. i,11*–12*; 4Q504 Frg. 6; Philo QE II 39 zu Ex 24,11b–c; LAB 23,10: Das Ziel beim Studium der Schriften Moses (vgl. für den im JohEv singulären Ausdruck im Plural „Schriften“ Joh 5,47) seitens „der Juden“ ist gemäß Joh 5,39 der Erhalt des ewigen Lebens durch eben jene Schriften bzw. die Tora, die Zugang zu Gottes Offenbarung bot. Frühjüdische Stellen wie Sir 17,11; 4Q270 Frg. 11 Kol. i,11*– 12*; 4Q504 Frg. 6 sprechen vom Gesetz des Lebens bzw. vom Leben durch die Tora. Gemäß LAB 23,10 gelangt man zum Leben durch Gesetzesgehorsam. Etwas anders formuliert Philo, dass durch die „seelische“ Schau des Vaters, die gekoppelt ist an die Tora, Unsterblichkeit erlangt werde (vgl. QE II 39 zu Ex 24,11b–c). In Auseinandersetzung mit solchen Vorstellungen macht Jesus deutlich, dass er ewiges Leben schenkt. In welcher Auslegungstradition Joh 5 steht, lässt sich aus dieser Übersicht nicht eindeutig beantworten. Relativ deutlich ist jedoch, dass es zahlreiche, mehr oder minder klare Konvergenzen zwischen Joh 5 und bestimmten Gesichtspunkten der Sinaitradition in ihren verschiedenen (früh-)jüdischen Ausprägungen gibt, die für eine Vertrautheit des Evangelisten mit jenen Traditionen sprechen. Nach der Analyse der Sinaierzählung kann nun hinsichtlich der Textgrundlage des Bezuges zur Sinaierzählung in Joh 5,37c–38a resümiert werden: Die Vermutung, dass Joh 5,37c–38a eine kurze und prägnante Zusammenfassung der Erzählung der Sinaitheophanie darstellt, wurde durch die Analyse bestätigt. Es konnte zwar keine hinreichend lange und aussagekräftige wörtliche Übereinstimmung zwischen einem Textsegment der Sinaierzählung (in einer der untersuchten Traditionen) und Joh 5,37c–38a als Ganzem ermittelt werden, jedoch finden sich die drei zentralen Elemente „Gottes Stimme hören“, „seine

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Erscheinung sehen“ und „sein Wort“, z.T. mehrfach, in der Erzählung des Sinaigeschehens und auch in Bezugnahmen auf diesselbe. In der deuteronomischen Version stehen diese Elemente sogar in ähnlich dichter Aufeinanderfolge wie in Joh 5,37c–38a (sofern sich [wie hier argumentiert wurde] „Gestalt“ in Joh 5,37d tatsächlich auch auf die Erscheinung der Herrlichkeit JHWHs am Sinai [u.a. in Form von/wie Feuer] bezieht).

4. Reintegration 4. Reintegration

4.1 Abgrenzung und Funktion der Jesusrede in Joh 5 Der Fokus liegt im Folgenden zwar besonders auf den die Anspielung in Joh 5,37f. umgebenden Textabschnitt Joh 5,31–47. Dennoch muss die gesamte Rede mitbedacht werden. Zum einen ist dies notwendig, da sich Echos über diese verteilen, zum anderen, weil nur durch die Wahrnehmung des Kontextes die Bedeutung sowie die Funktion der Anspielung sachgemäß bestimmt werden können. Die die Rede einbettende Szene wird einmal durch die einleitende zeitliche („ein Fest der Juden“) und lokale („in Jerusalem“) Verortung in Joh 5,1 (Μετὰ ταῦτα ἦν ἑορτὴ τῶν Ἰουδαίων καὶ ἀνέβη Ἰησοῦς εἰς Ἱεροσόλυµα)312 abgegrenzt und dann durch den Zeit- und Ortswechsel in Joh 6,1 (Μετὰ ταῦτα ἀπῆλθεν ὁ Ἰησοῦς πέραν τῆς θαλάσσης τῆς Γαλιλαίας τῆς Τιβεριάδος). Die Jesusrede beginnt mit V.19,313 nachdem das am Sabbat stattfindende Heilungswunder und der Tötungsbeschluss als Reaktion „der Juden“ auf die Aussage Jesu hinsichtlich der Entsprechung seines Wirkens mit dem des Vaters erzählt wurden (Joh 5,1–18). Sie kann in mehrere Abschnitte untergliedert werden. Ein solcher Abschnitt ist Joh 5,31–47, den das Zeugenmotiv zusammenhält, das in V.31 eingeführt und dann expliziert wird. Die rhetorische Frage nach der Möglichkeit des Glaubens an Jesus angesichts des Unglaubens den mosaischen Schriften gegenüber (V.47) beendet sowohl die Jesusrede als auch die Szene. Allerdings vermisst man danach eine Reaktion seitens „der Juden“, sodass deutlich ist, dass die Kontroverse nicht wirklich beendet ist (dazu gleich mehr).314 In Auseinandersetzung mit dem doppelten Vorwurf (ein doppeltes Missverständnis [dazu s.u.]) „der Juden“, Jesus löse den Sabbat auf und mache sich selbst Gott gleich (Joh 5,18), entfaltet die Rede Jesu Identität als Gottes Sohn, der vom Vater die Vollmacht erhalten hat, zu richten und Leben zu spenden. 312

Nach Joh 4,54 befand sich Jesus vor dem Hinaufgehen nach Jerusalem in Galiäa. Mit FREY 2000: 325 sehe ich V.17f. als „Übergangs- oder Scharnierstück zwischen der Wundererzählung V.1–16 und der anschließenden Rede“. 314 Vgl. ASIEDU-PEPRAH 2001: 115. Allerdings sehe ich, anders als Asiedu-Peprah, die Auseinandersetzung schon in Joh 7,19 (wenn nicht schon früher) fortgeführt, wie die Aufnahme der Tötungsabsicht zeigt, und nicht erst in Joh 9,1–10,21. 313

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3. Kapitel: Die Rezeption der Sinaitradition in Joh 5,37f.

Die rhetorische Frage am Ende der Rede dient dazu, die Adressaten der Rede und dann natürlich auch die Lesenden bzw. Hörenden des Evangeliums dazu aufzufordern, wie den Schriften Moses so auch den Worten Jesu über seine Identität und seine daraus erwachsende Vollmacht zu glauben. Mit Blick auf die Zielangabe des JohEv (Joh 20,30f.) bildet die Jesusrede in Joh 5 somit einen wichtigen Baustein für dessen Botschaft. Auch für den Handlungsverlauf der johanneischen Jesuserzählung spielt die Szene inklusive der Rede eine wichtige Rolle, nicht zuletzt, weil sie eine gewisse „Offenheit“ aufweist. So „fehlt“ die Reaktion „der Juden“ auf die Verteidigungsrede Jesu. Erstmalig im JohEv findet sich in Joh 5,18 die auf die Passionserzählung hindeutende Tötungsabsicht „der Juden“ infolge des Wirkens Jesu am Sabbat in Entsprechung mit dem Wirken des Vaters. Der „äußere“ Konflikt mit „den Juden“ wird durch die polemischen Aussagen in der Rede Jesu weiter zugespitzt. Auf einer tieferen Ebene offenbart Jesus durch seine Polemik die „inneren“ Gründe für die feindliche Haltung ihm gegenüber. Er zieht dadurch umso mehr ihren Hass auf sich, der seinen Höhepunkt in der Kreuzigung Jesu erreicht. Immer wieder wird im JohEv die Tötungsabsicht aus Joh 5,18 aufgegriffen und so auf jene Szene zurückverwiesen, sei es durch den Evangelisten, im Munde Jesu, der Menge, der Jerusalemer und „der Juden“ oder auch im Tötungsbeschluss, der die Passionsgeschichte in Gang setzt (vgl. Joh 7,1.19f.25; 8,37.40; 10,33; 11,53). Vor Pilatus verdichtet sich schlussendlich in folgendem Ausspruch, was die „Schuld“ Jesu aus Sicht „der Juden“, was sein Gesetzesbruch eigentlich ist: „Wir haben ein Gesetz, und nach dem Gesetz muss er sterben, weil er sich selbst zu Gottes Sohn gemacht hat“ (Joh 19,7). 4.2 Gliederung Die Jesusrede lässt sich folgendermaßen gliedern, wobei formale (durch die ähnliche Phrase in V.19 [οὐ δύναται ὁ υἱὸς ποιεῖν ἀφ᾽ ἑαυτοῦ οὐδὲν] und V.30 [Οὐ δύναµαι ἐγὼ ποιεῖν ἀπ᾽ ἐµαυτοῦ οὐδέν] entsteht eine Inclusio; durch die wiederkehrende Bekräftigungsformel [ἀµὴν ἀµὴν λέγω ὑµῖν] in V.19.24.25.) und inhaltlich-thematische Gesichtspunkte (Zeugenmotiv in V.31–47) berücksichtigt wurden:315 5,19–30: Der Sohn hat vom Vater die Vollmacht erhalten, zu richten und lebendig zu machen 5,19–23: Wie der Vater, so schenkt auch der Sohn Leben und richtet 5,19–20: Der Sohn tut nur das, was auch der Vater tut

315

Vgl. die Gliederungsvorschläge von FREY 2000: 333ff. (nur zu Joh 5,19–30) und THE2009: 386f.408.

OBALD

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5,21–23: Der Sohn macht lebendig und richtet in der Vollmacht des Vaters, damit sowohl der Sohn als auch der Vater geehrt werden 5,24: Wer Jesus glaubt, kommt nicht ins Gericht, sondern hat das Leben 5,25–30: Der Sohn macht lebendig und hält Gericht, das gerecht ist 5,25–29: Der Sohn macht lebendig, weil er das Leben in sich hat und hält Gericht, weil der Vater ihm die Vollmacht dazu verliehen hat 5,30: Das Gericht des Sohnes ist gerecht, weil er den Willen des Vaters sucht 5,31–47: Die Ablehnung Jesu durch „die Juden“ trotz der Zeugen für seine Identität und Sendung führt zu ihrer Anklage durch Mose beim Vater 5,31–32: Jesus legt nicht Zeugnis über sich selbst ab, sondern ein anderer 5,33–35: Die Juden ließen sich durch das prophetische Zeugnis des Johannes nicht zu Jesus leiten 5,36–40: Jesu Werke, die Sinaioffenbarung des Vaters und die Schriften als Zeugen Jesu 5,41–44: Das Streben nach menschlicher Anerkennung als Grund für die Nicht-Annahme des Gesandten des Vaters 5,45–47: Die mosaische Anklage „der Juden“ beim Vater wegen ihres Unglaubens gegenüber Jesus, über den Mose geschrieben hat 4.3 Syntaktische Struktur und Übersetzung von Joh 5,31–47 31 a b 32 a b c d 33 a b 34 a 316

Ἐὰν ἐγὼ µαρτυρῶ περὶ ἐµαυτοῦ, Wenn ich über mich selbst Zeugnis ablege, ἡ µαρτυρία µου οὐκ ἔστιν ἀληθής· ist mein Zeugnis nicht wahr. ἄλλος ἐστὶν ὁ µαρτυρῶν περὶ ἐµοῦ, Ein anderer ist der von mir Zeugende καὶ οἶδα und ich weiß, ὅτι ἀληθής ἐστιν ἡ µαρτυρία dass sein Zeugnis wahr ist, ἣν µαρτυρεῖ περὶ ἐµοῦ. das er über mich bezeugt. ὑµεῖς ἀπεστάλκατε πρὸς Ἰωάννην, Ihr habt zu Johannes (Boten) gesandt, καὶ µεµαρτύρηκεν τῇ ἀληθείᾳ· und er hat der Wahrheit Zeugnis gegeben.316 ἐγὼ δὲ οὐ παρὰ ἀνθρώπου τὴν µαρτυρίαν λαµβάνω, τῇ ἀληθείᾳ ist „Dativ der Sache“, die durch das Zeugnis bestätigt wird.

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b c 35 a b c d 36 a b c d e f

g 37 a b c d 38 a b c

39 a b

3. Kapitel: Die Rezeption der Sinaitradition in Joh 5,37f. Ich aber nehme das Zeugnis von einem Menschen nicht an, ἀλλὰ ταῦτα λέγω aber das (alles) sage ich, ἵνα ὑµεῖς σωθῆτε. damit ihr gerettet werdet. ἐκεῖνος ἦν ὁ λύχνος Jener war die Lampe, ὁ καιόµενος die brannte καὶ φαίνων, und schien, ὑµεῖς δὲ ἠθελήσατε ἀγαλλιαθῆναι πρὸς ὥραν ἐν τῷ φωτὶ αὐτοῦ. Ihr aber wolltet für kurze Zeit in seinem Licht jubeln. Ἐγὼ δὲ ἔχω τὴν µαρτυρίαν µείζω τοῦ Ἰωάννου· Ich aber habe das Zeugnis, (welches) größer (ist) als das des Johannes. τὰ γὰρ ἔργα Denn die Werke, ἃ δέδωκέν µοι ὁ πατὴρ die mir der Vater gegeben hat, ἵνα τελειώσω αὐτά, damit ich sie vollende, αὐτὰ τὰ ἔργα ↓ ebendiese Werke, ἃ ποιῶ die ich tue, ↑µαρτυρεῖ περὶ ἐµοῦ bezeugen über mich, ὅτι ὁ πατήρ µε ἀπέσταλκεν. dass der Vater mich gesandt hat. καὶ ὁ πέµψας µε πατὴρ Und der Vater, der mich gesandt hat, ἐκεῖνος µεµαρτύρηκεν περὶ ἐµοῦ. jener hat über mich bezeugt. οὔτε φωνὴν αὐτοῦ πώποτε ἀκηκόατε Weder habt ihr jemals seine Stimme gehört, οὔτε εἶδος αὐτοῦ ἑωράκατε, noch habt ihr seine Gestalt gesehen, καὶ τὸν λόγον αὐτοῦ οὐκ ἔχετε ἐν ὑµῖν µένοντα, und sein Wort habt ihr nicht bleibend in euch, ὅτι ↓ denn dem, ὃν ἀπέστειλεν ἐκεῖνος, den jener gesandt hat, ↑τούτῳ ὑµεῖς οὐ πιστεύετε. diesem glaubt ihr nicht. ἐραυνᾶτε τὰς γραφάς, Ihr erforscht die Schriften, ὅτι ὑµεῖς δοκεῖτε weil ihr meint,

4. Reintegration c d 40 a b c 41 42 a b 43 a b c d 44 a b c 45 a b c d 46 a b c 47 a b

ἐν αὐταῖς ζωὴν αἰώνιον ἔχειν· in ihnen (oder: durch sie) ewiges Leben zu haben. καὶ ἐκεῖναί εἰσιν αἱ µαρτυροῦσαι περὶ ἐµοῦ· Und jene sind die von mir Zeugenden. καὶ οὐ θέλετε Und ihr wollt nicht ἐλθεῖν πρός µε zu mir kommen, ἵνα ζωὴν ἔχητε. damit ihr Leben habt. ∆όξαν παρὰ ἀνθρώπων οὐ λαµβάνω, Ich nehme keine Ehre von Menschen, ἀλλὰ ἔγνωκα ὑµᾶς aber ich kenne euch: ὅτι τὴν ἀγάπην τοῦ θεοῦ οὐκ ἔχετε ἐν ἑαυτοῖς. Die Liebe Gottes habt ihr nicht in euch selbst. ἐγὼ ἐλήλυθα ἐν τῷ ὀνόµατι τοῦ πατρός µου, Ich bin im Namen meines Vaters gekommen, καὶ οὐ λαµβάνετέ µε· und ihr nehmt mich nicht auf. ἐὰν ἄλλος ἔλθῃ ἐν τῷ ὀνόµατι τῷ ἰδίῳ, Wenn ein anderer in seinem eigenen Namen kommt, ἐκεῖνον λήµψεσθε. jenen werdet ihr aufnehmen. πῶς δύνασθε ὑµεῖς πιστεῦσαι Wie könnt ihr glauben, δόξαν παρὰ ἀλλήλων λαµβάνοντες, die ihr Ehre voneinander nehmt, καὶ τὴν δόξαν τὴν παρὰ τοῦ µόνου θεοῦ οὐ ζητεῖτε; aber die Ehre, die von Gott her (kommt), nicht sucht. Μὴ δοκεῖτε Meint nicht, ὅτι ἐγὼ κατηγορήσω ὑµῶν πρὸς τὸν πατέρα· dass ich euch bei dem Vater anklagen werde. ἔστιν ὁ κατηγορῶν ὑµῶν Μωϋσῆς, Es gibt einen, der euch anklagt: Mose, εἰς ὃν ὑµεῖς ἠλπίκατε. in den ihr eure Hoffnung gesetzt habt. εἰ γὰρ ἐπιστεύετε Μωϋσεῖ, Denn wenn ihr Mose glaubtet, ἐπιστεύετε ἂν ἐµοί· würdet ihr auch mir glauben, περὶ γὰρ ἐµοῦ ἐκεῖνος ἔγραψεν. denn über mich hat jener geschrieben. εἰ δὲ τοῖς ἐκείνου γράµµασιν οὐ πιστεύετε, Wenn ihr aber seinen Schriften nicht glaubt, πῶς τοῖς ἐµοῖς ῥήµασιν πιστεύσετε; wie werdet ihr dann meinen Worten glauben?

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3. Kapitel: Die Rezeption der Sinaitradition in Joh 5,37f.

4.4 Interpretation der intertextuellen Bezüge innerhalb der Jesusrede In Joh 5 wird nach Frey das Thema der Identität, Vollmacht und Sendung Jesu als Leben spendender Sohn Gottes entfaltet.317 Für das Verständnis der gerichtlichen Auseinandersetzung318 Jesu mit „den Juden“ ist es wichtig, die Hinweise wahrzunehmen, die dafür sprechen, dass die beiden Motive „Monotheismus“ und „Sinaibund“ in diesem Kontext eine zentrale Rolle spielen: Die Anklage in Joh 5,18 bezieht sich auf das Gebot der Alleinverehrung Gottes (vgl. Ex 20,2–5; Dtn 5,6–10; 6,4f.). Darauf referiert dann der johanneische Jesus selbst in V.23 (τιµῶσι τὸν πατέρα) und schließlich in V.44 (vgl. καὶ τὴν δόξαν τὴν παρὰ τοῦ µόνου θεοῦ οὐ ζητεῖτε; vgl. Dtn 6,4). Der sich vor der Rede ereignende Vorgang und die Rede als Verteidigungsrede lassen sich sinnvoll vor dem Hintergrund von Dtn 17319 verstehen: Als Jesus den Geheilten im Tempel findet, befiehlt er ihm: Siehe, du bist gesund geworden, hör auf zu sündigen (d.h. glaube an mich), damit dir nicht noch etwas Schlimmeres (das Sterben in der Sünde bzw. im Unglauben, worauf das Gericht und die ewige Verdammnis folgt) geschieht (als das, was dir zuvor geschehen ist – deine 38jährige Krankheit)!

Daraufhin beharrt der Geheilte jedoch im Unglauben. Er geht zu „den Juden“320 und „zeigt“ Jesus „an“ (V.15): ἀπῆλθεν ὁ ἄνθρωπος καὶ ἀνήγγειλεν321 (vgl. Dtn 17,4: καὶ ἀναγγελῇ σοι καὶ ἐκζητήσεις σφόδρα καὶ ἰδοὺ ἀληθῶς γέγονεν τὸ ῥῆµα γεγένηται τὸ βδέλυγµα τοῦτο ἐν Ισραηλ), wohlwissend, dass sie Jesus als 317

Vgl. FREY 2000: 335. Vgl. ASIEDU-PEPRAH 2001: 24–29; 52–116. 319 Vgl. aber auch die ähnliche Passage in Dtn 19,15–21. 320 Durch diese Handlung, durch diese Bewegung des physisch Geheilten zu „den Juden“ hin, in deren Folge Jesus allererst identifiziert und zur Rede gestellt wird, wird der ehemals Gelähmte erzähltechnisch mit „den Juden“ identifiziert. 321 Zwar wird das Verb im JohEv vorwiegend positiv im Sinne von „verkündigen“ benutzt, allerdings ist die Bedeutung „melden“ lexikalisch ebenso gut möglich (vgl. BA, s.v. ἀναγγέλλω). Für letztere Bedeutung in Joh 5 spricht, dass das Subjekt in den anderen Belegstellen für ἀναγγέλλω im JohEv (vgl. 4,25; 16,13ff.) „immer ein eschatologischer Heilsmittler [Messias, Geist, Jesus])“ (METZNER 1999: 186) ist, nicht aber in Joh 5,15. Darüber hinaus fehlen in Joh 5 klare Hinweise dafür, dass der Geheilte Jesus/das Evangelium „verkündigen“ oder Jesus als Wundertäter anerkennen und öffentlich proklamieren würde (ähnlich auch THEOBALD 2009: 380; u.a. gegen FELSCH 2011: 73). Die Formulierung in Joh 5,15 „Jesus ist es, der ihn gesund gemacht hatte“ (Ἰησοῦς ἐστιν ὁ ποιήσας αὐτὸν ὑγιῆ) entspricht als Antwort genau der (die eigentliche Heilung eines 38 Jahre lang Gelähmten ganz übergehenden) Frage nach der Identität dessen, der den Geheilten zum Sabbatbruch (vgl. V.10f.) angestiftet hat: „Wer ist der Mensch (oder „wer ist das denn“ [Einheitsübersetzung]), der zu dir sagte: Nimm (dein Bett) auf und geh umher“ (τίς ἐστιν ὁ ἄνθρωπος ὁ εἰπών σοι· ἆρον καὶ περιπάτει; Joh 5,12). Dass es Jesus war, der den Befehl zum Aufheben der Matte und zum Umhergehen gegeben hat und damit der eigentliche Sabbatübertreter ist (der Geheilte scheint die Schuld auf Jesus abschieben zu wollen, um sich selbst den drohenden Konsequenzen zu entziehen), ist somit der Inhalt des ἀνήγγειλεν in Joh 5,15. 318

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Sabbatübertreter322 suchen (vgl. V.10–13). „Die Juden“ verfolgen und stellen Jesus daraufhin zur Rede. Dieser verschärft die Schwere der Anklage durch seine Antwort ganz erheblich. Nun geht es aus Sicht „der Juden“ nicht mehr „nur“ um „Auflösung“ des Sabbats, sondern um die Übertretung des ersten Gebotes und damit um Bundesbruch (vgl. Dtn 17,2c–3b)323, auf die die Todesstrafe steht, wie Joh 5,18 zeigt. In der Rede Jesu (Joh 5,31.33) kommen die Stichworte „wahr“ (ἀληθής) bzw. „Wahrheit“ (ἀλήθεια) vor, ebenso wie sich auch in Dtn 17,4 der angezeigte Sachverhalt als „wahr“ erweisen muss (ἰδοὺ ἀληθῶς γέγονεν τὸ ῥῆµα). Im Mittelpunkt steht also die Frage, ob Jesu Anspruch, Sohn Gottes und Gesandter zu sein, wahr ist bzw. die Anklage des Götzendienstes nicht wahr ist. Die von Dtn 17,6 geforderten „zwei oder drei Zeugen“ (ἐπὶ δυσὶν μάρτυσιν ἢ ἐπὶ τρισὶν μάρτυσιν) sind anwesend. So führt Jesus für seine Verteidigung folgende Zeugen an: (den Täufer; Joh 5,33), die Werke (V.36), den Vater (V.37), und die Schriften (V.39). Schließlich wollen „die Juden“, die den Götzendienst selbst bezeugt haben, Jesus „töten“ (ἀποκτεῖναι), wie es in Dtn 17,6f. angeordnet ist. Im Laufe der Rede wird aber klar, dass eigentlich „die Juden“ auf der Anklagebank sitzen. Sie sind diejenigen, die sich des Bundesbruches schuldig machen.324 Damit läuft ihr Vorhaben, Jesus zu töten, auf eine Verletzung des Gebots „Du sollst nicht töten“ hinaus. „Den Juden“ wird in V.42 zum Vorwurf gemacht, dass sie Gott nicht lieben. Dies wiegt schwer, da die Liebe zu Gott Charakteristikum des Volkes Gottes ist (Ex 20,6) und in einem der zentralsten Texte für das Judentum explizit befohlen wird: „und du sollst den Herrn, deinen Gott lieben…“ (ἀγαπήσεις κύριον τὸν θεόν σου …; Dtn 6,5). Die Anspielung auf den Sinai und die Echos, auf die ich im Laufe der Analyse zu sprechen komme, fügen sich gut in diesen Bundesrahmen ein und tragen Wichtiges zur Bedeutungskonstitution der Rede bei, in deren Verlauf sich Jesus mit Vorstellungen auseinandersetzt, wonach die Offenbarung Gottes in der Tora bzw. den mosaischen Schriften Leben gibt. Nachdem „die Juden“ erfahren haben, dass es Jesus sei, der den Kranken geheilt und angewiesen hat, aufzustehen, seine Liege oder Matte zu nehmen und zu gehen (Joh 5,8), verfolgen sie ihn aufgrund dieses Tuns am Sabbat (ἐποίει ἐν σαββάτῳ; V.16). Jesus verteidigt sich325 mit dem Hinweis auf das 322 Jesus übertritt aus Sicht „der Juden“ das Sabbatgebot, weil er den Geheilten anweist, seine Matte zu nehmen und zu gehen. Das Tragen der Matte aber ist nicht erlaubt (Joh 5,10). Jesus erscheint also als der Anstifter zum Sabbatbruch. 323 Dtn 17,2c–3b: 2 … ὅστις ποιήσει τὸ πονηρὸν ἐναντίον κυρίου τοῦ θεοῦ σου παρελθεῖν τὴν διαθήκην αὐτοῦ 3 καὶ ἐλθόντες λατρεύσωσιν θεοῖς ἑτέροις. 324 Vgl. 4Q270 Frg. 11 Kol i,15–21: Wer die Gesetze der Tora des Mose verwirft, wird im dritten Monat (vgl. Ex 19,1) aus der Gemeinschaft ausgeschlossen. Dieser Ausschluss wird als „Gericht(sverfahren)“ (Z.16*) bezeichnet. 325 Die meisten der fast 80 Belege für ἀποκρίνοµαι im JohEv sind im Passiv. Das Medium kommt neben Joh 5,17.19 noch vor in Joh 12,23; 13,26.38 (ἀποκρίνεται); 18,22 (ἀποκρίνῃ).

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3. Kapitel: Die Rezeption der Sinaitradition in Joh 5,37f.

Wirken Gottes326, seines Vaters, das sein Wirken am Sabbat legitimiert: „Mein Vater wirkt bis jetzt, und ich wirke (deshalb) auch“ (ὁ πατήρ µου ἕως ἄρτι ἐργάζεται κἀγὼ ἐργάζοµαι). Das gemeinte Wirken Gottes (man beachte den Bezug von ἐργάζοµαι zu den ἔργα), des Vaters Jesu, ist vom Kontext des JohEv insgesamt und speziell von Joh 5,20ff.36 her gesehen sein schöpferisches, Leben schenkendes und richterliches Wirken.327 Da Jesu Aussage sich auf sein Wunder-Tun am Sabbat bezieht, erweist sich jenes mutmaßliche „Sabbatwerk“ (also verbotene Arbeit) als schöpferisches, Leben schenkendes Wirken des Vaters im Wirken des Sohnes328 oder – in der Begrifflichkeit des Prologs – als des Logos, in dem Leben war (Joh 1,4).329 Folglich erhellt die Jesusrede die vorstehende Heilungserzählung, sodass die Art der Heilung – durch das befehlende Wort bzw. die Stimme Jesu wird der Gelähmte gesund – in einem neuen Licht erscheint.330 Von jenem Basissatz johanneischer Theologie über die schöpferische und Leben gebende Aktivität des Vaters und des Sohnes auch und gerade am Sabbat erscheint der direkt im Anschluss berichtete Tötungsbeschluss „der Juden“ nicht einfach nur ironisch, sondern in höchstem Maße tragisch: Sie wollen denjenigen töten, der ihnen Leben bringt, weil sie nicht erkennen, dass der Vater im Sohn wirkt. Ihre Begründung331 für diesen Beschluss lautet: „nicht nur hob er den Sabbat auf, sondern er nannte Gott auch seinen eigenen Vater, womit er sich selbst Gott gleichstellte“ (οὐ µόνον ἔλυεν τὸ σάββατον, ἀλλὰ καὶ πατέρα ἴδιον ἔλεγεν τὸν θεὸν ἴσον ἑαυτὸν ποιῶν τῷ θεῷ)332. Dadurch macht sich Jesus jedoch aus Sicht „der Juden“ nicht nur der „Auflösung“ des Sabbats, sondern

Dies könnte ein weiterer Hinweis auf den gerichtlichen Charakter der Jesusrede sein, die dann als Verteidigung gegen die Anschuldigungen (Joh 5,18) aufzufassen wäre. Dafür spricht auch, dass ἀποκρίνοµαι im Medium in den Evangelien fast ausschließlich im Prozess Jesu begegnet (vgl. Mt 26,62; 27,12; Mk 14,60f.; Lk 23,9). 326 Dass Gott gegenwärtig wirkt, wäre auch jüdischerseits sicher unbestritten gebliebenen. Vgl. SÖDING 2002: 177, Anm. 1, der auf PHILO hinweist (LA I. 3ff.16ff; Cher. 87–90; det. 16.181), wonach die creatio continua selbstverständlich auch am Sabbat nicht unterbrochen wird; vgl. noch ARISTOBUL, Fragment 5,11–12 (= EUSEBIUS, Praep Ev XIII 12,11–12). Wo er wirkt, ist allerdings höchst umstritten. 327 Vgl. ähnlich THEOBALD 2009: 381; FREY 2000: 342f. 328 Vgl. THOMPSON 2001: ngr118. 329 Vgl. STRAUB 2009: 157–167. 330 So auch WELCK 1994: 152ff. 331 Mit THEOBALD 2009: 382 sehe ich in V.18d die Auffassung „der Juden“ wiedergegeben. 332 Zur Formulierung ἴσον ἑαυτὸν ποιῶν τῷ θεῷ vgl. Phil 2,6 (ὃς ἐν µορφῇ θεοῦ ὑπάρχων οὐχ ἁρπαγµὸν ἡγήσατο τὸ εἶναι ἴσα θεῷ); zur Sache vgl. NEUER WETTSTEIN 2001: 288–295. Joh 5,18 ist ausführlicher diskutiert in MEEKS 1990.

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v.a. des Bundesbruches333 durch Blasphemie,334 der Übertretung des ersten Gebotes schuldig (vgl. besonders Dtn 6,4). Allein, tut Jesus das? Löst er den Sabbat auf, und macht er sich selbst, einen Menschen, Gott gleich? Es dürfte von Joh 5,17 her eigentlich schon klar sein, dass der Vorwurf der Sabbatübertretung ein Missverständnis des Handelns Jesu ist, das darin gründet, dass „die Juden“ Gottes Wirken in Jesu Heilungswunder nicht sehen. Da Jesus sich als Gottessohn versteht, interpretiert er das Sabbatgebot so, dass es sein Wirken genauso wenig einschränkt, wie es das seines Vaters begrenzt. Wie steht es aber um den zweiten Teil des Vorwurfs? Es wäre wohl für die Gegner Jesu eine unangemessene Unterstellung, dass sie meinten, Jesus identifiziere sich dergestalt mit Gott, dass er denke, selbst der eine Gott zu sein. Viel eher läuft es auf Folgendes hinaus: Aus Sicht „der Juden“ ist Jesu Anspruch, der Sohn Gottes (dies ist impliziert, wenn Jesus Gott seinen eigenen Vater nennt) in einem exklusiven Sinne und deshalb nicht an die Sabbatgebote gebunden zu sein, illegitim, weil dies ihrer Meinung nach einen Di-Theismus impliziert.335 Der johanneische Jesus erwidert den doppelten Vorwurf mit einer langen Rede (angezeigt in V.19 sowohl durch ἀπεκρίνατο als auch durch οὖν). Darin geht es darum, dass Jesus kein zweiter Gott ist, sondern „eins“ ist mit dem Vater (vgl. Joh 10,30). Sein Wirken dokumentiert gerade seine Abhängigkeit vom Vater und nicht seine Autonomie. Jesus beginnt seine Rede mit der für ihn charakteristischen Bekräftigungsformel ἀµὴν ἀµὴν λέγω (vgl. V.24 und 25), die den Offenbarungscharakter des Gesagten unterstreicht. Darauf folgt die grundsätzliche Aussage, dass „der Sohn nichts von sich aus tun kann“ (οὐ δύναται ὁ υἱὸς ποιεῖν ἀφ᾽ ἑαυτοῦ [vgl. ἑαυτὸν in V.18] οὐδὲν). Der anschließende Exzeptivkonditionalsatz336 (V.19d) formuliert eine Ausnahme (ἐὰν µή) zu dem Grundsatz von V.19c: „… es sei denn, er sieht den Vater etwas tun“. Mit anderen Worten: Der Sohn tut nur das, was er den Vater tun sieht. V.19e–f begründet dies: „Denn (alles) was jener tut, das tut auch der Sohn ebenso“ (ἃ γὰρ ἂν ἐκεῖνος ποιῇ, ταῦτα καὶ ὁ υἱὸς ὁµοίως ποιει). Damit ist aber erneut betont, dass das Wirken Jesu am Sabbat nicht in eigener Regie, sondern in beständiger Verbindung zum Vater und im Verein mit dessen Wirken erfolgt. Dass der Sohn das Tun des Vaters nachahmt, ist vom Vater auch so gewollt, zeigt er jenem ja alles, was er tut. Diese Einsicht des Sohnes in das Wirken des Vaters gründet in der Liebe des Vaters zu seinem Sohn (V.20a).337 Dem fügt 333

Vgl. Dtn 17,2ff. Vgl. Joh 10,33; Mk 14,64 par. 335 So auch THEOBALD 2009: 383; CARSON 1991: 250. 336 Vgl. VON SIEBENTHAL 2011: § 286b. 337 Das Motiv der Liebe des Vaters zum Sohn steht in erkennbarem Kontrast zur „Nichtliebe“ zu Gott seitens „der Juden“ (V.42) und bringt so die Erwartung zur Sprache, dass der Sohn, den der Vater liebt, auch von denen geliebt werden sollte, zu denen er gesandt ist. 334

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der johanneische Jesus hinzu, dass „der Vater noch größere Werke als diese zeigen wird, damit/sodass ihr euch wundern338 werdet“. Der den Grundsatz von V.19f. konkretisierende Komparativsatz in V.21 begründet das Gesagte und erhellt so, um welche „größeren Werke“ es sich handelt. Dass der Vater die Toten auferweckt und lebendig macht,339 dürfte nicht kontrovers sein.340 Es ist sein göttliches Prärogativ. Nun sagt aber Jesus, dass ihm als dem Sohn dieses göttliche Prärogativ des Lebendig-Machens ebenso zu Eigen ist. Das Motiv der Auferweckung der Toten zum Leben wirft sogleich die Frage nach dem Richten (wohl im Sinne des ultimativen Verurteilens;341 auch dieses ist ein göttliches Prärogativ)342 auf; beide Motive gehören im eschatologischen Horizont zusammen (vgl. V.28f.). Das Ziel (offensichtlich das des Vaters) dieser Übergabe des Gerichts an den Sohn ist, dass „alle (Menschen) den Sohn ehren, wie sie den Vater ehren“. Die Ehre, die dem Sohn zukommen soll, ist dadurch, dass sie auch dem Vater zuteil wird, von exklusiver Art. Provokativer kann es fast nicht mehr werden: Jesus als der Sohn soll, in Konsequenz der ihm gegebenen göttlichen Prärogativen des souveränen Lebendig-Machens und Richtens, auch noch genauso verehrt werden wie der Vater.343 Joh 5,23c–d bringt eine negative Implikation des bisher Gesagten zur Sprache. Hatte Jesus in V.22 vom Richtersein des Sohnes gesprochen, zeigt er in V.24, dass derjenige, der sein „Wort“ hört und dem glaubt, der ihn gesandt hat, ewiges Leben hat und nicht ins Gericht kommt, sondern aus dem Tod in das Leben hinübergegangen ist. Das Hören des „Wortes“ Jesu meint sicherlich mehr als bloßes akustisches Wahrnehmen mit den Ohren.344 Es geht um ein

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„Wundern“ ist hier im Sinne von „ablehnendem Staunen“ zu verstehen (vgl. ANNEN 1992: 333). Der Rückbezug auf Joh 5 in Joh 7,21 („Ein Werk habe ich getan, und ihr alle verwundert euch deswegen“) unterstreicht diese negative Konnotation zusätzlich, da in Joh 5 insgesamt und auch im Kontext von 7,21 eindeutig eine negative Reaktion auf die Heilung am Sabbat angesprochen wird, zumal Jesus in 7,23 sagt: „Wieso zürnt ihr mir, dass ich einen ganzen Menschen gesund gemacht habe am Sabbat?“ 339 Vgl. Dtn 32,39 (TgN und TgPs-J Dtn 32,39: „I am he who causes the living to die in this world, and who brings the dead to life in the world to come“); 1Sam 2,6; 4Kgt 5,7; Hos 6,2. 340 Vgl. KLAIBER 2005: 94–102 (kurzer Überblick zum Thema „Auferstehung“); FREY 2000: 358ff. (Lit. [Anm. 137]), LEVENSON 2006. 341 Vgl. THOMPSON 2001: 119: „This [sc. Jesu Vollmacht zu richten] is simply the negative corollary of his power to grant life.“ 342 Vgl. aus der Vielzahl der Stellen nur Gen 18,25; Röm 3,6; 1Petr 4,5. 343 Vgl. Apk 4–5 (besonders 4,10f. und 5,12ff.). Nach Dan 7,14 gemäß Theodotion (so auch in der aram. Version) erhält der Menschensohn wahrscheinlich von dem „Alten an Tagen“ (vgl. 7,13) die „Herrschaft“, „Ehre“ und das „Königreich“ (ἡ ἀρχὴ καὶ ἡ τιµὴ καὶ ἡ βασιλεία); vgl. REYNOLDS 2008: 138. 344 So auch FREY 2000: 371.

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inneres Hören des „Wortes“345 Jesu,346 welches ja das Wort des Vaters ist.347 Insofern ist das innere Hören des Wortes Jesu letztlich gleichbedeutend mit „demjenigen Glauben schenken, der Jesus gesandt hat“. Wer solches tut (hört und glaubt), hat (schon jetzt) das ewige Leben (ἔχει ζωὴν αἰώνιον). Oder anders gesagt: „er ist (schon) vom Tod in das Leben hinübergegangen (µεταβέβηκεν)348“. Ewiges Leben zu haben schließt aus, dass man „ins Gericht kommt“, wobei man an das eschatologische Gericht zu denken hat,349 da ἔρχεται wie auch sonst häufig im NT350 wahrscheinlich auf die Zukunft bezogen ist. Der vorhergehende Redeabschnitt hatte in seiner allgemeinen Art der Formulierung noch etwas offen gelassen, wann das geschehen würde, von dem Jesus sprach (Lebendig-Machen und Richten des Sohnes). In V.24 macht Jesus nun deutlich: Der Übergang vom Tod zum Leben geschieht nicht erst bzw. nicht nur beim zukünftigen Gericht, sondern ist für diejenigen, die „definiert“ sind durch Hören des Wortes Jesu und Glauben an seinen Vater, der ihn gesandt hat, schon geschehen. Sie stehen bereits in der Sphäre des Lebens und haben das ewige Leben jetzt schon. Allerdings impliziert dies, dass diejenigen, die Jesus nicht glauben, mit der Verurteilung im Endgericht rechnen müssen. Der nächste größere Abschnitt (Joh 5,25–30) wird durch ἀµὴν ἀµὴν λέγω ὑµῖν eingeleitet. Terminologisch und inhaltlich knüpft er an Vorhergehendes an351. Zum erstenmal in Joh 5 ist in V.25 (dann wieder in V.28) von einer „Stunde“ die Rede.352 Von dieser „Stunde“ heißt es einerseits, dass sie kommt 345 Für das „Wort“ (λόγος im Sg.) Jesu: Joh 2,22; 4,41; 4,50; 6,60; 7,36; 8,31.37.43.51f; 12,48; 14,23f.; 15,3.20; 18,9.32; 21,23. Auch die Rede der Samaritanerin ist ihr „Wort“ (4,39), ebenso wie der Ausspruch Jesajas (12,38), ein Psalmzitat (15,25), die nachösterliche Verkündigung der Jünger (17,20) oder die Anklage „der Juden“ (19,8). Jesu Äußerungen werden darüber hinaus bezeichnet mit dem Plural οἱ λόγοι (relativ selten: 7,40; 10,19; 14,24) oder mit τὰ ῥήµατα (3,34; 5,47; 6,63.68; 8,20; 10,21; 12,47f.; 14,10; 15,7; 17,8). Ein nennenswerter Unterschied zwischen dem Wort und den Worten Jesu ist nicht feststellbar. 346 Ähnlich THEOBALD 2009: 394. 347 Vgl. u.a. Joh 14,24. 348 Vgl. 1Joh 3,14. In beiden Stellen kommt eine räumliche Vorstellung von Tod und Leben als Sphären zum Ausdruck, die man schon jetzt – mitten im physischen Leben (daher ist jenes „Leben“ von diesem unterschieden) – wechseln kann. 349 Vgl. FREY 2000: 374; 1Joh 4,17. 350 Vgl. Lk 19,13; Joh 14,3; 14,18; 21,22; 2Kor 13,1; 1Tim 4,13; Apk 2,5.16; 3,11; 16,15; 22,7.12.20. 351 „Kommen“ (V.24 und V.25, 28), die „Toten“ (V.21 und V.25), „hören“ (V.24 und V.25, 30), der „Vater“ (V.17–24 und V.26f.), der „Sohn“ (V.17–24 und V.25–30), „leben“/„Leben“ (V.21, 24 und V.26, 29), „geben“ (V.22 und V.26f.), „Gott“ (V.18 und V.25), „wundern“ (V.20 und V.28), „richten“/„Gericht“ (V.22 und V.27, 29, 30), „senden“ (V.23 und V.30). 352 Zu den bedeutenderen Belegstellen für „die Stunde“ (Jesu Verherrlichung in Passion und Auferstehung) im JohEv gehören Joh 2,4; 4,21.23; 7,30; 8,20; besonders 12,23; 13,1; 16,25; 17,1.

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und andererseits, dass sie „nun (da) ist“.353 Dass dies etwas mit dem Kommen des Sohnes in die Welt zu tun hat, dürfte klar sein.354 Denn die Stimme des Sohnes Gottes, dem das Gericht vom Vater übergeben wurde (Joh 5,22), wird nicht nur zum eschatologischen Gericht von den Toten (οἱ νεκροί) gehört werden (ἀκούσουσιν), sondern erschallt schon jetzt (ὥρα … νῦν ἐστιν). Wenn aber schon jetzt die Stimme des Gottessohnes von „den Toten“ gehört wird, sind doch wohl nicht nur die Toten im gewöhnlichen Sinn des Wortes gemeint.355 Vielmehr dürften auch „die Juden“ eingeschlossen sein, die sich in der Sphäre der Sünde, der Finsternis und des Unglaubens befinden (vgl. V.24).356 Die „Toten“ werden die Stimme des Gottesohnes aber nicht einfach nur hören, sondern die (seine Stimme) Hörenden357 werden leben (οἱ ἀκούσαντες ζήσουσιν [Fut.]). Es zeigt sich, dass Jesu Stimme, eben weil sie die Stimme des Sohnes Gottes ist, Leben schafft (vgl. auch V.21) – in dem Moment, wo er spricht (vgl. V 5,8 [ἔγειρε] mit V.9). Allerdings kann dies nicht im gleichen Sinne für das Jetzt (νῦν) gelten. Jesus spricht ja gerade zu „den Juden“, die offenbar zu den „Toten“ zu rechnen sind. Sie aber haben das Leben nicht, da sie Jesu Wort nicht hören und nicht glauben, dass der Vater ihn gesandt hat. Die Tatsache, dass es die Stimme des Gottes- bzw. Menschensohnes (V.25.28) ist, die die Toten zum Leben bringt, lässt aufmerken,358 zumal vor dem Hintergrund der oben betrachteten (früh-)jüdischen Traditionen (vgl. auch 1Thess 4,16 und 1Kor 15,52). In Joh 5,25.28 übernimmt Jesu Stimme als des Gottes- bzw. Menschensohnes die Funktion der endzeitlichen Auferweckung der Toten, weil ihm diese im Zuge der Übergabe des endzeitlichen Gerichtes (mit dem die endzeitliche Auferweckung zusammenhängt) vom Vater zukommt. Gleichwohl erschallt diese Stimme, die die Toten auferweckt, in Antizipation der Endzeit schon jetzt. Allerdings bedarf diese Behauptung, dass alle (auch die „geistlich“) Toten durch die Stimme des Sohnes Gottes zum Leben kommen werden, einer Erklärung, die in V.26 (vgl. das γάρ) in Form eines erneuten Vergleichs (ὥσπερ … οὕτως) geliefert wird. Demnach hat der Vater dem Sohn die Vollmacht (dies ist hier zu ergänzen; vgl. V.27) verliehen (ἔδωκεν), das Leben in sich selbst zu haben. Unklar ist, wann dieses Geben des Lebens vom Vater an den Sohn erfolgt ist. Da „im“ Wort gemäß Joh 1,4 schon im Anfang „Leben“ war (ἐν αὐτῷ ζωὴ ἦν), könnte sich V.26 auf die Inkarnation 353

Vgl. Joh 4,23; 16,32. In Joh 4 sprechen die Antwort „der Frau“ in V.25, dann aber auch Jesu Offenbarungswort in V.26 dafür: „Die Frau spricht zu ihm: Ich weiß, daß der Messias kommt (Μεσσίας ἔρχεται [futurisches Präsens]), der Christus genannt wird; wenn jener kommt (ὅταν ἔλθῃ ἐκεῖνος), wird er uns alles verkündigen (ἀναγγελεῖ [Futur]). Jesus spricht zu ihr: Ich bin es, der mit dir redet“. 355 Obwohl auch dies im JohEv berichtet wird (vgl. die Lazarusperikope in Joh 11). 356 Vgl. FREY 2000: 356. 357 Das substantivierte Ptz. οἱ ἀκούσαντες dient als Abkürzung für den ganzen Satz davor. 358 Vgl. FREY 2000: 385. 354

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des Wortes beziehen. Jedenfalls ist der Sohn vom Vater dazu autorisiert und ermächtigt, die Toten lebendig zu machen. V.27a–b fügt dem hinzu, dass der Sohn vom Vater zum Richter bevollmächtigt worden ist, und gibt in V.27c einen zusätzlichen Grund an: ὅτι υἱὸς ἀνθρώπου ἐστίν. Bemerkenswert ist das „Fehlen“ des Artikels bei υἱὸς ἀνθρώπου, da dieser in den meisten Vorkommen des Syntagmas im JohEv359 und im NT steht.360 Es gibt nur wenige Ausnahmen (Hebr 2,6 [auch ohne Artikel determiniert]; Apk 1,13; 14,14). Zunächst ist die allgemeine Regel festzuhalten: „Das Prädikatsnomen hat keinen Artikel, gleichgültig ob eine Klassifizierung oder weitgehende Gleichsetzung ausgedrückt wird.“361 Ist der Ausdruck also nicht determiniert, oder ist er es trotz der Tatsache, dass der Artikel „fehlt“? Handelt es sich mithin um eine Klassifizierung des Sohnes Gottes als einer von vielen Menschensöhnen = Menschen362 oder um eine (weitgehende) Gleichsetzung mit „dem Menschensohn“? Allein aufgrund der Grammatik lässt sich keine Entscheidung treffen. Der Kontext spielt auch hier die entscheidende Rolle. Wenn υἱὸς ἀνθρώπου tatsächlich nicht determiniert wäre und der Ausdruck einfach einen Menschen bzw. hier die Menschlichkeit des Gottessohnes bezeichnete, wäre schwer einzusehen, warum dies seine Richterfunktion begründen könnte, zumal dieser Begründungsversuch im JohEv nirgends sonst unternommen wird.363 Auch würde dies schwer zu der Redeabsicht passen, die ja gerade dem Vorwurf, Jesus mache sich selbst Gott gleich, begegnet und zeigt, dass der Sohn tatsächlich die göttlichen Prärogative besitzt. Die Logik der Argumentation scheint zu fordern, dass Jesu Richterfunktion auf seinem Anteil an dem göttlichen Prärogativ des Richtens basiert. Doch dann stellt sich natürlich die Frage, worauf genau das Syntagma „der Menschensohn“364 referiert. Ausweislich der terminologischen Ähnlichkeit zwischen Dan 7,14a LXX (ἐδόθη αὐτῷ ἐξουσία) und Joh 5,27a (καὶ ἐξουσίαν ἔδωκεν αὐτῷ κρίσιν ποιεῖν) und den eschatologischen Motiven von Gericht und Auferstehung der Toten in Joh 5,27ff. halte ich es für plausibel, dass hier die „den Juden“ als bekannte apokalyptische Ausprägung der Menschensohn-Vorstellung,365 die 359

Vgl. Joh 1,51; 3,13f.; 6,27.53.62; 8,28; 9,35; 12,23.34; 13,31. Vgl. THEOBALD 2009: 399. 361 VON SIEBENTHAL 2011: 191. 362 Vgl. Eph 3,5. 363 Eine ausführlichere Diskussion bietet REYNOLDS 2008: 132ff. 364 Das Syntagma kommt im JohEv vor in: Joh 1,51; 3,13f; 5,27; 6,27.53.62; 8,28; 9,35; 12,23.34; 13,31. 365 Vgl. u.a. 1Hen 69,27; 4Esr 13,37f. ; 2Bar 40,1f. , Mt 13,41; 19,28; 25,31–46 (vgl. Apk 14,14ff.; Mk 13,26f.; Lk 21,27). Zwar wird die Richterfunktion des Menschensohnes in Dan 7 nicht explizit erwähnt, aber sie kommt in Dan 7,22 LXX mit Bezug auf „die Heiligen des Höchsten“ (die vielleicht in enger Beziehung [etwa einer „funktionaler Analogie“] zum „Menschensohn“ stehen; möglicherweise ist er ihr Repräsentant [vgl. FREY 2000: 367]) zur Sprache: καὶ τὴν κρίσιν ἔδωκε τοῖς ἁγίοις τοῦ ὑψίστου. 360

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wohl auf Dan 7,13 zurückgeht, aufgegriffen wird.366 Allerdings kommt auch eine Besonderheit in der johanneischen Vorstellung des Menschensohnes in den Blick:367 In Joh 5,24–29 werden, im Kontrast zu anderen apokalyptischen Menschensohnvorstellungen, richten und Leben-geben als gegenwärtig und zukünftig geschildert. Darüber368 (dass es Jesu Stimme ist, die schon jetzt „Tote“ lebendig macht und richtet, weil es die des Menschensohnes ist) sollen sich „die Juden“ nach V.28 nicht wundern (µὴ θαυµάζετε τοῦτο), d.h. wohl so etwas wie „sich empören“. Schon in V.20 war vom „Wundern“ (θαυµάζετε) im Sinne von „ablehndem Staunen“ in Verbindung mit dem Zeigen der „größeren“ Werke die Rede. Somit umfassen die „größeren Werke“ das zukünftige und gegenwärtige, Leben schenkende und richtende Wirken des Sohnes bzw. Menschensohnes. Jesu in der Rede geäußerter Anspruch hinsichtlich der göttlichen Prärogative, die ihm zukommen sollen, löst empörtes Staunen aus: Wie kann sich ein Mensch so etwas anmaßen? Die Basis (ὅτι) für die Aufforderung bildet ein Verweis auf die offenbar auch „den Juden“ als bekannt vorausgesetzte369 Hoffnung auf die eschatologische Auferstehung der Toten zum Heil oder zum Gericht (V.28b–29).370 Dabei ist es wieder die Stimme Jesu, die die Toten auferweckt. Das Kriterium, zu welcher Gruppe jemand gehört, sind die Taten der Menschen zu ihren Lebzeiten, seien sie gut oder schlecht.371 Mit Frey ist „hier – wie in 3,20f. – das τὰ ἀγαθὰ ποιεῖν mit dem Glauben an Christus (und dem entsprechenden Leben in der Liebe) und das τὰ φαῦλα πράσσειν mit dem Unglauben (und den ihm entsprechenden Taten) zu identifizieren“372. Asyndetisch folgt V.30, der diese erste Redeeinheit abschließt. Der Grundsatz aus V.19 wird mit kleinen Veränderungen wiederholt. So unterstreicht Jesus nochmals, dass er in seinem Tun ganz mit dem Vater verbunden ist und nicht aus eigener Initiative handelt.373 Sein Wirken bezeugt seine Einheit mit dem Vater. Dies gilt grundsätzlich auch für sein Richten: „Wie ich (es vom 366 Vgl. REYNOLDS 2008: 137; THEOBALD 2009: 399; ZUMSTEIN 2016: 228. Gegen THYEN 2005: 315ff. 367 Vgl. REYNOLDS 2008: 144. 368 Für den Rückbezug von τοῦτο vgl. CARSON 1991: 258; FREY 2000: 388f. Anders THEOBALD 2009: 400 (allerdings hinge der Imperativ, wenn man τοῦτο kataphorisch auffasst, etwas in der Luft, da der Aufforderung keine Basis verliehen wird, dies würde man jedoch typischerweise erwarten). 369 Dafür spricht der traditionelle und vielfach (auch biblisch) belegte Inhalt von V.28f. und die Funktion dieser Verse als Basis für den Imperativ, was wenig sinnvoll wäre, würde hier ein „den Juden“ neuer Gedanke eingeführt. 370 Vgl. Dan 12,2; Jes 26,19. 371 Vgl. Joh 3,20f.; daneben im NT z.B.: Röm 2,5–11; 2Kor 5,10; Apk 20,13. Im Frühjudentum vgl. u.a. Jub 5,16; Sir 16,12. 372 FREY 2000: 386. 373 Vgl. Num 16,28.

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Vater [vgl. V.19; 8,16]) höre374, richte ich“ (καθὼς ἀκούω κρίνω). Jesu Gericht ist nach V.30d „gerecht“ (δικαία).375 Die Begründung dazu lautet: „denn ich suche (grundsätzlich bzw. immer) nicht (οὐ ζητῶ), meinen Willen (durchzuführen), sondern den Willen dessen, der mich gesandt hat.“ Ab. V.31 beginnt der zweite Redeabschnitt (Joh 5,31–47), wo Jesus die Zeugen seiner Identität und Sendung aufzählt und deutlich macht, dass seine in der fehlenden Ausrichtung auf Gott wurzelnden Ablehnung zur Anklage „der Juden“ beim Vater durch Mose führt. Zunächst räumt Jesus ein (V.31), dass in diesem (Gerichts-)Fall sein Zeugnis (ἡ µαρτυρία µου) über sich selbst (ein Rückbezug zum ersten Teil der Rede) nicht „wahr“ oder besser „gültig“376 (ἀληθής) ist. Ein solcher Zeuge Jesu (ὁ µαρτυρῶν περὶ ἐµοῦ), von dessen Zeugnis Jesus weiß, dass es „wahr“ (ἀληθής) ist, wird in V.32 (asyndetisch) eingeführt, jedoch nicht mit eindeutiger Referenz (ἄλλος ist ambivalent).377 Ebenfalls asyndetisch schließt V.33 an das Vorhergehende an. „Die Juden“ werden direkt angesprochen und erinnert, dass sie (selbst) zu Johannes (Boten) gesandt haben. Johannes hat damals „der Wahrheit Zeugnis gegeben“, d.h. er hat durch sein Zeugnis „die Wahrheit“ bestätigt (µεµαρτύρηκεν τῇ ἀληθεία). Mittels des Perfekts µεµαρτύρηκεν kommt zum Ausdruck, dass Johannes’ „Sendung offenbar für abgeschlossen, wenn auch in ihrer Wirkung bleibend angesehen wird“378 (vgl. Joh 1,15). Über das Zeugnis des Täufers wurde in Joh 1,19–34 berichtet. Speziell der Abschnitt Joh 1,32ff. ist wichtig: Johannes bezeugte (ἐµαρτύρησεν), dass auf Jesus der Geist herabkam und auf ihm blieb. Aufgrund der Vorhersage dessen, der ihn gesandt hat (offensichtlich Gott), bedeutet dies, dass Jesus derjenige ist, der mit heiligem Geist tauft. Johannes’ in der Vergangenheit abgelegtes und bleibend gültiges Zeugnis wird abgeschlossen mit der zentralen Aussage (Joh 1,34), die wahrscheinlich der Inhalt „der Wahrheit“ (Joh 5,33fin) ist: „und ich habe gesehen [sc. die Herabkunft des Geistes und das Bleiben dessen auf Jesus] und habe (definitiv) bezeugt (µεµαρτύρηκα [Perf.]): „dieser ist der Sohn Gottes“ (οὗτός ἐστιν ὁ υἱὸς τοῦ θεοῦ). Angesichts dieser Aussage ist nicht überraschend (zumal in Verbindung mit Joh 20,30f.), dass das vergangene Täuferzeugnis nach Joh 5,33 als weiterhin gültig aufgefasst wird. 374 Das Präsens ist auffällig, da Jesu Hören vom Vater im JohEv sonst im Aorist steht: 3,32; 8,26.40; 15,15. Möglicherweise handelt es sich hier um ein zeitloses („gnomisches“) Präsens (vgl. VON SIEBENTHAL 2011: § 197b), um die allgemeine Gültigkeit der Aussage Jesu zu kennzeichnen. 375 Vgl. Joh 7,24. 376 Vgl. BEUTLER 1972: 256. 377 Nach PANCARO (1975: 211) lässt der Evangelist hier bewusst offen, um wen es sich handelt, „in order to gradually build up to a climax“, die in V.37 erreicht wird. 378 BEUTLER 1972: 257; vgl. auch FREY 1998: 110, Anm. 174: „Das Zeugnis des Täufers liegt definitiv vor.“

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Jesus sagt anschließend: „Ich aber nehme kein Zeugnis von einem Menschen an“ (ἐγὼ δὲ οὐ παρὰ ἀνθρώπου τὴν µαρτυρίαν λαµβάνω; gemeint ist das Zeugnis des Johannes, dass Jesus der Sohn Gottes ist). Johannes hat der Wahrheit Zeugnis gegeben. Aber für Jesu eigenes Bewusstsein seiner Identität als Gottessohn ist Jesus nicht auf dieses Zeugnis angewiesen oder davon abhängig.379 Warum führt der johanneische Jesus das Zeugnis des Täufers dann überhaupt an? Die Antwort gibt der Adversativsatz in V.34b: „aber dies sage ich, damit ihr gerettet werdet (σωθῆτε).“ Zwar spielt das Zeugnis des Täufers für Jesus selbst (für das Bewusstsein seiner Identität als Gottessohn) keine Rolle, aber einem besseren Zweck als der Rettung „der Juden“ und darüber hinaus aller, die sein Zeugnis glauben (vgl. Joh 1,7f. ), kann es kaum dienen. Der Täufer hat dem JohEv zufolge eine ganz bestimmte Funktion, die darin besteht, von sich weg auf Jesus hinzuweisen: „Siehe, das Lamm Gottes, das der Welt Sünde trägt“ (Joh 1,29). Die Taufe des Johannes bildet schließlich den Kontext, in dem die wahre Identität Jesu Israel offenbart wird.380 V.35 sagt etwas Ähnliches mithilfe einer Metapher: Johannes „war die Lampe, die brennt und scheint“ (ἐκεῖνος ἦν ὁ λύχνος ὁ καιόµενος καὶ φαίνων). Aufgrund von Stellen wie z.B. Apk 11,4381; 2Petr 1,19382 und besonders Sir 48,1383 lässt sich schließen, dass durch die Metapher der Lampe in Joh 5,35 Johannes’ Zeugnis als prophetisches Zeugnis von dem Sohn Gottes akzentuiert wird.384 Unklar ist jedoch, wie der folgende Satz zu interpretieren ist: „Ihr aber wolltet für eine kurze Zeit in seinem Licht jubeln“ (ὑµεῖς δὲ ἠθελήσατε ἀγαλλιαθῆναι πρὸς ὥραν385 ἐν τῷ φωτὶ αὐτου). Da der Satz adversativ (δέ) mit der vorherigen 379

Vgl. CARSON 1991: 260. Vgl. Joh 1,26.31. 381 In Apk 11,4 werden die zwei Zeugen u.a. als zwei Leuchter bezeichnet. Diese Bezeichnung hat allem Anschein nach etwas mit ihrer Aufgabe zu tun: Sie sollen Apk 11,3 zufolge 1260 Tage lang prophezeien (vgl. auch Apk 11,6). 382 Gemäß 2Petr 1,19 ist das „prophetische Wort“ (vermutlich ist damit die Schrift gemeint [vgl. 2Petr 1,20]), „wie eine scheinende Lampe an einem dunklen Ort“. 383 Besonders aufschlussreich ist Sir 48,1, wo Elia ganz ähnlich wie Johannes (zur ntl. Identifizierung des Täufers mit Elia vgl. Mk 1,6 [vgl. 1Kön 1,8]; Mk 9,13 par; Lk 1,17) beschrieben wird: „Und es stand Elias auf, ein Prophet wie Feuer, und sein Wort brannte wie eine Fackel“ (καὶ ἀνέστη Ηλιας προφήτης ὡς πῦρ καὶ ὁ λόγος αὐτοῦ ὡς λαµπὰς ἐκαίετο). 384 Vgl. HAHN 2005: 1303. Das Stehen des Artikels beim Prädikatsnomen λύχνος hat entweder mit der Bekanntheit der Lampe (dann liegt vielleicht eine Anspielung auf Ps 132[131],16b.17 vor; vgl. Joh 5,35c: ἀγαλλιαθῆναι mit Ps 131,16b LXX: ἀγαλλιάσει ἀγαλλιάσονται; Joh 5,35a: ὁ λύχνος mit Ps 131,17 LXX: λύχνον τῷ χριστῷ µου; vgl. NEUGEBAUER 1961) oder einfach mit der Wortstellung zu tun, die die (bei einer Metapher übliche) Gleichsetzung zwischen Subjekt und Subjektsidentifikationsergänzung (bzw. Prädikatsnomen) betont. 385 πρὸς ὥραν ist selten belegt. Im NT neben Joh 5,35 nur bei PAULUS (2Kor 7,8; Gal 2,5; 1Thess 2,17; Phlm 15). Dort bezeichnet es sehr wahrscheinlich eine kurze Zeitspanne so wie hier. 380

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Metapher verknüpft ist, kann man den zweiten Teil von V.35 als Tadel verstehen. Doch was genau wird getadelt? Wieder lohnt sich ein Blick in das prophetische „Zeugnis“ des Täufers: Dort wird deutlich, dass das Auftreten des Johannes für große Aufregung sorgte und die Hoffnung schürte, dass er der Christus, Elia oder der Prophet (wohl „der Prophet wie Mose“) sei (Joh 1,20ff.).386 Darauf könnte sich das ἀγαλλιαθῆναι beziehen. Aber Johannes selbst verneinte diese Erwartungen an ihn. Er definierte seine Rolle als Vorläufer bzw. Bereiter des Weges des Kyrios (vgl. Joh 1,23–28) und wies Israel hin auf den, welcher ihn aufgrund seiner Präexistenz fundamental übertraf und der „der Christus“ ist (vgl. Joh 3,28).387 Auch darüber hätten sie noch jubeln können, da das Kommen des Messias dann ja kurz bevorstand. Als dieser dann kam, „die Juden“ ihn aber nicht (er-)kannten (Joh 1,26) und auch dem prophetischen Zeugnis des Täufers hinsichtlich der Identität Jesu nicht glaubten (vgl. Joh 3,11), endete das Jubeln schnell (vgl. πρὸς ὥραν), da ihre Erwartungen sich nicht so erfüllten, wie sie gedacht hatten. So wendet sich das prophetische Zeugnis des Täufers für Jesus letztlich gegen „die Juden“.388 Wenn Jesus das Zeugnis des Täufers und generell kein menschliches Zeugnis annimmt, wer kann dann noch sein Zeuge sein, zumal wenn es um solche wie die zuvor gemachten Aussagen Jesu hinsichtlich seiner Gottessohnschaft geht? Der nächste Teil des zweiten Redeabschnitts geht darauf ein. Dieser Abschnitt (V.36–40) spielt eine kaum zu überschätzende argumentative Rolle für die Rede und den darin erhobenen Anspruch Jesu, der gesandte Sohn Gottes zu sein. Jesus hat nach V.36a „das Zeugnis, (welches) größer (ist) als das des Johannes“ (Εγὼ δὲ ἔχω τὴν µαρτυρίαν µείζω τοῦ Ἰωάννου). Der Rest des Verses expliziert dieses Zeugnis und gibt zugleich einen Grund (vgl. das γάρ) an, weshalb es „größer“ ist als dasjenige, das der Täufer für Jesus abgelegt hat. Das „größere“ (µείζω; d.h. so etwas wie das bedeutendere) Zeugnis, das bestätigt, dass Jesus vom Vater gesandt wurde (µαρτυρεῖ περὶ ἐµοῦ ὅτι ὁ πατήρ µε ἀπέσταλκεν), besteht in „den Werken“ (τὰ ἔργα), die der Vater Jesus gegeben 386

Vgl. BARRETT 1990: 280: „Möglicherweise verweist Joh auf die überschäumende Hoffnung der Juden in Erwartung des messianischen Reiches; aber dies muss als durchaus unsicher angesehen werden, obwohl es sowohl bei Josephus wie auch im NT Belege dafür gibt, dass das Wirken des Täufers eine sehr große messianische Erregung hervorrief.“ 387 Möglicherweise wird der Täufer entgegen seiner eigenen Aussage (Joh 1,21) von dem johanneischen Jesus mittels der Metapher in V.35 mit Elia assoziiert (gegen NEUGEBAUER 1961: 130). Dadurch wäre auf andere Weise seine Zeugenfunktion für Jesus, den Kyrios, Christus und Sohn Gottes, dem er den Weg bereitet und auf den er hinweist, unterstrichen. Sollte sich die Vermutung, dass in Joh 5,35 eine Anspielung auf Ps 132(131),16b.17 vorliegt, erhärten lassen (was hier jedoch nicht erfolgen kann), würde dies weiter untermauern, dass in der vorgenommenen Charakterisierung des Täufers und seiner Inanspruchnahme als Zeuge für Jesus ein messianischer Anspruch verborgen ist. 388 Vgl. die Schilderung der Sinaitheophanie in Jub 1, wo die Sendung und Ablehnung von Zeugen zu Israel geschildert wird; mit den Zeugen sind wohl die Propheten gemeint.

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3. Kapitel: Die Rezeption der Sinaitradition in Joh 5,37f.

hat (ἃ δέδωκέν µοι ὁ πατὴρ), damit jener sie vollende (ἵνα τελειώσω αὐτά), und die Jesus gegenwärtig tut (ἃ ποιῶ).389 Da es im Kontext darum geht, Zeugen anzuführen, die Jesu Identität gegenwärtig bezeugen und ihn so vom Vorwurf des Sabbatbruches entlasten können, ist mit den Werken ein Verweis auf die Heilung am Sabbat am Tempel (vgl. Joh 7,21) am plausibelsten.390 Diese Werke tragen gleichsam das untrügliche Siegel des Vaters, der in sich Leben hat, an sich; zugleich tut Jesus diese Werke. Wenn nun Jesus Werke tut, die nur Gott tun kann, sind die Werke ihm vom Vater übergeben worden, und Jesus muss folglich der Gesandte des Vaters sein. Die Werke bestätigen mithin Jesu Einheit mit dem Vater (vgl. Joh 10,25.32f. besonders V.37f.). Dem fügt V.37a–b hinzu (καί): „Und der Vater, der mich gesandt hat, jener hat über mich Zeugnis abgelegt.“ (καὶ ὁ πέµψας µε πατὴρ ἐκεῖνος µεµαρτύρηκεν περὶ ἐµοῦ). Das Motiv von der Sendung vom Vater wird wieder aufgenommen, aber in V.37a–b wird ein anderes, wenn auch synonymes Verb gebraucht, nämlich das attributive Partizip πέµψας (V.36g ἀπέσταλκεν).391 Aufgrund der Wiederholung der schon in V.24 und V.30 genannten Sendung in V.36ff. (vgl. auch V.43) sticht dieses Motiv hervor. Das auffällige Perfekt µεµαρτύρηκεν wurde oben (unter „1. Desintegration“) so interpretiert: Mit der Aussage „der Vater hat über mich bezeugt“ ist jenes vergangene Ereignis nach Jesu Taufe gemeint, bei dem der Vater bleibend gültig bestätigt hat, dass Jesus sein Sohn ist, den er gesandt hat. Bei diesem Ereignis, so ist in Joh 5,37a–b vorausgesetzt, war für Jesus die Stimme des Vaters zu hören, seine Gestalt für ihn zu sehen und erging an Jesus das bestätigende Wort von seiner Gottessohnschaft. Dieses Zeugnis des Vaters ist allerdings für „die Juden“ nicht unmittelbar zugänglich, sondern nur im Wort Jesu (vgl. u.a. Joh 5,24). Es begegnet ihnen mithin als Anspruch Jesu, dass er die Stimme Gottes gehört und Gottes (bzw. des Heiligen Geistes als des Geistes Gottes) Gestalt gesehen hat sowie an ihn das Wort des Vaters erging. Auf das von Jesus angeführte Zeugnis des Vaters folgt in V.37c–38a eine negative Anspielung. Durch die obige Analyse der Sinaitradition(en) wurde die 389

Die Werke Jesu erinnern an die Schöpfungswerke Gottes. Vgl. Joh 5,36 mit Gen 2,2 (καὶ συνετέλεσεν ὁ θεὸς ἐν τῇ ἡµέρᾳ τῇ ἕκτῃ τὰ ἔργα αὐτοῦ ἃ ἐποίησεν καὶ κατέπαυσεν τῇ ἡµέρᾳ τῇ ἑβδόµῃ ἀπὸ πάντων τῶν ἔργων αὐτοῦ ὧν ἐποίησεν). 390 Vgl. BEUTLER 1972: 259. Anders PANCARO 1975: 215: „We should […] refer the term to the whole of Jesus’ activity, both ‚works‘ and ‚words‘.“ 391 Einen Bedeutungsunterschied zwischen den beiden Verben πέµπω und ἀποστέλλω kann ich im JohEv nicht feststellen. So werden beide Verben für die Sendung des Täufers (vgl. Joh 1,6.24; 3,28 mit 1,33) und Jesu Sendung (vgl. 3,17.34; 5,36.38; 6,29.57; 7,29; 8,42; 10,36; 11,42; 17,3.8.18.21.23.25; 20,21 [im 1Joh: 4,9.10.14] mit 4,34; 5,23.24.30.37; 6,38.39.44; 7,16.28.33; 8,16.18.26.29; 12,44.45.49; 16,5) austauschbar benutzt. Auch senden (ἀποστέλλω) „die Juden“ aus Jerusalem Priester und Leviten zum Täufer bzw. Diener zu Jesus (1,19; 5,33; 7,32); jene Priester und Leviten bezeichnen sich selbst als „gesandt“ (vgl. 1,22: πέµψασιν ἡµᾶς). Ferner gebraucht das JohEv beide Verben ohne erkennbaren Unterschied für die Sendung der Jünger (vgl. 4,38; 17,18 mit 20,21).

4. Reintegration

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Vermutung erhärtet, dass hier auch und v.a. auf die Sinaioffenbarung – eine grundlegende Episode aus Israels Gründungszeit – angespielt wird. Dies erfolgt auf eine Weise, wie sie sich auch in anderen atl.392 und (früh-)jüdischen Texten findet: Wenige, jedoch konstitutive Elemente der Sinaitheophanie werden genannt und so auf das ganze Geschehen verwiesen. Obwohl eine Konjunktion „fehlt“, stehen die beiden Aussagen nicht beziehungslos nebeneinander. Da in V.37c–38a eine dreifache Verneinung begegnet, halte ich es für wahrscheinlich, dass hier eine adversative Konnexion vorliegt: Der Vater hat Jesus als seinen gesandten Sohn nach dessen Taufe bleibend gültig bestätigt(, als er ihn seine Stimme hören und seine Gestalt sehen ließ sowie sein Wort hinsichtlich seiner Gottessohnschaft an ihn richtete), doch weder haben „die Juden“ seine Stimme jemals gehört usw. Was das genau bedeutet, wird gleich erörtert werden. Deutlich ist jedenfalls, dass Jesus gemäß der vorliegenden Deutung auf zwei grundlegende Ereignisse Bezug nimmt, bei denen jeweils die Stimme Gottes zu hören und seine Gestalt zu sehen waren sowie sein Wort erging. V.37c–38a ist folgendermaßen aufgebaut: V.37c und 37d entsprechen sich, bedingt durch οὔτε … οὔτε, in syntaktischer Hinsicht (bis auf das Adverb πώποτε in 37c). Darüber hinaus haben beide Akkusativobjekte das Genitivattribut αὐτοῦ bei sich. Die Verben stehen in V.37c (ἀκηκόατε) und V.37d (ἑωράκατε) im Perfekt. 37c 37d

οὔτε οὔτε

φωνὴν αὐτοῦ πώποτε εἶδος αὐτοῦ

ἀκηκόατε (Perf.) ἑωράκατε Perf.)

Daran knüpft V.38a durch ein καί an: 38a

καὶ τὸν λόγον αὐτοῦ

οὐκ ἔχετε ἐν ὑµῖν µένοντα

Auch hier findet sich zuerst ein Akkusativobjekt mit dem Genitivattribut αὐτοῦ. Das Verb wird nun jedoch durch ein unmittelbar davorstehendes οὐκ verneint. Als substantiviertes Partizip ist µένοντα eine „Artangabe“ zum Objekt τὸν λόγον. Eine solche „Artangabe“ „bezieht sich […] auf Eigenschaften, die das […] Objekt im Hinblick auf die Verwirklichung des Prädikatsinhalts aufweist“393. Das Wort des Vaters mit der Eigenschaft „bleibend“, d.h. das Wort als Bleibendes haben die Angesprochenen demgemäß nicht in sich. Zusammen mit dem Präsens ἔχετε betont µένοντα den (negativen) durativen Aspekt zusätzlich. Wahrscheinlich ist der Satz so zu interpretieren, dass Jesus „den Juden“ den Gehorsam gegen das Wort Gottes abspricht: Das Wort findet in ihnen keinen Raum, es kommt nicht so zur Geltung, wie es Jesus gemäß intendiert ist. 392 Vgl. besonders die narrative Abbreviatur in Dtn 4–5 (Stimme Gottes + Feuer [als Erscheinung der Herrlichkeit] + Worte). 393 VON SIEBENTHAL 2011: 474. Zur „prädikativen“ Wortstellung und dem entsprechenden „Fehlen“ des Artikels vgl. VON SIEBENTHAL 2011: §259n.

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3. Kapitel: Die Rezeption der Sinaitradition in Joh 5,37f.

Für dieses Verständnis der Phrase spricht die enge terminologische Parallele in 1Joh 2,14,394 wenngleich dort „Wort Gottes“ einen anderen Bezug hat: „…Ich habe euch, ihr jungen Männer, geschrieben, weil ihr stark seid und das Wort Gottes in euch bleibt (καὶ ὁ λόγος τοῦ θεοῦ ἐν ὑµῖν µένει) und ihr den Bösen besiegt habt.“ Das innere „Bleiben des Wortes Gottes“ scheint demnach der Grund zu sein, weshalb die Angesprochenen „stark“ sind und so den Bösen besiegt haben.395 Aus dem Kontext von 1Joh 2,14 gewinnt man den Eindruck, dass das Wort Gottes mit seinem Gebot bzw. Willen identisch ist und das innere Bleiben des Wortes in enger Verbindung steht mit dem Halten der Gebote, wenn nicht sogar gleichbedeutend damit ist. So redet der Autor zuvor vom Nichthalten seiner396 Gebote (1Joh 2,4) und vom Halten seines Wortes (1Joh 2,5). In 1Joh 2,7 wird Gebot und Wort dann explizit identifiziert. Das Gebot lautet nach 1Joh 3,23: „Und dies ist sein Gebot, dass wir an den Namen seines Sohnes Jesus Christus glauben und einander lieben, wie er es uns als Gebot gegeben hat.“ Analog dazu, aber mit Bezug auf die Tora gesprochen, meint der johanneische Jesus in Joh 5,38a, dass „die Juden“ die Tora Gottes zwar empfangen haben, aber sich nicht an sie halten, wenn er sagt, dass sie das Wort Gottes nicht bleibend in sich haben.397 V.38bc schließt mit der Konjunktion ὅτι an. Allerdings liefert der ὅτι-Satz schwerlich eine Begründung für den zuvor behaupteten Sachverhalt, es sei denn man bezieht den ὅτι-Satz nur auf V.38a. Dagegen aber spricht das καί und die damit aufgebaute Negationskette,398 zumal kaum einzusehen wäre, wie ein gegenwärtiger Vorgang (Nichtglauben dem Gesandten des Vaters, d.h. Jesus, gegenüber) der Grund für das Nie-Gehört-Haben der Stimme Gottes bzw. für das Nicht-Gesehen-Haben seiner Gestalt sein könnte. Wesentlich sinnvoller ist es, den ὅτι-Satz so aufzufassen, dass hier in die „Symptomperspektive“ gewechselt wird.399 Es werden „Gesichtspunkte (Zeichen, Symptome, Evidenzen)“ genannt, welche auf den im Blickfeld stehenden Sachverhalt (vgl. Joh 5,37c38a) „schließen lassen“400. Demnach leitet Jesus von der Tatsache, dass „die Juden“ ihm als dem Gesandten des Vaters nicht glauben, ab, dass sie (im Gegensatz zu ihm) Gottes Stimme niemals gehört und seine Gestalt nicht gesehen haben und seinem Wort nicht gehorsam sind. Allerdings setzt die negative Anspielung auf die Sinaitheophanie die prinzipielle Möglichkeit des gegenwärtigen Zugangs zu ihr voraus, sonst wäre diese Aussage trivial. Dass sie 394

Vgl. auch 1Joh 5,10. Vgl. KLAUCK 1991: 135. 396 Es ist nicht entscheidend, ob der Referent des Genitivattributs Gott, der Vater oder Jesus Christus ist, da Jesu Worte und Gebote ohnehin Gottes/des Vaters Worte und Gebote sind. 397 Für die Gleichsetzung von Gottes Wort und Tora vgl. 4Q162=4QpJesb 2,7ff. 398 Gegen VON WAHLDE 1981: 394. 399 So auch PANCARO 1975: 226. 400 VON SIEBENTHAL 2011: 530. 395

4. Reintegration

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dies nicht ist, ist u.a. durch den ὅτι-Satz signalisiert, da in dem Falle, dass jemand dem Gesandten glaubt, auch die vorherigen negativen Sätze positiv lauten würden; dies gilt wohl für die Jünger Jesu (vgl. u.a. Joh 1,45; 2,22). Hinweise für eine solche Aktualisierung der Sinaitheophanie sind in der Sinaitradition selbst, zumal in der Version der LXX und der Targumim (aber auch darüber hinaus) erkennbar, indem Sinai und Zeltheiligtum bzw. Tempel verknüpft werden.401 Ferner sind dort Gottes herrliche Erscheinung und Stimme zueinander und besonders zu seinem Wort in Beziehung gesetzt, in welchem sie präsent sind. Anlass und Rahmen der Aktualisierung der Sinaioffenbarung ist Dtn 4–5 zufolge die Unterweisung im Gesetz, die die (zur corporate identity „Israel“ gehörenden) Zuhörer gleichsam an den Sinai versetzt.402 Welche Funktion hat es nun im Kontext der Rede, dass Jesus nach der Darstellung des JohEv „den Juden“ in Joh 5,37c–38a abspricht, was sie wohl von sich behauptet hätten? Konstituiert das Sinaigeschehen die Identität Israels als Volk Gottes im Unterschied zu den Völkern, die Gott nicht kennen, dann intendiert das Leugnen der Partizipation an jenem fundamentalen Ereignis eine Distanzierung „der“ im Unglauben verharrenden „Juden“403 von denen, die Gott – durch das Hören seiner Stimme und des Sehens seiner Gestalt und ausweislich des Haltens seines Wortes – kennen: die „Kinder Gottes“.404 In diese Richtung weist Joh 8,18ff. Auch dort nennt Jesus das Zeugnis des Vaters als Bestätigung für seinen Anspruch, das Licht der Welt zu sein. Die Frage der Pharisäer: „Wo ist dein Vater?“ (V.19) zielt eigentlich auf Jesu irdischen Vater. Sie selbst geben damit aber zu, ohne es zu wissen, dass sie Jesu Vater nicht kennen: „Ihr kennt weder mich noch meinen Vater; wenn ihr mich gekannt hättet, so würdet ihr auch meinen Vater gekannt haben“ (V.19).405 Implizit stehen sich hier also der Anspruch Jesu und der Anspruch „der Juden“ gegenüber. Jesus beansprucht (implizit), dass er (nach seiner Taufe) Gottes Stimme gehört, seine Gestalt gesehen hat und dass er sein Wort vernahm. 401 Damit wäre ein Rekurs auf spezifische zeitgenössische mystische Strömungen im Zusammenhang mit einer Art „Mosefrömmigkeit“ (vgl. SCHNACKENBURG 1971: 174) unnötig. 402 Vgl. auch FELSCH 2011: 62ff., die einige rabbinische Texte anführt, die verdeutlichen sollen, dass sich nach jüdischer Vorstellung Gott während der Feste in besonderer Weise seinem Volk zuwendet. Einer (yHag 1,1/15 [76a]) sei hier zitiert, weil er zeigt, dass aus rabbinischer Sicht „die Feier der Wallfahrtsfeste einer Begegnung mit der Gegenwart Gottes, der Schechina, von Angesicht zu Angesicht entspricht“ (FELSCH 2011: 65): „Rabbi Yehoschua ben Levi sagte: Woher [ist erwiesen], dass jeder, der das Gebot des Erscheinens erfüllt, ist, als würde er das Angesicht der Schechina empfangen? Daher: ‚Dreimal im Jahr soll erscheinen all dein Männliches vor dem Angesicht des Herrn JHWH usw.‘ (Ex 23,17).“ 403 Anders ZUMSTEIN 2016: 235: „Das ‚ihr‘ bezeichnet nicht nur die Jerusalemer Autoritäten, sondern das jüdische Volk insgesamt. Der in Anlehnung an Dtn 4,12 formulierte Vorwurf ist außerordentlich schwerwiegend, da er grundsätzlich ausschließt, dass die Gegenwart Gottes in seinem Volk aufgenommen wird.“ 404 Ähnlich auch FELSCH 2011: 140ff. 405 Vgl. auch Joh 8,55.

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3. Kapitel: Die Rezeption der Sinaitradition in Joh 5,37f.

Allerdings beanspruchen (implizit) auch „die Juden“, Gottes Stimme gehört, seine Gestalt gesehen und sein Wort in sich zu haben. Bei Jesus und „den Juden“ geht es jeweils um Anspruch auf Gottes Offenbarung und die damit gegebene Gottesbeziehung. Allerdings leugnen sowohl Jesus als auch „die Juden“ den Anspruch des jeweils anderen auf Gottesoffenbarung und -beziehung. Das ist folgendermaßen zu präzisieren: Jesus leugnet nicht, dass Gott am Sinai bzw. in der Vergegenwärtigung des Sinai seine Stimme „hören“ oder seine Gestalt bzw. Erscheinung „sehen“ ließ oder dass Gott sich generell zuvor offenbart hätte, sondern er setzt dies ja gerade voraus, wenn er von dem Wort Gottes, welches „in“ den Adressaten sein kann, spricht. Geleugnet wird die rechte Wahrnehmung bzw. Annahme jener Offenbarung des Vaters, und zwar nur für diejenigen, die Jesus nicht glauben.406 „Den Juden“ gemäß ist Jesu Anspruch ausweislich seines Sabbatbruchs und seiner Blasphemie Anmaßung. Jesus zufolge kann der Anspruch „der Juden“ (Gottes Stimme gehört und seine Gestalt gesehen und sein Wort in sich zu haben) nicht rechtmäßig sein, da sie das Zeugnis des Vaters ablehnen, indem sie es durch ihren Unglauben Jesus gegenüber leugnen. Die Voraussetzung für Jesu Argumentation ist, dass das bleibend gültige Zeugnis des Vaters nach der Taufe Jesu und sein Wort, die Tora, unteilbar ist und nicht gegeneinander ausgespielt werden kann. Anders gesagt: Gottes Stimme erklang sowohl am Jordan als auch am Sinai und seine Gestalt erschien sowohl an diesem Fluss als auch an jenem Berg. Die Tora ist für den johanneischen Jesus Wort Gottes ebenso wie das Wort Gottes, das Jesu Gottesohnschaft bestätigte. Leugnen „die Juden“ die eine Gottesoffenbarung, erweisen sie ihre Nicht-Partizipation an der anderen Gottesoffenbarung. Zugleich gilt: Die Sinaioffenbarung selbst gibt – so das JohEv im Unterschied zu (früh-)jüdischer Auffassung – kein Leben. Jesu Stimme und sein Wort schenken Leben, da in ihm Gottes Leben spendende Offenbarung präsent ist. Gemäß dem ersten Teil der Rede Jesu (Joh 5,19–30; aber auch schon in V.17) werden ja die Prärogative Gottes, Leben schenken und Richten, dem Sohn vom Vater gegeben. In den folgenden Ausführungen wird dann (nicht nur, aber auch) näher entfaltet, wie dies aussieht: Leben wird nach Joh 5,24–29 geschenkt durch das Wort Jesu, wenn es innerlich gehört wird. Auferweckung geschieht bemerkenswerterweise durch Jesu Stimme als des Gottes- bzw. Menschensohnes. Für wen aber gilt, „Weder habt ihr jemals seine Stimme gehört, noch habt ihr seine Gestalt gesehen, und sein Wort habt ihr nicht bleibend in euch, denn demjenigen, den jener gesandt hat, diesem glaubt ihr nicht“, der hat das Zeugnis des Vaters nicht angenommen und ist damit auch der Tora ungehorsam. Ist dem so, dann folgt daraus: Die Offenbarung Gottes am Sinai und die in Jesus Christus präsente Offenbarung Gottes stehen zueinander in Kontinuität. Innerhalb dieser Kontinuität jedoch ist die Offenbarung Gottes in Jesus Christus die Klimax, insofern 406

In diesem Punkt stimme ich mit LABAHN 2007: 92 überein.

4. Reintegration

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nicht die Tora, sondern die Offenbarung Gottes in Jesus Christus Leben gibt. Das Wort Gottes in der Tora und das inkarnierte Wort stehen in keinem Konkurenz- oder Kontrastverhältnis, sondern stehen in einer konstruktiven Beziehung, wie V.39f. deutlich macht. Wer die Tora gegen Jesus stellt – wie dies „die Juden“ tun –, der hat aus johanneischer Sicht selbst die Tora gegen sich. Der johanneische Jesus macht also gleich zu Anfang der Auseinandersetzung mit „den Juden“ deutlich, welche Konsequenz ihr Unglaube nach sich zieht. Zum ersten Mal in der Rede geht Jesus offen zum „Angriff“ auf seine Gegner über, und dies gleich mit einem „Paukenschlag“. Folgt man meiner Argumentation, so führt V.39 kein neues Thema ein, sondern führt das angeklungene Thema fort. Demgemäß ist die Asyndese im explikativen Sinne zu verstehen.407 Das erwähnte Studium der Schriften408 (ἐραυνᾶτε409 τὰς γραφάς) – besonders wichtig im Zusammenhang der Vergegenwärtigung des Sinaiereignisses, auf das zuvor angespielt wurde – wird hier wohl kaum von Jesus geboten410, sondern lediglich festgestellt: „Ihr erforscht die Schriften (ἐραυνᾶτε τὰς γραφάς), weil ihr meint (δοκεῖτε) in ihnen ewiges Leben zu haben (ἐν αὐταῖς ζωὴν αἰώνιον ἔχειν).“ Diese Feststellung ist für das Verständnis der Auseinandersetzung des johanneischen Jesus mit der Auffassung „der Juden“ hinsichtlich der Frage, wo ewiges Leben zu finden ist, von kaum zu überschätzender Bedeutung. „Den Juden“ zufolge erlangt man ewiges Leben in und durch die Schriften bzw. ihr Studium, wodurch man Zugang zur mutmaßlich Leben spendenden Offenbarung Gottes erhält. Doch das JohEv zeigt dezidiert, dass ewiges Leben allein durch den Sohn gegeben wird, insofern nur er in die Leben spendende Gemeinschaft mit dem Vater führt. Doch damit erhebt sich die drängende Frage, in welchem Verhältnis die Schriften zu Jesus stehen. 407

Zu dieser Möglichkeit s. VON SIEBENTHAL 2011: §322a und §341d. Der Plural ist im JohEv singulär, im übrigen NT jedoch durchaus belegt (vgl. Mt 21,42; 22,29; 26,54.56; Mk 12,24; 14,49; Lk 24,27.32.45; Apg 17,2.11; 18,24.28; Röm 1,2; 15,4; 16,26; 1Kor 15,3f.; 2Petr 3,16). 409 Das im NT seltene Verb ἐραυνάω begegnet im JohEv nur noch in Joh 7,52. Innerhalb des NT wird es im vorliegenden Sinne als gründliches Erforschen der Schriften vielleicht noch in 1Petr 1,11 benutzt (ansonsten noch mit Bezug auf Gott bzw. seinen Geist [Röm 8,27; 1Kor 2,10], und den erhöhten Christus [Apk 2,23]). Bei PHILO erscheint es in Cher. 14 (vgl. OBERMANN 1996: 374). In der LXX kommt ἐραυνάω nicht vor, allerdings die frühere Form ἐρευνάω und „das fast gleichbedeutende ἐξερευνάω“ (SEITZ 2005: 1678). Da die ca. 14 Belege für ἐρευνάω nichts mit dem Schriftstudium zu tun haben, bleiben für die LXX nur noch die Belegstellen für das Kompositum ἐξερευνάω. Hier sind in Verbindung mit dem Studium der Schrift bzw. des Gesetzes nur Ps 118,2.34.69.115.129; Spr 2,4 (evtl. auch 1Makk 3,4) zu nennen. Schriftstudium und Gehorsam gehören nach Ps 118,34 („Lass mich verstehen, und ich will dein Gesetz erforschen [ἐξερευνήσω τὸν νόµον σου], und ich will es mit meinem ganzen Herzen bewahren“) unmittelbar zusammen. 410 ἐραυνᾶτε ist sinnvollerweise nicht als Imperativ zu lesen, da dies nicht zum Nachfolgenden passen würde; vgl. ZUMSTEIN 2016: 236. 408

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3. Kapitel: Die Rezeption der Sinaitradition in Joh 5,37f.

V.39d–f fügt daher hinzu (mit καί): „und jene sind es, die von mir zeugen“ (καὶ ἐκεῖναί εἰσιν αἱ µαρτυροῦσαι περὶ ἐµοῦ). Inwiefern zeugen die Schriften von Jesus? V.40 gibt die Antwort: „aber ihr wollt nicht zu mir kommen“, d.h. an mich glauben (vgl. Joh 6,35)411, „damit ihr Leben habt“ (καὶ [aufgrund des Kontextes wahrscheinlich adversativ aufzufassen] οὐ θέλετε412 ἐλθεῖν πρός µε ἵνα ζωὴν ἔχητε). Die Schriften zeugen folglich von Jesus, insofern sie von dem Leben zeugen, das er spendet.413 Die Logik V.39f. gründet auf folgender konditionaler Basis: Wenn jemand die Schriften erforscht, um durch sie ewiges Leben zu haben und die Schriften von Jesus bzw. dem Leben, das er gibt, zeugen, dann sollte man an Jesus glauben, damit man ewiges Leben hat. Es geht hier m.E. nicht darum, dass es falsch wäre, in den Schriften zu forschen, um durch sie ewiges Leben zu erhalten, sondern um Folgendes: Das Personalpronomen ὑµεῖς zeigt, dass gerade diejenigen, die mit diesem Ziel die Schrift studieren, im Lichte des gegenwärtigen vor ihren Augen sich ereignenden Leben spendenden Wirkens des Vaters im Sohn eigentlich den Hinweischarakter der Schrift erkennen und zu Jesus als Lebensspender kommen müssten. Kommen sie nicht zu Jesus, dann kann auch das Schriftstudium, bei gleichzeitigem Unglauben dem Lebensspender gegenüber, an der Intention der Schrift nur vorbei gehen. Warum aber wollen „die Juden“ nicht zu Jesus kommen, trotz des Zeugnisses der Werke und des Vaters und der Schriften? Darauf gibt V.41–44 die Antwort. Ein grundsätzliches Problem, vor das der Text die Auslegung stellt, ist, wie man δόξα in Joh 5,41–44 verstehen soll.414 In Joh 5,41–44 kommt es jeweils mit παρά + Genitiv vor. παρά + Genitiv bezeichnet „fast stets wie im klass.[ischen] Griech.[isch] e.[ine] Pers.[on] […], um auszudrücken, dass etwas v.[on] dieser Pers.[on] ausgeht“415, zumal mit Verben des Nehmens, Annehmens, Empfangens. Ein solches Verb ist sowohl in V.41 (λαµβάνω) als auch in V.44b (λαµβάνοντες) verwendet worden, in V.44c ist es impliziert. Zwei „Quellen“ von δόξα werden hier einander gegenübergestellt, die einander ausschließen: Entweder man empfängt δόξα von Menschen, dann geht es wohl um menschliche Anerkennung und Ehre aufgrund des eigenen Status, der eigenen Leistung, der Frömmigkeit und/oder (vielleicht kontextgemäßer) der Gelehrsamkeit in 411

Vgl. auch Joh 6,37.44f.64f.; 7,37f. Vgl. Joh 5,6. Der Gelähmte will wohl gesund werden, doch aufhören zu sündigen, d.h. aufhören im Unglauben zu verharren, will er nicht, ebenso wie „die Juden“, bei denen er Jesus anzeigt. 413 Anders BEUTLER 1972: 263: „Genaueres darüber, wie und in welcher Weise die Schriften auf Jesus als Christus hindeuten, erfahren wir nicht. Doch fällt es nicht schwer, die messianischen Weissagungen des AT zu vergegenwärtigen.“ 414 Dieses Lexem (und das entsprechende Verb) spielt im JohEv insgesamt eine wichtige Rolle. U.a. hat sich CHIBICI-REVNEANUS Untersuchung von 2007 diesem Thema gewidmet; vgl. auch FREY 2008a: 375–397. 415 BA s.v. παρά, 1233. 412

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der Schrift. Oder man „sucht“ bzw. strebt danach, δόξα von dem einzigen Gott her zu erhalten, d.h. man stellt es Gott allein anheim, einem Ehre zu geben.416 Jesus stellt sich und „die Juden“ in V.41–44 in einen Kontrast: Er nimmt keine δόξα von Menschen (V.41) – „die Juden“ dagegen nehmen voneinander δόξα. Negativ gesagt: Sie „suchen“ nicht die δόξα, die von Gott her kommt. Der Kontrast impliziert, dass Jesus gerade dies tut: Er stellt es Gott anheim, ihm δόξα zu geben (Joh 8,50.54; 11,4; 13,32; 17,1.5; vgl. auch 7,39; 12,16.23; 13,31).417 „Die Juden“ nehmen aber Jesus, der im Namen seines Vaters gekommen ist (ἐλήλυθα ist Perfekt), diesen mithin in völliger Einheit und Abhängigkeit auf Erden repräsentiert bzw. dessen δόξα zum Ziel hat (vgl. Joh 7,18), nicht an. Folglich haben sie die Liebe Gottes nicht in sich selbst.418 Jesus ist nicht wie sie. Jemanden dagegen, der wie sie nach seiner eigenen δόξα strebt und daher in seinem eigenen Namen auftritt, werden sie annehmen (V.43).419 Im Streben nach menschlicher δόξα statt der δόξα, die von Gott her kommt, bzw. in der fehlenden Liebe Gottes – was einen Verstoß gegen das Gebot der Alleinverehrung Gottes darstellt420 – fußt letztlich der Unglaube gegenüber Jesus, der ihre Werke ans Licht bringt (vgl. Joh 3,20). Dagegen stellt der Anspruch Jesu (dementsprechend die Verehrung des Vaters und des Sohnes) keine Übertretung des Hauptgebotes dar (5,18), gerade aufgrund der Einheit des Sohnes mit dem Vater. Der letzte Abschnitt der Rede (Joh 5,45–47) lässt vollends erkennen, dass sich das eschatologische Schicksal „der Juden“ gemäß dem JohEv daran entscheidet, in welchem Verhältnis sie zum Sohn Gottes stehen. Der schon vorher mehrfach angedeutete gerichtliche Kontext421 wird wieder sichtbar. Aus V.41– 44 könnte man schließen, dass Jesus, der im Namen seines Vaters gekommen ist, „die Juden“ bei eben diesem Vater wegen ihres Unglaubens (im Endgericht; 416 Vgl. BEUTLER 2012: 117f., der δόξα in Joh 5,41–44 durchweg im Sinne von „Ehre“ versteht; so auch BARRETT 1990: 283f. u.a. 417 Ein unmittelbarer Zusammenhang zu Joh 1,14 liegt mit der Formulierung τὴν δόξαν τὴν παρὰ τοῦ µόνου θεοῦ nicht vor (so aber z.B. CHIBICI-REVNEANU 2007: 103; implizit auch bei HANSON 1991: 83: „τὴν δόξαν [τὴν παρὰ lässt er aus] τοῦ µόνου θεοῦ […] would be a direct reference to Jesus himself. He is the glory of God“), da sich παρὰ πατρός wahrscheinlich nicht auf die δόξα bezieht. 418 Zur „Liebe Gottes“ vgl. SCHNACKENBURG 1971: 178: „‚Die Liebe Gottes‘ lässt sich zwar als ‚Liebe zu Gott‘ (gen. obi.) verstehen, besagt aber nach der joh. Theologie noch mehr: Liebe, die Gott und seiner Liebe entspricht, Liebe als Zeichen der Kinder Gottes (vgl. 1 Joh 2,5; 3,17; 4,7f.16; 5,3).“ 419 Unklar ist, ob es sich um eine allgemeine Aussage handelt („ein anderer“ könnte also jederman sein) oder eine Prophetie mit Bezug auf zukünftige Pseudomessiasse oder vielleicht um eine Anspielung auf den römischen Kaiser, dem sich die Hohepriester lieber verpflichten als Jesus (vgl. Joh 19,15). 420 Vgl. CHIBICI-REVNEANU 2007: 100. 421 Neben „Gericht“ (V.22.24.27.29.30) und „Anklage“ (V.45) werden auch Zeugen (ab. V.31) erwähnt.

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3. Kapitel: Die Rezeption der Sinaitradition in Joh 5,37f.

vgl. u.a. V.29)422 anklagen wird. Doch Jesus wehrt diese Schlussfolgerung ab: „Meint nicht, dass ich euch bei dem Vater anklagen werde“ (Μὴ δοκεῖτε ὅτι ἐγὼ κατηγορήσω ὑµῶν πρὸς τὸν πατέρα). Nicht Jesus, sondern Mose ist der Ankläger „der Juden“ (ὁ κατηγορῶν ὑµῶν).423 Mose galt im Frühjudentum als Fürsprecher Israels in Gottes Gericht,424 worauf wohl der folgende Relativsatz „auf den ihr hofft“ (εἰς ὃν ὑµεῖς ἠλπίκατε) abhebt. Diese seine Rolle wird hier also geradezu umgekehrt. V.46a–b liefert die Begründung (s. das γάρ) für diese polemische Aussage in Form einer Konditionalperiode (angezeigt durch εἰ … ἂν). Dabei handelt es sich um einen „Irrealis der Gegenwart“425 (vgl. die Imperfektformen im Wenn- und im Dann-Satz), d.h. der Sachverhalt der Protasis wird als unwirklich dargestellt: „Denn wenn ihr Mose glaubtet – was ihr aber nicht tut –, würdet ihr auch mir glauben.“ Dass der Glaube Mose gegenüber (ein Ziel der Sinaitheophanie und insofern sicherlich von „den Juden“ für sich reklamiert) den Glauben Jesus gegenüber impliziert, bedarf einer Begründung. Diese liefert V.46c mit einem γάρ-Satz, der allerdings sehr allgemein formuliert ist (in der Sache steht er 5,37ff. nahe): „Denn über mich hat jener geschrieben“ (περὶ γὰρ ἐµοῦ ἐκεῖνος ἔγραψεν).426 Nicht ganz klar ist, worauf genau Jesus in Joh 5,46c abhebt. Die mosaischen Schriften enthalten zwar bekannte „messianische“ Prophetien (vgl. Gen 49,9f.; Num 24,17) und Hinweise für einen kommenden „Propheten wie Mose“427. Da Jesus seine allgemeine Aussage jedoch nicht näher spezifiziert, ist wohl davon auszugehen, dass die Tora als Ganze und damit auch in verschiedenen Details auf ihn hinweist. Ein wichtiges Beispiel wird ja gleich im Anschluss ausführlich in Joh 6 dargeboten, wo deutlich wird, dass es um das von Jesus gespendete Leben geht, wovon die Tora zeugt (man kann hier auch auf die Anweisungen das Heiligtum [bzw. Tempel], die Opfer und die Feste usw. betreffend verweisen). Die die Rede beendende rhetorische Frage kommt noch einmal auf den Unglauben „der Juden“ zu sprechen: „Wenn ihr aber seinen Schriften nicht glaubt, wie werdet ihr dann meinen Worten glauben?“ Wer Moses Schriften, in denen Mose über Jesus geschrieben hat, nicht glaubt, der glaubt auch Jesu Worten nicht. Es ist nach diesem Vers unmöglich, den mosaischen Schriften zu glauben, aber Jesu Worten keinen Glauben entgegenzubringen. Beides gehört

422

Anders THEOBALD 2009: 418. Vgl. JEREMIAS 1942: 871, Anm. 215: „Das palästinische Recht kennt keinen Staatsanwalt, sondern der Hauptbelastungszeuge ist Vertreter der Anklage.“ 424 Zum Motiv von Mose als Fürsprecher Israels vgl. MEEKS 1967: 159ff.254f.; PANCARO 1975: 256f. Allerdings wird in TgN Dtn 32,1 Mose auch als Zeuge gegen Israel präsentiert (vgl. noch Dtn 31,26 MT). 425 Vgl. VON SIEBENTHAL 2011: §284a. 426 Vgl. Joh 1,45. 427 Daher erwägen einige Kommentatoren einen Bezug zu Dtn 18, legen sich aber nicht fest (vgl. z.B.: SCHNACKENBURG 1971: 182; BROWN 1966: 226; CARSON 1991: 266). 423

4. Reintegration

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zusammen und lässt sich nicht gegeneinander ausspielen, vorausgesetzt, dass Mose in den Schriften tatsächlich von Jesus geschrieben hat.428 4.5 Zusammenfassung Die Anspielung (bzw. die explizit markierte intertextuelle Einschreibung) auf die Sinaitheophanie in Joh 5,37f. ist von nicht zu überschätzender Bedeutung für die Frage des Verhältnisses des Christusereignisses zur Tora gemäß dem JohEv: Für den johanneischen Jesus hat sich sein Vater, der ihn gesandt hat, auch und v.a. am Sinai durch seine hörbare Stimme und seine sichtbare Erscheinung seinem Volk offenbart. Diese Offenbarung ist durch die Tora, sein Wort, zugänglich. Und der Vater hat sich Jesus offenbart und seine Identität als gesandter Sohn bestätigt, als er Jesus seine Stimme hören, seine Gestalt sehen ließ und ihm sein Wort gab. Die Sinaioffenbarung und mit ihr die Tora stehen mithin in Kontinuität zur Offenbarung Gottes in Jesus Christus. Diese bildet jedoch den Höhepunkt innerhalb dieser Kontinuität, da nicht durch die Tora, sondern nur durch das inkarnierte Wort der Weg zur Leben spendenden Gemeinschaft mit dem Vater und dem Sohn eröffnet ist; die Tora, als Teil der von Jesus Zeugnis ablegenden Schriften, zeugt von Jesus, insofern sie von dem Leben zeugt, das er spendet. „Die Juden“, die Jesu Anspruch, Gesandter des Vaters zu sein, und damit auch dem Vaterzeugnis nicht glauben, stehen aufgrund dessen in Diskontinuität zur Sinaioffenbarung und der Tora. Sie erweisen sich als nicht zum Volk Gottes gehörig. Einige der Echos im Umfeld der Anspielung tragen dazu bei, Jesus auch in Joh 5 mit dem Tempel und dessen Leben spendender Präsens Gottes zu assoziieren – der Sinai wird in (früh-)jüdischen Texten häufig als Heiligtum bzw. Tempel (dem Ort der Leben spendenden Offenbarung Gottes) präsentiert –, indem zahlreiche Bezüge zum Zeltheiligtum bzw. Tempel hergestellt werden. In Joh 2,19ff. ist das Motiv „Jesus als Heiligtum bzw. Tempel“ explizit ausgesprochen worden. In Joh 1,14 wurde es durch die Anspielung auf das israelitische Zeltheiligtum in der Wüste evoziert. Somit reicht es in der folgenden Erzählung aus, bestimmte Funktionen, die mit dem Tempel in einem Konnex standen, zu erwähnen, um Jesus als Heiligtum zu charakterisieren, in dem Gott Leben spendend präsent ist und sich zum Heil der Menschen offenbart. Ferner lässt sich eine weitere wichtige Aussage zur Schrifthermeneutik des JohEv machen: Nach Auffassung des Evangelisten kann man das Sinaiereignis in der Schrift lesen bzw. hören, aber die Stimme Gottes darin dennoch nicht „hören“ und seine Erscheinung nicht „sehen“. Trotz des Studiums der Schrift mit der Absicht, ewiges Leben zu haben, kann man kein Leben durch sie haben und so an ihrer eigentlichen Intention vorbei studieren, wenn man ihr bzw. ihrem Zeugnis nicht glaubt. Wer Jesu Stimme nicht gehorcht und ihm nicht 428

Vgl. Joh 2,22 und den Aufsatz von HAYS 2003: 216–238.

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3. Kapitel: Die Rezeption der Sinaitradition in Joh 5,37f.

glaubt, der hat die Schrift nicht in der Weise gelesen und gehört, dass sie ihn zum Leben führt. Hätte er es, dann würde er Jesus annehmen, denn es ist für das JohEv undenkbar, dass Gottes Wort vom Sinai geglaubt, aber das Jesu Identität als gesandter Sohn bestätigende Wort des Vaters nicht angenommen wird.

Exkurs: Wochenfest und Sinaitradition Exkurs: Wochenfest und Sinaitradition

Sind die Anspielung auf das Sinaigeschehen in Joh 5,37f. und zumindest einige der Echos sowie die Hinweise auf den Bundeskontext der Rede plausibel, dann fällt möglicherweise neues Licht auf die Frage, um welches Fest es sich in Joh 5,1 eigentlich handelt.429 Der wahrscheinlichste „Kandidat“ für das Fest in Joh 5,1 ist das Wochenfest.430 In diese Richtung weisen folgende Beobachtungen:431 − Die Szene in Jerusalem (Joh 5,1–13) scheint einen Zeitrahmen von einem Tag einzunehmen. Das Wochenfest wurde in Israel einen Tag lang gefeiert (in Babylonien dagegen zwei Tage). − In Joh 3,22 ist das Ende des Passahfestes impliziert. Sieben Wochen nach dem Passahfest sollte das Wochenfest zelebriert werden. Datiert man die in Joh 5 berichtete Szene auf das Wochenfest, dann fügt sich Joh 5 gut an die Geschehnisse von Joh 3–4 an. − So wie in Joh 5 „fehlt“ auch in Lev 23 (nicht so in Ex 34,22; Num 28,26; Dtn 16,10) die Bezeichnung für das Fest, obwohl sich hier genaue Anweisungen zur Ausführung des Kultrituals und zur Datierung finden (V.15–21). Die beiden anderen Wallfahrtsfeste, Passah- und Laubhüttenfest, werden dagegen in Joh 6 und Joh 7 namentlich erwähnt. Dies ist auch in Lev 23 (V.5 und V.34) der Fall.

429 MENKEN (2004: 270) sieht im Kontext keine Hinweise, die es möglich machen, das gemeinte Fest in Joh 5,1 zu identifizieren. Deshalb lässt er es für seine Auswertung der „Verarbeitung jüdischer Heilstraditionen“ (269) im Zusammenhang mit jüdischen Festen außer Acht. Einen knappen Überblick zu den verschiedenen Vorschläge hinsichtlich der Identifizierung des Festes in Joh 5,1 bietet FELSCH 2011: 51ff. 430 Vgl. auch THEOBALD 2010: 398. FELSCH (2011: 54) meint, dass der Evangelist bewusst ambivalent formuliere, weil er „im Folgenden mit der Assoziations- und Motivwelt mehrerer Feste [spielt] – konkret Rosch haSchana und Schawuot – und […] diese miteinander [verbindet]“. Ein zum Wochenfest zusätzlicher Bezug zum jüdischen Neujahrsfest ist meiner Meinung nach eher unwahrscheinlich; die von Felsch beigebrachten Motive „Leben und Tod“ sowie „Gericht“ in Joh 5,19–30 erklären sich in Joh 5 ebenso gut vom Sabbat und endzeitlichen sowie präsentischen Wirken Jesu als des Menschensohnes als auch vom Sinaibezug her; das Neujahrsfest war zudem kein Wallfahrtsfest, wie sich aber für das in Joh 5,1 gemeinte Fest nahelegt. 431 Für das Folgende vgl. WILK o. J.: 3f.

Exkurs: Wochenfest und Sinaitradition

227

Handelt es sich beim „Fest der Juden“ in Joh 5 tatsächlich um das Wochenfest, dann liegt in Joh 5 eine Verknüpfung dieses Festes mit dem Sinaigeschehen mittels der diversen Sinaibezüge vor. Dieser Konnex ist insofern bedeutsam, als dass er ab dem 2. Jahrhundert n. Chr. auch in rabbinischen Texten sicher belegt ist.432 Allerdings werden von einigen Forschern Indizien genannt, die dafür sprechen sollen, dass schon früher im Rahmen des Wochenfestes das Sinaigeschehen vergegenwärtigt wurde (vgl. 2Chr 15,8–15433; Jub434; LAB 23435; Schriftrollen von Qumran436; Apg 2437),438 sei es „offiziell“ im Tempel oder „inoffiziell“. Dass das Sinaigeschehen vergegenwärtigt wurde, habe ich ja schon unter 2. Digression zu zeigen versucht. In welchem Rahmen dies geschah, war dort allerdings offen gelassen. Die entsprechenden biblischen Texte zur Sinaioffenbarung (in welcher Gestalt genau ist hier zweitrangig) dürften bei der Vergegenwärtigung des Sinaigeschehens eine wichtige Rolle gespielt haben. Allerdings stammt die Evidenz dafür aus späterer Zeit und kann somit nicht sicher für das 1.Jh n.Chr. vorausgesetzt werden (vgl. [aus Diasporaperspektive] Josephus, Apion. II 175 und Apg 15,21; Meg 3,4–6 nennt Abschnitte [„Parashijjot“] für die Feiertage und für spezielle Sabbattage)439. Vielleicht gab es „Lesungen aus der Tora zu bestimmten Anlässen […] schon zu bibl. Zeit (Dtn 31,10–13; Neh 8,1–8)“440. Daneben wurde, ab wann ist auch unklar, ein Teil aus den Propheten vorgetragen („Haftarah“) wie Lk 4,17 zeigt (vgl. Meg 4,1–4). Es ist ferner umstritten, ob sich der Brauch der Schriftlesung in Opposition zum Jerusalemer Opferkult herausgebildet hat oder aber eine zum Tempelkult zusätzliche Form des Gottesdienstes darstellt.441 Für die Lesungen am Wochenfest finden sich folgende explizite Belege aus Texten, die im Vergleich zu Jub, Qumrantexten und dem NT später abgefasst 432 Vgl. SOR 5 (vom Tannaiten Jose ben Chalafta um 160 redigiert [?]); TMeg 4,5; bTPes 68b (ein Diktum von Rabbi Elazar [um 270]); vgl. WILK o. J.: 9, Anm. 27; LOHSE 1959: 48f. 433 Vgl. STEINS 2007: 239–248; EISS 1997: 172f. 434 Vgl. die Diskussion bei EISS 1997; PARK 2008: 78–127. 435 Vgl. JACOBSON 1996 II: 711; SIGGELKOW-BERNER 2011: 224. 436 Vgl. PARK 2008: 128–175. 437 Vgl. VANDERKAM 2002: 239–254; SCHREIBER 2002: 58–77; BEALE 2005a: 73,102; BEALE 2005b: 63–90; PARK 2008: 176–238. 438 Eine neuere Studie argumentiert, dass „in time, many Jews and eventually some Christians came to identify the Festival of Weeks with the events at Sinai during the later Second Temple period and very shortly thereafter“ (PARK 2008: 1). Für KRAUS ist diese Verbindung (im Gegensatz zu einigen anderen Forschern) schon in Ex 19,1 und auch in 1Chr 15,10–14 gegeben: „Man wird demnach annehmen können, dass im 3.Jh. v. Chr. die feierliche Erneuerung des Gottesbundes ein Akt des Wochenfestes war“ (1962: 77). 439 Vgl. REEG 2008: 1112. 440 REEG 2008: 1112. Vgl. aber auch SCHIFFMAN 1999: 38–51. 441 Vgl. LEVINE 2000: 35 (plädiert für Letzteres).

228

3. Kapitel: Die Rezeption der Sinaitradition in Joh 5,37f.

wurden, wobei die Traditionen natürlich sehr viel älter sein können:442 Neben der Überschrift „zu Schawuot“ in TgKG Oxford Ms. Heb. e 43 Folio 61. Ex 19 erscheinen unterschiedliche Perikopenangaben zur Toralesung in rabbinischen Texten, die den „Doppelcharakter des Festes“443 im rabbinischen Judentum (vgl. Jub 6,21) bezeugen: Nach Meg III,5 soll Dtn 16,8ff. gelesen werden; gemäß pTMeg 4(3),5, pTMeg III,7,74b und bTMeg 31a jedoch Ex 19,1ff. Der prophetische Begleittext zu Dtn 16,8ff. soll nach bTMeg 31a Hab 3 sein. bTMeg 31a nennt für die andere Position, nach der Ex 19,1ff. als Toraabschnitt vorgetragen werden soll, Ez 1. „[A]lle [sowohl Hab 3 als auch Ez 1] weisen einen Bezug zur Sinai-Offenbarung auf“444, so Neudecker. In der Diaspora wurde das Wochenfest zwei Tage lang gefeiert (bTMeg 31a), sodass man beiden Traditionen folgen konnte, wobei Ex 19,1ff. für den ersten Tag und Dtn 16,8ff. für den zweiten Tag als Lesung vorgesehen war. Soferim 18,3 zufolge sollte auch Ps 29 gelesen werden. Ist die Verknüpfung von Wochenfest und Sinai tatsächlich schon vor dem 1. Jahrhundert n. Chr. erfolgt, wie zumindest aufgrund von Jub und den Qumrantexten wahrscheinlich ist, dann könnte u.a. auch der Text über das Sinaigeschehen Ex 19,1ff. beim Wochenfest im 1. Jahrhundert n. Chr. eine wichtige Rolle gespielt haben. Vor dem Hintergrund der (früh-)jüdischen Assoziation von Wochenfest und Sinai wäre meine Anspielungsdeutung auch in der erzählten Situation verankert. Zugleich böte Joh 5 eine kaum beachtete Evidenz für eine vorrabinische Verbindung von Sinai und Wochenfest, sofern mit dem Fest in Joh 5,1 tatsächlich das Wochenfest gemeint ist.445

442

Vgl. NEUDECKER: 1997: 344f. NEUDECKER 1997: 344. 444 NEUDECKER 1997: 344. 445 Vgl. WILK 2016b: 77, Anm. 92. 443

Kapitel 4

Das Leben schenkende Brot vom Himmel und die endzeitliche Gottesgelehrheit: Die Rezeption der Sinaitradition in Joh 6,31f.45f. 1. Desintegration 1. Desintegration

Wenn es um die Frage nach der Rolle der Schrift im JohEv geht, richtet sich der Fokus der Forschung oft auf Joh 6.1 So spricht z.B. Theobald von einem

1 In diesem Zusammenhang ist v.a. auf PEDER BORGENS wichtige, die nachfolgende Forschungsdiskussion maßgeblich beinflussende Arbeit „Bread from Heaven: An Exegetical Study of the Concept of Manna in the Gospel of John and the Writings of Philo“ von 1965 hinzuweisen. Darin vertritt er die These, dass „both Philo (Mut. 258–260, Leg. all. III 162.168 and Congr. 170.173–174) and John (6,31–58) paraphrased words from the Old Testament quotations and interwove them with fragments from the haggada about manna“ (BORGEN 1965: 1). Dabei folge der Evangelist einem „common homiletic pattern“ (1965: 1 mit Verweis auf Joh 6,31–58) und verwende exegetische Methoden, Muster und Terminologie, die sich auch in palästinischen Midrashim wiederfinden. BORGEN versucht so auf formkritischem Wege gegen den damaligen Forschungstrend die literarische Einheit eines bestimmten Abschnitts aufzuweisen (vgl. 1965: 25 und öfter). Das „homiletic pattern“ sieht in Joh 6,31–58 gemäß BORGEN folgendermaßen aus (vgl. 1965: 38ff.): Am Anfang der Homilie stehe das Hauptzitat (Joh 6,31b; seiner Meinung nach aus Ex 16,4.15 MT [!]). Später folge, typisch für ein solches „pattern“, ein weiteres, untergeordnetes Zitat (Joh 6,45 [Jes 54,13]). Dazwischen fänden sich Paraphrasen und Wiederholungen des Hauptzitats aus Ex 16,4.15 und aus 16,2 (1965: 41f.). Joh 6,32–48 lege den ersten Teil des Zitats („Brot vom Himmel gab er ihnen“) und Joh 6,49–58 den zweiten Teil („zu essen“; vgl. 1965: 35) aus. Grundsätzlich gilt aber, dass sich nicht ein einziger Vers, sondern eine Perikope (Ex 16) in der Homilie in Joh 6 widerspiegle. Die Homilie werde abgeschlossen mit einem „closing statement“ (Joh 6,58), welches sich zurückbeziehe auf die Hauptaussage am Anfang und wichtige Punkte aus der gesamten Homilie zusammenfasse (BORGEN 1965: 35). Die Untersuchung Borgens ist sehr breit rezipiert worden, nicht nur wegen ihrer formkritischen These und dem Aufweis des johanneischen Gebrauchs schriftgelehrter Techniken, sondern auch aufgrund der gelehrten Philointerpretation. Allerdings wurde auch von verschiedenen Seiten Kritik geäußert (vgl. z.B. RICHTER 1977: 88–119; OBERMANN 1996: 141ff.; THEOBALD 1997; THYEN 2005: 352f.). U.a. betrifft sie die willkürliche Abtrennung des Abschnitts V.31–58 vom Zusammenhang, die Borgens zu starker formkritischer Orientierung geschuldet ist (nur so hat er ein Schriftzitat am Anfang der von ihm postulierten Homilie), woraus eine „willkürliche Anpassung der Rede an jenes ‚homiletic pattern‘“ (THYEN 2005: 352) erwächst. In späteren

230

4. Kapitel: Die Rezeption der Sinaitradition in Joh 6,31f.45f.

hier deutlich werdenden „Paradigma für den Schriftgebrauch des vierten Evangelisten“2. Wie dieses Paradigma aussieht, darüber lässt sich jedoch trefflich streiten. Für meine Arbeit ist nun von Belang, dass Jesus in Joh 6,32c im Zuge eines expliziten Verweises auf Mose und sein Tun möglicherweise auf die Tora und das Sinaigeschehen alludiert.3 Gemäß V.32 sagt Jesus im direkten Anschluss an das von der Volksmenge angeführte Schriftwort „Brot vom Himmel gab er ihnen zu essen“ (ἄρτον ἐκ τοῦ οὐρανοῦ ἔδωκεν αὐτοῖς φαγεῖν; V.31): b c d

Amen, Amen ich sage euch, nicht Mose hat gegeben sondern mein Vater gibt

b c d

ἀµὴν ἀµὴν λέγω ὑµῖν, οὐ Μωϋσῆς δέδωκεν ἀλλ᾽ ὁ πατήρ µου δίδωσιν

euch das Brot vom Himmel, euch das Brot vom Himmel, das wahre.

ὑµῖν ὑµῖν

τὸν ἄρτον ἐκ τοῦ οὐρανοῦ, τὸν ἄρτον ἐκ τοῦ οὐρανοῦ τὸν ἀληθινόν·

Zunächst fallen die Verben δέδωκεν und δίδωσιν auf. Warum wird in V.32c der den resultativen Aspekt mit der Zeitbedeutung der Gegenwart verbindende Indikativ Perfekt in Verbindung mit dem „Brot vom Himmel“ und in V.32d das Präsens gebraucht? Die Menge und das von ihr zitierte Schriftwort verwendeten im Gegensatz dazu den (unauffälligen) Aorist ἔδωκεν (vgl. V.31): οἱ πατέρες ἡµῶν τὸ µάννα ἔφαγον ἐν τῇ ἐρήµῳ, καθώς ἐστιν γεγραµµένον· ἄρτον ἐκ τοῦ οὐρανοῦ ἔδωκεν αὐτοῖς φαγεῖν. Zu beachten ist, dass in Joh 7,19 eine Formulierung begegnet, die derjenigen in Joh 6,32c sehr stark ähnelt, insbesondere die Verwendung des Perfekts ist zu notieren. Allerdings ist Joh 7,19a eine rhetorische Frage, die mit „ja, doch“ beantwortet werden sollte. Sie bezieht sich auf die Gabe des Gesetzes durch Mose: Joh 6,32c οὐ Joh 7,19a Οὐ

Μωϋσῆς δέδωκεν Μωϋσῆς δέδωκεν

ὑµῖν ὑµῖν

τὸν ἄρτον ἐκ τοῦ οὐρανοῦ, τὸν νόµον;

Joh 7,19a wiederum erinnert an den Prolog. Nach Joh 1,17a wurde das Gesetz durch Mose gegeben (ὁ νόµος διὰ Μωϋσέως ἐδόθη) – das passivum divinum impliziert Gott als Geber. Ferner redet Jesus in der Negation von „euch“, d.h. den gegenwärtigen Adressaten seiner Rede als den Empfängern des „Brotes vom Himmel“ (V.32c– d; vgl. aber V.49.58); anders die Volksmenge und das Schriftwort: sie sprechen Beiträgen hat Borgen Joh 6 insgesamt mehr in den Blick genommen (vgl. z.B. BORGEN 1997) und auf einige Kritiken reagiert (vgl. BORGEN 2014). 2 So der Untertitel seines 1997 erschienen Aufsatzes „Schriftzitate im ‚Lebensbrot‘-Dialog Jesu (Joh 6): Ein Paradigma für den Schriftgebrauch des vierten Evangeliums“. 3 Vgl. BORGEN 1965: 148: „The homily of John 6,31–58 presupposes the giving of the Torah at Sinai as model.“

1. Desintegration

231

von den Vätern in der Wüste als den Empfängern des Mannas bzw. des Brotes vom Himmel (vgl. V.31). Geht man zunächst von einer Identität von dem Manna und Brot vom Himmel aus, fragt man sich als Leser: Was genau negiert Jesus und wozu? Die Negationspartikel steht in V.32c vor dem Subjekt „Mose“; allerdings macht der folgende Adversativsatz mit dem Präsens (statt Perfekt oder Aorist) deutlich, dass nicht nur das Subjekt, sondern der ganze Satz bzw. die dahinter liegende Behauptung negiert wird. Wie ist die hinter der Negation stehende positive Behauptung zu begreifen? Wie kann Mose, wie auch die Väter eine Gestalt der Vergangenheit, das Manna = Brot vom Himmel in der Vergangenheit gegeben haben, sodass es die gegenwärtigen Zuhörer Jesu besitzen und (dies ist aufgrund von V.31 zu ergänzen) sie nun davon zehren können?4 Was kann in V.32c–d jeweils mit dem Brot vom Himmel gemeint sein – etwa physische Nahrung? Wozu erfolgt die Qualifikation des Brotes vom Himmel in V.32d durch „das wahre“ (τὸν ἀληθινόν; man beachte die das Attribut akzentuierende Wortstellung)? Wird dadurch etwas anderes abqualifiziert (das Manna oder noch etwas anderes?), von dem behauptet wird, dass es Brot vom Himmel sei? Und vor allem: Warum und wozu verneint Jesus so dezidiert Moses Urheberschaft des Brotes vom Himmel und behauptet dagegen, dass sein Vater der Geber des Brotes vom Himmel in der Gegenwart ist? Weder die Volksmenge noch das Schriftwort redeten ja explizit von Mose als Geber des Brotes vom Himmel; überhaupt bleibt das intendierte Subjekt ambivalent. Darüber hinaus weist nichts im Kontext des zitierten Schriftwortes (Mose wird dort überhaupt nicht erwähnt) noch in der Erzählung, auf die sich die Volksmenge mittels des Schriftwortes bezieht, etwas auf Mose als Urheber des Brotes vom Himmel hin. Stattdessen lassen die Prätexte keinen Zweifel daran, dass Gott der Geber des Brotes vom Himmel ist. Mit dem Blick auf die Prätexte ist allerdings schon vorgegriffen. Geht es in V.32 also vielleicht gar nicht um das Manna als Brot vom Himmel, sondern um etwas anderes, das diese Bezeichnung trägt? Es zeigt sich, dass die genannten Eigentümlichkeiten die Aufmerksamkeit der Lesenden steigern und im Übergang von V.31 zu V.32 einen Bruch in der linearen Leserichtung bewirken. Gemäß Joh 6,31c zitiert die Volksmenge die Schrift (vgl. die als explizite Markierung fungierende Einleitungsformel καθώς ἐστιν γεγραµµένον in V.31b)5 „Brot vom Himmel gab er ihnen zu essen“ (ἄρτον ἐκ τοῦ οὐρανοῦ ἔδωκεν6 αὐτοῖς φαγεῖν; dieser Satz ist die intertextuelle Einschreibung) nach 4 Ähnlich fragt auch THEOBALD (2009: 462): „Was […] könnte an der Manna-Geschichte bis in die Gegenwart nachwirken, so dass es auch die Gesprächspartner Jesu tangiert?“ 5 Die Einleitungsformel „wie geschrieben steht“ (καθώς ἐστιν γεγραµµένον; vgl. Joh 12,14) lässt ein Schriftwort erwarten. Dies spricht allerdings nicht zwingend gegen RICHTERS These einer „zeitgenössische[n] jüdische[n] Mannatradition von Moses als dem Spender des Manna“ (1977: 221). 6 Statt ἔδωκεν lesen ‫ א‬W Θ f13 das Perfekt δέδωκεν – vielleicht eine Angleichung an das von Jesus gebrauchte Perfekt δέδωκεν in V.32. Allerdings lesen in V.33 einige MSS wie B

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4. Kapitel: Die Rezeption der Sinaitradition in Joh 6,31f.45f.

ihrer narrativen Abbreviatur7 (bzw. paraphrasierenden Anspielung) „unsere Väter aßen das Manna in der Wüste“ (οἱ πατέρες ἡµῶν τὸ µάννα ἔφαγον ἐν τῇ ἐρήµῳ; V.31a). Aus Sicht der Volksmenge entspricht das Schriftwort dieser Abbreviatur (vgl. καθώς [ἐστιν γεγραµµένον]) und bestätigt es. Die Art der Markierung legt den Lesenden nahe, dass sie relevantes Textwissen hinzuziehen müssen, um zu einem angemessenen Verständnis des johanneischen Textes zu gelangen. Es erhebt sich nun die wichtige Frage, welche Funktion sowohl die narrative Abbreviatur als auch das Zitat im Munde der Menge haben. Vor diesem Verweis auf die Mannaepisode heißt es in V.30, dass die Menge zu Jesus sagt: „Welches Zeichen (σηµεῖον) tust du nun (οὖν), damit wir sehen (ἴδωµεν) und dir glauben (πιστεύσωµέν)? Was wirkst du (ἐργάζῃ)?“ Die Konjunktion οὖν knüpft an das Vorhergehende an, ebenso wie die Lexeme für „Zeichen“ (vgl. 6,2.14 und besonders V.26), „sehen“ (vgl. 6,14.26), „glauben“ (vgl. 6,29) und „wirken“ (vgl. 6,27ff.). Es ist daher wichtig, sich den Zusammenhang vor Augen zu führen, nicht zuletzt, weil die Zeichenforderung und der daran anschließende Verweis auf die Mannaepisode in ihrem Umfeld schwer zu verstehen sind. Gemäß Joh 6,1 ging Jesus auf die andere Seite des Sees von Galiläa, gefolgt von einer großen Volksmenge. Sie folgen Jesus nach, „weil sie die Zeichen (τὰ σηµεῖα)8 gesehen (ἐθεώρουν) haben, die Jesus an den Kranken tat“ (6,2).9 Jesus geht εἰς τὸ ὄρος hinauf und setzt sich dort mit seinen Schülern (ἐκάθητο µετὰ D L W; Cl statt des Perfekts den Aorist ἔδωκεν. Es ist also auch eine Angleichung an das Zitat möglich. Interessanterweise liest Codex W sowohl den Aorist statt das Perfekt (V.31) als auch das Perfekt statt den Aorist (V.32). Bei alledem ist nicht ausgeschlossen, dass angesichts der Ähnlichkeit von ἔδωκεν und δέδωκεν eine unabsichtliche Vertauschung stattgefunden hat (vgl. hierzu und für Beispiele MENKEN 1988b: 41, Anm. 8). Das Perfekt in V.32 kann angesichts der guten Bezeugung ( 75 ‫ א‬A K N T ∆ Θ Ψ f1.13 33. 565. 700. 892. 1241. 1424. l 844. l 2211 ; Or) als ursprünglich gelten. 7 THEOBALD (1997: 330) spricht von einem „haggadischen Summarium von Ex 16“. 8 HYLEN (2005: 120) sieht schon hier eine Anspielung auf Mose. 9 Vor dem Hintergrund von Joh 2,23f. könnten die Lesenden dem Volk bzw. ihrem Glauben gegenüber schon hier misstrauisch werden. Ob man dem Volk jedoch mit SCHNACKENBURG unterstellen kann, „dass die Menge ihm nur wegen dieser äußeren Wohltaten […] aus Eigensucht und Sensationslust“ (1971: 17) nachfolgte, ist eher fraglich. – SAHLIN (1950: 22ff.) sieht in Joh 6 eine ganze Reihe von „typologischen“ Entsprechungen zum Manna-Wunder nach dem Schema Typ – (überbietender) Antityp, die z.T. weit über das hinausgehen, was am Text plausibel nachgewiesen werden kann. So bilde z.B. Ex 16,6–12 den Hintergrund des Seewandels Jesu. Die Aussage Jesu, er sei das wahre Brot, besage, „dass er das wahre Pesach repräsentiert – das Fest also, auf das der ganze Exodus abzielen sollte“ (SAHLIN 1950: 25). Mose erhalte an einem Tag die Verheißung des Wunders und am nächsten Tag ereignete sich dasselbe. In „paralleler“ Weise geschehe an dem einen Tag das Wunder Jesu und am nächsten Tag erläutere er das Wunder, wenn er sagt, er sei das „Brot des Lebens“ usw.

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τῶν µαθητῶν αὐτου). Einige Ausleger10 sehen hier (analog zu Mt 5,1) eine Anspielung auf den Sinai bzw. den Aufstieg Moses auf den Berg Sinai, als dieser nach jüdischer Tradition saß und die Tora lehrte.11 Zwar lehrt Jesus nicht explizit, während er auf dem Berg sitzt, wie in Mt 5,1ff., sondern speist im Anschluss eine große Volksmenge mit Brot. Doch angesichts der Brotrede Jesu mit seiner Deutung des Zeichens und den dort enthaltenen atl. Bezügen ist diese Andeutung einer Lehrszene nicht einfach zu übergehen, zumal in Joh 4,20f. die Rede von „dem Berg“ verbunden wurde mit der Frage nach der rechten Anbetung beim rechtmäßigen Heiligtum.12 Der Evangelist notiert in V.4, dass das Passahfest nahe war, „das Fest der Juden“13. Beim Passahfest stand der Exodus aus Ägypten (als die Entstehung des Gottesvolkes) im Zentrum der Feier. Es war zugleich verknüpft mit Hoffnungen zukünftiger Befreiung des Gottesvolkes. Diese chronologische Notiz ist daher auch in theologischer Hinsicht für das im Anschluss Berichtete nicht zu unterschätzen,14 zumal in Anbetracht der Wichtigkeit der jüdischen Feste für das Verständnis der mit diesen verbundenen johanneischen Episoden und vor allem des Todes Jesu (als Passahlamm; vgl. 19,31–37; evtl. auch 1,29.36) an einem Passahfest.15 In dem folgenden Bericht von der Speisung der Fünftausend (Männer [vgl. V.10])16 spielt das Motiv des Essens von Brot eine bedeutsame Rolle. Als Jesus eine große Volksmenge zu ihm kommen sieht, „versucht“ er Philippus mit einer Frage, obwohl er selbst genau weiß, was er tut (6,5f.). Dann macht er „kostenlos“ (vgl. V.7) mit den kümmerlichen fünf Broten und zwei Fischen eines Knaben (6,9) eine große Volksmenge satt (6,12a), die sich gemäß V.10 dort lagerten, wo es viel Gras (χόρτος) gab. Die Jünger werden von Jesus 10

Vgl. mit jeweils unterschiedlicher Akzentuierung SCHNACKENBURG 1971: 18; ZUM143; HYLEN 2005: 123; THEOBALD 2009: 429f. BROWN (1966: 232) sieht einen Kontrast zwischen Jesus und Mose. 11 Vgl. ALLISON 1993: 173ff. 12 Vgl. POPP 2001: 278. 13 Diese Wendung lässt nach THYEN 2005: 337 die Schlussfolgerung zu, „dass der Autor seinen Text zumindest auch für Nicht-Juden geschrieben hat“. 14 Dabei darf man nicht narrative Chronologie gegen Theologie ausspielen (wie z.B. SCHNACKENBURG: „die Bemerkung […] hat keinen chronologischen, sondern theologischen Sinn“ [1971: 18]), denn das Eine baut auf dem Sinn des anderen auf. 15 Vgl. MENKEN 2004: 269–286; FELSCH 2011: 1ff. 16 Man beachte, dass es (galiläische) Juden sind, die Jesus Joh 6 zufolge speist, wo nach 6,10 „viel Gras war“. Dies lässt an SCHNACKENBURGS Auslegung zweifeln (vgl. 1971: 21: „Jesus, der messianische Hirt, führt sein Volk – nicht mehr das alte Israel, sondern das universale Gottesvolk – auf grüne Auen [vgl. Ps 23,2] und gewährt ihm reiche Nahrung auf der Weide, die Speise des Lebens ist.“ Damit ist allerdings nicht gesagt, dass das Zeichen keine universale Bedeutung hätte. Gemäß THEOBALD (2009: 424) hat das Brotwunder des Elischa (1Kön 4,42–44) bei der Entstehung der Erzählung des Brotwunders Jesu Pate gestanden. Im gegenwärtigen Zusammenhang ist jedoch die Mannageschichte der wichtigste Schriftbezug. STEIN 2004:

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aufgefordert, die übriggebliebenen Brocken einzusammeln (συναγάγετε), „damit nichts vergeht bzw. verloren geht“ (ἵνα µή τι ἀπόληται). Diese Aufforderung ist rätselhaft und erschließt sich nicht ohne Weiteres. Die Jünger sammeln jedenfalls die Brocken und füllen zwölf Körbe nur mit diesen (6,13) – angesichts der ohnehin schon mickrigen fünf Brote und zwei Fische eine große Menge und weiterer Hinweis auf die Fülle der Speise. Wichtig ist, was der Evangelist in Joh 6,14 über die Reaktion der Menge auf das Gesehene sagt: Οἱ οὖν ἄνθρωποι ἰδόντες ὃ ἐποίησεν σηµεῖον. Man könnte dies entweder übersetzen mit „als nun die Menschen das Zeichen sahen, das Jesus getan hatte“ oder vielleicht besser so: „als nun die Menschen sahen, was Jesus als Zeichen getan hatte“. Hier findet sich die gleiche Terminologie wie in Joh 6,30. Was sagt nun die Menge gemäß Joh 6,14? „Dieser [sc. Jesus oder Mann] ist wahrhaftig der Prophet (ὁ προφήτης), der in die Welt kommen soll.“17 Mit der Bezeichnung „der Prophet“ ist offensichtlich ein bestimmter Prophet gemeint, wahrscheinlich „der Prophet wie Mose“ (vgl. Dtn 18,15ff. ).18 Dieser Prophet steht in der atl.-jüd. Vorstellung in einer gewissen Analogie zu Mose. Offensichtlich erfüllt Jesus durch die Gabe des Brotes im Überfluss ihre Erwartung an diese von ihnen eschatologisch gedeutete Figur (vgl. V.14 „[der Prophet,] der in die Welt kommen soll“). Folglich sehen sie in der Speisung der Fünftausend ein Geschehen, das sie an den Exodus im weiteren Sinne, genauer an das Mannawunder erinnert und eschatologische Hoffnungen weckt. Tatsächlich sind solche Hoffnungen z.B. in 2Bar 29 belegt: Demnach wird Gott in der eschatologischen Drangsal „die, die sich in diesem Land in jenen Tagen finden“, beschützen (2Bar 29,2). Wenn die Drangsal vollendet ist, „wird der Messias dann beginnen offenbar zu werden“ (2Bar 29,3). Neben Fleisch (2Bar 29,4) und Früchten, wie Trauben in Fülle (2Bar 29,5), soll es auch wieder Manna zu essen geben: 6 Und die, die Hunger litten, sollen fröhlich sein und (sollen) weiter (dann) an jedem Tag neue Wunder sehen. 7 Denn Winde gehen aus von mir, um jeden Morgen den Geruch duftender Früchte herzutragen, am Ende des Tages aber Wolken, die heilungbringenden Tau herniederträufeln. 8 Es wird zu jener Zeit geschehen, dass aus der Höhe Mannaschätze

17

Die jüdischen Führer halten Jesus dagegen für einen Verführer, einen Pseudopropheten (vgl. Joh 7,45–52). SCHNACKENBURG 1971: 24f. meint, der Evangelist „will mit diesem ‚Chorschluss‘ sein eigenes theologisches Urteil in Worte kleiden“, wobei der Titel „der Prophet“ nach SCHNACKENBURG ein messianischer (jedoch ohne politische Implikationen) Titel sei (vgl. aber die Unterscheidung nach 1,20f.25; 7,40.52). Allerdings hängen die Beurteilung von V.14 und die Deutung von V.30f. zusammen. Da ich SCHNACKENBURGS Deutung von V.30f. nicht folge, kann ich auch seiner Beurteilung von V.14 nicht ganz folgen, zumal V.14 explizit sagt, dass es die Menge ist, die in Jesus „den Prophet“ erkennt. 18 Vgl. 4Q158 Frg. 6; 4Q175,1–8 = 4QTest(imonia),1–8; Samaritanischer Pentateuch Ex 20,19.21; zum „Propheten wie Mose“ MAIER 1996; daneben DEXINGER 1985/1986; BUCHANAN 1969/1977; BREGMAN 1979; umfassender JASSEN 2007.

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wiederum herniederkommen; sie werden zehren dann davon in jenen Jahren, weil die es sind, die ans Ende der Zeit gekommen sind.19

Die Assoziation zwischen Brotvermehrung und Mannawunder dürfte im Sinne des Evangelisten sein, der ja selbst einen „Exodus-Horizont“20 durch die Passahfest-Notiz und (sofern meine Anspielungsdeutungen plausibel sind) durch die Sinaibezüge herstellt. Allerdings beabsichtigt die Menge bloß – nach Auskunft des Evangelisten –, Jesus zu ergreifen, um ihn zum König zu machen. In der Forschung ist umstritten, ob hier eine Verbindung von Prophetentum und (messianischem) Königtum vorliegt21 oder ob der Terminus „König“ lediglich die vom Evangelisten gewählte Bezeichnung darstellt, um zum Ausdruck zu bringen, dass die Menge Jesus, „den Propheten“, zu ihrem Anführer machen will,22 evtl. um das Land durch göttlichen Eingriff von den Feinden Israels zu befreien (vgl. Josephus, Bell. I 261f.)23, zumal im Kontext des von solchen und ähnlichen Hoffnungen aufgeladenen Passahfestes. Nach Joh 1,41.49 und 12,13 verbinden sich mit dem Königstitel jedoch eindeutig messianische Vorstellungen. Es fällt also nicht leicht, sich für eine dieser Auslegungsoptionen zu entscheiden, denn tatsächlich wird in Joh 1,20f. und 7,40f. eine Unterscheidung zwischen „dem Prophet“ und „dem Christus“ sichtbar. Kennen „die Juden“ in Galiläa diese etwa nicht? Jedenfalls ist Jesus nach johanneischer Darstellung der Messias bzw. Christus (1,41), im Folgenden wird er dann auch als „der Sohn Gottes, der König Israels“ (Joh 1,49) bezeichnet (vgl. Joh 20,31). Der Evangelist macht besonders in seiner Passionserzählung deutlich, dass Jesu Königtum nicht von der Art dieser Welt ist (vgl. nur Joh 18,36). Die Volksmenge missversteht Jesu Anspruch also auf einer irdischen Ebene, wenn sie ihn ergreifen und zum (Brot-)König machen will (Joh 6,15).24 Jesus erkennt die Absicht, ihn zum König zu machen – noch hat das Volk jedoch keine konkreten Schritte in diese Richtung unternommen –, und er zieht sich zurück und geht erneut, diesmal jedoch allein, auf den Berg (oder ins Gebirge) hinauf. Am folgenden Tag suchen die Menschen Jesus am anderen Ufer in Kapernaum und finden ihn dort (V.22–25; vgl. die erneute Erwähnung von Brot in V.23). Auf ihre Frage „Rabbi, wann bist du hierher gekommen?“, antwortet Jesus nicht direkt, aber er greift die Suche der Volksmenge auf. Jesus zufolge suchen sie ihn, weil sie von den Broten gegessen haben und satt geworden sind. Damit ist auf das Speisungswunder verwiesen (vgl. V.26 mit V.11f.). Das Suchen nach Jesus dürfte jedoch mit ihrer noch nicht 19

Übersetzung: KLIJN 1976: 142 (kursiv von mir). Vgl. FREY 2000: 350. 21 Vgl. MEEKS 1967 (zur Kritik an Meeks vgl. DE JONGE 1977: 49–76). 22 So BAUCKHAM 2006: 51. 23 Vgl. dazu BAUCKHAM 2006: 50f. 24 SCHRÖDER (2003: 220) weist darauf hin, dass „der gewaltsame Versuch (ἁρπάζειν), Jesus zum König zu machen (ποιήσωσιν βασιλέα), die Funktion eines Vorverweises auf 19,12 [hat]“. 20

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realisierten Absicht, Jesus, den Propheten, zum Herrscher über sie zu machen, und mit dem Wunsch nach einer weitergehenden Versorgung mit Brot zusammenhängen. So kann man aus V.27a folgern. Denn die Aufforderung, nicht die Speise zu „erwirken“, die vergänglich ist (τὴν βρῶσιν τὴν ἀπολλυµένην), bezieht sich zurück auf die Suche nach Jesus, der die Menge mit Brot gesättigt hatte. Dabei wird Jesus gemäß deutlich, dass ihre Suche nicht dadurch motiviert ist, dass sie Zeichen gesehen haben (οὐχ ὅτι εἴδετε σηµεῖα). Dies überrascht. Wenn man V.14 so übersetzt, dass die Menschen „ein Zeichen gesehen haben“ (ἰδόντες ὃ ἐποίησεν σηµεῖον), steht die Aussage in V.26 in Spannung zu V.14; diese Spannung löst sich aber, wenn man den Vers so auffasst, dass die Menschen das sahen, was Jesus als Zeichen getan hat. Dass die Menschen das Brotwunder mit ihren physischen Augen gesehen haben, wird Jesus in V.26 schwerlich abstreiten wollen. Viel eher weist Jesus darauf hin, dass ihre Sichtweise des Brotwunders dessen Bedeutung als Zeichen (im johanneischen Sinne) nicht entspricht. Für sie hat das Brotwunder Jesus als „den Propheten (wie Mose)“ legitimiert. Sie wollen ihn daraufhin zu ihrem König erheben.25 Aus Jesu Sicht wäre es aber angemessen gewesen, das Brotwunder als Zeichen, d.h. als symbolische Manifestation des Leben26 schaffenden Wirkens Gottes im Sohn und folglich als Ausdruck der Würde Jesu zu begreifen, um infolgedessen die „Speise“ zu „erwirken“27, „die bleibt ins ewige Leben“, die also eine Speise ist, die nicht vergeht (vgl. Joh 6,12): „Erwirkt (ἐργάζεσθε) … die Speise (τὴν βρῶσιν), die bleibt ins ewige Leben hinein (τὴν µένουσαν εἰς ζωὴν αἰώνιον)!“ (V.27). Diese „Speise“ kann Jesus als der Menschensohn geben, weil (nur) „dieser“28 von dem Vater, also Gott selbst, der höchsten Autorität29, „versiegelt“ (ἐσφράγισεν) ist (V.27d). Welche „Speise“ kann dies sein, zumal sie „ins ewige Leben hinein bleibt“, wobei neben der Dauer auch ihre Wirkung impliziert sein dürfte,30 nämlich dass sie ihrem Empfänger ewiges Leben verleiht? Worauf beziehen sich das Futur δώσει und der Aorist ἐσφράγισεν? Warum spricht Jesus hier von sich als 25

Vgl. MENKEN 1987: 140. Vgl. zur Lebensthematik in Joh 6 STARE 2004 („In keinem anderen Kapitel des JohEv verdichtet sich das ζωή-Vokabular so stark wie gerade in Joh 6“ [2004: 262]). 27 Die Kombination des transitiv gebrauchten Verbs ἐργάζοµαι mit dem Akkusativobjekt τὴν βρῶσιν ist recht ungewöhnlich. Auf den ersten Blick legt sich hier die Übersetzung „erarbeiten, erwerben“ (s. BA, s.v., 2e) nahe. Da damit jedoch die terminologische Verbindung zu ἐργαζώµεθα τὰ ἔργα τοῦ θεου (V.28) bzw. zu τὸ ἔργον τοῦ θεου (V.29) und zu τί ἐργάζῃ (V.30) etwas verwischt wird und die besagte Speise eine solche ist, die ins ewige Leben hinein bleibt, die man schwerlich „erarbeiten“ oder (durch Geld o.ä.) „erwerben“ kann, ziehe ich hier „erwirken“ als Wiedergabe vor. 28 Man beachte die Betonung, die auf dem Demonstrativpronomen liegt. Diese könnte ein Hinweis sein auf die Exklusivität des Menschensohns als Geber solch einer „Speise“, die ins ewige Leben hinein bleibt (vgl. MOLONEY 2007: 113). 29 Vgl. SCHNACKENBURG 1971: 51. 30 Vgl. STARE 2004: 267. 26

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dem Menschensohn? Nach Borgen bedeutet „versiegeln“ in diesem Zusammenhang „[to] accredit as an envoy“31. Offenbar handelt es sich um ein Bildwort aus dem juridischen Bereich, wo Siegel oft verwendet wurden, u.a. um etwas als Besitz zu qualifizieren, Dokumente zu beglaubigen oder Menschen als der Gottheit zugehörig auszuweisen.32 Borgen zufolge bezieht sich ἐσφράγισεν auf die prä-inkarnatorische „commissioning of the Son of Man as the Father’s emissary, as the Son of Man who descended from heaven“33. Theobald34 weist noch auf Joh 4,14 hin, wo vom „Wasser“ die Rede ist, das/den Jesus geben wird. Damit habe Jesus die Gabe des Geistes an Ostern im Blick (vgl. Joh 14,16). Zudem komme Jesus selbst in Joh 6,63 auf den Geist zu sprechen. Diese „himmlische“ Gabe könne Jesus geben, weil er selbst von himmlischer Herkunft sei; dies besage der Menschensohn-Titel. Jesu Anspruch überbiete damit den Ruf der Menge, Jesus sei „der Prophet“ (6,14). Den Aorist ἐσφράγισεν deutet Theobald aufgrund frühchristlicher Parallelen (vgl. 2Kor 1,22; Eph 1,13f.; 4,30; Apk 7,3) auf die Geistbegabung Jesu (vgl. Joh 1,32ff.). In diese Richtung weise auch die Rede vom Vater, denn „das korrespondierende Sohnes-Bekenntnis [hängt] insbesondere“35 an der Geistbegabung (vgl. 1,34). Jesus könne die Gabe des Geistes als „Speise“, die ins ewige Leben hinein bleibt, geben, weil er „versiegelt“ worden ist, wobei dann der Geist als Siegel aufgefasst wird. Theobald und Borgen ist aus meiner Sicht nur teilweise zuzustimmen. Zunächst einige Bemerkungen zum Menschensohnbegriff: Innerhalb der Forschung zum JohEv werden, nach der Einteilung Reynolds36, vier Deutungen des Menschensohn-Begriffs37 vertreten, wobei alle eine Identifizierung des Menschensohns mit Jesus vornehmen: 1. Der johanneische Menschensohn sei der Mensch Jesus, der inkarnierte Logos, der Gott offenbart und in dessen Annahme oder Ablehnung die Welt sich selbst richte (so z.B. Moloney).38 2. Der johanneische Menschensohn verbinde göttliche und menschliche Aspekte.39 3. Der johanneische „Menschensohn“ sei aufgrund des postulierten Bezuges zu 31 BORGEN 1997: 99 (mit Bezug auf das Wörterbuch von LSJ); vgl. Joh 3,33 (derjenige, der das Zeugnis dessen, der von oben kommt, angenommen hat, „besiegelt“ bzw. „bestätigt“, dass Gott wahrhaftig ist). 32 Vgl. SCHIPPERS/HEILIGENTHAL 2005: 1116f. (mit Belegen). 33 BORGEN 1997: 100. 34 Vgl. für das Folgende THEOBALD 2009: 456f. 35 THEOBALD 2009: 457 (Theobald spricht zwar von der Taufe Jesu, die im JohEv allerdings nicht berichtet wird, meint aber wohl die Geistbegabung). 36 Vgl. REYNOLDS 2008: 3. 37 Das Syntagma kommt im JohEv vor in: Joh 1,51; 3,13f; 5,27; 6,27.53.62; 8,28; 9,35; 12,23.34; 13,31. 38 Den Hintergrund sehen die zu dieser Position zählenden Forscher entweder in Dan 7 (vermittelt durch die Synoptiker reinterpretierte der vierte Evangelist diesen Hintergrund), Ps 8 und Ps 80, Ez und/oder die Weisheitstradition (vgl. REYNOLDS 2008: 4). 39 REYNOLDS (2008: 5f.) nennt einige Vertreter dieser Sicht.

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Spr 30,1–4 ein Äquivalent zu „Sohn Gottes“ (so z.B. Burkett).40 4. Der johanneische Menschensohn sei eine himmlische oder göttliche Gestalt. Die diese Position vertretenden Forscher (wie z.B. Sasse) argumentieren entweder für verschiedene Hintergründe (u.a. Daniel 7, atl. Theophanien, „Märtyrer-Theologien“) oder, wie Reynolds, für einen, nämlich apokalyptischen Hintergrund.41 Meines Erachtens ist eine gewisse Vorsicht gegenüber einer Deutung angebracht, die mit dem Menschensohnbegriff klar umrissene Vorstellungen verbunden sieht. Auf jeden Fall muss der jeweilige Kontext entscheidend sein hinsichtlich dessen, was der Menschensohnbegriff besagt.42 Klar ist, dass Jesus mit der Wahl des offenbar (mindestens in der Referenz, vielleicht auch im Inhalt) rätselhaften (vgl. Joh 9,36; 12,34) Menschensohnbegriffs „an insufficient acclamation of him by onlookers“43 korrigiere, mithin die ungenügende Auffassung, er sei „der Prophet (wie Mose)“ (vgl. Joh 6,14). Der Menschensohn ist gemäß Joh 6,27 als Sohn Gottes (vgl. die Rede von „dem Vater, Gott selbst“) und bevollmächtigter Stellvertreter Gottes (impliziert in der Metapher der Versiegelung) durch Gott selbst dazu autorisiert, zukünftig „Speise“ zu geben, die ins ewige Leben hinein bleibt (was sonst Gott vorbehalten ist). Der Menschensohn hat also göttliche Würde bzw. Hoheit44 – was dann aber nicht notwendigerweise schon allein im Menschensohnbegriff enthalten ist –, und dies ist die Grundlage dafür, dass die „Speise“, die er geben wird, solche ist, die ins ewige Leben hinein bleibt. Es leuchtet also ein, die Versiegelung als Metapher für die Beglaubigung bzw. Bevollmächtigung des Menschensohns durch den Vater, also Gott selbst, aufzufassen. Doch m.E. ist es ausweislich des unmittelbaren Zusammenhangs, wo kein eindeutiger Hinweis auf eine präinkarnatorische Beauftragung45 oder auf die Geistbegabung Jesu, sondern ein Rückverweis auf das Zeichen der Brote zu finden ist, wahrscheinlicher, dass sich Jesus hier auf jenes Zeichen bezieht, wodurch der Vater, also Gott selbst, Jesu göttliche Würde bestätigt und ihn autorisiert hat, „Speise“ zu geben, die ins ewige Leben hinein bleibt. Dies steht zudem im Einklang mit dem in Joh 6,27 hergestellten Konnex zwischen den Broten des Vortages als vergänglicher Speise und derjenigen „Speise“, die Jesus geben wird, auf die jene Speise zeichenhaft verwies. In der „Speise“, die ins ewige Leben hinein bleibt, wird 40

Vgl. BURKETT 1991 gefolgt von THYEN 2005: 206ff. Für einen apokalyptischen Hintergrund des Menschensohnbegriffs in Joh 6 argumentiert REYNOLDS 2008: 147–161. 42 Vgl. MOLONEY 2007: 112. 43 So MOLONEY 2007: 109; vgl. auch POPP 2001: 312. 44 POPP 2001: 312 spricht vom Menschensohn als einer „im Immanenten wirkende[n] Person transzendenten Ursprungs“. 45 Meiner Meinung nach differenziert MOLONEY hier sachgemäß, wenn er sagt: „John has spoken of this great revelation of God as ὁ λόγος in referring to his state πρὸς τὸν θεόν (1,1), while in his historic, fully human existence among men as the place where God is revealed, John speaks of him as ‚the Son of Man‘“ (MOLONEY 2007: 113). 41

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man aufgrund von Joh 6,51 (καὶ ὁ ἄρτος δὲ ὃν ἐγὼ δώσω ἡ σάρξ µού ἐστιν ὑπὲρ τῆς τοῦ κόσµου ζωῆς) das „Brot“, das Jesus geben wird, sehen dürfen. Dieses aber wird in jener Passage gleichgesetzt mit seinem „Fleisch“ (vgl. Joh 1,14). Der Menschensohn hat also nicht nur göttliche Würde, sondern hat auch „Fleisch“, d.h. er ist ein sterblicher Mensch. Das legt den Schluss nahe, dass der Menschensohnbegriff für das inkarnierte Wort steht, dabei aber stärker einen Kreuzesbezug aufweist. Das zukünftige Geben des „Brotes“ bzw. seines „Fleisches“ dürfte sich nämlich auf der narrativen Ebene auf das Kreuzesgeschehen46 – dies wird auch angedeutet durch die chronologische Notiz in Joh 6,4 – und darüber hinaus auf das Abendmahl beziehen,47 wo das Kreuzesgeschehen durch Brot und Wein zeichenhaft48 vergegenwärtigt wird49. Ist dem so, dann zeigt sich eine konsequente Unterscheidung und Zuordnung im Text zwischen der Inkarnation und der Passion. In der Inkarnation gibt der Vater „das Brot vom Himmel“ (zu essen), und bei der Passion wird der Menschensohn, also Jesus unvergängliche „Speise“ (zu essen) geben, die gleichzusetzen ist mit „dem Brot“, welches wiederum identifiziert wird mit seinem „Fleisch“ bzw. mit dem „Fleisch und Blut“ des Menschensohnes, also letztlich sich selbst. Beides zu „essen“ ist notwendig für das ewige Leben. Der Menschensohnbegriff steht in Joh 6,27 also im Konnex sowohl mit der göttlichen Würde Jesu als auch mit seinem Mensch-Sein, das er gibt als „Speise“. Beide Aspekte werden dabei unter ein, nämlich soteriologisches Vorzeichen gestellt: Die „Speise“ des Menschensohns, die ins ewige Leben hinein bleibt und die er geben wird, also Jesu Gabe seiner menschlichen Existenz in den Tod am Kreuz, ist aufgrund seiner göttlichen Würde eine solche, die ewiges Leben spendet. Zu einer solchen Gabe ist Jesus als der Menschensohn, das inkarnierte Wort, vom Vater, Gott selbst, beglaubigt durch das Zeichen der Brote. Wichtig ist an dieser Stelle mithin die obige Einsicht festzuhalten, dass die von Jesus selbst gegebene Speise, das Brot bzw. die Brote vom Vortag, nicht in einem kontrastiven, sondern in einem positiven, nämlich zeichenhaften Verhältnis zur „Speise, die ins ewige Leben bleibt“ und die ebenfalls von Jesus gegeben

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So auch STARE 2004: 272. So auch MOLONEY 2007: 117: „Both levels of understanding must be maintained – a primary reference to a reception, in faith, of the revelation of the crucified Jesus, and a secondary, but important, reference to the continuing possibility of that encounter with the sacrificed redeemer in the Eucharist.“ 48 Dafür spricht der Verweiszusammenhang zwischen den realen Broten der wunderbaren Speisung bzw. jenem Zeichen und der „Speise“ bzw. dem „Brot“, die Jesus zu essen geben wird, nämlich sein „Fleisch“ bei seiner Dahingabe ans Kreuz. 49 Vgl. z.B. die Verwendung des Verbs τρώγω in Joh 6,56ff. und dann nur noch in 13,18 (Ps 41,10), im Kontext des letzten, klar im Schatten des bevorstehenden Todes Jesu beim Passahfest (vgl. 13,1ff.) stehenden Mahls Jesu mit seinen Jüngern, als Judas den Bissen Brot von Jesus erhält (13,26). 47

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werden wird, stehen. Dies ist m.E. ein wichtiger Hinweis, der bei der Interpretation von Jesu Rede ab V.32 beachtet werden sollte. Allerdings sieht das Volk diesen Zusammenhang so nicht. Sie greifen nach V.28 den von Jesus gebrauchten Imperativ ἐργάζεσθε (V.27: ἐργάζεσθε… τὴν βρῶσιν τὴν µένουσαν εἰς ζωὴν αἰώνιον) auf. Doch nun ist nicht mehr von zu erwirkender „Speise“ die Rede, geschweige denn vom Menschensohn. Stattdessen fragt die Menge erstaunt, was sie tun sollen, damit sie die „Werke Gottes wirken“ (ἐργαζώµεθα τὰ ἔργα τοῦ θεοῦ). Offenbar ordnet die Menge die „Speise, die bleibt ins ewige Leben“, den „Werken Gottes“ bzw. dem Wirken Gottes zu. Dann aber können schwerlich solche „Werke“ gemeint sein, die die Menschen vollbringen sollen und die dem Willen Gottes entsprechen,50 denn nur Gott kann „Speise“ geben, die bleibt ins ewige Leben.51 Stattdessen geht es um Gottes eigenes, ewiges Leben spendendes Wirken an ihnen (vgl. nur Joh 9,3). Sie wollen also von Jesus wissen – ihrer Meinung nach ja „der Prophet (wie Mose)“ –, welches Tun Gott von ihnen erwartet, damit Gott an ihnen wirken kann und sie mithin ewiges Leben haben durch die „Speise“, die bleibt ins ewige Leben. Es deutet sich an, dass die besagte „Speise“ im metaphorischen Sinne zu begreifen ist. Für die Lesenden des JohEv kommt dies nicht allzu überraschend. Schon in Joh 4 findet sich der metaphorische Gebrauch von „Wasser“ (vgl. Joh 4,10ff. ) und von „Speise“ (vgl. Joh 4,32ff. ). „[D]amit ist auch die metaphorische Verwendung von ‚Brot‘ in Kapitel 6 vorbereitet.“52 Doch in welchem Sinne begreift das Volk Jesu Aussage über die Speise, die ins ewige Leben bleibt? Wenn solche „Speise“, die aufgrund ihrer Eigenschaft ewiges Leben verleiht, durch das Wirken Gottes zu ihnen kommt, dieses Wirken aber mit ihrem eigenen Tun als Bedingung verknüpft ist, woran wird wohl die Volksmenge denken? An die Tora, von der sie gemäß Joh 5,39 erwarten, dass sie ihnen ewiges Leben verleiht? Jesu Antwort τοῦτό ἐστιν τὸ ἔργον τοῦ θεοῦ, ἵνα πιστεύητε εἰς ὃν ἀπέστειλεν ἐκεῖνος (V.29) ist nicht einfach zu verstehen. Plötzlich ist nur von einem „Werk Gottes“ die Rede. Was ist damit gemeint? Ist τοῦτό (ἐστιν τὸ ἔργον τοῦ θεοῦ) ana- oder kataphorisch? Wenn man das Demonstrativpronomen kataphorisch auffasst, sodass es sich auf den folgenden Satz bezieht, hat ἵνα den Sinn von „dass“. „Dies ist das Werk Gottes, dass ihr an den glaubt, den jener gesandt 50

Vgl. Ex 18,20; PANCARO 1975: 380–84, 390ff.; THEOBALD 2009: 457. Vgl. zum Syntagma τὰ ἔργα τοῦ θεοῦ in der LXX z.B. Tobit 12,6.7.11.22; 2Makk 3,36; Ps 63,10; 65, 5; 77,7; Weish 8,4. Dabei sind Werke gemeint, die Gott tut. Darüber hinaus ist noch das Syntagma τὰ ἔργα κυρίου in Betracht zu ziehen. Dieses taucht in Ex 34,10; Dtn 11,7; Esth 4,17; Tobit 12,22; Ps 27,5; 32,4; 45,9; 76,12; 103,31; 106,24; 110,2; 117,17; Od 8,57; Spr 16,9; 20,12; Sir 11,4; 16,26; 39,16.33; 42,15; PsSal 18,1; Jes 5,12; Jer 28,10 auf. In den genannten Stellen sind ebenfalls Werke im Blick, die Gott tut. Ganz selten sind mit τὰ ἔργα κυρίου Werke, die für Gott (im Heiligtum) getan werden, bezeichnet (vgl. 1Esdr 7,9.15; Num 8,11; Jer 31,10). 52 FREY 2000: 349. 51

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hat.“ Zu der Konstruktion des Demonstrativpronomens + ἐστιν + ἵνα gibt es Parallelen im JohEv, wo kataphorischer Gebrauch vorliegt und ἵνα mit „dass“ übersetzt werden muss.53 So in Joh 6,39f.54; 15,12; 17,3 (vgl. auch 1Joh 3,11.23; 5,3; 2Joh 1,6). Dann könnte man die Antwort Jesu entweder dahingehend verstehen, dass das Werk, welches Gott von ihnen erwartet, im Glauben an seinen Gesandten besteht, oder so, dass auch der Glaube (an den Gesandten Gottes), infolgedessen Gott an dem Volk wirkt und ewiges Leben durch die besagte „Speise“ gibt, Gottes eigenes Werk am Menschen ist. Dieser Gedanke findet sich zwar wieder in Joh 6,44.65, aber eben nicht im unmittelbaren Kontext von V.29, zumal er dann in Spannung zur Aufforderung Jesu an seine Zuhörer, die ewige „Speise“ durch ihren Glauben an den Gesandten Gottes zu „erwirken“ stünde. Das Syntagma „das Werk Gottes“ (so wie auch „die Werke Gottes“) ist besser als Werk zu begreifen, das Gott selbst tut; schwerlich lässt es sich innerhalb des Sprachgebrauchs des JohEv55 auf ein Werk beziehen, das dem Willen Gottes entspricht oder für Gott ist. Von einem solchen Werk Gottes war ja in V.27 die Rede, nämlich von der Versiegelung (m.E. ein Bezug zum Zeichen der Brote) des Menschensohnes durch den Vater, also Gott selbst. Dann müsste man das Demonstrativpronomen anaphorisch deuten; für die Konjunktion ἵνα legt sich folglich die Wiedergabe mit „damit“ nahe. „Dies, d.h. (ausweislich der zuletzt genannten Aktivität Gottes) die (auf das Zeichen der Brote verweisende) Versiegelung des Menschensohns (oder sein Tun [vgl. Joh 17,4; 4,34]) ist (doch) das Werk Gottes, damit ihr glaubt an denjenigen, den jener gesandt hat.“ Für diese Deutung spricht, dass ἵνα neben πιστεύω als Hauptverb im JohEv überwiegend final gebraucht ist (vgl. Joh 1,7; 3,15f.; 9,36; 11,15.42; 13,19; 14,29; 17,21; 19,35; 20,31). Jesu Antwort gemäß soll das Volk, das nach dem Wirken Gottes an ihnen fragt (und so um das ewige Leben bittet), an ihn als den Gesandten glauben, da Gott ja schon durch das seinen Gesandten beglaubigende Zeichen gewirkt hat. Das Zeichen der Brote als Werk Gottes ist Gottes, des Vaters, Beglaubigung dafür, dass sein Sohn als sein Gesandter derjenige ist, der den an ihn Glaubenden ewiges Leben spenden wird, mithin Gott durch ihn seine heilbringenden Werke tut. Das scheint aus Sicht Jesu das angemessene Verständnis des Zeichens der Brote zu sein, dem folglich zentrale Bedeutung zukommt hinsichtlich seines Anspruches, ewiges Leben geben zu können. Damit ist der vorhergende Zusammenhang der Zeichenforderung (V.30) grob umrissen. Die Volksmenge nimmt die zuvor gebrauchte Terminologie auf, wenn sie sagt: „Welches Zeichen (σηµεῖον) tust du nun (οὖν), damit wir 53

Zu ἔργα und finalem ἵνα vgl. aber Joh 5,20.36. Joh 6,50 ist schwierig. οὗτός ἐστιν ὁ ἄρτος ὁ ἐκ τοῦ οὐρανοῦ καταβαίνων kann sowohl anaphorisch (V.48) als auch kataphorisch (V.51) verstanden werden; das anschließende ἵνα ist aber wahrscheinlich final (evtl. konsekutiv), nicht aber mit „dass“ zu übersetzen. 55 Vgl. u.a. Joh 4,34; 5,20.36; 6,29; 9,3f. (vgl. evtl. 14,12); 10,25.32.37f.; 14,10f.; 17,4. 54

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sehen (ἴδωµεν) und dir glauben (πιστεύσωµέν)? Was wirkst du (ἐργάζῃ)?“ Dies ist noch gut zu verstehen, wenn man sich Folgendes klar macht: Aus Sicht „der Juden“ muss Jesu Anspruch von einem Zeichen legitimiert werden, das in Äquivalenz zu diesem Anspruch steht.56 Bei diesem geforderten Zeichen handelt es sich aufgrund der vorhergehenden Rede von den Werken Gottes und dem einen Werk Gottes, aber auch ausweislich der Lexeme für „Zeichen“ und „(dir) glauben“, nicht um Zauberei, sondern um ein göttliches Werk, welches durch Jesus „gewirkt“ werden soll, der behauptet, von Gott gesandt zu sein. Vor dem Hintergrund von Joh 6,1–14 lässt sich schlussfolgern, dass das Volk Jesus dahingehend verstanden hat, dass er behauptet, „mehr“ zu sein als „der Prophet (wie Mose)“ und damit auch „mehr“ als Mose selbst. Worin aber steckt das „Mehr“ des Anspruchs Jesu? Ausweislich des vorherigen Zusammenhangs kann das nur die Behauptung sein, dass Gott durch den Glauben an Jesus als seinen Gesandten ewiges Leben verleiht. Doch inwiefern will Jesus mit diesem Anspruch „größer“ sein als Mose? Will Jesus also, so der Gedankengang der Volksmenge, himmlischer Gesandter Gottes sein und ewiges Leben durch den Glauben an ihn spenden, dann muss er ein Zeichen vollbringen, dass diesen Anspruch fundieren kann.57 Die Speisung der Fünftausend mit Gerstenbroten begründete ihrer Meinung nach lediglich, dass Jesus „der Prophet (wie Mose)“ ist, nicht aber, dass er ewiges Leben verleihen kann. Es ist offenkundig, dass die Menge in der Brotvermehrung vom Vortag nicht das sieht, was gleichsam darin steckt. Jesus ist ihrer Meinung nach durch das Brotwunder höchstens als „der Prophet (wie Mose)“ legitimiert, denn er tut ein Zeichen, das in Analogie zu einem Wunder steht, das sie mit Mose verbinden. Letztere Schlussfolgerung scheint nicht falsch zu sein, auch wenn ihre Absicht, Jesus zu ihrem Herrscher machen zu wollen, verfehlt ist. Doch mit dieser Erkenntnis bewegen sie sich nur auf der Oberfläche; dies steht in Korrelation zu ihrem Verlangen nach vergänglicher Speise. Jesus zufolge weist das Zeichen der Gabe von vergänglicher Speise (= Gerstenbrote [und Fische]) im Überfluss für eine große Volksmenge als Werk Gottes auf Gottes überfließendes, Leben spendendes Wirken in Jesus. Es weist Jesus als den aus, der wie vergängliche Speise im Überfluss so auch auch solche „Speise“ geben wird, deren „Verzehr“ ewiges Leben gibt. Dies aber ist gekoppelt an den Glauben an ihn. Wer nicht an ihn als den Gesandten Gottes glaubt, der erweist sich als blind für das Leben spendende Wirken Gottes in und durch Jesus. Problematisch für das Verständnis wird es jedoch, wenn die Volksmenge nun sagt58: „Unsere Väter aßen das Manna in der Wüste wie geschrieben steht 56 Vgl. Joh 2,18: „Die Juden nun antworteten und sprachen zu ihm: Was für ein Zeichen (σηµεῖον) zeigst du uns, dass du dies tust?“ 57 Vgl. OBERMANN 1996: 143f. 58 Gerade die Tatsache, dass nicht Jesus, sondern die Volksmenge den Psalmtext zitiert, spricht gegen die These Borgens (s. Fußnote 1 in diesem Kapitel), dass der Evangelist hier dem Muster einer jüdischen Homilie folge (so auch LIEU 2000: 160).

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‚Brot vom Himmel gab er ihnen zu essen.‘“ Zunächst kann man die einfache Beobachtung machen, dass sich das, was die Menge selbst, und das, was das Schriftzitat sagt, unterscheiden. „Unsere Väter“ ist in V.31a Subjekt, in V.31c jedoch ist „er/sie/es“ das Subjekt (welches im Verb ἔδωκεν enthalten ist); „unsere Väter“ wird in V.31c zum Dativobjekt „ihnen“. Signifikant ist, dass im Schriftzitat (V.31c) nicht vom Manna (Akkusativobjekt) wie in V.31a, sondern vom „Brot vom Himmel“ (ebenfalls Akkusativobjekt) die Rede ist. Das Manna und „Brot vom Himmel“ (ohne Artikel!) wird durch die Menge also offenbar gleichgesetzt (vgl. καθώς [ἐστιν γεγραµµένον]); beides wurde „gegessen“ (V.31a: ἔφαγον; V.31c: φαγεῖν). Die unterschiedlichen Lokalangaben „in der Wüste“ (V.31a) bzw. „vom Himmel“ (V.31c) weisen auf den außerordentlichen Charakter des Ereignisses hin. Wichtig ist ferner die Frage, wer hier Subjekt ist. Wer (oder was) gab „ihnen Brot vom Himmel zu essen“? Von V.32 her gesehen scheint Mose im Blick zu sein. Doch muss man sich Folgendes klar machen: Die Volksmenge forderte von Jesus, bevor sie ihm glauben (V.30), ein Legitimationszeichen, dass er von Gott gesandt ist und „Speise“ geben kann, die ins ewige Leben bleibt. Dieses Legitimationszeichen ist nur so sinnvoll zu verstehen, dass Gott durch seinen Gesandten ein Zeichen wirkt und diesen als solchen ausweist.59 Außerdem ist die Tatsache sprechend, dass weder sie noch die Schrift Mose explizit als Subjekt benennen, was zur Vorsicht mahnen sollte, zu schnell Mose als Subjekt des Satzes anzunehmen.60 Schließlich – ich greife hier wieder etwas vor – wird Mose in Ps 77 LXX überhaupt nicht erwähnt, und in der Mannaerzählung ist Mose nicht als Urheber des Brotwunders vorgestellt. Folglich liegt es nahe, dass das Subjekt aus Sicht der Volksmenge Gott ist, implizit aber Mose das Wirken Gottes vermittelte,61 welches ihn wiederum legitimierte. Wofür aber wurde Mose ausgerechnet durch das Mannawunder, als Gott durch ihn den Vätern Brot vom Himmel gab, legitimiert? 59 Vgl. Joh 3,2: Nikodemus sagt im Namen „der Juden“ oder der jüdischen Führung: „Rabbi, wir wissen, dass du ein Lehrer bist, von Gott gekommen, denn niemand kann diese Zeichen tun, die du tust, es sei denn Gott mit ihm“ (ῥαββί, οἴδαµεν ὅτι ἀπὸ θεοῦ ἐλήλυθας διδάσκαλος· οὐδεὶς γὰρ δύναται ταῦτα τὰ σηµεῖα ποιεῖν ἃ σὺ ποιεῖς, ἐὰν µὴ ᾖ ὁ θεὸς µετ᾽ αὐτοῦ). 60 OBERMANN zufolge schießt sich die Menge mit dem zitierten Schriftwort gleichsam ein Eigentor, denn das Zeichen der Mannaspeisung besitze „wegen seines theonomen Charakters für Menschen gar keine Zeichenfähigkeit“ (1996: 148). Mit anderen Worten: Sie können nicht von Jesus ein Zeichen der Legitimation (= Zeichen der Mannaspeisung) fordern, das ausweislich des Schriftzeugnisses kein Zeichen der Legitimation war oder sein kann, weil es allein Gottes Werk ist. Es ist zwar richtig, dass die Mannaspeisung „theonomen Charakter“ besitzt, allerdings ist die Funktion des Schriftbezugs m.E. anders zu bestimmen, als Obermann dies tut. 61 Vgl. Ps 77(78),20. Hier ist Gott das Subjekt (vgl. auch Ps 105[104], 41), doch in der Erzählung, auf die hier Bezug genommen wird (vgl. Ex 17,6; Num 20,11), ist eindeutig Mose der Mittler des göttlichen Handelns.

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Soll das „größere“ Zeichen, das von Jesus verlangt wird, also analog zur Speisung mit Manna in der Wüste bzw. mit Brot vom Himmel durch Mose stehen? Aber sie selbst haben Jesus doch tags zuvor aufgrund der Speisung der Fünftausend als „den Propheten (wie Mose)“ erkannt, sein letztes Zeichen also in Analogie zu eben jenem Wunder der Exoduszeit verstanden (vgl. 6,14)!? Wie ist der Schriftbezug durch die narrative Abbreviatur und das Zitat im Anschluss an die Forderung nach einem neuen Zeichen sowie im Konnex zum Vorhergenden zu deuten?62 Es gibt mehrere Optionen, wie man diese Spannung auffassen soll, von denen mir folgende besonders bedenkenswert erscheinen:63 1. Nach Theobald u.a.64 will die Menge ein himmlisches Zeichen sehen, das den Anbruch der Endzeit markiert (vgl. 2Bar 29,8). So wie bei den Vätern das Manna bzw. das Brot von Mose während der 40-jährigen Wüstenwanderung kontinuierlich und vom Himmel gegeben wurde, solle Jesus, wenn er denn wirklich „der Prophet wie Mose“ sei, das eschatologische Manna bzw. Brot andauernd und vom Himmel geben (vgl. 6,15.26.34). Die Brotvermehrung vom Tag zuvor erfülle diese Forderungen nicht, denn das Brot kam nicht vom Himmel und die Gabe war einmalig. Folglich beziehen sich nach Theobald u.a. die narrative Abbreviatur und das Schriftwort auf das zu vollbringende Zeichen und dienen so als Bestätigung der Zeichenforderung. Tatsächlich entspricht das Zeichen vom Vortag nicht exakt dem Mannawunder. Doch dies ist für das Volk offenbar kein Hindernis, den Titel „der Prophet (wie Mose)“ auf Jesus zu applizieren. Mit Menken ist daher gegen Theobald festzuhalten, dass „[t]he acclamation of Jesus as the prophet like Moses can only mean that they consider the feeding miracle, with its abundance of bread (6,12–13), as a repetition of the manna miracle“65. Es ist daher eher unwahrscheinlich, dass diesselbe Menge, die das Brotwunder trotz aller Unterschiede mit dem Mannawunder in Verbindung brachte, ein Zeichen fordert, das eben jenem Mannawunder 62 Gemäß dem auf die Endgestalt des JohEv fokussierten Ansatz dieser Arbeit werden Lösungen wie die Folgende hier nicht weiter diskutiert: „Die joh. Lebensbrotrede beginnt mit V.30f., denn bei dem Verlangen nach einem Speisungswunder in der Wüste wie z.Zt. des Mose scheint die zuvor erfolgte Speisung der 5000 in Vergessenheit geraten zu sein. Dieser Widerspruch kann nur auf die Verknüpfung verschiedener Traditionen durch den Evangelisten zurückgeführt werden“ (SCHNELLE 1987: 216; kursiv von mir). 63 Vgl. die Diskussion mehrerer Vorschläge bei MENKEN 1987: 140ff. 64 Vgl. THEOBALD 2009: 459f. und die dort genannten Ausleger; ähnlich SCHUCHARD 1992: 42f. 65 MENKEN 1987: 141. Vgl. auch THYEN 2005: 350f.: „Denn ganz gegen seine Gewohnheit und weit über das seinem impliziten Leser Zumutbare hinaus müsste der Erzähler seine Ironie hier ins Absurde gesteigert haben, wenn er ausgerechten diejenigen die abermalige Wiederholung des Manna-Wunders fordern ließe, die doch am Vortag die wunderbare Speisung als dessen eschatologische Wiederkehr am eigenen Leibe erlebt und diese nach Ausweis der V.14f auch als solche begriffen hatten.“

1. Desintegration

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entsprechen und damit Jesu größeren Anspruch legitimieren soll. Die folgende Deutungsoption wird dem Text m.E. eher gerecht. 2. Zwar dienen auch nach Menken u.a. die narrative Abbreviatur und das Schriftzitat als Bestätigung der Forderung nach einem Zeichen, jedoch auf andere Weise. Demgemäß verlange die Menge, dass Jesus, der nach V.26–29 mehr zu sein beansprucht als „der Prophet (wie Mose)“ und der mehr geben will als (vergängliches) Brot im Überfluss, nämlich „Speise“, die ins ewige Leben hinein bleibt und daher ewiges Leben verleiht, das Legitimationszeichen vom Vortag (vgl. Joh 6,14) überbiete. Damit müsse er aus Sicht der Volksmenge aber auch Mose und das Mannawunder als Zeichen der Legitimation – wofür? – überbieten.66 Der Schriftverweis in V.31 bezieht sich auf das schon ergangene Zeichen und stellt eine Interpretation „ihre[r] Erfahrung vom Vortag im Lichte der biblischen Manna-Erzählung“67 dar, allerdings, so muss man präzisieren, gemäß ihrer Deutung jener Erzählung. Jesus macht in seiner Antwort auf die Zeichenforderung deutlich, dass sie sowohl das Ereignis vom Vortag als auch das Mannawunder sowie die Schrift unzureichend verstehen; sie gelangen nicht zu ihrer wahren Bedeutung. Dies wird noch im Einzelnen näher entfaltet werden müssen. Dabei insistiert er jedenfalls darauf, dass er als Gesandter aus der Sphäre Gottes kommt und folglich in einer exklusiven Beziehung zu Gott steht, die die bekannten Kategorien für menschliche Gesandte (einschließlich Mose) letztlich übersteigt. Daraufhin tritt der schon vorher angebahnte Dissens offen zutage (u.a. V.41f.). Dann stellt sich allerdings die Frage, in welchen Kategorien Jesus als der Gesandte vom Himmel überhaupt zu verstehen ist. Gibt Jesus mit Hilfe seiner das Zeichen der Brote auslegenden autoritativen Schriftinterpretation eine solche Verstehenskategorie? Doch welche ist diese? Die (metaphorische) Rede von Manna oder von Brot vom Himmel ist ja (zumindest vordergründig betrachtet) nicht gerade gut geeignet, eine „hohe“ Christologie zu begründen. An Jesu Auslegung in V.32 schließt sich eine Begründung an (V.33): ὁ γὰρ ἄρτος τοῦ θεοῦ ἐστιν ὁ καταβαίνων ἐκ τοῦ οὐρανοῦ καὶ ζωὴν διδοὺς τῷ κόσµῳ. Wie ist diese zu verstehen? Was genau wird begründet? Worauf beziehen sich die substantivierten Partizipien ὁ καταβαίνων (ἐκ τοῦ οὐρανοῦ) und (ζωὴν) διδοὺς (τῷ κόσµῳ)? Wie ist das Syntagma „Brot Gottes“ zu verstehen? Weshalb 66 Vgl. MENKEN 1987: 145f. MENKEN weist auf Joh 4,12 und 8,53 hin, wo Jesu Gesprächspartner fragen: „Bist du größer als Jakob“ bzw. „als unser Vater Abraham“? „The remark in 6,31 is tantamount to the question: ‚Are you greater than Moses, who gave our fathers the bread from heaven to eat?‘, and just as in the parallels adduced, a negative answer is expected“ (1987: 146). Vgl. auch BORGEN 1997: 104: „The correct meaning of vv.14–15 and vv.30–31 is then: since the feeding miracle was the eschatological manna miracle, Jesus had legitimated himself as the prophet-like-Moses. Now in vv.27–29 he seemed to imply that he was the Son of man, the Father’s (heavenly) commissioned envoy. Therefore there was the need for (another) sign which would demonstrate that this was the case.“ 67 THYEN 2005: 351.

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benutzt Jesus im Zusammenhang mit der Rede von Brot das Verb καταβαίνω, obwohl es sich weder im Mund der Menge noch im Schriftzitat findet? Das Volk bittet Jesus auf seine Erklärung hin: „Herr, gib uns immer dieses Brot!“ (κύριε, πάντοτε δὸς ἡµῖν τὸν ἄρτον τοῦτον; V.34), d.h solches „Brot“, welches uns Leben verschafft. Wie auch immer man diese Bitte auffassen soll (Brot im wörtlichen [dann ist die Bitte analog zur 40-jährigen Versorgung mit Manna zu begreifen] oder metaphorischen Sinn [wie genau, bleibt zunächst unklar]), deutlich ist jedenfalls, dass hinter ihrer Anfrage der Hunger nach immerwährendem Leben68 steht.69 Klar ist auch, dass sie „noch nicht die Gabe mit dem Geber identifiziert“70 haben. Damit geben sie außerdem (unwissentlich) selbst zu, dass bisher nichts diesen Hunger stillen konnte. Gemäß V.35 gibt Jesus auf ihre Bitte eine präzise Antwort: Jesus selbst ist das Brot des Lebens (ἐγώ εἰµι ὁ ἄρτος τῆς ζωῆς); zweifellos ist dies eine der Schlüsselaussagen Jesu in Joh 6. Wer zu ihm kommt, wird nicht mehr hungern (οὐ µὴ πεινάσῃ), und wer an ihn glaubt, wird niemals (πώποτε; vgl. πάντοτε in V.34) mehr dürsten (οὐ µὴ διψήσει)71. Doch wie kommt der johanneische Jesus dazu, sich mit „dem Brot des Lebens“ zu identifizieren, und wie verhält sich diese Identifikation zu V.27, wo die „Speise“, die bleibt ins ewige Leben, vom Menschensohn als Geber jener „Speise“ unterschieden wird? Gibt es einen Grund für Jesu Identifikation mit „dem Brot vom Himmel“? Können (früh-)jüdische Interpretationstraditionen ein Licht auf Jesu Auslegung werfen? Liest man den Dialog oder besser Disput weiter, stößt man in Joh 6,45b auf eine durch die Einleitungsformel ἔστιν γεγραµµένον (die gleiche Einleitungsformel wurde auch in V.31 verwendet) explizit markierte intertextuelle Einschreibung – es liegt also ein Zitat vor: „und es werden alle Gelehrte Gottes sein“ (καὶ ἔσονται πάντες διδακτοὶ θεοῦ). Das Zitat steht Jesus zufolge „in den Prophetenbüchern“ (ἐν τοῖς προφήταις). Eine ähnliche Angabe begegnet in Joh 1,45. Philippus sagt zu Nathanael: ὃν ἔγραψεν Μωϋσῆς ἐν τῷ νόµῳ καὶ οἱ προφῆται εὑρήκαµεν, Ἰησοῦν υἱὸν τοῦ Ἰωσὴφ τὸν ἀπὸ Ναζαρέτ. Diese Angabe dient nicht einer genauen Lokalisierung eines konkreten Schriftwortes. Sie soll stattdessen zum Ausdruck bringen, dass die beiden Schriftkorpora „Gesetz und Propheten(bücher)“, also die gesamte Schrift, von Jesus, dem Messias schreibt. Ansonsten erscheint diese Angabe nicht mehr im JohEv. Im NT dagegen gibt es durchaus mehr oder weniger exakte Parallelen: In Lk 24,44 und Apg 24,14 ist eindeutig der Abschnitt des Kanons gemeint, der durch den Plural „die Propheten“ bezeichnet wird (vgl. die Erwähnung des Gesetzes [des Mose] im

68

So auch THEOBALD 1997: 349. Vgl. Joh 5,39. 70 ZUMSTEIN 2009: 445. 71 „Nie mehr dürsten“ impliziert ein Stillen des Durstes durch „Trinken“ eines Getränkes. Dies dürfte die Rede vom „Trinken“ des Blutes als wahrer Trank (V.53–56) antizipieren. 69

1. Desintegration

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Umfeld).72 Dies legt sich auch für Apg 13,40 nahe, wo nach der Angabe „in den Propheten ist gesagt“ Hab 1,5 zitiert wird. Die weniger exakten Parallelen in Lk 7,42 (Angabe: „Buch der Propheten“, Zitat: Am 5,25ff.) und Apg 15,15 (Angabe: „die Worte der Propheten“; Zitat: Am 9,11f.) lassen sich in die gleiche Richtung deuten; in den drei letztgenannten Stellen wird allerdings aus dem Buch der Zwölf Propheten zitiert. Menken weist daher noch auf außerbiblische Parallelen bei Philo hin, nämlich Fug 197 (Angabe: ὁ πατὴρ τῶν ὅλων διὰ προφητικῶν ἐθέσπισε στοµάτων; Zitat aus Jer 2,13) und mut. 169 (Angabe: καὶ ἐν προφητικαῖς ᾄδεται ῥήσεσι; Zitat aus Jes 48,22), sowie bei Josephus, nämlich Ant. XI 3ff. (Angabe: καὶ γὰρ τοὐµὸν προεῖπεν ὄνοµα διὰ τῶν προφητῶν [XI 4]; Zitat aus Jes 44,28 [XI 5]). Angesichts dieser Parallelen ist es plausibel, dass die Lokalisierung des Schriftwortes in Joh 6,45 durch die Angabe „in den Prophetenbüchern“ den zweiten Abschnitt der Schrift meint,73 in dem von Jesus geschrieben steht. Das Zitat selbst, aber auch die Verse, in die es eingebettet ist, werfen einige Fragen auf und bereiten den Lesenden gravierende Verständnisprobleme, die zu einem Bruch in der Lektüre führen. Dem Zitat zufolge schreiben die Prophetenbücher von ihrem Standpunkt aus gesehen (!) von einer Zukunft, in der πάντες Gelehrte Gottes sein werden. Es wird also eine Aussage über das Subjekt „alle“ getroffen. Die Rede von einem göttlichen Belehrt-Sein impliziert eine Lehre Gottes. Worin besteht nun diese Lehre? Göttliche Lehre führt im jüdischen Kontext gedanklich natürlicherweise zur Tora. Zu dieser Annahme passt gut die Verwendung der Lexeme διδακτός, ἀκούω und µανθάνω. Was sonst sollte Gott aus Sicht „der Juden“ lehren, und was sonst sollte gehört und gelernt werden als die Tora? Allerdings mahnt die Tatsache, dass nicht explizit gesagt wird, worin die Lehre besteht, zur Vorsicht. Spricht doch die Betonung der Unmittelbarkeit der Belehrung und das Fehlen einer Konkretion dessen, was gelehrt wird, eher dafür, dass es um „Gotteslehre“ und damit um Gottes(er)kenntnis geht. Dann ginge es aus Sicht des johanneischen Jesus nicht darum, wie die Tora christologisch zu verstehen ist (was der Vater lehrt). Das würde einen (indirekten) Sinaibezug jedoch nicht unbedingt ausschließen, wenngleich zu klären ist, wie dieser Sinaibezug dann aufzufassen ist. Ein solcher könnte sich nämlich ausweislich der sprachlichen intratextuellen Bezüge zu Joh 5,37–40 dennoch nahelegen,74 wo m.E. auf die Gabe der Tora angespielt wird (siehe den Abschnitt zu Joh 5 in der vorliegenden Arbeit): 72

Vgl. Mt 5,17; Lk 24,27.44; Apg 28,23; daneben 2Makk 15,9; 4Makk 18,10; CD XII,17; Meg 4,1–5; MENKEN 1988a: 166. 73 Dagegen spricht auch nicht, dass im JohEv durchaus sehr präzise von dem „Propheten Jesaja“ die Rede sein kann, dem ein bestimmtes Schriftwort zugesprochen wird (vgl. 1,23; 12,38ff.). Denn letzteres ist wohl eher die Ausnahme (bedingt durch den Kontext und die Aussageabsicht) und nicht die Regel (für eine ausführlichere Argumentation vgl. MENKEN 1988a: 167). 74 Vgl. auch BORGEN 1965: 150.

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Joh 5,37–40

Joh 6,45f.

37

44

καὶ ὁ πέµψας µε πατὴρ ἐκεῖνος µεµαρτύρηκεν περὶ ἐµοῦ. οὔτε φωνὴν αὐτοῦ πώποτε ἀκηκόατε οὔτε εἶδος αὐτοῦ ἑωράκατε,

οὐδεὶς δύναται ἐλθεῖν πρός µε ἐὰν µὴ ὁ πατὴρ ὁ πέµψας µε ἑλκύσῃ αὐτόν, κἀγὼ ἀναστήσω αὐτὸν ἐν τῇ ἐσχάτῃ ἡµέρᾳ. 45

καὶ τὸν λόγον αὐτοῦ οὐκ ἔχετε ἐν ὑµῖν µένοντα, ὅτι ὃν ἀπέστειλεν ἐκεῖνος, τούτῳ ὑµεῖς οὐ πιστεύετε.

ἔστιν γεγραµµένον ἐν τοῖς προφήταις· καὶ ἔσονται πάντες διδακτοὶ θεοῦ· πᾶς ὁ ἀκούσας παρὰ τοῦ πατρὸς καὶ µαθὼν ἔρχεται πρὸς ἐµέ.

39 ἐραυνᾶτε τὰς γραφάς, ὅτι ὑµεῖς δοκεῖτε ἐν αὐταῖς ζωὴν αἰώνιον ἔχειν· καὶ ἐκεῖναί εἰσιν αἱ µαρτυροῦσαι περὶ ἐµοῦ·

46 οὐχ ὅτι τὸν πατέρα ἑώρακέν τις εἰ µὴ ὁ ὢν παρὰ τοῦ θεοῦ, οὗτος ἑώρακεν τὸν πατέρα.

38

40

καὶ οὐ θέλετε ἐλθεῖν πρός µε ἵνα ζωὴν ἔχητε

Das Zitat in Joh 6,45 sticht also in mehrfacher Hinsicht aus dem Zusammenhang und drängt zu der Frage, wer denn eigentlich gemeint ist mit „alle“? Zuvor begegneten schon ähnliche Aussagen Jesu, wo sich jedoch jeweils eine entscheidende Qualifizierung findet: V.37: V.39: V.40: V.44:

„Alles (πᾶν), was der Vater mir gibt, wird zu mir kommen, und wer zu mir kommt (τὸν ἐρχόµενον)…“ „dass ich von allem (πᾶν), was er mir gegeben hat, nichts verliere…“ „damit jeder (πᾶς), der den Sohn sieht, und an ihn glaubt, ewiges Leben hat…“ „niemand (οὐδείς) kann zu mir kommen, wenn nicht der Vater … ihn zieht“; dies entspricht semantisch dem Satz „jeder, den der Vater zieht, kommt zu mir…“.

Aufgrund der ähnlichen Formulierung, zumal als expliziter Rückbezug, gehört auch die später gemachte Aussage in V.65 hierher: V.65:

„Deshalb habe ich euch gesagt, dass niemand zu mir kommen kann, wenn es ihm nicht vom Vater gegeben worden ist.“

Wenn von „allen“, die Gottesbelehrte sein werden, zumal in einem Zitat aus „den Prophetenbüchern“, die Rede ist, denkt man zunächst an alle Glieder des Volkes Gottes. Als solche verstehen sich ja wohl auch die Gesprächspartner Jesu (die jüdische Volksmenge bzw. „die Juden“), da sie sich als Nachkommen „der Väter“ sehen. Oder ist in Joh 6,45 eine Gottesbelehrung aller Menschen, d.h. auch von „Heiden“ im Blick? Darüber hinaus hebt sich die Eintragung des Motivs des Belehrt-Seins durch Gott dadurch vom Umfeld ab, dass in Joh 6 bis V.45 explizit nichts gesagt wird

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von einer Lehre oder einem Lehren (nachgeholt in V.59), schon gar nicht von einem unmittelbaren Lehren seitens Gottes, des Vaters.75 Im Folgenden erläutert Jesus das Schriftwort (V.45c–e). Dabei greift er sowohl das Subjekt „alle“ (πάντες; vgl. πᾶς ὁ) als auch das substantivierte Verbaladjektiv „Gelehrte“ (διδακτοί; vgl. ὁ ἀκούσας παρὰ τοῦ πατρὸς καὶ µαθὼν), das durch den Genitiv „Gottes“ (θεοῦ) näher bestimmt wird, auf: „Jeder, der (unmittelbar) gehört und gelernt hat vom Vater, kommt zu mir“ (πᾶς ὁ ἀκούσας παρὰ τοῦ πατρὸς καὶ µαθὼν ἔρχεται πρὸς ἐµέ; V.45c–e). Den Genitiv „(Gelehrte) Gottes“ deutet Jesus im Sinne eines genitivus subiectivus so, dass Gott, der Vater Jesu (!) derjenige ist, der „alle“ unmittelbar belehrt. „Alle“ (πάντες), die zu Gelehrten Gottes werden, sind gemäß der stärker auf den individuellen Menschen fokussierten Deutung Jesu konstituiert durch jeden (πᾶς), der (es, d.h. das Gelehrte) unmittelbar vom Vater Jesu gehört und von ihm gelernt hat. Das Geschehen ist dasselbe, nur die Perspektive ändert sich ein wenig vom Zitat zur Deutung. Gemäß dem Zitat wird das Subjekt „alle“ etwas sein, nämlich Belehrte Gottes, was ein eher passives „Erleiden“ (bestehend im Belehrtwerden) impliziert. Andererseits ist „jeder“ der Deutung zufolge Agens, „jeder“ tut aktiv etwas: „jeder“ hört den Vater und lernt von ihm. Das BelehrtSein durch Gott beinhaltet für Jesus also offenbar, dass die Belehrten auch wirklich hören und die Belehrung effektiv ist, da die Belehrten lernen. Mit den Stichworten „Gelehrte (Gottes)“, „den Vater hören“ bzw. „es (die Lehre) vom Vater hören“ und „lernen (vom Vater)“ ist folglich eine endzeitliche Lehrszene dargestellt (Gott, der Vater [Jesu] als Lehrer und „alle“ als Schüler). Entscheidend ist nun für das Verständnis des Subjekts „alle“, dass ausweislich der Aorist-Partizipien ἀκούσας und µαθὼν das eschatologische unmittelbare Gelehrtsein „aller“ durch Gott bzw. das Hören und Lernen vom Vater (Jesu) die Voraussetzung für das Kommen „jedes“ (Menschen) zu Jesus (ἔρχεται πρὸς ἐµέ) ist (wie schon das „Ziehen“ des Vaters nach V.44). Im Umkehrschluss heißt das, dass „jeder“, der zu Jesus „kommt“, auch ein Belehrter Gottes ist bzw. gehört und gelernt hat vom Vater; aber eben nur er.76 Für solche, die nicht zu Jesus „kommen“, gilt, dass sie nicht Schüler Gottes, des Vaters, sind. Doch inwiefern kann man das „Kommen“ zu Jesus aus dem Schriftzitat ableiten, wo 75

Allerdings schwingt dies implizit bei der Anrede Jesu als „Rabbi“ (Joh 6,25) mit. So wurde Jesus ja schon in 1,38 angeredet, und der Evangelist übersetzt diese Anrede mit „Lehrer“ (διδάσκαλος; vgl. Joh 20,16). Auch Nikodemus, selbst ein Lehrer (3,10), spricht Jesus als Rabbi an und sagt „wir wissen, dass du ein Lehrer (διδάσκαλος) bist, von Gott gekommen (ἀπὸ θεοῦ ἐλήλυθας)“ (Joh 3,2). Vgl. auch Joh 11,28; 13,13f. (Jesus wird zu Recht „der Lehrer“ genannt). 76 Sachlich läge der Gedanke einer das „Kommen“ (zum Glauben an/) zu Jesus bewirkenden (wenn auch zeitlich mit dem Kommen zusammenfallenden) Belehrung durch Gott, den Vater, solchen Passagen im JohEv nahe, wo z.B. von einem Aus-Gott-Sein oder von einem Aus-der-Wahrheit-Sein als Ursache des Hörens der Worte Gottes in Jesu Worten (8,47) oder dem Hören auf die Stimme Jesu (18,37) die Rede ist.

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doch nur eine Aussage über „alle“ gemacht wird, nämlich dass sie Gelehrte Gottes sein werden (was aber auch die Aktivität Gottes impliziert)? Wie gelangt Jesus dazu, diese eschatologische Prophetie einer Gottesgelehrtheit „aller“ zur Voraussetzung des „Kommens“ zu ihm zu machen und so das Subjekt „alle“ zu qualifizieren? Vom „Kommen zu mir“ sprach Jesus schon direkt davor (in V.44), sodass eine Klammer zwischen V.44 und V.45 entsteht. Jesus knüpft damit an V.35ff. an, wo ebenfalls vom „Kommen zu mir“ die Rede war wie schon in Joh 6,5 (Jesus auf dem Berg, zu dem eine große Menschenmenge kommt), hier allerdings im gewöhnlichen Sinn. In Joh 6,35 steht „Kommen zu mir“ im Parallelismus mit „Glauben an mich“. Ausweislich der vorherigen Aussage „Ich bin das Brot des Lebens“ (V.35b) impliziert das „Kommen“ zu Jesus ein Kommen, um Jesu, als das „Brot des Lebens“, zu „essen“, um so den Lebenshunger zu stillen, mithin ewiges Leben zu empfangen. Jesus verspricht demjenigen, der zu ihm „kommt“, dass er auf keinen Fall mehr hungern (οὐ µὴ πεινάσῃ; V.35), und dem, der an ihn glaubt, dass er nie mehr dürsten wird. Nach V.37 wird er jeden, der zu ihm „kommt“, nicht „hinauswerfen“ (aus dem „Raum“ der Gemeinschaft mit Jesus)77 oder „verloren gehen lassen“ (V.37c bzw. V.39b–c), sondern ewiges Leben geben (V.40) und auferwecken am letzten Tag (V.39d und V.40e; vgl. V.44c und noch mal in V.54d)78. Damit dürfte klar sein, dass das „Kommen“ zu Jesus ein mit dem „Glauben an Jesus“ verbundener metaphorischer Begriff ist, der die anfängliche menschliche Aktivität bei der Erlangung des Heils beschreibt.79 Doch die galiläische Volksmenge glaubt nicht an ihn (vgl. πιστεύω in V.35d und V.36c) und „kommt“ damit nicht zu ihm80 (trotz der Tatsache, dass sie im wörtlichen Sinne zu Jesus kam [Joh 6,5] und ihn für „den Propheten [wie Mose]“ hielt). Auch sehen „die Juden“ das evidente Mensch-Sein Jesu (vgl. den Hinweis auf seine irdische Herkunft) als unvereinbar an mit seiner Herkunft vom „Himmel“ bzw. von Gott. Jesus macht in V.37–40 deutlich, dass die Volksmenge sich damit außerhalb der Gemeinschaft des Gottesvolkes befindet. Über diese Gemeinschaft heißt es, dass Jesus niemanden aus seiner Gemeinschaft hinauswirft und auch niemanden von denen verliert, die ihm der Vater gegeben hat und die (infolgedessen) zu ihm gekommen sind. Ihnen, die

77

Vgl. zu „hinauswerfen“ aus einem Raum (wie dem Tempel), in dem jmd. oder etwas sich schon befindet, Joh 2,15; 9,34f.; 10,4; 12,31. 78 Dies kommentiert ZUMSTEIN (2009: 447 und Anm. 28 auf derselben Seite) treffend: „Die eschatologischen Aussagen […] bilden m.E. keinen Bruch in der Argumentation, sondern bürgen für die Qualitat des angeboteten Heils“; „die Verheißung der Auferstehung am letzten Tag belegt die Tragweite der für die erlebte Gegenwart formulierten Verheißung“. 79 Dem „Kommen“ muss dem JohEv zufolge das „Bleiben in Jesus“ bzw. in „seinem Wort“ (vgl. 6,56 und Joh 8,31; 15,4ff.) folgen. 80 Vgl. Joh 6,64f. und auch Joh 5,40: οὐ θέλετε ἐλθεῖν πρός µε ἵνα ζωὴν ἔχητε.

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ihn, den Sohn, betrachten und an ihn glauben, gibt er ewiges Leben, ihnen allen. Sie wird er schließlich auferwecken am letzten Tag. Aber die Volksmenge – sie oder ein Teil davon werden nun (V.41) als „die Juden“81 bezeichnet – wendet sich von Jesus ab, wenn sie gemäß V.41 angesichts Jesu Anspruch „murren“, das Brot zu sein, welches vom Himmel herabgekommen ist.82 Zum ersten Mal wird im JohEv dieses Verb verwendet (außer Joh 6,41.43.61 nur noch in Joh 7,32); aufgrund der evidenten Bezüge zur Mannaerzählung in Joh 6 könnte dies eine weitere Anspielung auf jene Erzählung sein, wo sich ein ähnliches Verb findet (vgl. Ex 16,2). Jesus fordert „die Juden“ dazu auf, mit ihrem „Murren“ aufzuhören (V.43). Mit dem Stichwort „murren“ knüpft Jesus an V.41f. an. So wird deutlich, dass seine Antwort irgendwie eine Reaktion auf ihre ablehnende Haltung gegenüber seiner Behauptung darstellt, er sei das Brot, welches vom Himmel, also von Gott (herab-)gekommen ist. Doch wie ist der Zusammenhang vorzustellen? V.44 macht (im Anschluss an V.37ff.) noch einmal klar, wer es bzw. wer es nicht ist, der zu Jesus „kommt“ mitsamt den Konsequenzen (keine Zugehörigkeit zum endzeitlichen Gottesvolk und keine Leben schenkende Gottesgemeinschaft), und warum die Person kommt. Zunächst wird in negativer Weise grundsätzlich formuliert: „niemand kann zu mir kommen“ (οὐδεὶς δύναται ἐλθεῖν πρός µε). Anschließend wird eine Ausnahme von dieser Regel hinzugefügt (angezeigt durch ἐὰν µή): „außer der Vater, der mich gesandt hat, zieht (Aor. wie in V.45c–e!) ihn“ (ἐὰν µὴ ὁ πατὴρ ὁ πέµψας µε ἑλκύσῃ αὐτόν).83 Positiv ausgedrückt: jeder, den der Vater „zieht“, „kommt“ auch zu Jesus. V.44a–b und V.45c–e entsprechen sich, wenn man positiv formuliert, in semantischer Hinsicht: Die negative Aussage „niemand kann zu mir kommen, außer wenn der Vater ihn zieht“ entspricht der positiven Aussage „jeder, den der Vater zieht, kommt zu mir – „jeder … kommt zu mir“. Folglich liegt es nahe anzunehmen, dass das „Gezogen-Werden“ durch den Vater gleichgesetzt und zugleich erläutert wird durch das Von-Gott-Gelehrt-Werden bzw. durch 81 Vor Joh 6,41 wurde nur allgemein von der (Volks)Menge gesprochen. Für die Lesenden scheinen „die Juden“ entweder ein Teil der Menge zu sein oder aber ein Teil der Zuhörerschaft, die offenbar größer ist als die Menge (vgl. die Erwähnung der bis dahin im Hintergrund stehenden Jünger in V.60). Gemäß BORGEN (1997: 108) stehen „die Juden“ ausweislich des zwischen ihnen und Jesus stattfindenden „scholarly midrashic exchange“ (vgl. 6,41ff. und V.51ff.) für die, „who, as stated in 5:39, execute (professional) midrashic exegesis of the Scriptures, but refuse to accept that the Scriptures bear witness to Jesus“. Nach ZUMSTEIN (2004: 137) handelt es sich jedoch um ein und dieselbe Gruppe. Den Wechsel der Bezeichnung erklärt Zumstein so, dass die Menge aufgrund ihres Murrens, der ihren Unglauben verrät, als „die Juden“ bezeichnet wird. 82 Analog dazu wenden sich auch einige Jünger von Jesus „murrend“ ab (nach den Worten über die Notwendigkeit des „Essens“ und „Trinkens“ von „Fleisch“ und „Blut“ des Menschensohns [V.53–58]) und folgen ihm nicht mehr nach (V.60–66). 83 Zu diesen sog. Exzeptivkonditional- bzw. Restriktivsätzen vgl. VON SIEBENTHAL 2011: §286.

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das Hören und Lernen vom Vater. Normalerweise geht es beim Ziehen darum, dass ein Objekt, welches sich nicht selbst bewegen kann oder will, durch Krafteinwirkung bewegt werden soll (vgl. Joh 18,10; 21,6.11). Im vorliegenden Zusammenhang liegt offensichtlich metaphorischer Sprachgebrauch vor, denn es finden sich keine Hinweise dafür, dass die Zuhörer Jesu sich nicht physisch zu Jesus hinbewegen könnten und sie der Vater z.B. an der Hand nimmt und im wörtlichen Sinne zu Jesus zieht, sodass sie dann zu ihm kommen. Vielmehr drückt die Metapher des „Ziehens“ als Bedingung bzw. Voraussetzung des ebenfalls metaphorischen „Kommens“84 aus, dass von sich aus niemand zum Glauben an Jesus „kommen“ kann. Dies geschieht nur durch die „Anziehungskraft“ des Vaters.85 Die impliziten Aufforderungen zum Glauben werden dadurch aber nicht überflüssig.86 So ist im ganzen Kapitel implizit und explizit, dass diejenigen, die die Zeichen Jesu gesehen haben, an Jesus glauben sollten. Es widerspricht dagegen aller Erwartung, wenn die, die Wunder Jesu gesehen haben, gerade nicht zum Glauben an Jesus gekommen sind. Der Unglaube wird nicht dadurch entschuldigt, dass der Vater diejenigen, die nicht zu Jesus kommen, nicht gezogen hat o.ä. Etwas unvermittelt stellt der johanneische Jesus nach V.46 dezidiert fest, οὐχ ὅτι τὸν πατέρα ἑώρακέν τις εἰ µὴ ὁ ὢν παρὰ τοῦ θεοῦ, οὗτος ἑώρακεν τὸν πατέρα. Diese Aussagen erinnern stark an Joh 1,18 (Θεὸν οὐδεὶς ἑώρακεν πώποτε· µονογενὴς θεὸς ὁ ὢν εἰς τὸν κόλπον τοῦ πατρὸς ἐκεῖνος ἐξηγήσατο), wo ebenfalls ein Sehen Gottes und die aus dem unmittelbarsten Zugang zu Gott resultierende Kenntnis Gottes geleugnet wird. Folgende Beispiele aus dem JohEv sollen die vorstehende Aussage über den Konnex zwischen Sehen und Kennen belegen: So kannte der Täufer den, dem er den Weg bereiten sollte, nicht (vgl. Joh 1,31 und V.33: κἀγὼ οὐκ ᾔδειν αὐτόν). Aber als er gesehen hat (κἀγὼ ἑώρακα; impliziert ist aufgrund von 1,33: die Herabkunft bzw. das Bleiben des Geistes auf Jesus), 84

Beide gehören zu der „semantic domain“ der „linear movement“ (vgl. LOUW-NIDA). Das gleiche Verb wird in Joh 12,32 verwendet (κἀγὼ ἐὰν ὑψωθῶ ἐκ τῆς γῆς, πάντας ἑλκύσω πρὸς ἐµαυτόν). Demnach ist es jedoch Jesus, der „alle“ zu sich „zieht“, wenn er (am Kreuz) „erhöht“ wird. Bedeutet das, dass in der Zeit des irdischen Wirkens Jesu der Vater die Menschen zu Jesus „zieht“ bzw. sie Jesus „gibt“, aber bei der Kreuzigung als Erhöhung der Sohn „alle“ (Juden und „Heiden“) zu sich, d.h. in seine Gemeinschaft mit dem Vater zieht? 86 Zum Problem vgl. RÖHSER 1994: 177–254. Allerdings kann ich mich Röhser weder im Detail (z.B. deutet Röhser „das Werk Gottes“ in V.29, analog zu V.28, auf den Glauben als ein von Gott gefordertes Werk, ohne dabei jedoch ernsthaft alternative Auslegungen zu prüfen; vgl. 1994: 209ff.) anschließen noch der folgenden Aussage zustimmen (allein schon aufgrund von Joh 6,44f.): „Jeder, der sich sachlich (oder auch zeitlich) vorgängig ‚aktiv‘ der Wahrheit zugewandt (und sich damit grundlegend an Gott orientiert) hat, der gelangt notwendig auch zum Glauben (und d.h. zu einem eigenen, selbstverantwortlichen Glauben) an Jesus und bekommt ‚simultan) dazu (in der Begegnung mit Jesus) seinen Glauben als bleibende Gabe vom Vater geschenkt […] beides als ‚automatische‘ Folge seiner Grundorientierung“ (RÖHSER 1994: 217); zur Kritik an Röhser s. FREY 1997: 147–149. 85

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gewinnt er die Einsicht bzw. Erkenntnis und hat daher bezeugt, dass dieser Mann (1,30) namens Jesus der Sohn Gottes ist (1,34). Wissen und Gesehen-Haben stehen in Joh 3,11 („reden wir, was wir wissen [οἴδαµεν], und bezeugen, was wir gesehen haben [ἑωράκαµεν]“) im Parallelismus, entsprechen sich also. Jesu Offenbarungsrede basiert Joh 8,38 zufolge auf seinem Gesehen-Haben des Vaters, was aufgrund des Kontrastes zu seinen Gegnern so interpretiert werden kann, dass Jesus im Gegensatz zu „den Juden“ den Vater wirklich kennt (vgl. Joh 8,28f.) und deshalb von ihm zu reden vermag.87 Besonders aussagekräftig ist Joh 14,7ff.: „Wenn ihr mich erkannt habt (ἐγνώκατέ), werdet ihr auch meinen Vater erkennen (γνώσεσθε)“ (14,7a–b). Wann? „Von jetzt an erkennt ihr ihn (γινώσκετε) und habt ihn gesehen (ἑωράκατε).“ Jesus macht den Zusammenhang zwischen Sehen und Erkennen dann noch klarer, wenn er zuerst fragt: „So lange Zeit bin ich bei euch, und du hast mich nicht erkannt (ἔγνωκάς), Philippus?“ und dann sagt „Wer mich gesehen hat (ἑωρακὼς), hat den Vater gesehen (ἑώρακεν)“.88

Dabei macht der Zusammenhang von Joh 1,18 deutlich, dass Joh 1,18a eine Anspielung auf die Sinaierzählung (vgl. Ex 33,20.23) ist.89 Die größtmögliche, intimste Kenntnis des Vaters, die gemäß dem JohEv mit dem Sehen einhergeht, wird also nach Joh 6,46 allein dem vorbehalten, der von Gott her (gekommen) ist90. Damit ist der irdische Jesus gemeint (vgl. Joh 7,29; 16,27; 17,8 und auch 9,16.33). Referiert das vergangene Sehen aber auf seine prä-inkarnatorische oder auf seine irdische Existenz?91 Für ersteres sprechen die Ausdrücke „das Brot vom Himmel“ bzw. „das Brot Gottes, welches aus dem Himmel herabgekommen ist“ (Joh 6,32f.) und Jesu Rede von sich, der „vom Himmel herabgestiegen ist“ (Joh 6,38). Die Aussagen über das (Nicht-)Sehen des Vaters sind ziemlich überraschend und der Anschluss an das Vorhergehende schwer verständlich. οὐχ ὅτι kann einen negierten Grund („nicht weil…“) für die vorhergehende Aussage angeben (wie in Joh 6,26; 12,6; vgl. Dtn 7,7; 2Kor 7,9), oder es wird eine mögliche Schlussfolgerung aus dem vorher Gesagten geleugnet oder ein bestimmer 87 Weiteres Beispiel: Die Frage „der Juden“ in Joh 8,57 zielt nicht auf ein Gesehen-Haben als visuelles Ereignis, sondern auf eine persönliche Kenntnis Abrahams (vgl. 8,56). 88 Dass ein Gesehen-Haben Jesu bzw. seiner Werke nicht zur Erkenntnis Jesu und zum Glauben an ihn führt (vgl. Joh 6,36; 15,24), ist somit das Unerwartete. 89 S. dazu meine Analyse im 2. Kapitel dieser Arbeit. 90 HYLEN (2005: 126) kann sich nicht entscheiden: V.46 könne sowohl so gelesen werden, dass niemand außer Jesus Gott gesehen habe, oder so, dass sowohl Mose als auch Jesus Gott gesehen haben, Jesus mithin wie Mose beschrieben werde. Aus meiner Sicht lässt der Text die letztgenannte Möglichkeit nicht zu. Jesus ist im JohEv derjenige, der auf einzigartige Weise „von Gott“ ist (vgl. Joh 7,29; 16,27f.; 17,8), wenngleich auch z.B. Johannes der Täufer „von Gott“ (ἀπεσταλµένος παρὰ θεοῦ) gesandt ist (vgl. auch Joh 9,16 [Gegensatz: „von Gott sein“ und „Sünder sein“].33). Das „Sehen“ (und das, diesem entsprechende Kennen) des Vaters ist ein exklusives Prärogativ des Sohnes. 91 Für den Verweis auf die prä-inkarnatorische Existenz votiert u.a. POPP 2001: 348: „Er [sc. der Sohn] ist der einzige, der bei [sic] Gott ist (εἰ µὴ ὁ ὢν παρὰ τοῦ θεοῦ) und ihn als der Präexistente unmittelbar gesehen hat (vgl. 1,3; 3,13).“ Für den Verweis auf die irdische Existenz Jesu argumentiert THYEN 2005: 363.

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Sachverhalt bzw. eine Meinung über einen Sachverhalt als falsch herausgestellt (vgl. Joh 7,22). Sehr schwer nachvollziehbar wäre Ersteres: Wie könnte der Sachverhalt, dass jemand den Vater „gesehen“ hat, das Hören bzw. Lernen vom Vater und das darauf folgende „Kommen“ zu Jesus begründen? Wie kann das Sehen des Vaters durch den, der vom Vater ist (also Jesus), den tatsächlichen Grund für das Kommen zu Jesus infolge des Hörens bzw. Lernens vom Vater darstellen? Passender scheint die zweite Auslegungsoption zu sein: Das „jemand“ (τὶς) in V.46 greift das Subjekt „jeder, der…“ (πᾶς ὁ) aus V.45 auf. Über diese von Gott Belehrten soll man nicht meinen, dass sie den Vater unmittelbar „gesehen haben“, denn eben dies ist allein dem vorbehalten, der von Gott her (gekommen) ist. Wenn in Joh 6,32 und in 6,45 u.ö. ein (impliziter) Bezug zur Tora bzw. zur Gabe der Tora am Sinai vorliegt, stellt sich die Frage, ob die Aussage, dass niemand den Vater gesehen hat, eine Anspielung auf die Erzählung der „zweiten“ Gabe der Tora ist, in der berichtet wird, dass kein Mensch, also auch Mose nicht, Gott (bzw. sein Angesicht) sehen kann bzw. darf und weiterleben wird (Ex 33,20; vgl. auch V.23)?92 Doch welche Funktion hätte dann solch eine Anspielung? In Joh 6,47–51 zeigt Jesus, dass derjenige, der glaubt oder anders gesagt: wer das „Brot vom Himmel“ (V.50), welches als himmlisches, d.h. göttliches Brot eben „Brot des Lebens“ (V.48) bzw. „lebendiges Brot“ (V.51) ist, „isst“, nicht „stirbt“ (µὴ ἀποθάνῃ), sondern ewiges Leben hat. Dem „Brot vom Himmel“ steht das Manna, welches die Väter aßen und „starben“ (ἀπέθανον), gegenüber. Selbstverständlich meint Jesus, dass die Väter nicht aufgrund, sondern dass sie trotz des Verzehrs des Mannas starben; das Manna konnte sie nicht vor dem Tod bewahren, es war nicht „das Brot vom Himmel“.93 Von Bedeutung ist, dass diese Aussage mutatis mutandis exakt die Aussage der Volksmenge wiedergibt (V.31a: οἱ πατέρες ἡµῶν τὸ µάννα ἔφαγον ἐν τῇ ἐρήµῳ), bis auf den Zusatz „sie starben“ (ἀπέθανον). Nun muss man sich in Erinnerung rufen, dass der Hinweis auf die Speisung der Väter in der Wüste mit Manna dazu diente, die Speisung der großen Menge am Vortag zu deuten (s. die obigen Ausführungen). Mithin stehen Manna und Gerstenbrote in Analogie. Jesus sollte nach Meinung der Menge ein größeres Zeichen als das des Mannawunders bzw. des Brotwunders vollbringen, um seinen Anspruch, ewiges Leben spenden zu können, göttlich untermauern zu lassen. Wenn Jesus diesen Hinweis auf die Väter nun aufnimmt und ergänzt um die entscheidende Information, dass die Väter ja trotz der Mannaspeisung gestorben sind, dann will er damit sagen: Die von euch schon genossene (Joh 6,11ff.) und dann wieder 92

Vgl. die evidente Anspielung auf diesen Text in Joh 1,18. Damit erinnert Jesus an das Urteil Gottes, dass diejenigen aus dem Volk, die gemurrt (Num 14,2) und Gott nicht geglaubt (οὐ πιστεύουσίν µοι) haben trotz aller Zeichen (ἐν πᾶσιν τοῖς σηµείοις) Gottes (Num 14,11), in der Wüste sterben mussten (vgl. Num 14,23.29.32f.35[ἀποθανοῦνται] mit Num 14,2; Dtn 2,14.16 [ἀποθνῄσκοντες]). 93

1. Desintegration

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„gesuchte“ (Joh 6,22–26) und erbetene (vgl. evtl. Joh 6,34) Versorgung mit (Gersten-)Brot, solange sie auch dauern mag (vgl. evtl. Joh 6,34), vermag kein ewiges Leben zu spenden, wie schon das Manna nicht vor dem Tod bewahren konnte, weil es sich um vergängliche Speise handelt. Euer Hunger nach Leben wird nicht durch materielle Güter gestillt, sondern nur durch das „Brot vom Himmel“; dieses schenkt ewiges Leben. Deshalb müsst ihr dieses „essen“ und nicht ein größeres Zeichen fordern. Die Frage ist nur: Wer/was darf legitimerweise mit „dem Brot vom Himmel“, welches ewiges Leben gibt, von dem die Schrift letztlich spricht, identifiziert werden? Die durch Mose gegebene Tora? Was „die Juden“ glauben müssen, ist, dass das Zeichen der Gerstenbrote und aufgrund der Analogie auch das Zeichen des Mannas auf „das Brot vom Himmel“, „das wahre“, weist, d.h. aber dem johanneischen Jesus zufolge auf den, der „vom Himmel gekommen“ ist. Dieser ist „das Brot des Lebens“, und zugleich gibt er solches. Das Brot, das er zu essen (so ist aufgrund von V.52 zu ergänzen) geben wird, ist, so erläutert Jesus gemäß V.51, sein „Fleisch“ ὑπὲρ τῆς τοῦ κόσµου ζωῆς. Jesus greift damit den Einwand aus V.41f. auf und unterstreicht, dass der Glaube an ihn als „Brot vom Himmel“ von essenzieller Bedeutung für das Heil der Welt ist. Dies wird Jesus in V.53–58 nach dem, ihr Unverständnis und den Unglauben anzeigenden, Einwand „der Juden“ (V.52) entfalten, indem er das „Essen“ und „Trinken“ des „Fleisches und Blutes“ des ([seiner Herkunft nach] himmlischen) Menschensohns bzw. der „wahren Speise und des wahren Tranks“ (Rückbezug zu V.32) bzw. „des Brotes, das vom Himmel herabgekommen ist“ (V.58), als notwendig für das ewige Leben und die Auferstehung von den Toten erklärt. Wie passt nun Jesu Antwort in V.43–46 zu V.41f. und V.47–51, wo es doch um Jesu Identität als „Brot, welches vom Himmel herabgekommen ist“, geht? Was haben das „Brot vom Himmel“, welches der Vater gibt und nicht Mose gegeben hat (V.32), und das Gelehrt-Werden durch Gott, den Vater, miteinander zu tun? Auf den ersten Blick scheinen hier zwei semantisch kaum kompatible Bereiche aufeinander zu treffen: auf der einen Seite der Bereich des Essens (Mannaerzählung) und auf der anderen der Bereich der Schule (eschatologische Lehrszene). Außerdem ist im Umfeld nicht die Rede von einem Lehren des Vaters bzw. einem Hören und Lernen vom Vater – wann und wo also findet die in V.45 beschriebene eschatologische Schul- bzw. Lehrszene statt? Gibt V.46 darauf eine Antwort? Besteht eine Verbindung zwischen der eschatologischen Lehrszene, wie sie durch V.45 evoziert wird, und der Tora, zumal aufgrund dessen, dass Lehre bzw. Unterweisung (vgl. nur Ex 24,12 MT) und die emphatische Verneinung eines Sehens Gottes, des Vaters (V.46) an den Sinai (Ex 33,20.23) erinnern?94 94

Vgl. ZENGER 2005: 49: „Nach der Tradition der Tora und der Schriftprophetie sind die ‚Gottesberge‘ Sinai und Zion die beiden herausragenden Orte, an denen JHWH als Lehrer Israels auftritt“, vgl. auch Ps 50(49) mit seinen zahlreichen Sinai-Zion-Verbindungen

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4. Kapitel: Die Rezeption der Sinaitradition in Joh 6,31f.45f.

Die skizzierten Verständnisschwierigkeiten, die durch die Eintragung der Elemente „Gelehrt-Sein“ und „den Vater sehen“ im Verhältnis zum Motiv „zu Jesus kommen“, entstehen, führen zu einem Bruch in der Lektüre, zumal unklar bleibt, wer denn die „alle“ sind, die Belehrte Gottes sein werden. Nun können die Lesenden zwar einfach weiterlesen und die semantischen Spannungen ignorieren; ab V.48 wird ja wieder die Mannaerzählung und mit ihr der semantische Bereich des Essens aufgegriffen. Doch Lesende, die den Text optimal verstehen wollen, müssen sich wie schon in V.32 die angespielten Prätexte vor Augen führen. Erst dann können sie zu einer vertieften Deutung des Ausgangstextes (Reintegration) gelangen und die aufgeworfenen Fragen einer Klärung zuführen. Im Rahmen dieser Studie interessiert besonders, ob speziell in V.32c und in V.45f. (indirekt) auf die Sinaitora und das Sinaiereignis angespielt wird. Zur Beantwortung der in diesem Teil aufgeworfenen Fragen kann eine Analyse der Prätexte mitsamt ihrer (früh-)jüdischen Auslegung einen wichtigen Beitrag leisten. Dabei sollen die Fragen leitend sein, wie das Manna gedeutet wurde, ob die Mannaepisode in einem Zusammenhang mit dem Sinaiereignis steht oder zumindest die Möglichkeit lässt, einen solchen herzustellen, ob ein solcher in der (früh-)jüdischen Auslegungstradition hergestellt wurde und schließlich, welche Rolle Mose beim Mannawunder spielt. Zum Zitat in Joh 6,45 ist ebenfalls nach einer Beziehung des Prätextes (wie er im [Früh]Judentum gedeutet wurde) zum Sinaigeschehen zu fragen. Dabei werde ich nicht auf die Erzählung der „zweiten“ Gabe der Sinaitora eingehen, als Mose das Sehen des Angesichtes Gottes verwehrt wird; dazu kann ich auf meine Analyse der Rezeption der Sinaitradition in Joh 1,14–18 verweisen. Da im Folgenden zwei Prätexte mitsamt biblischer Querverbindungen und dazugehörigen Auslegungstraditionen untersucht werden, erscheint es ratsam, die Digression in zwei separaten Teilen durchzuführen (Digression I und II). Daran schließt jeweils ein Punkt zu Echos und Entsprechungen an. Die Reintegration führt die Erkenntnisse aus den vorherigen Analysen zu einer Gesamtdeutung zusammen.

2. Digression I: Die Mannatradition 2. Digression I: Die Mannatradition

2.1 Herkunft des Zitats in Joh 6,31 Über die genaue Herkunft des Schriftwortes ist in der Forschung ausführlich diskutiert worden.95 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Ps 77,24 LXX („Ps 50 präsentiert […] JHWH in mehrfacher Hinsicht als Lehrer seines Volkes“ [ZENGER 2005: 52]). 95 Die folgenden Ausführungen können knapp ausfallen, da MENKEN 1988b; SCHUCHARD 1992: 34–38; OBERMANN 1996: 132ff. u.a. gründliche Untersuchungen vorgelegt haben, denen ich mich hier anschließen kann.

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2. Digression I: Die Mannatradition

verglichen mit anderen potenziellen Prätexten wie Ex 16,4a; 16,15b; Neh (2Esdr) 9(19),15a96 die meisten Übereinstimmungen zu Joh 6,31 aufweist,97 wie die folgende Übersicht zeigt:98 Joh 6,31

Ps 78(77),24

Ex 16,4.15

καθώς ἐστιν γεγραµµένον·

καὶ ἔβρεξεν αὐτοῖς µαννα φαγεῖν

εἶπεν δὲ κύριος πρὸς Μωυσῆν ἰδοὺ ἐγὼ ὕω ὑµῖν ἄρτους ἐκ τοῦ οὐρανου…

ἄρτον ἐκ τοῦ οὐρανοῦ ἔδωκεν αὐτοῖς φαγεῖν

καὶ ἄρτον οὐρανοῦ ἔδωκεν αὐτοῖς

Neh(2Esdr) 9(19),15a

καὶ ἄρτον ἐξ οὐρανοῦ ἔδωκας αὐτοῖς εἰς σιτοδείαν αὐτῶν

εἶπεν δὲ Μωυσῆς πρὸς αὐτούς οὗτος ὁ ἄρτος ὃν ἔδωκεν κύριος ὑµῖν φαγεῖν ‫יהם ָמן‬ ֶ ‫וַ יַּ ְמ ֵטר ֲ ֵל‬ ‫לֶ ֱאכֹל‬

‫ִהנְ נִ י ַמ ְמ ִט יר לָ ֶכם‬ ‫ן־ה ָשּׁ ָמ ִים‬ ַ ‫לֶ ֶחם ִמ‬

‫וְ ֶל ֶחם ִמ ָשּׁ ַמ ִים נָ ַת ָתּ ה ָל ֶהם‬ ‫לִ ְר ָ ָבם‬

‫ן־שׁ ַמ יִ ם נָ ַתן ָלמוֹ‬ ָ ַ‫ְוּד ג‬ ‫אמר מ ֶֹשׁה ֲאלֵ ֶהם‬ ֶ ֹ ‫וַ יּ‬ ‫הוּא ַה ֶלּ ֶחם ֲא ֶשׁר נָ ַתן‬ ‫ְיהוָ ה לָ ֶכם ְל ָא ְכלָ ה‬

Es sind aber auch einige Unterschiede zu verzeichnen: − In Joh 6,31 „fehlt“ das den zweiten Teil des Parallelismus im Psalm einleitende καί (analog das Mischzitat in Joh 19,37; vgl. auch 2,17, wo das ὅτι aus dem Prätext [wohl Ps 68,10 LXX]99 nicht zitiert wird). − Statt des Syntagmas „Himmelsbrot“ (ἄρτον οὐρανοῦ) hat Joh 6,31 die Präposition ἐκ + Genitiv und den zu οὐρανοῦ entsprechenden Artikel τοῦ. Die lokale Angabe ἐκ τοῦ οὐρανοῦ begegnet in Ex 16,4 LXX (auf diesen Text

96

Vgl. die Darstellung der verschiedenen Positionen bei RICHTER 1977: 202–211. Mit SCHUCHARD 1992: 37 u.a. gegen BORGEN 1965: 40ff. (Borgen argumentiert für Ex 16, nicht zuletzt, weil dies gut zu seiner These eines „common homiletic pattern“ passen würde; im Judentum bezog sich eine solche Homilie normalerweise auf einen Toraabschnitt); REIM 1995: 14. Zur Kritik an BORGENS These vgl. u.a. MENKEN 1988b: 42f. Nach MENKEN eignete sich Ps 78(77),24 aus Sicht der Menge, die das Schriftwort zitiert, am ehesten für eine Deutung auf Mose (vgl. 1988b: 54ff.). 98 Zum Verhältnis von MT und LXX in den folgenden Passagen urteilt MENKEN 1988b: 41: „In all four passages, the LXX gives an adequate translation of the Hebrew text, with one exception: in Ex. 16:4 the singular lèhèm is translated by the plural ἄρτους.“ 99 Vgl. OBERMANN 1996: 114f. 97

258

4. Kapitel: Die Rezeption der Sinaitradition in Joh 6,31f.45f.

bezieht sich Ps 77,24 LXX [s. die Analyse unter 2.1]).100 Die johanneische Rede vom Herabkommen Jesu „vom“ bzw. „aus dem Himmel“ (vgl. 6,38.41f.50f.58) knüpft daran an.101 − Der Infinitiv φαγεῖν in Joh 6,31 erscheint nicht in Ps 77,24b LXX, wohl aber im ersten Teil des synonymen Parallelismus in Ps 77,24 LXX102 und in Ex 16,15. In Ps 77,24 LXX steht er jedoch in Verbindung mit dem Begriff „Manna“, in Ex 16,15 dagegen mit dem Begriff „Brot“ wie in Joh 6,31. Folglich ist es aufgrund des Textvergleichs wahrscheinlich, dass hier ein Mischzitat aus Ps 77,24b LXX und Ex 16,4.15 LXX vorliegt. Demgemäß handelt es sich in Joh 6,31c um eine (relativ) wörtliche intertextuelle Einschreibung, die mit einer expliziten Markierung in Form einer Einleitungsformel versehen ist, deren Prätext auch benannt wird.103 Sowohl das Mischzitat aus Ps 77,24b LXX / Ex 16,4.15 als auch der Verweis auf das Essen des Mannas in der Wüste durch die Väter (Joh 6,31a) zeigen, dass die Lesenden ihre Aufmerksamkeit nicht nur auf Ps 77,24b LXX lenken sollen, sondern auch auf die durch diesen Text evozierte Erzählung aus der erinnerten Gründungsgeschichte Israels (vgl. v.a. Ex 16).104 Zudem knüpft der Psalm selbst an jene in der Tora (v.a. Ex 16; vgl. auch Num 11) berichtete Episode aus Israels Gründungszeit an,105 zumindest aus der Perspektive eines antiken Lesers. Speziell für Ps 77,24 LXX ist ein Verweis auf Ex 16 am plausibelsten. Dafür sprechen folgende Beobachtungen: − In Num 11 wird nicht vom Brot bzw. „Brot vom Himmel“ geredet wie in Ps 77,24b und Ex 16,4 sowie in Joh 6,31. Wenngleich in Ex 16 „Himmelsbrot“ nicht auftaucht, kommt dem Syntagma die Präpositionalphrase „Brote vom Himmel“ aus Ex 16,4 recht nahe. − Nach Ps 77,23–24a ist das Manna als Regen dargestellt, das aus den „Wolken von oben her“ bzw. den „Toren des Himmels“ regnet (ἔβρεξεν]). In Ex 16,4 LXX wird ein Verb im Zusammenhang mit den „Broten vom Himmel“ benutzt, das ähnliche Bedeutung hat: ὕω (ich [lasse] regne[n]). Im MT ist der Verweis noch deutlicher, da jeweils ein Verb mit derselben Wurzel 100

SCHUCHARD (1992: 37) sieht hier jedoch den Einfluss von Ps 77,26f. LXX. Vgl. MENKEN 1988b: 44f.; OBERMANN 1996: 133. 102 Vgl. MENKEN 1988b: 44. 103 Die intertextuelle Einschreibung selbst weist durch ihre Rekontextualisierung auf der sprachlichen Ebene ebenfalls eine explizite Markierung auf. Dies ist aber hinsichtlich der Identifizierung der intertextuellen Einschreibung als solcher wesentlich weniger bedeutsam als die Einleitungsformel. 104 Vgl. OBERMANN 1996: 150: „Die Assoziation der Hörer und Hörerinnen beim Wahrnehmen des johanneischen Zitats wird das Mannawunder insgesamt sein“; THEOBALD 1997: 328: „Joh 6 [unterhält] mit seinen zwei (!) Schriftzitaten samt haggadischer Anwesenheit von Ex 16 einen ungewöhnlich dichten Bezug zum Alten Testament.“ 105 Vgl. z.B. Ps 77(78),13 mit Num 11,1 (vgl. LEONARD 2008: 253f.). 101

2. Digression I: Die Mannatradition

259

Verwendung findet (Ps 78,24a: ‫ ;וַ יַּ ְמ ֵטר‬Ex 16,4: ‫) ַמ ְמ ִטיר‬. Folglich referieren „Manna“ und „Himmelsbrot“ in Ps 77,24 auf dieselbe Sache, die vom Himmel „regnet“. Num 11,9 zufolge ist das Manna dagegen wie Tau, das herabkommt. Zwar ist „vom Himmel“ wahrscheinlich impliziert, doch explizit wird dies in Num 11 nicht gesagt. − Das Essen (φαγεῖν) des Mannas bzw. Brotes wird sowohl in Ps 77,24a als auch in Ex 16,15 explizit erwähnt. 2.2 Sinaibezüge in anderen Manna-Texten des MT und der LXX Wie steht es nun mit anderen Manna-Texten hinsichtlich potenzieller Sinaibezüge? Ich beginne mit Ex 16, der ersten und grundlegenden Manna-Erzählung des Pentateuchs, gemäß LXX (z.T. verweise ich auch auf den MT). Die Erzählung wird mit einer Reisenotiz eingeleitet, die eine Verbindung zum Sinai herstellt; allerdings muss diese nicht signifikant sein mit Blick auf die Bedeutung des Mannas. Demnach brach das Volk von der Oase „Ailim auf und gelangte in die Wüste Sin, die mitten zwischen Ailim und Sinai liegt“ (Ex 16,1 LXX). Das Volk beginnt aufgrund seines Hungers zu murren, und es klagt Mose und Aaron an: „[I]hr habt uns in diese Wüste geführt, um diese ganze Gemeinschaft durch Hunger zu töten“ (V.3). Es geht im Folgenden also um Tod und (Über-)Leben. Gott antwortet erstaunlicherweise gnädig auf das Murren des Volkes gegen Mose und Aaron. Nach Ex 16,4 will Gott für Israel „Brote vom Himmel regnen lassen“ (ἐγὼ ὕω ὑµῖν ἄρτους ἐκ τοῦ οὐρανοῦ); man beachte das Präsens ὕω. Offensichtlich werden die Brote als Regen dargestellt, der vom Himmel herabkommt. Die Lokalangabe ἐκ τοῦ οὐρανοῦ begegnet in Ex sonst nur noch in Ex 20,22, wonach Israel selbst gesehen hat, dass „ich [sc. Gott] vom Himmel mit euch geredet habe“ (ὑµεῖς ἑωράκατε ὅτι ἐκ τοῦ οὐρανοῦ λελάληκα πρὸς ὑµᾶς).106 In Gottes Antwort (Ex 16,4) wird ferner deutlich, dass die „Brote vom Himmel“ und das Gesetz in einem Zusammenhang stehen (der hier jedoch nicht symbolischer Art zu sein scheint). So will Gott, dass die Israeliten „hinausgehen, und sie sollen den täglichen Bedarf einsammeln, damit ich sie auf die Probe stelle (πειράσω αὐτοὺς), ob sie mit meinem Gesetz wandeln werden (εἰ πορεύσονται τῷ νόµῳ [MT: ‫תוֹר ִתי‬ ָ ‫ ] ְבּ‬µου) oder nicht“; konkret geht es um den Sabbat. Dass Gott die Israeliten auf die Probe stellt, findet sich auch in der Sinaiepisode.107 Gemäß Ex 20,20 stellte Gott das Volk am Sinai auf die Probe (πειράσαι ὑµᾶς), als er zu Israel kam (παρεγενήθη ὁ θεὸς πρὸς ὑµᾶς). Mose und Aaron stellen nach der Rede Gottes klar, dass Gott Israel durch Mose und Aaron aus Ägypten geführt hat. Unter anderem das Mannawunder soll dies V.6f. gemäß erweisen: 106

Vgl. Neh(2Esdr) 9(19),13.15. Allerdings nicht nur dort; vgl. Ex 15,25 (im Zusammenhang mit Rechtssätzen und Rechtsentscheidungen, die wiederum in einem Konnex zur Sinaigesetzgebung stehen); Dtn 8,2 (mit Bezug auf die gesamte Wüstenwanderung). 107

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Am Abend [wenn es die Wachteln zu essen gibt] werdet ihr erkennen, dass der Herr euch aus dem Land Ägypten herausgeführt hat, 7 und in der Frühe [wenn Brote vom Himmel regnen] werdet ihr die Herrlichkeit des Herrn (τὴν δόξαν κυρίου) sehen, darin er euer Murren gegen Gott erhört.

Das Motiv der Herrlichkeit des Herrn im Zusammenhang mit der Mannaspeisung108 lässt ebenfalls einen Sinaibezug zu (vgl. Ex 24,16f.; aber auch Ex 33f.). Zu beachten ist weiterhin, dass V. 33f. zufolge eine Tagesration Manna (ein Gomor) für die Nachkommen aufbewahrt werden sollte, und zwar „vor Gott“ (V.33) bzw. „vor dem Zeugnis“ (V.34), d.h. im Allerheiligsten vor dem Gesetz, das sich in der Lade befand, „damit sie [= die Nachkommen] das Brot sehen, das ihr in der Wüste gegessen habt, als euch der Herr aus dem Land Ägypten herausführte“ (V.32). Allerdings bedeutet die räumliche Nähe nicht zwangsläufig eine tiefere Beziehung zwischen Manna und Gesetz.109 In V.13ff. wird unterstrichen, dass es sich nicht um gewöhnliches Brot, sondern um etwas Wundersames handelt, das vom Himmel regnet. Als die Israeliten am Morgen das Manna sehen, sagen sie nämlich zueinander (V.15): „Was ist das? Sie wussten nämlich nicht, was es war“. Mose identifiziert dieses unbekannte Etwas: „Dies ist das Brot [Sg.], das euch der Herr zu essen gegeben hat“ (οὗτος ὁ ἄρτος ὃν ἔδωκεν κύριος ὑµῖν φαγεῖν; V.15). Ohne Konjunktion fährt V.16 fort: „Das ist die Sache (oder das Wort), die (oder das) der Herr angeordnet hat… (τοῦτο τὸ ῥῆµα ὃ συνέταξεν κύριος).“ Das Demonstrativpronomen τοῦτο lässt sich sowohl auf das Nachfolgende als auch auf das Vorhergehende beziehen. Philos Interpretation (auf die ich noch näher eingehen werde) zeigt, dass τοῦτο durchaus anaphorisch gelesen werden konnte. Ferner finden sich in V.31 zwei Beschreibungen des Mannas, die für das Verständnis der Mannatradition wichtig sind. Das Manna schmeckte wie Honigkuchen und war weiß wie Koriandersamen. Am Ende der Erzählung (V.35) wird schließlich darauf hingewiesen, dass die Versorgung mit Manna 40 Jahre andauerte, genau so lange, wie Israel mit ihrem Führer Mose durch die Wüste zog. Wüstenwanderung und Manna sind also eng verbunden. In Num 11,6 wird berichtet, wie das Volk sich, von dem Aufbegehren des „Mischvolkes“ „angesteckt“, über das Manna beschwert.110 Dem schließt sich in V.7 eine z.T. von Ex 16 abweichende Beschreibung des Mannas, seines Aussehens bzw. seiner Gestalt, seines Gebrauchs und seines Geschmacks an. Im 108

Vgl. HOUTMAN 1996: 332: Normalerweise bezeichne das Syntagma „die Herrlichkeit JHWHs“, „the terrifying, glorious and powerful, real, personal presence of YHWH. However, that is not the case in 16:7. There the manifestation of the ‫ ְכּבוֹד יְ הוָ ה‬must be connected with the coming of the manna.“ 109 Vgl. HOUTMAN 1996: 354: „The reasons the manna was kept in the shrine are likely the following: it came from God and therefore is holy; equally as important as its being seen by Israel is its being seen by YHWH; it reminds him of his care for Israel; so he can be moved to once again acting on behalf of his people.“ 110 Vgl. auch Num 21,5.

2. Digression I: Die Mannatradition

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Verbund mit Ex 16,31 wird man ableiten können, dass das Brot nicht als fertig gebackene Brotfladen vorzustellen ist, sondern eher als „Getreidekörner“, wie es Ps 78,24b MT ausdrückt.111 Aus den Getreidekörnern konnte man Mehl mahlen und Brot backen. So wird das Bild vom „Brot“ als Regen auch eher verständlich. In V.9 heißt es dann, dass „wenn der Tau des Nachts auf das Lager fiel bzw. herabkam (κατέβη), fiel bzw. kam (κατέβαινεν) das Manna darauf herab“; impliziert ist wohl, dass der Tau vom Himmel herabkommt (vgl. Dtn 33,28). Eine explizite Lokalangabe (ἐκ τοῦ οὐρανοῦ) wie in Ex 16 oder Ps 77,24 LXX findet sich hier allerdings nicht. Eine für die Frage nach einer möglichen Verknüpfung zwischen Manna bzw. Brot und Tora bzw. Wort Gottes wichtige Passage findet sich in Dtn 8. Vor dem Eintritt in das verheißene Land ermahnt Mose das Volk nach Dtn 8,1: „Alle Gebote, die ich euch heute gebiete, sollt ihr halten, sodass ihr (sie) tut, damit ihr lebt (ζῆτε) und zahlreich werdet und hineingeht und das Land erbt, das der Herr euren Vätern zugeschworen hat.“ Unter diesen Vorzeichen des Lebens und Erbens steht dann die folgende Aufforderung, sich an die Wüstenwanderung zu erinnern. Mose selbst führt einige Aspekte jenes Weges vor Augen und deutet ihn zugleich. Zuerst kommt er auf das Manna zu sprechen: „Und er peinigte dich und ließ dich Hunger leiden und er speiste (ἐψώµισέν)112 dich mit Manna, das deine Väter nicht gekannt hatten (vgl. Ex 16,15), um dir kundzutun, dass der Mensch nicht vom Brot allein leben kann“ (V.3). Wenn der Mensch nicht nur von Brot leben kann bzw. soll (das Futur ζήσεται kann modal verstanden werden), was benötigt er noch zum Leben? Dem MT zufolge sagt Mose: „Sondern von allem, was aus dem Mund des HERRN hervorgeht, lebt der Mensch“. Doch was geht aus dem „Mund“ JHWHs hervor? Gemäß der LXX ist es das Wort: „[S]ondern dass der Mensch von jedem Wort (ἐπὶ παντὶ ῥήµατι; vgl. Ex 16,16) leben wird, das aus dem Mund Gottes herausgeht.“113 Eine wichtige Frage ist nun, ob man Manna und Brot gleichsetzen soll.114 Dann würde der Vers besagen, dass der Mensch nicht nur von Manna, das Brot ist, leben kann, sondern eben auch jedes Wort Gottes zum Leben benötigt. Bei einer Gleichsetzung ist jedoch schwer einzusehen, inwiefern die Mannaspeisung gerade dies kundtut. Gibt Gott den Israeliten nicht Brot bzw. Manna, also physische Speise zu essen? Wo wird in der Mannaerzählung deutlich, dass sie auch

111

Vgl. MAIBERGER 1983: 224. Vgl. WEVERS 1995: 145: „The verb ψωµίζω means to feed by putting bits of food into the mouth; the picture is that of a nurse putting morsels into a baby’s mouth.“ 113 Vgl. auch TgN Dtn 8,3. 114 Zum MT vgl. OTTO 2012 II: 910: „Gegen eine Entgegensetzung von Brot und Manna spricht, dass in der Referenzerzählung in Ex 16 das Manna wie das Brot als Nahrung gelten, sodass eine Entgegensetzung ohne weitere Erläuterung in Dtn 8,3b den Adressaten des Deuteronomiums unverständlich sein müsste.“ 112

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4. Kapitel: Die Rezeption der Sinaitradition in Joh 6,31f.45f.

noch von jedem Wort115 Gottes leben? Im Falle der Gleichsetzung von Manna und Brot scheint die Speisung mit Manna bzw. Broten vom Himmel geradezu kontraproduktiv zu sein; das Manna würde in Dtn 8,3 sogar abgewertet werden. Ist es von der Angabe der Absicht Gottes aus gesehen nicht sinnvoller, Manna und Brot zu unterscheiden? Könnte man Dtn 8,3 bei einer solchen Unterscheidung nicht auch so verstehen, dass das Manna aufgrund seiner Besonderheit symbolisch für jedes Wort steht, das aus dem Munde Gottes kommt und von dem der Mensch leben soll? „Jedes Wort (παντὶ ῥήµατι), das aus dem Munde Gottes herausgeht,“ ist jedenfalls einer von mehreren Gesetzestermini in Dtn 8 (vgl. z.B. τὰς ἐντολὰς αὐτοῦ [Dtn 8,2] oder καὶ τὰ κρίµατα καὶ τὰ δικαιώµατα αὐτοῦ [Dtn 8,11]). Von „Worten (ῥήµατά) Gottes“ war zuvor in Dtn verstärkt in Kapitel 4–5 die Rede. Die entsprechenden Belege (vgl. Dtn 4,10.12.13,36; 5,5.22) finden sich allesamt in der Nacherzählung der Sinaitheophanie, wonach Gott für das Volk hörbar bzw. sichtbar aus dem Feuer seine Worte gesprochen hat. Daher ist es naheliegend, einen Konnex zwischen „jedem Wort, das aus dem Munde Gottes geht“ (Dtn 8,3) und den Worten Gottes bei der Sinaitheophanie herzustellen. Interessant ist schließlich, dass die Lektion der Mannaspeisung gemäß Dtn 8,3 allgemeine Gültigkeit für die Menschheit besitzt (unter der plausiblen Voraussetzung, dass der Sg. „der Mensch“ generell für „die Menschheit“ steht)116: „der Mensch (ὁ ἄνθρωπος) lebt nicht allein…, sondern der Mensch (ὁ ἄνθρωπος) wird [oder kann bzw. soll] leben…“117 Das Buch der Weisheit Salomos bietet im 16. Kapitel eine recht ausführliche Nacherzählung der wunderbaren Versorgung Israels in der Wüste.118 Weish spricht jedoch nie vom Manna, sondern umschreibend und damit deutend von „Engelsnahrung“ (ἀγγέλων τροφή; Weish 16,20a [vgl. Ps 77,25a LXX]),119 mit der „du [sc. Gott] das Volk gefüttert hast (ἐψώµισας; vgl. Dtn 8,3.16)“, vom „fertig bereiteten Brot vom Himmel“ (ἕτοιµος ἄρτος ἀπ᾽ οὐρανου; Weish 16,20b),120 von „deiner (Lebens-)Grundlage“ bzw. von „deinem Wesen“ oder von „deiner Substanz bzw. Wirklichkeit“ (ἡ ὑπόστασίς σου (Weish 16,21a),121 von „Schnee und Eis“ (χιὼν καὶ κρύσταλλος; Weish 16,22a vielleicht in 115 Vom in Ex 16 im Vordergrund stehenden Sabbatgebot ist in Dtn 8,3 gar nicht die Rede, zumal es ja explizit heißt: „von jedem Wort“. 116 Vgl. VON SIEBENTHAL 2011: §131b. 117 Vgl. Lev 18,5. 118 Vgl. auch Weish 19,21 (auf diesen Text brauche ich nicht näher einzugehen, da er für meine Fragestellung nicht relevant ist). 119 Vgl. LAB 19,5. 120 Vgl. PHILO, mut. 258; congr. 173; BORGEN 1965: 16f. 121 Die Deutung ist schwierig (zumal das Wort ein breites Bedeutungsspektrum hat; vgl. LSJ, s.v.). Evtl. liegt ein philosophisch geprägtes Verständnis des Begriffs vor. Vgl. WINSTON 1979: 299: Er übersetzt mit „sustenance“ und kommentiert dies so: „Others translate ‚substance,‘ referring either to God’s substance as the power working in the manna or to the manna itself.“

2. Digression I: Die Mannatradition

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Anlehnung und Deutung von Ex 16,31 und Num 11,7), von dem „alle ernährenden Geschenk“ (ὁ παντοτρόφος δωρεά)122 und – am Schluss des Buches – von „ambrosischer Nahrung“ (ἀµβροσίας τροφῆς; Weish 19,21). Aus Sicht des Autors von Weish offenbarte (ἐνεφάνιζεν) Gott seine „Süßigkeit“ (τὴν σὴν γλυκύτητα) gegenüber seinen Kindern durch diese Speise, indem die Speise ihren Geschmack an die Vorliebe der Person anpasste, die sie zu sich nahm (V.20c, 21).123 Die Lektion, die „deine Söhne, die du liebgewonnen hast“, daraus lernen sollten (ἵνα µάθωσιν), ist gemäß Weish 16,26 die, „dass nicht die Erzeugnisse (des Feldes) an Früchten den Menschen nähren, sondern dein Wort (τὸ ῥῆµά σου) die dir Vertrauenden (im Sein und Leben) bewahrt (τοὺς σοὶ πιστεύοντας διατηρεῖ)“124. Dies greift wahrscheinlich Dtn 8,3 LXX auf.125 Der Autor von Weish interpretiert das Leben-vom-Wort-Gottes aus Dtn 8,3 demnach als Bewahrung der Gott Vertrauenden bzw. ihm Glaubenden durch das Wort Gottes, wobei das Wort Gottes durch die „Engelsnahrung“ auf einer sinnlich wahrnehmbaren Ebene repräsentiert wird.126 Im Kontext geht es um die Bestrafung der Gottlosen durch Regengüsse, Hagelschläge und v.a. Feuer (vgl. 16,16–19.24). Von dem Gericht wird Israel jedoch verschont, denn „die Schöpfung“ (ἡ κτίσις) „entspannt sich zum Wohltun für die, die auf dich ihr Vertrauen gesetzt haben“ (Weish 16,24), sodass es plausibel erscheint, dass in V.26 die Bewahrung der Glaubenden im Gericht Gottes im Blick ist. Dabei könnte angesichts von Weish 16,12ff. und 19,21 durchaus eine eschatologische Note mitschwingen (Bewahrung vor dem leiblichen Tod [entspricht dem Leben durch das Brot vom Himmel] – Bewahrung vor dem „seelischen“ Tod [entspricht dem Leben durch das Wort Gottes]). József Zsengellér und Tobias Nicklas deuten in ihren Studien die Ausdrücke „Engelsnahrung“ und „ambrosische Nahrung“ (eine klassische Bezeichnung für die Unsterblichkeit verleihende Nahrung der griechischen Götter) jedenfalls so, dass Manna mit Unsterblichkeit verbunden wird.127 2.3 Sinaibezug in Ps 77 LXX? Die Frage, die sich nun stellt, ist, ob der Psalm Hinweise für eine Verknüpfung von Mannaregen bzw. der Gabe des Brotes vom Himmel mit der Gabe der Tora 122

Vgl. PHILO, congr. 174; BORGEN 1965: 17. Diese Eigenschaft des Mannas erinnert an andere jüdische Aussagen über die Tora, die sich am Sinai an die Auffassungskraft eines jeden Hörers anpasste, um ihn/sie nicht zu überfordern (vgl. TgPs-J Ex 20,15; Mek Bachodesch 9 zu Ex 20,18 mit Hinweis auf Ps 29,4; PHILO, post. 142–145). Allerdings wird in Weish kein solcher Bezug expliziert. 124 Vgl. Weish 16,12: καὶ γὰρ οὔτε βοτάνη οὔτε µάλαγµα ἐθεράπευσεν αὐτούς ἀλλὰ ὁ σός κύριε λόγος ὁ πάντας ἰώµενος. 125 Vgl. PASSARO 2005: 183. 126 Vgl. PASSARO 2005: 183. 127 Vgl. NICKLAS 2010: 94f; ZSENGELLÉR 2010: 215. 123

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am Sinai bietet oder zumindest die Möglichkeit zu solch einer Verbindung lässt. Es fällt zunächst auf, dass Mose im ganzen Psalm überhaupt nicht vorkommt. Im Psalm ist dagegen häufig die Rede von „(seinem [sc. Gottes]) Gesetz“ ([Gesetz in V.1 bezieht sich nicht auf die Sinaitora], 5b, 10b), „ein Zeugnis“ (V.5a), „seine Zeugnisse“ (V.56b) „seinen [sc. Gottes] Geboten“ (V.7c), „(der) Bund (Gottes)“ (V.10a, 37b, 57a) – alles Begriffe, die im Zusammenhang mit der Gabe der Tora am Sinai stehen. Allerdings wird eine klare Assoziation mit dem Brot nirgends vorgenommen. Ferner wird in V.23–25 die „überirdische“ Herkunft und Qualität des Mannas bzw. Brotes betont. Es kommt aus den Wolken „von oben her“ (V.23a) sowie aus den „Toren des Himmels“ (V.23b) und ist „Himmelsbrot“ (V.24b); dass es „regnet“, impliziert, dass es „von oben“ bzw. vom „Himmel“ kommt, ebenso wie „Brot von Engeln“128 den „Himmel“ als den natürlichen Bereich der Engel beinhaltet. Dadurch wird deutlich, dass die Speise von „himmlischer“ Art ist. Solches himmlisches „Engelsbrot“ durfte ein Mensch, ein irdisches Wesen, essen! Trotz dieser Betonung und außergewöhnlichen Beschreibung ist eine Verbindung von Manna, Brot und Tora bzw. Wort Gottes aus dem Psalm allein nicht ersichtlich. 2.4 Sinaibezüge in Philos Deutung der Mannaepisode In Philos Schriften finden sich einige, z.T. relativ ausführliche Deutungen der Mannaepisode, die ich im Folgenden – soweit sie zur Beantwortung der Frage nach Bezügen zwischen der Mannaepisode und dem Sinaiereignis ergiebig sind129 – jeweils kurz analysieren möchte.130 Philo zitiert Ex 16,4131 in mut. 259 und deutet das Zitat folgendermaßen: „Von was für einer anderen Nahrung (τροφήν) nun sagt er mit Recht (ἐνδίκως), sie werde vom Himmel geregnet, als von der himmlischen Weisheit (τὴν οὐράνιον σοφίαν)?“ Die Brote vom Himmel (ἄρτους) werden hier mit Speise (τροφήν) gleichgesetzt (hier und auch an anderen Stellen) und schließlich mit der himmlischen Weisheit, die Philo gemäß ebenfalls eine Art „Speise“ ist,132 identifiziert. Weshalb ist diese Identifikation zwischen himmlischer Weisheit als „Speise“ sowie Broten vom Himmel als Speise berechtigt? Der Grund 128 Eine ausführliche Darstellung der Auslegungsgeschichte des Syntagmas im MT, das die LXX hier mit „Brot der Engel“ übersetzt, bietet vgl. MAIBERGER 1983: 228–232; Tg Ps 78,24: „Speise, die aus der Wohnung der Engel herabkam“ (‫)מזון דנחת ממדור מלאכיא‬. 129 Dies trifft u.a. nicht zu für Mos. I 191–208. 130 Text (wenn nicht anders vermerkt): COHN/WENDLAND 1896–1930; Übersetzung (wenn nichts anders angegeben): COHN/HEINEMANN/ADLER 1909–1938. 131 Allerdings etwas angepasst an seinen Argumentationsgang: z.B. hat er ἀπ᾽ οὐρανοῦ statt ἐκ τοῦ οὐρανοῦ; an anderen Stellen (s.u.) zitiert er durchaus in Übereinstimmung mit dem Wortlaut der LXX. 132 Den Konnex von Weisheit und Speise (vgl. u.a. Spr 9,5) setzt er hier voraus.

2. Digression I: Die Mannatradition

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besteht nach Philo darin, dass nur von der „himmlischen Weisheit“ (als „Speise“) „mit Recht“ (ἐνδίκως) gesagt werden kann, dass sie vom Himmel regnet; gewöhnliche Nahrung kommt nämlich nicht vom Himmel, sondern wächst auf der Erde, indem Menschen Landwirtschaft betreiben. Philo leitet also aus der ungewöhnlichen Herkunft des Brotes bzw. der Speise („es/sie regnet vom Himmel“) seine allegorische Bedeutung ab.133 Im Verlauf seiner weiteren Interpretation wird Weisheit noch mit Tugend verbunden (vgl. mut. 258 mit 260). Bei alledem vergisst Philo nicht, dass nach Ex 16,4 das Manna bzw. die Brote vom Himmel wie Regen fungieren. Dies bietet ihm die Möglichkeit, seine Allegorie im Bereich der Landwirtschaft noch weiter auszubauen (vgl. mut. 260). Angesichts der biblischen Mannaepisode (kein Manna am Sabbat)134 ist erstaunlich, dass Philo sagt, dass Gott die Weisheit ganz besonders am heiligen Siebenten (ἐν ἱερᾷ ἑβδόµῃ)135, der auch Sabbat genannt wird, von oben auf die Seelen, die sich nach der Tugend (verknüpft mit Weisheit) sehnen, sendet (ἐπιπέµπει)136, d.h. auf Juden bzw. deren Seelen (mut. 260). Was aber tun Juden am Sabbat? Gemäß Mos. II 215f. „philosophieren“ (φιλοσοφεῖν) sie, „wobei der Führer (ἡγεµόνος) Anleitungen und Belehrungen gab (ὑφηγουµένου καὶ διδάσκοντος) über das, was zu tun und zu sagen war, und die anderen dadurch an Tugend zunahmen und in Sitte und Lebenswandel sich veredelten. Seitdem beschäftigen sich noch bis heute die Juden an den Sabbaten mit der Philosophie ihrer Väter und widmen jene Zeit der Wissenschaft und dem Nachdenken über die Fragen der Natur“ (Mos. II 215f.). Aufgrund des juridischen Zusammenhangs (Rechtssprechung im Falle eines Sabbatbruches; Mos. II 213–220) und der Fortsetzung in Mos. II 216 („Bethäuser“ als Lehrstätten von φρονήσεως καὶ ἀνδρείας καὶ σωφροσύνης καὶ δικαιοσύνης εὐσεβείας τε καὶ ὁσιότητος καὶ συµπάσης ἀρετῆς) kann man hinter der Beschreibung Philos über die Beschäftigung mit der Philosophie der Väter die Belehrung in der Tora zu sehen.137 Es 133

Vgl. auch congr. 173f., wo PHILO viel Wert darauf legt, dass Manna eine Speise ist, die nicht wie üblich von der Erde, sondern vom Himmel kommt. 134 PHILO weiß darum (vgl. Mos. I 205; II 263f.). 135 „Tag“ ist hier wahrscheinlich zu ergänzen (vgl. Mos. II 213, wo eindeutig der Sabbattag gemeint ist). Zur weiteren Begründung vgl. BORGEN 1965: 112f. 136 Dieses Verb kommt in der LXX kaum vor (vgl. 3Makk 6,6; Spr 6,19; Weish 11,17), schon gar nicht im Zusammenhang mit der Mannaepisode. 137 Vgl. die Beschreibung der Essener (evtl. mit der Qumrangemeinschaft identisch; vgl. STEUDEL 2005: 99f.) in PHILOS Schrift prob. 80–83 (die hier gemachten Angaben entsprechen dem Zeugnis der Qumrantexte [vgl. STEUDEL 2005: 113]: „Mit dem Studium der Ethik jedoch befassen sie sich sehr, wobei sie als Lehrmeister ihre väterlichen Gesetze verwenden, welche die menschliche Seele ohne göttliche Inspiration nicht ersonnen haben kann. 81 In diesen Gesetzen werden sie zwar täglich unterrichtet, vornehmlich aber jeweils am siebten Wochentag. Der siebte Wochentag nämlich gilt als heilig. An ihm enthalten sie sich der sonstigen Verrichtungen und begeben sich zu geheiligten Orten, welche Synagogen genannt werden. Dort nehmen die Jüngeren zu Füßen der Älteren Platz; und so sitzen sie dann reihenweise, altersmäßig geordnet, mit dem gebührenden Anstand und sind bereit, die heiligen

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zeigt sich, dass in Philos Auslegung der Mannaepisode die „Brote vom Himmel“ allegorisch für die Weisheit stehen, wie sie sich in der Tora findet. Diese „regnet“ an jedem Sabbat auf diejenigen herab, die Verlangen nach Weisheit haben. Auch in LA III 162 zitiert Philo als biblischen Beleg seiner These, dass die Speisen der Seele himmlisch seien (οὐράνιοι αἱ ψυχῆς τροφαί), Ex 16,4. Seiner Ansicht nach nährt sich (τρέφεται) die Seele nicht von Irdischem und Vergänglichem (γηίνοις καὶ φθαρτοῖς), sondern von den Logoi, die Gott aus dem „Himmel“138 regnen lässt (ὀµβρήσῃ). Im Kontext legt Philo die Verfluchung der Schlange nach dem „Sündenfall“ aus. Dabei kommt er auf die „Zusammensetzung“ des Menschen zu sprechen (vgl. LA III 161). Seiner Meinung nach besteht der Mensch aus zwei Teilen: ψυχή und σῶµα. Der Leib wird, weil er selbst aus Erde ist, auch von dem ernährt, was von der Erde hervorgebracht wird (z.B. Brot aus Weizen). Die Seele dagegen, weil sie aus Aether (αἰθέρος) bzw. von aetherischer Natur (αἰθερίου φύσεως) ist, wird von „aetherischer und göttlicher“ (αἰθερίους καὶ θείας) Nahrung gespeist (τρέφεται), nämlich von Erkenntnis (ἐπιστήµη).139 Erkenntnis als „aetherische und göttliche Nahrung“ entspricht somit den vom „Himmel“, d.h. aus der „erhabenen und reinen Wesenheit“ bzw. Natur“140, regnenden Logoi (dafür sprechen die jeweils antithetischen Formulierungen und die Verwendung des gleichen Verbs τρέφω). Folglich ist für Philo die Angabe in der Schrift, dass die Brote bzw. die Speise vom Himmel kommt, der entscheidende Anhaltspunkt für seine allegorische Deutung. Gemäß LA III 164 soll der Mensch das „Manna“ (= die Erkenntnis) nicht horten, da dies Unglaube bedeutet – so als würde Gott nur in diesem Moment Gutes „regnen“ lassen –, sondern er soll jeden Tag nur eine entsprechende Portion Erkenntnis „sammeln“ und glauben, dass „jetzt und immer Gottes Gaben in reicher Fülle den Würdigen zuteil werden“ (καὶ νῦν καὶ ἀεὶ τὰς τοῦ θεοῦ χάριτας ἀφθόνως τοῖς ἀξίοις προσνέµεσθαι). Mit anderen Worten: Philo zufolge fällt „Brotregen“ immer wieder, nicht nur einst in der Vergangenheit. In LA III 169 zitiert Philo dann Ex 16,13–15141 und erklärt den Text so, dass die Speise der Seele, nämlich der Logos Gottes, genau wie der das Lager Israels Worte zu hören. 82 Dann nimmt einer die Bücher und liest vor, ein anderer aber, der zu den Erfahrensten gehört, tritt auf und erklärt, was nicht verstanden wurde. 83 Unterwiesen werden sie in der Frömmigkeit, Heiligkeit, Gerechtigkeit, in der Verwaltung von Haus und Staat, in dem Wissen um das wahre Gut und Übel sowie um das Indifferente, in der Wahl des Notwendigen und Flucht vor dem Gegenteil.“ 138 „Himmel“ ist nach PHILO die „erhöhte und reine Natur“ (LA III. 162). 139 Den philosophischen Hintergrund diskutiert BORGEN 1965: 122–130. 140 Vgl. zu dieser Vorstellung, die sich wohl aus der zeitgenössischen Naturwissenschaft speist, BORGEN 1965: 130–33. 141 Ex 16,13–15: „13 … In der Frühe aber geschah es, als der Tau rings um das Lager (κύκλῳ τῆς παρεµβολῆς) abgetrocknet war, 14 und siehe, da war etwas Feines auf der Oberfläche der Wüste … 15 die Israeliten … sagten …: Was ist das? … Mose aber sagte zu ihnen:

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umgebende Tau „die ganze (Seele) einkreisend umgibt und keinem Teil erlaubt, von sich selbst [sc. vom Logos] frei“ bzw. „unberührt zu sein“ (ὁρᾷς τῆς ψυχῆς τροφὴν οἵα ἐστί· λόγος θεοῦ συνεχής, ἐοικὼς δρόσῳ, κύκλῳ πᾶσαν περιειληφὼς καὶ µηδὲν µέρος ἀµέτοχον αὑτοῦ ἐῶν). Philo interpretiert den auffälligen asyndetischen Satzanschluss von Ex 16,16 zu V.15 so, dass sich V.16 auf V.15 und nicht auf das Folgende bezieht; das Brot steht mithin für den Logos Gottes.142 Dies geht deutlich aus LA III 173 hervor. Hier heißt es, dass Mose angesichts der Unwissenheit der Israeliten über das „Brot (vom Himmel)“ lehrt (διδάσκεται), dass dieses „Brot“ Gottes Wort ist, welches Gott gegeben hat (δέδωκεν), sodass es den Israeliten zur „Seelennahrung“ dienen kann: „Dies ist das Brot“ (Ex 16,15), das heisst die Nahrung, die Gott der Seele gegeben hat, dass sie nämlich sein Wort (τὸ ἑαυτοῦ ῥῆµα) und seinen Logos (τὸν ἑαυτοῦ λόγον) sich zuführen soll (προσενέγκασθαι); denn dieses Brot, das Gott uns zu essen gegeben hat (δέδωκεν ἡµῖν φαγεῖν), ist „dieses (sein) Wort“ (Ex 16,16).

Zu notieren ist ferner, dass Philo gleich im Anschluss daran auf Dtn 8,3 zu sprechen kommt (III 174f. ): „So heisst es (oder „er [sc. Mose] sagt“) auch im Deuteronomium (λέγει δὲ καὶ ἐν ∆ευτερονοµίω)…“ Dieser biblische MannaText dient für Philos Identifikation von Brot vom Himmel und Logos Gottes als weitere, wichtige Belegstelle. In LA III 175f. wird schließlich deutlich, dass Philo das Manna nicht von den Broten vom Himmel unterscheidet. Es sind nur zwei verschiedene Bezeichnungen für dieselbe Sache, für die sie aus Philos Sicht stehen, nämlich für den Logos Gottes, von dem der Mensch lebt. Eine weitere hier kurz zu betrachtende Stelle stammt aus Philos Schrift De Fuga et Inventione. Im Rahmen der Auslegung von Gen 22 spricht Philo auch über die Mannaepisode (Fug 137ff.). Die Frage der Israeliten, was das sei, das sie am Morgen auf der Oberfläche der Wüste vorfanden (Ex 16,14), formuliert Philo in die grundsätzliche Frage um, „was es sei, das die Seele ernähre“ (τί τὸ τρέφον ἐστὶ τὴν ψυχήν; Fug 137). Durch Moses Antwort (Fug 137) „fanden und lernten sie (µαθόντες), dass es Gottes Wort und die göttliche Vernunft (oder Logos [ῥῆµα θεοῦ καὶ λόγον θεῖον]) ist, woher (ἀφ᾽ οὗ) alle Arten von Bildung und Weisheit (πᾶσαι παιδεῖαι καὶ σοφίαι) in ewigem Fluß ausströmen“. Ex 16,4 legt Philo dementsprechend folgendermaßen aus: „Das ist die himmlische Nahrung (ἡ οὐράνιος τροφή), die in den heiligen Schriften durch den Mund des Schöpfers verkündet wird mit den Worten: ‚Siehe, ich lasse euch Brote vom Himmel regnen.‘“ Denn nach Fug 138 ist es schließlich Gott, der die aetherische Weisheit (τὴν αἰθέριον σοφίαν) von oben „herniederträufeln lässt“ (ἐπιψεκάζει; Präsens!). Diejenigen, die die himmlische Weisheit erfahren Dies ist das Brot (οὗτος ὁ ἄρτος), das euch der Herr zu essen gegeben hat (ὃν ἔδωκεν κύριος ὑµῖν φαγεῖν). 16 Das ist die Sache (τοῦτο τὸ ῥῆµα), die der Herr angeordnet hat (ὃ συνέταξεν κύριος)…“ 142 Die Eigenschaften des Mannas deutet er entsprechend auf das Wort Gottes (LA III. 170ff.), was hier nicht weiter verfolgt werden soll.

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haben, wollen auch wissen, was es sei, das „süßer als Honig und weißer als Schnee ist“143, und woher es kommt. Über Gott als Ursache der himmlischen Weisheit belehrt jedoch Mose, der Prophet (διδαχθήσονται δὲ ὑπὸ τοῦ θεοπρόπου), die Fragenden, wenn er sagt: „Dies ist das Brot [Sg.], das der Herr ihnen zu essen gab“ (Fug 139). Um welches „Brot“ handelt es sich nun? Antwort (Fug 139): „‚Es ist das Wort (τὸ ῥῆµα)‘, heißt es, ‚das der Herr angeordnet hat (συνέταξεν)‘ (Ex 16,16).“ Philo zufolge deutet Mose das Manna also als Brot, das Gott gemäß seiner Ankündigung gegeben hat, und anschließend als sein Wort (τὸ ῥῆµα). Diese göttliche Anweisung (ἡ θεία σύνταξις) „erleuchtet und erfreut (wörtl. versüßt)“ (φωτίζει τε ὁµοῦ καὶ γλυκαίνει) die Seele derer, die „dürsten und hungern (διψῶντας καὶ πεινῶντας)144 nach sittlicher Vollkommenheit (καλοκἀγαθίας), indem sie (die göttliche Anweisung) sie (die Seele) „durch Überredung – eine süße Tugend (πειθοῖ ἀρετῇ γλυκείᾳ) – erquickt“ (Fug 139). Mithin sind die „Brote“ bzw. das „Brot“ vom Himmel, verstanden als Wort und Logos Gottes, aus dem die „aetherische“ Weisheit fließt, himmlische „Speise“ und deshalb „Speise“ für die Seele, die ja selbst aetherischer Natur ist. Nun stellt sich die Frage, ob Philo (auch oder v.a.) auf die Sinaioffenbarung verweist, wenn er im Zusammenhang mit dem Manna bzw. Brot vom Himmel von der Weisheit, dem Wort Gottes, dem Logos Gottes, der Tugend usw. spricht? Ich meine, dass man diese Frage bejahen kann, zumal aufgrund von decal. 13ff. Nach biblischer Erzählung führte Gott Israel in die Wüste, um dem Volk die Gesetze am Sinai (direkt, aber auch vermittelt durch Mose [vgl. decal. 18]) zu geben. Dies wirft die Frage auf, weshalb die Gesetzgebung in der Wüste und nicht in Städten erfolgte (decal. 2). Philo nennt verschiedene Gründe dafür. Ein Grund lautet: „wer heilige Gesetze auf sich nehmen sollte, [müsse] zuvor die Seele von schwer zu tilgenden Flecken läutern und reinigen […], die ihr die Berührung mit allerlei zusammengelaufenem Volk in den Städten gebracht hatte“ (decal. 10). Hierzu bedarf es nach Philo der Trennung von allem, was die Seele befleckt. Er vergleicht dieses Vorgehen der Absonderung Israels mit dem von Ärzten: Diese geben den Kranken solange keine Speise und keinen Trank (σιτία καὶ ποτά), „bis sie die Ursachen der Krankheit entfernt haben; denn bleiben diese, so ist jede Nahrung (αἱ τροφαί) unnütz, ja sogar schädlich, 143

Das Manna schmeckte gemäß Ex 16,31 wie Honigkuchen und war weiß wie Koriandersamen, aber im Bibeltext ist nicht davon die Rede, dass das Manna „süßer als Honig und weißer als Schnee“ war. Wie lässt sich dies erklären? Die Rede von Schnee passt einigermaßen dazu, dass das Manna wie weißer Koriandersamen war. Doch dass die Israeliten fragen, was es ist, das „süßer als Honig“ ist, erinnert doch stark an atl. Texte wie Ps 18,10; 118,103 (vgl. auch Sir 24,20; Ez 3,3), wo es um die Rechtsbestimmungen/Worte Gottes geht. Diese Verbindung würde gut zur philonischen Deutung des Mannas/Brotes vom Himmel als Wort Gottes passen. 144 Vgl. Sir 24,21.

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denn sie wird nur weiterer Stoff für das Leiden“ (decal. 12). Philo fährt dann fort (decal. 13): Nachdem er [Gott oder Mose?] sie also vernünftigerweise von den schädlichen Berührungen in den Städten weg in die Wüste geführt hatte, um ihre Seelen (τὰς ψυχὰς) von Fehlern zu reinigen, begann er damit, den Gemütern (ταῖς διανοίαις) Nahrung (τροφάς) zu reichen (προσφέρειν). Welche andere Nahrung gäbe es aber als Gesetze und göttliche Lehren (oder: Worte; µὴ νόµοι καὶ λόγοι θεῖοι)?145

Einen weiteren Grund für die Wüste als Ort der Gesetzgebung übernimmt Philo von nicht näher genannten Personen, offensichtlich sind es jüdische Ausleger. Philo greift hier also auf Auslegungstradition zurück.146 Die „Gemüter“ (ταῖς διανοίαις) sollten demgemäß zu der Überzeugung gelangen, dass die Gesetze (τοὺς νόµους) nicht menschliche Erfindungen, sondern klare Orakel(sprüche) Gottes (θεοῦ χρησµοὺς σαφεστάτους; decal. 15) sind. Dazu wurde das Volk in eine tiefe Wüste geführt, wo es weder angebaute Früchte noch Trinkwasser gab. Gott aber versorgte die Israeliten entgegen ihrer Erwartung, vor Hunger und Durst zu sterben: „Der Himmel ließ als Nahrung das sogenannte Manna regnen“ (οὐρανοῦ µὲν ὕοντος τροφὰς τὸ καλούµενον µάννα; decal 16). Daneben schenkte Gott Wachteln und Wasser. Angesichts dieser wunderbaren Versorgung sollten sie sich nicht mehr wundern, dass die Gesetze Offenbarung (besser: Worte) Gottes seien (µηκέτι θαυµάζωσιν, εἰ λόγια θεοῦ συµβέβηκεν εἶναι τοὺς νόµους), da sie doch den greifbarsten Beweis (oder: klarsten Prüfstein [ἐναργεστάτην βάσανον]) an den Nahrungsmitteln hatten, die sie in der grössten Not empfingen, wo sie es am wenigsten erwarteten. (decal. 16)

Philo erläutert dies (angezeigt durch γάρ) im Anschluss: [Denn] der die Mittel zum Leben gab in Fülle (τὸ ζῆν ἀφθονίαν), gab (ἐδωρεῖτο) eben auch die Bedingungen zum rechten Leben (τὰς πρὸς τὸ εὖ ζῆν ἀφορµάς): zum Leben brauchten sie Speise und Trank (σιτίων ἔδει καὶ ποτῶν), und diese fanden sie ohne ihr Zutun, zum rechten Leben (πρὸς δὲ τὸ εὖ ζῆν) aber Gesetze und Verordnungen (νόµων καὶ διαταγµάτων), durch die sie ihre Seelen vervollkommnen sollten.

Von Gott kommt also das, was zum Leben dient, sowohl Speise und Trank als auch die Worte Gottes. Beides bezieht sich nach der Auslegungstradition, die Philo hier anführt, aufeinander. Die Israeliten sollten demgemäß aus der wunderbaren von Gott geschenkten Gabe der Nahrungsmittel in Fülle den Schluss ziehen, dass die Gebote ebenso von Gott kommen und ähnlich wie die Nahrungsmittel Leben schenken. Der Auslegungstradition zufolge weist also die Speisung mit physischer Nahrung, die das (Über-)Leben sicherte, auf die 145

Die Terminologie erinnert an LA III: „Speise/Nahrung“, „reichen“, „die göttlichen Gesetze und Logoi“ als Speise usw. 146 U.a. hat BORGEN nachgewiesen, dass Philo in seiner Auslegung der Mannaepisode auf palästinische Auslegungstraditionen zurückgegriffen und diese, wo nötig, modifiziert hat (vgl. 1965: 11,13 und öfter).

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Gebote, Gesetze und Verordnungen bzw. Worte Gottes, die ebenfalls zum Leben dienen, nämlich zum „guten“ bzw. „rechten Leben“. 2.5 Sinaibezüge in (früh-)jüdischen Deutungen der Mannaepisode Die Manna-Tradition in den palästinischen Targumim zu Ex 16; Num 11; 21; Dtn 8; Jos 5; Ps 78,23ff.; 105,40ff.; Pred 12,11; Hhld 4,5 hat u.a. Malina ausführlich untersucht.147 Folgende Aspekte sind aus meiner Sicht erwähnenswert: In den palästinischen Targumim (aber auch in TgO) ist vom „Herabsteigenlassen“ bzw. „Herabkommenlassen (vom Himmel)“ (‫ נחת‬im Haphel) des Mannas die Rede, wenn der MT vom „Herabregnen“ (‫ )מטר‬spricht.148 Diese Wiedergabe erfolgt auch in Ps 78,24 und in Ex 16,4. Angesichts der targumischen Übersetzung von Stellen im Pentateuch, wonach Gott den Regen auf die Erde „herabkommen“ lässt (vgl. nur Gen 7,4 in TgN, TgPs-J und TgO), ist dies nicht weiter verwunderlich; das Bild vom Mannabrot als Niederschlag bleibt gewahrt.149 Das hebräische Äquivalent zu ‫ נחת‬bildet Malina zufolge ‫ירד‬.150 Ein Beleg für die Wiedergabe des hebr. ‫ ירד‬mit dem aram. ‫ נחת‬findet sich in Num 11,9 (die LXX übersetzt ‫ ירד‬an dieser und an anderen Stellen mit καταβαίνω). Ferner ist zu notieren, dass das Brot, welches Gott nach TgPs-J Ex 16,4 vom Himmel herabkommen lässt, dort von Anfang der Schöpfung an für Israel bereitet war: „And the Lord said to Moses, ‚Behold, I will bring down for you bread from heaven, which has been reserved for you from the beginning.“151 Damit wird deutlich: „Himmel“ ist nicht im rein meteorologisch-kosmologischen, sondern im theologischen Sinne zu verstehen; zudem war das Brot nach targumischer Vorstellung präexistent. Möglicherweise gelangte man zu dieser Vorstellung aufgrund von Passagen wie Ex 16,15 oder Dtn 8,3, wonach die Israeliten bzw. „du und deine Väter“ das, was vom Himmel gekommen ist, nicht kannten und deshalb fragen mussten, was es sei, was sie da sahen. Daraus konnte man die Schlussfolgerung ziehen, dass das Manna im Himmel verborgen war und aufbewahrt wurde seit der Schöpfung bis zur Zeit der Wüstenwanderung.152

147

Vgl. MALINA 1968: 42–91 und passim. Ausführlicher MALINA 1968: 53ff. Er verweist auf JOSEPHUS, der in seiner Nacherzählung der Mannaepisode in Ant. III 26–32 das Verb καταπέµπω (in der LXX nicht belegt) benutzt, „a reliable version of the Aramaic ‫ נחת‬in the Aphel“ (1968: 54). 149 Etwas anders NYE-KNUTSON 2008: 212 (es werde „any association of the ‚bread of heaven’ with natural rain“ eliminiert). 150 Vgl. MALINA 1968: 53. 151 Übersetzung nach MAHER 1994: 207 (vgl. auch zur Erklärung ebd., Anm. 7; TgPs-J Num 22,28; TgPs-J Gen 2,2). 152 Vgl. NYE-KNUTSON 2008: 221. 148

2. Digression I: Die Mannatradition

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Die „himmlische“ = göttliche Herkunft und Präexistenz wird dadurch unterstrichen, dass in TgN Ex 16,13f., über den MT hinausgehend, zweimal die „kleine Wolke“153 erwähnt wird: 13. And it came to pass in the evening that quails came up and covered the camps, and in the morning there was a little cloud of dew round about the camp. 14. And the little cloud of dew went up and behold, (there was) on the face of the wilderness a thin substance, in particles, thin like white frost, upon the earth.

Nye-Knutson kommentiert zutreffend: „Considering the theological weight with which the clouds have been imbued in the Exodus narratives, it is doubtful that they would be deliberately inserted into Neophyti’s narrative merely to describe the unusual weather.“154 Viel eher scheint die Einfügung in Ausdeutung der Parallele von V.6–7 und V.13 in Verbindung mit V.10 im biblischen Text zu erfolgen, wo es heißt:155 6 Und Mose und Aaron sagten zu allen Söhnen Israel: Am Abend werdet ihr erkennen, dass euch der HERR aus dem Land Ägypten herausgeführt hat, 7 und am Morgen werdet ihr die Herrlichkeit des HERRN sehen, der euer Murren gegen den HERRN gehört hat. 10 Da geschah es, als Aaron zur ganzen Gemeinde der Söhne Israel redete und sie sich zur Wüste hinwandten, siehe, da erschien die Herrlichkeit des HERRN in der Wolke. 13 Und es geschah am Abend, da kamen Wachteln herauf und bedeckten das Lager. Und am Morgen war eine Schicht von Tau rings um das Lager.

TgN macht so deutlich, dass der Tau, der das Manna bzw. Brot mit sich bringt, von der Wolke, in der die Herrlichkeit Gottes erschien, stammt, also letztlich von Gott selbst. Zuletzt sei noch auf TgN Ex 16,15 hingewiesen. Der Bibeltext sowie der Text nach Díez Macho156 mitsamt der Übersetzung von McNamara lauten: MT Ex 16,15: ‫אמר מ ֶֹשׁה ֲאלֵ ֶהם הוּא ַה ֶלּ ֶחם ֲא ֶשׁר נָ ַתן‬ ֶ ֹ ‫ל־א ִחיו ָמן הוּא ִכּ י ל ֹא יָ ְדעוּ ַמ ה־הוּא וַ יּ‬ ָ ‫אמרוּ ִאישׁ ֶא‬ ְ ֹ ‫וַ ִיּ ְראוּ ְבנֵ י־ ִי ְשׂ ָר ֵאל וַ יּ‬ ‫ְיהוָ ה לָ ֶכם ְל ָא ְכלָ ה‬

Das sahen die Söhne Israel, und sie sagten einer zum andern: Was ist das? Denn sie wussten nicht, was es war. Mose aber sagte zu ihnen: Dies ist das Brot, das euch der HERR zur Nahrung gegeben hat TgN Ex 16,15: ‫[ ואמר משׁה להון הוא‬corr? ‫וחמון בני ישׁראל ואמרין גבר לאחוי מנא הוא ארום לא הון ידעין משׁה ]מה הוא‬ ‫לחמא די יהב ייי לכון למיכל במימרי דייי לכון למיכל‬

153 Die genaue Bedeutung des Ausdrucks ‫ עננית טלא‬ist schwer bestimmbar (vgl. MCNAMARA 1994: 71, der mit „little cloud“ übersetzt, in Anm. r jedoch noch alternativ „layer“ angibt und zu ‫ עננית‬schreibt: „a form otherwise unattested“), ein Zusammenhang zu „Wolke“ liegt aber nahe. 154 NYE-KNUTSON 2008: 214. 155 So NYE-KNUTSON 2008: 214. 156 DÍEZ MACHO 1970: 106.

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4. Kapitel: Die Rezeption der Sinaitradition in Joh 6,31f.45f.

And the children of Israel saw and said one to other: “What is it?” because they did not know (what it was). And Moses said to them: “It is bread, which the Lord has given to you to eat”.

In der spanischen Übersetzung der Textausgabe von Díez Macho und in der englischen Übersetzung von Geza Vermes157 heißt es dagegen: Y lo vieron los hijos de Israel y dijéronse unos a otros qué es él (o?: ¿es esto maná?), porque no conocían a Moisés (o?: qué era aquéllo). Y les dijo Moisés: Él (o: ello) es el pan que Yahweh os ha dado para comer. Lesart in der Marginalie: „por el Verbo de Yahweh a vosotros para alimento.“ The children of Israel saw and said to one another, mn’ hw’, for they did not know Moses. And Moses said, hw’ is the bread which the Lord has given you to eat. Lesart in der Marginalie: by the Memra (word) of the Lord for food.

Gemäß dem MT fragen die Israeliten: ‫ ָמן הוּא‬. TgN Ex 16,15 versteht dies nach Vermes Interpretation so, dass nicht gefragt wird, „Was ist das?“, sondern „Was/Wer ist er (= Mose)?“, da der anschließende Kausalsatz „denn sie kannten Mose nicht“ sonst ganz unpassend wäre. Moses Antwort auf die Frage der Israeliten sei dann so zu übersetzen: „Er (sc. Mose) ist das Brot, welches euch der Herr zu essen gegeben hat“ bzw. in der alternativen Lesart: „Er (sc. Mose) ist das Brot, welches euch durch das Wort des Herrn zur Nahrung gegeben worden ist.“158 In beiden Antworten sei deutlich, dass das himmlische Brot Symbol für „Mose“ ist.159 Dies wäre m.W. völlig singulär in der (früh-)jüdischen Auslegungstradition, sofern nicht „Mose“ für „Tora“ steht, er gleichsam „Logos and Torah incarnate“ wäre.160 Vermes führt zur Unterstützung dieser Deutung und der These von Mose als inkarniertem Logos bzw. inkarnierter Tora einen Text bei Philo an (migr. 122: ταῦτα δὲ τὸν ἱκέτην ἑαυτοῦ λόγον οὐκ ἀποστραφεὶς εἴωθε δωρεῖσθαι· λέγεται γὰρ ἑτέρωθι Μωυσέως ἱκετεύσαντος).161 Eine Diskussion darüber, inwieweit Mose bei Philo tatsächlich die inkarnierte Tora bzw. der inkarnierte Logos ist, würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Es ist jedenfalls das Verdienst von Vermes, auf TgN Ex 16,15 aufmerksam gemacht und eine originelle (dabei stark an Joh 6 erinnernde) Interpretation

157

VERMES 1969: 257. Vgl. VERMES 1969: 258. 159 Vgl. VERMES 1969: 258. 160 Vgl. VERMES 1969: 262: „in rabbinic tradition Moses is associated with manna and Tora, and manna is accepted as an allegorical Torah. In Philo, manna is connected with Logos, wisdom and Tora, and Moses is presented as Logos and Torah incarnate. In Neofiti, all these trends meet, making it possible for Moses the Lawgiver to identify himself, in circumlocutional speech, as the heavenly bread itself, a personification of the divine nourishment allotted by God to Israel.“ 161 Vgl. auch Mos. I 162: τάχα δ, ἐπεὶ καὶ νοµοθέτης ἔµελλεν ἔσεσθαι, πολὺ πρότερον αὐτὸς ἐγίνετο νόµος ἔµψυχός τε καὶ λογικὸς θείᾳ προνοίᾳ, ἥτις ἀγνοοῦντα αὐτὸν εἰς νοµοθέτην ἐχειροτόνησεν αὖθις. 158

2. Digression I: Die Mannatradition

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vorgelegt zu haben, die neuerdings von Nye-Knutson aufgegriffen wurde.162 Allerdings ist es möglich, den Kausalsatz mit „sie verstanden Mose nicht“ zu übersetzen (statt mit „sie kannten Mose nicht“), was Vermes personale Deutung von ‫ הוא‬erheblich unplausibler erscheinen lässt. Vielleicht handelt es sich hier lediglich um einen „scribal error“, zumal die anderen Targumim und antiken Übersetzungen die Lesart bzw. Deutung von TgN nicht teilen163 und sich die Interpretation von Vermes nicht völlig überzeugend in den Kontext einfügt.164 Eine interessante Rezeption der Mannatradition findet sich in der jüdischen Schrift JosAs,165 die wahrscheinlich schon ursprünglich in Griechisch „zwischen dem späteren 2. Jahrhundert v.Chr. und dem Bar Kochba-Aufstand 132– 135 n.Chr.“166 verfasst wurde.167 Auch wenn sich in JosAs168 nur schwer ein direkter Sinaibezug nachweisen lässt, könnte die Rezeption der Mannatradition für Joh 6 durchaus von Belang sein. Nachdem sich Aseneth, die Tochter Pentephres, des ägyptischen Priesters von Heliopolis (JosAs 1,3f.)169, aufgrund ihrer Begegnung mit Joseph (vgl. Kapitel 8) ihres Götzendienstes bewusst geworden ist (vgl. Kapitel 9), ruft sie Gott an, indem sie ihre Sünden (v.a. Götzendienst) bekennt und ihn um Hilfe anfleht (vgl. Kapitel 12f.). Daraufhin kommt ein „Mensch“ bzw. ein ranghoher Engel in Menschengestalt, nämlich „der Anführer des Hauses des Herrn und der Heerführer aller Heeresmacht des Höchsten“ (JosAs 14,8), zu ihr. Er verkündet ihr, dass ihr Gebet von Gott gehört und ihr Name in „das Buch der Lebenden im Himmel geschrieben [wurde]. Am Anfang des Buches, als erster von allen, ist dein Name mit meinem Finger geschrieben und wird in Ewigkeit

162

Vgl. NYE-KNUTSON 2008: 214ff. Vgl. MEEKS 1972: 59. Dem schließt sich CHILDS an (1974: 274, Anm. 15) und neuerdings KISTER (2013: 183; dort auch Hinweise darauf, wie der Fehler entstanden sein könnte). 164 Vgl. KISTER 2013: 183: Mose ist auch im TgN eindeutig vom Manna unterschieden; wenn Mose tatsächlich identifiziert wird mit dem Manna, müsste der folgende Satz nicht in der 3., sondern in der 1.Person Sg. lauten; Mose hat gemäß dem MT sein Aussehen nicht gewandelt, als die Israeliten das Manna sahen – warum sollten sie Mose nicht erkannt haben?; usw. 165 BURCHARD 1983: 591: „Grundsätzlich denkbar sind christliche Änderungen und Interpolationen bei der Übernahme ins Christentum oder bald danach, die textkritisch nicht erkennbar sind, weil die Überlieferung nicht so weit zurückreicht; aber die bisherigen Argumente überzeugen m.E. noch nicht.“ Vgl. auch VOGEL 2009: 23ff. 166 BURCHARD 1983: 614. 167 Wobei die folgenden Ausführungen deutlich machen, dass die Relevanz von JosAs für Joh 6 nicht primär mit dem „Brot des Lebens“, sondern mit dem Honig (= Manna) und seiner Bedeutung zusammenhängt. 168 Text und Übersetzung: REINMUTH 2009. 169 Die folgenden Stellenabgaben beziehen sich, wenn nicht anders angegeben, alle auf JosAs. 163

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nicht wieder ausgestrichen werden“ (15,4). Dem schließt sich folgende Ankündigung des Engels an: Siehe also: Von heute an wirst du wieder erneuert und wieder hergestellt und wieder lebendig gemacht werden. Und du wirst das gesegnete Brot des Lebens essen (φάγεσαι ἄρτον εὐλογηµένον ζωῆς) und den gesegneten Kelch der Unsterblichkeit trinken und wirst mit der gesegneten Salbe der Unvergänglichkeit gesalbt werden. (15,5)

Dies entspricht dem, was Joseph von sich selbst sagt, als er bei ihrer ersten Begegnung den (Begrüßungs-)Kuss der Aseneth ablehnt: Es geziemt sich nicht für einen gottverehrenden Mann, der mit seinem Mund den lebendigen Gott segnet und gesegnetes Brot des Lebens isst und den gesegneten Kelch der Unsterblichkeit trinkt und sich mit gesegneter Salbe der Unvergänglichkeit salbt, eine fremde Frau zu küssen, die mit ihrem Mund tote und stumme Götterbilder segnet und von ihrem Tisch Brot des Erwürgens isst und aus ihrem Trankopfer den Kelch der Hinterlist trinkt und sich mit Salbe des Verderbens salbt. (8,5)

Demnach steht „gesegnetes Brot des Lebens“, „gesegneter Kelch der Unsterblichkeit“ und „gesegnete Salbe der Unvergänglichkeit“ des Gottverehrers in einem Gegensatz zum „Brot des Erwürgens“, dem „Kelch der Hinterlist“ und der „Salbe des Verderbens“. Die jeweiligen drei Elemente sind eng verknüpft mit der im Kontext von JosAs nicht unbedingt kultisch170 zu verstehenden Verehrung des lebendigen Gottes (vgl. den Ausdruck „der mit seinem Mund den lebendigen Gott segnet“) bzw. mit dem (kultischen) Götzendienst und folglich mit Leben bzw. Tod. In der Ankündigung des Engels wird jedoch nicht nur etwas aufgenommen, was Joseph von Aseneth als Götzendienerin unterscheidet, sondern auch, was Joseph für Aseneth erbittet, nämlich nichts Geringeres als Neuschöpfung: Herr, Gott meines Vaters Israel, du Höchster und Starker Jakobs, der du das Universum lebendig machst und riefst es aus der Dunkelheit in das Licht und aus dem Irrtum in die Wahrheit und aus dem Tod in das Leben, du Herr, segne diese Jungfrau. Erneuere sie wieder mit deinem Geist und forme sie wieder mit deiner verborgenen Hand und mache sie wieder lebendig. Und sie möge essen das Brot deines Lebens und sie möge trinken den Kelch deines Segens und zähle sie zu deinem Volk, das du ausgewählt hast, bevor das Universum geworden ist. Und sie möge hineingehen in deine Ruhe, die du deinen Auserwählten bereitet hast. Und sie möge leben in deinem Leben auf ewig. (8,9)

Demzufolge geschieht „Wiederneuerung“ durch Gottes Geist, „Wiederformung“ durch Gottes verborgene Hand und „Wiederlebendigmachung“ mit bzw. durch Gottes Leben. Nach 12,2 wird Leben mit dem Wort Gottes in Verbindung gebracht: „denn du Herr, hast geredet, und alles wurde ins Leben gezeugt, und dein Wort (ὁ λόγος σου), Herr, ist aller deiner Geschöpfe Leben (ζωή ἐστι πάντων τῶν κτισµάτων σου).“ Unklar ist, in welchem Zusammenhang dazu das Essen des „Brotes deines Lebens“ und das Trinken des „Kelch[es] deines 170

Vgl. die Diskussion verschiedener Deutungen bei BURCHARD 1987: 109–117.

2. Digression I: Die Mannatradition

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Segens“ steht. Geschieht jene Neuschöpfung durch Geist, Hand, Leben, Wort Gottes irgendwie vermittelt durch das (Essen des) „Brot[es] deines Lebens“ usw.? Später wird der Engel von Aseneth eingeladen, sich zu Tisch zu setzen und Brot und Wein zu genießen. Der Engel geht darauf ein und bittet Aseneth um eine Bienenwabe (κηρίον µελίσσης) aus ihrer Vorratskammer. Aseneth hat eine solche nach eigener Angabe (16,6) jedoch nicht vorrätig: „Herr, es gibt keine Bienenwabe in meiner Vorratskammer.“ Nichtsdestotrotz schickt der Engel sie in die Vorratskammer mit dem Hinweis, dass sie dort eine Bienenwabe finden wird. Aseneth gehorcht und findet schließlich die Bienenwabe. Aus der folgenden Beschreibung geht hervor, dass es dem Erzähler wichtig ist, dass den Lesenden klar wird, dass es sich nicht um eine gewöhnliche Bienenwabe handelt: Und die Wabe (τὸ κηρίον) war groß, weiß wie Schnee (λευκόν ὡσεὶ χιὼν; vgl. Ex 16,14.31; Num 11,7 LXX; Weish 16,22) und voller Honig (πλήρης µέλιτος; vgl. Ex 16,31). Und der Honig war wie Tau vom dritten Himmel (δρόσος τοῦ οὐρανοῦ; vgl. Num 11,9) und sein Duft (πνοὴ) wie ein Hauch von Lebensgeist (πνοὴ ζωῆς). (16,8)

Burchard merkt dazu an: „Die Beschreibung zeigt, dass die Wabe Manna ist oder jedenfalls aus dem Stoff, aus dem das Manna war.“171 Aseneth ist darüber verwundert und schlussfolgert: „Ist diese Wabe wohl aus dem Mund dieses Menschen gekommen (ἐκ τοῦ στόµατος […] ἐξῆλθε), ist doch ihr Duft der Atem aus dem Mund dieses Menschen“ (16,9). Kurz darauf erläutert Aseneth dies gegenüber dem Engel: „Herr, ich hatte niemals eine Bienenwabe in meiner Vorratskammer. Aber du hast gesprochen und sie entstand (ἐλάλησας καὶ γέγονε; vgl. Gen 1). Ist sie gar aus deinem Mund herausgekommen? Denn ihr Duft ist wie der Atem deines Mundes?“ (16,11). Folglich wird die Bienenwabe mit dem Wort, das aus dem Munde des Engels herausgeht, assoziiert, ebenso wie der „Atem des Lebens“ mit dem „Atem deines (sc. des Engels) Mundes“. Man ist erinnert an den Manna-Text Dtn 8,3 LXX, wonach der Mensch „von jedem Wort leben wird, das aus dem Mund Gottes herausgeht (ῥήµατι τῷ ἐκπορευοµένῳ διὰ στόµατος θεοῦ ζήσεται ὁ ἄνθρωπος)“. Das Verständnis Aseneths hinsichtlich der Herkunft und des Wesens der Honigwabe führt der Engel auf göttliche Offenbarung der „unsagbaren Geheimnisse des Höchsten“ (16,14) zurück. Er preist glückselig alle, „die sich Gott dem Herrn in Umkehr anschließen, weil sie von dieser Wabe essen werden und diese Wabe der Geist des Lebens (πνεῦµα ζωῆς) ist. Und die Bienen des üppigen Paradieses Gottes [vgl. Gen 3,23] haben diese aus dem Tau (τῆς δρόσου) der Rosen des Lebens (ῥόδων τῆς ζωῆς) und aller Blumen gemacht, die im Paradies Gottes sind“ (16,14). Auch alle Engel Gottes, alle Auserwählten sowie alle Söhne des Höchsten essen die Wabe (und damit das Manna bzw. Engelbrot vgl. Ps 77,25a LXX), „denn diese ist eine Wabe des Lebens (κηρίον 171

BURCHARD 1983: 679, Anm. c) zu 16,8.

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4. Kapitel: Die Rezeption der Sinaitradition in Joh 6,31f.45f.

ζωῆς)“ (16,14). Der letzte Satz in diesem Redeabschnitt verblüfft trotz der vorherigen Syntagmata, die mit „Leben“ gebildet sind: „Und jeder, der von ihr isst, wird auf ewige Zeit nicht sterben“ (πᾶς, ὃς ἂν φάγῃ ἐξ αὐτοῦ, οὐκ ἀποθανεῖται εἰς τὸν αἰῶνα χρόνον; 16,14; vgl. Gen 3,22). Damit zeigt sich, dass mit dem „Leben“, von dem zuvor und danach im Zusammenhang mit der Bienenwabe (die im Zusammenhang zum Manna steht) die Rede war, das ewige Leben gemeint ist. Wenn die Bienenwabe das himmlische Manna, die Speise der Engel ist, wie gelangt JosAs dann zu solch einer Aussage? Nirgends wird in der atl. Mannatradition davon gesprochen, dass das Essen von Manna ewiges Leben verleiht. Leitet der Autor von JosAs dies vielleicht aus Ps 77,25a LXX ab: Engel sind unsterblich, weil sie himmlisches Manna essen? Oder greift er hier auf die Vorstellung des Mannas zurück, das im Himmel verborgen ist und in der Endzeit offenbar wird? Gemäß 2Bar 29,8 „wird [es] zu jener Zeit geschehen“, d.h. wohl wenn der Messias beginnt, offenbart zu werden (vgl. 2Bar 29,3), „dass aus der Höhe Mannaschätze wiederum herniederkommen“172 (29,8). So sollen die Gerechten im Land, die zuvor aufgrund der Hungersnot der Drangsalszeit hungerten (vgl. 29,6 mit 27,1.6), vom himmlischen Manna zehren, „weil die es sind, die ans Ende der Zeit gekommen sind“ (29,8). Es ist offensichtlich, dass hier die Wüstenwanderung Israels, bei der Israels Hunger durch das himmlische Manna gestillt wurde, evoziert wird und so die Gründungszeit Israels und die Endzeit mit der Offenbarung des Messias in ein Entsprechungsverhältnis zueinander zu stehen kommen. Doch wo ist innerhalb dieser Vorstellung von einer Vermittlung des ewigen Lebens durch das Manna die Rede bzw. wo ist dies impliziert? Vielleicht greift JosAs in kreativer Weise die Mannatradition auf und verwebt dabei diese Erzählung mit der Paradiesgeschichte. Innerhalb jener Erzählung sagt Gott gemäß Gen 3,22: „Und nun, dass er [sc. Adam] nur nicht die Hand ausstrecke und nehme von dem Baum des Lebens (τοῦ ξύλου τῆς ζωῆς) und esse (φάγῃ)! Dann wird er auf ewig leben (καὶ ζήσεται εἰς τὸν αἰῶνα).“ Man beachte, dass in jüdischer Auslegung der „Baum des Lebens“ mit der Tora bzw. Weisheit identifiziert wurde (vgl. Spr 3,18).173 Erhellend ist, dass in Sir 24 die Weisheit so dargestellt wird, dass sie aus dem Mund Gottes hervorgeht (24,2) und nach einigen „Zwischenstationen“ ihre Wurzeln im Volk Gottes schlägt (24,12). Mehrfach wird die Weisheit in V.13–17 mit verschiedenen Bäumen verglichen, u.a. auch mit einem „Rosengewächs in Jericho“ (ὡς φυτὰ ῥόδου ἐν Ιεριχω). Nach der Aufforderung, zur Weisheit zu kommen und sich an ihren Früchten zu sättigen, heißt es: „Denn die Erinnerung an mich ist süßer als Honig (τὸ µέλι), und mein Besitz (süßer) als die Honigwabe (µέλιτος κηρίον)“ (24,20; vgl. mit Torabezug Ps 18[19],11). Dass die Weisheit, die Sirach im 172 173

Übersetzung: KLIJN 1976: 142. Vgl. AVEMARIE 1996: 322, Anm. 51.

2. Digression I: Die Mannatradition

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Sinn hat, nicht von dem „Buch des Bundes des höchsten Gottes“ und von dem „Gesetz, das uns Mose geboten hat“ – der Sinaibezug ist evident –, isoliert gedacht werden darf, macht dann Sir 24,23ff. deutlich. Im Anschluss an die Seligpreisung isst der Engel nach JosAs 16,15 selbst einen kleinen Teil der Wabe, und „[d]as übriggebliebene schob er mit seiner Hand in Aseneths Mund“ (16,15). Obwohl es im Vorhergehenden nicht erzählt wurde – überhaupt spielt kein anderes Nahrungsmittel als die Bienenwabe in der Szene eine Rolle –, sagt der Engel dann zu ihr: „Siehe, nun aßest du (das) Brot des Lebens und trankst (den) Kelch der Unvergänglichkeit“ (16,16). Der Leben spendende Aspekt des Genusses der Wabe wird so erläutert, zumal der Engel damit fortfährt, dass Aseneth von nun an (wohl als Zeichen des erhaltenen Lebens) überaus große Schönheit besitzen und (aufgrund ihrer vorbildhaften Bekehrung174) „wie eine befestigte Mutterstadt all derer sein, die beim Namen des Herrn, des Gottes, des Königs der Ewigkeiten, Zuflucht nehmen“ (16,16). Die Wabe lässt der Engel danach wieder ganz werden und zeichnet mit seinem Finger ein Kreuz – in Entsprechung zur Verbindung der Himmelsrichtungen Osten und Westen sowie Norden und Süden – auf die Wabe (16,16f.). Aus den Zellen der Wabe kommen Bienen hervor. Sie sind offensichtlich keine „normalen“ Bienen, da sie „weiß wie Schnee“ waren und „ihre Flügel wie Purpur, wie Hyazinth, wie Scharlach und wie von golddurchwirkte Byssos-Gewänder. Und es waren goldene Diademe auf ihren Häuptern und sie hatten spitze Stacheln, aber sie taten niemandem Unrecht“ (16,18). Diese Bienen(königinnen) drängen sich um Aseneth, „von den Füßen bis zum Kopf“ (16,19). Neben diesen gibt es gemäß 16,19 noch andere Bienen, die „waren groß und auserlesen wie ihre Königinnen. Und sie brachen hervor aus der Wunde der Wabe“. Sie drängen sich jedoch um das Angesicht Aseneths und „bauten auf ihrem Mund und auf ihren Lippen eine Wabe, gleich der Wabe, die bei dem Menschen lag“ (16,19). Burchard zufolge bedeutet dies, „dass aus ihrem [sc. Aseneths] Mund analog 16,9ff. Lebensspeise kommen wird“175. Seltsamerweise aßen nach 16,20 „all die Bienen von der Wabe, die auf dem Munde Aseneths war“. Dies ist etwas verwirrend. Burchard schlägt folgende „allegorische“ Erklärung vor, allerdings mit Fragezeichen versehen: „Die Wabe die 174 Die Bekehrung Aseneths wird in JosAs gemäß Sänger als Exodusgeschehen dargestellt (vgl. SÄNGER 1979: 26ff.): „[Es] lässt sich sagen, dass in der bewussten Wahl der Formulierung ὁ ἐξαγαγών τὰ ἀόρατα εἰς τὸ φῶς [in JosAs 12,1] die alte Exodustradition des frühen israelitischen Stämmeverbandes hier neue Wirklichkeit wurde. Cum grano salis darf man von einer Spiritualisierung des Exodusmotivs sprechen, bei der das historische Ereignis innersubjektiv gedeutet und aktualisiert wurde. Dabei ist hervorzuheben, dass das Subjekt der Bekehrung, in unserem Fall die Proselytin Aseneth, des gleichen Segens und der gleichen Verheißung teilhaftig wird wie Abraham bzw. die durchs Schilfmeer geretteten und durch die Wüste gewanderten Israliten.“ 175 BURCHARD 1983: 684, Anm. c) zu 16,19.

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4. Kapitel: Die Rezeption der Sinaitradition in Joh 6,31f.45f.

Welt (die Himmelsrichtungen!), die Bienen V.17y–19a die Menschen, die sich Aseneth anschließen, die großen Bienen V.19b–20 die Israeliten, die stechenden Bienen V.22f. dann Leute wie Dan und Gad?“ Wenn es zutrifft, dass aus Aseneths Mund nun die „Lebensspeise“ (soviel wie Honig bzw. Manna) kommen wird, dann scheint doch wohl keine reale Speise als Referenzobjekt gemeint zu sein – weder hier noch zuvor. Wahrscheinlicher ist, dass der „Honig“, der aus Aseneths Mund und von ihren Lippen kommt, etwas mit Rede bzw. Worten zu tun hat. Den Worten aber liegt Erkenntnis Gottes (bzw. Weisheit) zugrunde; sie bringen die Erkenntnis Gottes (bzw. Weisheit) zum Ausdruck und vermitteln sie (vgl. Spr 3,16 LXX).176 Aseneth ist schließlich durch göttliche Offenbarung zur Erkenntnis Gottes (bzw. Weisheit) gelangt und wurde gerufen „aus der Dunkelheit in das Licht und aus dem Irrtum in die Wahrheit und aus dem Tod in das Leben“ (JosAs 8,9), kurz: vom Götzendienst zur wahren Anbetung. Aseneth ist insofern nichts weniger als eine Neuschöpfung. Durch ihre Worte bzw. Weisheit sollen andere Menschen vom Götzendienst, der den Tod mit sich bringt, zur Erkenntnis des lebendigen Gottes und somit zum Leben geführt werden.177 So lässt sich die Szene mit der Wabe als bildliche Darstellung der Bekehrung Aseneths deuten. Immer noch nicht ganz klar ist, wie sich dies zum „Brot des Lebens“, dem „Kelch der Unsterblichkeit“ und der „Salbe der Unvergänglichkeit“ verhält, von denen ja auch Joseph isst, trinkt und sich salbt; und zwar nicht nur einmal, sondern immer wieder (vgl. die Verben im Präsens in 8,5). Burchard meint dazu: „Das göttliche Leben, das der Mensch braucht, bekommt er täglich. Und zwar nicht, indem er das Gesetz lernt und hält oder mystische Erfahrungen macht […], sondern indem er auf eine bestimmte, jüdische Art isst, trinkt und sich salbt und die heidnische Art meidet. […] Juden eressen sich das Leben.“178

Dies ließe sich aufgrund meiner Lektüre von JosAs vorsichtig dahingehend präzisieren, dass in JosAs der jüdische Umgang mit Essen, Trinken und Salbung nicht von der Erkenntnis Gottes im Gesetz bzw. der Weisheit abgetrennt werden darf, sondern im Lichte der Erkenntnis Gottes geschieht bzw. der Ausdruck der Erkenntnis Gottes ist. Aseneth erhält die Erkenntnis des lebendigen Gottes bzw. Weisheit (narrativ dargestellt durch die Bienenwabe) und so das ewige Leben. Zugleich übernimmt sie damit ganz selbstverständlich den zum Leben führenden jüdischen Umgang mit Essen, Trinken und Salbung, der im Gegensatz zum Lebensstil der „toten“ Götzendiener steht. 176

Auch SÄNGER (1980: 195) deutet das Essen des Honigs (himmlisches Manna) im Sinne der „Inkorporierung der Weisheit Gottes in den Menschen im Bild von Essen und Trinken“. 177 So wie auch Aseneth durch Joseph zur Erkenntnis Gottes gelangt ist (vgl. 21,21; vielleicht narrativ umgesetzt in 19,11). 178 BURCHARD 1983: 604.

2. Digression I: Die Mannatradition

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In der Bienenwaben-Szene konnten keine expliziten Sinaibezüge festgestellt werden.179 Aber es ist m.E. plausibel, dass auf der Bedeutungsebene mittels der Wabe und deren Beschreibung, die ihrerseits sowohl auf die vielen Aspekte der Mannatradition als auch auf die Paradiesgeschichte und den Baum des Lebens anspielt, ein Bezug zur Erkenntnis Gottes bzw. zur Weisheit,180 wie sie die am Sinai gegebene Tora vermittelt, vorliegt.181 Ein rabbinischer Text, der von Forschern als Beleg für den Konnex zwischen Manna und Tora angeführt wird,182 findet sich in Mek Beshallah 1 zu Ex 13,17. Hier wird der Umweg, den Gott Israel durch die Wüste führte, u.a. so gedeutet: Eine andere Auslegung: Hätte Gott sie nicht dennoch [auf einfachem Weg] hinbringen können? Gott aber sagte: Wenn ich die Israeliten jetzt sofort in das Land bringe, werden sie sofort der eine sein Feld und der andere seinen Weinberg in Besitz nehmen und sich nicht um die Tora kümmern. Vielmehr lasse ich sie vierzig Jahre in der Wüste herumziehen, damit sie das Manna essen und vom Wasser des Brunnens der Tora183 trinken und die Tora sich mit ihren Körpern (‫ )בגופן‬vermischt (‫)נבללת‬.184

Demgemäß wollte Gott vermeiden, dass Israel das Studium der Tora aufgrund der alltäglichen Aufgaben im Land der Verheißung vernachlässigt. Dazu würde es aber kommen, wenn das Volk zu schnell dorthin gelangt. So beschließt Gott, Israel vier Jahrzehnte durch die Wüste zu führen. Während dieser langen 179

Da auf der Erzählebene das Gesetz noch nicht gegeben wurde (die Josephsgeschichte spielt nach biblischer Erzählung Jahrhunderte vor dem Sinaiereignis [vgl. VOGEL 2009: 18, Anm. 77]), ist es nicht weiter verwunderlich, dass die Erkenntnis Gottes nicht explizit an das Sinaigesetz (zum Toraverständnis in JosAs vgl. NIEBUHR 2009) gebunden erscheint und die Erkenntnis Gottes ihren Ausdruck u.a. im typisch jüdischen Umgang mit Essen, Trinken und Salbung findet. Ob der jüdische Umgang mit Essen, Trinken und Salbung für die Adressaten als pars pro toto für den jüdischen Lebensstil gemäß der Tora galt (so SCHNACKENBURG 1984: 128) oder welche Rolle das Gesetz für sie spielte, steht auf einem anderen Blatt. Es scheint mir jedenfalls (nicht zuletzt angesichts von Weish und Philos Schriften, die wohl in einem ähnlichen Milieu anzusiedeln sind wie JosAs) unwahrscheinlich, dass der Autor und seine Adressaten von einer vom Gesetz abstrahierten Erkenntnis Gottes und einem jüdischen Lebensstil, der auf den richtigen Umgang mit Essen, Trinken und Salbung reduziert gewesen ist, ewiges Leben erwarteten, zumal das sonst nirgends belegt ist (dies gibt BURCHARD [1987: 112] auch selbst zu). 180 Vgl. Sir 15,3. 181 Vgl. SCHNACKENBURG 1984: 129: „So wird in einer symbolischen, mystischen Sprache, die durch mancherlei Vorstellungen angereichert sein mag, eine Manna-Spekulation aufgenommen, die sich auch im palästinischen, rabbinischen Judentum nachweisen lässt, hier stärker auf die Tora als lebensspendende Kraft und als Verheißung des himmlischen und zukünftigen Lebens bezogen.“ 182 Vgl. z.B. BORGEN 1965: 152. 183 In LAUTERBACHS Textausgabe steht wörtlich: „vom Brunnen trinken“ [?!]; vgl. auch die Übersetzung LAUTERBACHS: „…having the manna to eat and the water of the well to drink, they will absorb the Torah“ (2004: 115). 184 Text: LAUTERBACH 2004: 115; Übersetzung: STEMBERGER 2010a: 101.

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4. Kapitel: Die Rezeption der Sinaitradition in Joh 6,31f.45f.

Wanderung gäbe es genügend Zeit, dass sich „die Tora mit ihren Körpern vermischt“. Dies sollte dadurch geschehen, dass das Volk Manna zu essen und das Wasser des Brunnens185 zu trinken hat. Doch wie genau ist dies gemeint? Offensichtlich wechselt der Text auf eine metaphorische Ebene: Manna und Brunnenwasser können gegessen bzw. getrunken werden und sich so mit dem Leib „vermischen“. Die Tora jedoch ist keine wirkliche Speise bzw. Getränk, die man essen bzw. trinken kann, sodass sie durch die Verdauung in den Körper gelangt und sich so gewissermaßen mit diesem vermischt, sondern eine geistige Größe (lässt man mal die auf eine physische Oberfläche geschriebene Tora außer Acht). Diese kann man nur im übertragenen Sinne „essen“ und „trinken“, sodass sie sozusagen „in Fleisch und Blut“ übergeht, d.h. verinnerlicht wird. Das Essen von Manna, das Trinken von Quellwasser und die „Vermischung“ dieser Lebensmittel mit dem Leib scheinen auf den ersten Blick den Prozess der Aneignung der Tora zu symbolisieren. Doch Kister hat zum einen darauf aufmerksam gemacht, dass ähnliche Ausdrücke wie die von der Vermischung der Tora mit dem Körper auch in anderen rabbinischen Texten begegnen, die aber nichts mit Manna oder mit Nahrungsmitteln jeglicher Art zu tun haben.186 Zum anderen lenkt er den Blick auf den Kontext. Die rabbinische Deutung zielte ja darauf, dass sich Israel aufgrund der wunderbaren Versorgung durch Manna und Wasser nicht um Speise und Trank (= Acker und Weinberg) kümmern musste und deshalb Zeit hatte, die Tora zu verinnerlichen. Der direkt auf die oben zitierte Passage folgende Ausspruch von Rabbi Simeon ben Jochai weist ebenfalls in diese Richtung: „Die Tora wurde zur Auslegung nur denen gegeben, die das Manna essen. Und ihnen gleich sind die, welche die Priesterhebe essen.“187 Ein ähnliches Diktum Simeon ben Jochais, nur etwas ausführlicher, begegnet noch in Mek Vayassa 3 zu Ex 16,4. Rabbi Jehoshua‛ [sagt]: Wenn ein Mensch zwei Halakhot am Morgen und zwei Halakhot am Abend lernt und den ganzen Tag seiner Arbeit widmet, rechnet man es ihm an, als ob er die ganze Tora erfüllt hätte. Von daher pflegte Rabbi Shim‛on ben Jochai zu sagen: Die Tora wurde zur Auslegung nur denen gegeben, die Manna essen. Wie kann denn jemand sitzen und auslegen, wenn er nicht weiß, woher er zu essen und zu trinken bekommt, woher er sich kleidet und zudeckt? Die Tora wurde also zur Auslegung nur denen gegeben, die Manna essen. Ihnen folgen an zweiter Stelle jene, die Priesterhebe essen.

Hier spielt der Aspekt des scheinbaren Entsprechungsverhältnisses zwischen Manna bzw. Wasser und Tora keine Rolle. Der Akzent liegt nur auf der

185 Vgl. LAUTERBACH 2004: 115, Anm. 4: „This refers to the so-called well of Miriam, a miraculous well, which accompanied the Israelites on their wanderings through the desert.“ 186 Vgl. KISTER 2013: 182. 187 Vgl. LAUTERBACH 2004: 117, Anm. 5: „I.e., priests who get their portion or share in the crop, ‫תרומה‬, without any effort on their part to produce it.“

2. Digression I: Die Mannatradition

281

Versorgung durch „Manna“.188 Konkret erfolgt diese Versorgung in Analogie zu den Priestern dadurch, dass den Toraschülern ihr Lebensunterhalt (durch das Volk[?]) bereitgestellt wird. In ExR 25 zu Ex 16,4 wird die Frage aufgeworfen, weshalb Israel eigentlich vom Manna essen und aus dem Brunnen trinken durfte: „Siehe, ich lasse euch Brot vom Himmel regnen.“ In Verbindung mit Prov 9,5: (Die Weisheit spricht:) „Kommt, esset von meinem Brote und trinket von dem Wein, den ich gemischt habe.“ Gott sprach: Wem habt ihr es zu verdanken (eig. wer verursachte es euch), vom Manna zu essen und aus dem Brunnen zu trinken? Weil ihr die Satzungen und Rechtsvorschriften angenommen habt, wie es heisst Ex. 15,25: „Dort gab er ihm (dem Volke) Satzungen und Recht,“ also im Verdienste meines Brotes habt ihr das Brot des Manna empfangen, und im Verdienste des Weins, den ich gemischt habe, habt ihr das Wasser des Brunnens getrunken, wie es heisst: „Und trinket von dem Wein, den ich gemischt habe“.189

In der Antwort auf die Frage „Wem habt ihr es zu verdanken…“ wird die Assoziation von Brot und Wein, der Weisheit, mit den Satzungen und Rechtsvorschriften, also mit der Tora, vorausgesetzt.190 Da Israel gemäß Ex 15,25 auch schon vor dem Mannawunder Satzungen und Rechtsbestimmungen erhielt, bildlich gesprochen: das Brot und den Wein der Weisheit bzw. Tora gegessen und getrunken hat, bekam es zur Belohnung Mannabrot und Brunnenwasser. Das Manna erfährt aber gemäß Kisters Untersuchung keine „allegorical interpretation in rabbinic literature“191. Nichtsdestotrotz kann man, so Kister, aufgrund verschiedener Ausdrücke zu der Schlussfolgerung gelangen, „that an allegorical-spiritual interpretation did exist in ancient (prerabbinic) tradition, and that it subsequently underwent a process of ‚concretization‘“. 2.6 Mose als Geber/Vermittler des Mannas in (früh-)jüdischen Texten In bTSota 35a heißt es – in einem Zusammenhang, wo es um die Rechtmäßigkeit der Führung Moses angesichts der Verleumdungen geht, denen Mose

188 189

Vgl. auch Mek Vayassa 6 zu 16,33. Übersetzung: WÜNSCHE 1882: 192 (Anmerkungen in den Klammern stammen von

dort). 190

In ähnlicher Weise ist in ExR 47 zu Ex 34,28 von der Tora als Brot, das man „essen“ kann, die Rede: „Brot ass er [sc. Mose] nicht, wohl aber hat er vom Brote der Thora gegessen, und Wasser trank er nicht, wohl aber hat er vom Wasser der Thora getrunken, und er lernte Thora bei Tag und ordnete es sich des Nachts. Und warum that er das? Um den Israeliten zu lehren, dass sie sich mit der Thora Tag und Nacht bemühen sollten.“ Wenig später ist zu lesen (auch zu Ex 34,28): „Oder: Woher ass er? Von der Thora s. Ezech. 3,1: „Menschensohn, iss, was du vor dir findest, iss diese Rolle.“ Und er ass sie. Warum? Denn die Thora ist süss, wie es heisst Ps. 19,11: „süßer als Honig und Honigseim.“ Oder: (Er ass) vom Brote der Thora, wie es heisst Spr. 9,5: „Kommt, esset von meinem Brote“ (Übersetzung: WÜNSCHE 1882: 326f.). 191 KISTER 2013: 170 (auch für das folgende Zitat).

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4. Kapitel: Die Rezeption der Sinaitradition in Joh 6,31f.45f.

ausgesetzt ist, nachdem die zwölf Kundschafter aus dem Verheißenen Land zurückkehren (vgl. Num 13f.): Als Jehošuâ zu sprechen angefangen hatte, riefen sie: Auch dieser Kastratenhäuptling [= Josua] will reden!? Da dachte er: Wenn ich sie zurechtweise, antworten sie mir ebenso [wie Kaleb] und bringen mich zum Schweigen. Daher sprach er: Hat uns der Sohn Âmrams etwa nur dies angetan!? Sie glaubten dann, er wolle zu seiner Beschimpfung sprechen, und schwiegen. Hierauf sprach er zu ihnen: Er führte uns aus Miçrajim spaltete uns das Meer und speiste uns mit dem Manna. Sollten wir etwa auf ihn nicht hören, selbst wenn er zu uns sagen würde, dass wir Leiter [sic!] machen und in den Himmel steigen!?192

Demzufolge soll das Volk Mose gehorchen, weil er sie aus Ägypten geführt, das Meer gespalten und sie mit dem Manna gespeist hat. Es ist unwahrscheinlich, dass „Josua“ nicht weiß, dass dies alles letztlich Gottes Werk ist. Vielmehr möchte er die göttliche Legitimation Moses zum Ausdruck bringen. Durch ihn hat seiner Auffassung nach Gott den Auszug aus Ägypten, die Spaltung des Meeres (Ex 14,11ff.) und die Speisung durch Manna (Ex 16) gewirkt. Man kann hier exemplarisch noch weitere Texte anführen, die ebenfalls von Mose reden, der das Manna für Israel herabkommen ließ. Sifre Dtn §339 (vgl. auch §337) lässt Mose (Dtn 32,50 deutend) vor seinem Tod sagen: Herr der Welt, warum sterbe ich? Wäre es nicht besser, wenn sie sagten: Gut ist Mose von Ansehen, als wenn sie sagen (müssen): Gut ist Mose vom Hören(sagen)? Wäre es nicht besser, dass sie sagten: Das ist Mose, der uns aus Ägypten herausführte und uns das Meer spaltete und uns das Manna herabkommen ließ und uns Zeichen und Krafttaten erwies…193

Oder in einem im Zusammenhang der Auslegung von Joh 6 oft zitierten rabbinischen Text (KohR 1,9) heißt es (Ex 16,4 deutend): R. Berekhja (um 340) hat im Namen des R. Jicchaq (um 300) gesagt: Wie der erste Erlöser (d.h. Mose), so der letzte Erlöser (= Messias). […] Wie der erste Erlöser das Manna herabkommen ließ, Ex 16,4: Siehe ich will auf euch Brot vom Himmel regnen lassen, so wird auch der letzte Erlöser das Manna herabkommen lassen, s. Ps 72,16: Weizenbrot wird auf der Erde liegen (so der Midr).194

Diese rabbinische Auslegung ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert: Zunächst überrascht, dass das Verb „herabkommen lassen“ in Ex 16,4 auf den ersten Erlöser = Mose bezogen wird, obwohl nach dem biblischen Text 192

Übersetzung: GOLDSCHMIDT 1912: 287f. Übersetzung: BIETENHARD 1984: 819. 194 Übersetzung: STRACK-BILLERBECK 1924: 481 (die Anmerkungen in den Klammern stammen auch von dort). Nach HldR 2,9f. lässt der Messias selbst das Manna herabkommen: „R. Jizchak bar Marjon sagte: Nach Verlauf der 45 Tage wird er [im Zusammenhang ist vom letzten Erlöser die Rede] ihnen erscheinen und das Manna für sie herabbringen. Es giebt nichts Neues unter [sic] Sonne“ (Übersetzung: WÜNSCHE 1880: 70). Vgl. aber RuthR 2,14 (132b) „R. Jicchaq b. Marjon (um 280) hat gesagt: Am Ende offenbart sich Gott über ihnen u. lässt ihnen Manna herabkommen; denn nichts Neues gibt es unter der Sonne“ (Übersetzung: STRACK-BILLERBECK 1924: 481; vgl. auch WÜNSCHE 1883: 41). 193

2. Digression I: Die Mannatradition

283

eindeutig Gott das Subjekt des Satzes ist. Vermutlich sollte man hier keinen Gegensatz Gott oder Mose konstruieren; stattdessen wird dies so zu verstehen sein, dass das Manna auf Vermittlung Moses herabgekommen ist, was verkürzt auch so gesagt werden kann, dass Mose das Manna herabkommen ließ. Desweiteren ist die exegetische Verbindung zwischen dem Mannawunder und Ps 72,16 zu notieren, die die Analogie zwischen erstem (Mose) und letztem Erlöser (Messias) stützen soll. Eine messianische Interpretation von Ps 72 wird dabei vorausgesetzt. Diese Auffassung von Mose als Geber bzw. Vermittler des Mannas findet sich auch in frühjüdischen Texten. In seinen Jüdischen Altertümern erzählt Josephus (Ant. III 26f. ), dass „Mose seine Hände zum Gebet erhob“ (ἀνέχοντος γὰρ τοῦ Μωυσέος τὰς χεῖρας ἐπὶ ταῖς εὐχαῖς) und daraufhin „Tau (δρόσος) fiel (κατηνέχθη; vgl. zur Übersetzung LSJ s.v.)“. Mit „Tau“ ist natürlich das Manna gemeint, wie aus Ant. III 27 hervorgeht: Mose „belehrt“ (ἀνεδίδασκεν) das Volk, dass „das vom Himmel Gefallene […] eine Speise zu ihrer Ernährung und Erhaltung“ sei. Mose ist also nach Josephus entscheidend an dem Mannawunder beteiligt, nicht nur durch sein Gebet; der Tau bleibt schließlich zuerst an seinen Händen kleben, er kostet ihn und erkennt darin die gottgebenene Speise (Ant. III 26), die er dann dem Volk (zum Kosten) anbietet, damit sie (kontextgemäß wohl zu ergänzen: seiner Lehre) glauben (Ant. III 27: καὶ γευοµένοις τοῦτο αὐτοῖς παρεῖχε πιστεύειν). Zu beachten ist, dass Josephus im Kontext erwähnt, dass das Volk sich gegen Mose auflehnt und ihn sogar steinigen will (vgl. Ant. III 11ff.), was einer Verachtung Gottes gleichkommt (Ant. III 21). Gott jedoch bestätigt Mose als den rechtmäßigen Führer des Volkes, indem er sein Gebet erhört und Manna sendet (κατέπεµπεν; Ant. III 26). Gemäß Josephus „sandte Gott, indem er Mose beschenkte, damals die Speise (καὶ τότε Μωυσεῖ χαριζόµενον τὸ θεῖον κατέπεµψε τὴν διατροφήν)“. Mose und Manna gehören auch nach LAB 20,8 so eng zusammen, dass mit dem Tod des Mose auch die Versorgung mit Manna endet, also dann, als die Israeliten ins Verheißene Land einziehen und erstmalig von den Erträgen des Landes essen (vgl. Jos 5,11f. ): Und nachdem Mose gestorben war, hörte das Manna auf, herabzukommen für die Söhne Israel, und sie begannen, zu essen von den Früchten des Landes. Und das sind die drei (Dinge), die Gott seinem Volke gab wegen dreier Menschen, das heißt den Wasserbrunnen des Bitterwassers wegen Maria und die Wolkensäule wegen Aaron und das Manna wegen Mose.195

195

Übersetzung: DIETZFELBINGER 1975: 156f. Vgl. HldR 4,5: „R. Jose sagte: Drei gute Pfleger (‫ )פרניןס‬erstanden den Israeliten, Mose, Aaron und Mirjam, wegen deren Verdienst ihnen drei köstliche Gaben zu Theil wurden, der Brunnen, das Manna und das schützende Gewölk der göttlichen Herrlichkeit. Das Manna wegen Mose“ (Übersetzung: WÜNSCHE 1880: 70).

284

4. Kapitel: Die Rezeption der Sinaitradition in Joh 6,31f.45f.

2.7 Zusammenfassung Im Vorhergehenden wurde den Fragen nachgegangen, woher das Zitat in Joh 6,31 stammt, wie das Manna gedeutet wurde, ob die Mannaepisode in einem Zusammenhang mit dem Sinaiereignis steht oder die Möglichkeit zu einer Verknüpfung bietet, ob ein solcher Konnex in der (früh-)jüdischen Auslegungstradition hergestellt wurde und ob Mose als Geber oder Vermittler des Mannas in (früh-)jüdischen Texten dargestellt wird. Die Ergebnisse lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: In Ps 77 LXX wird die himmlische Herkunft und Qualität des Mannas stark betont; eine klare Verbindung von Manna bzw. Brot und Tora ist aber nicht erkennbar. Ex 16, der Prätext von Ps 77,24 LXX, bietet selbst zwar keine eindeutigen Hinweise für einen solchen Konnex, doch die Lokalangabe ἐκ τοῦ οὐρανοῦ (Ex 16,4; vgl. Ex 20,22), die Versuchung Israels durch Gott (Ex 16,4; vgl. Ex 20,20), die Aufbewahrung des Mannas im Allerheiligsten vor dem Gesetz und besonders das Motiv der Herrlichkeit Gottes lassen die Möglichkeit einer Lektüre mit Tora- bzw. Sinaibezug zumindest offen. Dtn 8,3 LXX dagegen stellt explizit einen Zusammenhang zwischen Manna und Wort Gottes her, wenn man dort Brot und Manna unterscheidet. Weish 16 knüpft u.a. an Dtn 8,3 LXX an, wobei das Konzept des Lebens durch das göttliche Wort interpretiert wird als Bewahrung vor dem (vielleicht auch eschatologischen) Gericht durch das Wort Gottes. Philo deutet das Manna bzw. die Brote vom Himmel u.a. aufgrund der Angabe „vom Himmel“ im übertragenen Sinne als himmlische Weisheit, wie sie sich in der Tora findet, bzw. als Wort/e Gottes. Von dieser himmlischen Speise nährt sich die Seele. Einerseits „hat Gott dieses Brot uns zu essen gegeben“, nämlich als er „die Gesetze“ gab. Andererseits beschränkt sich der „Niederschlag“ der himmlischen Weisheit laut Philo nicht auf die Vergangenheit, sondern erfolgt immer wieder in der Gegenwart, insbesondere im Zusammenhang mit dem Torastudium. In den Targumim wird die „himmlische“, d.h. göttliche Herkunft auf verschiedene Art und Weise unterstrichen; nach TgPs-J Ex 16,15 ist das Manna sogar präexistent. Lässt man die umstrittene Identifizierung Moses mit dem Manna außer acht (vgl. Vermes Deutung von TgN 16,15), dann ist in den Targumim kein Konnex zwischen Manna- und Toragabe nachweisbar. In JosAs gibt es einen Mannabezug, insofern die Bienenwabe in auffällig ähnlicher Weise beschrieben wird wie das biblische Manna. Darüber hinaus verbindet sich mit dieser Wabe das ewige Leben: „Und jeder, der von ihr isst, wird auf ewige Zeit nicht sterben“ (16,14). Aus meiner Sicht steht die Bienenwabe in JosAs symbolisch für die Erkenntnis Gottes durch göttliche Offenbarung bzw. für Weisheit. Ein expliziter Konnex zwischen Honigwabe und Sinaigeschehen konnte allerdings nicht belegt werden. Implizit könnte dieser aber durch die Verbindung von Weisheit und Tora vorliegen.

3. Echos und Entsprechungen

285

Innerhalb der rabbinischen Literatur findet sich keine eindeutige Passage, wo das Manna symbolisch oder allegorisch auf die Tora bezogen wird. Zusammenfassend kann man sagen, dass es Belege für die übertragene Deutung des Mannas als Weisheit bzw. Tora gibt. Für die Deutung der Mannagabe bzw. für die Gabe des Brotes vom Himmel auf die Gabe der Tora vom Himmel am Sinai konnte ich jedoch, außer bei Philo und evtl. Dtn 8,3, keine klaren Belegstellen ausfindig machen. Allerdings ist naheliegend, dass die Rede von Tora bzw. Weisheit typischerweise das Sinaigeschehen impliziert. Zuletzt wurden Hinweise in einigen (früh-)jüdischen Texten gefunden, die dafür sprechen, dass man Mose bisweilen als Geber oder Vermittler der Mannagabe angesehen hat.196 Zum Teil steht diese Zuschreibung der Mannagabe an Mose im Dienste seiner Legitimation angesichts von Zweifeln an seiner Autorität als göttlichem Gesandten.

3. Echos und Entsprechungen 3. Echos und Entsprechungen

Da von den Manna-Texten explizit Ps 77,24b LXX im Verein mit Ex 16,4.15 zitiert wird, ist deutlich, dass u.a. mittels dieses Mischzitats auf die Mannaepisode der Wüstenzeit (Ex 16) Bezug genommen wird. Ps 78(77) und Ex 16 sind aus (früh-)jüdischer Sicht jedoch nicht von anderen Manna-Texten (Num 11; Dtn 8; Jos 5) zu isolieren. Ich sehe keinen Grund anzunehmen, dass für den johanneischen Jesus und den Evangelisten etwas anderes vorauszusetzen ist. Gemäß der Definition von „Echo“ in der Einleitung dieser Arbeit können Entsprechungen zur biblischen Mannatradition im johanneischen Text nicht als Echos gelten. Dennoch notiere ich in der folgenden Übersicht sowohl die Resonanzen der Kontexte der Prätexte im Umfeld des zitierten Schriftworts (Echos) als auch die Entsprechungen zur Mannatradition gemäß ihrem Vorkommen in ihrer literarischen Reihenfolge im Umfeld von Joh 6,31.197 So soll 196

Vgl. MENKEN 1988b: 46ff. SCHUCHARD (1992: 46) schlägt eine mögliche exegetische Begründung für Mose als Subjekt des Psalmwortes vor: „The crowd’s substitution of Moses for God as the subject of v.24 of the psalm may, in fact, recall vv.15–16 and 20 (where it is said that God struck the rock in the desert and water flowed out of it; cf. Exod 17.1–7 and Num 20.2–13 where Moses is the subject!).“ Eventuell spielte Ps 105,40 MT eine Rolle, denn im MT steht die 3.Person Sg. „er bat (‫ ; ָשׁ ַאל‬alle anderen Versionen wie LXX, Tg, Syr lesen den Plural) und er ließ Wachteln kommen. Mit Himmelsbrot sättigte er sie“ (zur Diskussion s. RICHTER 1977: 217). Wie dem auch sein mag, eins ist klar: Dass Mose als Geber/Vermittler des Mannas aufgefasst wurde, ist in (früh-)jüdischen Texten auf jeden Fall bezeugt. 197 Nicht in die Tabelle aufgenommen wurden sprachliche Berührungen zu Ps 77 LXX, die eine semantische Konvergenz eindeutig nicht bzw. eine semantische Differenz eindeutig erkennen lassen, oder wenn die Begriffe zu allgemein sind (wie z.B. θεός). Dies betrifft in Ps 77 LXX: τὰ ῥήµατα (Ps 77,1b; vgl. Joh 6,63c), (τοῦ) κυρίου (Ps 77,4b; vgl. Joh 6,34b),

286

4. Kapitel: Die Rezeption der Sinaitradition in Joh 6,31f.45f.

deutlich werden, dass die Entscheidung, ob ein Echo oder eine Entsprechung vorliegt, nicht immer einfach zu treffen ist. Dies dürfte damit zusammenhängen, dass die Mannatradition insgesamt den „Prätext“ bildet, wie das Mischzitat andeutet. Folgende Echos und Entsprechungen auf der sprachlichen Ebene sind zu notieren: Ps 77 LXX und Ex 16; Num 11; Dtn 8

Joh 6

Ps 77,13

διέρρηξεν θάλασσαν καὶ διήγαγεν αὐτούς ἔστησεν ὕδατα ὡσεὶ ἀσκὸν (vgl. auch 77,53b)

6,1

Μετὰ ταῦτα ἀπῆλθεν ὁ Ἰησοῦς πέραν τῆς θαλάσσης τῆς Γαλιλαίας τῆς Τιβεριάδος. (vgl. auch 6,16.17.18.19.22.25)

Ps 77,43

ὡς ἔθετο ἐν Αἰγύπτῳ τὰ σηµεῖα αὐτοῦ καὶ τὰ τέρατα αὐτοῦ ἐν πεδίῳ Τάνεως

6,2

ἠκολούθει δὲ αὐτῷ ὄχλος πολύς, ὅτι ἐθεώρουν τὰ σηµεῖα ἃ ἐποίει ἐπὶ τῶν ἀσθενούντων (vgl. auch 6,14.26.30)

Ps 77,54b

καὶ εἰσήγαγεν αὐτοὺς εἰς ὅριον ἁγιάσµατος αὐτοῦ ὄρος τοῦτο ὃ ἐκτήσατο ἡ δεξιὰ αὐτοῦ (vgl. auch Ps 77,68b)

6,3

ἀνῆλθεν δὲ εἰς τὸ ὄρος Ἰησοῦς καὶ ἐκεῖ ἐκάθητο µετὰ τῶν µαθητῶν αὐτοῦ (vgl. auch 6,15)

Ps 77,24

καὶ ἔβρεξεν αὐτοῖς µαννα φαγεῖν καὶ ἄρτον οὐρανοῦ ἔδωκεν αὐτοῖς; vgl. 77,20c: µὴ καὶ ἄρτον δύναται δοῦναι

6,5

…πόθεν ἀγοράσωµεν ἄρτους ἵνα φάγωσιν οὗτοι; (vgl. auch 6,7.9.11.13.23.26 [ἄρτος]; 6,23.26 [ἐσθίω])

Ex 16,8

καὶ εἶπεν Μωυσῆς ἐν τῷ διδόναι κύριον ὑµῖν ἑσπέρας κρέα φαγεῖν καὶ ἄρτους τὸ πρωὶ εἰς πλησµονὴν…

Ex 16,15

… εἶπεν δὲ Μωυσῆς πρὸς αὐτούς οὗτος ὁ ἄρτος ὃν ἔδωκεν κύριος ὑµῖν φαγεῖν

Ex 16,4

ὅπως πειράσω αὐτοὺς (εἰ πορεύσονται τῷ νόµῳ µου ἢ οὔ)

6,6a

τοῦτο δὲ ἔλεγεν πειράζων αὐτόν·

ἐποίησεν (Ps 77,4d; vgl. Joh 6,2.6.10 und öfter), γνῷ (Ps 77,6a; vgl. Joh 6,15.69), τῶν ἔργων τοῦ θεοῦ (Ps 77,7b [hier sind eindeutig die Werke, die Gott tut, gemeint]; vgl. Joh 6,28f.), σάρξ (Ps 77,39a; vgl. Joh 6,51 und öfter), πνεῦµα (Ps 77,39b; vgl. Joh 6,63), αἷµα (Ps 77,44a; vgl. Joh 6,53 und öfter), µὴ πίωσιν (Ps 77,44b; vgl. Joh 6,53 und öfter), ἐπείρασαν (Ps 77,56; vgl. Joh 6,6), ἐξελέξατο (Ps 77,70a; vgl. Joh 6,70), ἀνέβη (Ps 77,21c; vgl. Joh 6,62). Für die anderen Manna-Texte werden die sprachlichen Berührungen, die unbedeutend sind oder semantisch in eine völlig andere Richtung gehen, nicht gesondert notiert.

3. Echos und Entsprechungen Ps 77 LXX und Ex 16; Num 11; Dtn 8 Dtn 8,2

καὶ µνησθήσῃ πᾶσαν τὴν ὁδόν ἣν ἤγαγέν σε κύριος ὁ θεός σου ἐν τῇ ἐρήµῳ ὅπως ἂν κακώσῃ σε καὶ ἐκπειράσῃ σε καὶ διαγνωσθῇ τὰ ἐν τῇ καρδίᾳ σου εἰ φυλάξῃ τὰς ἐντολὰς αὐτοῦ ἢ οὔ

Ps 77,29a

καὶ ἐφάγοσαν καὶ ἐνεπλήσθησαν σφόδρα

Ex 16,12

εἰσακήκοα τὸν γογγυσµὸν τῶν υἱῶν Ισραηλ λάλησον πρὸς αὐτοὺς λέγων τὸ πρὸς ἑσπέραν ἔδεσθε κρέα καὶ τὸ πρωὶ πλησθήσεσθε ἄρτων καὶ γνώσεσθε ὅτι ἐγὼ κύριος ὁ θεὸς ὑµῶν

Ex 16,8

καὶ εἶπεν Μωυςῆς ἐν τῷ διδόναι κύριον ὑµῖν ἑσπέρας κρέα φαγεῖν καὶ ἄρτους τὸ πρωὶ εἰς πλησµονὴν…

Ex 16,5

καὶ ἔσται τῇ ἡµέρᾳ τῇ ἕκτῃ καὶ ἑτοιµάσουσιν ὃ ἐὰν εἰσενέγκωσιν καὶ ἔσται διπλοῦν ὃ ἐὰν συναγάγωσιν τὸ καθ᾽ ἡµέραν εἰς ἡµέραν

Ex 16,16

τοῦτο τὸ ῥῆµα ὃ συνέταξεν κύριος συναγάγετε ἀπ᾽ αὐτοῦ ἕκαστος εἰς τοὺς καθήκοντας γοµορ κατὰ κεφαλὴν κατὰ ἀριθµὸν ψυχῶν ὑµῶν ἕκαστος σὺν τοῖς συσκηνίοις ὑµῶν συλλέξατε

Ps 77,25b

ἐπισιτισµὸν ἀπέστειλεν αὐτοῖς εἰς πλησµονήν

Ps 77,3b:

οἱ πατέρες ἡµῶν διηγήσαντο ἡµῖν…

287

Joh 6

6,12a

ὡς δὲ ἐνεπλήσθησαν (ἄρτων κτλ. [vgl. 6,11]),

6,12c

συναγάγετε τὰ περισσεύσαντα κλάσµατα (vgl. auch 6,13a: συνήγαγον οὖν)

6,29

ἵνα πιστεύητε εἰς ὃν ἀπέστειλεν ἐκεῖνος

6,57a

καθὼς ἀπέστειλέν µε ὁ ζῶν πατὴρ

6,31a

οἱ πατέρες ἡµῶν τὸ µάννα ἔφαγον ἐν τῇ ἐρήµῳ

288

4. Kapitel: Die Rezeption der Sinaitradition in Joh 6,31f.45f.

Ps 77 LXX und Ex 16; Num 11; Dtn 8 Ps 77,8a

…ἵνα µὴ γένωνται ὡς οἱ πατέρες αὐτῶν γενεὰ σκολιὰ (vgl. auch Ps 77,5c.12a.57a)

Ps 77,19b

καὶ κατελάλησαν τοῦ θεοῦ καὶ εἶπαν µὴ δυνήσεται ὁ θεὸς ἑτοιµάσαι τράπεζαν ἐν ἐρήµῳ (vgl. auch 77,15 u.ö.)

Ps 77,24a

καὶ ἔβρεξεν αὐτοῖς µαννα φαγεῖν

Ex 16,32

εἶπεν δὲ Μωυσῆς τοῦτο τὸ ῥῆµα ὃ συνέταξεν κύριος πλήσατε τὸ γοµορ τοῦ µαν εἰς ἀποθήκην εἰς τὰς γενεὰς ὑµῶν ἵνα ἴδωσιν τὸν ἄρτον ὃν ἐφάγετε ὑµεῖς ἐν τῇ ἐρήµῳ ὡς ἐξήγαγεν ὑµᾶς κύριος ἐκ γῆς Αἰγύπτου (vgl. auch Ex 16,1)

Ex 16,35

οἱ δὲ υἱοὶ Ισραηλ ἔφαγον τὸ µαν ἔτη τεσσαράκοντα ἕως ἦλθον εἰς γῆν οἰκουµένην τὸ µαν ἐφάγοσαν ἕως παρεγένοντο εἰς µέρος τῆς Φοινίκης

Dtn 8,16

τοῦ ψωµίσαντός σε τὸ µαννα ἐν τῇ ἐρήµῳ ὃ οὐκ εἴδησαν οἱ πατέρες σου…

Ex 16,2

διεγόγγυζεν πᾶσα συναγωγὴ υἱῶν Ισραηλ ἐπὶ Μωυσῆν καὶ Ααρων

u.ö. Ex 16,4b

ἐγὼ ὕω ὑµῖν ἄρτους ἐκ τοῦ οὐρανοῦ καὶ

Ex 16,15

… εἶπεν δὲ Μωυσῆς πρὸς αὐτούς οὗτος ὁ ἄρτος ὃν ἔδωκεν κύριος ὑµῖν φαγεῖν

Ex 16,4b

ἐγὼ ὕω ὑµῖν ἄρτους ἐκ τοῦ οὐρανοῦ

Num 11,9

καὶ ὅταν κατέβη ἡ δρόσος ἐπὶ τὴν παρεµβολὴν νυκτός

Joh 6

6,32c–d

οὐ Μωϋσῆς δέδωκεν ὑµῖν τὸν ἄρτον ἐκ τοῦ οὐρανοῦ, ἀλλ᾽ ὁ πατήρ µου δίδωσιν ὑµῖν τὸν ἄρτον ἐκ τοῦ οὐρανοῦ τὸν ἀληθινόν·

6,33a

ἄρτος τοῦ θεοῦ ἐστιν ὁ καταβαίνων ἐκ τοῦ οὐρανοῦ

3. Echos und Entsprechungen Ps 77 LXX und Ex 16; Num 11; Dtn 8

289

Joh 6

κατέβαινεν τὸ µαννα ἐπ᾽ αὐτῆς Ex 16,4b

ἐγὼ ὕω ὑµῖν ἄρτους ἐκ τοῦ οὐρανοῦ

6,34b

δὸς ἡµῖν τὸν ἄρτον τοῦτον

Ex 16,4b

ἐγὼ ὕω ὑµῖν ἄρτους ἐκ τοῦ οὐρανοῦ

6,35b

ἐγώ εἰµι ὁ ἄρτος τῆς ζωῆς

Ps 77,22a

ὅτι οὐκ ἐπίστευσαν ἐν τῷ θεῷ

6,36c

καὶ ἑωράκατέ [µε] καὶ οὐ πιστεύετε (vgl. auch 6,64)

Ps 77,32b

ἐν πᾶσιν τούτοις ἥµαρτον ἔτι καὶ οὐκ ἐπίστευσαν ἐν τοῖς θαυµασίοις αὐτοῦ

Num 11,9

καὶ ὅταν κατέβη ἡ δρόσος ἐπὶ τὴν παρεµβολὴν νυκτός κατέβαινεν τὸ µαννα ἐπ᾽ αὐτῆς

6,38a

ὅτι καταβέβηκα ἀπὸ τοῦ οὐρανοῦ

Ex 16,4b

ἐγὼ ὕω ὑµῖν ἄρτους ἐκ τοῦ οὐρανοῦ

Ex 16,2

διεγόγγυζεν πᾶσα συναγωγὴ υἱῶν Ισραηλ ἐπὶ Μωυσῆν καὶ Ααρων

6,41a

Ἐγόγγυζον οὖν οἱ Ἰουδαῖοι περὶ αὐτοῦ

Ex 16,4b

ἐγὼ ὕω ὑµῖν ἄρτους ἐκ τοῦ οὐρανοῦ

6,41c–d

ἐγώ εἰµι ὁ ἄρτος ὁ καταβὰς ἐκ τοῦ οὐρανου

Num 11,9

καὶ ὅταν κατέβη ἡ δρόσος ἐπὶ τὴν παρεµβολὴν νυκτός κατέβαινεν τὸ µαννα ἐπ᾽ αὐτῆς

Ex 16,4b

ἐγὼ ὕω ὑµῖν ἄρτους ἐκ τοῦ οὐρανοῦ

6,42e

ἐκ τοῦ οὐρανοῦ καταβέβηκα

Num 11,9

καὶ ὅταν κατέβη ἡ δρόσος ἐπὶ τὴν παρεµβολὴν νυκτός κατέβαινεν τὸ µαννα ἐπ᾽ αὐτῆς

Ex 16,4

ἐγὼ ὕω ὑµῖν ἄρτους ἐκ τοῦ οὐρανοῦ

6,48

Ἐγώ εἰµι ὁ ἄρτος τῆς ζωῆς

s.o. neben Joh 6,31a

6,49

οἱ πατέρες ὑµῶν ἔφαγον ἐν τῇ ἐρήµῳ τὸ µάννα καὶ ἀπέθανον

Ex 16,4b

6,50

u.ö.

ἐγὼ ὕω ὑµῖν ἄρτους ἐκ τοῦ οὐρανοῦ

290

4. Kapitel: Die Rezeption der Sinaitradition in Joh 6,31f.45f.

Ps 77 LXX und Ex 16; Num 11; Dtn 8 Ex 16,8

καὶ εἶπεν Μωυσῆς ἐν τῷ διδόναι κύριον ὑµῖν ἑσπέρας κρέα φαγεῖν καὶ ἄρτους τὸ πρωὶ εἰς πλησµονὴν…

Ex 16,15

… εἶπεν δὲ Μωυσῆς πρὸς αὐτούς οὗτος ὁ ἄρτος ὃν ἔδωκεν κύριος ὑµῖν φαγεῖν

Num 11,9

καὶ ὅταν κατέβη ἡ δρόσος ἐπὶ τὴν παρεµβολὴν νυκτός κατέβαινεν τὸ µαννα ἐπ᾽ αὐτῆς

Ps 77,27a

καὶ ἔβρεξεν ἐπ᾽ αὐτοὺς ὡσεὶ χοῦν σάρκας (Plural!) (vgl. auch 77,39a)

Ex 16,4b

ἐγὼ ὕω ὑµῖν ἄρτους ἐκ τοῦ οὐρανοῦ

Ex 16,8

καὶ εἶπεν Μωυσῆς ἐν τῷ διδόναι κύριον ὑµῖν ἑσπέρας κρέα φαγεῖν καὶ ἄρτους τὸ πρωὶ εἰς πλησµονὴν…

Ex 16,15

… εἶπεν δὲ Μωυσῆς πρὸς αὐτούς οὗτος ὁ ἄρτος ὃν ἔδωκεν κύριος ὑµῖν φαγεῖν

Num 11,9

καὶ ὅταν κατέβη ἡ δρόσος ἐπὶ τὴν παρεµβολὴν νυκτός κατέβαινεν τὸ µαννα ἐπ᾽ αὐτῆς

Dtn 8,3

… οὐκ ἐπ᾽ ἄρτῳ µόνῳ ζήσεται ὁ ἄνθρωπος ἀc ᾽ ἐπὶ παντὶ ῥήµατι τῷ ἐκπορευοµένῳ διὰ στόµατος θεοῦ ζήσεται ὁ ἄνθρωπος

Dtn 8,3

Ps 77,3b

Joh 6 οὗτός ἐστιν ὁ ἄρτος ὁ ἐκ τοῦ οὐρανοῦ καταβαίνων, ἵνα τις ἐξ αὐτοῦ φάγῃ καὶ µὴ ἀποθάνῃ

6,51

ἐγώ εἰµι ὁ ἄρτος ὁ ζῶν ὁ ἐκ τοῦ οὐρανοῦ καταβάς· ἐάν τις φάγῃ ἐκ τούτου τοῦ ἄρτου ζήσει εἰς τὸν αἰῶνα, καὶ ὁ ἄρτος δὲ ὃν ἐγὼ δώσω ἡ σάρξ µού ἐστιν ὑπὲρ τῆς τοῦ κόσµου ζωῆς

… οὐκ ἐπ᾽ ἄρτῳ µόνῳ ζήσεται ὁ ἄνθρωπος ἀc ᾽ ἐπὶ παντὶ ῥήµατι τῷ ἐκπορευοµένῳ διὰ στόµατος θεοῦ ζήσεται ὁ ἄνθρωπος

6,57

καθὼς ἀπέστειλέν µε ὁ ζῶν πατὴρ κἀγὼ ζῶ διὰ τὸν πατέρα καὶ ὁ τρώγων µε κἀκεῖνος ζήσει δι᾽ ἐµέ.

ὅσα ἠκούσαµεν καὶ ἔγνωµεν αὐτὰ καὶ οἱ πατέρες ἡµῶν

6,58

οὗτός ἐστιν ὁ ἄρτος ὁ ἐξ οὐρανοῦ καταβάς, οὐ καθὼς ἔφαγον οἱ

3. Echos und Entsprechungen Ps 77 LXX und Ex 16; Num 11; Dtn 8

Joh 6

διηγήσαντο ἡµῖν (vgl. auch 77,5c) Ps 77,8a

ἵνα µὴ γένωνται ὡς οἱ πατέρες αὐτῶν γενεὰ σκολιὰ (vgl. auch 77,12a.57a)

Ex 16,4b

ἐγὼ ὕω ὑµῖν ἄρτους ἐκ τοῦ οὐρανοῦ

Ex 16,8

καὶ εἶπεν Μωυσῆς ἐν τῷ διδόναι κύριον ὑµῖν ἑσπέρας κρέα φαγεῖν καὶ ἄρτους τὸ πρωὶ εἰς πλησµονὴν…

Ex 16,15

… εἶπεν δὲ Μωυσῆς πρὸς αὐτούς οὗτος ὁ ἄρτος ὃν ἔδωκεν κύριος ὑµῖν φαγεῖν

Num 11,9

καὶ ὅταν κατέβη ἡ δρόσος ἐπὶ τὴν παρεµβολὴν νυκτός κατέβαινεν τὸ µαννα ἐπ᾽ αὐτῆς

Dtn 8,3

καὶ ἐκάκωσέν σε καὶ ἐλιµαγχόνησέν σε καὶ ἐψώµισέν σε τὸ µαννα ὃ οὐκ εἴδησαν οἱ πατέρες σου ἵνα ἀναy εί”ῃ σοι ὅτι οὐκ ἐπ᾽ ἄρτῳ µόνῳ ζήσεται ὁ ἄνθρωπος ἀc ᾽ ἐπὶ παντὶ ῥήµατι τῷ ἐκπορευοµένῳ διὰ στόµατος θεοῦ ζήσεται ὁ ἄνθρωπος

Ex 16,16a

τοῦτο τὸ ῥῆµα ὃ συνέταξεν κύριος

Dtn 8,3

… καὶ ἐψώµισέν σε τὸ µαννα ὃ οὐκ εἴδησαν οἱ πατέρες σου ἵνα ἀναγγείλῃ σοι ὅτι οὐκ ἐπ᾽ ἄρτῳ µόνῳ ζήσεται ὁ ἄνθρωπος ἀc ᾽ ἐπὶ παντὶ ῥήµατι τῷ ἐκπορευοµένῳ διὰ στόµατος θεοῦ ζήσεται ὁ ἄνθρωπος

291

πατέρες καὶ ἀπέθανον· ὁ τρώγων τοῦτον τὸν ἄρτον ζήσει εἰς τὸν αἰῶνα

6,63c

τὰ ῥήµατα ἃ ἐγὼ λελάληκα ὑµῖν πνεῦµά ἐστιν καὶ ζωή ἐστιν. (vgl. auch V.68)

Manche Berührungen auf der sprachlichen Ebene haben keinen erkennbaren semantischen „Effekt“. Dies betrifft zum einen Ps 77,13 / Joh 6,1 u.ö.: Zwar

292

4. Kapitel: Die Rezeption der Sinaitradition in Joh 6,31f.45f.

ist in beiden Texten von der θάλασσα die Rede, doch ist über das bloße Lexem hinausgehend keine klare Verbindung zur Nacherzählung des Schilfmeerwunders dieses Psalms ersichtlich.198 Ähnliches gilt zum anderen für die sprachliche Berührung zwischen Ps 77,54b und Joh 6,3: Der Berg, auf den Jesus nach Joh 6,3 steigt, ist nicht mit dem Sinai zu identifizieren, auf dem Mose nach jüdischer Tradition gelehrt hat, denn Jesus lehrt im Anschluss an diese Notiz nicht, sondern erst am folgenden Tag (vgl. [rückblickend] Joh 6,59). Anders erscheint der Sachverhalt bei den folgenden Echos, die wichtige Aspekte der Mannatradition evozieren: − Ps 77,43 / Joh 6,2.14.26.30: Jesu Zeichen der Brotvermehrung steht nach der plausibelsten Deutung in eschatologischer Entsprechung zur Mannaspeisung und damit zu einem der Zeichen, die Gott gewirkt hat (vgl. Num 14,11), wenn auch nicht in Ägypten. − Ps 77,24 / Joh 6,5.7.9.11.13.23.26 (ἄρτος); 6,23.26 (ἐσθίω): Die Lexeme „Brot“ und „essen“ kommen sowohl in Ps 77 als auch in Joh 6 vor. Sie gehören natürlicherweise zusammen. Der Psalm verweist auf die Ereignisse in der Wüste, Joh 6 sowohl auf das Speisungs- als auch das Mannawunder (vgl. Ex 16.8.15). − Ex 16,4; Dtn 8,2 / Joh 6,6a: Gemäß der Mannatradition „versuchte“ oder testete Gott Israel auf seinen Gesetzesgehorsam hin. Philippus’ „Versuchung“ durch Jesus (V.5) hat nicht dasselbe Ziel. Die Anmerkung des Evangelisten scheint auf den ersten Blick die Fehldeutung im Keim ersticken zu wollen, Jesus hätte nicht gewusst, wie er die große Menge hätte versorgen können, als er Philippus die Frage stellte, woher sie Brot für die Menge kaufen könnten.199 Genauer besehen zeigt sich aber, dass Jesus mit seiner Frage auf die Quelle des Brotes zielt und sehen will, ob einer seiner Jünger Glauben an Gottes Heilsoffenbarung in Jesus hat.200 Zunächst missversteht der Jünger dies; zuletzt aber erkennen die zwölf (bzw. elf) Jünger (Joh 6,68f.):201 „Wohin sollten wir gehen? Du hast Worte ewigen Lebens, und wir glauben fest und erkennen klar, dass du der Heilige Gottes bist.“202

198 Vgl. aber MENKEN 2004: 277f., der den Seewandel Jesu (Joh 6,19) mit Verweis auf Ps 77(76),20 vor dem Hintergrund des Handelns Gottes beim Durchzug Israels durch das Schilfmeer deutet. Ähnlich HYLEN 2005: 131ff. (mit weiteren mehr oder weniger überzeugenden Entsprechungen). 199 Gemäß HYLEN (2005: 123f) spielt die Frage Jesu auf Num 11,13 an. Allerdings geht es in Num 11,13 um Wachteln bzw. Fleisch und nicht um Brot. 200 So auch POPP 2001: 279. 201 Wenn die Jünger Identifikationsfiguren sind, ist ihr Erkenntniszuwachs sicherlich als nachahmenswertes Ideal für die Lesenden zu betrachten, die der Evangelist ja durch seine Erklärung zu „Insidern“ macht (so POPP 2001: 280f.). 202 Dieses (zweite) Bekenntnis der Jünger schlägt den Bogen zu ihren ersten Bekenntnissen zu Jesus als Christus (Joh 1,41.45.49) und bringt eine vertiefte Erkenntnis zum

3. Echos und Entsprechungen

293

− Ps 77,29; Ex 16,12 (vgl. auch 16,8) / Joh 6,12a: Joh 6,12 stellt in Übereinstimmung mit Ps 77,29 und Ex 16,12 fest, dass die Menge von den Broten (und Fischen) satt wurde. − Ex 16,5.16 / Joh 6,12c: Jesus fordert die Jünger nach Joh 6,12 dazu auf, die nach der Speisung übriggebliebenen Brocken einzusammeln, „damit nichts vergeht/verloren geht“ (vgl. Joh 6,27). Unklar ist, ob diese Anweisung etwas mit dem täglichen Einsammeln des Mannas zu tun hat (vgl. Ex 16,5.16), da jene Handlung dem Essen vorausgeht. Außerdem verdarb das Manna, wenn es aufbewahrt wurde, ausgenommen am Tag vor dem Sabbat203 und als es für spätere Generationen ins Allerheiligste gestellt werden sollte. − Ps 77,25b / Joh 6,29 (vgl. auch 6,57): Wie so oft fordert Jesus auch gemäß Joh 6,29 zum Glauben an ihn als den Gesandten des Vaters auf. Später bezeichnet er sich, den Gesandten, als „Brot des Lebens“ (V.35). Ps 77,25b zufolge sandte Gott den Israeliten Verpflegung bis zur Sättigung, wobei eindeutig das Mannabrot gemeint ist. − Ps 77,3b.8a.19b.24a; Ex 16,32.35; Dtn 8,16 / Joh 6,31: Die Menge verweist in einer Paraphrase zusammenfassend auf die Mannaepisode (Joh 6,31). Alle Elemente dieser Paraphrase finden sich sowohl im Psalm als auch in der Mannatradition wieder, allerdings nie in dieser engen Zusammenstellung. − Ex 16,2.4b.15 / Joh 6,32c–d: Gemäß Joh 6,32c–d nennt Jesus das zuvor von der Menge gemeinte, aber nicht explizit erwähnte Subjekt der Mannagabe beim Namen: Mose. Dieser spielt natürlich in der Mannaepisode auch eine gewisse Rolle, allerdings nicht die, die ihm die Menge zuschreibt. Denn nach Ex 16,4.15 ist eindeutig Gott der Geber des Brotes vom Himmel, zumal Mose selbst dies feststellt. Welche Rolle Jesus Mose zuschreibt oder leugnet (6,32), wird in der Gesamtdeutung zu diskutieren sein. Dass jedenfalls das Brot vom Himmel seinen Ursprung in Gott hat, geht aus der Mannaepisode eindeutig hervor.204 − Ex 16,4b; Num 11,9 / Joh 6,33a: Weder in der Paraphrase der Menge noch in dem Schriftzitat wird das Verb καταβαίνω in Verbindung mit „Brot“, das aus dem Himmel kommt, gebraucht. Allerdings taucht das Verb in Num 11,9 auf mit „Manna“ als Subjekt. Die Formulierung in Joh 6,33a ist daher nicht völlig ungewöhnlich, sie greift auf jeden Fall den Sprachgebrauch der Mannatradition auf und präsentiert so das „Brot“ als Niederschlag, lässt zugleich die Verbindung zum „herabgekommenen“ Jesus erkennen (vgl. 6,38 u.ö.). Ausdruck. Nichtsdestotrotz zeigen sich die Jünger später erneut als solche, die weiterer Erkenntnis bedürfen (vgl. z.B. Joh 14). 203 Vgl. HYLEN 2005: 127, die das „Sabbath manna“ mit den übriggebliebenen Brocken in Joh 6,12 in Beziehung setzt. Allerdings wird nicht so recht klar, was der semantische „Effekt“ dieser mutmaßlichen Anspielung sein soll. 204 Daraus folgt, dass Jesus die Schrift nicht mit seiner autoritativen (vgl. das doppelte Amen-Wort in V.32) Aussage korrigiert, sondern in autoritativer Weise deutet.

294

4. Kapitel: Die Rezeption der Sinaitradition in Joh 6,31f.45f.

− Ex 16,4b / Joh 6,34f.: Das Beziehungsgeflecht von Joh 6 und der Mannatradition wird in Joh 6,34f. weiter ausgebaut, indem das Brotmotiv aufgenommen wird. − Ps 77,22a.32b / Joh 6,36c: Jesus wirft der Menge vor, dass sie nicht glauben, obwohl sie [ihn] gesehen haben. Ps 77,22a.32b betont ebenso, dass die Väter ihren Glauben (i.S.v. „Vertrauen“) trotz der schon erfahrenen Hilfe nicht auf Gott setzten bzw. Gottes Wundern nicht glaubten. − Ex 16,2 u.ö. / Joh 6,41a: „Die Juden“ murren über Jesu Behauptung, er sei das Brot, welches vom Himmel gekommen ist. In der Mannaepisode erscheint dieses Motiv des Murrens häufiger und dient der negativen Charakterisierung des Volkes. So auch in Joh 6 im Anschluss an die Mannaepisode. − Ex 16,4b; Num 11,9 / Joh 6,41c–d.42e.48.50: Immer wieder spricht Jesus in den genannten Versen von sich als dem Brot, das vom Himmel herabgekommen ist und Leben gibt. Dabei knüpft er ganz klar an die Mannatradition an. − Ps 77,3b.8a.19b.24a; Ex 16,1.32.35; Dtn 8,16 / Joh 6,49: Jesus nimmt nach Joh 6,49 die narrative Abreviatur der Mannaerzählung, die die Menge gebraucht hat, auf (Joh 6,31a), allerdings ergänzt um die wichtige, nicht aus der Mannaepisode, jedoch aus der Tora stammende Information, dass „eure Väter gestorben sind“,205 was isoliert von dem Prätext Num 14,23 banal wäre, aber in Verbindung mit diesem als Folge des Gerichtes Gottes wegen ihres Unglaubens aufzufassen ist. Aus der Bedeutung von „nicht sterben“ am Ende von V.50 lässt sich ableiten, dass hier mehr als nur der natürliche bzw. biologische Tod impliziert ist.206 Was genau dieser Hinweis auf den Tod der Väter zu bedeuten hat, wird noch bei der Gesamtdeutung ausführlicher zu erläutern sein. Jedenfalls zeigt sich, dass der johanneische Jesus den größeren Zusammenhang, in den die Mannaepisode eingebettet ist, wahrnimmt und nicht bloß einzelne Verse im Blick hat. − Ps 77,27a; Ex 16,4b.8.15; Num 11,9; Dtn 8,3 / Joh 6,51: Gemäß Joh 6,51 ist Jesus das lebendige Brot, das vom Himmel gekommen ist, das ewiges Leben spendet, sofern es „gegessen“ wird. Das Manna konnte dies (natürlich) 205 Vgl. Num 14,23; Dtn 1,34f. Konsequenterweise müsste zu Joh 6,49 (vgl. auch V.58) ebenfalls die Desintegration aufgezeigt werden, in der Digression der Gang zu den Prätexten erfolgen und die Ergebnisse dessen in der Reintegration berücksichtigt werden. Allerdings liegen diese Prätexte außerhalb des Fokus auf die Sinaitradition, sodass eine solche Vorgehensweise den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde. 206 Vgl. RICHTER 1977: 228: „Es kann damit nicht der natürliche Tod – der Tod im biologischen Sinn – gemeint sein. Das wäre nämlich in der Situation der Lebensbrotrede kein Argument gegen das Manna als wahres Brot aus dem Himmel, weil ein solches Sterben auch für diejenigen zutrifft, die das wirkliche Brot aus dem Himmel (= das Brot des Lebens) essen, d.h. an Jesus glauben (vgl. Jo 11,25b). Der Evangelist operiert hier vielmehr mit der haggadischen Anschauung, dass die Wüstengeneration wegen ihres Ungehorsams gegen Gott keinen Anteil an der zukünftigen Welt hat, die mit der allgemeinen Totenauferweckung und dem Weltgericht beginnt.“

3. Echos und Entsprechungen

295

nicht, es verweist daher auf das „Brot vom Himmel“. Zusätzlich evoziert das Motiv des Lebens durch das „Essen“ des „Himmelsbrotes“ den Mannatext Dtn 8,3, wonach Manna das Symbol für das Wort Gottes ist, von dem die Menschheit leben soll. Nicht so ganz klar ist, ob sich die unmittelbar mit dem „Himmelsbrot“ verbundene Rede vom „Fleisch“ Jesu (V.51) auf das „Fleisch“ der Wachteln bezieht.207 Ich tendiere dazu, hier keinen Zusammenhang anzunehmen, u.a. da Manna und Wachteln in der Mannatradition nicht identifiziert werden wie „Himmelsbrot“ und „Fleisch“ in Joh 6208. Viel eher greift Jesus mit „Fleisch“ (also ein [im Vergleich zu Gott und seinen Engeln] schwacher und sterblicher Mensch)209 den Einwand „der Juden“ auf (V.41f.), wonach Jesu nachweislich irdische Herkunft gegen seine Identifikation mit dem „Brot, das vom Himmel herabgekommen ist“ (dies impliziert göttliche Herkunft), spricht. Stellt man in Rechnung, dass die Rede vom „Brot“ als „Fleisch“ (und „Blut“), das Jesus geben wird, auf die Passion verweist, dann zeigt sich, dass auch das Kreuzesgeschehen aus Sicht „der Juden“ ein wichtiger Grund ist, Jesu Anspruch abzulehnen.210 Aus Sicht Jesu aber zielen die Inkarnation und die Passion darauf, ihnen und der Welt das Leben zu geben. Das Ärgernis „der Juden“ wird so nicht ent-, sondern verschärft. − Dtn 8,3 / Joh 6,57: Gemäß Joh 6,57 wird derjenige, der Jesus „isst“, durch ihn leben, wie auch „der Mensch“ nach Dtn 8,3 von dem Wort Gottes leben soll. − Ps 77,3b.8a; Ex 16,4b.8.15; Num 11,9; Dtn 8,3 / Joh 6,58: Erneut wird auf das Essen der Wüstengeneration verwiesen. In dem Kontrast zwischen dem Brot vom Himmel und dem Mannabrot der Wüstenzeit scheint der Akzent auf der jeweiligen „Qualität“ der „Speise“ zu liegen. Physische Speise (wie das Manna und die Gerstenbrote) kann, weil es vergängliche Speise ist, kein ewiges Leben geben. Doch „das Brot vom Himmel“, auf das jene auf wundersame Weise geschenkte Speise hinweist, kann dies. Die Frage ist nur, 207 THYEN (2005: 340) erblickt schon in den Fischen einen Bezug zu den Wachteln, die in Ps 77,24 LXX als „Fleisch“ bezeichnet werden. Ohne weitere Argumente ist dies für mich nicht nachvollziehbar. 208 HEILMANN (2014: 203) meint (vgl. auch DODD 1953: 339), in der Rede vom „Essen“ und „Trinken“ von „Fleisch und Blut“ sei ein gewaltsamer Tod impliziert, also ein Hinweis auf das Kreuz bzw. den Tod Jesu. Dass die Futurformen in Joh 6,27.51 (ebenso wie die Rede vom „Essen“/„Erwerben“ und „Trinken“ von „Fleisch und Blut“) auf den Tod Jesu verweisen, halte ich für durchaus wahrscheinlich, doch die Hinweise Heilmanns auf Texte wie Dtn 32,42; Jes 49,26; Ez 39,17f.; Sach 9,15 u. ferner Apk 14,20; 16,16; 17,6; 19,17ff. tragen m.E. nicht viel für die Deutung von Joh 6,53–58 aus, da dort Essen von Fleisch bzw. Trinken von Blut ein (metaphorischer?) Ausdruck des tödlichen Gerichts Gottes an seinen bzw. Israels Feinden ist und gerade nicht zum Leben führt. 209 Vgl. THYEN 2005: 347. 210 Das in Joh 6,52 wiederholte πῶς aus Joh 6,42 weist auf den Zusammenhang zwischen den beiden Einwänden gegen Inkarnation und Kreuz als Heilsgeschehen.

296

4. Kapitel: Die Rezeption der Sinaitradition in Joh 6,31f.45f.

wer/was „das Brot vom Himmel, das wahre“ ist. Wer/was ewiges Leben geben kann, der/das hat diese Bezeichnung auch wirklich verdient. − Ex 16,16a; Dtn 8,3 / Joh 6,63c.68: Im Nachgang zur Brotrede macht Jesus deutlich, dass es seine Worte sind, die (wenn sie denn geglaubt werden [Joh 6,64]) Leben spenden, weil sie Geist „sind“ und der Geist lebendig macht. Diese schöpferische und damit göttliche Fähigkeit, Leben zu spenden, wurde zuvor von Jesus als dem „Himmelsbrot“ bzw. seinem „Fleisch“ und „Blut“, ausgesagt. Auch Dtn 8,3 verbindet mit dem Wort Gottes Leben; diese schöpferische Eigenschaft des göttlichen Wortes wird (zumindest nach einer Deutung) versinnbildlicht durch die Mannaepisode.211 Desweiteren finden sich folgende Echos und Entsprechungen auf der inhaltlich-motivischen Ebene: Ps 77 LXX und Ex 16; Mannatradition

Joh 6

Ex 16,32

Verknüpung des Exodus mit dem Manna

6,4 und 6,5ff.31ff.

Konnex zwischen Passahfest (als Fest des Exodus) und Broten/Manna

Ps 77,25b

Himmelsbrot bis zur Sättigung

6,11f.

Brot bis zur Sättigung

Ps 77,8ff.; vgl. auch Num 11,6

Die Untreue und der Ungehorsam der „Väter“ trotz der Wundertaten Gottes

6,30.

Unglaube „der Juden“ trotz des Zeichens Jesu (Brotvermehrung); auch Unglaube einiger Jünger

Ps 77,18ff.

Ungläubige Forderung „der Väter“ nach Brot

Ex 16,4; vgl. Ps 77,23ff.

Gott selbst lässt das Manna bzw. Brote vom Himmel herabregnen (ὕω steht im Präsens!)

6,32

Grundsätzlich gilt (vgl. das Präsens δίδωσιν): Gott und nicht Mose ist Geber des wahren Himmelsbrotes

Ex 16,15; Dtn 8,3.16

das Brot war den Vätern unbekannt; Mose klärt sie bezüglich der Identität des Brotes als Gabe Gottes auf

6,34.41ff.

„die Juden“ erkennen nicht, dass Jesus das „Brot“ ist, welches Gott, der Vater, gibt, obwohl doch die Schrift von ihm zeugt

36.64

211 Vgl. zu Jesu Worten als „Worten ewigen Lebens“ STARE 2004: 280: Jesu „Worte vermitteln nicht nur Information, sondern der lebendig machende Geist ist in ihnen selbst wirksam und demzufolge können sie das Leben vermitteln. In dieser Eigenschaft sind die Worte Jesu nur mit den Worten Gottes verwandt.“

3. Echos und Entsprechungen Ps 77 LXX und Ex 16; Mannatradition Ps 77,31b. 33.34a

Der Tod der Väter in der Wüste wegen ihres Misstrauens und ihres Bundesbruches

297

Joh 6 6,49.58

Die Väter starben in der Wüste, obwohl sie das Manna aßen

− Ex 16,32 / Joh 6,4 und 6,5ff.31ff.: Gemäß Joh 6,4 spielen die in Joh 6 berichteten Episoden (Speisungswunder und Brotrede in der Synagoge von Kapernaum) kurz vor dem Passahfest. Das Passahfest ist das Fest des Auszugs Israels aus Ägypten. Im JohEv bildet das Passahfest den zeitlichen Rahmen für die johanneische Darstellung des Leidens und Sterbens Jesu (vgl. 11,55; 12,1; 13,1; 18,28.39; 19,14), auf dessen Basis das eschatologische Volk Gottes entsteht (vgl. u.a. Joh 11,51f. ). Joh 6 verweist an einigen Stellen, mitunter nur andeutungsweise, auf jenes bevorstehende Geschick Jesu (vgl. 6,51.52–58.64.71). Zugleich wird in Joh 6 die Mannaepisode mit Bezug auf Jesus gedeutet. Dies ist keine zufällige Assoziation, denn nach Ex 16,32 gehören das Mannawunder und der Auszug Israels aus Ägypten zusammen.212 − Ps 77,25b / Joh 6,11f.: Gemäß Joh 6,11f. konnte die Menge soviel Brot (und Fisch) essen, wie sie wollte, jeder konnte satt werden (Motiv der eschatologischen Fülle; vgl. auch Joh 2,1–11). Damit entspricht das Brotwunder dem Mannawunder, denn Ps 77,25b zufolge gab es Verpflegung bis zur Sättigung. − Ps 77,8ff. / Joh 6,30.36.64: Obwohl die Menge das Brotwunder gesehen und Jesus als den Prophet identifiziert hat, fordert sie ein Zeichen. Jesus prangert ihr Unverständnis des Brotwunders als Unglaube an. Später zeigt sich, dass auch einige der Jünger nicht glauben bzw. hören bzw. nicht „in Jesus bleiben“ (Joh 6,56). Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass „die Juden“ ihren „Vätern“ diesbezüglich in nichts nachstehen, zumal da der von ihnen zitierte Psalm gerade dazu auffordert, nicht wie die Väter zu sein, die Gott untreu waren. Trotz der zuvor erlebten wunderbaren Versorgung durch Gott

212

Vgl. FELSCH 2011: 252ff. FELSCH erkennt in der Brotthematik in Joh 6 einen weiteren Bezug zum Passahfest, „denn Brot ist ein wichtiges Motiv des Pessachfestes, spätestens seit dieses Fest der Erinnerung an den Auszug aus Ägypten mit dem siebentägigen Fest der ungesäuerten Brote verbunden wurde“ (253). Allerdings verweisen die ungesäuerten Brote nicht auf das Manna, sondern auf die Situation beim Auszug (vgl. Ex 12). Sogar das Blut Jesu soll nach FELSCH eine Anspielung auf das Blut des Passahlamms sein (2011: 255). Hier ist einzuwenden, dass das Blut des Passahlammes nicht getrunken, sondern an die Türrahmen gestrichen werden sollte (Ex 12,7.13). Nichtsdestotrotz ist im Rahmen des Passahhorizonts (Joh 6,4) die Rede von dem Brot, das Jesu Fleisch ist, und das er geben wird, bemerkenswert. Lässt sich „Fleisch“ (als welches das „Brot“ identifiziert wurde) also auch auf das Fleisch des Passahlamms beziehen, das ja tatsächlich gegessen wurde?

298

4. Kapitel: Die Rezeption der Sinaitradition in Joh 6,31f.45f.

stellten sie ihn auf die Probe, indem sie voll Unglauben fragten, ob er wohl in der Wüste für Brot sorgen könne. − Ex 16,4; Ps 77,23ff. / Joh 6,32: Dezidiert wird von Jesus klargestellt, dass nicht Mose „das Brot vom Himmel“ gegeben hat, sondern Jesu Vater „das Brot vom Himmel, das wahre“ gibt. In der Mannageschichte wird ähnlich betont, dass Gott selbst Israel versorgt, indem er „Brote vom Himmel herabregnen lässt“. − Ex 16,15; Dtn 8,3.16 / Joh 6,34.41ff.: „Die Juden“ erkennen Joh 6,34.41ff. zufolge nicht (an), dass Jesus das „Brot Gottes“ ist, von dem doch die Schriften zeugen (vgl. Joh 5,39) und Mose schreibt (vgl. Joh 5,46). Er kann ihrer Meinung nach nicht „vom Himmel“ gekommen sein kann, da sie doch seinen Vater und seine Mutter kennen. In der Mannatradition wird etwas Ähnliches über das Brot, womit Gott die Väter speiste, gesagt: Das, was da vom Himmel gekommen war, war den Vätern gänzlich unbekannt und fremdartig (ähnlich wie das Sabbatgebot), sodass die Väter durch Mose über seine Identität als göttliche Gabe aufgeklärt werden mussten. − Ps 77,31b.33.34a / Joh 6,49.58: Jesus macht Joh 6,49.58 zufolge klar, dass das Manna den Vätern nur zeitweise Leben geben konnte; sie starben schließlich dennoch in der Wüste.213 Diese Information ist an und für sich trivial, denn alle Menschen, auch die, die an Jesus glauben, sterben irgendwann (denn sonst müssten sie ja nicht auferweckt werden; vgl. Joh 6,39f.44). Beachtet man aber den von „den Juden“ angenommenen Verweiszusammenhang von Manna bzw. „Brot vom Himmel“ und Tora sowie die Prätexte Num 14,23 und Ps 77, dann leuchtet dieser Hinweis ein: die Väter, die das Manna gegessen haben und denen die Tora durch Mose gegeben wurde, sind dennoch gestorben aufgrund ihres Ungehorsams, Misstrauens und ihres Bundesbruches. Die Tora kann also nicht „das Brot vom Himmel“ sein, weshalb das Manna nicht auf sie, sondern auf Jesus hinweist. „Die Juden“ werden, so die implizite Warnung, genau wie die Väter in der Wüste, sterben, wenn sie sich statt auf Jesus auf die Tora verlassen und in ihr das ewige Leben suchen (vgl. Joh 5,39). Folgende Entsprechungen zu (früh-)jüdischen Deutungen der Mannaepisode sind zu verzeichnen: (Früh-)jüdische Deutungen der Mannaepisode

Joh 6

JosAs 14,1–17,8

6,12f.27.

Schema: Abstieg aus dem Himmel – Gabe der „Wabe des Lebens“ – Aufstieg

35ff. 63.68

Schema: Abstieg vom Himmel – Gabe Leben spendender „Speise“ – Aufstieg

213 Zwar steht nur ein „und“, jedoch ist deutlich, dass nicht das Essen des Mannas der eigentliche Grund für den Tod der Väter ist.

299

3. Echos und Entsprechungen (Früh-)jüdische Deutungen der Mannaepisode

Joh 6

Philo, decal. 16f.

Wie das lebenspendende Manna, so kommen auch die zum Leben dienenden Gesetze von Gott

6,26f.

Die Brotvermehrung als Zeichen

Philo, mut. 260; LA III 162–176; Fug 138f.

Irdische/vergängliche Speise – Speise der Seele; die Deutung des Brotes vom Himmel als himmlische Weisheit, Wort und Logos Gottes

6,27.35 u.ö.

Übertragene Deutung I: Vergängliche Speise – „Speise“, die ins ewige Leben bleibt, die der Menschensohn gibt

Philo, mut. 259

die einzige „Speise“, von der „zu Recht“ (ἐνδίκως) gesagt werden kann, dass sie vom Himmel regnet, ist die himmlische Weisheit

6,32d

Das „wahre“ Brot vom Himmel gibt Jesu Vater

Philo, LA III 164

„Brotregen“ fällt immer wieder von oben (= von Gott), ganz besonders beim Torastudium

Philo, mut. 259f.; LA III 162ff.; Fug 138

Manna = Weisheit/Wort Gottes als Niederschlag

6,33 u.ö.

Das Brot Gottes „kommt vom Himmel herab“

Tgg Ex 16,4; Ps 78,24

Gott ließ Manna bzw. Brot auf die Israeliten herabkommen (statt „regnen lassen“ MT)

JosAs 15,5 u.ö.

Brot des Lebens (ἄρτος ζωῆς)

6,35

Jesus als das Brot des Lebens (ὁ ἄρτος τῆς ζωῆς)

ExR 25 zu Ex 16,4

Annehmen der Weisheit/Tora als „Essen“ des „Brotes“ / Trinken des „Weines“ Gottes = Grund für Essen bzw. Trinken des Mannabrotes/Brunnenwassers

6,35.50– 59

Konnex zwischen „Essen“ des „Brotes vom Himmel“ bzw. „Brotes des Lebens“ und Annahme der Worte Jesu als „Worte des ewigen Lebens“

Philo, Fug 139

Die göttliche Anweisung „erhellt und versüßt“ die Seele derer, die „dürsten und hungern (διψῶντας καὶ

6,35c–d

(Jeder,) der zu mir kommt, wird keinesfalls mehr hungern (οὐ µὴ πεινάσῃ), und wer an mich glaubt, wird

Übertragene Deutung II: Jesus als „Brot vom Himmel“

300

4. Kapitel: Die Rezeption der Sinaitradition in Joh 6,31f.45f.

(Früh-)jüdische Deutungen der Mannaepisode

Joh 6

πεινῶντας) nach Vortrefflichkeit

niemals mehr dürsten (οὐ µὴ διψήσει πώποτε)

Philo, Fug 137

Durch Moses Antwort „lernten (µαθόντες)“ die Israeliten über die Bedeutung des Mannas

6,45

Jeder, der vom Vater gehört und gelernt hat (µαθὼν) kommt zu Jesus.

Philo, LA III 173 (vgl. auch Fug 138f.)

Mose lehrt (διδάσκεται) die Israeliten über die wahre Bedeutung des Mannas

6,45b.59

In der Endzeit werden alle von Gott gelehrt (διδακτοὶ) sein

JosAs 16,14

„Und jeder, der von ihr [sc. der Wabe des Lebens] isst, wird auf ewige Zeit nicht sterben,“ (πᾶς, ὃς ἂν φάγῃ ἐξ αὐτοῦ, οὐκ ἀποθανεῖται εἰς τὸν αἰῶνα χρόνον)

6,50f.

50 Dieses ist das vom Himmel kommende Brot, damit/sodass man davon isst/essen kann (ἵνα τις ἐξ αὐτοῦ φάγῃ) und nicht stirbt (καὶ µὴ ἀποθάνῃ). 51 Ich bin das lebendige Brot, das vom Himmel herabgestiegen ist. Wenn jemand von diesem Brot isst (ἐάν τις φάγῃ ἐκ τούτου τοῦ ἄρτου) wird er in Ewigkeit leben (ζήσει εἰς τὸν αἰῶνα)

JosAs 16,14

diese Wabe [sc. die aus dem Munde des Engels kam] ist Geist des Lebens (πνεῦµα ζωῆς)

6,63

Jesu Worte sind Geist und sind Leben (τὰ ῥήµατα ἃ ἐγὼ λαλῶ ὑµῖν, πνεῦµά ἐστιν καὶ ζωή ἐστιν)

Jesus lehrt (διδάσκων) die Menge über das wahre Brot vom Himmel

− JosAs 14,1–17,8 / Joh 6,27.35ff.63.68: In Joh 6 ist folgendes „Schema“ erkennbar. Jesus ist als Leben spendendes „Brot“ vom Himmel, d.h. von Gott „herabgekommen“ und wird wieder dorthin „hinaufgehen“. Ihn als „Brot“ bzw. sein „Fleisch“ zu „essen“, bringt ewiges Leben. Gleichzeitig wird er „Speise“ geben, die ins ewige Leben bleibt. Von seinen Worten sagt er, dass sie „Geist und Leben“ sind. Die Jünger kommen zu der Erkenntnis, dass Jesus Worte des ewigen Lebens hat; im Bilde gesprochen: sie haben „das Brot vom Himmel gegessen“. In JosAs wird ein in folgenden Aspekten ähnliches Schema sichtbar, wobei der entscheidende Unterschied im Bezug der Honigwabe zur Weisheit liegt: So kommt der Engel aus der himmlischen Sphäre zu Aseneth, bringt ihr die himmlische Honigwabe (Bezug auf

3. Echos und Entsprechungen











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himmlisches Manna und Weisheit), die aus seinem Mund hervorgegangen ist, und steigt wieder in den Himmel. Die Honigwabe ist Geist des Lebens und vermittelt ewiges Leben, indem sie gegessen wird. Aseneth isst und erhält dieses ewige Leben durch den himmlischen Honig (Sinnbild für Weisheit). Philo, decal. 16f. / Joh 6,26f.: Wie Jesus beim Zeichen der Brotvermehrung die Brote als vergängliche Speise gibt, so gibt sein Vater ihn als „Brot“, und Jesus selbst wird „Speise“ geben, die ins ewige Leben bleibt (Joh 6,26f.). Ein Verweiszusammenhang besteht auch in der Tradition, die Philo anführt, allerdings ein anderer: So sollte Israel aus der wunderbaren Versorgung mit Manna u.a. lernen, dass wie die Lebensmittel auf wunderbare Weise von Gott kamen, so auch die Gesetze Worte Gottes seien; beides dient zum Leben. Philo, mut. 260; LA III 162–176; Fug 138f. / Joh 6,27: Jesus gemäß weist die vergängliche Speise = Gerstenbrote auf die „Speise“, die ins ewige Leben bleibt. Bei Philo gibt es zwar auch zwei Arten von Speise (die Speise der Seele und die irdischen bzw. vergänglichen Speisen), die aber der „Zusammensetzung“ des Menschen in Leib (irdisch) und Seele (aehterisch) entsprechen. Im johanneischen Text wird diese Korrelation nicht vorgenommen; stattdessen erfolgt die Zuordnung unter soteriologischen Gesichtspunkten. Philo, mut. 260; LA III 162–176; Fug 138f. / Joh 6,35 u.ö.: In Analogie zur Interpretation der Gerstenbrote deutet Jesus das Manna auf das „Brot“ Gottes, mit dem er sich schließlich identifiziert. Philo deutet das Manna bzw. das Brot vom Himmel ebenfalls im übertragenen Sinne, allerdings als himmlische Weisheit bzw. als Logos Gottes. Philo, mut. 259 / Joh 6,32d: Nach Joh 6,32d gibt Jesu Vater „das Brot vom Himmel, das wahre“. Manna als physische bzw. irdische Speise ist damit ausweislich der Charakterisierung als „das wahre“ nicht gemeint. Aus Philos Sicht kann, wenn die Schrift von „Speise“ redet, die vom Himmel regnet, ebenfalls keine gewöhnliche bzw. irdische Speise intendiert sein, sondern nur Speise im übertragenen Sinne. Diese identifiziert Philo allerdings mit der Weisheit. Denn nur von der Weisheit als Speise kann, so Philo, „zu Recht“ gesagt werden, dass sie vom Himmel regnet. Mit anderen Worten: Für Philo signalisiert die ungewöhnliche Herkunftsangabe „(regnet) vom Himmel“, dass man es hier mit „Speise“ im übertragenen Sinne zu hat. Philo, LA III 164 / Joh 6,32d: Der Satz „(mein Vater) gibt euch das Brot vom Himmel, das wahre“ bezieht sich ausweislich des Präsens auf die Gegenwart (aus der Sicht des johanneischen Jesus); das Mannawunder weist so voraus auf das Christusereignis wie auch das Brotwunder. Anders Philos Auffassung, wo ein eher „gnomisches“ Verständnis vorliegt: Demnach ist der „Brotregen“ im Sinne von „Weisheitsregen“ nicht ein einmaliges

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Ereignis, sondern geschieht immer wieder, nämlich beim „Philosophieren“ (= Torastudium) am Sabbat, wenn Gott die Weisheit herabtröpfeln lässt. Philo, mut. 259f.; LA III 162ff.; Fug 138 / Joh 6,33 u.ö.: Wenn der johanneische Jesus vom „Brot Gottes“ (o.ä.), das vom Himmel herabkommt, redet, zumal im Rahmen der Auslegung der Mannaepisode, wird das „Brot“ als Niederschlag präsentiert. In auffallend ähnlicher Weise spricht auch das JohEv in Kap. 6 von Jesus, der „vom Himmel“, d.h. aus Gottes Sphäre „herabgekommen ist“ (vgl. 6,38ff.; außerdem „kommt“ der Geist Gottes „vom Himmel“ [vgl. Joh 1,32] ebenso wie die Engel Gottes [vgl. Joh 1,51]). Bei Philo begegnet häufiger die Vorstellung vom Manna als Niederschlag, jedoch verstanden als Weisheit bzw. Wort Gottes. Targumim Ex 16,4; Ps 78,24 / Joh 6,33 u.ö.: Die johanneische Verwendung des Verbs „herabkommen“ im Zusammenhang mit dem „Brot vom Himmel“ weist nicht notwendigerweise auf ein personales Subjekt hin; auf jeden Fall wird das Bild vom Brot als Niederschlag evoziert (vgl. Num 11,9). Die Targumim zu Ex 16,4 und Ps 78,24 (vgl. auch Num 11,9) verwenden ein entsprechendes aramäisches Verb für „herabkommen“ im Konnex mit dem Manna wie sonst in Verbindung mit Regen [vgl. nur Gen 7,4 in TgN, TgPs-J und TgO). JosAs 15,5 u.ö. / Joh 6,35: Gemäß Joh 6,35 identifiziert sich Jesus mit „dem Brot des Lebens“. Zwar gebraucht auch JosAs diesen Ausdruck (wenn auch ohne Artikel), signifikanterweise mit Bezug zur Bienenwabe (die wiederum bezogen ist auf das Manna), die allerdings Weisheit bzw. Tora versinnbildlicht. ExR 25 zu Ex 16,4 / Joh 6,35.50–59: Meines Erachtens besteht in Joh 6 ein Konnex zwischen dem „Essen“ des „Brotes vom Himmel“ bzw. des „Brotes des Lebens“ und der Annahme der Worte bzw. Lehre Jesu über sich als „Worte des ewigen Lebens“. In ExR 25 zu Ex 16,4 wird das Annehmen der Weisheit bzw. Tora als „Essen“ des „Brotes“ bzw. des „Weines“ Gottes geschildert. Dieses ist Bedingung dafür, dass Israel Mannabrot essen und Brunnenwasser trinken darf. Philo, Fug 139 / Joh 6,35c–d: Nach Joh 6,35c–d verspricht Jesus allen, die zu ihm „kommen“, dass sie keinen „Hunger“ und keinen „Durst“214 mehr haben werden, weil er beides stillen wird. Die Stillung von Hunger und Durst impliziert Essen und Trinken. Die Kombination der Handlung, „zu Jesus, d.h. zum Glauben an ihn kommen“, mit der Stillung von Hunger und Durst, nachdem Jesus metaphorisch von sich als „Brot des Lebens“ sprach, 214

Das Dürsten und das implizite Trinken gehen streng genommen über die Manna-Erzählung sowie die Brotvermehrung hinaus. Nach HYLEN 2005: 138 wird hier auf die wundersame Versorgung Israels in der Wüste mit Wasser angespielt. Gleichzeitig könne die Kombination von Hunger und Durst, verstanden im übertragenen Sinne, als Hinweis auf die konventionelle Verknüpfung von Manna und Weisheit gelten wie in Spr 9,5f.; vgl. Sir 24,19; Jes 55,1f. (HYLEN 2005: 142; vgl. auch SCHNACKENBURG 1971: 58f.).

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deutet auf eine übertragene Bedeutung von „Essen“ und „Trinken“. Dies erinnert an ähnliche Aussagen in der Weisheitsliteratur (vgl. z.B. Sir 24,19ff.; Spr 9,5).215 Philos allegorischer Auslegung der Mannaepisode zufolge wird der „Durst“ und „Hunger“, allerdings nach (moralischer) Vortrefflichkeit, durch die göttliche Anweisung bzw. das göttliche Wort (als allegorische Deutung des Mannas) bzw. durch Weisheit gestillt, was impliziert, dass diese „gegessen“, d.h. angenommen wird. Philo, Fug 137 / Joh 6,45: Jesu Auslegung des Schriftwortes zufolge kommt jeder, der den Vater gehört und von ihm gelernt hat, d.h. vom Vater gelehrt wurde, zu Jesus. Philo zufolge „lernten“ die Israeliten aufgrund von Moses Lehre, was das Manna zu bedeuten hat. Philo, LA III 173 (vgl. auch Fug 138f.) / Joh 6,45b.59: Die Lehre Jesu in Kapernaum über die Bedeutung der Schrift und „das wahre Brot vom Himmel“ ist vermutlich in irgendeiner Weise verbunden mit der Prophetie über die göttliche Belehrung in der Endzeit. Wie genau dieser Konnex vorzustellen ist, wird in der Gesamtdeutung weiter zu bedenken sein. Bei Philo ist es Mose, der die Israeliten über die wahre (allegorische) Bedeutung des Mannas lehrt, dass es nämlich das Wort Gottes bzw. die Weisheit usw. ist, die den Menschen bzw. seine Seele „nährt“. JosAs 16,14 / Joh 6,50f.: Gemäß Joh 6,50f. ist die Folge des „Essens“ vom „Himmelsbrot“, dass man nicht stirbt (es ist nicht der „biologische“ Tod gemeint [vgl. 6,39f.]), sondern in Ewigkeit leben wird. Erstaunlicherweise wird etwas sehr Ähnliches, allerdings mit Bezug auf die Weisheit, in JosAs 16,14 vom Essen der „Wabe des Lebens“ (Mannabezug; Symbol für Weisheit) ausgesagt: Wer „von ihr isst, wird auf ewige Zeit nicht sterben“. Es ist unwahrscheinlich, dass beide Schriften in direkter Abhängigkeit voneinander stehen.216 Plausibler ist es, dass sich das JohEv kritisch auseinandersetzt mit Vorstellungen, wie sie u.a. in JosAs belegt sind, in denen das Manna mit Weisheit bzw. Tora verbunden und als Quelle ewigen Lebens angesehen wurde. JosAs 16,14 / Joh 6,63: Gegenüber den Jüngern sagt Jesus, dass seine Worte „Geist und Leben“ sind. Auch von der Honigwabe, die jedoch für die Weisheit (= Tora) steht, heißt es in JosAs 16,14, dass sie Geist des Lebens ist. Dies hat offenbar damit zu tun, dass der schöpferische Geist Gottes gemäß JosAs durch sie Leben verleiht.

215 216

Vgl. auch die Wassermetaphorik in Joh 4. Vgl. GERBER 2009: 207.

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4. Digression II: Die Tradition von der endzeitlichen Gottesgelehrtheit 4. Digression II: Die Tradition von der endzeitlichen Gottesgelehrtheit

4.1 Herkunft des Zitats in Joh 6,45 Das Schriftzitat in Joh 6,45 stammt aller Wahrscheinlichkeit nach aus Jes 54,13.217 Für Jes 54,13 spricht die Nähe der Formulierung, die sich sonst nirgends in den Propheten findet, und einige inhaltliche Übereinstimmungen, auf die noch näher einzugehen sein wird.218 Ob die LXX oder der MT die Textgrundlage bildet,219 ist umstritten.220 Jes 54,13 MT

Jes 54,13 LXX

Joh 6,45

‫מּוּדי יְ הוָ ה וְ ַרב ְשׁלוֹם‬ ֵ ‫ל־בּנַ ִי" ִל‬ ָ ‫וְ ָכ‬ "ִ‫ָבּנָ י‬

καὶ (θήσω; vgl. V.12) πάντας τοὺς υἱούς σου διδακτοὺς θεοῦ

καὶ ἔσονται πάντες διδακτοὶ θεοῦ

καὶ ἐν πολλῇ εἰρήνῃ τὰ τέκνα σου Und alle deine Söhne werden Gelehrte JHWHs sein, und groß wird der Friede deiner Kinder sein. (eigene Übersetzung)

Und ich werde alle deine Söhne zu von Gott Belehrten (machen),

Und sie werden alle Gelehrte Gottes sein.

und in großem Frieden (werde ich) deine Kinder (leben lassen).

Für die LXX als Textgrundlage wird häufig Folgendes angeführt:221 − Joh 6,45 hat θεοῦ wie die LXX; der MT dagegen den Gottesnamen ‫ ְיהוָ ה‬. Obwohl es nicht zwingend ist, würde man (entsprechend der üblichen Praxis) eher κυρίου erwarten statt θεοῦ, wenn sich Joh 6,45 auf den MT beziehen würde. Dagegen wird Folgendes ins Feld geführt: Der Evangelist wollte einen Bezug zu Gott, dem Vater, herstellen und nicht direkt zu Jesus, auf welchen im JohEv sehr häufig und fast durchweg die Anrede oder der Titel (je nach Kontext) „Herr“ appliziert wird. Daher hat er statt der üblichen auf 217 Das eindeutig zur intertextuellen Einschreibung gehörende καί könnte vielleicht auf eine schriftliche (bzw. akkurat erinnerte schriftliche) Quelle hinweisen (vgl. WITTMER 2006b: 134–138), muss es aber nicht. 218 So u.a. OBERMANN 1996: 151. 219 Anders RICHTER 1977: 260 (jüdische Haggada über Jes 54,13 im Dienste der Christologie). 220 Für LXX sprechen sich aus: MENKEN 1988a: 168ff.; OBERMANN 1996: 151ff.; dagegen u.a. REIM 1995: 16. 221 Die Argumente und Gegenargumente sind zusammengefasst bei RICHTER 1977: 251ff. und bei MENKEN 1988a: 168ff.

4. Digression II: Die Tradition von der endzeitlichen Gottesgelehrtheit

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Jesus weisenden Wiedergabe mit „Herr“ eine andere gewählt, nämlich „Gott“. Jedoch ist der Nachweis dieser Absicht bei der Änderung des Wortlauts des Prätextes an dieser Stelle schwierig. Auch in Joh 12,13 (Ps 118[117],26) und wohl auch 12,38 (Jes 53,1) steht „Herr“ im Zitat und meint nicht Jesus, sondern Gott. θεοῦ weist daher eher in die Richtung der LXX als Textgrundlage. Diese Wiedergabe ist aber auch kein durchschlagender Grund. − Das Verbaladjektiv διδακτός kommt im JohEv sonst nicht vor; in der LXX nur in Jes 54,13; 1Makk 4,7; PsSal 17,32. Die beiden letztgenannten Stellen sind für Joh 6 nicht relevant. Anders Jes 54,13, was auf eine literarische Abhängigkeit von Jes 54,13 LXX deutet.222 Allerdings ist zu bedenken: Wenn der johanneische Jesus sich auf den hebräischen Text bezöge, hätte er nicht allzu viele Möglichkeiten, aus denen er ein geeignetes griechisches Äquivalent für ‫ ִלמּוּד‬hätte wählen können. διδακτός wäre auf jeden Fall eine angemessene Wiedergabe von ‫( ִלמּוּד‬vgl. Jes 8,16 nach Aquila und Theodotion). Allerdings, so wendet Obermann ein, ist sie nicht die einzig mögliche. Er hätte nämlich auch µαθητής benutzen können, zumal er selbst ja das Verb µανθάνω im Anschluss an das Zitat als Partizip gebraucht.223 Doch passt m.E. das Wort µαθητής, welches das aktive Lernen betont, nicht so gut wie διδακτός, welches das passive Gelehrt-Werden ausdrückt und so auf den Lehrer hinweist. − Nach Menken u.a. entspricht die Änderung der Referenzgröße, die aus der Auslassung von „(alle) deine Kinder“ bzw. „Söhne“ resultiert, dem Kontext von Jes 54,13 LXX. Die LXX-Übersetzer von Jesaja leiteten den Ausdruck ‫ גּוֹר יָ גוּר‬in Jes 54,15 offenbar von ‫ גור‬im Sinne von „als Fremder u. Schützbürger weilen“ ab. Das Verb kann im Mittelhebräischen und jüdischen Aramäisch auch „Proselyt werden“ bedeuten.224 So übersetzten sie den hebräischen Ausdruck gemäß eben dieser Bedeutung: ἰδοὺ προσήλυτοι προσελεύσονταί σοι δι᾽ ἐµοῦ καὶ ἐπὶ σὲ καταφεύξονται. Aus Sicht des Evangelisten, so Menken, besteht die Gruppe derjenigen, die vom Vater gezogen wird, aus Israeliten und aus „Heiden“ (Menken verweist auf Joh 10,16; 11,51–52). Der Evangelist habe im Kontext der zitierten Stelle in der LXX wahrgenommen, dass das endzeitliche Volk Gottes sowohl aus den „Kindern Jerusalems“ als auch aus Proselyten bestehen wird, wie er selbst auch glaubte, und fühlte sich dadurch berechtigt, sein Zitat dementsprechend zu verändern und „deine Söhne“ auszulassen. Jedenfalls erklärt Jes 54,15 LXX die Auslassung aus Sicht Menkens am besten.225 Es ließe sich fragen, ob die 222

So OBERMANN 1996: 151. Dies wendet OBERMANN (1996: 152) gegen Menken ein. 224 Vgl. HAL, s.v. 225 Vgl. MENKEN 1988a: 171. Neuere Untersuchungen (vgl. z.B. THIESSEN 2013: 333– 350) haben gezeigt, dass προσήλυτος in „der“ LXX – anders als zur Zeit des Evangelisten – (noch) kein terminus technicus für einen Menschen ist, der zum Judentum konvertiert ist, 223

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Auslassung im johanneischen Zitat nicht auch anders zu erklären ist. Tatsächlich wird in der sich unmittelbar an das Zitat anschließenden Erklärung ein Jesus-Bezug des Subjekts „alle“ bzw. „jeder“ hergestellt, da nun nicht mehr von Gott die Rede ist, sondern vom Vater (Jesu) und damit natürlich auch vom Sohn (Jesus) sowie vom Kommen zu Jesus (dem Sohn), der den Vater als einziger gesehen hat. Zur Herstellung dieses Bezugs der „Belehrten Gottes“ ist die Tilgung des Jerusalem-Bezugs offenbar notwendig. Ferner wird durch die Auslassung unterstrichen, dass alle, d.h. die Gesamtheit des Gottesvolkes und nicht nur Einzelne, Belehrte Gottes sein werden.226 Dann aber würde die Auslassung nicht auf eine bestimmte Textgrundlage hindeuten. Gegen die LXX und für den MT als Textgrundlage wird genannt: − Das Zitat in Joh 6,45 ist ein unabhängiger Satz wie im MT, dessen Verb man kontextgemäß ergänzen kann durch die Kopula „sein“ im Futur (s. Tg Jes 54,13). In der LXX dagegen ist der Satz vom in V.12 genannten Verb θήσω abhängig, sodass eine Aussage über Gottes endzeitliches Wirken an „allen deinen (sc. Zions) Söhnen“ gemacht wird. „Alle“ und „Gelehrte Gottes“ steht in Joh 6,45 folglich im Nominativ wie im MT – also eine Aussage über „alle“ –, in der LXX dagegen stehen beide Wörter im Akkusativ. Allerdings lässt sich (wenn auch nicht ganz ungezwungen) der Satz im MT auch so verstehen, dass er von ‫ וְ ַשׂ ְמ ִתּי‬abhängig ist, sodass dieses Argument für die Benutzung des MT nicht zwingend ist. − Der in Joh 6,45 verwendete Genitiv θεοῦ (statt κυρίου) ist nicht notwendigerweise ein Beleg für die Benutzung der LXX, denn im palästinischen Judentum ist bisweilen auch die Rede von „Belehrten Gottes“ statt „Belehrte des Herrn“. Gleichwohl ist auch dieses Gegenargument kein stichhaltiger Beweis für eine hebräische Textgrundlage. Die Frage nach der Textgrundlage ist also nicht mit Sicherheit zu beantworten, zumal man in Betracht ziehen muss, dass dem Evangelisten womöglich ein sondern einen Fremden bezeichnet, der (irgendwo) hinzugezogen ist und als Fremder (irgendwo) lebt (wie z.B. die Israeliten in Ägypten; vgl. Ex 22,20; 23,9; Lev 19,33f.; Dtn 10,19). Dies gilt auch für Jes 54,15 LXX, zumal ausweislich des Ausdrucks ἐπὶ σὲ καταφεύξονται, was auf Flüchtlinge hinweist. Signifikant ist (darauf weist THIESSEN 2013: 346 hin), dass der Übersetzer an der einzigen Stelle (Jes 14,1), wo im hebräischen Text ‫ גֵּ ר‬steht und aufgrund des Kontextes ein zum israelitischen Glauben Konvertierender gemeint sein könnte, eben nicht (vgl. aber Aquila, Symmachus und Theodotion gemäß der Hexapla) mit προσήλυτος übersetzt (sondern mit γιώρας [vgl. MURAOKA 2009: 132: ein „resident alien“]), was man aber erwarten würde, wenn προσήλυτος der terminus technicus für solch eine Person ist. 226 Bekanntermaßen wird der Sohn-Begriff zur Bestimmung des Verhältnisses zu Gott im JohEv auf Jesus beschränkt. Möglicherweise ist das ein zusätzlicher Grund für die Auslassung von τοὺς υἱούς σου.

4. Digression II: Die Tradition von der endzeitlichen Gottesgelehrtheit

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heute nicht mehr erhaltener Text vorlag (wenn er an dieser Stelle überhaupt einen schriftlichen Text benutzt hat). Wichtiger als die Bestimmung der Textgrundlage erscheint mir hier jedoch die Klärung dessen, wer nach Jes 54 „alle“ sind, was die Gottesgelehrtheit bedeutet, ob ein Zusammenhang zur Mannaund/oder zur Sinaitradition besteht bzw. ob und ggf. wie ein solcher Zusammenhang auf der Basis des Textes hergestellt werden könnte. Jedenfalls scheint das eigentlich für das Verständnis nicht nötige καί des Zitats ein Indiz dafür zu sein, dass der Satz aus einem größeren Zusammenhang stammt, der im Folgenden in den Blick zu nehmen ist. 4.2 Jes 54,13 in seinem Kontext Jes 54,13a ist Teil einer Ankündigung Gottes an eine unfruchtbare „Frau“ (V.1).227 Diese „Frau“, die von ihrem „Mann“ verlassen wurde, soll paradoxerweise, obwohl sie nicht gebiert und keine Wehen hat,228 wegen ihrer vielen Söhne bzw. Kinder jauchzen (V.1). Die Zahl ihrer Nachkommenschaft (MT: " ֵ ‫ ;זַ ְר‬LXX: τὸ σπέρµα σου)229 wird so groß sein, dass der Ort des Zeltes230 der Frau vergrößert231 werden muss (V.2f.). Gott kann diese kaum fassbare Ankündigung realisieren, weil er ihr Schöpfer und Erretter ist (V.5.8), der sie als ihr „Mann“ zwar „für eine kurze Zeit verlassen hat“, sich „aber mit großem Erbarmen“ über sie erbarmen wird (LXX) bzw. sie (aus dem Exil) sammeln wird (MT).232 Ja, seine „Gnade (‫ ) ַח ְס ִדּי‬wird nicht von dir weichen und mein Friedensbund (‫לוֹמי‬ ִ ‫ ) ְב ִרית ְשׁ‬nicht wanken“ bzw. Gottes Erbarmen (ἔλεος) seiner „Frau“ gegenüber „wird nicht aufhören, und der Bund deines Friedens (ἡ διαθήκη τῆς εἰρήνης σου)233 wird gewiss nicht vom Platz weichen“ (LXX). 227

Eine eingehende Analyse von Jes 54 hat GLAßNER vorgelegt (1991). Leider geht er nicht ausführlich auf V.13 ein. 228 BALTZER 1999: 543: „In 54,1 ist das Motiv der Unfruchtbarkeit der Stammutter [vgl. Jes 51,1f.] erkennbar.“ Dementsprechend könnte man die Zusage einer großen Nachkommenschaft in Jes 54 in Verbindung mit den Zusagen an Abraham (vgl. u.a. Gen 22,17) lesen (vgl. KOOLE 1998: 352), wie Paulus dies ja dann tatsächlich getan hat (vgl. Gal 4,21ff. ). 229 „Somit erfüllt sich die Zusage von Nachkommenschaft und Zukunft an den Knecht (53,10)“ (BERGES 2010: 129); zum Zusammenhang mit den Zusagen an Abraham vgl. die Anmerkungen in Fußnote 228. 230 Vgl. Jes 33,20f.; im Kontrast dazu Jer 10,20. 231 Vgl. dagegen noch die Klage in Jes 49,20. 232 „Innerhalb von Jes 49–54 ist dieser Neuanfang nach dem göttlichen Zorn ein, wenn nicht gar das Resultat der Lebenshingabe des Gottesknechts. Er trug die Verschuldungen des Volkes und Züchtigung ‚uns zum Frieden‘ lag auf ihm (53,5). Nach seiner Schuldtilgung und dem Gelingen des göttlichen Planes (53,10) gibt es keinen Platz mehr für den Zorn. Damit ist der Weg für Zions Wiederaufbau geebnet“ (BERGES 2015: 310). 233 Von einem „Bund des Friedens“ ist noch die Rede in Num 25,12 (mit Pinhas); Sir 45,24 (Bezug auf Num 25,12); besonders Ez 34,25; 37,26 (verbunden mit dem zukünftigen Knecht David). Das Stichwort „Friede“ kommt in Jes LXX häufig vor (9,5f.; 14,30;

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4. Kapitel: Die Rezeption der Sinaitradition in Joh 6,31f.45f.

Ab V.11 wird vollends deutlich, dass es sich bei dieser Frau um keine Frau im wörtlichen, sondern im übertragenen Sinne, „als kollektive Repräsentantin des nachexilischen Gottesvolks“234, handelt. Denn ihr wird versichert: Jes 54,11 (MT nach ElbÜ)

Jes 54,11 (LXX nach LXX.D)

11

Du Elende, Sturmbewegte, Ungetröstete! Siehe ich lege deine Steine in Hartmörtel und lege deine Grundmauern mit Saphiren.

11

12

12

Ich mache deine Zinnen aus Rubinen und deine Tore aus Karfunkeln und deine ganze Einfassung aus Edelsteinen.

Du Demütige und Unstete, du wurdest nicht getröstet, siehe, ich mache dir deinen Stein zum Rubin und deine Fundamente zum Saphir, und ich werde deine Zinnen zu Jaspis, deine Tore zu Steinen von Bergkristall und deine Ringmauer zu Edelsteinen machen.

Das Material, das Gott für den Bau verwenden wird, erinnert z.T. an Beschreibungen des himmlischen Thrones Gottes, wie sie u.a. in der Sinaierzählung begegnen (vgl. die Erwähnung von Saphir in Ex 24,10),235 aber auch an einen der Steine, der gemäß Ex 28,18 auf der Brusttasche des Hohepriesters angebracht war. Offensichtlich ist in Jes 54 Zion-Jerusalem gemeint (gleichwohl wird dies nicht explizit gesagt), denn eine Frau hat keine Steine, Fundamente, Zinnen, Tore und Ringmauern. Gott selbst wird als der Erbauer bzw. Begründer bzw. Schöpfer des eschatologischen Zion-Jerusalems präsentiert (vgl. V.11f.; V.16), in die nach V.15 LXX durch Gott (fremde) Zuwanderer kommen (προσήλυτοι προσελεύσονταί σοι)236 und Zuflucht suchen (ἐπὶ σὲ καταφεύξονται) werden. Der MT lautet etwas anders: „Siehe, wenn man auch angreift, so [geschieht] es nicht von mir aus. Wer dich angreift, wird um deinetwillen fallen.“ Von den Söhnen bzw. Kindern des in der Endzeit neu erbauten Zion-Jerusalems ist dann in V.13, im Zusammenhang der Errichtung der Stadt, die Rede. V.13 hebt sich allerdings im MT in syntaktischer (statt Verbalsätze wie zuvor nun ein Nominalsatz) und semantischer (statt „Steine“ nun die Rede von „Söhnen“) Hinsicht vom Vorhergehenden ab. Die Aufnahme von „und alle“ (‫)וְ ָכל‬ aus V.12b in V.13a spricht dafür, dass in V.13 MT die zum Wiederaufbauen benutzten Steine mit den Söhnen, die nach Hause zurückkommen, gleichgesetzt werden.237 Sie alle, also alle Söhne bzw. Kinder Zion-Jerusalems werden gemäß dem MT Ge- oder Belehrte Gottes (‫מּוּדי ְיהוָ ה‬ ֵ ‫ ) ִל‬sein – dadurch (?) sind sie gleichsam „Steine“ des eschatologischen Zion-Jerusalems –, und „groß wird der Friede deiner Söhne/Kinder sein“. Nach der LXX wird Gott sie zu 26,3.12; 27,5; 29,24; 32,4.17f.; 33,7; 39,8; 41,3; 45,7; 48,18; 52,7; 53,5; 54,10.13; 57,2,.19; 59,8; 60,17; 66,12). 234 BERGES 2015: 298. 235 Vgl. auch Ez 1,22.26; 10,1. 236 „Proselyten sind dabei nicht im Blick“ (LXX.E 2011: 2671). 237 Anders BALTZER 1999: 574.

4. Digression II: Die Tradition von der endzeitlichen Gottesgelehrtheit

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„Gelehrten“ oder „Belehrten Gottes“ (διδακτοὺς θεοῦ) machen (θήσω; V.12) und „in großem Frieden (LXX.D ergänzt das Verb:) werde ich leben lassen deine Kinder“.238 ‫( לִ מּוּד‬vgl. ‫מּוּדי ְיהוָ ה‬ ֵ ‫ ) ִל‬begegnet innerhalb von Jes noch in Jes 8,16 und v.a. Jes 50,4. Das entsprechende griechische Wort διδακτός wird in Jes LXX sonst nicht mehr verwendet. In Jes 54,13 ist ausweislich des Nominalsatzes und der Semantik von ‫מּוּדי ְיהוָ ה‬ ֵ ִ‫ ל‬bzw. διδακτοὺς θεοῦ ein zukünftiger Zustand „aller deiner Söhne“ als Resultat einer Tätigkeit Gottes im Blick: Gott lehrt, und alle Söhne Zion-Jerusalems werden seine Lehre auch tatsächlich lernen und so Belehrte sein. Gottes Lehrtätigkeit ist mithin effektiv und schafft sozusagen „gute Schüler“. Das Stichwort „(großer) Friede“ greift den „Bund des Friedens“ aus V.10 auf. Die Unterweisung durch Gott selbst – so kann man den Genitiv hier auffassen – hat demnach etwas mit dem großen Frieden zu tun. „Dieser Friede“, so Berges, „ist nicht das Ergebnis ethischen Tuns auf Seiten der Bewohnerschaft Zions,239 sondern das, was negativ gewendet lautet: ‚Kein Friede den Frevlern!‘ (48,22; 57,21). Frevelhafte Menschen […] gehören nicht zu ‚JHWHs Schülern‘, sind keine ‚Söhne Zions‘ und auch keine Edelsteine nach Gottes Gefallen!“240

Gemäß Jes 54,17 MT werden die Söhne bzw. Kinder der Stadtfrau Zion-Jerusalems, die nach 54,13 Belehrte Gottes sein werden, noch „Knechte JHWHs“ (‫ ) ַ ְב ֵדי ְיהוָ ה‬genannt (anders LXX: ἔστιν κληρονοµία τοῖς θεραπεύουσιν κύριον). „Die Knechte sind aber nicht nur ‚Schüler JHWHs‘, sondern auch Schüler des Knechts, denn sie stehen in seiner Tradition […] Sie haben auf die Stimme des Knechts gehört (50,10f.)“241, wie er seinerseits im Reden und Hören ein Schüler Gottes ist (vgl. Jes 50,4). Das Erbe der Knechte wird „dies“ (‫ )ז ֹאת‬sein; „dies“ lässt sich sowohl ana- als auch kataphorisch auffassen. Im Kontext scheint jedoch ein anaphorisches Verständnis am meisten Sinn zu ergeben.242 „Durch dieses Kolophon beziehen die Knechte das Heil, das Zion/Jerusalem galt, auf sich.“243 Von einer endzeitlichen Belehrung auf dem Zion und Frieden bzw. Heil spricht Jesaja in Jes 54,13 nicht zum ersten Mal. Davon war schon in Jes 2,2– 4 die Rede: 238 Gemäß Jes 32,18 wird Gottes Volk wohnen in einer Wohnstätte (MT) bzw. Stadt (LXX) des Friedens. 239 Auch in V.14 (‫ ) ִבּ ְצ ָד ָקה ִתּכּוֹנָ נִ י‬ist dies nicht im Blick. Dafür spricht, dass Gott als Erbauer Zions dargestellt wird und dass „Gerechtigkeit“ in Jes 40–54 nicht auf „menschliches Tun, sondern immer auf das von Gott gewirkte Heil“ bezogen ist (BERGES 2015: 324). 240 BERGES 2015: 323. 241 BERGES 2015: 289. 242 Vgl. BERGES 2015: 330. 243 BERGES 2015: 289. Vgl. auch die Ausführungen von BERGES (2015: 291f.) zu Jes 54,17b als „Unterschrift und Überschrift“, zumal in der großen Jesajarolle von Qumran, wo dieses Bikolon graphisch abgesetzt ist sowohl vom Vorhergehenden als auch vom Nachfolgenden.

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4. Kapitel: Die Rezeption der Sinaitradition in Joh 6,31f.45f.

Jes 2,2–4 (MT nach ElbÜ)

Jes 2,2–4 (LXX nach LXX.D)

2 Und es wird geschehen am Ende der Tage, da wird der Berg des Hauses JHWHs feststehen als Haupt der Berge und erhaben sein über die Hügel; und alle Nationen werden zu ihm strömen.

2 Es wird in den letzten Tagen sichtbar sein der Berg des Herrn (τὸ ὄρος κυρίου) und das Haus Gottes (ὁ οἶκος τοῦ θεοῦ) auf den Höhen der Berge, und er (jener Berg) wird über den Hügeln erhöht werden (ὑψωθήσεται); und alle Völkerschaften (πάντα τὰ ἔθνη) werden zu ihm kommen,

3 Und viele Völker werden hingehen und sagen: Kommt, lasst uns hinaufziehen zum Berg JHWHs, zum Haus des Gottes Jakobs, dass er uns aufgrund seiner Wege belehre und wir auf seinen Pfaden gehen! Denn von Zion wird Weisung ausgehen und das Wort des HERRN von Jerusalem.

3 und viele Völkerschaften werden sich aufmachen (πορεύσονται ἔθνη πολλὰ) und sagen: „Auf, lasst uns hinaufziehen zum Berg des Herrn und zum Haus des Gottes Jakobs, dann wird er uns seinen Weg verkünden, und wir werden auf ihm gehen“, denn von Sion wird das Gesetz (νόµος) ausgehen (ἐξελεύσεται) und das Wort des Herrn (λόγος κυρίου) von Jerusalem.

4 Und er wird richten zwischen den Nationen und für viele Völker Recht sprechen. Dann werden sie ihre Schwerter zu Pflugscharen umschmieden und ihre Speere zu Winzermessern. Nicht mehr wird Nation gegen Nation das Schwert erheben, und sie werden den Krieg nicht mehr lernen.

4 Und er wird zwischen den Völkerschaften richten und viel Volk zurechtweisen, und sie werden ihre Schwerter zu Pflugscharen umschmieden und ihre Speere zu Sicheln, und keine Völkerschaft wird mehr gegen eine (andere) Völkerschaft zum Schwert greifen, und sie werden gewiss nicht mehr lernen (οὐ µὴ µάθωσιν), Krieg zu führen.

Ferner wird dies in Jes 51,4 erwähnt: Jes 51,4 (MT nach ElbÜ)

Jes 51,4 (LXX nach LXX.D)

Merkt auf mich, mein Volk, und meine Nation, hört auf mich! Denn Weisung geht von mir aus, und mein Recht werde zum Licht der Völker.

Hört auf mich, hört, mein Volk (λαός µου) und ihr Könige, wendet mir eure Ohren zu! Denn Gesetz (νόµος) wird von mir ausgehen (ἐξελεύσεται), und mein Recht (ἡ κρίσις µου) (wird) zum Licht der Völkerschaften.

Die Rolle, die „der Berg des Herrn“, wo das „Haus Gottes“ steht, im Zusammenhang mit der Erteilung der Tora dabei spielt, lädt geradezu zu einer Parallelisierung Sinai-Zion ein. Folgende Bezüge zwischen Jes 54 und Jes 55 berechtigten dazu, an dieser Stelle auch auf Jes 55 einzugehen: Das Erlösungs-Jubel- bzw. ErlösungsFreude-Motiv (Jes 54,1 bzw. 55,12) und der „(ewige bzw. Friedens-) Bund“ (54,10 bzw. 55,3; vgl. auch 55,12 MT). Das Motiv der (wirksamen, nämlich

4. Digression II: Die Tradition von der endzeitlichen Gottesgelehrtheit

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Frieden-schaffenden) Belehrung durch Gott selbst (Jes 54,13) könnte angesichts der Parallelen in Jes in 55,2.11.12 aufgenommen sein244 mit den Stichworten „Hört auf mich“ (55,2), „lauscht mit euren Ohren“ (55,3), „kommt zu mir“ (MT) bzw. (nach LXX) „folgt meinen Wegen“ (55,3), „gebt (LXX: mir) Gehör“ (55,3), besonders durch „mein Wort“, welches „aus meinem Mund herausgeht“ (55,11), durch „deine Wege und meine Gebote“ (55,11 LXX; anders MT) und schließlich durch den Ausdruck ἐν χαρᾷ διδαχθήσεσθε (55,12 nach Rahlfs; gegen Göttinger LXX [GöLXX])245. Wer spricht die Einladung an alle Dürstenden (‫ ; ָצ ֵמא‬οἱ διψῶντες) bzw. Hungernden (Letzteres ist in V.2f. impliziert) und die, die kein Geld haben, aus, dass sie gehen, um „ohne Geld und ohne Kaufpreis“ (‫לוֹא־כ ֶסף ְוּבלוֹא ְמ ִחיר‬ ֶ ‫ ְבּ‬/ ἄνευ ἀργυρίου καὶ τιµῆς) zu trinken und zu essen (‫ ִא ְכלוּ‬/ φάγεσθε) das, was wirklich satt macht (V.2),246 damit „eure Seele (LXX: in Gutem [vgl. V.2]) (auf)leben wird (‫ ְוּת ִחי‬/ ζήσεται)“ (V.3)? Wer ruft dazu auf, „auf mich zu hören“ (V.2f.) und „zu mir zu kommen“ (V.3 MT) bzw. „meinen Wegen zu folgen“ (V.3 LXX)? Etwa die „Frau“ = das eschatologische Zion-Jerusalem, die in Jes 54 angesprochen war?247 Oder analog zu Spr 9,1.3–6 (vgl. auch Sir 15,3) eher „Frau Weisheit“248 bzw. die Tora249? Nach Berges bezieht sich „[d]ie Einladung an alle Dürstenden, sich der Wasserquelle zuzuwenden (vgl. Jes 12,3; Ps 46,5; 65,10; 87,7; Ez 47; Jo 4,18, Sach 14,8), […] auf die Gabe der Tora (Ps 1), die den Menschen nährt (vgl. Jes 55,2b mit Dtn 8,3)“250. Von Jes 54,17 (vgl. das „ich“) und von 55,3 her gesehen, wo eindeutig Gott spricht, kann hier wohl nur Gott der Sprecher sein.251 Dem Kontext zufolge (vgl. die göttlichen Verheißungen an Jerusalem-Zion und die Knechte [54,17 nach MT]) sind die Angeredeten solche, die dazu aufgefordert werden, sich der „Schülergemeinde Jhwhs“ (also den „Knechten JHWHs“) anzuschließen (vgl. MT: ‫ ;הוֹי‬kein Äquivalent in der LXX). Wenn dem so ist, wie sind das Wasser, der Wein, die Milch, das Gute und entsprechend das Trinken und Essen zu deuten?252 Steht „essen“ metaphorisch für „hören“? Ist „Nahrung“ dementsprechend eine Metapher für „Unterweisung“, also für die Tora?253 244

Vgl. BERGES 2010: 131: „Nach den göttlichen Zusagen für Zion und die Knechte in Kap. 54 ergeht in Jes 55 die Aufforderung, an dieser Schülergemeinde Jhwhs teilzunehmen.“ 245 Vgl. die Anmerkung z.St. in LXX.D und LXX.E 2011: 2672. 246 Nach HÖFFKEN (2006: 245) sollen hier „andere Sinnangebote als un-sinnig“ entlarvt werden. „Liest man dies im Blick auf das (den) Buch(teil) Dtrjes, so wird man ohne Not darauf geführt, dass hier an die Polemiken gegen die Götterbild(n)er erinnert wird, die nach dieser Sichtweise nichts taugen.“ 247 Dafür argumentiert PAGANINI 2005: 83–92. 248 So BLENKINSOPP 2002: 369. 249 Zur Identifikation vgl. u.a. Dtn 4,6. 250 BERGES 2010: 132. 251 So HÖFFKEN 2006: 245. 252 Vgl. Jes 12,3 und Jes 41,17–20 (vgl. daneben Jo 4[3],18 und Gen 49,10ff.). 253 Zur Metaphorik in Jes 55 vgl. KORPEL 1996: 43–55.

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4. Kapitel: Die Rezeption der Sinaitradition in Joh 6,31f.45f.

Auf jeden Fall erinnert das Festmahl, dem Kontext gemäß auf dem Zion, im Zusammenhang mit einem Bundesschluss an Ex 24,3.8.11 (besonders nach LXX).254 Gemäß V.3 will Gott nämlich mit denen, die der Einladung, mit ihren Ohren zu lauschen bzw. hören255 und zu essen und zu trinken, folgen und sich „der Knechtsgemeinde“ (Berges) anschließen, einen „ewigen Bund schließen: die unverbrüchlichen Gnaden(-erweise oder -zusagen) Davids ( ‫ַח ְס ֵדי ָדוִ ד‬ ‫) ַהנֶּ ֱא ָמנִ ים‬256“ bzw. nach der LXX: „Und ich will mit euch einen ewigen Bund schließen: die heiligen (Gnadenerweise) an David, die zuverlässigen (τὰ ὅσια ∆αυιδ τὰ πιστά).“257 Im folgenden Vers wird über David oder über eine davidisch-messianische Figur (vgl. Jes 49,6ff.; 53) gesagt, dass er von Gott zu einem Zeugen bzw. Zeugnis für bzw. unter den Völkern gemacht worden ist als Herrscher über jene (55,4). Gemäß Jes 55,5 soll Jerusalem bzw. deren Einwohner „eine Nation herbeirufen, die du nicht kennst“. Dann ändert sich die Perspektive. Nun heißt es, dass „eine Nation, die dich nicht kannte, zu dir laufen wird um JHWH willen, deines Gottes, und wegen des Heiligen Israels. Denn er hat dich herrlich gemacht.“ Die LXX ändert diesen Perspektivwechsel zwecks Harmonisierung ab258: „Völkerschaften, die von dir nicht wussten, werden dich anrufen, und Leute, die dich nicht kennen, werden bei dir Zuflucht suchen um deines Gottes willen, des Heiligen Israels, denn er hat dich zu Ehren gebracht.“ Auch hier wird deutlich, dass die Völker zwar einbezogen werden in das endzeitliche Geschick Jerusalems, die Unterscheidung zu Jerusalem jedoch nicht aufgegeben wird. In V.6–7 wird wieder eine allgemeine Aufforderung formuliert. Diesmal geht es um die Abkehr von der Gott- bzw. Gesetzlosigkeit259 und der Zuwendung zu Gott (V.7), bei dem Erbarmen zu finden ist und der (LXX fügt 254

Vgl. KOOLE 1998: 403. Vgl. im Kontrast dazu Jes 30,9. 256 Der Plural ‫ ַח ְס ֵדי‬wird in der LXX sonst mit δικαιοσύνη (vgl. Gen 32,11), mit τὰ ἐλέη (vgl. 1Chr 6,42: µνήσθητι τὰ ἐλέη ∆αυιδ τοῦ δούλου σου [gen. obi.]; Ps 16,7; 24,6; 88,2.50; 106,43 ) bzw. τὸ ἔλεος (vgl. 1Chr 32,32: καὶ τὰ κατάλοιπα τῶν λόγων Εζεκιου καὶ τὸ ἔλεος αὐτοῦ; 35,26; Neh 13,14; Ps 105,7; 118,41; Jes 63,7; Klgl 3,32) wiedergegeben. 257 Zur Diskussion des letzten, schwer verständlichen Teils des Verses, der aufgrund von 1Chr 6,42 (‫ ַח ְס ֵדי ָדּוִ יד‬nur noch hier!) vielleicht auf die Zusagen Gottes an David bzgl. des Tempels bzw. einer Erneuerung des Tempels verweist (so STROMBERG), vgl. die Kommentare sowie die LXX.E; daneben u.a. GENTRY 2007: 279–304 und STROMBERG 2009: 242– 255. 258 Vgl. LXX.E 2011: 2672. 259 Zur Deutung s. CLIFFORD 1983: 31: „Those entering the sanctuary must lay aside all unworthy conduct before being admitted to the holy place […] The parallel in thought to vv 1–5 is impressive. The first strophe summons the hearer to the divine dwelling and insists on receptivity to divine wisdom as the condition for life with Yahweh. The movement of the second strophe is the same: the summons to the sanctuary, the insistence upon turning from evil, the movement from food (‚and gives seed to the sower and bread to the eater‘) to life as association with Yahweh through commission (‚prosper in what I have sent it‘).“ 255

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erläuternd hinzu: Sünden) reichlich vergibt (V.7). Barmherzigkeit, Vergebung der Sünden ist nämlich tatsächlich das, was Gott im Sinn hat und wie er handelt (so kann das „denn“ [‫ ִכּי‬bzw. γάρ] gedeutet werden). Es unterscheidet sich so grundlegend von dem, was die Menschen denken, planen und tun (V.8–9), wie der Himmel entfernt ist von der Erde (V.9). Mit anderen Worten: Die Menschen denken „irdisch“, Gottes Gedanken aber sind „himmlisch“. „Himmel“ und „Erde“ werden im Folgenden aufgegriffen, wenn es nun um das Wort Gottes geht. Mit der Rede vom Wort Gottes wird ein Bogen geschlagen zu Jes 40,7f., wonach „das Wort unseres Gottes“ (‫ר־א ֵהינוּ‬ ֱ ‫ ְוּד ַב‬bzw. τὸ δὲ ῥῆµα τοῦ θεοῦ ἡµῶν) im Gegensatz zu schnell verdorrendem Gras und Feldblumen (als Sinnbild für die Vergänglichkeit des Menschen; vgl. V.6) in Ewigkeit bleibt“ (‫ ָיקוּם ְלעוֹלָ ם‬bzw. µένει εἰς τὸν αἰῶνα). In Jes 55,10–13 heißt es: Jes 55,10–13 (MT nach ElbÜ)

Jes 55,10–13 (LXX nach LXX.D)

10

Denn wie der Regen fällt (‫ ) ֵי ֵרד‬und vom Himmel der Schnee und nicht dahin zurückkehrt (‫) ָישׁוּב‬, sondern die Erde tränkt, sie befruchtet und sie sprießen läßt, daß sie dem Sämann Samen gibt und Brot dem Essenden,

10

Denn ebenso wie wenn (der) Regen oder Schnee vom Himmel niedergeht (καταβῇ ὑετὸς ἢ χιὼν ἐκ τοῦ οὐρανοῦ), er gewiss nicht zurückkehrt (ἀποστραφῇ), ehe er (nicht) die Erde reichlich getränkt hat und (Saat) keimen macht und sprießen lässt und Samen gibt dem Säenden, und Brot zur Speise,

11

so wird mein Wort sein, das aus meinem Mund hervorgeht. Es wird nicht leer zu mir zurückkehren, sondern es wird bewirken, was mir gefällt, und ausführen, wozu ich es gesandt habe.

11

12

12

Denn in Freuden werdet ihr ausziehen und in Frieden geleitet werden. Die Berge und die Hügel werden vor euch in Jubel ausbrechen, und alle Bäume des Feldes werden in die Hände klatschen.

so wird mein Wort (τὸ ῥῆµά µου) sein, das, wenn es aus meinem Mund herausgeht (ἐξέλθῃ ἐκ τοῦ στόµατός µου), gewiss nicht umkehrt (οὐ µὴ ἀποστραφῇ), bis alles vollendet wird, was ich gewollt habe (συντελεσθῇ ὅσα ἠθέλησα), und ich deine Wege und meine Gebote zum Erfolg geführt habe.

Denn mit Jauchzen werdet ihr ausziehen, und mit Freude werdet ihr die Zeit verbringen (mit Rahlfs und den meisten MSS: „in Freude Unterweisung260 erhalten“ [ἐν χαρᾷ διδαχθήσεσθε]261); denn die Berge und die Hügel werden bei eurem Empfang aufspringen vor Freude, und alle Bäume des Feldes werden mit den Zweigen Beifall klatschen,

260 LXX.E 2011: 2672: Der Unterricht bzw. die Unterweisung „dürfte sich nach V.11 auf Gottes Gebote beziehen“ (vgl. Jes 54,13 LXX). 261 Vgl. Tg Jes 12,3: „And you will accept a new teaching with joy from the chosen ones of righteousness.“

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Jes 55,10–13 (MT nach ElbÜ)

Jes 55,10–13 (LXX nach LXX.D)

10

Denn wie der Regen fällt (‫ ) ֵי ֵרד‬und vom Himmel der Schnee und nicht dahin zurückkehrt (‫) ָישׁוּב‬, sondern die Erde tränkt, sie befruchtet und sie sprießen läßt, daß sie dem Sämann Samen gibt und Brot dem Essenden,

10

Denn ebenso wie wenn (der) Regen oder Schnee vom Himmel niedergeht (καταβῇ ὑετὸς ἢ χιὼν ἐκ τοῦ οὐρανοῦ), er gewiss nicht zurückkehrt (ἀποστραφῇ), ehe er (nicht) die Erde reichlich getränkt hat und (Saat) keimen macht und sprießen lässt und Samen gibt dem Säenden, und Brot zur Speise,

11

so wird mein Wort sein, das aus meinem Mund hervorgeht. Es wird nicht leer zu mir zurückkehren, sondern es wird bewirken, was mir gefällt, und ausführen, wozu ich es gesandt habe.

11

13

13 und anstelle des Dornstrauchs wird Zypresse aufwachsen, anstelle des Flohkrautes aber wird Myrte aufwachsen; und es wird sein dem Herrn (oder besser mit Rahlfs und den meisten und besten MSS: der Herr [s. LXX.D, Anm. c zu Jes 55,13]) zum Namen und zum ewigen Zeichen (εἰς σηµεῖον αἰώνιον), und es wird nicht vergehen.

Statt der Dornsträucher werden Wacholderbäume aufschießen, und statt der Brennesseln schießen Myrten auf. Und es wird JHWH zum Ruhm, zu einem ewigen Denkzeichen sein, das nicht ausgelöscht wird.

so wird mein Wort (τὸ ῥῆµά µου) sein, das, wenn es aus meinem Mund herausgeht (ἐξέλθῃ ἐκ τοῦ στόµατός µου), gewiss nicht umkehrt (οὐ µὴ ἀποστραφῇ), bis alles vollendet wird, was ich gewollt habe (συντελεσθῇ ὅσα ἠθέλησα), und ich deine Wege und meine Gebote zum Erfolg geführt habe.

Im Vergleich zum Regen und Schnee, der vom Himmel „herabkommt“ (‫י ֵֵרד‬ bzw. καταβῇ) und erst dann „zurückkehrt“ (‫ ָישׁוּב‬bzw. ἀποστραφῇ), nachdem er die Erde bewässert hat und so zur entscheidenden Lebens-„Ursache“ einer ganzen Kette von Wirkungen wird, erfolgt eine Aussage über das Wort Gottes,262 das somit als schöpferisches Wort charakterisiert wird. Interessant ist, dass Ps 72(71),6 vom König (bzw. nach jüdischer Aufassung vom Messias; vgl. KohR 1,9263) sagt (vgl. die Erwähnung Davids in Jes 55,3f.), dass er herabkomme (‫ ֵי ֵרד‬bzw. καταβήσεται) wie Regen (‫ ְכּ ָמ ָטר‬bzw. ὡς ὑετὸς) auf die gemähte Flur (‫ ; ַ ל־גֵּ ז‬LXX: auf die Wolle), (LXX: und) wie Regenschauer als Befeuchtung (LXX: auf) das Land (tropfen [σταγόνες στάζουσαι ἐπὶ τὴν γῆν])“; dann wird gemäß V.7 „der Gerechte (‫ ) ַצ ִדּיק‬blühen, und Fülle von Heil (oder: Friede

262 Vgl. Dtn 32,2 LXX: „Mein [sc. Moses] Spruch werde ersehnt wie Regen (προσδοκάσθω ὡς ὑετὸς τὸ ἀπόφθεγµά µου καὶ καταβήτω ὡς δρόσος), und meine Worte sollen wie Tau herabkommen, wie ein Regenschauer auf Gras und wie Schneegestöber auf eine Wiese (τὰ ῥήµατά µου ὡσεὶ ὄµβρος ἐπ᾽ ἄγρωστιν καὶ ὡσεὶ νιφετὸς ἐπὶ χόρτον).“ 263 S. Haupttext vor Fußnote 194 in diesem Kapitel.

4. Digression II: Die Tradition von der endzeitlichen Gottesgelehrtheit

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[‫ )] ָשׁלוֹם‬wird sein“ (MT) bzw. „die Gerechtigkeit aufgehen und Friede in Fülle sein“ (ἀνατελεῖ ἐν ταῖς ἡµέραις αὐτοῦ δικαιοσύνη καὶ πλῆθος εἰρήνης).264 Nach Jes 55,11 „geht“ das Wort Gottes „aus meinem Mund heraus“ (‫יֵ ֵצא ִמ ִפּי‬ bzw. ἐξέλθῃ ἐκ τοῦ στόµατός µου), es kommt mithin aus Gottes unmittelbarer „Sphäre“. Dies erinnert an die Sinaitheophanie, als Gott gemäß Ex 20,22 „vom Himmel mit euch geredet hat“ (ὑµεῖς ἑωράκατε ὅτι ἐκ τοῦ οὐρανοῦ λελάληκα πρὸς ὑµᾶς), und dann auch an Dtn 8,3, wenngleich die Formulierungen nicht absolut identisch sind. Das Wort Gottes kehrt auch wieder zu Gott zurück. Aber seine „Rückkehr“ erfolgt erst, nachdem es Gottes Heilswillen (ὅσα ἠθέλησα) auf der Erde vollendet und gemäß V.11 „ausführt, wozu ich es gesandt habe“ bzw. (nach der LXX) „deine Wege und meine Gebote zum Erfolg geführt“ hat (εὐοδώσω τὰς ὁδούς265 σου καὶ τὰ ἐντάλµατά µου; offenbar eine Konkretion des MT266). Anders gesagt: das schöpferische Wort Gottes schafft Leben (vgl. Dtn 8,3), indem es Gottes Heilsabsichten realisiert. Nach V.12 umfassen Gottes Heilsabsichten auch den von Jubel begleiteten Auszug (ἐξελεύσεσθε), welcher in Analogie zum Auszug aus Ägypten gelesen werden kann (vgl. Ex 12,41; 13,3; 16,1 mit Jes 11,16).267 Welche Funktion hat dieser Rekurs auf das Wort Gottes? Die in Jes 54 beschriebenen Ankündigungen Gottes, insbesondere die Zusage von Nachkommenschaft an eine Unfruchtbare, stehen „so gegen alle menschliche Voraussicht, dass sie mit einem Hinweis auf die Durchsetzungskraft des göttlichen Wortes eigens untermauert“268 werden. Das in V.11 LXX begegnende Wort ἐντάλµατα kommt in Jes LXX nur noch in Jes 29,13 vor. Diese Passage ist umso relevanter, als dass dort die Rede ist von „lehren“ (διδάσκω [hebr.: ‫ )]למד‬und „Lehre“ (διδασκαλία [hebr.: ‫)] ִמ ְצוָ ה‬. Beides sind Begriffe, die verwandt sind mit dem in Jes 54,13 verwendeten Ausdruck „Gelehrte“ bzw. „Belehrte“ (διδακτοί [hebr.: ‫מּוּדים‬ ִ ‫)] ִל‬: Jes 29,13 (MT nach ElbÜ)

Jes 29,13 (LXX nach LXX.D)

Und der Herr hat gesprochen: Weil dieses Volk mit seinem Mund sich naht und mit seinen Lippen mich ehrt, aber sein Herz fern von mir hält und ihre Furcht

Und der Herr sprach: „Dieses Volk naht sich mir, mit ihren Lippen ehren sie mich, ihr Herz (ἡ δὲ καρδία αὐτῶν) aber ist weit entfernt von mir; vergeblich aber verehren

264

Der Vergleich mit Niederschlag vom Himmel kann im Kontext der Zusage von Nachkommenschaft (" ֵ ‫ זַ ְר‬bzw. τὸ σπέρµα σου; 54,3) an die Unfruchtbare, die nicht geboren hat (‫ ל ֹא ָי ָל ָדה‬bzw. οὐ τίκτουσα), so gedeutet werden, dass das himmlische Wort Gottes die Nachkommenschaft „zeugt“. So ist in V.10 die Rede davon, dass der Niederschlag vom Himmel herabkommt, die Erde tränkt und „(Saat) keimen macht“ (ἐκτέκῃ) und sprießen lässt und „Samen (σπέρµα) gibt dem Säenden“. Dabei ist zu beachten, dass Nachkommenschaft in Jes bisweilen metaphorisch als Pflanze beschrieben wird (vgl. u.a. Jes 11,1; 17,10; 37,31). 265 Vgl. Jes 48,15. 266 Vgl. LXX.E 2011: 2672. 267 Vgl. SCHMIDT 2013: 290. 268 BERGES 2010: 129.

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Jes 29,13 (MT nach ElbÜ)

Jes 29,13 (LXX nach LXX.D)

vor mir (nur) angelerntes Menschengebot ist (‫…) ִמ ְצוַ ת ֲאנָ ִשׁים ְמלֻ ָמּ ָדה‬

sie mich, weil sie Menschengebote und lehren erteilen (διδάσκοντες ἐντάλµατα ἀνθρώπων καὶ διδασκαλίας).“

Demgemäß ist die Verehrung des Volkes vergeblich, weil sie nur äußerlich erfolgt, nämlich mit den „Lippen“. Das Herz ist bei alledem fern von Gott. Dem entspricht, dass die Lehre, die gelehrt wird, Menschengebot (‫) ִמ ְצוַ ת ֲאנָ ִשׁים‬ bzw. von Menschen gemacht (ἀνθρώπων) ist. Liegt es ausweislich des auf der Textoberfläche vorhandenen Zusammenhangs von Jes 29,13 und Jes 54,13 sowie Jes 55,12 (wenn man die Lesart ἐν χαρᾷ διδαχθήσεσθε bevorzugt) nicht nahe, dass die endzeitliche Belehrung durch Gott (Jes 54,13) implizit kontrastiert wird mit menschlicher Lehre, insofern die Belehrung bzw. das Wort Gottes im Gegensatz zu menschlichen Worten das Herz des Menschen erreicht, also effektiv ist? Mir scheint es wichtig, an dieser Stelle noch auf die Verbindung zwischen Jes 54,13 und Jer 31[38],34269 hinzuweisen,270 wo es in einem sehr ähnlichen Zusammenhang271, aber unter explizitem Bezug zum Sinaibund heißt: Jer 31,34 (MT nach ElbÜ)

Jer 38,34 (LXX nach LXX.D)

Dann wird nicht mehr einer seinen Nächsten oder einer seinen Bruder lehren (‫ )ל ֹא ְי ַל ְמּ דוּ‬und sagen: Erkennt (‫) ְדּעוּ‬ JHWH! Denn sie alle (‫כוּלּם‬ ָ ) werden mich erkennen (‫ )יֵ ְדעוּ‬von ihrem Kleinsten bis zu ihrem Größten, spricht JHWH. Denn ich werde ihre Schuld vergeben und an ihre Sünde nicht mehr denken.

Und sie werden sich gewiss nicht (gegenseitig) belehren (müssen) (οὐ µὴ διδάξωσιν), jeder seinen Mitbürger und jeder seinen Bruder: „Erkenne (γνῶθι) den Herrn!“ Denn alle (πάντες) werden mich kennen (εἰδήσουσίν), von ihrem Kleinsten bis zu ihrem Größten, denn ich werde gegen ihre Ungerechtigkeiten gnädig sein, und ihrer Sünden werde ich mich nicht erinnern.

269

S. SCHENKER 2006 (seine These einer größeren Ursprünglichkeit der LXX-Fassung von Jer 31,31–34 ist allerdings umstritten; vgl. zur Diskussion die Beiträge von FISCHER [612–629] und STIPP [630–653] in dem Sammelband von KRAUS/KARRER 2008; daneben die Erläuterungen von A. VONACH in LXX.E 2011: 2696–2737). 270 Dazu und zu den weiteren zahlreichen Verbindungen zwischen Jes und Jer vgl. SOMMER 1998: 46ff. 271 Beispiele: Wiederaufbau der Jungfrau Israel (V.4), Freude beim Hinaufgehen nach Zion (V.6f.), Gebären einer großen Menge (V.8), Gott als Vater (V.9), Lebensmittel wie Wein und Korn stillen den Hunger und die Seele wird getränkt (V.12.14.25), Jubel (V.13), Erbarmen Gottes (V.20), „Samen“/ „Pflanzung“ (V.27f.), Vergebung der Sünden (V.34), auserlesene Steine umschließen die Stadt (V.39).

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Bekanntermaßen geht es im Zusammenhang um den eschatologischen „neuen Bund“ (Jer 31[38],31; vgl. Jer 32[39],40 [neuer Bund ist ein ewiger Bund]272 mit Jes 54,10; 55,3), der sich unterscheidet von der Art des Sinaibundes zwischen Gott und den Vätern, als Gott sie aus Ägypten „herausgeführt“ (V.32; vgl. Jes 55,12) hat. Jenen Bund haben die Väter gebrochen. Die LXX sagt es noch härter: Sie blieben nicht am/im Bund Gottes (ἐνέµειναν ἐν τῇ διαθήκῃ µου), und Gott hat sich nicht um sie gekümmert (καὶ ἐγὼ ἠµέλησα αὐτῶν). Karrer paraphrasiert dies so: „Wegen des Bundesbruchs Israels (vgl. Jer 11,1–14), wo die LXX gleichfalls verschärft) verurteilt Gott seinen Bund mit den Vätern zur Unwirksamkeit. Die Häuser Israel und Juda leben daher, bevor Gott seinen neuen Bund schließt, faktisch ohne Bund, jenseits des Bundesraums.“273 Impliziert ist, dass der „neue Bund“ dadurch charakterisiert ist, dass Israel diesen nicht brechen (MT) bzw. an diesem festhalten wird (LXX).274 So kündigt Gott in V.33 MT an: Sondern das ist der Bund, den ich mit dem Haus Israel nach jenen Tagen schließen werde, spricht JHWH: Ich werde (wörtlich: ich hatte gelegt [‫ )]נָ ַת ִתּי‬mein Gesetz (‫ת־תּוֹר ִתי‬ ָ ‫ ) ֶא‬in ihr Inneres (oder: in ihre Mitte [‫ )] ְבּ ִק ְר ָבּם‬legen und werde es auf ihr Herz schreiben ( ‫ַ ל־לִ ָבּם‬ ‫) ֶא ְכ ֲתּ ֶבנָּ ה‬. Und ich werde ihr Gott sein, und sie werden mein Volk sein.

Demnach hatte Gott selbst seine Tora inmitten von Israel „gegeben“ (am Sinai durch Mose); beim neuen Bund (jedoch) wird er sie – anders als am Sinai, als die Tora auf Steintafeln „geschrieben“ wurde275 – auf ihr Herz „schreiben“. Weil die Väter die Tora also nicht auf ihr Herz geschrieben hatten, brachen sie den Bund. Die LXX ist im Gegensatz zum MT, der die Möglichkeit einer futurischen Deutung des ‫ נָ ַת ִתּי‬zumindest offen lässt, eindeutig auf die Zukunft bezogen: „Wenn ich sie gebe, werde ich meine Gesetze in ihren Verstand geben, und auf ihre Herzen werde ich sie (auf)schreiben“ (διδοὺς δώσω νόµους µου εἰς τὴν διάνοιαν αὐτῶν καὶ ἐπὶ καρδίας αὐτῶν γράψω αὐτούς). Zugleich wird die klare im MT sichtbare Verknüpfung zur Sinaitora etwas gelöst, indem nun von „meinen Gesetzen“ im Plural die Rede ist. Die Folgen dieses endzeitlichen Schreibens „meiner Tora“ bzw. „meiner Gesetze“ auf die Herzen werden dann im Folgenden erläutert: Da ist zum einen die unverbrüchliche Beziehung zwischen Gott und seinem Volk (Kontrast zu V.32): „Und ich werde ihr Gott sein, und sie werden mein Volk sein“ (vgl. Jer 7,23; 11,4; 24,7)276. Ferner wird die gegenseitige menschliche Belehrung, die auf die Erkenntnis bzw. Kenntnis Gottes abzielte, sie aber offensichtlich

272

Vgl. LUNDBOM 2004: 466. KARRER 2008: 117. 274 Vgl. Jes 59,21. 275 Vgl. Ex 24,12; 31,18; 32,15; 34,1; 34,28. 276 Vgl. auch u.a. Dtn 7,6; 14,2; 27,9; 28,9; 29,12. 273

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nicht dauerhaft bewirken konnte, überflüssig sein.277 Denn alle werden Gott erkennen. Dies wird unterstrichen: „von ihrem Kleinsten bis zu ihrem Größten“. Der Text scheint nahe zu legen, dass die (Er-)Kenntnis Gottes aller aus der Belehrung aller durch Gott folgt. Da die endzeitliche Belehrung durch Gott selbst und die damit einhergehende (Er-)Kenntnis Gottes aller in Jeremia im Rahmen des Kontrastes zum Sinaibund zur Sprache kommt, kann man ausweislich der Entsprechungen zwischen Jer 31[38] und Jes 54f. annehmen, dass dies auch für Jes 54,13 gilt: Jes 54,13 kündigt ein Belehrt-Sein an, welches durch Gott selbst und nicht durch Mose und andere menschliche Lehrer erfolgt, mithin auf Gotteserkenntnis zielt. Angesichts dessen ist es von großer Bedeutung, dass Mose insbesondere nach Dtn der Gesetzeslehrer Israels schlechthin ist, der Israel lehrt, damit sie die Gesetze tun sollen.278 So heißt es in Dtn 4,1 programmatisch: „Und nun, Israel, höre auf die Ordnungen und auf die Rechtsbestimmungen, die ich euch zu tun lehre, damit ihr lebt …“ (LXX ist ähnlich). Gemäß V.14 ist Mose dazu von Gott am Sinai befugt worden: „Und mir gebot JHWH zu jener Zeit, euch Ordnungen und Rechtsbestimmungen zu lehren, damit ihr sie hieltet in dem Land, in das ihr hinüberzieht, um es in Besitz zu nehmen“279 (LXX stimmt im Wesentlichen damit überein). Mose stand ja „zwischen JHWH und euch zu jener Zeit, um euch das Wort (LXX: die Worte) JHWHs zu verkünden; denn ihr fürchtetet euch vor dem Feuer und stieget nicht auf den Berg“ (Dtn 5,5). Dem mosaischen Lehren entspricht das Lernen durch das Volk, wie Dtn 5,1 deutlich macht: „Und Mose rief ganz Israel herbei und sprach zu ihnen: Höre, Israel, die Ordnungen und die Rechtsbestimmungen, die ich heute vor euren Ohren rede! Lernt sie und achtet darauf, sie zu tun“; in diesem Zusammenhang begegnet auch das Motiv der Worte, die im Herzen sein sollen (vgl. Dtn 6,6)280. Allerdings zeigt das Lied Moses (Dtn 32,1–43), welches er gemäß der LXX Israel ebenfalls lehrte (ἐδίδαξεν; Dtn 32,44), dass seine Lehre Israel nicht davon abhalten wird, den Bund zu brechen (vgl. die Ankündigung Gottes in Dtn 31,16). „Das nach dem Deuteronomium Israel auferlegte Lehren und Lernen der Tora 277 Vgl. FINSTERBUSCH 2005: 79: „Es gibt im Kontext des sog. Trostbüchleins (Jer 30f.) nur eine Stelle, in der dem Israel des früheren Bundes religiöse Erkenntnis zugeschrieben wird, nämlich Jer 31,19. Hier wird dem exilierten Ephraim die Aussage in den Mund gelegt, dass es, angestoßen durch die Züchtigung JHWHs, Erkenntnis erlangte. Im Licht der Aussage Jer 31,34 wäre zu ergänzen: bedingt durch eine kollektive Lehr- und Lernbewegung unter den Erwachsenen. Der Erkenntnis Ephraims wird, wie aus dem weiteren Kontext hervorgeht, allerdings keine Nachhaltigkeit zugeschrieben, da sie Ephraim nicht von Schuld abhalten kann.“ 278 Vgl. FINSTERBUSCH 2005: 115–314. Zur Belehrung durch Gott in den Psalmen (z.B. Ps 25[24],4.5.9) vgl. ZENGER 2005: 47–67. 279 Vgl. Dtn 5,31; 6,1; 31,19.22; 32,44. 280 Im MT ist der Kontrast zwischen Jer 31,33 (‫ ) ַ ל־לִ ָבּם‬und Dtn 6,6 ()‫ ) ַ ל־לְ ָב ֶב‬noch deutlicher.

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soll idealiter dazu führen, dass die Tora dem Einzelnen durchgängig präsent ist und nicht vergessen wird. Die [in Jer] verheißene Inskription garantiert dies.“281 4.3 Targum Jes 54,13 in seinem Kontext Jes 54,13 lautet nach dem Targum282: „All your sons shall be (‫ ) ְיהוֹן‬taught (‫) ָא ְל ִפין‬ in the law of the LORD (‫אוֹר ָיתא ַדיוי‬ ָ ‫) ְב‬, and great shall be the prosperity of your sons.“ Der Targum ergänzt (jedenfalls nach den wichtigen Handschriften British Museum 2211 und 1474)283 kontextgemäß „sie werden sein“ (‫ ) ְיהוֹן‬und fügt ein, worin gelehrt wird (‫) ָאלְ ִפין‬, nämlich in der Tora des Herrn (‫אוֹר ָיתא ַדיוי‬ ָ ). Allerdings ist dann nicht mehr klar, wer lehrt; implizit ist es vielleicht Gott. „Alle deine Söhne“ bezieht sich im Targum explizit auf die zerstörte und von der Schekina kurzzeitig verlassene284 Stadt Jerusalem (wohl im wörtlichen Sinne [vgl. V.10]), denn sie soll Rom in der Zahl ihrer Kinder weit übertreffen (vgl. V.1). Jerusalem wird nach V.15.17 Folgendes versprochen: „15 Behold, the exiles of your people shall surely be gathered to you at the end; the kings of the peoples who are gathered to distress you, Jerusalem, shall be cast in your midst […] 17 no weapon that is prepared against you, Jerusalem, will prosper, and you shall declare a sinner every tongue that rises against you in judgment…“ Chilton bemerkt dazu, dass solche Texte die Art der Deutung widerspiegeln könnten, die militärische Bewegungen wie den Bar Kochba Aufstand unterstützte.285 Bemerkenswert ist, dass der Targum die Aufforderungen in Jes 55,1ff. zum Essen und Trinken explizit im übertragenen Sinne auf Hören und Lernen von Lehre = Tora deutet,286 sodass der Konnex zu Jes 54,13 noch deutlicher hervortritt: 55.1 Ho, every one (‫ ) ָכל‬who wishes to learn (‫) ְל ֵמ ילַ ף‬, let him come (‫יתי‬ ֵ ‫ ) ֵי‬and learn (‫;)וְ ֵי ילַ ף‬ and he who has no money, come (‫) ֵאיתוֹ‬, hear (‫ ) ְשׁ ַמ ֻ ו‬and learn (‫ !)וְ ֵא ַיל ֻפו‬Come (‫) ֵאיתוֹ‬, hear (‫ ) ְשׁ ַמ ֻ ו‬and learn (‫)וְ ֵאילַ ֻפו‬, without price and not with mammon, teaching (‫לפן‬ ָ ‫ ) ֻא‬which is better than wine and milk. 55.2 Why do you spend your money for that which is not to eat, and your labour for that which does not satisfy? Attend to my Memra (‫ימ ִרי‬ ְ ‫ )לְ ֵמ‬diligently (‫) ַק ִבילֻ ו ַק ָב ָלא‬, and eat what is good, and your soul shall delight itself in that which is fat. 55.3 Incline your ear, and attend to my Memra (‫ימ ִרי‬ ְ ‫ילו ְל ֵמ‬ ֻ ‫ ;)וְ ַק ִב‬hear, that your soul may live; and I will make with you an everlasting covenant, the sure benefits of David. 55.4 Behold, I 281

FINSTERBUSCH 2005: 74 (kursiv im Original). Text: CAL project; Übersetzung: CHILTON 1987. 283 Vgl. CHILTON 1987: 106: „‚shall be’ (on the first occasion) is present in B.M. 2211 and 1474, while it is omitted in the other witnesses supplied in the RSV. The second usage (which is in the singular) seems to be inanimously attested in the Targum, although the MT omits it.“ 284 Vgl. V.8: „In a brief hour, for a time, I took up the face of my Shekhina from you.“ 285 Vgl. CHILTON 1987: 107. 286 Darauf hat RONNING 2007: 255f. aufmerksam gemacht. 282

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appointed him a prince to the peoples, a king and a ruler over all the kingdoms. 55.5 Behold, people that you know not shall serve you, and people that knew you not shall run to offer tribute to you, for the sake of the LORD your God, and of the Holy One of Israel, for he has glorified you.287

Aus dem im MT etwas seltsamen, da aus der Perspektive des Eingeladenen gesprochenen, „gehen“ (‫ )הלך‬wird im Targum das eigentlich passendere „kommen“ (‫)אתי‬. Daneben fällt auf, dass in V.2 und V.3, statt „hört auf mich“ bzw. „geht zu mir“ wie im MT, „achtet auf meine Memra“ steht. Es ist umstritten, wozu in den Targumim Memra, Schekina usw. eingesetzt wird – sollten dadurch Anthropomorphismen vermieden werden?288 Chilton argumentiert, m.E. plausibel, für eine andere Deutung, da „the meturgeman can conceive of God in his most personal being, as the One who is called ‚Yahweh‘ (ywy), as speaking, helping, sending prophets, and gathering outcasts, and also as destroying, and even killing“289. Statt einfach nur als anti-anthropomorphistischer Ersatz dienen Wörter wie Memra, Schekina usw. zur Hervorhebung eines bestimmten Aspekts von Gottes Handeln, „be it in his word of command (‚Memra‘), in his availability in the cult (‚Shekhinah‘), or in his eschatological intervention on behalf of his people (‚kingdom‘)“290. Folgt man diesem Verständnis, dann wird ausweislich des evidenten Rückbezugs von „achtet auf meine Memra“ deutlich, dass Gott in 55,1f. dazu auffordert, zu ihm zu kommen, um das zu „essen“ und zu „trinken“, was wirklich „satt“ macht und Leben gibt, nämlich auf seine Lehre bzw. Tora bzw. auf sein Wort zu hören und es zu lernen. Folglich ist in Tg Jes die Ankündigung, dass in der Endzeit „alle Söhne“ Jerusalems in der Tora Gottes gelehrt werden (Tg Jes 54,13),291 eng verzahnt mit der Aufforderung, zum Zion zu kommen, um Gottes Lehre bzw. Tora bzw. das Wort Gottes zu hören und zu lernen. Wer der Aufforderung nachkommt, die Tora hört und lernt, wer also ein Schüler Gottes ist, mit dem wird Gott den ewigen Bund schließen, und der ist „Sohn“ bzw. Nachkomme Jerusalems. Bei alledem ist natürlich gemeint, dass die Tora so gehört und gelernt wird, dass es zur praktischen Umsetzung, zum Tun der Tora kommt. Mithin scheint das Hören und Lernen = Tun der Tora die Voraussetzung für die endzeitlichen Segnungen und den „ewigen Bund“ im Zusammenhang mit dem messianischen Zeitalter zu sein, da „V. 4 would appear to be an allusion to the messianic kingdom, an interpretation which was occasioned by the reference to David in 287

Die Kursivierung im Text stammt von mir. Vgl. die knappe Diskussion bei CHILTON 1987: xvi. 289 CHILTON 1987: xvi. 290 CHILTON 1987: xvi. 291 Vgl. auch Tg Jer 31,34: „And a man shall no longer teach his neighbour and his brother, saying, Know how to fear from before the Lord; for all of them shall learn to know the fear of me (‫חל ִתי‬ ְ ‫( “) ֻכלְ הוֹן ֵיילְ ֻפון ידעון ְל ִמ ַדע ַד‬Übersetzung: HAYWARD 1987: 134). 288

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v.3“292. Die Erwähnung von Tributzahlungen in V.5 („…and people that knew you not shall run to offer tribute to you (‫) ְל ַא ָס ָקא לָ ך ִמ ִסין‬, for the sake of the LORD your God…“) bestätigt diese Deutung, zumal wenn man sie mit Tg Jes 16,1 vergleicht, wo es heißt: „They [sc. Moab] will offer tribute to the Messiah of Israel who prevailed over the one as the desert, the mount of the congregation of Zion.“ 4.4 Weitere (früh-)jüdische Deutungen von Jes 54,13 Eine Anspielung auf Jes 55,1f. scheint in Sir 51,23ff. vorzuliegen: 23 Nähert euch mir, ihr Unerzogenen, und wohnt im Haus der Erziehung. 24 Warum zögert ihr noch dabei und dürsten (διψῶσι; vgl. Jes 55,1: οἱ διψῶντες) eure Seelen (αἱ ψυχαὶ ὑµῶν; vgl. Jes 55,2: ἐντρυφήσει ἐν ἀγαθοῖς ἡ ψυχὴ ὑµῶν) so sehr? 25 Ich habe meinen Mund geöffnet und geredet: ‚Kauft293 (κτήσασθε; vgl. das Äquivalent in Jes 55,1: ἀγοράσατε) für euch selbst ohne Geld (ἄνευ ἀργυρίου; vgl. Jes 55,1: [πίετε] ἄνευ ἀργυρίου [nur hier in LXX]). 26 Beugt euren Nacken unter’s Joch, und eure Seele soll Erziehung annehmen. Nah ist es, sie zu finden.“294

Demgemäß wird die von der Weisheit bzw. dem Lehrer der Weisheit ausgehende Erziehung als Mittel zur Stillung des „Durstes“ der Seele präsentiert. Der Weisheitslehrer oder die Weisheit (bzw. das Gesetz; vgl. Sir 51,19 und die Metapher vom Beugen des Nackens unters Joch in 51,26), bei der Erziehung zu finden ist (vgl. Sir 51,16), spricht die Einladungen aus. Sie ist es, die „getrunken“ wird und so den Durst der Seele stillt. Eine gewisse motivische Nähe zu Jes 55,1ff. finden sich vielleicht in 1Hen 48,1 und 1Hen 82,2f.,295 wo die Weisheit als Wasser und als Speise dargestellt wird, das die nach Weisheit „Durstigen“ trinken werden, und die man durch Horchen und Lernen „essen“ kann: 1Hen 48,1: An jenem Ort [bei dem „Hochbetagten“; vgl. 46,1 mit Dan 7,9] sah ich die Quelle der Gerechtigkeit, die unerschöpflich war, und ringsum umgaben sie viele Quellen der Weisheit; und alle Durstigen tranken von ihnen und wurden voll Weisheit, und ihre Wohnungen waren bei den Gerechten und Heiligen und Auserwählten. 1Hen 82,2f: Weisheit habe ich [Henoch] dir [Methusala] und deinen Kindern gegeben und denen, die deine Kinder sein werden (= deinen künftigen Nachkommen), dass sie ihren Kindern für (kommende) Generationen diese Weisheit überliefern, (die) über ihr Verständnis (geht). 3 Und die, die Verständnis haben, werden nicht schlafen, sondern ihre Ohren werden horchen, um diese Weisheit zu erlernen, und sie wird denen, die (davon) essen, besser gefallen als gute Speisen.296 Allerdings lässt sich allein aufgrund dieser Nähe keine Rezeption von Jes 55,1ff. belegen.

292

CHILTON 1987: 107, Notes zu 55,1–55,13. Nach LXX.E hat der hebräische Text (MS.B) „Kauft euch Weisheit ohne Geld!“ 294 Übersetzung: LXX.D. 295 Vgl. LANGE/WEIGOLD 2011: 137f. 1Hen 82,2 wird dort wohl fälschlicherweise bei Jes 55,8f. angegeben. 296 Übersetzung: UHLIG 1984: 590.667. 293

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Leider ist der Qumran-Pescher zu Jes nur fragmentarisch erhalten. In 4Q164 Frg. 1 findet sich jedoch ein Hinweis darauf, wie man Jes 54,13 vermutlich gedeutet hat, denn dort wird der unmittelbare Kontext folgendermaßen erklärt:297 […]. ganz Israel ist wie Augenschminke um das Auge. Ich will dich gründen ("‫יס ְד ִתּ י‬ ַ ִ‫ )ו‬mit Sa[phiren. (Jes 54,11c) Die Deutung der Stelle ist,] 2 [da]ß sie den Rat der Einung gegründet (‫ ) ָי ְסדוּ‬haben [mit (den)] Priestern(,) und ..[ … (ist) inmitten] 3 des Rats seiner Erwählten wie ein Saphirstein inmitten der Steine[… Ich will zu einem funkelnden Edelstein mache] 4 alle deine sonnenförmigen Schilde. (Jes 54,12aα) Seine Deutung bezieht sich auf die zwölf [Mann im Rat der Einung, die] 5 Erleuchtung bringen durch den Richterspruch der Urim und Thummim […] 6 fehlen von ihnen, sind wie die Sonne in all ihrem Licht. Und al[le deine Tore (will ich machen) zu Karfunkeln. (Jes 54,12aβ)] 7 Seine Deutung bezieht sich auf die Häupter der Stämme Israels hinsichtlich des En[des der Tage …] 8 sein Los sind die Posten der .[…]298

Demnach wird „[d]ie im Jesaja-Zitat gebotene Verheißung des Wiederaufbaus Jerusalems nach der Zerstörung in der Exilszeit […] auf die Gründung der essenischen Gemeinschaft und deren Institutionen bezogen“299. „Ganz Israel“ wird in Zeile 1 gleichgesetzt mit der „Einung“ von Qumran und wird durch den „Rat der Einung“ (Zeile 2) bzw. dem „Rat seiner Erwählten“ (Zeile 3) repräsentiert.300 In diese Richtung weist die Erwähnung von zwölf (Mann und/oder Priestern [vgl. die Erwähnung von Urim und Thummim])301 im Rat der Einung bzw. seiner bzw. seines Erwählten, als die die sonnenförmigen Schilde interpretiert werden; diese zwölf (Mann und/oder Priester) stehen wohl letztlich für die zwölf Stämme Israels. Ob der „Saphirstein inmitten der Steine“ (Zeile 3) den gesamten Rat der Einung, bestehend aus Priestern und Laien, oder nur die Priester (vgl. Ex 28,18)302 innerhalb des Rates umfasst, ist zwar nicht ganz klar, doch zeigt sich hier auf jeden Fall die metaphorische Deutung der „Steine“ des eschatologischen Zion-Jerusalems als Mitglieder des endzeitlichen Gottesvolkes, als das sich die Gemeinschaft angesehen hat. Für die Interpretation von Jes 54,13 ergibt sich daraus die Vermutung, dass die Gemeinschaft sich identifiziert hat mit „allen deinen Söhnen“, die von Gott in der Endzeit belehrt werden.303 Dies wird bestätigt durch CD XX,4. Im 297

Vgl. auch die Deutung von Jes 54,16 in CD XI,7. Text und Übersetzung: STEUDEL 2001. 299 STEUDEL 2001: 233; vgl. auch METZENTHIN 2010: 261. Eine ähnliche Stelle, wo die Stadt mit ihren Toren metaphorisch auf die Gemeinschaft gedeutet wird, findet sich in 1QH XIV,27–32 (darauf macht STEUDEL [2001: 275, Anm. 6] aufmerksam). 300 Vgl. METZENTHIN 2010: 260. 301 Zur Diskussion vgl. METZENTHIN 2010: 259. Metzenthin plädiert (im Anschluss an JOSEPH BAUMGARTEN) für eine Zusammensetzung des Rates aus zwölf Priestern und zwölf Laien. 302 So METZENTHIN 2010: 259f. 303 Vgl. EGO 2005: 15–22; STEUDEL 2005: 99–116. 298

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Kontext geht es um solche, die die „Vorschriften der Aufrichtigen“, d.h. derer, die „in den neuen Bund im Lande Damaskus eingetreten sind“ (CD XIX,33f.), nicht beachten, obwohl sie zunächst Mitglieder in der besagten Gemeinschaft waren (die wohl nicht identisch ist mit der Qumrangemeinschaft, wenngleich auch eine Kontinuität zwischen den Gemeinschaften besteht). Über die Abtrünnigen heißt es in CD XX,2ff. : 2 […] Scheut er zurück, die Vorschriften der Aufrichtigen auszuführen 3 so ist er der Mann, der mitten im Ofen geschmolzen wird. Wenn seine Taten offenbar werden, soll er aus der Gemeinde fortgeschickt werden 4 wie einer, dessen Los nicht inmitten der Jünger Gottes ֵ ‫ ) ִל‬gefallen ist.304 (‫מּוּדי ֵאל‬

Allerdings darf bei alledem nicht übersehen werden, dass „die gegenwärtige Erfahrung göttlicher Belehrung und die aktuelle Einsicht in die göttlichen Geheimnisse eine Antizipation der endzeitlichen Vollkommenheit darstellt“305. Es darf also nicht geschlossen werden, dass die Gemeinschaft von Qumran keine Erwartung einer endgültigen endzeitlichen Belehrung durch Gott hatte (vgl. 1QS IV,21f.). In gewisser Analogie zu qumranischen Vorstellungen sind es gemäß bTBer 64a die rabbinischen Schriftgelehrten, die als Kinder Jerusalems von Gott gelehrt sind: „R. Eleazar sagte im Namen R. Haninas: Die Schriftgelehrten vermehren den Frieden in der Welt, denn es heisst: Und alle deine Kinder sind Gottesgelehrte, und viel ist der Friede deiner Kinder; lies nicht: banajikh [deiner Kinder], sondern bonajikh [deiner Erbauer].“306 Demnach gelten die Schriftgelehrten sowohl als Kinder Jerusalems als auch als Erbauer (andere Vokalisation von ‫בניך‬, vgl. auch 1QJesa zur Stelle) Jerusalems, die durch ihr Studium der Tora Jerusalem errichten und „den Frieden in der Welt vermehren“. Allerdings ist unklar, ob damit wirklich gesagt ist, dass die endzeitliche Hoffnung auf direkte Gottesbelehrung schon zur Gänze erfüllt und das eschatologische Zion-Jerusalem schon erbaut ist. Andere rabbinische Texte erwarten die Gottesbelehrung jedenfalls in der Zukunft:307 PRK 12: In dieser Welt (spricht Gott) habe ich euch die Thora gegeben und einzelne waren damit beschäftigt, aber einst lehre ich sie allen Israeliten und sie lernen sie und vergessen sie nicht, wie es heißt Jerem. 31,33: „Dieses ist der Bund, den ich schließen will mit den Kindern Israels nach selbigen Tagen, spricht der Ewige; ich will geben meine Thora in ihr Inneres und schreibe sie auf ihr Herz und ich will ihr Gott sein und sie sollen mein Volk sein.“ Und nicht nur das, sondern ich vermehre auch den Frieden unter ihnen, sowie Jesaia

304

Text und Übersetzung: LOHSE 1986. Vgl. auch 1QH 2,39. EGO 2005: 22. 306 Übersetzung: GOLDSCHMIDT 1897: 240 (kursiv im Original). 307 Vgl. EGO 2005: 22: „Eine […] Kombination von intensivem Schriftstudium und der Hoffnung auf eine definitive eschatologische göttliche Belehrung findet sich schließlich in den rabbinischen Texten.“ 305

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gesagt hat s. c. 54,13: „Und alle deine Kinder sollen Lehrlinge des Ewigen sein, und groß ist der Friede deiner Kinder.“308

Beachtenswert ist die Verbindung von Jer 31,33 mit Jes 54,13 über das Motiv der Gottesbelehrung. Es werden „diese Welt“ und „einst“ (= die zukünftige Welt) gegenübergestellt. Im Gegensatz zu „dieser Welt“ werden alle Israeliten „einst“ von Gott selbst gelehrt werden. Daraus folgt für die Schüler Gottes, dass sie das Gelehrte = die Tora nicht vergessen werden, wie es in „dieser Welt“ noch der Fall ist. Gottes Lehren ist also effektives Lehren. Der nachstehende Text geht in die gleiche Richtung und weist die gleiche Verbindung zwischen Jer 31,33 und Jes 54,13 auf, ist aber noch sprechender, was den Gegensatz zwischen dem Lehren in „dieser Welt“ und dem in der „zukünftigen Welt“ betrifft: Jalqut Schimoni zu Jer 31,33 (2 §317) aus Jelammedenu: Nicht mehr werden sie lehren jeder seinen Nächsten u. jeder seinen Bruder usw. Jer 31,33; u. ferner heißt es: Alle deine Söhne werden von Jahve gelehrt sein Jes 54,13. In dieser Welt lernt Israel die Tora von Fleisch u. Blut; deshalb vergessen sie sie, die durch Mose gegeben war, der Fleisch u. Blut war. Gleichwie Fleisch u. Blut dahingeht, so geht auch sein Erlerntes dahin, wie es heißt [es folgt ein Zitat aus Spr 23,5]. Aber in der Zukunft lernen die Israeliten nur aus Gottes Mund; u. gleichwie Gott lebt u. besteht in Ewigkeit, so auch das von ihm Gelehrte; was die Israeliten von ihm lernen, werden sie in Ewigkeit nicht vergessen.309

Wenn man die genannten Gegensätze direkt gegenüberstellt, wird der Kontrast noch deutlicher: „diese Welt“

„zukünftige Welt“

die Israeliten lehren jeder seinen Nächsten und seinen Bruder

Alle deine Söhne werden von JHWH gelehrt sein

Israel lernt Tora von Fleisch und Blut, d.h. von vergänglichen Menschen

Israel lernt (Tora) nur von Gott, der lebt und besteht in Ewigkeit

Tora wurde durch Mose gegeben, der Fleisch und Blut war, d.h. ein vergänglicher Mensch Das von vergänglichen Menschen Erlernte geht dahin und die Tora wird vergessen

Das vom unvergänglichen Gott Erlernte lebt und besteht in Ewigkeit und wird nicht vergessen

Mithin steht die Belehrung durch Gott in einem Gegensatz zur Belehrung durch Mose, der nur „Fleisch und Blut“ war. Man beachte, dass hier nicht gesagt wird, dass die Tora als solche vergänglich ist. Stattdessen kommt es auf den 308

Übersetzung: WÜNSCHE 1885: 139. Übersetzung: STRACK-BILLERBECK 1926b: 704 (auch für den nächsten zitierten Text aus HldR 1,2). 309

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Lehrer der Tora an. Mose als Lehrer aus Fleisch und Blut kann seine Schüler vor dem Vergessen des Erlernten nicht bewahren. Gottes Belehrung (sein Wort) dagegen bleibt in Ewigkeit (vgl. Jes 40,8); sie ist effektiv und kommt bei allen seinen Schülern zum Ziel: das Gelehrte wird zum Gelernten, die Tora wird nicht vergessen. Interessant ist, dass aus Sicht einiger Rabbinen Gott schon einmal der Lehrer Israels gewesen ist, nämlich am Sinai: HldR 1,2 (82b): R. Jehuda (um 150) hat gesagt: Als die Israeliten (bei der Gesetzgebung) hörten: Ich bin Jahve dein Gott Ex 20,2, senkte sich die Lehre der Tora in ihr Herz hinein, sie lernten u. vergaßen nicht. Darauf kamen sie zu Mose u. sprachen: Mose, unser Lehrer, verrichte du die Mittlerschaft (die Aufgabe eines Bevollmächtigten) zwischen uns (u. Gott), wie es heißt: Rede du mit uns u. wir wollen hören Ex 20,19; u. nun, warum sollen wir sterben, u. welcher Nutzen liegt in unserem Untergang? Wiederum lernten sie, aber sie vergaßen. Sie sprachen: Wie Mose vergängliches Fleisch und Blut ist, so ist auch seine Lehre vergänglich. Sofort kamen sie abermals zu Mose u. sprachen zu ihm: Mose, unser Lehrer, möchte er (Gott) sich uns doch zum zweitenmal offenbaren, möchte „er mich doch küssen mit den Küssen seines Mundes“ HL 1,2, möchte sich doch die Lehre der Tora in unser Herz einsenken wie vordem! Er antwortete ihnen: Das kann jetzt nicht geschehen, aber in der Zukunft (in der messianischen Zeit) wird es geschehen, wie es heißt: Ich will meine Tora in ihr Inneres geben usw. Jer 31,32.310

Demzufolge wurde die Tora, die von Gott direkt gelehrt wurde (mindestens das erste Gebot; evtl. steht dies pars pro toto für den Dekalog insgesamt), zunächst gelernt und nicht vergessen. Doch da Israel Gottes Reden nicht ertragen konnte, weil sie meinten, sterben zu müssen, baten sie Mose, für sie zu vermitteln. Mose lehrte von da an das Volk. Mose war aber ein vergänglicher Mensch, und so war auch seine Lehre vergänglich. Israel vergaß die Tora und handelte nicht entsprechend dem Gelehrten. Dies erkennend bittet Israel mit den Worten aus dem Hohelied („möchte er mich doch küssen mit den Küssen seines Mundes“) um die Wiederherstellung des ursprünglichen, idealen Zustands, damit sich die Tora „in das Herz einsenkt“ wie damals. Die Erfüllung dieses Wunsches wird zwar nicht gestattet, aber Mose verweist mit den Worten Jeremias auf die Zukunft, wenn Gott seine Tora effektiv bzw. bleibend lehren wird. Jes 55,1f. ist in rabbinischen Texten, kaum überraschend, auf die Tora bezogen, die wirklich „sättigen“ soll und „umsonst“ zu haben ist: R. Abba bar Kahana (um 310) begann mit Anknüpfung an Prov. 8,10: „Nehmt an meine Zurechtweisung und nicht Silber und Erkenntniss [sic!] lieber, als ausgewähltes Gold“ d.i. 310 Vgl. ExR 28,2: „Komm und sieh, dass die Art und Weise Gottes nicht wie die eines Menschen ist. Ein König von Fleisch und Blut kann nicht zugleich Krieg führen, schreiben und Kinder unterrichten, aber bei Gott ist es nicht so. Gestern erschien er am Meere wie ein Krieger […] und heute bei der Gesetzgebung lässt er sich herab, um die Thora seinen Kindern zu lehren, und so heisst es Hi. 36,22: ‚Siehe, Gott ist erhaben in seiner Macht, wer ist ihm gleich?‘ Das wollen die Worte sagen: ‚Und Gott redete alle diese Worte.‘ [Ex 20,1]“ (Übersetzung: WÜNSCHE 1882: 207).

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4. Kapitel: Die Rezeption der Sinaitradition in Joh 6,31f.45f.

nehmt an die Zurechweisung der Thora und nicht Silber. Es heisst Jes 55,2: „Warum wägt ihr Silber dar für Nichtbrot?“ d. i. warum wäget ihr Silber an die Kinder Esaus? „Für Nichtbrot,“ weil ihr euch nicht sättigt vom Brote der Thora; „und eure Mühe ist nicht zum Sattwerden“ d. i. warum müht ihr euch, während die Völker satt sind? Weil ihr euch nicht sättigt am Weine der Thora, wie es heisst Prov. 9,5: „Kommt, esset mein Brot und trinket den Wein, den ich gemischt habe.“ (PRK 28)311 „Jahve redete zu Mose in der Wüste Sinai“ Nu 1,1. Warum in der Wüste Sinai? Auf Grund dieser Stelle haben die Gelehrten gelehrt: In drei Dingen ist die Tora gegeben worden: in Feuer, s. Ex 19,18; in Wasser, s. Ri 5,4, u. in der Wüste, s. Nu 1,1. Warum wurde die Tora in diesen drei Dingen gegeben? Wie diese Dinge für alle, die in die Welt kommen, umsonst vorhanden (u. zu haben) sind, so sollen auch die Worte der Tora umsonst sein, s. Jes 55,1: „Ach, ihr Dürstenden alle, kommt zum Wasser! u. wer kein Geld hat, kommt, kaufet u. esset! ja, kommt, kaufet ohne Geld u. ohne Zahlung Wein u. Milch.“ (NumR 1 [135d])312

4.5 Zusammenfassung Der vorangegangene Abschnitt beschäftigte sich mit der Herkunft des Zitats in Joh 6,45 aus Jes 54,13, der Textgrundlage des Evangelisten (ein sicheres Urteil scheint nicht möglich; ich tendiere zur LXX), mit der Identität der „alle“, der Bedeutung der Gottesgelehrtheit und einem potenziellen Zusammenhang zur Manna- und/oder Sinaitradition, wobei der engere und weitere Kontext in den Blick genommen wurde. Es wurde deutlich, dass in Jes 54,13 nicht allgemein von „allen“ die Rede ist, sondern von allen Söhnen des eschatologischen Zion-Jerusalems. Diese werden nicht von Menschen (wie Mose [vgl. Dtn 4,1 u.ö. zu Mose als Lehrer]), sondern von Gott selbst in der Endzeit belehrt werden (vgl. Jer 31[38],31) und so gleichsam zu „Steinen“, aus denen das wiedererbaute Zion-Jerusalem besteht. Jes 55 greift die Belehrung durch Gott auf, indem nun von Gott eine Einladung an alle „Dürstenden“ / „Hungernden“ ausgesprochen wird, zu kommen, um „kostenlos“ das zu „essen“ / „trinken“, was wirklich satt macht. Wahrscheinlich ist damit die göttliche Unterweisung / Belehrung im Blick. Folglich zielt die Einladung darauf, sich den Belehrten Gottes (54,13) anzuschließen, so die endzeitliche Gottesstadt zu erbauen, und schließlich Leben zu erhalten. Die Analyse von Jes 54f. in Verbindung mit Jer 31[38],31 vor dem Hintergrund von Dtn hat gezeigt, dass das Motiv der Belehrung aller durch Gott plausibel in Verbindung mit dem Sinaigeschehen gelesen werden kann. Jes 55 (und den ganzen Abschnitt) abschließend bekräftigt Gott die Zuverlässigkeit seiner Heilszusagen durch den Verweis auf sein schöpferisches Wort. In der Analyse wurden Anhaltspunkte aufgezeigt, die es ermöglichen,

311 Übersetzung: WÜNSCHE 1885: 261. Vgl. auch GenR 54, wo für „Wasser der Tora“ die Stelle aus Jes 55,1 angeführt wird (für diesen Hinweis vgl. STRACK-BILLERBECK 1924: 483). 312 Übersetzung: STRACK-BILLERBECK 1926a: 563. Vgl. Mek Vayassa 1 zu Ex 15,22.

327

5. Echos und Entsprechungen

die Aussagen in Jes 55 über das Wort Gottes in Beziehung zur Mannatradition zu setzen. Gemäß Tg Jes 54,13 werden alle Söhne Zions-Jerusalems in der Tora unterwiesen werden und dann zu großem Wohlstand kommen. Dementsprechend deutet der Tg die Einladungen zum Essen und Trinken in Jes 55,1ff. im übertragenen Sinne auf Hören und Lernen von Gottes Lehre (identifiziert mit der Tora) und unterstreicht so den Konnex zu Jes 54,13. Mit der Prophetie der göttlichen Belehrung auf dem Zion (Jes 54,13) ist die göttliche Aufforderung eng verknüpft, in der messianischen Zeit zum Zion zu kommen, um Gottes Lehre bzw. Tora bzw. das Wort Gottes zu hören und zu lernen. In früh(-jüdischen) Texten werden die Aufforderungen zum Essen und Trinken in Jes 55,1ff. als Aufforderungen der Weisheit bzw. Tora interpretiert, sie zu „konsumieren“. In Qumran wird Jes 54,13 sehr wahrscheinlich auf die essenische Gemeinschaft bezogen: sie identifizierten sich wohl als „alle deine Söhne“, die von Gott selbst in Antizipation der Endzeit belehrt werden (was einen menschlichen Lehrer wohl kaum ausschließt) und so das endzeitliche Zion-Jerusalem aufbauen. Rabbinische Texte weisen ähnliche Interpretationstendenzen auf, insofern die Toraschüler als Erbauer des eschatologischen Jerusalems gelten und von Gott selbst belehrt sind. Dabei wird die Erwartung einer „definitiven, endzeitlichen Belehrung durch Gott“ (Ego) jedoch ebenso wenig wie in Qumran fallen gelassen. Die Erwartung einer göttlichen Belehrung, die unvergänglich ist und die Belehrten das Gelehrte nicht vergessen lässt, knüpft an die direkte göttliche Belehrung am Sinai an und steht explizit im Kontrast zur menschlichen Belehrung durch Mose, die vergänglich war wie ihr Lehrer.

5. Echos und Entsprechungen 5. Echos und Entsprechungen

Folgende Berührungen auf der sprachlichen Ebene sind zu notieren: Kontext von Jes 54,13 LXX

Joh 6

55,6

ζητήσατε τὸν θεὸν καὶ ἐν τῷ εὑρίσκειν αὐτὸν

6,24ff.

ζητοῦντες τὸν Ἰησοῦν…καὶ εὑρόντες αὐτὸν… ζητεῖτέ µε οὐχ ὅτι…

55,10

… καὶ δῷ σπέρµα τῷ σπείροντι καὶ ἄρτον εἰς βρῶσιν

6*

ἄρτος

55,12

ἐν γὰρ εὐφροσύνῃ ἐξελεύσεσθε καὶ ἐν χαρᾷ διδαχθήσεσθε [so mit Rahlfs gegen GöLXX]313 τὰ

6,(45).59

(καὶ ἔσονται πάντες διδακτοὶ θεου)

313

Vgl. LXX.D zur Stelle.

328

4. Kapitel: Die Rezeption der Sinaitradition in Joh 6,31f.45f.

Kontext von Jes 54,13 LXX

Joh 6

γὰρ ὄρη καὶ οἱ βουνοὶ ἐξαλοῦνται προσδεχόµενοι ὑµᾶς ἐν χαρᾷ καὶ πάντα τὰ ξύλα τοῦ ἀγροῦ ἐπικροτήσει τοῖς κλάδοις 55,5

καὶ λαοί οἳ οὐκ ἐπίστανταί σε ἐπὶ σὲ καταφεύξονται ἕνεκεν τοῦ θεοῦ σου τοῦ ἁγίου Ισραηλ

Ταῦτα εἶπεν ἐν συναγωγῇ διδάσκων ἐν Καφαρναούµ

6,69

σὺ εἶ ὁ ἅγιος τοῦ θεοῦ

− Jes 55,6 / Joh 6,24ff.: Gemäß Joh 6,24ff. sucht die Menge Jesus und findet ihn schließlich in Kapernaum; allerdings ist der Grund für ihre Suche aus Jesu Sicht nicht ein dem Zeichen angemessener. Die Aufforderungen in Jes 55,6 Gott zu suchen und ihn anzurufen, wenn Israel ihn gefunden hat, berühren sich damit zwar lexikalisch (in Joh 6,24ff. stehen allerdings keine Imperative), sind aber im übertragenen Sinne zu verstehen. − Jes 55,10 / Joh 6*: Eines der zentralen Motive in Joh 6 ist sicherlich das Brot: Einerseits ist Jesus das vom Himmel herabgekommene „Brot“, andererseits wird er „Brot“ geben, welches ewiges Leben schenkt. In Jes 55,10 ist zwar auch die Rede von Brot, allerdings als Folge des Regens (der wiederum verglichen wird mit dem Wort Gottes). − Jes 55,12 / Joh 6(45).59: Gemäß Joh 6,59 lehrte Jesus „diese Dinge“, von denen zuvor die Rede war, in einer Synagoge bzw. Versammlung in Kapernaum. Zwar wird in Jes 55,12 auch von „lehren“ gesprochen, doch ohne Weiteres lässt sich hier aufgrund des anders gelagerten Zusammenhangs kein Konnex erkennen. − Jes 55,5 / Joh 6,69: Gemäß Joh 6,69 bekennt Petrus stellvertretend für die Jünger, dass Jesus der Heilige Gottes (als Inhalt der Worte ewigen Lebens), also Gott in einzigartiger Weise zugehörig ist.314 Der in Jes 55,5 gebrauchte Titel „der Heilige Israels“ hingegen beschreibt Gott im Verhältnis zu Israel „and reveals him as the Exalted One who has made himself known to Israel and who is more wonderful in his judgement and his mercy than could be expected“315. Folgende Übereinstimmungen lassen sich auf der sprachlichen Ebene ausmachen:316 314

Vgl. SCHNACKENBURG 1971: 111f. (das Bekenntnis „du bist…“ korrespondiert den eine exlusive Nähe zu Gott ausdrückenden Ich-bin-Worten Jesu in Joh 6 [V.20.35.48.51]; „heilig“ deute in die Richtung einer Nähe zu Gott [vgl. Joh 17,11]: „Durch ‚heilig‘ ist die größte Nähe zu Gott ausgesagt, die Teilhabe an Gottes innerstem und eigenstem Wesen“ [SCHNACKENBURG 1971: 112]). 315 KOOLE 1998: 422. 316 Vgl. zu den Bezügen zwischen Jes 55 und Joh 6 BURKETT 1991: 131 (gefolgt von HEILMANN 2014: Anm. 429); SWANCUTT 1997.

5. Echos und Entsprechungen

329

Kontext von Jes 54,13 LXX

Joh 6

55,2

ἀκούσατέ µου καὶ φάγεσθε ἀγαθα

6*

ἐσθίω

55,1

ὅσοι µὴ ἔχετε ἀργύριον βαδίσαντες ἀγοράσατε

6,5

λέγει πρὸς Φίλιππον· πόθεν ἀγοράσωµεν ἄρτους ἵνα φάγωσιν οὗτοι;

55,10

καὶ δῷ σπέρµα τῷ σπείροντι καὶ ἄρτον εἰς βρῶσιν

6,27.55

ἐργάζεσθε µὴ τὴν βρῶσιν τὴν ἀπολλυµένην ἀλλὰ τὴν βρῶσιν τὴν µένουσαν ἡ γὰρ σάρξ µου ἀληθής ἐστιν βρῶσις

55,10

ὡς γὰρ ἐὰν καταβῇ ὑετὸς ἢ χιὼν ἐκ τοῦ οὐρανοῦ καὶ οὐ µὴ ἀποστραφῇ ἕως ἂν µεθύσῃ τὴν γῆν καὶ ἐκτέκῃ καὶ ἐκβλαστήσῃ καὶ δῷ σπέρµα τῷ σπείροντι καὶ ἄρτον εἰς βρῶσιν

6,33.38.

55,1

οἱ διψῶντες πορεύεσθε ἐφ᾽ ὕδωρ

6,35

ὁ πιστεύων εἰς ἐµὲ οὐ µὴ διψήσει πώποτε

55,2

ἀκούσατέ µου καὶ φάγεσθε ἀγαθα

6,45.60

πᾶς ὁ ἀκούσας παρὰ τοῦ πατρὸς καὶ µαθὼν ἔρχεται πρὸς ἐµέ

καταβαίνω ἐκ τοῦ οὐρανοῦ

41.50f. 58

σκληρός ἐστιν ὁ λόγος οὗτος· τίς δύναται αὐτοῦ ἀκούειν 55,3

καὶ ζήσεται ἐν ἀγαθοῖς ἡ ψυχὴ ὑµῶν

6,51.57f.

ἐάν τις φάγῃ ἐκ τούτου τοῦ ἄρτου ζήσει εἰς τὸν αἰῶνα καθὼς ἀπέστειλέν µε ὁ ζῶν πατὴρ κἀγὼ ζῶ διὰ τὸν πατέρα, καὶ ὁ τρώγων µε κἀκεῖνος ζήσει δι᾽ ἐµέ

55,1

καὶ πίετε ἄνευ ἀργυρίου καὶ τιµῆς οἴνου καὶ στέαρ

6,53–56

καὶ πίητε αὐτοῦ τὸ αἷµα…πίνων µου τὸ αἷµα…καὶ πίνων µου τὸ αἷµα

− Jes 55,2 / Joh 6*: In Joh 6 ist „essen“ (ἐσθίω) ein Leitwort. Es begegnet anfangs im wörtlichen Sinne. Viel wichtiger ist jedoch der metaphorische Gebrauch im Zusammenhang mit der metaphorischen Verwendung von „Brot vom Himmel“, wobei implizit immer eine Aufforderung zum „essen“ (d.h.

330











4. Kapitel: Die Rezeption der Sinaitradition in Joh 6,31f.45f.

glauben) mitschwingt.317 Auch in Jes 55,2 wird „essen“ wahrscheinlich im übertragenen Sinne für das Hören auf die oder das Annehmen der Weisheit bzw. Tora bzw. des Wortes Gottes und damit für das Hören auf Gott selbst verwendet. Jes 55,1 / Joh 6,5: Philippus wird von Jesus gefragt, woher sie Brote kaufen können, damit die Menschenmenge diese essen kann (Joh 6,5). Philippus antwortet darauf, dass ihnen das zur Verfügung stehende Geld unmöglich für solch eine große Menge ausreicht (6,7). Im Anschluss wird Brot und Fisch unentgeltlich an die Menschenmenge verteilt. Auch nach Jes 55,1 gibt es „Speis und Trank“ unentgeltlich. Dies besagt die paradoxe Ausdrucksweise, dass diejenigen, die kein Geld haben, kommen sollen, um zu kaufen. Jes 55,10 / Joh 6,27.55: Nach Joh 6,27 fordert Jesus die Volksmenge dazu auf, die „Speise“ zu „erarbeiten“ bzw. zu „erwirken“, die bleibt ins ewige Leben (vgl. Jes 40,8: τὸ δὲ ῥῆµα τοῦ θεοῦ ἡµῶν µένει εἰς τὸν αἰῶνα). Später wird er sein „Fleisch“ mit der wahren „Speise“ identifizieren. In beiden Fällen handelt es sich um eine Metapher. In Jes 55,10 ist auch die Rede von Brot zur Speise, jedoch innnerhalb eines Vergleichs (Regen/Schnee – Wort Gottes) auf der Bildseite des Regens/Schnees und dessen Wirkung. Jes 55,10 / Joh 6,33.38.41.50f.58: Ein weiteres zentrales Wort in Joh 6 ist „herabkommen“ (καταβαίνω). Es wird in Verbindung mit Jesus und „dem Brot vom Himmel“ benutzt. Wiederum liegt hier metaphorischer Gebrauch vor, da Brot normalerweise nicht vom Himmel herabkommt. Was normalerweise vom Himmel herabkommt, ist Niederschlag in Form von Regen oder Schnee o.ä. Mithin wird in Joh 6 das metaphorisch zu verstehende, Heil bringende „Brot“ vom „Himmel“ als Niederschlag dargestellt. Das Wort Gottes wird in Jes 55,10 jedoch nicht metaphorisch als Niederschlag beschrieben, sondern damit verglichen. Jes 55,1 / Joh 6,35: Joh 6,35 zufolge verspricht Jesus jedem, der an ihn glaubt, die Stillung seines „Durstes“ (nach Leben). „Durst“ ist offensichtlich im übertragenen Sinne zu deuten. Ebenfalls metaphorisch kann die jesajanische Bezeichnung der Angesprochenen als „Durstige“ aufgefasst werden. Jes 55,2 / Joh 6,45.60: In seiner Erklärung des Zitats aus Jes 54,13 sagt Jesus gemäß Joh 6,45, dass jeder, der den Vater unmittelbar gehört und von ihm gelernt hat, zu ihm kommt. Die Jünger, die sich später von Jesus distanzieren, finden Jesu Rede „hart“. Sie können sie nicht hören, d.h. sie annehmen, sodass feststeht, dass sie (ebenso wie „die Juden“) nicht den Vater gehört und von ihm gelernt haben und folglich auch nicht glauben bzw. „in Jesus bleiben“ (Joh 6,56). Jes 55,2 zufolge wird „hören“ auch im tieferen Sinne als „hören auf“ Gott(es Lehre) bezogen. 317

Vgl. SWANCUTT 1997: 246: „‚Eating‘ is believing. ‚Eating‘ is heeding divine instruction. And here’s the catch: ‚eating‘ is confessing the divine origin of the Word who points forward to his self-sacrifice.“

5. Echos und Entsprechungen

331

− Jes 55,3 / Joh 6,51.57f.: Das Thema des „Lebens“, das Jesus verheißt, spielt in Joh 6 eine sehr wichtige Rolle. Jesus verspricht der Person, die von „diesem Brot isst“, dass sie leben wird in Ewigkeit, also Teilhabe an dem ewigen, göttlichen Leben, wie es der Vater und der Sohn in Gemeinschaft mit dem Vater kontinuierlich haben (V.57f.),318 durch das „Essen“ / „Trinken“ des „Fleisches“ und „Blutes“ des Menschensohns bzw. Jesu. Auch in Jes 55,3 erscheint das Motiv des Lebens, hier in Verbindung mit dem Nachfolgen auf „meinen Wegen“. − Jes 55,1 / Joh 6,53–56: Vor dem Hintergrund der vorhergehenden Metaphorik von Jesus als „Brot“, das man „essen“ muss, um das ewige Leben zu bekommen, oder dem „Durst“, der durch den Glauben an Jesus gestillt wird, liegt es nahe, auch das „Trinken“ des „Blutes“ als Teil des Metaphernnetzwerks aufzufassen. Ein wörtliches Verständnis wäre absurd, zumal vor dem Hintergrund dessen, dass der Verzehr von Blut Juden generell verboten ist (Lev 3,17; 7,26f. ; besonders 17,10ff. ). Außerdem findet sich auf der Erzählebene (und darüber hinaus) keine Szene, wo tatsächlich Jesu Blut getrunken wird. „Blut“ wird im Zusammenhang mit „Fleisch“ erwähnt. „Fleisch“ und „Blut“ ist im biblisch-jüdischen Kontext eine standardmäßige Verbindung zur Bezeichnung des sterblichen Menschen als lebendig.319 Sein „Fleisch“ und damit auch sein „Blut“ wird Jesus aber nach V.51 (vgl. auch V.27) erst in der Zukunft geben, was wohl auf seine Passion verweist und (aufgrund seines Charakters als Zeichen) in der Brotvermehrung antizipiert wurde.320 Jesus meint dann, dass seine Zuhörer, um an dem göttlichen Leben Anteil zu erhalten, das Kreuzesgeschehen als Heils- und Offenbarungsgeschehen „essen“ und „trinken“, d.h. annehmen müssen. Wenn auch nicht auf der Erzählebene (dort wird das Abendmahl als solches ja nicht berichtet, wenngleich von einem Mahl die Rede ist [vgl. Joh 13,2.4.18.26), so doch auf der Ebene der urchristlichen Adressaten wird man kaum umhin kommen, diese Aussagen mit dem Abendmahl zu verbinden.321 „Trinken“ 318

Das Leben geht für ihn [sc. Jesus] eindeutig auf den Vater, Gott, zurück […] Er ist der Ursprung des Lebens“ (STARE 2004: 274). 319 Vgl. nur Sir 14,18; 17,31; Mt 16,17; 1Kor 15,50; Gal 1,16; Eph 6,12; Hebr 2,14 („Weil nun die Kinder Blutes und Fleisches teilhaftig sind, hat auch er [sc. Christus] in gleicher Weise daran Anteil gehabt“); SCHNEIDERS 2013: 67. 320 Vgl. die Notiz über das bevorstehende Passahfest in Joh 6,4, die mehr als nur chronologische Bedeutung hat. Daneben kann man in der Erzählung des Zeichens der Brote, von der Brotrede rückblickend gesehen, „eucharistische“ Obertöne hören (vgl. mit einigen anderen SCHRÖDER 2003: 212f.). 321 Die Verse im Abschnitt Joh 6,52–58 werden in der Forschung sehr häufig mit Bezug auf „die Eucharistie“ gedeutet (vgl. nur die einschlägigen Kommentare z.B. von SCHNACKENBURG, THEOBALD, BROWN z.St.). Gleichwohl schlagen andere Auslegende eine davon abweichende interpretatorische Richtung ein (vgl. u.a. die Kommentare von RIDDERBOS und THYEN). Bisweilen finden sich auch Kombinationen von eucharistischer und nicht-

332

4. Kapitel: Die Rezeption der Sinaitradition in Joh 6,31f.45f.

(des Wassers) wird in Jes 55,1 ebenfalls metaphorisch verwendet für die Annahme der Weisheit bzw. Tora bzw. des Wortes Gottes. Daneben gibt es auch Echos auf der inhaltlich-motivischen Ebene: Kontext von Jes 54,13 LXX

Joh 6

55,1f.

Üppige, sattmachende „Mahlzeit“

6,7ff.

Die Menge bekommt von Jesus Brot (und Fisch) im Überfluss und bis zur Sättigung

55,1–2

Kontrast zwischen Speise, die nicht „sättigt“, und solcher „Speise“, die wirklich „satt“ macht

6,26f.

Zeichenhaftes Verhältnis zwischen Speise (= Gerstenbrote), die vergeht, und der „Speise“, die bleibt ins ewige Leben

55,2

Aufforderung Gottes dazu, nicht Geld und Mühe zu verwenden, um Nahrung zu erwerben, die nicht sättigt, sondern solche „Nahrung“ ohne Geld zu kaufen, die satt macht

6,27

Aufforderung Jesu dazu, sich nicht um die vergängliche Speise zu bemühen, sondern um die unvergängliche

55,2

Wasser, Wein, fette Milch und das was, wirklich satt macht, erwerben heißt: wirklich hören und annehmen der Weisheit/Tora bzw. des Wortes Gottes

6,27ff.

Die „Speise“, die ins ewige Leben bleibt, die mithin ewiges Leben spendet, „erwirken“ heißt: an den Gesandten Gottes glauben, d.h. Jesus glauben, dass er das vom Himmel gekommene „Brot“ ist

55,10f.

Wie Regen und Schnee vom Himmel herabkommen und die Erde tränken und damit für das Lebensnotwendige sorgen (Wachstum, Samen und Brot), so kommt auch das schöpferische Wort Gottes aus Gottes unmittelbarer Sphäre und wirkt das Heil

6,33

Das Brot Gottes kommt vom Himmel herab und gibt das ewige Leben

6,63.69

Jesu Worte sind (lebendigmachender) Geist und Leben bzw. Jesus hat Worte des ewigen Lebens

Das Wort Gottes tut das, was Gott, aus dessen Mund es

6,38

Jesus ist vom Himmel herabgekommen, um den Willen dessen zu tun, der ihn

55,10f.

„eucharistischer“ Deutung. Eine Übersicht der komplexen Diskussion und der jeweiligen Argumente bieten MENKEN 1997 und HEILMANN 2014: 155–167.

5. Echos und Entsprechungen

Kontext von Jes 54,13 LXX

333

Joh 6

herausgeht, will, nämlich Heil zu bewirken

gesandt hat, nämlich ewiges Leben zu geben (einschließlich Auferweckung am letzten Tag)

55,11

Das Wort Gottes kommt aus dem Mund Gottes heraus und kehrt dorthin zurück

6,38.62

Jesus kommt „vom Himmel“ herab, d.h. von Gott, und geht wieder dorthin zurück

54,13; 55,1f.

Alle, die vom Vater gelehrt werden, sind diejenigen, die der Aufforderung der Weisheit/Tora bzw. des Wortes Gottes zu „essen“ und zu „trinken“ nachkommen

6,45

Wer den Vater gehört und von ihm gelernt hat, kommt zu Jesus bzw. zum Glauben an ihn als dem „Brot“ vom Himmel

− Jes 55,1f. / Joh 6,7ff.: Jesus macht auf wunderbare Weise die ganze Menge mit Brot und Fisch im Überfluss satt. In Jes 55,1f. wird eine üppige, sattmachende „Mahlzeit“ in Aussicht gestellt. − Jes 55,1–2 / Joh 6,26f.: Jesus setzt gemäß Joh 6,26f. die vergängliche Speise bzw. Brote vom Vortag in ein zeichenhaftes Verhältnis zur „Speise“, die bleibt ins ewige Leben. In Jes 55,1–2 wird Speise, die nicht sättigt, und „Speise“, die wirklich „satt“ macht, auf kontrastive Weise in ein Verhältnis gesetzt. − Jes 55,2 / Joh 6,27: Jesus fordert explizit dazu auf, die unvergängliche „Speise“ zu „erarbeiten“ bzw. zu „erwirken“ (Joh 6,27); in seinen nachfolgenden Ausführungen ist implizit u.a. eine Aufforderung zum „essen“ des „Brotes vom Himmel“ enthalten. Auch in Jes 55,2 wird dazu aufgefordert, ohne Geld „Nahrung“ zu erwerben. Dort ist Gott derjenige, der die Aufforderung ausspricht. − Jes 55,2 / Joh 6,27ff.: Das metaphorisch gemeinte „Erwirken“ der „Speise“, die ins ewige Leben bleibt, wird im Anschluss von Jesus im Sinne von Glauben an ihn als den Gesandten des Vaters erläutert. Auch in Jes 55,2 lässt sich unter der Voraussetzung einer Assoziation mit Weisheit bzw. Tora bzw. Wort Gottes ein metaphorischer Gebrauch von Wasser, Wein, fetter Milch und anderem Gutem feststellen; diese zu „essen“ bedeutet die Weisheit bzw. Tora bzw. das Wort Gottes zu hören und anzunehmen und sich so den Belehrten Gottes anzuschließen. − Jes 55,10f. / Joh 6,33; 6.63.69: In Joh 6,33 wird durch das Syntagma „Brot Gottes“ klar, dass „Himmel“ im Sinne einer Angabe von Gottes Sphäre zu verstehen ist: Das „Brot“ Gottes kommt vom „Himmel“ und gibt ewiges Leben. Damit entspricht es in gewisser Weise dem schöpferischen Wort Gottes. Nach Jes 55,10f. kommt dieses aus Gottes unmittelbarer Sphäre (aus

334

4. Kapitel: Die Rezeption der Sinaitradition in Joh 6,31f.45f.

Gottes Mund) und wirkt Heil. Gleichzeitig wird die schöpferische Fähigkeit, Leben zu geben, auch von Jesu Worten ausgesagt (Joh 6,63.69). − Jes 55,10f. / Joh 6,38: Jesus ist Joh 6,38 zufolge vom Himmel gekommen, um den Willen dessen zu tun, der ihn gesandt hat, nämlich ewiges Leben zu geben und am letzten Tag aufzuerwecken. In Entsprechung dazu bewirkt das Wort Gottes das, was Gott will, nämlich das Heil. − Jes 55,11 / Joh 6,38.62: Nach Joh 6,38.62 führt der „Weg“ des „Brotes“ bzw. Jesu vom „Himmel“, d.h. von Gott, dem Vater, herab zur Erde bzw. zu den Menschen und dann wieder zurück, wo er vorher war, nämlich zum Vater. Erstaunlicherweise heißt es in Jes 55,11 auch über das schöpferische Wort Gottes, dass es aus Gottes Sphäre kommt, den Heilswillen Gottes ausführt und dann zu Gott zurückkehrt. − Jes 54,13; 55,1f. / Joh 6,45: Nach Joh 6,45 besteht ein unlösbarer Zusammenhang zwischen dem Belehrt-Sein durch Gott bzw. dem Hören bzw. Lernen vom Vater und dem Kommen zu Jesus. Einen ähnlichen Zusammenhang (nur mit Tora-Bezug) kann man in Jes 54,13 und 55,1f. erblicken zwischen dem eschatologischen Belehrt-Sein, allerdings „aller deiner [sc. Jerusalems] Söhne“, durch Gott und dem Eingehen auf Gottes Aufforderung, die Weisheit bzw. Tora bzw. das Wortes Gottes zu „essen“ und zu „trinken“, d.h. hinzuhören auf Gott. Mit anderen Worten: Wer die Einladung Gottes angenommen hat, die Tora bzw. Weisheit bzw. das Wortes Gottes zu „essen“ und zu „trinken“, der gehört zu seinen Schülern, zu denen, die von ihm selbst gelehrt werden. Zu notieren sind folgende Entsprechungen zu (früh-)jüdischen Deutungen von Jes 54,13 und seinem Kontext auf der sprachlichen und inhaltlich-motivischen Ebene: (Früh-)jüdische Deutungen von Jes 54,13 und seinem Kontext

Joh 6

1Hen 82,3

Weisheit als bessere „Speise“ für die, die auf sie hören und sie lernen

6,27.51 und Kap. 6 passim

PRK 28

Tora als Brot

Jesus gibt „Speise“, die bleibt ins ewige Leben; er selbst ist das „Brot“ vom Himmel, das man esen soll, um das ewige Leben zu erhalten

Jalqut Schimoni zu Jer 31,33 [2 § 317] aus Jelammedenu

das von Gott selbst Gelehrte bleibt in Ewigkeit (im Gegensatz zur vergänglichen Lehre des Mose = „Fleisch und Blut“)

Tg Jes 55,1

„Essen“ und „trinken“ im übertragenen Sinne

6,27ff.

„Essen“ und „trinken“ im übertragenen Sinne als

335

5. Echos und Entsprechungen (Früh-)jüdische Deutungen von Jes 54,13 und seinem Kontext

Joh 6

als Hören und Lernen von Lehre = Tora Sir 51,23

Weisheit als Wasser zur Stillung des „Durstes“

1Hen 48,1

Quellen der Weisheit; Weisheit als Wasser für die „Durstigen“

NumR 1; Mek Vayassa 1 zu Ex 15,22

Tora als „kostenloses“ Wasser für jedermann

Tg Jes 55,1

Annehmen Jesu bzw. glauben an Jesus bzw. seine Worte/Lehre 6,35

Wer an Jesus glaubt, wird niemals mehr dürsten

Kommen zu Gott, um göttliche Lehre = Tora zu lernen

6,44f.

Kommen zu Jesus

Jalqut Schimoni zu Jer 31,33 [2 § 317] aus Jelammedenu; HdlR 1,2; Tg Jes 54,13 und 55,1ff.

Endzeitliche Belehrung in der Tora durch Gott selbst führt zur Verinnerlichung der Tora

6,45

Belehrung durch Gott bzw. Hören/Lernen vom Vater führt zum Kommen zu Jesus

Tg Jes 54,13

„Alle deine Söhne werden Belehrte sein in der Tora des Herrn“

6,45

„und es werden alle Gelehrte Gottes sein“

CD XX,4 u.a. (vgl. 4Q164 Frg. 1)

Identifikation der Mitglieder der Gemeinschaft mit den „Jüngern Gottes“ bzw. den Belehrten Gottes (Antizipation der endzeitlichen Belehrung)

6,45

Die an Jesus Glaubenden als Belehrte Gottes

4Q164 Frg. 1; bTBer 64a

Gründung der essenischen Gemeinschaft bzw. des Rates der Einung als Gründung Zion-Jerusalems; die Toraschüler als Belehrte Gottes und als

336

4. Kapitel: Die Rezeption der Sinaitradition in Joh 6,31f.45f.

(Früh-)jüdische Deutungen von Jes 54,13 und seinem Kontext

Joh 6

Erbauer des endzeitlichen Jerusalem PRK 12; Jalqut Schimoni zu Jer 31,33 [2 § 317] aus Jelammedenu

Alle (nicht nur einige) Israeliten werden von Gott belehrt werden

4Q164 Frg. 1

Zwölf (als Repräsentation der zwölf Stämme Israels) im Rat der Einung (die sich als „Belehrte Gottes“ ansahen) bzw. im Rat seiner Erwählten, die das eschatologische ZionJerusalem begründen

6,13.67.70f.

Zwölf Handkörbe voller Brocken; Zwölf Jünger bzw. Schüler, die Jesus erwählt hat

− 1Hen 82,3; PRK 28 / Joh 6,27.51 und Joh 6 passim: Nach Joh 6,27.51 wird Jesus unvergängliche „Speise“ bzw. „Brot“ (= sein „Fleisch“) zu essen geben; gemäß Jalqut Schimoni zu Jer 31,33 [2 § 317] aus Jelammedenu erwartete man, dass Gott selbst lehren würde und dass das von ihm Gelehrte unvergänglich sein würde, natürlich ist damit die Tora gemeint. Neben den Aussagen, dass Jesus ewige „Speise“ geben wird, durchziehen auch solche das Kapitel 6, wonach Jesus „das Brot vom Himmel“ ist, das ewiges Leben gibt. Im Kontrast dazu steht die Metapher von der Weisheit bzw. der Tora als „Speise“ bzw. „Brot“ in Texten wie 1Hen 82,3; PRK 28. − Tg Jes 55,1 / Joh 6,27ff.: In Joh 6,27ff. wird „essen“ und „trinken“ metaphorisch gebraucht und steht für annehmen bzw. glauben. Allerdings ist nicht die Tora wie in Tg Jes 55,1 im Blick, sondern Jesus und seine Worte bzw. Lehre über sich selbst. − Sir 51,23; 1Hen 48,1; NumR 1; Mek Vayassa 1 zu Ex 15,22 / Joh 6,35: Zwar spielen die Motive des Wassers, Durstes und Trinkens in Joh 6 nicht die gleiche beherrschende Rolle wie Brot und Essen, tauchen aber dennoch auf. So verheißt Jesus die Stillung des „Durstes“ (nach Leben) durch den Glauben (Joh 6,35) und später ewiges Leben durch (das „Essen“ des „Fleisches“ und durch) das „Trinken“ des „Blutes“ des Menschensohns. Dagegen stillt in den genannten (früh-)jüdischen Texten die Weisheit als „Wasser“ den „Durst“ bzw. wird die Tora präsentiert als „kostenloses Wasser“. − Tg Jes 55,1 / Joh 6,44f.: Gemäß Joh 6,44f. kommen die von Gott Gezogenen bzw. Belehrten zu Jesus. In Tg Jes 55,1 geht es um ein Kommen zu Gott,

5. Echos und Entsprechungen









337

um das göttliche Wort bzw. die göttliche Lehre = Tora zu hören und zu lernen. Jalqut Schimoni zu Jer 31,33 [2 § 317] aus Jelammedenu; HdlR 1,2; Tg Jes 54,13 und 55,1ff. / Joh 6,45: Nach Joh 6,45 ist die Belehrung durch Gott bzw. das Hören bzw. Lernen vom Vater die Voraussetzung des „Kommens zu Jesus“ und führt auch dazu. Anders gemäß den genannten rabbinischen und targumischen Texten: Hier führt die endzeitliche Belehrung durch Gott in der Tora dazu, dass die Belehrten die Tora von Herzen annehmen bzw. verinnerlichen und nicht mehr vergessen. Tg Jes 54,13 / Joh 6,45: Der johanneische Jesus ergänzt bei der Zitierung von Jes 54,13 LXX das Futur ἔσονται. Dem entspricht die über den MT hinausgehende Ergänzung des aramäischen Futurs für „(alle deine Söhne) werden (belehrt) sein (in der Tora)“. CD XX,4 u.a. (vgl. 4Q164 Frg. 1); bTBer 64a; PRK 12; Jalqut Schimoni zu Jer 31,33 [2 § 317] aus Jelammedenu / Joh 6,45: In Joh 6,45 erfolgt eine Identifikation der Belehrten Gottes, des Vaters (Jesu) mit den an Jesus, seinen Sohn Glaubenden. Im Kontrast dazu steht die Applikation von Jes 54,13 auf die essenische Gemeinschaft als Zion-Jerusalem (vgl. auch die rabbinische Applikation auf die Toraschüler als Erbauer Jerusalems). 4Q164 Frg. 1 / Joh 6,13.67.70: Die zwölf Handkörbe, die die Jünger füllen, sind nicht nur ein Zeichen für den Überfluss an Broten. Die Zahl zwölf ist eine symbolische Zahl. Sie erscheint in Joh 6 erneut, wenn von „den Zwölf“ (Joh 6,67.70f.) die Rede ist, womit Jesu Jünger bezeichnet sind. Diese sind von Jesus erwählt worden. Sie stehen wohl für die zwölf Stämme Israels und repräsentieren das endzeitliche Gottesvolk. Allerdings begegnet diese Bezeichnung der Jünger erst nach der Brotrede, nach den verschiedenen von Unglauben geprägten Reaktionen. Sowohl die Volksmenge bzw. „die Juden“ als auch viele Jünger reagierten mit Murren auf Jesu Identifikation mit „dem Brot vom Himmel“ bzw. seine Identifikation „des Brotes vom Himmel“ mit seinem „Fleisch“ und wandten sich von Jesus ab. Über diese, die nicht zu(m Glauben an) Jesus kommen, sagt Jesus gemäß V.65 nach ihrer Reaktion (und diese so „erklärend“) und im Anschluss an Joh 6,37.39.44, dass es (das Kommen bzw. der Glaube) ihnen nicht vom Vater gegeben worden ist. Im Vergleich zu Joh 6,45 (dort ist ebenfalls vom Kommen zu Jesus die Rede) und im Zusammenhang mit der Brotrede zeigt sich, dass sowohl „die Juden“ als auch die „vielen“ von seinen Jünger, nicht zu denen gehören, die den Vater gehört und von ihm gelernt haben, sie mithin nicht Belehrte Gottes sind. Denn sie weigern sich, „das Brot vom Himmel“ (die Leben spendende „Gotteslehre“ bzw. Offenbarung Gottes) zu „essen“ (d.h. zu hören oder im Glauben anzunehmen), welches doch Gott selbst ihnen in Jesus jetzt zu „essen“ gibt bzw. welches Jesus ihnen zu „essen“ geben wird. Die zwölf Jünger sind dagegen diejenigen, die glauben und erkennen, dass Jesus „der Heilige Gottes“ ist, mithin seine Worte über sich als „das Brot vom

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4. Kapitel: Die Rezeption der Sinaitradition in Joh 6,31f.45f.

Himmel“, welches Leben spendet, angenommen haben322 bzw. geglaubt haben (außer Judas; dies wird aber erst vor der Passion offenbar). Die Zwölf, bezeichnenderweise die Schüler (µαθηταί) Jesu, sind also „alle“, die Belehrte Gottes sind, die den Vater gehört und von ihm gelernt haben und zu Jesus kommen.323 Auf der Folie der Deutung von Jes 54 in Qumran (vgl. auch die rabbinische Interpretation) und in Verbindung mit der johanneischen Vorstellung Jesu als Tempel bzw. Heiligtum liegt es nahe, dass die zwölf „Belehrten Gottes“ als Gründung des eschatologischen Zion-Jerusalems aufzufassen sind, denen sich andere anschließen sollen, indem sie der Aufforderung Gottes nachkommen und „das Brot vom Himmel“ gleichsam „essen“.

6. Reintegration 6. Reintegration

6.1 Abgrenzung und Funktion der Jesusrede in Joh 6 Der Fokus dieses Abschnitts liegt auf Jesu Deutung des „Brotes vom Himmel“ in Joh 6,32ff., welche wiederum im Dienste der Interpretation seines Zeichens steht. Diese Deutung ist Teil (oder eigentlich der rote Faden) eines Dialogs zwischen Jesus und der Volksmenge bzw. „den (galiläischen) Juden“, der sich von V.25–59 erstreckt. Der Dialog bzw. der Disput wiederum ist u.a. ausweislich des Brot-essen-Motivs eng verbunden mit der Speisung der Fünftausend (6,1–15) und der ambivalenten Reaktion seitens der Jünger (Joh 6,60–71) im Anschluss an die Lehre Jesu in Kapernaum. Mithin besteht Joh 6 aus mehreren Episoden324, die alle miteinander verknüpft sind.325 Joh 6,1–71 wird einerseits 322 In der Erzählung von dem Seewandel Jesu, nachdem Jesus in Anspielung auf den Namen Gottes gesagt hat: ἐγώ εἰµι, heißt es, dass ἤθελον οὖν λαβεῖν αὐτὸν εἰς τὸ πλοῖον. Angesichts von Joh 5,43 (ἐγὼ ἐλήλυθα ἐν τῷ ὀνόµατι τοῦ πατρός µου, καὶ οὐ λαµβάνετέ µε) ist damit der Glaube an Jesu göttliche Würde narrativ umgesetzt (neben der Bewahrung und Rettung der Glaubenden; vgl. SCHRÖDER 2003: 221–224). Gegen Ende des Kapitels folgt dann das äquivalente explizite Bekenntnis der Jünger, die damit im Gegensatz zu „den Juden“ stehen (vgl. KOESTER 2003: 98f.). 323 Die zwölf Jünger sind dementsprechend in erster Linie zu identifizieren mit all jenen, „die der Vater mir gibt“ (Joh 6,37; vgl. auch V.39), die der Vater (zu Jesus) „zieht“ (Joh 6,44) und denen es (das Kommen zu Jesus) vom Vater gegeben worden ist (Joh 6,65). Dieser Bezug auf die Jünger Jesu wird bestätigt durch Joh 10,29 und dann (zumal im Vergleich dazu) v.a. durch Joh 17,2.6.9f.12.24. 324 So mit THYEN 2005: 331. 325 Auf die komplexe Frage nach Zusammenhängen zum MkEv kann ich hier nicht weiter eingehen. Vgl. dazu die einschlägigen Kommentare z.St. und HEILMANN 2014: 174–183 (die Verwendung von „Brot“ weise im MkEv eine „besondere Tiefendimension“ auf – Brot steht für Jesu Lehre –, die der Autor des JohEv auf kreative Weise in sein Werk eingearbeitet hat); ausführlich MACKAY 2004.

6. Reintegration

339

durch die ausführliche Einleitung in Joh 6,1–4, die auf die chronologische Angabe „nach diesen Dingen“ (6,1) folgt, und andererseits durch die summarische Notiz in Joh 7,1 vom Vorhergehenden bzw. Nachfolgenden abgegrenzt. Joh 6 befindet sich innerhalb einer längeren Schilderung der Auseinandersetzung Jesu mit „den Juden“ (Joh 5–10).326 Dabei steht immer wieder Jesu Identität im Verhältnis zu jüdischen Glaubensüberzeugungen, jüdischen Festen und damit zur Gründungsgeschichte Israels sowie zum jüdischen Gesetz und letztlich zu Gott im Zentrum der Kontroverse. Jede Szene in diesem Abschnitt des JohEv ist mit einem Fest verknüpft, so auch Joh 6. Denn nach 6,4 war das Passah nahe, das Fest „der Juden“.327 Allerdings besteht ein relativ großer zeitlicher Abstand zum vorherigen Wochenfest (vgl. Joh 5,1 nach meiner Deutung) und zum Laubhüttenfest, von dem ab Joh 7,2 die Rede ist: einmal zehn und einmal sechs Monate. Nichtdestotrotz bestehen zu Joh 5 inhaltlich-thematische Verbindungen, insbesondere die Erwähnung des Vaterzeugnisses sowie der Schriften, die von Jesus zeugen, und von Mose, der von Jesus geschrieben hat, ist diesbezüglich wichtig,328 aber auch die Werke, die für Jesus Zeugnis ablegen, müssen beachtet werden. Joh 6,31–58 konkretisiert u.a. die in Joh 5 genannten hermeneutischen Prinzipien der christologischen Schriftauslegung. 6.2 Gliederung Die Gliederung des langen Kapitels orientiert sich an dem 2-Tage-Schema, an der Handlung (einschließlich des Ortswechsels) und an den Sprecherwechseln, wobei solche Fragen und Antworten, die zusammengehören, als Dialogabschnitt aufgefasst werden.329 Demgemäß lässt sich Joh 6 folgendermaßen einteilen:330

326 Einige Ausleger wie SCHNACKENBURG stellen die Reihenfolge der Kapitel 5 und 6 gemäß einer mutmaßlichen „ursprünglichen“ Reihenfolge um. Ich gehe dagegen von dem überlieferten Text aus (vgl. zur Diskussion THYEN 2005: 334f.). 327 Ungewöhnlich ist, dass Jesus zu diesem Passahfest nicht nach Jerusalem pilgert, sondern in Galiläa bleibt (vgl. aber Joh 2,13; 5,1). Der Grund dafür besteht wohl darin, dass „die Juden“ in Jerusalem beabsichtigen, ihn aufgrund seiner mutmaßlichen Blasphemie zu töten, nachdem Jesus sein Wirken am Sabbat in Entsprechung zum Wirken Gottes, seines Vaters, legitimiert hat (vgl. Joh 5,18 mit 7,1; allerdings geht er dann doch zum Laubhüttenfest nach Jerusalem [vgl. 7,10]), seine (Sterbens-)„Stunde“ aber offenbar noch nicht gekommen war (7,8). In Galiläa war es für Jesus demnach relativ ungefährlich umherzuziehen. 328 Vgl. ZUMSTEIN 2004: 135: „Gerade vor Beginn des komplexen Kap. 6 betont also der implizite Autor die hermeneutische Tragweite der Passage der jüdischen Bibel, die er in Erinnerung rufen wird.“ 329 Für die einzelnen Episoden wird die Gliederung je nach Fokus unterschiedlich detailliert ausfallen. 330 Vgl. die Diskussion bei BEUTLER 1997: 115–127.

340

4. Kapitel: Die Rezeption der Sinaitradition in Joh 6,31f.45f.

Die Speisung einer großen Volksmenge auf der „anderen Seite des Sees“ 6,16–21: Jesu Erscheinung vor den Jüngern bei ihrer nächtlichen Überfahrt über den See331 6,22–59: Die Suche der Menge nach Jesus und der Dialog zwischen Jesus und der Menge in Kapernaum über das wahre „Brot“ 6,22–25: Die Suche der Menge nach Jesus 6,26–29: Erster Dialogabschnitt: Unvergängliche Speise und das Werk Gottes 6,26–27: Aufforderung zum „Erwirken“ der ins ewige Leben bleibenden „Speise“, die Gott durch den bevollmächtigten Menschensohn geben wird 6,28: Frage nach dem, was die Volksmenge tun kann, damit Gott seine Werke an ihnen tut 6,29: Antwort: Glaube an seinen Gesandten aufgrund des Werkes Gottes 6,30–40: Zweiter Dialogabschnitt: Zeichenforderung und Jesu Deutung „des Brotes vom Himmel“ 6,30–33: Die Forderung der Menge nach einem Legitimationszeichen und Jesu Deutung „des Brotes vom Himmel“ 6,30–31: Die Forderung der Menge nach einem Legitimationszeichen 6,32–33: Jesu neue Deutung „des Brotes vom Himmel“ auf dasjenige „Brot“, durch welches der Vater der Welt das Leben spendet 6,34: Bitte der Menge um dieses „Brot“, welches ihnen Leben spendet 6,35–40: Jesu Selbst-Identifikation mit dem „Brot“ des Lebens 6,41–51: Dritter Dialogabschnitt: Der Einwand „der Juden“ gegen Jesu Herkunft und Identität als „Brot vom Himmel“ und 6,1–15:

331

Für eine Deutung der hier nicht weiter zu diskutierenden Erzählung vom Seewandel als Theophanie vgl. O’DAY 1997. Zusammengefasst lautet ihre (aus meiner Sicht plausible) Auslegung: „In the context of John 6, this miracle functions as the evangelist’s commentary on the ‚sign‘ of 6:1–14. For a sign to be of theological value in the fourth gospel, those who witness the sign must see in and through the particular event […] to that which the sign points (cf. 6:26). John 6:15–21 positions Jesus as the interpreter of the sign. When he withdraws to the mountain, Jesus signals that the correct interpretation of the sign is not that he is the prophet-king like Moses. When Jesus walks across the sea and identifies himself with the ‚I AM,‘ he gives the sign its full and true meaning. The theophany of 6:18–20 reveals that to which the sign of 6:1–14 points: Jesus’ identity as the incarnation of God“ (1997: 158).

6. Reintegration

341

Jesu Antwort mit der Bekräftigung der Heilsnotwendigkeit des „Essens“ des „Brotes vom Himmel“ 6,41–42: Jesu irdische Herkunft als Einwand „der Juden“ gegen seine Herkunft und Identität als „Brot vom Himmel“ 6,43–51: Antwort Jesu: Das Ziehen bzw. Lehren des Vaters als Vorbedingung des Kommens zu Jesus und die Bekräftigung der Heilsnotwendigkeit des „Essens“ des „Brotes vom Himmel“ bzw. des „Fleisches“, welches Jesus geben wird 6,52–58: Vierter Dialogabschnitt: Das „Essen“ des „Brotes“ als „Essen“ des „Fleisches“ Jesu und „Trinken“ seines „Blutes“ 6,52: Unverständnis „der Juden“ bezüglich des Essens des Fleisches Jesu 6,53–58: Bekräftigung der Heilsnotwendigkeit des „Essens“ bzw. „Kauens“ des „Fleisches“ und „Trinken“ des „Blutes“ des Menschensohns als dem „Brot vom Himmel“ 6,59: Rückblickende Notiz über Jesu Lehrtätigkeit in Kapernaum332 6,60–66: „Abfall“ einiger Jünger wegen der anstößigen Rede 6,67–71: Bekenntnis der Jünger zu Jesus, obwohl sich unter ihnen ein Verräter befindet 6.3 Syntaktische Struktur und Übersetzung von Joh 6,26–71 26 a b c d e f 27 a

332

Ἀπεκρίθη αὐτοῖς ὁ Ἰησοῦς καὶ εἶπεν· Jesus antwortete ihnen und sprach: ἀµὴν ἀµὴν λέγω ὑµῖν, „Amen, Amen, ich sage euch: ζητεῖτέ µε ihr sucht mich, οὐχ ὅτι εἴδετε σηµεῖα, nicht weil ihr Zeichen gesehen habt, ἀλλ᾽ ὅτι ἐφάγετε ἐκ τῶν ἄρτων sondern weil ihr von den Broten gegessen habt καὶ ἐχορτάσθητε. und satt geworden seid. ἐργάζεσθε µὴ τὴν βρῶσιν τὴν ἀπολλυµένην Erwirket nicht die Speise, die vergänglich ist,

Wie weit reicht diese rückblickende Notiz? Von Kapernaum war zuletzt in Joh 6,24 die Rede, also dem Ort, an dem der ganze Dialog bzw. Disput bis Joh 6,58 sich ereignet. Da Jesus nach Joh 6,59 „lehrt“ und es im Vorhergehenden v.a. um die Interpretation von Zeichen und Schrift mit Bezug auf Jesus geht, liegt es nahe, dass eben diese Deutung Jesu als Lehre bezeichnet wird, zumal in einem Synagogensetting.

342 b c d 28 a b c 29 a b c d 30 a b c d e 31 a b c 32 a b c d 33 a b c

4. Kapitel: Die Rezeption der Sinaitradition in Joh 6,31f.45f. ἀλλὰ τὴν βρῶσιν τὴν µένουσαν εἰς ζωὴν αἰώνιον, sondern die Speise, die bleibt in das ewige Leben (hinein), ἣν ὁ υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου ὑµῖν δώσει· die der Sohn des Menschen euch geben wird. τοῦτον γὰρ ὁ πατὴρ ἐσφράγισεν ὁ θεός. Denn diesen hat der Vater, (also) Gott (selbst), versiegelt.“ εἶπον οὖν πρὸς αὐτόν· Sie sprachen daraufhin zu ihm: τί ποιῶµεν „Was sollen wir tun, ἵνα ἐργαζώµεθα τὰ ἔργα τοῦ θεοῦ; damit wir die Werke Gottes erwirken?“ ἀπεκρίθη [ὁ] Ἰησοῦς καὶ εἶπεν αὐτοῖς· Jesus antwortete und sprach zu ihnen: τοῦτό ἐστιν τὸ ἔργον τοῦ θεοῦ, „(Eben) dies ist das Werk Gottes, ἵνα πιστεύητε εἰς damit ihr an den glaubt, ὃν ἀπέστειλεν ἐκεῖνος. den jener gesandt hat.“ Εἶπον οὖν αὐτῷ· Da sagten sie zu ihm: τί οὖν ποιεῖς σὺ σηµεῖον, „Welches Zeichen tust du nun, ἵνα ἴδωµεν damit wir sehen καὶ πιστεύσωµέν σοι; und dir glauben? τί ἐργάζῃ; Was wirkst du? οἱ πατέρες ἡµῶν τὸ µάννα ἔφαγον ἐν τῇ ἐρήµῳ, Unsere Väter aßen das Manna in der Wüste, καθώς ἐστιν γεγραµµένον· wie geschrieben steht: ἄρτον ἐκ τοῦ οὐρανοῦ ἔδωκεν αὐτοῖς φαγεῖν. ‚Brot vom Himmel gab er ihnen zu essen‘.“ εἶπεν οὖν αὐτοῖς ὁ Ἰησοῦς· Jesus entgegnete ihnen: ἀµὴν ἀµὴν λέγω ὑµῖν, „Amen, Amen ich sage euch, οὐ Μωϋσῆς δέδωκεν ὑµῖν τὸν ἄρτον ἐκ τοῦ οὐρανοῦ, nicht Mose hat euch das Brot vom Himmel gegeben, ἀλλ᾽ ὁ πατήρ µου δίδωσιν ὑµῖν τὸν ἄρτον ἐκ τοῦ οὐρανοῦ τὸν ἀληθινόν· sondern mein Vater gibt euch das Brot vom Himmel, das wahre. ὁ γὰρ ἄρτος τοῦ θεοῦ ἐστιν Denn dasjenige ist das Brot Gottes, ὁ καταβαίνων ἐκ τοῦ οὐρανοῦ welches aus dem Himmel herabkommt καὶ ζωὴν διδοὺς τῷ κόσµῳ.

6. Reintegration

34 a b 35 a b c d 36 a b c 37 a b

c 38 a b c 39 a b c

343

und der Welt Leben gibt.“ εἶπον οὖν πρὸς αὐτόν· Daraufhin sagten sie zu ihm κύριε, πάντοτε δὸς ἡµῖν τὸν ἄρτον τοῦτον. „Herr, gib uns allezeit dieses Brot!“ εἶπεν αὐτοῖς ὁ Ἰησοῦς· Jesus sprach zu ihnen: ἐγώ εἰµι ὁ ἄρτος τῆς ζωῆς· „Ich bin das Brot des Lebens. ὁ ἐρχόµενος πρὸς ἐµὲ οὐ µὴ πεινάσῃ, Wer zu mir kommt, wird keinesfalls mehr hungern, καὶ ὁ πιστεύων εἰς ἐµὲ οὐ µὴ διψήσει πώποτε. und wer an mich glaubt, wird niemals mehr dürsten. Ἀλλ᾽ εἶπον ὑµῖν Aber ich habe euch (schon) gesagt, ὅτι καὶ ἑωράκατέ [µε]333 dass, obwohl ihr mich gesehen habt, καὶ οὐ πιστεύετε. ihr dennoch nicht glaubt. πᾶν ↓ Alles, ὃ δίδωσίν µοι ὁ πατὴρ was der Vater mir gibt, ↑ πρὸς ἐµὲ ἥξει, wird zu mir kommen, καὶ τὸν ἐρχόµενον πρὸς ἐµὲ οὐ µὴ ἐκβάλω ἔξω, und wer zu mir kommt, den werde ich auf keinen Fall hinauswerfen; ὅτι καταβέβηκα ἀπὸ τοῦ οὐρανοῦ denn ich bin vom Himmel herabgekommen, οὐχ ἵνα ποιῶ τὸ θέληµα τὸ ἐµὸν nicht damit ich meinen Willen tue, ἀλλὰ τὸ θέληµα τοῦ πέµψαντός µε. sondern (damit ich tue) den Willen dessen, der mich gesandt hat. τοῦτο δέ ἐστιν τὸ θέληµα τοῦ πέµψαντός µε, Dies aber ist der Wille dessen, der mich gesandt hat, ἵνα πᾶν↓ dass ich von allem, ὃ δέδωκέν µοι was er mir gegeben hat, ↑ µὴ ἀπολέσω ἐξ αὐτοῦ,

Die Lesart ohne µε findet sich in ‫ א‬A a b e q sys.c. Sie ist also nicht so gut bezeugt wie die Lesart mit µε. Die Lesart mit dem Personalpronomen ist die schwierigere Lesart, da man sich fragt, wo Jesus solches schon gesagt hat. Den Wegfall des µε kann man so erklären, dass durch die Streichung ein leichterer kontextueller Anschluss ermöglicht werden sollte, insofern man dann V.26 als Beleg für Jesu Aussage hätte und „das/die Zeichen“ als Objekt des Sehens ergänzen könnte. Die vorzuziehende Lesart mit µε kann man dann mit SCHNACKENBURG so deuten: „Ihr habt mich bei der Speisung als das vom Himmel herabkommende Brot erkennen können“ (1971: 71). 333

344

d 40 a b c d

e 41 a b c 42 a b c d e 43 a b 44 a b c 45 a b c d

4. Kapitel: Die Rezeption der Sinaitradition in Joh 6,31f.45f. nichts verliere, ἀλλὰ ἀναστήσω αὐτὸ [ἐν] τῇ ἐσχάτῃ ἡµέρᾳ. sondern (dass) ich es auferwecke am letzten Tag. τοῦτο γάρ ἐστιν τὸ θέληµα τοῦ πατρός µου, Denn dies ist der Wille meines Vaters, ἵνα πᾶς↓ dass jeder, ὁ θεωρῶν τὸν υἱὸν der den Sohn sieht, καὶ πιστεύων εἰς αὐτὸν und an ihn glaubt, ↑ἔχῃ ζωὴν αἰώνιον, ewiges Leben hat, καὶ ἀναστήσω αὐτὸν ἐγὼ [ἐν] τῇ ἐσχάτῃ ἡµέρᾳ. und ich werde ihn am letzten Tag auferwecken.“ Ἐγόγγυζον οὖν οἱ Ἰουδαῖοι περὶ αὐτοῦ Daraufhin murrten die Juden über ihn, ὅτι εἶπεν· weil er sagte: ἐγώ εἰµι ὁ ἄρτος ὁ καταβὰς ἐκ τοῦ οὐρανοῦ, „Ich bin das aus dem Himmel herabgekommene Brot“, καὶ ἔλεγον· und sie sprachen: οὐχ οὗτός ἐστιν Ἰησοῦς ὁ υἱὸς Ἰωσήφ, „Ist dieser nicht Jesus, der Sohn Josephs, οὗ ἡµεῖς οἴδαµεν τὸν πατέρα καὶ τὴν µητέρα; dessen Vater und Mutter wir kennen? πῶς νῦν λέγει Wie (mit welchem Recht) sagt er dann: ὅτι ἐκ τοῦ οὐρανοῦ καταβέβηκα; ‚Ich bin aus dem Himmel herabgekommen‘?“ ἀπεκρίθη Ἰησοῦς καὶ εἶπεν αὐτοῖς· Jesus antwortete und sprach zu ihnen: µὴ γογγύζετε µετ᾽ ἀλλήλων. „Hört auf, untereinander zu murren! οὐδεὶς δύναται ἐλθεῖν πρός µε Niemand kann zu mir kommen, ἐὰν µὴ ὁ πατὴρ ὁ πέµψας µε ἑλκύσῃ αὐτόν, wenn nicht der Vater, der mich gesandt hat, ihn zieht, κἀγὼ ἀναστήσω αὐτὸν ἐν τῇ ἐσχάτῃ ἡµέρᾳ. und ich werde ihn auferwecken am letzten Tag. ἔστιν γεγραµµένον ἐν τοῖς προφήταις· Es steht in den Prophetenbüchern geschrieben: καὶ ἔσονται πάντες διδακτοὶ θεοῦ· ‚Und sie werden alle Gelehrte Gottes sein‘. πᾶς Jeder, ↓ ὁ ἀκούσας παρὰ τοῦ πατρὸς der vom Vater gehört

6. Reintegration e

46 a b c 47 a b 48 49 a b 50 a b c 51 a b c d e

52 a b

345

καὶ µαθὼν und gelernt hat, ↑ἔρχεται πρὸς ἐµέ. kommt zu mir. οὐχ ὅτι τὸν πατέρα ἑώρακέν τις Nicht, dass jemand den Vater gesehen hat εἰ µὴ ὁ ὢν παρὰ τοῦ θεοῦ, außer demjenigen, der von Gott ist/kommt, οὗτος ἑώρακεν τὸν πατέρα. dieser hat den Vater gesehen. ἀµὴν ἀµὴν λέγω ὑµῖν, Amen, Amen ich sage euch, ὁ πιστεύων ἔχει ζωὴν αἰώνιον. der, der glaubt, hat ewiges Leben. Ἐγώ εἰµι ὁ ἄρτος τῆς ζωῆς. Ich bin das Brot des Lebens. οἱ πατέρες ὑµῶν ἔφαγον ἐν τῇ ἐρήµῳ τὸ µάννα Eure Väter aßen in der Wüste das Manna καὶ ἀπέθανον· und starben. οὗτός ἐστιν ὁ ἄρτος ὁ ἐκ τοῦ οὐρανοῦ καταβαίνων, Dies (aber) ist das vom Himmel kommende Brot, ἵνα τις ἐξ αὐτοῦ φάγῃ damit man davon isst καὶ µὴ ἀποθάνῃ. und nicht stirbt. ἐγώ εἰµι ὁ ἄρτος ὁ ζῶν ὁ ἐκ τοῦ οὐρανοῦ καταβάς· Ich bin das lebendige Brot, das vom Himmel herabgekommen ist. ἐάν τις φάγῃ ἐκ τούτου τοῦ ἄρτου Wenn jemand von diesem Brot isst, ζήσει εἰς τὸν αἰῶνα, wird er in Ewigkeit leben; καὶ ὁ ἄρτος δὲ334 das Brot aber, ↓ ὃν ἐγὼ δώσω das ich (zu essen) geben werde, ↑ ἡ σάρξ µού ἐστιν ὑπὲρ τῆς τοῦ κόσµου ζωῆς. ist mein Fleisch für das Leben der Welt.“ Ἐµάχοντο οὖν πρὸς ἀλλήλους οἱ Ἰουδαῖοι λέγοντες· Da stritten die Juden miteinander: πῶς δύναται οὗτος ἡµῖν δοῦναι τὴν σάρκα [αὐτοῦ]335

334 Der Anschluss durch καί – δέ verbindet den Satz einerseits mit dem Vorhergehenden und hebt ihn andererseits davon ab (vgl. 1Joh 1,3d)“ (SCHNACKENBURG 1971: 82); es wird also ein das Vorhergehende weiterführender Gedanke präsentiert. 335 αὐτοῦ ist textkritisch unsicher. Es fehlt zwar in den MSS ‫ א‬C D K L W Γ ∆ Θ Ψ f1.13 33. 565. 579. 700. 1241. l 844. l 2211 ff2, wird aber bezeugt durch 66 B T 892. 1424 lat sy. Nach METZGER (1971: 214) ist „the external evidence for and against the presence of αὐτοῦ […] evenly balanced, and […] considerations of internal probabilities are not

346

c 53 a b c d e 54 a b c d 55 a b 56 a b c d 57 a b c d 58 a b

4. Kapitel: Die Rezeption der Sinaitradition in Joh 6,31f.45f. „Wie kann uns dieser das [oder: sein] Fleisch geben, φαγεῖν; damit wir (es) essen?“ εἶπεν οὖν αὐτοῖς ὁ Ἰησοῦς· Da sagte Jesus zu ihnen: ἀµὴν ἀµὴν λέγω ὑµῖν, „Amen, Amen, ich sage euch, ἐὰν µὴ φάγητε τὴν σάρκα τοῦ υἱοῦ τοῦ ἀνθρώπου wenn ihr nicht das Fleisch des Menschensohnes esst καὶ πίητε αὐτοῦ τὸ αἷµα, und sein Blut trinkt, οὐκ ἔχετε ζωὴν ἐν ἑαυτοῖς. (dann) habt ihr das Leben nicht in euch. ὁ τρώγων µου τὴν σάρκα Der, der mein Fleisch kaut καὶ πίνων µου τὸ αἷµα und mein Blut trinkt, ἔχει ζωὴν αἰώνιον, hat ewiges Leben, κἀγὼ ἀναστήσω αὐτὸν τῇ ἐσχάτῃ ἡµέρᾳ. und ich werde ihn auferwecken am letzten Tag. ἡ γὰρ σάρξ µου ἀληθής ἐστιν βρῶσις, Denn mein Fleisch ist wahre Speise, καὶ τὸ αἷµά µου ἀληθής ἐστιν πόσις. und mein Blut ist wahrer Trank. ὁ τρώγων µου τὴν σάρκα Wer mein Fleisch kaut καὶ πίνων µου τὸ αἷµα und mein Blut trinkt, ἐν ἐµοὶ µένει bleibt in mir, κἀγὼ ἐν αὐτῷ. und ich (bleibe) in ihm. καθὼς ἀπέστειλέν µε ὁ ζῶν πατὴρ Wie mich der lebendige Vater gesandt hat κἀγὼ ζῶ διὰ τὸν πατέρα, und ich durch den Vater lebe, καὶ ὁ τρώγων µε (so) wird auch der, der mich kaut, κἀκεῖνος ζήσει δι᾽ ἐµέ. durch mich leben. οὗτός ἐστιν ὁ ἄρτος Dies ist das Brot, ὁ ἐξ οὐρανοῦ καταβάς,

decisive“. Mit THYEN (2005: 366; anders MENKEN 1997: 200) gehe ich vom längeren Text aus, v.a. wegen der frühen Bezeugung. Allerdings ist auch ohne αὐτοῦ deutlich, nämlich aufgrund des Artikels τὴν (σάρκα), dass die Juden mit „das Fleisch“ nicht irgendein oder „Fleisch“ im Allgemeinen, sondern „das Fleisch“ Jesu meinen (vgl. THYEN 2005: 366).

6. Reintegration

c d e f 59 a b 60 a b

c d 61 a b c d 62 a b c 63 a b c d

das vom Himmel herabgekommen ist, οὐ καθὼς ἔφαγον οἱ πατέρες nicht wie (das Brot, das) die Väter aßen καὶ ἀπέθανον· und starben. ὁ τρώγων τοῦτον τὸν ἄρτον Wer dieses Brot kaut, ζήσει εἰς τὸν αἰῶνα. wird in Ewigkeit leben.“ Ταῦτα εἶπεν Diese Dinge sprach er, ἐν συναγωγῇ διδάσκων ἐν Καφαρναούµ. als er in einer Synagoge in Kapernaum lehrte. Πολλοὶ οὖν ↓ Viele nun seiner Jünger, ἀκούσαντες als sie (dies) hörten, ↑ ἐκ τῶν µαθητῶν αὐτοῦ εἶπαν· sagten: σκληρός ἐστιν ὁ λόγος οὗτος· „Diese Rede ist hart. τίς δύναται αὐτοῦ ἀκούειν; Wer kann auf sie (oder: ihn) hören?“ εἰδὼς δὲ ὁ Ἰησοῦς ἐν ἑαυτῷ Da Jesus sich dessen bewusst war, ὅτι γογγύζουσιν περὶ τούτου οἱ µαθηταὶ αὐτοῦ dass seine Jünger darüber murrten, εἶπεν αὐτοῖς· sagte er: τοῦτο ὑµᾶς σκανδαλίζει; „Daran nehmt ihr Anstoß? ἐὰν οὖν θεωρῆτε τὸν υἱὸν τοῦ ἀνθρώπου Wenn ihr nun den Menschensohn seht, ἀναβαίνοντα wie er hinaufgeht, ὅπου ἦν τὸ πρότερον; wo er vorher war…? τὸ πνεῦµά ἐστιν τὸ ζῳοποιοῦν, Der Geist ist es, der lebendig macht, ἡ σὰρξ οὐκ ὠφελεῖ οὐδέν· das Fleisch nützt nichts. τὰ ῥήµατα↓ Die Worte, ἃ ἐγὼ λελάληκα ὑµῖν die ich zu euch gesprochen habe, ↑πνεῦµά ἐστιν sind Geist ↑καὶ ζωή ἐστιν. und sind Leben.

347

348 64 a b c d e 65 a b c d 66 a b 67 a b 68 a b c 69 a b c 70 a b c 71 a

4. Kapitel: Die Rezeption der Sinaitradition in Joh 6,31f.45f. ἀλλ᾽ εἰσὶν ἐξ ὑµῶν τινες Aber es gibt einige unter euch, οἳ οὐ πιστεύουσιν. die nicht glauben.“ ᾔδει γὰρ ἐξ ἀρχῆς ὁ Ἰησοῦς Denn Jesus wusste von Anfang an, τίνες εἰσὶν οἱ µὴ πιστεύοντες welche es sind, die nicht glauben, καὶ τίς ἐστιν ὁ παραδώσων αὐτόν. und wer es ist, der ihn ausliefern würde. καὶ ἔλεγεν· Und er sprach: διὰ τοῦτο εἴρηκα ὑµῖν „Deshalb habe ich euch gesagt, ὅτι οὐδεὶς δύναται ἐλθεῖν πρός µε dass niemand zu mir kommen kann, ἐὰν µὴ ᾖ δεδοµένον αὐτῷ ἐκ τοῦ πατρός. wenn es ihm nicht vom Vater gegeben worden ist.“ Ἐκ τούτου πολλοὶ [ἐκ] τῶν µαθητῶν αὐτοῦ ἀπῆλθον εἰς τὰ ὀπίσω Von da an336 zogen sich viele seiner Jünger zurück καὶ οὐκέτι µετ᾽ αὐτοῦ περιεπάτουν. und gingen nicht mehr mit ihm umher. εἶπεν οὖν ὁ Ἰησοῦς τοῖς δώδεκα· Daraufhin sagte Jesus zu den Zwölf: µὴ καὶ ὑµεῖς θέλετε ὑπάγειν; „Wollt etwa auch ihr weggehen?“ ἀπεκρίθη αὐτῷ Σίµων Πέτρος· Simon Petrus antwortete ihm: κύριε, πρὸς τίνα ἀπελευσόµεθα; „Herr, wohin sollen wir gehen? ῥήµατα ζωῆς αἰωνίου ἔχεις, Du hast Worte ewigen Lebens, καὶ ἡµεῖς πεπιστεύκαµεν und wir sind zum Glauben καὶ ἐγνώκαµεν und zur Erkenntnis gelangt, ὅτι σὺ εἶ ὁ ἅγιος τοῦ θεοῦ. dass du der Heilige Gottes bist.“ ἀπεκρίθη αὐτοῖς ὁ Ἰησοῦς· Jesus antwortete ihnen: οὐκ ἐγὼ ὑµᾶς τοὺς δώδεκα ἐξελεξάµην; „Habe ich nicht euch, die Zwölf, erwählt? καὶ ἐξ ὑµῶν εἷς διάβολός ἐστιν. Und (doch) ist einer von euch der Verleumder.“ ἔλεγεν δὲ τὸν Ἰούδαν Σίµωνος Ἰσκαριώτου·

336 Ἐκ τούτου kann auch kausal verstanden werden. Das temporale οὐκέτι im Nachsatz legt jedoch eher ein temporales Verständnis nahe (so THYEN 2005: 378).

6. Reintegration

b

349

Er meinte337 aber Judas, (den Sohn) von Simon Iskariot. οὗτος γὰρ ἔµελλεν παραδιδόναι αὐτόν, εἷς ἐκ τῶν δώδεκα. Denn dieser, einer der Zwölf, sollte ihn überliefern.

6.4 Interpretation der intertextuellen Bezüge innerhalb der Jesusrede Ich werde mich im Folgenden unter Berücksichtigung des ganzen Kapitels Joh 6 v.a. auf die Auslegung von Jesu Deutung „des Brotes vom Himmel“ (V.32ff.) im Anschluss an die Zeichenforderung im Verbund mit dem Schriftbezug (V.30f.) und auf die Interpretation von Jesu Schriftzitat (V.44ff.) und dessen Umfeld konzentrieren. Die exegetischen Anmerkungen im ersten Teil der Argumentationsanalyse und Desintegration setze ich dabei voraus. Das Volk forderte von Jesus, nachdem dieser vom Glauben an sich als den Gesandten Gottes sprach, ein „größeres“ Zeichen als das vom Vortag (V.30). Dieses „größere“ Zeichen sollte seinen zuvor erhobenen Anspruch legitimieren, denen, die an ihn glauben, ewiges Leben zu geben durch solche „Speise“, die ins ewige Leben bleibt (V.27 und V.29), die er als der Menschensohn geben wird. Dies aber impliziert, dass Jesus und seine „Speise“, die ewiges Leben verleiht, „größer“ sind als „der Prophet (wie Mose)“ und folglich auch als Mose selbst. Daraus lässt sich folgern: Mose wurde ihrer Meinung nach von Gott dadurch vor dem Volk legitimiert, dass „die Väter in der Wüste das Manna aßen, wie [in Ps 77,24b im Verein mit Ex 16,4.15] geschrieben steht: Brot vom Himmel gab er ihnen zu essen“. Das Mannawunder war aus Sicht „der Juden“ ein Zeichen der göttlichen Legitimation Moses (im jüdischen Kontext ist dies durchaus plausibel), ebenso wie das Brotwunder ein Legitimationszeichen Jesu, „des Propheten (wie Mose)“, war. Wie reagiert Jesus nun auf die Zeichenforderung und den Schriftverweis? Gemäß dem für meine Fragestellung zentralen Vers 32 sagt er, indem er das Schriftwort fast wörtlich aufgreift und so deutet: ἀµὴν ἀµὴν λέγω ὑµῖν, οὐ Μωϋσῆς δέδωκεν ἀλλ᾽ ὁ πατήρ µου δίδωσιν

ὑµῖν τὸν ἄρτον ἐκ τοῦ οὐρανοῦ, ὑµῖν τὸν ἄρτον ἐκ τοῦ οὐρανοῦ τὸν ἀληθινόν·

Wie ist diese Aussage, zumal als Schriftinterpretation, ihrerseits zu verstehen? Was genau negiert und was genau behauptet Jesus, und warum bzw. wozu tut er dies? Zu den wichtigsten Antworten, die von Auslegenden gegeben worden sind, zählen folgende: 1. Jesus leugnet, dass Mose „euch“ das Brot vom Himmel = Manna gegeben hat und behauptet stattdessen, dass sein Vater „euch“ das wahre Brot vom Himmel = Manna gegeben hat.

337

Vgl. BA, s.v. I.2.b.

350

4. Kapitel: Die Rezeption der Sinaitradition in Joh 6,31f.45f.

Diese Auslegung338 übersieht, dass Jesus in 6,32d das Präsens δίδωσιν gebraucht. Dass mit dem „Brot vom Himmel“ und dem „wahren Brot vom Himmel“ jeweils das Manna als physisches Brot gemeint wäre, ist angesichts des johanneischen Kontrastes zwischen dem Manna, das kein ewiges Leben geben konnte, und dem „Brot des Lebens“, das ewiges Leben gibt, unplausibel. 2. Jesus zufolge soll man das Schriftwort folgendermaßen deuten: Lies nicht „Mose hat euch das Brot vom Himmel gegeben“, sondern lies „mein Vater gibt euch das wahre Brot vom Himmel“. Die einflussreiche Auslegung Borgens argumentiert dafür, dass Jesus nach V.32c–d sage „lies nicht: Mose hat euch das Brot vom Himmel gegeben, sondern lies: mein Vater gibt euch das wahre Brot vom Himmel“, d.h. nach Borgen: Jesus. Demzufolge hätte der johanneische Jesus die komplette Proposition „Mose hat euch das Brot vom Himmel = Manna gegeben“ ersetzt.339 Dabei folge er der rabbinischen (aber auch von Philo benutzten) Al-tiqre-Auslegungs„Regel“ (Lies nicht …, sondern [lies] …) und stütze sich auf Ex 16,4.15 (für den Subjektwechsel). Mithin habe der Evangelist die Rolle der Tora bzw. Weisheit (die in [früh-]jüdischen Texten mit dem Brot vom Himmel bzw. Manna identifiziert wurde) auf das „wahre Brot vom Himmel“, nämlich Jesus übertragen.340 Die Grundlage für Borgens Interpretation ist die problematische Annahme, dass das Schriftzitat in Joh 6,31 von einer stärkeren Nähe zum hebräischen als zum griechischen Text von Ex 16,4.15 geprägt sei.341 Folglich kann er sagen: „Thus v. 32 shows that the understanding of the Old Testament quotation in v.31b is not based upon the vocalization for perfect tense, ‫נָ ַתן‬, but upon the vocalization for the participle, ‫נוֹתן‬ ֵ , which in the Greek of v.32 is rendered by the present tense.“342 Trotz alledem geht der Evangelist Borgens Auslegung nach durchaus von einer vergangenen Gabe des Brotes vom Himmel aus, die er aber einer „external sphere“ zuordne; das Schriftwort beziehe sich dagegen auf eine „spiritual sphere“. Borgen paraphrasiert V.32 dann folgendermaßen: „Not the external sphere of the past in which Moses gave the external bread from heaven, but the spiritual sphere of the present in which my Father gives you the true spiritual bread from heaven.“343 Dem fügt er noch hinzu, dass es 338 Vgl. BARRETT 1990: 301 (als Option genannt); FREED 1965: 14ff. FREED meint, dass das Zitat „sets the stage for Jesus’ discourse on the bread of life which follows thus must be taken with what follows, not with what precedes it“ (FREED 1965: 14). Dies wird dem Zusammenhang jedoch nicht gerecht. 339 Vgl. BORGEN 1965: 63f. 340 Vgl. BORGEN 1965: 149. 341 Vgl. BORGEN 1965: 40. 342 BORGEN 1965: 64. Zum Präsens s. 1965: 168: „John 6,32 […] emphasizes that God gives the bread from heaven in the eschatological present.“ 343 BORGEN 1965: 172.

6. Reintegration

351

aufgrund dessen, dass mit der gegenwärtigen Gabe des „Brotes vom Himmel“ „ideas from the Tora and the theophany at Sinai“ verbunden seien, „logisch“ erscheine, dass die vergangene Gabe des Brotes vom Himmel sowohl das Mannawunder als auch die Gabe der Sinaitora kombiniere.344 V.32c beziehe sich folglich zusätzlich auf dieses Ereignis auf der „external sphere“, sodass beides, Mannawunder und Sinaitheophanie auf die „spiritual reality“ verweise.345 Obwohl Borgens Deutung im Endergebnis in die richtige Richtung geht, erheben sich gegen seine Argumentation folgende Einwände: Wie Menken u.a. gezeigt haben, ist es wahrscheinlich, dass in Joh 6,31 nicht nur Ex 16,4.15, sondern auch und v.a. Ps 77,24b LXX zitiert wird. Ein Bezug zu einem hebräischen Text ist dabei zwar nicht ausgeschlossen, jedoch kann der hebräische Text nicht in der von Borgen postulierten Weise zur Deutung des griechischen Textes des JohEv herangezogen werden. Borgens Analyse verwischt nämlich den im griechischen Text des JohEv signifikanten Unterschied zwischen dem Aorist und dem Perfekt und somit zwischen der Interpretation der Schrift durch die Menge und durch Jesus.346 Das Perfekt lässt einen primären Bezug auf die abgeschlossen in der Vergangenheit liegende Mannagabe nicht zu. Ob „Brot vom Himmel“ tatsächlich Manna und Tora umfasst, die dann beide auf die „spiritual reality“, nämlich auf „das Brot vom Himmel, das wahre“, verweist, steht m.E. zu bezweifeln. Darüber hinaus nimmt Borgen nicht ernst, dass im Text einerseits von den Vätern als Rezipienten des Mannas (6,31.49.58) und andererseits von „euch“ als Rezipienten „des Brotes vom Himmel“ geredet wird. Besonders gravierend ist jedoch, dass das „lies nicht…“ bzw. „lies…“ nicht im Text steht, auch nichts Vergleichbares. 3. Jesus leugnet, dass das Brot vom Himmel = Manna, das Mose „euch“ gegeben hat, das „wahre Brot“ war, und behauptet stattdessen, dass „das wahre Brot vom Himmel“ jenes ist, von dem Jes 55 sprach, nämlich das Wort Gottes. Nach Burkett geht es Jesus nicht um zwei verschiedene Vokalisationen des Verbs „geben“ in Ps 78,24 (gegen Borgen), sondern um zwei verschiedene 344

Vgl. BORGEN 1965: 173. Vgl. BORGEN 1965: 173. 346 Vgl. BORGEN 1965: 63 (die Einfügungen sowohl in runden als auch in eckigen Klammern stammen von dort): „This third point [John 6,32 gives a different reading of the Old Testament quotation cited in v.31b, in accordance with this midrashic pattern for correcting the Hebrew text] becomes clear as soon as the verbs in John 6,31–32 are translated back into Hebrew: (31b) ‚He gave (ἔδωκεν / ‫ )נתן‬them bread from heaven to eat.‘ (32) Truly, truly, I say to you, not … gave (δέδωκεν [ἔδωκεν] / ‫)נָ ַתן‬ but … gives (δίδωσιν / ‫נוֹתן‬ ֵ ).“; oder auch : „In agreement with John’s emphasis on the present, 6,32 says that the right interpretation of the verb ἔδωκεν (‫ )נתן‬in v.31b is the present tense ‚gives‘ (δίδωσιν / ‫נוֹתן‬ ֵ ) and not the past tense, ‚gave‘ (δέδωκεν / ‫“)נָ ַתן‬ (1965: 168). 345

352

4. Kapitel: Die Rezeption der Sinaitradition in Joh 6,31f.45f.

Brote in zwei verschiedenen Texten (Ps 78 vs. Jes 55).347 Jesus mache deutlich, dass jenes, in Ps 78,24 erwähnte Brot vom Himmel, das Mose gab, entgegen der Auffassung der Menge gar nicht das „wahre Brot vom Himmel“ gewesen sei. „Das wahre Brot vom Himmel“ sei jenes, worüber Jes 55 gesprochen habe. Nur dort werde gesagt, dass das Wort (= „Brot“) „herabkommt“ (Jes 55,10f.) und dass es Leben spendet (Jes 55,3). „Jesus’ description of ‚the true bread from heaven’ as ‚that which descends from heaven and gives life to the world’ (Jn 6.35) indicates therefore that he is referring to the bread of Isaiah 55, rather than that of the verse cited by the Jews“348. Burkett sieht in Joh 6,49f.58 eine Bestätigung seiner Deutung, insofern Jesus das „wahre Brot“, das Leben gibt, mit dem Manna kontrastiert, welches kein Leben spenden konnte. Es ist das Verdienst Burketts, die johanneischen Bezüge zu Jes 55 stärker in das Blickfeld der Forschung gebracht zu haben. Allerdings geht die starke Betonung dieser Bezugnahmen in eine dem Text nicht angemessene Richtung. Burketts Auslegung ist aus den folgenden Gründen zu hinterfragen: Sie nimmt den Zusammenhang des Schriftbezugs nicht ausreichend wahr; sie übersieht, dass Jesus zwischen „euch“ und „eure“ bzw. „unsere“ bzw. „die Väter“ differenziert. Vor allem aber sagt Jesus nach V.32c gerade nicht, dass Mose das Brot vom Himmel gegeben hat (auch wenn dieses nicht das wahre Brot vom Himmel war), sondern bestreitet dies gerade. Ferner kommen bei ihm (früh-)jüdische Deutungen des Brotes vom Himmel als Wort bzw. Weisheit nicht in Betracht. Es ist darüber hinaus nicht zutreffend, dass nur Jes 55, aber nicht die Manna-Texte vom „herabsteigen“ (vgl. aber Num 11,9) und vom Leben sprechen (Israel wird schließlich durch das Manna vor dem Hungertod bewahrt; vgl. auch Dtn 8,3). Wie einige andere Ausleger übergeht Burkett das im Zusammenhang mit „dem Brot vom Himmel“ benutzte Perfekt zu schnell, obwohl es doch signifikanterweise vom Aorist des Schriftzitats abweicht. Insgesamt steht zu bezweifeln, dass Jesus einer Schriftstelle, die er ja terminologisch im Anschluss ständig aufgreift, einfach eine andere gegenüberstellt. Damit hätte er der Auslegung (Mose als Geber) durch die Menge im Prinzip zugestimmt. Diese Deutung ist aber angesichts von V.32 nicht zu halten. 4. Jesus leugnet, dass Mose „euch“ das Brot vom Himmel = Manna gegeben hat und behauptet stattdessen sowohl, dass sein Vater „euch“ das Brot vom Himmel = Manna gegeben hat, als auch, dass er „das wahre Brot vom Himmel“ = Brot der Speisung Jesu und Jesus selbst in der Gegenwart gibt.

347 348

Vgl. BURKETT 1991: 132f. BURKETT 1991: 133 (kursiv im Original).

6. Reintegration

353

Obermann349 sieht ganz zu Recht, dass für Jesus „das Schriftwort den Deutehintergrund des schon zuvor geschehenen Zeichens (6,1–14) dar[stellt]“350. Nach Obermann „verneint Jesus die Rolle des Mose als Spender des Himmelsbrotes in Entsprechung zur Aussage von LXX Ps 77,24, die eindeutig Gott als Subjekt der Mannagabe benennt“351. Die negative Erwähnung des Mose diene zum einen dazu, zu bekräftigen, dass „Mose [nicht] als Typos (eines vollmächtigen Gottesmannes) für Jesus (6,14)“352 anzusehen sei. Zum anderen solle das Missverständnis vermieden werden, Jesus sei wie Mose „ein Gott besonders nahestehender Mensch und vollmächtiger Mann Gottes, auf dessen Gebet hin Gott Wunder vollbringen würde“353. Positiv hebe „der Evangelist die Bedeutung des Manna als einer Heilsgabe Gottes, eines lebensstärkenden und lebensnotwendigen Mittels zum Leben hervor, indem er sich diese Tradition in doppelter Weise präsentisch aneignet“354. Einerseits werden Obermann zufolge diejenigen, die ein Legitimationszeichen von Jesus verlangen, „in das Ereignis der Vergangenheit eingebunden, sofern sie das geforderte Zeichen schon erhalten haben: Euch wurde das Manna einst [in der Wüste] gegeben“. Andererseits werde aus der Rede von der präsentischen Gabe des wahren Himmelsbrotes zweierlei deutlich: Das Brot der Speisung Jesu ist genauso allein Gottes Gabe wie einst das Manna. Und die Gabe des Mannas werde qualitativ übertroffen durch Gottes Gabe seines Sohnes, der „letztgültige[n] und nicht mehr zu überbietende[n] Konkretion“355 des „Brotes vom Himmel“. Meine Analyse im ersten Teil dieses Abschnitts hat gezeigt, dass das Schriftwort nicht nur für Jesus, sondern auch für die Menge den Deutehintergrund des Zeichens vom Vortag darstellt.356 Ferner wird das auffällige Perfekt des Verbs „geben“ in V.32c auch von Obermann nicht ausreichend beachtet. Obermann differenziert außerdem nicht zwischen „euch“ und „den Vätern“, obwohl dies im Text geschieht. Meiner Meinung nach will der Evangelist nicht ausschließen, dass Jesus in bestimmter Hinsicht wie Mose ist (als „der Prophet“).357 Problematisch wird es, wenn Jesu Identität darauf reduziert wird und dazu noch 349 SCHUCHARD (1992: 43) vertritt eine ähnliche Deutung: Weder in Ps 77,24 noch sonst im AT sei Mose der, der das Mannawunder vollbringe, sondern Gott. Demgemäß sage Jesus „Truly, truly, I say to you, it was not Moses who gave you the bread from heaven [= Manna]; (therefore, it is not Moses who now gives,) but my Father gives you the true bread from heaven [= Jesus].“ Im Folgenden schließe Jesus die Erwartung der Menge aus, dass er ein zweiter Mose sei (die Menge hatte von Jesus ein zum von Mose vollbrachten Mannawunder analoges Zeichen verlangt [vgl. 1992: 42f.). 350 OBERMANN 1996: 145. 351 OBERMANN 1996: 145 (kursiv von mir). 352 OBERMANN 1996: 146. 353 OBERMANN 1996: 146. 354 OBERMANN 1996: 147 (auch für das folgende Zitat [kursiv von mir]). 355 OBERMANN 1996: 150. 356 Anders OBERMANN 1996: 146. 357 Vgl. die stufenweise Erkenntnis der Identität Jesu in Joh 4,19.26; 9,17.38.

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4. Kapitel: Die Rezeption der Sinaitradition in Joh 6,31f.45f.

falsche Schlüsse daraus gezogen werden. Dass Jesus sich allein auf den Berg zurückzieht (6,15), ist zwar als Ablehnung einer ihm zugedachten Rolle und einer bestimmten Auffassung seiner Person zu verstehen, zielt aber nicht auf den Ruf „dieser ist wahrhaft der Prophet“, sondern auf die von Jesus erkannte Absicht, ihn zu ergreifen und zum König („Brotkönig“) zu machen (vgl. V.15). Erstaunlich ist, dass Obermann behauptet, dass die Speisung durch die Brote allein Gottes Gabe sei. Doch auch wenn der Text davon spricht, dass Jesus (seinem Vater, Gott) dankt und das Leben spendende Wirken Gottes in der Manna-Geschichte zentral ist, ist es doch Jesus, der die Brote verteilt, die er von dem Jungen nahm. Schließlich ist angesichts der (früh-)jüdischen Auslegungstraditionen der Mannaepisode und der „steilen“ Aussagen über das „Brot vom Himmel“ in Joh 6 zu fragen, ob man hier so ganz ohne Tora- bzw. WortGottes-Bezug auskommt, zumal aufgrund der Echos im Umfeld des Zitats in Joh 6,45 (Jes 54,13).358 5. Jesus leugnet, dass Mose „euch“ irgendwann in der Vergangenheit „das Brot vom Himmel“ (≠ Manna und Weisheit bzw. Tora) gegeben hat mit dem Resultat, dass „ihr“ es nun habt, und behauptet stattdessen, dass sein Vater „euch“ in der Gegenwart „das wahre Brot vom Himmel“ (= Jesus) gibt. Gemäß Theobalds Interpretation359 „lässt [der Evangelist] Jesu vollmächtiges Wort die Schriftauslegung des galiläischen Volkes transzendieren“360. Das Psalm-Zitat spreche aus Sicht des Evangelisten schon von jeher über das christologisch verstandene „Brot vom Himmel“. Daher müsse man den Artikel τόν (V.32c), der sich nicht im Zitat aus Ps 77,24 LXX finde, anaphorisch interpretieren: „Das Brot vom Himmel, von dem das von euch beigebrachte PsalmZitat in Wahrheit spricht, hat euch nicht Mose gegeben…“361. Folglich deute der Evangelist schon das im Psalm-Zitat erwähnte „Brot vom Himmel“ (V.31c) genau wie das in V.32c genannte „Brot vom Himmel“ nicht auf das Manna, sondern auf „das wahre Brot vom Himmel“ (V.32d). Das heißt nach Theobald: 358 Obermann diskutiert zwar ausführlich das Zitat aus Jes 54,13 in Joh 6,45, stellt aber gar nicht die Frage nach Echos. 359 Vgl. auch SCHNACKENBURG 1971: 55f.; GLASSON 1963: 47. 360 THEOBALD 1997: 346 (kursiv im Original). Jesu Auslegung sei eigentlich keine Auslegung, sondern „vollmächtige Äußerung eigenen Rechts“ (THEOBALD 1997: 346), die den Sinn des Schriftwortes allererst konstituiere. Allerdings sei diese Äußerung Jesu ein Rätselwort, dessen Bedeutung sich erst durch das Ich-bin-Wort Jesu (V.35) erschließe. THEOBALD (1997: 346f.) sieht in der Abweichung vom LXX-Text von Ps 77,24 (statt „Himmelsbrot“ hat Joh 6,31 „Brot vom Himmel“) keinen Einfluss von Ex 16,4 (LXX) und/oder 2Esdr 19,15. Stattdessen projiziere der Evangelist „seine christologische Grundüberzeugung bezüglich Jesus als des ‚aus dem Himmel‘ (ἐκ τοῦ οὐρανοῦ) herabgestiegenen Menschensohnes in den Schrifttext zurück“ (1997: 347). Vgl. dagegen ZUMSTEIN 2004: 141: „Joh 6 [erhält] seinen vollständigen Sinn erst […], wenn es [sc. das Kapitel] in Verbindung mit Ex 16 gesetzt wird.“ 361 THEOBALD 1997: 347.

6. Reintegration

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„Inbezug auf das Manna-Wunder in der Wüste wird hier implizit verneint, dass es bei ihm ‚Brot vom Himmel‘ zu essen gab; das Manna konnte nichts anderes als ‚vergängliche Speise‘ (6,27) sein“362; nur das „Brot“, das der Vater gibt, dürfe „in Wahrheit“ die Bezeichnung „Brot vom Himmel“ tragen.363 Theobald erkennt allerdings, dass das Perfekt δέδωκεν zur Beschreibung der abgeschlossen in der Vergangenheit liegenden Mannagabe ungeeignet ist.364 Vor dem Hintergrund der frühjüdischen Interpretation des Mannas – wie sie meine Analyse nachgezeichnet hat – als „Sinnbild für Gottes Wort und seine Weisheit“, die „nach Ansicht des Judentums vornehmlich in der durch Mose übermittelten Tora inkarniert [!?]“365 sei, habe V.32b eine torakritische Spitze: „Nicht Mose hat euch das Brot vom Himmel gegeben (also die Weisheit oder das Wort Gottes, aus dem der Mensch in Wahrheit zu leben vermag), sondern mein Vater gibt euch jetzt dieses Brot“366. Theobald schlussfolgert aus seiner Untersuchung Folgendes, die Hermeneutik des Evangelisten Betreffendes:367 Der Evangelist wolle keine Entsprechung von Endzeit und Israels Wüstenzeit, ebenso wenig wie zwischen Mose und Jesus herstellen, da das Christus-Geschehen analogielos sei und Leben allein durch Christus vermittelt werde.368 Daraus gehe hervor, dass der Schrifttext von der Geschichte, auf die er nach jüdischer Auffassung verweise, abgetrennt werde und einen neuen Referenten (seinen eigentlichen) erhalte: die Christusgeschichte. Die Annahme Theobalds, dass der Evangelist einen völligen Bruch zwischen der Geschichte Israels (die doch wohl seine eigene ist) und der ChristusGeschichte vertrete, halte ich für verfehlt.369 Aus Theobalds Sicht geht die Auslegung der Schrift nur in eine Richtung: von Christus zum Schrifttext, der so erst mit Sinn gefüllt wird. Dagegen halte ich es für plausibler, dass das JohEv 362

THEOBALD 1997: 351. Ähnlich DIETZFELBINGER 1996: 205. THEOBALD 1997: 351. THEOBALD (ebd.) formuliert diese als „Kritik an der biblischen Tradition zu verstehende Auffassung“ des Evangelisten noch etwas pointierter (und geht damit zu weit): „Der lebensspendende Gott […] war in jenes Wunder der Mosezeit nicht involviert!“ 364 DIETZFELBINGER (1996: 205) übergeht das Perfekt ganz. 365 THEOBALD 1997: 352. 366 THEOBALD 1997: 352. Vgl. auch DODD 1953: 337. 367 Vgl. THEOBALD 1997: 356. 368 Die Geschichte Israels ist THEOBALD zufolge aus johanneischer Sicht theologisch irrelevant (1997: 362; ähnlich DIETZFELBINGER 1996: 205). 369 Vgl. ZUMSTEIN 2004: 142: „In dieser mittels der Intertextualität entfalteten Hermeneutik sollte keinesfalls ein Angriff auf die Schrift oder eine Kritik der Heilsgeschichte gesehen werden, die von ihrem Inhalt entleert wären: Für die joh Schule steht Jesus in der Mitte der Schrift und nicht im Gegensatz zu ihr. In diesem Referenzrahmen und nicht ausserhalb erlangt er seine volle Bedeutung.“ Dabei betont er zu Recht: „Aber gleichzeitig – und das ist die joh These – bildet Jesus den unübertrefflichen Höhepunkt und die eschatologische Vollendung der mit Mose [oder besser mit der Schöpfung] angefangenen Geschichte“; vgl. auch die in eine ähnliche Richtung gehenden Ausführungen SCHOLTISSEKS (2003: 146–177). 363

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4. Kapitel: Die Rezeption der Sinaitradition in Joh 6,31f.45f.

deutlich macht, dass das Christusereignis und die Schrift einschließlich der in Jesu Sinne gedeuteten Geschichte Israels sich gegenseitig erhellen, sodass die Tora dem Glauben an Jesus Christus nicht entgegensteht, sondern darauf hinausläuft (vgl. 5,39f.).370 Meines Erachtens erklären sich die Eigentümlichkeiten von V.31ff., zumal vor dem Hintergrund der (früh-)jüdischen Auslegung des Mannas bzw. Brotes vom Himmel, in der Tat dadurch am besten, dass Jesus in 6,32 die Gabe der Sinaitora im Blick hat, die für die Adressaten insofern eine aktuelle Auswirkung hat, als dass ihnen die Tora gegeben wurde und sie nun in ihrem „Besitz“ ist. Jesus verneint demnach, dass die Tora, die durch Mose gegeben wurde und die „die Juden“ nun in ihrem „Besitz“ haben, „das Brot vom Himmel“ ist, und behauptet, dass „das Brot vom Himmel“ in der Gegenwart vom Vater gegeben wird. Die Charakterisierung „des Brotes vom Himmel“ als „wahr“ unterstreicht dies zusätzlich und macht auf die übertragene Bedeutung „des Brotes vom Himmel“ aufmerksam. Im JohEv371 taucht der Wortstamm ἀληθ- recht oft auf und ist theologisch „aufgeladen“. So charakterisieren die Adjektive ἀληθής und ἀληθινός und das Substantiv ἀλήθεια v.a. Gott und was unmittelbar zu ihm gehört: Er ist wahrhaftig (vgl. zu ἀληθής 3,33; 8,26; zu ἀληθινός 7,28).372 Jesus sagt die Wahrheit, die er von dem wahrhaftigen Gott gehört hat (8,26.40). Die Wahrheit kommt also von Gott selbst. Das Wort Gottes ist Wahrheit, die heiligt (17,17). Von ihm kommt auch der „Geist der Wahrheit“ (14,16f.; 15,26; 16,13). Jesus spricht von sich als „der Wahrheit“ (14,6). Daneben wird scheinbar Alltägliches mit diesem Attribut versehen und auf Jesus bezogen: Das „wahre“ Licht (1,9), der „wahre“ Weinstock (15,1), die „wahre“ Speise (6,55) und eben das „wahre“ Brot. Offensichtlich handelt es sich bei diesen Prädikationen jeweils um Metaphern,373 denn Jesus ist augenscheinlich nicht Licht, Weinstock usw. Immer kommt dabei der Aspekt des ewigen Lebens, dessen Quelle allein Gott ist, der es durch seinen Sohn und nicht (wie „die Juden“ meinen) durch die Tora vermittelt, zum Tragen. Deshalb sind diese Begriffe mit dem auf Gott und auf das ewige Leben hinweisenden Attribut „wahr“ versehen und auf Jesus bezogen. Die Bestreitung, dass Mose „das Brot vom Himmel“ gegeben hat, dass die Tora mithin „das Brot vom Himmel“ ist, ist indes nur dann wirklich sinnvoll, wenn jemand das zuvor (implizit) behauptet hat bzw. von dieser Identifikation ausgeht. Das trifft für die Volksmenge zu. Denn sie wollen genau dann ein Legitimationszeichen (das größer sein soll als das Brot- und Mannawunder) 370

Ähnlich ZUMSTEIN 2004: 134. Vgl. HIRSCH-LUIPOLD 2006: 68ff., jedoch mit anderem (platonisch-ontologischem) Akzent. 372 Vgl. auch 1Joh 5,20. 373 Allerdings sind auch diese Metaphern schon vorgeprägt durch die Schrift. 371

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sehen, als Jesus behauptet hatte, „Speise“ geben zu können, die ins ewige Leben bleibt (etwas, das nach Jes 40,8 vom Wort Gottes gilt). Damit stellt er sich ihrer Meinung nach über Mose. Die Volksmenge, so ist dann aus V.30ff. (V.30f. sind Reaktion auf V.26f.29!) im Verein mit der Analogie Brotwunder – Mannawunder zu rekonstruieren, sieht in dem Mannawunder ein göttliches durch Mose gewirktes Zeichen, welches ihn legitimierte in seiner Funktion als Geber „des Brotes vom Himmel“, nämlich der Tora. Die Tora ist ihrer Meinung nach das „Brot vom Himmel“; sie verleiht ewiges Leben. Will Jesus aber solche „Speise“, die ewiges Leben spendet, geben, konkurriert er aus ihrer Sicht mit Mose und der Tora. Die Volksmenge unterscheidet mithin implizit zwischen Manna als Brot vom Himmel und dem „Brot vom „Himmel“ genau wie Jesus selbst und bezieht beides aufeinander (allerdings mit anderer Bezugsgröße „des Brotes vom Himmel“). Die jesuanische Korrektur des Subjektes von „Mose“ zu „mein Vater“ und die Wahl des Präsens374 sind aufgrund der Unterscheidung zwischen den Bezeichnungen „Manna“ und „Brot vom Himmel“ sowie der Deutung des Brotes vom Himmel im übertragenen Sinne nötig und auf der Basis von Ex 16,4; Ps 77,23ff. möglich, zumal dann, wenn sich die Schrift grundsätzlich auf die Gegenwart des Christusereignisses bezieht. Mittels der Verknüpfung der Gabe „des Brotes vom Himmel“ mit seinem Vater verquickt Jesus sich selbst mit „dem Brot vom Himmel“. Für die Mannaspeisung und insbesondere für das Zeichen Jesu vom Vortag gilt dann, dass sie keine Legitimationszeichen sind, sondern symbolische Manifestationen des Leben spendenden Wirkens des Vaters, der in seinem Sohn „das Brot vom Himmel, das wahre“, gibt (Inkarnation), und des Sohnes, der sein „FleischFleisch“ als Brot zu „essen“ geben wird (Passion). Von großer Bedeutung ist der auf V.32 folgende Kausalsatz ὁ γὰρ ἄρτος τοῦ θεοῦ ἐστιν ὁ καταβαίνων ἐκ τοῦ οὐρανοῦ καὶ ζωὴν διδοὺς τῷ κόσµῳ. Er liefert die alles entscheidende Begründung für die vorhergehende Behauptung Jesu. Dabei zeigt sich aufgrund des nun verwendeten Syntagmas „das Brot Gottes“ (aufgrund von V.32 genitivus auctoris), dass „(das Brot vom) Himmel“ als Bezeichnung für die göttliche Sphäre (vgl. auch 1,32.51; 3,13.27.31; 12,28; 17,1) dient: Dasjenige „Brot“ ist das „Brot vom Himmel“ (bzw. „das Brot Gottes“), welches vom „Himmel“ herabkommt (das mithin der Vater gibt) und der Welt Leben gibt (gemeint ist aufgrund der johanneischen Verwendung dieses und ähnlicher Begriffe göttliches bzw. ewiges Leben), und von diesem spricht die Schrift letztlich. Die Partizipien sind aufgrund dessen, dass die Identifikation Jesu mit „dem Brot vom Himmel“ erst in V.35 erfolgt, auf „Brot“ zu 374 Zum Präsens s. PETERSEN 2008: 212: „So geht es in Joh 6,32 u.a. um die Zeit der Handlung: die Perfektform δέδωκεν und die Präsensform δίδωσιν werden als Alternativen nebeineinander gestellt […] Der johanneische Text bietet mithin keinen geschichtlichen Rückblick auf die Manna-Episode […], sondern eine präsentische Situationsbeschreibung wie in Ex 16,4: Das Geben des himmlischen Brotes findet jetzt statt, ebenso wie in Ex 16,4.“

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beziehen.375 Das Leben kann das Manna nicht spenden (genauso wenig wie die Brote vom Vortag) und – entgegen der impliziten Annahme der Volksmenge – auch nicht die Tora. Denn „eure Väter aßen in der Wüste das Manna und starben“ (V.49; vgl. auch V.58). Diejenigen starben also, denen die Tora durch Mose gegeben wurde (Joh 6,32c); die Tora kann daher kein Leben geben und ist somit nicht „das Brot vom Himmel“. Das Manna steht folglich nicht zeichenhaft für die Tora, sondern wie das Gerstenbrot beim Speisungswunder für „das Brot vom Himmel“, mit welchem sich Jesus identifiziert. Nur von Jesus, der „vom Himmel herabgekommen“ ist (V.33.38.41f.50f.58; vgl. Joh 3,13) bzw. „der von Gott ist“ (6,46) und als solcher Anteil am göttlichen bzw. ewigen Leben hat und es selbst spendet (einschließlich der Auferweckung von den Toten), kann folglich gesagt werden, dass er „das Brot vom Himmel, das wahre“, ist. Dies spricht Jesus jedoch erst in V.35 explizit aus. Zuvor bittet die Volksmenge ihn um eine konstante Versorgung („gibt uns allezeit“) mit „diesem Brot“ (V.34), von dem Jesus redete und das ihnen Leben verschafft. Ob sie selbst wissen, um welches „Brot“ es sich dabei handelt, bleibt zweifelhaft; auf jeden Fall identifizieren sie es nicht mit Jesus selbst. Jesus antwortet auf diese Bitte (V.35), indem er auf sich selbst als eschatologisches Wort Gottes, als letztgültige, Leben schaffende Offenbarung Gottes weist: „Ich bin das Brot des Lebens.“ Es nimmt kaum wunder, dass „die Juden“ sich gemäß V.41f. an Jesu Deutung der Schrift bzw. des „Brotes vom Himmel“ mit Bezug auf sich selbst stoßen und darüber murren. Den größten Anstoß erregt dabei, dass er behauptet, „vom Himmel“, d.h. von Gott „herabgekommen“ zu sein. Aus ihrer Sicht kann das nicht stimmen, denn sie kennen ja seine Eltern. Seine irdische Herkunft, sein evidentes Mensch-Sein schließt seine Herkunft „vom Himmel“ bzw. von Gott demnach aus. Jesus reagiert auf diesen Einwand gegen die Behauptung seiner Identität als „das Brot vom Himmel“, indem er „die Juden“ zunächst auffordert, mit dem Murren aufzuhören (V.43), mithin ihre ungläubige Haltung aufzugeben. Dann macht er deutlich, dass kein Mensch, außer durch die „Anziehungskraft“ des Vaters, zu Jesus bzw. zum Glauben an ihn „kommen“ kann (V.44). Dem wiederholten Gebrauch von „Kommen“ am Ende von V.45 und der Parallelität der in V.44 und V.45 geäußerten Gedanken („Ziehen“ des Vaters als Voraussetzung des „Kommens“ zu Jesus / Belehrung durch Gott bzw. „Hören“376 und „Lernen“ vom Vater als Voraussetzung des „Kommens“ zu Jesus) entspricht es am ehesten, dass der asyndetisch angeschlossene V.45 die Aussage in V.44 375 Vgl. SCHNACKENBURG 1971: 56 (allerdings denke der Evangelist, so Schnackenburg, schon hier an Jesus). 376 Es geht hier um mehr als ein rein akustisches Hören. „Das johanneische Hören ist theologisch qualifiziert“ (OBERMANN 1996: 163, Anm. 68; vgl. Joh 8,43.47; 18,37).

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verstärkt: Jesus zitiert aus den Prophetenbüchern, also dem zweiten Teil der heiligen Schrift, die ja von ihm schreibt (vgl. Joh 1,45; 5,39), den Vers Jes 54,13 LXX. Darin geht es um eine, aus Sicht der „Prophetenbücher“ zukünftige, Belehrung „aller“ durch Gott. Dabei „hören“ und „lernen“ die Belehrten direkt von Gott, dem Vater, also Jesu Vater, und „kommen“ infolgedessen zu Jesus, so dieser in seiner Deutung des Zitats. Dass nicht pauschal alle Menschen mit dem „alle“ gemeint sein können, mithin eine uneingeschränkte, universale Belehrung jedes einzelnen Menschen erwartet wird,377 geht eindeutig aus der Qualifizierung im Anschluss an das Zitat in Verbindung mit der Tatsache hervor, dass es einige gibt, die nicht zu Jesus „kommen“ (wie „die Juden“) oder nicht „in Jesus (bzw. in Gemeinschaft mit ihm) bleiben“ (wie ein Teil der Jünger, die somit „unechte“ Schüler [vgl. 8,31: ἐὰν ὑµεῖς µείνητε ἐν τῷ λόγῳ τῷ ἐµῷ, ἀληθῶς µαθηταί µού ἐστε] sind). Mithin erweisen sich diese als nicht von Gott belehrt und haben (es [das, was gelehrt wird, d.h. die Lehre]) nicht vom Vater gehört und haben nicht vom ihm gelernt; sie gehören nicht zu denjenigen, die von ihm „gezogen“ werden. Nur die Menschen, die zu Jesus „kommen“, sind „Belehrte“ bzw. „Schüler“ Gottes. Das aber sind dem Zusammenhang nach die das endzeitliche Gottesvolk repräsentierenden Zwölf (Jünger). Sie hat Jesus aus der Welt heraus (Joh 15,19: ἐγὼ ἐξελεξάµην ὑµᾶς ἐκ τοῦ κόσµου) erwählt (Joh 6,70; vgl. nur Dtn 4,37; 14,2 u.ö.), und sie hat der Vater dem Sohn aus der Welt (heraus) gegeben (vgl. Joh 6,37.39.65 mit Joh 17,6: Ἐφανέρωσά σου τὸ ὄνοµα τοῖς ἀνθρώποις οὓς ἔδωκάς µοι ἐκ τοῦ κόσµου. σοὶ ἦσαν κἀµοὶ αὐτοὺς ἔδωκας καὶ τὸν λόγον σου τετήρηκαν). Sie sind diejenigen, die glauben und erkennen, dass Jesus „der Heilige Gottes“ ist und seine Worte (über sich als „das Brot vom Himmel“) Geist und Leben spendende Worte, also schöpferische Worte Gottes sind. Gleichwohl ist die Formulierung bewusst offen gehalten, sodass die Gruppe der „alle“ noch größer werden kann. Die Schüler (µαθηταί) Jesu (zunächst die Zwölf, dann aber auch sonst die an Christus Glaubenden) sind also gleichzusetzen mit „allen“, die Belehrte Gottes sind, die (die „Gotteslehre“) direkt vom Vater gehört und von ihm gelernt haben. Nun zeigt aber das καί des Zitats an, dass diese Prophetie einer Gottesbelehrung „aller“ ein Teil eines größeren Zusammenhangs ist, der – wie ich oben zu zeigen versucht habe – in Joh 6 rezipiert wird. In Jes 54f. geht es u.a. um die endzeitliche Errichtung Zion-Jerusalems durch ihre aus dem Exil zurückgekommenen Söhne bzw. Kinder, die sie als Belehrte Gottes gleichsam als „Steine“ aufbauen. Beachtet man die (früh-)jüdische Deutung von Jes 54 (wie sie z.B. in Qumran und analog auch in rabbinischen Texten belegt ist) und stellt man fernerhin die johanneische Vorstellung Jesu bzw. seines Leibes als Tempel bzw. Heiligtum (vgl. z.B. Joh 1,14 und besonders 2,19–22) in Rechnung, liegt es nahe anzunehmen, dass Gott, der Vater Jesu, mit den „Belehrten Gottes“ gleichsam das 377

So aber OBERMANN 1996: 165.

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eschatologische Zion-Jerusalem aufbaut. Dieser Aufbau beginnt mit „den Zwölf“, denen sich andere anschließen, indem sie der Aufforderung Gottes nachkommen und „das Brot vom Himmel“, d.h. das Wort Gottes bzw. die göttliche Lehre bzw. Offenbarung378 in Jesus gleichsam „essen“. Dafür sorgt die das Kommen ermöglichende oder präziser: bewirkende „Anziehungskraft“ des Vaters, denn Gottes Belehrung ist effektiv. Seine Belehrung zielt, insofern sie ohne Ausnahme zum Kommen zu Jesus führt, auf die Erkenntnis Gottes im Menschen Jesus und „beantwortet“ so letztlich den Einwand „der Juden“. Dadurch, dass sie Jesu Mensch-Sein und göttliche Würde (diese drückt die Rede von der Herkunft vom Himmel letztlich auch aus) für unvereinbar halten und Jesus nicht glauben, erweisen sie sich als außerhalb von „Zion-Jerusalem“, der „Stadt“, die Gott, der Vater durch Jesus und um ihn als endzeitliches Heiligtum herum aus seinen Belehrten „baut“. Von diesem Zusammenhang fällt auch neues Licht auf die Rede vom „Ziehen“ des Vaters (und auch auf das Ziehen „aller“ durch den [am Kreuz] „erhöhten“ Jesus [Joh 12,32]). So weist Dennis auf Jer 38,3 LXX hin (man beachte dabei den Zusammenhang zwischen Jes 54,13 und Jer 38[31],34): „LXX Jer 38,3 may be echoed here in 6.44. In the new covenant/restoration chapter of Jer 38, YHWH’s ‚drawing‘ (ἕλκω) of Israel ‚with compassion‘ is related to his ‚rebuilding‘ (v.4) and ‚gathering‘ (συνάγω) of Israel from exile and dispersion (vv.8–10; cf. vv.16–18).“379 Demnach geschieht das endzeitliche Ziehen des Gottesvolkes aus dem Exil zum Zion nach johanneischer Auffassung durch den Vater im Sohn, der sein Volk aus dem Exil der Gottesferne zieht, indem er 378 Ähnlich (wenn auch mit Betonung der Kategorie „Weisheit“) THOMPSON 1997: 230. Gemäß DALY-DENTON (2000: 131–144) läuft die weisheitlich geprägte und Bezüge zum „Baum des Lebens“ aufweisende Argumentation Jesu (vgl. Gen 3,3.22.24 mit Joh 6,37.50.51) darauf hinaus, dass er sich als davidischer Messias präsentiert, der Mose und die Tora als Frucht des Baumes des Lebens übertrifft, da sein „Brot“ (= Weisheit = Frucht des Baum des Lebens) sogar in diesem Zeitalter das Leben des kommenden gibt. Der Konnex zwischen David, Weisheit und dem Baum des Lebens (bzw. der Menora) ist interessant, bleibt aber etwas vage. Eine Entgegensetzung von Mose und David kann ich in Joh 6 nicht erkennen. 379 Vgl. DENNIS 2006: 192. Das Motiv des „Ziehens“ begegnet auch im Tg Hld 1,4 (vgl. Hld 1,4 LXX: εἵλκυσάν σε ὀπίσω σου εἰς ὀσµὴν µύρων σου δραµοῦµεν εἰσήνεγκέν µε ὁ βασιλεὺς εἰς τὸ ταµίειον αὐτοῦ ἀγαλλιασώµεθα καὶ εὐφρανθῶµεν ἐν σοί ἀγαπήσοµεν µαστούς σου ὑπὲρ οἶνον εὐθύτης ἠγάπησέν σε): „As the children of the House of Israel departed from Egypt, the ‚Schechina’ (Divine Presence) of the Lord of the Universe, led the way before them, by day with the pillar of cloud, by night with the pillar of fire. Whereupon the righteous of that generation exclaimed: ‚Sovereign of the Universe! we will be drawn after Thee, and run after Thy goodly way; so draw as nigh to the base of the mount Sinai, and give us Thy Law out of Thy treasure-chambers in Heaven. And we will rejoice and be glad with the twenty-two letters with which they are written; and we will make mention of them, and love Thy Godhead, removing from after the idols of the nations; and all the righteous who serve in rectitude will fear Thee and love Thy statutes‘“(Übersetzung: GOLLANCZ 1909: 11).

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„Gotteslehre“ lehrt, und diese Gezogenen dann zu Jesus auf „dem Berg“ (vgl. Joh 6,3)380 „kommen“,381 sowie durch den Sohn, der durch seine „Erhöhung“ am Kreuz „alle“, d.h. die Gesamtheit des erwählten Gottesvolkes zu sich in seine Gemeinschaft mit dem Vater zieht.382 Möglicherweise lässt sich die rätselhafte Aufforderung Jesu in Joh 6,12 (συναγάγετε τὰ περισσεύσαντα κλάσµατα, ἵνα µή τι ἀπόληται) und die Nennung von zwölf Körben mit den Brocken nun einer Klärung zuführen. συνάγω (Joh 6,12f.) erscheint im JohEv im Zusammenhang mit der Sammlung des Gottesvolkes (neben dem „normalen“ Sinn [vgl. z.B. Joh 11,47; evtl. 18,2]). So in Joh 4,36, wo im Zusammenhang in Analogie zu Joh 6 die Rede ist von einer den Jüngern unbekannten „Speise“ Jesu (4,32). Diese „Speise“ ist das Tun des Willens Gottes bestehend in der Vollendung des (Heils-)werks (4,34), nämlich die Sammlung („Ernte“) des Gottesvolkes, zu dem auch die Samaritaner gehören, die an ihn glaubten (4,39.41f.). Auch begegnet das Verb in einem prägnanten Sinn in Joh 11,52, wo der Evangelist die unfreiwillige Prophetie des Hohepriesters (11,50) folgendermaßen kommentiert (V.51f.): Der Hohepriester prophezeite, dass Jesus stellvertetend für das Volk sterben sollte (ἀποθνῄσκειν ὑπὲρ τοῦ ἔθνους), aber nicht nur für das Volk allein (καὶ οὐχ ὑπὲρ τοῦ ἔθνους µόνον), sondern auch (sollte er sterben), um die Kinder Gottes (τὰ τέκνα τοῦ θεοῦ), die zerstreut sind (τὰ διεσκορπισµένα), in eins zu sammeln (συναγάγῃ εἰς ἕν); Jesu Tod bewirkt also die Sammlung des zerstreuten Gottesvolkes „in eins“.383 ἀπόλλυµι (Joh 6,12) begegnet im JohEv in soteriologischen Zusammenhängen und beschreibt das eschatologische Unheil, wovor Jesus die Welt bewahren will (Joh 3,16) bzw. wovor er das Gottesvolk bewahrt (Joh 10,10.28; 11,50 [!]; 12,25; 17,12; 18,9). So auch in Joh 6,39, wo es im Neutrum heißt: „(dies ist der Wille dessen, der mich gesandt hat, dass) ich von allem (πᾶν ὃ [Ntr. Sg.!]), was er mir gegeben hat, nichts verliere (µὴ ἀπολέσω ἐξ αὐτου [Ntr. Sg.!])“. Das Brot der Speisung ist gemäß Joh 6,27 zwar „vergängliche“ Speise, weist aber auf die „Speise“, die nicht vergeht, sondern ins 380 Vgl. POPP 2001: 278: „Nach 6,3 setzt […] er [sc. Jesus] sich mit seinen Jüngern auf einen Berg […], der so als Offenbarungsort qualifiziert wird. Dass ein Lehrer sich mit seinen Schülern auf einen Berg setzt, lässt die Darstellung als Lehrszene erscheinen. Das Brotwunder wird so inszeniert, dass [zunächst aus den Jünger und auf einer anderen Ebene; E.K.] aus den Lesern Gottgelehrte werden (vgl. Joh 6,45).“ Dabei scheint mir jedoch keine Überbietung von Mose vorzuliegen (so aber POPP 2001: 292), sondern (aus der Rückschau heraus) eine andere Einordnung Jesu: Jesus als Lehrer unterscheidet sich (so wie Gott als Lehrer) kategorial von Mose als Lehrer. 381 Im Rahmen der Applikation solcher Vorstellungen von der Wiederherstellung ZionJerusalems und der Rückführung des exilierten Gottesvolkes ist sich die Wahl dieses Ausdrucks der Bewegung für den Glauben an Jesus stimmig. 382 Dabei könnten in Joh 12,32 auch „Heiden“ im Blick sein. Allerdings ist umstritten, ob „die Griechen“ in Joh 12,20 tatsächlich solche (gottesfürchtigen) „Heiden“ oder nicht eher Diasporajuden gemeint sind. 383 Vgl. zur Analyse und Verortung dieser wichtigen Passage im JohEv DENNIS 2006.

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ewige Leben bleibt, und die Jesus geben wird für das Leben der Welt (Joh 6,51). Die Zahl „Zwölf“ (δώδεκα), die im biblischen Kontext an die zwölf Stämme Israels, also an die Gesamtheit des Gottesvolkes erinnert, taucht kaum zufällig mehrfach in Joh 6 auf mit Bezug auf „die Zwölf“, d.h. die Jünger Jesu. Diese gehen im Gegensatz zu anderen ungläubigen Jüngern nicht von Jesus weg (Joh 6,67). Sie sind von Jesus erwählt, dabei wusste Jesus von vornherein, dass sich unter diesen Erwählten auch der Verräter befindet (6,70f.). Es dürfte kaum zu bezweifeln sein, dass „die Zwölf“ Repräsentanten des eschatologischen Gottesvolkes sind, das Jesus um sich sammelt. Die zwölf Körbe mit Brocken stehen mithin für das gesamte Gottesvolk (zwölf Stämme), das (durch die Jünger) gesammelt werden soll und wird, damit es nicht verloren geht (gleichsam ins Exil [der Gottesferne]).384 Davor bewahrt die „Speise“, die nicht vergänglich ist, sondern ins ewige Leben hinein bleibt, die Jesus geben wird, wenn er sein Leben am Kreuz hingibt.385 Gemäß der Metaphorik wird folglich die zukünftige Gabe der „Speise“, mithin das Sterben Jesu am Kreuz als heilbringende Offenbarung Gottes umschrieben. Wenn meine Interpretation von V.45 den Sinn des Textes trifft, dann ist der sperrig wirkende V.46 so auszulegen, dass der johanneische Jesus präzisiert, wie und wo Gott, der Vater zu „Belehrten Gottes“ macht, wo sich also die Lehrszene abspielt. Gott, der Vater lehrt die Gesamtheit des Gottesvolkes („alle“) unmittelbar (nicht wie durch Mose und seinen Nachfolger), und seine Lehre wird direkt gehört und gelernt. Dabei wird er aber nicht gesehen – das ist keinem Menschen einschließlich Mose (gemäß atl. Überlieferung und breiter jüdischer Überzeugung; vgl. Ex 33,20) gestattet. Der Bezug zur Sinaierzählung dient in Joh 6,46 also als Einführung einer theologischen Grundüberzeugung, die offensichtlich in Spannung steht zur prophetischen Ankündigung eines unmittelbaren Belehrt-Seins durch Gott. Wie also lehrt er Gott unmittelbar, wenn ihn doch kein Mensch jemals direkt gesehen hat und diese Tatsache gilt? Jesu Antwort lautet: Indem Gott durch seinen Sohn,386 der den Vater gesehen hat, lehrt und die Gottesbelehrten den Vater in Jesus hören und in Jesus vom Vater lernen. Dieser wiederum hat ja alles, was er sagt – nämlich die Wahrheit –, vom Vater gehört bzw. beim Vater gesehen (vgl. Joh 8,26.38.40; 15,15). Jesus ist der göttliche Lehrer der Wahrheit, ja er ist die Wahrheit bzw. in den Worten der in V.48 wiederaufgenommenen Brot-Metaphorik: „das Brot des Lebens“ (V.48); seine Lehre ist Gottes Lehre (Joh 7,16ff.), seine Worte sind schöpferische Gottesworte (vgl. Joh 6,62f.69 mit Jes 55,10f.), er ist schließlich 384 Vielleicht lässt sich die Reaktion der Volksmenge (Joh 6,14f.) nicht nur auf das Wunder (analog zum Manna während der Wüstenwanderung), sondern auch auf die Sammlung der Brocken in zwölf Körbe beziehen, was sie in Analogie zum Exodus aus Ägypten durch Mose als wörtliche Wiederherstellung Israels (mit allen national-politischen Konsequenzen) durch „den Propheten (wie Mose)“ missverstehen (vgl. die Reaktion Jesu nach Joh 6,15). 385 Zu dieser Deutung vgl. DENNIS 2006: 194–200. 386 POPP (2001: 349) spricht hier zu Recht von einer „vermittelte[n] Unmittelbarkeit“.

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das inkarnierte schöpferische Wort. Seine Worte bringen Gottes(er)kenntnis und Leben schenkende Gottesgemeinschaft. Jesu Schüler sind Gottes Schüler. Denn Jesus hat den Vater gesehen387 und steht folglich in unmittelbarer Gemeinschaft mit Gott und kann ihn deshalb repräsentieren. Die Rezeption von Manna-Texten, die Echos und Entsprechungen im Umfeld des Zitats aus Jes 54,13 in Joh 6,45 sowie die Entsprechungen zu (früh-)jüdischen Auslegungstraditionen von Jes 54f. sprechen dafür, dass Jesus die Mannaepisode einschließlich „des Brotes vom Himmel“ im Zusammenhang mit dem endzeitlich ausgerichteten Jesaja-Text deutet. Wenn Jesus in Joh 6 vom „(wahren) Brot vom Himmel“ redet, das der Welt Leben gibt, dann meint er damit wahrscheinlich das Wort oder die Offenbarung oder die Wahrheit Gottes.388 Das „Wort“ bietet die geeignete Kategorie zur Beschreibung Jesu, weil es sowohl von Gott unterschieden ist als auch in größtmöglicher Nähe zu ihm steht (vgl. Joh 1,1f.). 6.5 Zusammenfassung Gemäß Joh 6,30 fordert die Menge ein Zeichen der Legitimation von Jesus, „damit wir sehen und dir glauben“, dass er von Gott gesandt ist. Dieses Zeichen soll das Zeichen vom Vortag und aufgrund der Analogie auch das Mannawunder übertreffen. Denn Jesus beansprucht, „mehr“ zu sein als Mose, wenn er eine solche „Speise“ geben zu können meint, die ewiges Leben verleiht. Ewiges Leben aber verbindet sich ihrer Ansicht nach mit der Tora, als deren Geber Mose durch das Manna als Brot vom Himmel legitimiert wurde. Die anschließende narrative Abbreviatur der Mannaspeisung im Verbund mit der (mit einer Einleitungsformel [eine explizite Markierung] versehenen) intertextuellen Einschreibung aus Ps 77,24b und Ex 16,4.15 LXX (also ein Mischzitat) fungiert aufgrund des Konnexes zu Joh 6,1–14 (besonders V.14) als Interpretation des Speisungswunders. Dies gilt sowohl aus der Sicht der Menge als auch aus der Perspektive Jesu. Allerdings verrät die Menge durch ihren Schriftgebrauch sowohl ihr Unverständnis jener Episode aus Israels Gründungsgeschichte und damit der Schrift als auch ihr Unverständnis und ihren Unglauben dem Zeichen der Brotvermehrung vom Vortag gegenüber. Die Brote vom Vortag als „vergängliche Speise“ weisen gemäß Joh 6,26–29 auf die „unvergängliche Speise“ hin, deren „Verzehr“ (metaphorisch für Glauben) ewiges Leben gibt. Gemäß Jesus hat aber nicht Mose den Zuhörern Jesu „das Brot vom Himmel“ gegeben (V.32c), sondern Jesu Vater gibt ihnen „das wahre Brot vom 387

Wann dieses „Sehen“ geschah, wird allerdings nicht explizit gesagt, da der Akzent auf dem gegenwärtigen Resultat des Sehens liegt. 388 Vgl. BROWN 1966: 272, der „das Brot vom Himmel“ bzw. „das Brot des Lebens“, von dem Jesus gemäß V.35–50 spricht, primär als „divine revelation given to men by and in Jesus“ (kursiv im Original) deutet (und sekundär auf die Eucharistie).

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Himmel“ (V.32d). Die Unterscheidung zwischen „den Vätern“ und „euch“, das Perfekt δέδωκεν (6,32c) und die an die Tora – zumal im Zusammenhang mit dem Sinai –, bzw. an das Wort Gottes erinnernden Attribute des „Brotes“ („Brot Gottes“, „Brot des Lebens“, „lebendiges Brot“) lassen es als plausibel erscheinen, dass „das Brot vom Himmel“ eine Bezeichnung für das Wort/die Offenbarung oder die Wahrheit Gottes darstellt. Damit zeigt sich eine Kontinuität zu (früh-)jüdischen Deutungen der Mannagabe (vgl. z.B. bei Philo), die wiederum zur Erhellung von Joh 6 beitragen und meiner Auslegung im Rahmen antik-jüdischer Schriftinterpretation zusätzliche Plausibilität verleihen. Allerdings ist der entscheidende Unterschied zu diesen Schriftinterpretationen der, dass die von Mose gegebene Tora (bzw. Weisheit) Jesus zufolge nicht „das Brot vom Himmel“ ist, weil sie (auch ausweislich des Todes der Väter in der Wüste) kein ewiges Leben verleihen kann. Stattdessen ist Jesus „das wahre Brot vom Himmel“, welches der Vater jetzt gibt; Jesus gibt Anteil am ewigen, göttlichen Leben, sofern er „gegessen“ wird. Mithin spricht die Tora nicht von sich selbst, sondern von Jesus, dem eschatologischen „Brot“ bzw. dem Wort oder der Offenbarung Gottes. Dem ungläubigen Murren „der Juden“ gegen seine Identifikation mit „dem Brot vom Himmel“ begegnet Jesus in Joh 6,45 mit dem Hinweis auf die Schrift, konkret auf die Verheißung einer endzeitlichen unmittelbaren (also nicht durch Mose oder seinen Nachfolger ergehenden) Belehrung „aller“ durch Gott selbst, die zum „Kommen“ zu Jesus führt. „Alle“, d.h. die Gesamtheit des Gottesvolkes, die Gottesbelehrte sein werden und die endzeitliche Gottesstadt konstituieren, sind gemäß Jesu Interpretation gleichzusetzen mit jeder, der zu ihm „kommt“ aufgrund des „Ziehens“ (aus dem Exil der Gottesferne) durch den Vater. Zunächst sind das die Zwölf, die Jesus erwählt hat, dann aber auch jeder, der Jesus als „das Brot vom Himmel“ bzw. „sein Fleisch“ (und „Blut“) gleichsam „isst“ (und „trinkt“). Jeder, der zu diesem Gottesvolk gehört, welches Jesus durch seine Jünger um sich sammelt, wird niemals verloren gehen aufgrund der „Speise“, die niemals vergeht, sondern ins ewige Leben bleibt. V.46a äußert eine atl.-(früh-)jüdische Grundüberzeugung, die in Spannung zu Jes 54,13 steht. Demzufolge hat niemand (auch Mose nicht) den Vater gesehen und diese Tatsache gilt. Nur der, der von Gott her ist, hat den Vater gesehen und kennt ihn unmittelbar. Die unmittelbare Belehrung Gottes, des Vaters, erfolgt demnach vermittelt durch den Sohn, der von Gott her und selbst die Wahrheit ist. Die Funktion der Schriftzitate lässt sich nun folgendermaßen bestimmen. 1. Der Volksmenge dient das Schriftwort aus der Mannatradition als Deutehintergrund des Speisungswunders Jesu: So wie Gott durch Mose einst den Vätern Manna bzw. Brot vom Himmel gegeben hat und ihn so zum Geber der Tora als „des Brotes vom Himmel“ legitimierte, so gibt Gott durch Jesus als „den Prophet (wie Mose)“ Brot. Beides sind Legitimationszeichen. Wenn Jesus nun einen höheren Anspruch erhebt, er also größer sein will als Mose und seine Gabe

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größer sein soll als die Tora, dann muss er auch ein größeres Zeichen zur Legitimation vollbringen. 2. Auch für Jesus stellt die Schrift den Deutehorizont seines Zeichens dar. Aber er interpretiert die Schrift, genau wie sein Zeichen, anders als die Menge. Das Manna und damit auch die Gerstenbrote im Überfluss sind Zeichen für das Leben spendende Wirken Gottes durch „das Brot vom Himmel, das wahre“.389 Dieses „Brot vom Himmel“ ist das endzeitliche Wort, das von Gott kommt und der Welt Leben gibt, und wird mit Jesus, dem in der Endzeit „vom Himmel herabgekommenen“, inkarnierten Wort Gottes, das ewiges Leben schenkt, identifiziert. Die Schrift steht so im Dienst der Christologie; sie bietet mit der Herabkunft des „Brotes“ bzw. Wortes Gottes die geeignete Verstehenskategorie für das Christusgeschehen. 3. Neben diesen treten noch folgende Aspekte der Charakterisierung hinzu. So werden die Menge und „die Juden“ mithilfe des Schrifthorizonts in eine Kontinuität gestellt zu ihren Vätern. Diese durften aufgrund ihres – ihren Unglauben dokumentierenden – Murrens das verheißene Land nicht sehen, sondern sind in der Wüste gestorben, obwohl sie das Manna aßen und die Tora hatten. Der die Geschichte Israels ernstnehmende Hinweis Jesu auf die Väter, die das Manna in der Wüste aßen und gestorben sind, dient als Warnung an seine Zuhörer. Sie sollen nicht so sein wie die Väter, sondern sollen „das Brot vom Himmel“, das Gott ihnen jetzt gibt, „essen“, damit sie das ewige Leben haben. 4. Das Zitat aus den Prophetenbüchern über eine endzeitliche Gottesbelehrtheit des Volkes Gottes unterstützt Jesu Aussagen über den Glauben an ihn als Gabe Gottes und zugleich seine Deutung der Mannaerzählung und somit der Tora. Auf diese bezieht er sich in Joh 6,46a. Die theologische, vom Evangelisten eingespielte, dabei nicht revidierte, atl.-(früh-)jüdische Grundüberzeugung (aus der Sinaierzählung, also der Tora, herstammend) ist, dass niemand Gott bzw. den Vater jemals gesehen hat. Deshalb erfolgt die endzeitliche Belehrung durch den Sohn, der den Vater gesehen hat. Die metaphorische Rede von „dem Brot vom Himmel, dem wahren“, oder vom „Brot des Lebens“ usw., zumal in Abgrenzung von der Tora, ist nichts anderes als die endzeitliche „Lehre“ der Wahrheit oder das endzeitliche Wort Gottes.

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Vgl. SCHWIENHORST-SCHÖNBERGER 2013: 233f.: „Die Erzählung von der Gabe des Manna in der Wüste wird in Joh 6 nicht, wie häufig zu lesen, abgewertet. Sie wird genauso wenig abgewertet, wie die wunderbare Speisung der Fünftausend in der Brotrede Jesu abgewertet wird. Wohl jedoch werden beide Geschehnisse in ihrem Zeichencharakter erschlossen. […] In Joh 6 wird das Manna in der Wüste nicht abgewertet und die Geschichte Israels nicht in ein Vakuum entlassen [so aber THEOBALD 2009: 461f.]. Die Speisung der Fünftausend wie die sich daran anschließende Brotrede Jesu heben die Mannaerzählung nicht auf, sondern erschließen ihre theologische Bedeutung.“

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4. Kapitel: Die Rezeption der Sinaitradition in Joh 6,31f.45f.

Wenn nun die endzeitliche Gottesbelehrung in Gottes Sohn („dem Brot vom Himmel, dem wahren“, bzw. dem „Brot des Lebens“) erfolgt, diese aufgrund des Wirkens des Vaters effektiv zur Gotteserkenntnis, und v.a. zur Leben schenkenden Gemeinschaft mit Gott, dem Vater, führt und dies im Kontrast zur mosaischen Tora steht, dann impliziert dies Folgendes: Die Tora konnte kein Leben geben, weil sie nicht effektiv war; sie war nämlich von Mose gelehrt und bewirkte nicht effektiv Gotteserkenntnis. Nur durch den vom Himmel Herabgekommenen, der also von Gott ist, gibt es für die Menschen, die keinen unmittelbaren Zugang zu Gott haben, schon gar nicht von sich aus, die Leben gebende Gemeinschaft mit Gott. Diese unmittelbare Gemeinschaft mit dem Vater wird vermittelt durch seinen Sohn; sie setzt die Fleischwerdung des Wortes voraus, die die Klimax in Gottes, die Tora einschließender, Offenbarungsgeschichte bildet.

Kapitel 5

„Wenn er jene Götter nannte, an die das Wort Gottes erging“: Die Rezeption der Sinaitradition in Joh 10,34ff. 1. Desintegration 1. Desintegration

In Joh 10,34ff. reagiert der johanneische Jesus auf den Blasphemievorwurf „der Juden“ (V.33d: σὺ ἄνθρωπος ὢν ποιεῖς σεαυτὸν θεόν) mit folgenden Worten: 34 a b c d 35 a b c 36 a b c d e f

ἀπεκρίθη αὐτοῖς [ὁ] Ἰησοῦς· Jesus erwiderte: οὐκ ἔστιν γεγραµµένον ἐν τῷ νόµῳ ὑµῶν „Steht nicht in eurem Gesetz geschrieben: ὅτι ἐγὼ εἶπα· ‚Ich habe gesagt: θεοί ἐστε; Götter seid ihr‘? εἰ ἐκείνους εἶπεν θεοὺς Wenn er jene ‚Götter‘ nannte, πρὸς οὓς ὁ λόγος τοῦ θεοῦ ἐγένετο, an die das Wort Gottes erging, καὶ οὐ δύναται λυθῆναι ἡ γραφή, und es kann die Schrift nicht aufgelöst werden, ὃν ὁ πατὴρ ἡγίασεν über den, den der Vater geheiligt καὶ ἀπέστειλεν εἰς τὸν κόσµον und in die Welt gesandt hat, ὑµεῖς λέγετε sagt ihr (dann): ὅτι βλασφηµεῖς, ‚Du lästerst (Gott)‘, ὅτι εἶπον· weil ich sagte: υἱὸς τοῦ θεοῦ εἰµι; ‚Sohn Gottes bin ich‘?“

Der Grund, weshalb ich diese Passage, wonach sich Jesus auf einen Psalm bezieht, im Rahmen meiner Untersuchung der Sinaitradition berücksichtige, besteht darin, dass Jesus das Schriftwort aus Ps 81,6a LXX möglicherweise auf Israel am Sinai deutet, wenn er sagt: εἰ ἐκείνους εἶπεν θεοὺς πρὸς οὓς ὁ λόγος τοῦ

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5. Kapitel: Die Rezeption der Sinaitradition in Joh 10,34ff.

θεοῦ ἐγένετο.1 Dies gilt es im Folgenden zu prüfen. Im nachstehenden Abschnitt soll der Text Joh 10,34ff. analysiert werden. Dabei ergeben sich aus der Argumentationsanalyse Fragen, die erst später im Laufe des vorliegenden Abschnitts einer Klärung zugeführt werden können. Zunächst erinnert Jesus „die Juden“ an etwas, das geschrieben steht (οὐκ ἔστιν γεγραµµένον; V.34b). „Steht nicht geschrieben“ ist eine Zitationsformel (in Form einer rhetorischen Frage, die eine affirmative Antwort impliziert), die als explizite Markierung dient. Der Prätext wird durch die Angabe „in eurem Gesetz“ (ἐν τῷ νόµῳ ὑµῶν) genauer lokalisiert, die nachfolgende intertextuelle Einschreibung dadurch thematisiert. Sie befindet sich somit auf der Potenzierungsstufe der Progressionsskala intertextueller Markierung. Allerdings ist die Lokalisierung „in eurem Gesetz“ für einen Psalmvers recht ungewöhnlich. Gibt es einen Grund für diese Angabe? Das ὅτι fungiert als eine Art Doppelpunkt vor dem Schriftwort: ἐγὼ εἶπα· θεοί ἐστε. Dieses wirft, zumal aufgrund seiner Kürze und des Lexems θεοί einige Fragen auf: − Wer ist das sprechende „ich“? − Zu wem sprach dieses „ich“ bzw. wer ist mit „(Götter seid) ihr“ gemeint? − Auf welche vergangene Begebenheit bzw. Situation bezieht sich das „ich sprach“ aus Sicht des johanneischen Jesus? Weshalb hat das „ich“ solches überhaupt über andere gesagt? − Wird Jesu eigener Anspruch auf göttliche Würde durch das Schriftwort relativiert, impliziert es gar einen „Polytheismus“? Oder ist „Götter“ in einem wie auch immer gearteten anderen Sinne zu begreifen? Beansprucht der johanneische Jesus in diesem Textabschnitt vielleicht gar nicht göttliche Würde? Stellt sich Jesus mithin unter oder höchstens auf die gleiche Stufe wie jene „Götter“? Wäre so der Vorwurf „der Juden“ als völlig unbegründet entlarvt, weil er auf einem krassen Missverständnis beruht? Auf das Schriftwort folgt ein Wenn-Dann-Argument (V.35f.), das unterbrochen wird durch eine Art Kommentar (V.35c).2 Dieser Einschub schließt dezidiert aus, dass die Schrift, und damit auch das Schriftwort, das angeführt wurde, (in seiner Geltung) „aufgelöst“ werden kann. Darüber hinaus wird dadurch zum Ausdruck gebracht, dass die im Wenn-Satz formulierte Bedingung als erfüllt angesehen werden sollte. Das Argument selbst bezieht sich auf das Schriftwort und offenbart so ein ganz bestimmtes Verständnis desselben. Allerdings ist die jesuanische Beweisführung recht kurz, zugleich aber 1

So interpretieren u.a SCHNACKENBURG; THEOBALD und THYEN in ihren Kommentaren z.St. sowie u.a. BEUTLER 2012: 133 (im Anschluss an NEYREY 1989). 2 Dass dies ein Kommentar ist und nicht direkt zum Argument gehört, wird angezeigt durch den Inhalt, aber auch durch die Wahl des (zeitlos gebrauchten) Präsens δύναται (+ Infinitiv Aorist λυθῆναι).

1. Desintegration

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komplex und schwer zu verstehen. Dennoch lassen sich einige Ansatzpunkte zum Verständnis gewinnen. Bemerkenswert ist die Häufung des Verbs λέγω, jedoch mit unterschiedlichen Subjekten: „Ich“ = „er“: „ich habe gesagt (εἶπα)“ (V.34c); „er nannte (εἶπεν) jene Götter“ (V.35a) „Ihr“ = „die Juden“: „ihr sagt dann (λέγετε)“ (V.36c) „Ich“ = Jesus: „ich habe gesagt (εἶπον): Sohn Gottes bin ich“ (V.36f) Daneben fällt ins Auge, dass Begriffe wie „Gesetz“ (V.34b), „Wort Gottes“ (V.35b), „Schrift“ (V.35d), die eng miteinander verwandt sind, auf engstem Raum erscheinen. Dabei wird das, was in „eurem Gesetz“ geschrieben ist, nämlich der Ausspruch des „ich“, gleichgesetzt mit der (unauflösbaren) „Schrift“. Zugleich steht die Aussage Jesu über sich selbst „ich habe gesagt: Sohn Gottes bin ich“ unübersehbar in Parallele zu „Ich habe gesagt: Götter seid ihr“ und damit auf einer Ebene mit dem Ausspruch des „ich“, folglich auch mit dem Gesetz bzw. der Schrift. Gegen Jesu Aussage richtet sich dann die Anklage „der Juden“: 10,34c–d: 10,36f: 10,36c–d:

ὅτι

ἐγὼ εἶπα· θεοί ἐστε εἶπον· υἱὸς τοῦ θεοῦ εἰµι ὑµεῖς λέγετε ὅτι βλασφηµεῖς

Das „ich habe gesagt: Götter seid ihr“ wird in V.35a aufgenommen durch das Verb εἶπεν mit dem darin enthaltenen Subjekt er/sie/es mit doppeltem Akkusativ: ἐκείνους und θεούς. Da das „ich“ innerhalb des Schriftwortes wohl personal aufzufassen ist, nannte aus Sicht des johanneischen Jesus eine Person (und nicht die Schrift) andere Personen „Götter“. Die gemäß dem Schriftwort als „Götter“ angesprochenen „ihr“ = „jene“ werden identifiziert durch den Relativsatz „an die das Wort Gottes erging“ (πρὸς οὓς ὁ λόγος τοῦ θεοῦ ἐγένετο; V.35b).3 Es ist unwahrscheinlich, dass „das Wort Gottes“ den Ausspruch „Götter seid ihr“ meint.4 Denn, so sagt Menken zu Recht, „in that case the wording of v.35a[b] is unnecessarily complicated and becomes tautological“5: Er/sie nannte diejenigen „Götter“, die er/sie „Götter“ nannte. Sinnvoller ist es anzunehmen, dass die Adressaten des Ausspruches sowie das vergangene Ereignis näher bestimmt werden, in dessen Zusammenhang der Ausspruch steht. Wie kommt diese Näherbestimmung der „Götter“ zustande? Aus dem angeführten 3 OBERMANN (1996: 179f.) meint, dass das Subjekt in „(Götter seid) ihr“ und „jene (an die das Wort Gottes erging)“ zu identifizieren ist mit „den Juden“. Doch gemäß Joh 5,37f. bestreitet Jesus gerade die Partizipation „der Juden“ am Sinaiereignis (vgl. den entsprechenden Abschnitt in der vorliegenden Arbeit). Außerdem wäre die explizite Identifikation der „Götter“ in V.35a–b („jene, an die…“) bei dieser Deutung unnötig. 4 So auch PANCARO 1975: 179. 5 MENKEN 1997: 372.

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5. Kapitel: Die Rezeption der Sinaitradition in Joh 10,34ff.

Schriftwort lässt sie sich ja kaum ableiten, sie ist aber für das Argument von großem Gewicht.6 Stammt sie aus dem Kontext des Prätextsegments und/oder aus einer jüdischen Interpretation desselben? Schwierigkeiten bereitet auch das Gesamtargument: Liegt hier ein a-fortiori-Argument a) vom Größeren zum Kleineren oder b) vom Kleineren zum Größeren vor? Voraussetzung für a) ist, dass „Sohn Gottes“ einen geringeren Status als „Götter“ impliziert, Voraussetzung für b) ist, dass „Sohn Gottes“ einen höheren Status bezeichnet als „Götter“. Ausweislich des dezidierten Bekenntnisses zum „Monotheismus“ im JohEv (vgl. Joh 5,44; 17,3) ist klar, dass keine „Götter“ im „polytheistischen“ Sinne gemeint sind. Wenn die Bezeichnung „Götter“ nach Jesus jedoch nicht im „polytheistischen“ Sinne, sondern in einem (wie auch immer gearteten) anderen Sinne aufzufassen ist, wie ist dann „Sohn Gottes“ zu verstehen? Der engere und weitere Kontext gibt Hinweise dafür, dass diese Bezeichnung exklusiven Sinn hat. Jesus ist derjenige, dem es vom Vater her gegeben worden ist, Leben zu haben in sich selbst (Joh 5,26). Er gibt darum ewiges Leben (vgl. Joh 5,21.24–29.40; 10,28f. u.ö.), ist „eins“ mit dem Vater (Joh 10,30) und ist „in“ ihm, wie auch der Vater „in“ Jesus ist (Joh 10,38). Gerade darin besteht das Anstößige der Bezeichnung „Sohn Gottes“: Jesus behauptet doch wohl, der Sohn Gottes in einem exklusiven Sinne zu sein,7 sodass „die Juden“ gemäß Joh 19,7 als Grund für die Todesstrafe anführen: „Er hat sich selbst zu Gottes Sohn gemacht“ (ὅτι υἱὸν θεοῦ ἑαυτὸν ἐποίησεν). Sich selbst zum „Sohn Gottes“ zu machen, ist folglich aus Sicht „der Juden“ genauso blasphemisch wie sich selbst zu Gott zu machen. Dem Evangelisten gemäß beinhaltet der Anspruch Jesu auf Einheit mit dem Vater bzw. der Anspruch auf Gottessohnschaft tatsächlich göttliche Würde, stellt jedoch keine Übertretung des Alleinverehrungsgebotes dar, da Jesus kein zweiter Gott, sondern eben Gottes Sohn ist. Dagegen spricht auch nicht, dass in 10,36f. kein Artikel beim vorangestellten Prädikatsnomen υἱὸς τοῦ θεοῦ steht. Ob beim Prädikatsnomen eine Klassifizierung oder Gleichsetzung (hier mit einer einzigartigen Größe) intendiert ist, Jesus nach eigener Aussage also ein oder der Sohn Gottes ist, hängt vom sprachlichen und sachlichen Kontext ab. Der Kontext lässt eine Klassifizierung Jesu als eines Sohnes Gottes unter vielen nicht zu, sondern verlangt nach einer Gleichsetzung mit einer einzigartigen Größe. Ist diese Schlussfolgerung korrekt, dann ist es von der Wortstellung her gesehen gar nicht weiter 6 Wenn es lediglich darum ginge, dass irgendjemand in der Schrift „Götter“ genannt werden konnte und Jesus sich somit erst recht Sohn Gottes nennen kann, weil „Sohn Gottes“ einen geringeren Anspruch impliziert als „Götter“, dann wäre die Identifizierung der Adressaten überflüssig. 7 Vgl. u.a. Joh 3,16ff.; 5,25; 11,4; 17,1. Dies wird von anderen Figuren auf der Erzählebene oder von seiten des Evangelisten auch so anerkannt (vgl. Joh 1,34.49; 3,35f. 11,27; 20,31).

1. Desintegration

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verwunderlich, dass kein Artikel steht.8 Muss man „Götter“ in einem nicht„polytheistischen“ Sinne begreifen und tritt das vorangestellte Prädikatsnomen im Dienste der Gleichsetzung mit einer exklusiven Größe auf, dann ist es plausibel, dass Jesus ein Argument vom Kleineren zum Größeren formuliert. Innerhalb dieses Wenn-Dann-Arguments findet sich in der Apodosis (in Form einer vorwurfsvollen Frage) der Relativsatz „sagt ihr (dann) über den, den der Vater geheiligt und in die Welt gesandt hat…?“ (ὃν ὁ πατὴρ ἡγίασεν καὶ ἀπέστειλεν εἰς τὸν κόσµον; V.36a–b). Dieser Relativsatz entspricht strukturell demjenigen in der Protasis („an die das Wort Gottes erging“) mit dem Unterschied, dass dort eine Identifizierung vorgenommen wird, hier aber eine Beschreibung. V.36a–b fokussiert nicht so sehr auf den Akt der Heiligung und Sendung als vielmehr auf eine Art „Eigenschaft“ Jesu: Er ist der vom Vater Geheiligte und „in die Welt“ Gesandte, und als solcher steht er vor „den Juden“. Ein Argument dieser Art funktioniert in der Regel so, dass aus dem WennSatz, einer unter den Diskussionspartnern unbestrittenen Aussage, eine darin implizite Folgerung gezogen wird, um etwas zu „beweisen“. Doch inwiefern lässt sich die Apodosis in V.36 aus der Protasis V.35 schlussfolgern? Zunächst muss man die vorwurfsvolle Frage in ihr implizites Gegenteil umformen. Denn dass es (angesichts des Schriftwortes) absurd ist, denjenigen, den der Vater geheiligt und „in die Welt“ gesandt hat, der Blasphemie zu bezichtigen, entspricht ja offensichtlich der Intention des johanneischen Jesus. Protasis: Apodosis:

Wenn er/sie (schon) jene „Götter“ nannte, an die das Wort Gottes erging, (dann) sagt ihr zu Unrecht über den, den der Vater geheiligt und in die Welt gesandt hat: „Du lästerst Gott“, weil ich sagte: „Sohn Gottes bin ich“.

8 Die Wortstellung mit vorangestelltem Prädikatsnomen ist untypisch im JohEv. Sie begegnet u.a. noch in Joh 8,33 (im Munde „der Juden“) und in 9,5. Letztere Stelle ist besonders relevant. Ebenso wie in Joh 10,36 „fehlt“ dort der Artikel. Doch die Parallele in Joh 8,12 macht klar, dass „Licht (der Welt)“ determiniert ist und eine Gleichsetzung mit einer einzigartigen Größe der Intention des johanneischen Jesus am ehesten entspricht. Im JohEv finden sich Nominalsätze mit der häufigeren „normalen“ Wortstellung (Subjekt+Prädikat+Prädikatsnomen) und der Kopula εἰµί in der 1.Sg oder 1.Pl u.a. in folgenden Passagen: 1,20 (im Munde des Täufers; vgl. mit anderer Wortstellung Joh 3,28); 18,17.25 (im Munde von Petrus); 9,28 (im Munde „der Juden“); 4,26; 6,20; 18,5f.8 (Identifikationsformel im Munde Jesus); 9,9 (Identifikationsformel im Munde des ehemaligen Blinden). Darunter sind die sog. Ich-bin-Worte Jesu mit determiniertem/ohne Prädikatsnomen natürlich am prominentesten. Die Ich-bin-Worte mit determiniertem Prädikatsnomen stehen in: 6,35.41.48.51 (das Brot des Lebens); 8,12 (das Licht der Welt); 10,7.9 (die Tür der Schafe); 10,11.14 (der gute Hirte); 11,25 (die Auferstehung und das Leben); 14,6 (der Weg, die Wahrheit und das Leben); 15,1.5 (der wahre Weinstock); vgl. auch Joh 8,18. Die sog. absoluten Ich-bin-Worte finden sich in Joh 8,24.28.58 13,19.

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5. Kapitel: Die Rezeption der Sinaitradition in Joh 10,34ff.

Zwar stehen „jene“, die Götter genannt werden, und Jesus, der sich als Sohn Gottes identifiziert, nebeneinander und damit scheinbar auf einer Stufe. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich hier jedoch eine Asymetrie, die man leicht übersehen kann.9 Denn sowohl gemäß der Protasis als auch der Apodosis zufolge findet eine Art Bewegung statt. Von Gott10 her ergeht das Wort Gottes zu „jenen“; vom Vater wird Jesus geheiligt und „in die Welt“ gesandt. Somit werden „jene“ und „Welt“ auf der einen sowie das Ergehen des Wortes Gottes und Jesu Heiligung und Sendung durch den Vater auf der anderen Seite zusätzlich miteinander in Beziehung gesetzt. Mit anderen Worten: Dem Ergehen des Wortes Gottes entspricht die Heiligung und Sendung Jesu durch den Vater. In diese Richtung könnte auch die Verwendung des Syntagmas „Sohn Gottes“ (statt „Gott“) weisen, welches dem Syntagma „Wort Gottes“ ähnelt. Es stellt sich nun die Frage, weshalb Jesus, ohne Blasphemie zu begehen, erst recht sagen kann, dass er Sohn Gottes ist. Inwiefern kann Jesus sich, wenn er sagt „Sohn Gottes bin ich“, auf das „Gesetz“ in seiner von Jesus gegebenen und von „den Juden“ vermutlich geteilten Deutung stützen? Um die vorstehende Frage beantworten zu können, müssen zuerst die obigen Einzelfragen geklärt werden; insbesondere den beiden Relativsätzen kommt hinsichtlich des Verständnisses des Gesamtarguments eine Schlüsselfunktion zu. Wer sind Jesus zufolge diejenigen, die „Götter“ genannt werden,11 und was berechtigt dazu, dass sie so angesprochen werden können? Welche Rolle spielt dabei das Wort Gottes? Zum zweiten Relativsatz „über den, den der Vater geheiligt und in die Welt gesandt hat“ muss ebenfalls gefragt werden: Was genau bedeutet dieser, und worauf bezieht sich die Heiligung und die Sendung „in die Welt“ durch den Vater? Trägt dieser Relativsatz einen kausalen Nebensinn? Wenn dies der Fall ist: Inwiefern qualifizieren Jesus die Heiligung und die Sendung durch den Vater „in die Welt“ dazu, sich „Sohn Gottes“ zu nennen und das auch zu sein?12 Gibt das JohEv diesbezüglich weiterführende Hinweise? Das Verb ἁγιάζω13 begegnet im JohEv nur noch in Jesu Gebet in Joh 17,17.19. Bemerkenswert ist, dass in jenen Versen sowohl von „deinem“, 9

Dies wird u.a. von WILDBERGER 2015: 54 übersehen. Aufgrund der Rede vom „Wort Gottes“ ist evident, dass Gott der Ausgangspunkt ist. 11 Einen Forschungsüberblick gibt u.a. OBERMANN 1996: 173–176. Die Beiträge, die seit dem erschienen sind (vgl. u.a. DALY-DENTON 2000: 164–176; SHERIDAN 2012: 196–212; BEUTLER 2012), lassen sich allesamt in die bekannten Kategorien einordnen. 12 Erstaunlicherweise wird dieser Relativsatz von vielen Auslegern kaum beachtet oder, mit Blick auf die hier gestellten Fragen, erläutert, wie er sich innerhalb der Apodosis zur Protasis verhält (Beispiel: OBERMANN 1996: 181). Dabei spielt er doch eine wichtige Rolle im Argument. 13 „Das Verb ‚heiligen‘ bezeichnet den Akt der Absonderung, um vollständig zum Besitz Gottes zu werden, um in einer Beziehung der Nähe und der Gemeinschaft mit ihm zu stehen“ (ZUMSTEIN 2016: 647). 10

1. Desintegration

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also Gottes, des heiligen Vaters (πάτερ ἅγιε; 17,11) „Wort“ als auch von „Heiligen“ / „Sich-Selbst-Heiligen“ sowie vom „Senden in die Welt“ die Rede ist,14 sodass es angebracht ist, diese Parallele näher zu betrachten. Nach Joh 17,19 „heiligt“ sich Jesus selbst (ἐγὼ ἁγιάζω ἐµαυτόν) zugunsten der Jünger (ὑπὲρ αὐτῶν), damit auch sie Geheiligte seien in der Wahrheit bzw. durch die Wahrheit (ἵνα ὦσιν καὶ αὐτοὶ ἡγιασµένοι ἐν ἀληθείᾳ). Aufgrund der Tatsache, dass „heiligen“ mit Bezug auf Jesus nur hier und in Joh 10,36 erscheint, ist die Selbstheiligung Jesu wohl ein Akt der Entsprechung zur Heiligung Jesu durch den heiligen Vater (vgl. Joh 17,11). Der erzählerische Zusammenhang des Gebets Jesu und die Präsensform ἁγιάζω legen nahe, dass mit der Selbstheiligung auf den bevorstehenden Tod Jesu Bezug genommen wird.15 Das bedeutet, dass Jesus sich auf diesem Weg zum Kreuzestod bewusst seinem Vater zur Verfügung stellt zugunsten der Heiligung16 der Jünger in der Wahrheit bzw. durch die Wahrheit.17 „Die Wahrheit“ ist nach allem, was darüber im JohEv schon gesagt worden ist, die Offenbarung des Wesens Gottes in Jesus (bzw. seinem Wort; vgl. Joh 17,17),18 die nach Joh 17,19 auch den Tod Jesu einschließt. Also bittet Jesus den Vater paradoxerweise um eine Absonderung der Jünger von der Welt19 durch die Wahrheit Gottes, um ihre Einbeziehung in den „Raum“ der Wahrheit Gottes, sodass sie fähig sind, ihre Sendung in die Welt20 und ihren Auftrag in der Welt in Fortsetzung der Sendung Jesu (V.20ff.) auszuführen. Aus dem Senden „in die Welt“ allein folgt also nicht zwangsläufig die Präexistenz des/der Gesandten, da die Jünger, die von Jesus „in die Welt“ gesandt werden, sicher nicht präexistent waren. Entspricht die Selbstheiligung Jesu der Heiligung durch den Vater und ist die Selbstheiligung Jesu die Voraussetzung für die Heiligung der Jünger in der Wahrheit bzw. durch die Wahrheit, dann steht zu vermuten, dass auch die Heiligung Jesu durch den Vater und die Sendung Jesu „in die Welt“ etwas mit dem Kundwerden der Wahrheit Gottes in der Welt zu tun haben könnte, u. U. sogar die Basis dafür bildet. 14 Vgl. darüber hinaus noch das Thema der Einheit (Joh 10,30 mit 17,11.21ff.) bzw. der sog. Immanenz (vgl. 10,38 mit 17,21.23.26). 15 So mit vielen Auslegern wie BROWN, SCHNACKENBURG, ZUMSTEIN in den jeweiligen Kommentaren z.St. 16 Von der Heiligung der Jünger ist ihre Reinigung ([von der Sünde] durch das Wort Jesu), die der Heiligung vorausgeht, zu unterscheiden (vgl. Joh 13,10f.; 15,3); vgl. BAUCKHAM 2007: 268. 17 „In dem ἵνα-Satz wird […] wieder derselbe Heiligungsbegriff wie in V 17 aufgenommen, und darum wird man auch das artikellose ἐν ἀληθείᾳ nicht im Sinn von ἀληθῶς, sondern ebenso wie vorher mit Artikel verstehen müssen. Der Artikel kann in solchen präpositionalen Wendungen wegfallen“ (SCHNACKENBURG 1975: 214). 18 S. auch Haupttext nach Fußnote 35 in diesem Kapitel. 19 Die „Welt“ hat Joh 17,14f. zufolge die Jünger gehasst. Die „Welt“ ist der Raum „des Bösen“, vor dem die Jünger, die in der Welt bleiben, bewahrt werden sollen. 20 Vgl. für eine differenzierte Erörterung der „Mission“ der Jünger KÖSTENBERGER 1998: 141–198.

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Nun muss man sich klarmachen, dass im AT21 die Heiligung als Weihe eines Menschen zum Dienst für den heiligen Gott (Lev 19,2)22 vornehmlich durch Salbung mit heiligem Salböl (Ex 30,25) erfolgte (vgl. Ex 29,1.7.21; Lev 8,12). Derjenige, der durch das heilige Öl gesalbt wurde, wurde geheiligt, d.h. er wurde abgesondert für Gott und gehörte in besonderer Weise zum göttlichen Bereich. Dies gilt nicht nur für die Priester und insbesondere für den Hohepriester, der sowohl geheiligt worden war als auch „das geweihte heilige Heiligtum“ auf seiner Stirn (Lev 8,9) trug und daher der „Heilige des Herrn“ (Ps 105,16) genannt wurde, sondern auch für die „heiligen Propheten“ (vgl. 4Kgt 4,9; Sir 49,7 [vgl. Jer 1,5]). So wird bisweilen von einer Salbung eines Menschen zum Propheten gesprochen (vgl. 3Kgt 19,16). In Ps 104,15 werden „meine Gesalbten“ und „meine Propheten“ im Parallelismus gleichgesetzt.23 Natürlich darf man, wenn es um Salbung im AT geht, die Salbung des Königs nicht außer Acht lassen.24 1Kgt 9,16 z.B. spricht von einer Salbung Sauls zum Herrscher über Gottes Volk. 2Kgt 19,22 macht klar, dass diese Salbung im Sinne einer göttlichen Legitimation zu verstehen ist. So ist denn auch in den (nicht zuletzt für das NT wichtigen) Psalmen 2; 44; 88 mit Bezug auf den König (z.T. David) von Gottes Gesalbtem bzw. von einer Salbung durch Gott selbst die Rede. Von großer Bedeutung ist, dass diese Salbung zumindest beim König David begleitet war vom Kommen des Geistes des Herrn über ihn (1Kgt 16,13; vgl. 2Kgt 23,1f.). Wichtig ist in diesem Zusammenhang noch die Beobachtung Karrers, dass im Laufe der nachexilischen Zeit „‚Gesalbter‘ […] mit Heiligkeit und Gottes Geist zusammen[rückte],25 bis ihm keine Person jenseits der idealen Zeit mehr genügte. Das traf auch die einstigen Könige“26. Die einzigartige Gotteszugehörigkeit bzw. Heiligkeit dessen, der als Gesalbter bezeichnet wird, muss für die nachfolgenden Ausführungen im Hinterkopf behalten werden. Im Zusammenhang mit der Frage „der Juden“, ob Jesus „der Gesalbte“ sei (Joh 10,24), weist die Rede von der Heiligung Jesu durch den Vater aufgrund des engen Konnexes zwischen Heiligung und Salbung auf die Täuferszene, die als programmatische Hinführung zum öffentlichen Auftreten Jesu fungiert. Denn dort wird die Frage aufgeworfen und beantwortet, wer der Gesalbte ist. So betont der Evangelist, dass der Täufer bekannte, dass er nicht der Christus, d.h. der Gesalbte (vgl. Joh 1,41) war (Joh 1,20). Dieser Titel wird offensichtlich für Jesus reserviert. Später bezeugt der Täufer, dass er gesehen hat, wie 21

Ich beziehe mich im Folgenden auf die LXX. Vgl. auch die Bezeichnung Gottes als „Heiliger Israels“ in Ps 70,22 und besonders oft in Jes (vgl. nur Jes 12,6; 30,12 und öfter). 23 Der Psalm bezieht sich auf die Stammväter Israels und sieht sie als Propheten. 24 Im folgenden Absatz greife ich zurück auf KARRER 1998: 135ff. 25 Vgl. CD II,12; 6,1; 11QMelch 2,18; 4Q 287 Frg. 10,13; vgl. PsSal 17,37 u.a.; KARRER 1998: 136, Anm. 187. 26 KARRER 1998: 136f. 22

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der Geist auf Jesus herabkam und auf ihm blieb. Dieses Herabkommen und Bleiben27 des Geistes ist seinem göttlichen Sender und Auftraggeber zufolge das Erkennungszeichen dafür, dass Jesus derjenige ist, der tauft ἐν πνεύµατι ἁγίῳ28 (Joh 1,33 [vgl. 1,25]). Damit ist der besondere „Geistbesitz“ Jesu jedoch zugleich Ermächtigung für seine Tätigkeit als Offenbarer.29 Dieses Ereignis nimmt der Täufer zum Anlass, um feierlich zu bekennen: „ich habe gesehen und habe bezeugt, dass dieser der Sohn Gottes30 ist“.31 Ausweislich des Zusammenhangs liegt es nahe, jene Herabkunft des Geistes vom Himmel, d.h. vom Vater (vgl. Joh 1,32 mit 3,27 und 15,26), und das Bleiben des Geistes als Salbung und damit als Heiligung Jesu durch den Vater mittels des Geistes zu begreifen, konkret als Heiligung zum endzeitlichen königlichen Christus und Sohn Gottes.32 Demgemäß steht die ganze folgende Wirksamkeit des Gesalbten unter dem Vorzeichen des Geistes. Dies wird von den meisten Protagonisten auf der Erzählebene jedoch verkannt. Nach Meinung einiger im Volk hat Jesus 27 Zum „Bleiben“ des Geistes vgl. BURGE 1987: 54f.: „ John wants to stress that Jesus’ anointing was no passing moment of inspiration. The unity of Spirit and and Son was as permament and comprehensive as the unity between Father and Son (10:30). Heinrich Schlier comments: ‚With the stress on the ‚remaining‘ of the Spirit, the Gospel probably refers to the relationship of the Spirit with Jesus – the subjection of the Spirit to Jesus not only during his earthly work, but rather precisely after his glorification‘“ (kursiv im Original). 28 Vgl. zu diesem schwierigen Ausdruck BENNEMA 2003. Obwohl die Phrase ὁ βαπτίζων ἐν πνεύµατι ἁγίω im JohEv einmalig ist, erwartet man als Leser und Leserin, dass das mit dieser Metapher (Geist-Wasser) verbundene Konzept im Verlauf des Evangeliums erläutert wird (vgl. BENNEMA 2003: 35). BENNEMA kommt angesichts der Funktion von Johannes’ Wassertaufe im JohEv (sie dient nach 1,31.33 zur Offenbarung und gemäß 3,25 zur Reinigung) und aufgrund einer Analyse der Art des Wirkens im Zusammenhang mit dem Geist zu folgendem, m.E. plausiblen, Schluss: „according to the Fourth Evangelist, Jesus’ confronting of people with his Spirit-imbued revelatory life-giving teaching is essentially an actualization of Jesus’ baptizing with Holy Spirit. Spirit-baptism then denotes the concept of cleansing through revelation; through Jesus’ Spirit-imbued word/teaching, which reveals God, people are cleansed. All people who encounter Jesus’ teaching, then, undergo this baptism with Holy Spirit, but the effect it has on people depends on one’s response towards Jesus; those who accept Jesus’ teaching experience the baptism as cleansing and salvific, whereas those who reject it experience this same baptism as causing judgement“ (2003: 53). Mit diesen beiden Funktionen der (Rettung und Gericht bewirkenden) Offenbarung und Reinigung mittels des Geistes, die Jesu Wirken charakterisieren, sind Bennema zufolge (er stützt sich auf frühjüdische Texte, die in einem Zusammenhang zu Jes 11 stehen [z.B. PsSal 17,21– 46]) zwei charakteristische Aufgaben messianischer Figuren benannt. 29 Vgl. BENNEMA 2002: 164f. 30 Dies ist die textkritisch zu bevorzugende Lesart (vgl. THEOBALD 2009: 173; THYEN 2005: 125f.; gegen BURGE 1987: 59f. u.a.). 31 Auch in der nachfolgenden Szene der Jüngerberufung wird das Bekenntnis zu Jesus als Messias und Sohn Gottes erneut ausgesprochen (1,42.49). 32 Vgl. 1Joh 1,3; 2,1.22 (Jesus [ist der] Christus) mit 1Joh 2,20 („…vom Heiligen“ ist wohl auf Jesus Christus zu deuten; vgl. KLAUCK 1991: 159).

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nicht den Geist Gottes, sondern einen Dämon, denn nur so kann sein (aus ihrer Perspektive) wahnsinniger Anspruch, durch sein Wort ewiges Leben zu geben, erklärt werden (vgl. Joh 7,20; 8,48f.52). Dieser Verdacht der Dämonenbesessenheit wird unmittelbar vor der Szene Joh 10,22–39 wiederholt (vgl. 10,20f.), sodass man annehmen kann, dass Jesus in Joh 10,36 unter anderem auf diesen irrigen Vorwurf mit dem Hinweis auf seine Heiligung durch den Vater mittels des Geistes reagiert. Weiterhin ist für die Klärung dessen, was mit der Heiligung Jesu durch den Vater gemeint ist, Joh 6,69 wichtig, da dort das mit dem Verb verwandte Adjektiv ἅγιος begegnet. Im Gegensatz zu den Jüngern, die sich an Jesu Brotrede stören und daher von ihrem Lehrer weggehen (Joh 6,60ff.66), wollen die Zwölf bei Jesus bleiben. Petrus sagt dann stellvertretend zumindest für die zehn anderen Jünger, da Judas vom wahrhaftigen Glauben ausgeklammert wird (vgl. Joh 6,70f.): „Herr, zu wem sollten wir gehen? Du (allein)33 hast Worte ewigen Lebens; und wir (im Gegensatz zu den anderen)34 haben geglaubt und erkannt, dass du der Heilige Gottes (ὁ ἅγιος τοῦ θεοῦ) bist.“ Damit greift Petrus Jesu Worte auf. Jesus hatte nämlich zuvor darauf hingewiesen, dass „der Geist lebendig macht“ und dass „die Worte, die ich zu euch geredet habe, Geist sind und Leben“ (V.63). Die an Jesus glaubenden Jünger haben Jesu Worte schon als „Worte ewigen Lebens“ erfahren und können daher bekennen, dass Jesus „der Heilige Gottes“35, mithin dem heiligen Gott in einzigartiger Weise zugehörig ist.36 Ausweislich des Zusammenhangs, wo der Geist mehrfach erwähnt wurde, und angesichts der obigen Erläuterungen zum atl. Hintergrund der Heiligungsvorstellung halte ich es für wahrscheinlich, dass der Titel im Petrusbekenntnis auf die Salbung und damit auch die Heiligung Jesu durch den Vater mittels des Geistes abhebt.37 Dann ist die Heiligung durch den Vater mittels des Geistes die Grundlage dafür, dass Jesu Worte „Worte des ewigen Lebens“ sind. 33

Vgl. THEOBALD 2009: 494. Zumal zu denen, die Jesus ergreifen und zu ihrem „Brot-König“ machen wollen (Joh 6,15), anstatt ihn als Lebensbrot anzunehmen. 35 Ähnliche Ausdrücke finden sich in Ps 105,16 (Aaron); 4Kgt 4,9 (Elisa); Ri 13,7; 16,17 (LXX [B]; Simson); VitProph 17 (Daniel). Im NT in Mk 1,24; Lk 4,34; vgl. Apg 3,14; 4,27.30; Apk 3,7; 1Joh 2,20). 36 Das Attribut „heilig“ wird im JohEv bezeichnenderweise nur noch dem Vater (17,11) und dem Geist (1,33; 14,26; 20,22) zugewiesen; die Jünger partizipieren auf der Basis der Selbstheiligung Jesu sowie durch das Wort Gottes und den Heiligen Geist, den sie von Jesus erhalten, an Gottes Heiligkeit. 37 Vgl. auch den textkritischen Apparat zu Joh 6,69, der darauf hindeutet, dass zumindest die frühesten Ausleger die Bezeichnung „Heiliger Gottes“ in einem engen Zusammenhang mit dem „Gesalbten“ verstanden haben. Hier könnten die synoptischen Parallelen zu dieser Szene eine wichtige Rolle gespielt haben (vgl. Mt 16,15f. ; Mk 8,29; Lk 9,20), wo das Bekenntnis des Petrus lautet: „(wir halten dich) für den Gesalbten Gottes“ (nach Lk 9,20; Mk und Mt lauten ähnlich). 34

1. Desintegration

377

Wenn nun Jesus in Joh 10,36a sagt, dass der Vater ihn geheiligt hat, dann bezieht er sich auf die Christus-Frage „der Juden“ (Joh 10,24) und beantwortet diese, indem er auf jenes Ereignis rekurriert, als der Geist von Gott, dem Vater auf Jesus kam und auf ihm blieb,38 d.h. seine Heiligung zum Christus und Sohn Gottes.39 Diese Heiligung zum Christus und Sohn Gottes durch den Geist beinhaltet, dass Jesus die Leben spendende Wahrheit Gottes bezeugt (vgl. Joh 18,37 u.ö.), die er selbst ist (Joh 14,6). Zur Sendung Jesu „in die Welt“ ist Folgendes zu beachten. Das Motiv von der Sendung Jesu „in die Welt“ ist eines der dominantesten im JohEv. Seine Analyse durch Ruben Zimmermann zeigt: Die „Sendungsmetapher [vermag] einerseits die Legitimität und Abhängigkeit des Gesandten zum Ausdruck zu bringen, andererseits vertritt und repräsentiert der Gesandte – im Sinne des antiken Botenrechts – ganz die Interessen des Sendenden.“40 Was besagt dies für Joh 10,36? Jesus ist nach Joh 10,36 vom Vater geheiligt und „in die Welt“ gesandt worden, d.h. Jesus kommt vom Vater her „in die Welt“, ist von ihm beauftragt worden, sein Heilswerk in der Welt zu tun41 und repräsentiert somit 38

Vgl. Jes 11,1–4 (καὶ ἐξελεύσεται ῥάβδος ἐκ τῆς ῥίζης Ιεσσαι καὶ ἄνθος ἐκ τῆς ῥίζης ἀναβήσεται καὶ ἀναπαύσεται ἐπ᾽ αὐτὸν πνεῦµα τοῦ θεοῦ…); 61,1 (πνεῦµα κυρίου ἐπ᾽ ἐµέ οὗ εἵνεκεν ἔχρισέν µε εὐαγγελίσασθαι πτωχοῖς ἀπέσταλκέν µε ἰάσασθαι τοὺς συντετριµµένους τῇ καρδίᾳ κηρύξαι αἰχµαλώτοις ἄφεσιν καὶ τυφλοῖς ἀνάβλεψιν). 39 NEYREY (1989: 659) verbindet Heiligung m.E. zu stark mit Sündlosigkeit, sodass Heiligkeit fast nur negativ definiert ist als Abwesenheit von Sünde. Doch im JohEv wird „Heiligung“ nicht mit dem Entfernen von Sünde assoziiert. Ferner weist im JohEv nichts explizit darauf hin, dass Jesu Heiligung etwas mit Sünde bzw. der Abwesenheit von Sünde oder Unsterblichkeit zu tun hätte. 40 ZIMMERMANN 2004b: 193. Vgl. nur die zahlreichen Belege für die Verben ἀποστέλλω und πέµπω (m.E. werden sie austauschbar gebraucht; so auch KÖSTENBERGER 1998: 97– 106; HAACKER 2005: 1655): u.a. Joh 3,17.34; 5,38; 6,29.57; 7,29 („ich bin von ihm, d.h. dem Vater gekommen“ steht parallel zu „er hat mich gesandt“); 8,42 (Jesus ist von Gott „ausgegangen“, er ist nicht von sich aus „gekommen“, sondern er wurde von ihm „gesandt“); 11,42; 17,3.8 (Jesus ist vom Vater „ausgegangen“ und der Vater hat ihn „gesandt“); 17,18.21.23.25; 20,21 (mit ἀποστέλλω; vgl. auch 1Joh 4,9) und 4,34; 5,23f.30.37; 6,38f.44; 7,16.28.33; 8,16.18.26.29, 9,4; 12,44f.49; 13,20; 14,24; 15,21; 16,5; 20,21 (mit πέµπω). Vgl. zum Sendungsmotiv im JohEv (neben ZIMMERMANN 2004b: 183–193) u.a. MIRANDA 1977; BÜHNER 1977; KÖSTENBERGER 1998. BUSSE (2013: 150) stützt sich in seiner Deutung auf die m.E. dem JohEv nicht angemessene Unterscheidung von ἀποστέλλω und πέµπω und berücksichtigt andere Aussagen zur Herkunft Jesu zu wenig, sodass er die prophetische Berufung Jesu gegen seinen göttlichen Ursprung ausspielt: „Der Evangelist verwendet hier für die Sendung Jesu das Verb ἀποστέλλειν und nicht πέµπειν. Ersteres Verb legt den Akzent auf die Übertragung der Vollmacht an Jesus, wohingegen das zweite den Urheber der Sendung bezeichnet. Mit diesem philologischen Argument liegt der Ton in 10:36 nicht so sehr auf eine metaphysische Ursprungsthematik, sondern ist besser mit einer prophetischen Berufung zu umschreiben.“ 41 Dazu gehört besonders, die Welt zu retten (3,17), Gottes Willen zu tun und sein Werk zu vollbringen (4,34), die Glaubenden zu bewahren und am letzten Tag aufzuerwecken (6,39), Gottes Werke zu wirken (9,4), Gottes Worte zu sagen (12,49; 14,24; 17,8). 1Joh 4,9

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5. Kapitel: Die Rezeption der Sinaitradition in Joh 10,34ff.

den sendenden Vater vor der Welt. Es gibt wohl auch gemäß dem JohEv andere Menschen, die von Gott gesandt werden wie z.B. Johannes (vgl. Joh 1,6; 1,33; 3,28), doch nur Jesus kommt vom Vater, steht mithin in einer einzigartigen Beziehung zu Gott. Der Gesandte Gottes, des Vaters, kann also kein anderer sein als sein Sohn.42 Trotz dieser Hinweise, die das JohEv selbst gibt, bleiben einige Fragen offen, und das Argument liegt nach wie vor etwas im Unklaren, speziell was die Bedeutung der Protasis angeht, die sich auf das Schriftwort bezieht, zumal im Verhältnis zur Apodosis. Kann es sein, dass das Verständnisproblem darin liegt, dass bestimmte Informationen bei den antiken Zuhörenden bzw. Lesenden einfach vorausgesetzt werden? Lassen sich diese aus der (früh-)jüdischen Tradition erschließen, sodass das Argument durch diese Informationen erhellt und schließlich nachvollziehbar wird? Da das Schriftwort explizit markiert wird, müssen sich sowohl die Adressaten auf der Erzählebene als auch die Lesenden den Prätext, wie er (früh-)jüdisch interpretiert wurde, vor Augen führen, nicht zuletzt, da sich die Näherbestimmung der „Götter“ als derjenigen, an die das Wort Gottes erging, nicht aus dem Schriftwort allein ablesen lässt.

2. Digression 2. Digression

2.1 Herkunft des Zitats in Joh 10,34 Die intertextuelle Einschreibung in Joh 10,34c–d stammt wörtlich aus Ps 81,6a LXX. Dies ist aus dem folgenden Textvergleich evident und bedarf daher keiner weiteren Begründung43: Ps 81,6 LXX

Joh 10,34 34

ἀπεκρίθη αὐτοῖς [ὁ] Ἰησοῦς· οὐκ ἔστιν γεγραµµένον ἐν τῷ νόµῳ ὑµῶν

6

ἐγὼ εἶπα θεοί ἐστε

ὅτι ἐγὼ εἶπα· θεοί ἐστε;

καὶ υἱοὶ ὑψίστου πάντες

fasst dies alles sinngemäß zusammen: „Hierin ist die Liebe Gottes zu uns geoffenbart worden, dass Gott seinen eingeborenen Sohn in die Welt gesandt hat, damit wir durch ihn leben möchten.“ 42 Vgl. ZIMMERMANN 2004b: 190. 43 Vgl. SCHUCHARD 1992: 61: „No other Old Testament text has ever been considered by scholars as a possible source.“

2. Digression

379

Folglich ist die intertextuelle Einschreibung in Joh 10,34 aufgrund der Einleitungsformel und ihrer wörtlichen Übereinstimmung mit dem Prätext Ps 81,6a LXX als Zitat zu klassifizieren.44 In Ps 81,6 LXX spricht jemand zu einer Gruppe und verweist auf seinen eigenen (früheren) Ausspruch, als er diese Gruppe als „Götter“ und „Söhne des Höchsten“ bezeichnete. Im Folgenden wird der Kontext dieses Psalmverses betrachtet werden. Welches Verständnis legt sich dann für Ps 81,6 LXX nahe? Folgt die LXX dem hebräischen Text? Danach sollen der Fokus geweitet und andere (früh-)jüdische Auslegungstraditionen zu diesem Psalmvers einbezogen werden. 2.2 Ps 81 LXX Ps 81 LXX lautet mitsamt der Übersetzung (gemäß modifizierter LXX.D): ψαλµὸς τῷ Ασαφ.

1

ὁ θεὸς ἔστη ἐν συναγωγῇ θεῶν,

Der Gott trat in der Versammlung von Göttern auf,

ἐν µέσῳ δὲ θεοὺς διακρίνει

und in (ihrer) Mitte urteilte er über Götter:

2

2

ἕως πότε κρίνετε ἀδικίαν

EIN PSALM, BEZOGEN AUF ASAPH.

Wie lange richtet ihr Ungerechtigkeit

καὶ πρόσωπα ἁµαρτωλῶν λαµβάνετε;

und nehmt auf Sünder Rücksicht?

διάψαλµα.

Zwischenspiel.

3

3

κρίνατε ὀρφανὸν καὶ πτωχόν,

Richtet den45 Waisen und den Armen,

ταπεινὸν καὶ πένητα δικαιώσατε·

dem Niedrigen und dem Bedürftigen schafft Recht!

4

4

ἐξέλεσθε πένητα καὶ πτωχόν,

Befreit den Bedürftigen und den Armen,

ἐκ χειρὸς ἁµαρτωλοῦ ῥύσασθε.

aus der Hand des Sünders errettet (ihn/sie)!

5

5 Sie erkannten (es) nicht und verstanden (es) nicht,

οὐκ ἔγνωσαν οὐδὲ συνῆκαν,

ἐν σκότει διαπορεύονται·

in Finsternis wandeln sie;

σαλευθήσονται πάντα τὰ θεµέλια τῆς γῆς.

alle Grundfesten der Erde werden wanken.

6

6

ἐγὼ εἶπα θεοί ἐστε

καὶ υἱοὶ ὑψίστου πάντες·

Ich sprach: Götter seid ihr

und Söhne des Höchsten ihr alle:

44 Nirgends sonst wird im NT auf Ps 82(81) Bezug genommen (zumindest nicht mit Hilfe einer expliziten Markierung). Anders dann in der, (früh-)jüdische Auslegungen aufnehmenden, patristischen Literatur (vgl. die Darstellung der Rezeption von Ps 82 bei Justin, Irenäus und Clemens von Alexandrien bei MOSSER 2005: 30–74). 45 Zwar stehen im Griechischen bei den Objekten in V.3f. keine Artikel, sie sind „aber als Kollektivbegriffe anzusehen. Von daher ist die deutsche Wiedergabe mit Artikel gerechtfertigt“ (CORDES 2004: 200).

380 7

5. Kapitel: Die Rezeption der Sinaitradition in Joh 10,34ff.

ὑµεῖς δὲ ὡς ἄνθρωποι ἀποθνῄσκετε

7

Ihr sterbt aber wie Menschen,

καὶ ὡς εἷς τῶν ἀρχόντων πίπτετε.

und wie einer der Herrscher fallt ihr.

8

8

ἀνάστα ὁ θεός, κρῖνον τὴν γῆν,

ὅτι σὺ κατακληρονοµήσεις ἐν πᾶσιν τοῖς ἔθνεσιν.

Steh auf, Gott, richte die Erde,

denn du wirst Erbbesitz erhalten (oder verteilen) unter allen Völkerschaften (oder die Völkerschaften enterben)!46

Die Hauptfragen, die sich hier stellen, lauten: − Wer spricht in V.6, wer ist das „Ich“? − Welches Szenario ist im Blick? − Wer sind die Adressaten, zumal sie als „Götter“ (vgl. V.1: [ἐν συναγωγῇ] θεῶν; θεοὺς [διακρίνει]; V.6: θεοί ἐστε) bezeichnet werden? Der MT lässt Raum für verschiedene Interpretationen, insbesondere was die Identifizierung der Adressaten angeht. Besonders problematisch ist Folgendes, gerade im Kontext eines exklusiven JHWH-Glaubens: Einerseits wird eine Gruppe „Gottesversammlung“ bzw. „Versammlung Els“ (‫ת־אל‬ ֵ ‫ ; ַבּ ֲ ַד‬V.1), „Götter“ bzw. „Göttliche“ (‫ ; ֱא ִהים‬V.1 und V.6) und „Söhne des Höchsten (Gottes)“ (‫ ; ְבנֵ י ֶ ְליוֹן‬V.6) genannt. Dies erinnert an die Vorstellung eines „Götterpantheons“, wie sie für die Umwelt Israels belegt ist;47 gleichwohl finden sich vergleichbare Vorstellungen auch in biblischen Texten (vgl. z.B. 1Kön 22,19; Hi 1,6; 2,1). Andererseits wird diesen „Göttern“ bzw. „Göttlichen“ angekündigt: „wie ein Mensch (‫ ) ְכּ ָא ָדם‬werdet ihr sterben (‫) ְתּמוּתוּן‬, wie ein Oberster werdet ihr fallen“, nachdem ihnen zuvor ein Fehlverhalten innerhalb der irdischen Rechtssprechung vorgeworfen und ein angemessenes Verhalten geboten wurde (vgl. V.2–4); dies lässt sich gut mit Richtern in Israel in Verbindung bringen (vgl. z.B. Lev 19,15). Zu den wichtigsten Auslegungsoptionen48 hinsichtlich des MT gehören folgende, wobei sich diese nicht notwendigerweise gegenseitig ausschließen.49 Die „Götter“ sind demnach … 46 Nach LXX.E „kann es [sc. κατακληρονοµέω] sowohl ‚in Besitz nehmen / als (Erb)-Besitz erhalten‘ bedeuten als auch kaus. ‚jemanden etwas in Besitz nehmen lassen / jemandem etwas zum Besitz geben‘“ (LXX.E 2011: 1737). MURAOKA 2009: 372 gibt zusätzlich die Bedeutung „to dispossess“ an. 47 Vgl. JÜNGLING 1969: 52–60 für entsprechende Belege. 48 Die entscheidende Weiche wird bei der Wahl des maßgeblichen Kontextes für den Psalm gestellt. Interpretiert man den Psalm im Zusammenhang des Psalters und von der Tora bzw. spezieller Passagen der Tora her, oder isoliert man ihn aus diesem Kontext und rekonstruiert einen anderen z.B. „ursprünglichen“ (wie auch immer dieser ausgesehen haben mag)? Wie man sich an dieser Stelle entscheidet, bestimmt zum großen Teil, wie man den Text auslegt. 49 Vgl. u.a. JÜNGLING 1969: 11–23; HOSSFELD/ZENGER 2000: 481ff.

2. Digression

381

1. menschliche Richter, die den Titel „Götter“ als Würdebezeichnung tragen, 2. Götter im Sinne von himmlischen Wesen in einem Götterpantheon, denen eine richterliche Funktion zukommt,50 3. Engel, die eine richterliche Funktion ausüben, 4. als Richter fungierende Könige, die als „Götter“ angesehen wurden oder sich selbst als solche sahen,51 5. oder die Israeliten am Sinai, die „Götter“ genannt wurden. Es kann hier nicht darum gehen, die einzelnen Auslegungen einer kritischen Prüfung zu unterziehen, um so zur angemessensten Interpretation des MT zu gelangen. Aus der Auflistung der Positionen soll im Rahmen der vorliegenden Arbeit nur deutlich werden, welche Möglichkeiten von (antiken und modernen) Lesenden52 erwogen wurden, den Psalm zu verstehen. Wie positioniert sich nun die griechische Übersetzung diesbezüglich und hinsichtlich der obigen Fragen? Generell gilt für den Septuaginta-Psalter, dass er „durch eine starke Nähe zum hebr. Text gekennzeichnet“53 ist. Daher sind Abweichungen vom MT umso bedeutsamer. Solche finden sich auch in Ps 81 LXX. Zu den Differenzen, die für die Beantwortung der obenstehenden Fragen relevant sind, zählen folgende: In der Situationsangabe (V.1) wird „der Gott“ (θεός mit Artikel) von „Göttern“ (θεοί ohne Artikel) abgegrenzt (anders als im MT). Der Gott ist natürlich der eine und einzige (vgl. 4Kgt 19,15) Gott Israels. Die Setzung des Artikels bringt den „monotheistischen“ Standpunkt des bzw. der Übersetzer des Septuaginta-Psalters klar zum Ausdruck. Wer oder was auch immer die „Götter“ sind, sie stehen nicht auf einer Stufe mit dem Gott.54 Nach der LXX trat Gott in einer „Versammlung von Göttern“ (συναγωγῇ θεῶν; MT: „Gottesversammlung“ bzw. „Versammlung Els“) auf.55 Die Tatsache, dass Gott sich hinstellt und folglich steht, um anzuklagen und zu richten, weist auf einen Gerichtsprozess hin,56 sodass nach der Anklage ein Gerichtsurteil zu erwarten ist; Gott ist also sowohl Ankläger als auch Richter.57 Im 50

So zuletzt wieder MACHINIST 2011: 204ff. Für diese Auslegungsoption argumentiert TROTTER 2012: 221–239. 52 JÜNGLING 1969: 16f. zeigt auf, dass die zuvor genannten Auslegungen z.T. schon bei den Kirchenvätern anzutreffen sind und nicht nur von modernen Exegeten vertreten werden. Die folgenden Ausführungen zeigen darüber hinaus das Spektrum jüdischer Deutungen (oder zumindest einen Teil davon). 53 LXX.E 2011: 1480. 54 Vgl. MAIER 2008: 27. Gemäß SCHAPER (2001: 178) und CORDES (2004: 202) geht es in der LXX um eine Depotenzierung der hellenistischen Götter. 55 Die LXX.D verwischt durch die Setzung des bestimmten Artikels bei „Götter“ die in der LXX vorgenommene Differenzierung. Zu Aquila und Symmachus, deren Wiedergaben jede „polytheistische“ Implikation vermeiden, s. SALTERS 1991: 227f. 56 Vgl. Ps 12(11),6 und besonders Jes 3,13f. 57 Vgl. COLE 2000: 108. 51

382

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zweiten Teil des Parallelismus58 heißt es dann in der LXX, dass Gott „in der Mitte richtet“59. Gemäß der LXX richtet er diejenigen „Götter“, in deren Versammlung er steht. Diese Abweichung vom MT60 ist kontextuell angemessen, wie die nächsten Verse zeigen. Folglich liegt es nahe, dass in den Versen 2–4 und 6–7, wenn jene „Götter“ direkt angeredet werden, der Gott Israels das Wort hat. Damit steht auch zu vermuten, dass in V.6–7 das Gerichtsurteil Gottes über jene ungerecht richtenden „Götter“ ausgesprochen wird, nachdem die fehlende Erkenntnis/Einsicht der „Götter“ beklagt, ihr andauerndes Wandeln in Finsternis festgestellt und die Konsequenzen dessen61 angekündigt wurden: Zwar hat Gott (betontes „ich“) in der Vergangenheit gesagt,62 dass sie „Götter“ und „Söhne des Höchsten“ sind (V.6). Doch sie sterben wie Menschen, und wie einer der Herrscher fallen sie. Zuletzt wird Gott (angesichts des Versagens der „Götter“) aufgefordert, die Erde zu richten, „denn du wirst Erbbesitz erhalten bzw. verteilen unter allen Völkerschaften“ oder „du wirst die Völkerschaften enterben“. Es geht mithin in Ps 81 LXX um eine Art Gerichtsprozess des Gottes Israels gegen „Götter“, die ihrer Aufgabe des Richtens nicht recht nachgekommen sind. Wer sind die „Götter“, die auch „Söhne des Höchsten“ genannt werden? Der LXX-Pentateuch lässt an mindestens zwei Stellen erkennen, dass man ‫ ֱא ִהים‬bzw. ‫י־ה ֱא ִהים‬ ָ ֵ‫ ְבנ‬als Engelwesen verstehen und dies z.T. auch durch die Übersetzung mit „Engel (Gottes)“ (ἄγγελοι bzw. ἀγγέλοι θεοῦ) signalisierten konnte.63 Von dieser Möglichkeit machten die Übersetzer des Psalters ebenfalls Gebrauch,64 wie sich durch einen Vergleich von Ps 8,6; Ps 96[97],7; 137[138],1 in den Versionen des MT und der LXX aufzeigen lässt.65 In Ps 81 LXX wird ‫ ֱא ִהים‬jedoch nicht mit „Engel“ übersetzt, obwohl die 58

Anschluss mit δέ; der MT hat keinen Konnektor. διακρίνει ist Präsens; MT hat das Ipf. 60 Dort wahrscheinlich „inmitten der Götter [richtet Gott/El]“ – wen er richtet, ist noch offen. 61 Nämlich: ein zukünftiges (anders MT) Wanken aller Grundfesten der Erde (σαλευθήσονται πάντα τὰ θεµέλια τῆς γῆς). 62 LXX: ἐγὼ εἶπα. Der MT hat ‫י־א ַמ ְר ִתּי‬ ָ ִ‫ ֲאנ‬. Bezieht sich dieses auch auf die Vergangenheit? Nach HOSSFELD/ZENGER 2000: 484 ist das Perfekt jedoch als „Perfekt der Koinzidenz“ (hiermit erkläre ich) zu deuten. Dann bestünde allerdings ein Unterschied zwischen MT und LXX. 63 Vgl. Dtn 32,8 nach 4QDeutj Kol. XII: „Söhne Gottes“ mit LXX: „Söhne Gottes“ (RAHLFS: „Engel Gottes“) und MT: „Söhne Israels“; Dtn 32,43 nach 4QDeutq Kol. II (Frg.5, ii) Zl. 7: „Huldigt ihm ihr Götter“ mit LXX: „alle Engel Gottes sollen für ihn stark werden“, wobei die Gottesengel in Parallele stehen mit den Söhnen Gottes (V.43b; vgl. Od 2,43); MAIER 2008: 19–22. 64 Sofern sie an den betreffenden Stellen nicht eine andere hebräische Vorlage hatten. Dies lässt sich aber mit guten Gründen bezweifeln (vgl. SCHENKER 2001: 191ff.). 65 Der MT hat jeweils ‫ ֱא ִהים‬, die LXX „Engel“ (ἄγγελοι); Tg Ps 138,1: „vor den Richtern will ich dir singen“. 59

2. Digression

383

Möglichkeit dazu gegeben war. Spricht dieser Umstand für eine Deutung auf Richter? Die Verse 2–5 weisen auf alle Fälle sprachliche und sachliche Bezüge zu den relevanten Gesetzen über Qualifikation und rechtmäßiges Verhalten der Richter auf (s.u.). Die Möglichkeit, „Richter“ zu meinen, wenn man von „Göttern“ spricht, hat nach J. Maier mit der Institution zu tun, „die für sich in Anspruch nahm, an Gottes Stelle zu urteilen“66. Dieser Anspruch wird z.B. in Ex 21,6 LXX deutlich (vgl. auch Ex 22,7ff.). Demgemäß soll ein Herr in einem ganz bestimmten Rechtsfall seinen Sklaven „vor das Gericht Gottes (πρὸς τὸ κριτήριον τοῦ θεου; MT: ‫ל־ה ֱא ִהים‬ ָ ‫ “) ֶא‬bringen, d.h. also vor das Höchstgericht, das sich wohl beim Heiligtum, dem Ort der Präsenz des Weltenrichters, befand. Die Einsetzung des „Gerichtes Gottes“ als Institution wird in Ex 18,13–27 und in Dtn 1,9–18 narrativ dargestellt. Dort werden auch die Aufgaben und Qualifikationen der Richter genannt. Dtn 1,13 zufolge sollen die Richter „weise, verständige und kluge Männer“ (ἄνδρας σοφοὺς καὶ ἐπιστήµονας καὶ συνετοὺς) sein. In Ps 81,5 wird konstatiert: „Sie (die „Götter“) erkannten (es) nicht und verstanden (es) nicht“ (οὐκ ἔγνωσαν οὐδὲ συνῆκαν). In Dtn 16,19 wird den Richtern geboten, dass „sie das Recht nicht beugen noch die Person ansehen noch Geschenke annehmen“. Die Begründung lautet (Dtn 16,19f.): „Denn Geschenke machen die Augen der Weisen blind (ἐκτυφλοῖ ὀφθαλµοὺς σοφῶν) und heben die Worte der Gerechten auf. Das Recht sollst du gerecht halten, damit ihr lebt und hineingeht und das Land erbt…“67 Dabei ist mit den Augen, die blind werden, die getrübte Urteilskraft gemeint. Dazu passt Ps 81,5, wonach die ungerecht richtenden „Götter“ nicht verstehen und in Finsternis wandeln. Letzteres scheint eine Metapher zu sein für die vorher festgestellte mangelnde Einsicht und Erkenntnis. Von besonderer Relevanz sind weiterhin die Anweisungen für Richter in Lev 19,15 (vgl. auch Dtn 1,15ff.), da zwischen diesem Text und Ps 81,2–4 einige Verbindungen bestehen. Lev 19,15 lautet: „Ihr sollt im Gericht kein Unrecht verüben. Du sollst das Angesicht eines Armen nicht in Augenschein nehmen und das Angesicht eines Machthabers nicht bewundern. In Gerechtigkeit sollst du über deinen Nächsten urteilen“ (οὐ ποιήσετε ἄδικον ἐν κρίσει οὐ λήµψῃ πρόσωπον πτωχοῦ οὐδὲ θαυµάσεις πρόσωπον δυνάστου ἐν δικαιοσύνῃ κρινεῖς τὸν πλησίον σου). Diese Beobachtungen unterstützen die Interpretation der „Götter“ im Sinne von Richtern. Das „Gericht Gottes“ am Heiligtum erhebt dann den Anspruch auf unanfechtbare, göttliche Autorität. „Die Bezeichnung ‫[ אלהים‬und entsprechend θεοί] hat in solchem Zusammenhang also eine funktionale Bedeutung, und das gilt auch für ‚Gottessohn/Gottessöhne‘.“68 Maier verweist zur Stützung dieser Aussage auf den schon erwähnten Ort des Gerichtes am Heiligtum, wo „Irdisches und Himmlisches in einem besonderen Verhältnis zueinander [standen], so 66

MAIER 2008: 22. Vgl. auch Ex 23,8; 1Chr 19,4–11. 68 MAIER 2008: 23. 67

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dass auch die Priester im Kultdienst sich in Analogie zum himmlischen Kult als ‚Engel‘ verstanden haben“69. Explizite LXX-Belege für die Verwendung der Bezeichnung „Götter“ oder „Söhne des Höchsten“ bzw. „Gottes“ im Zusammenhang mit Richtern sind jedoch selten und umstritten.70 Hier ist v.a. Ex 22,28 zu nennen. Ex 22,28 lautet folgendermaßen: „Götter sollst du nicht lästern (θεοὺς οὐ κακολογήσεις), und von den Anführern deines Volkes sollst du nicht übel reden (καὶ ἄρχοντας τοῦ λαοῦ σου οὐ κακῶς ἐρεῖς).“ Nach dem MT soll man ‫( ֱא ִהים‬Gott bzw. Götter bzw. Göttliche) nicht lästern. Die LXX übersetzt mit θεοί. Dem Verbot „Götter“ zu lästern (οὐ κακολογήσεις)71 wird im Parallelismus hinzugefügt, dass man „von den Anführern (ἄρχοντας) deines Volkes nicht übel reden“ soll. Dies legt nahe, dass auch mit den „Göttern“ menschliche Funktionäre in Israel72 gemeint waren.73 Darüber hinaus kann man auf analoge Passagen verweisen, wo Menschen aufgrund ihrer besonderen Nähe zu Gott und/oder wegen ihrer Funktion als Stellvertreter Gottes im Verhältnis zu jemandem „Gott“ genannt werden. Gemäß Ps 44(45),7f. (zumindest nach einer Deutung) wird der König „Gott“ genannt:74 „Dein Thron, Gott, ist von Ewigkeit zu Ewigkeit […] Du liebtest Gerechtigkeit und Gesetzlosigkeit hasstest Du; deshalb hat Gott, dein Gott, dich gesalbt mit Freudenöl im Gegenüber zu deinen Gefährten.“ Ferner wird Mose im Pentateuch als „Gott“ bezeichnet. Nachdem Mose erneut auf seine schwache Stimme hingewiesen (Ex 6,30; vgl. 4,10) und Gott gefragt hat, wie der Pharao, der König Ägyptens, angesichts dessen auf Mose hören würde, erhält er die Antwort: „Siehe, ich habe dich zu einem Gott für Pharao gemacht (δέδωκά σε θεὸν)75, und Aaron, dein Bruder, wird dein Prophet sein.“ Nicht nur 69

MAIER 2008: 23. Maier verweist auf die „Sabbatopferlieder“ aus Qumran. Man beachte, dass eine ähnliche Bezeichnung wie „Söhne des Höchsten“, nämlich „Söhne des Herrn, eures Gottes“, in Dtn 14,1 mit Bezug auf Israel begegnet (vgl. auch Od 2,43; PsSal 17,27). 71 Aufgrund des Plurals θεοί und des anderen Verbs (κακολογέω) ist das Verbot in Ex 22,28 von dem in Lev 24,15 (ἐὰν καταράσηται θεόν ἁµαρτίαν λήµψεται) zu unterscheiden. 72 Dagegen argumentiert MACHINIST 2011: 205f. 73 Allerdings schließt die im Text implizite innerisraelitische Funktion des Verbots nicht aus, dass man dieses Verbot in apologetischen Zusammenhängen auf die Götter der Völker oder auf Herrscher/Richter der Völker bezog (vgl. die Hinweise bei MAIER 2008: 25f. zu Philo und Josephus). In 1Kgt 28,13 sind auch „Götter“ erwähnt („Und der König [sc. Saul] sprach zu ihr: Fürchte dich nicht, sage, wen du gesehen hast. Und sie sprach zu ihm: Götter [Θεοὺς; MT: ‫ ] ֱא ִהים‬habe ich aus der Erde aufsteigen sehen“). Ein Bezug auf Richter wäre angesichts dessen, dass Samuel nach 1Kgt 7,6.15ff. als der Richter Israels par excellence galt, ebenfalls möglich. 74 Zur Begründung der Übersetzung mit „Gott“ vgl. die Anmerkung zur Stelle in LXX.D. 75 MT: „ich habe dich für den Pharao zum Gott eingesetzt“ (‫)נְ ַת ִתּ י) ֱא ִהים ְל ַפ ְרעֹה‬.Vgl. TgPs-J Ex 7,1: „…I have already made you (an object of) fear to Pharao as if (you were) his God.“ 70

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wird damit Moses Einwand entkräftet; zugleich wird Mose von Gott in ein autoritatives Verhältnis zum Pharao und zu Aaron gestellt, sodass Mose einem Gott gleich ist, insofern er nun einen Propheten, Aaron, hat und dem mächtigen Pharao durch ihn gebieten kann, die Israeliten ausziehen zu lassen (Ex 7,2). Ähnliches wie in Ex 7,1 hatte Gott schon in Ex 4,16 angekündigt. Bei der Berufung und Sendung Moses bringt dieser seine Bedenken zur Sprache: „Wenn sie (sc. das Volk) mir nun nicht glauben und nicht auf meine Stimme hören sollten – sie werden nämlich sagen: ‚Nicht ist dir Gott erschienen!‘ – was soll ich zu ihnen sagen?“ (Ex 4,1). Daraufhin erhält Mose von Gott die Macht, Zeichen zu tun (Ex 4,2–9), sodass, „wenn sie dir aber nicht glauben und [auf] die Stimme des ersten Zeichens nicht hören, so werden sie dir glauben um der Stimme des letzten Zeichens willen“. Die Zeichen sollen demgemäß zum Glauben des Volkes daran führen, dass Gott Mose erschienen ist, mithin seine Sendung bestätigen. Trotz dieser Zusagen spricht Mose zu Gott: „Ich bitte, Herr, wähle einen andern, der fähig ist; den sende!“ Nun ergrimmt Gott über Mose (Ex 4,14). Allerdings geht er nicht auf Moses Aufforderung ein, sondern bietet gemäß Ex 4,14–16 eine Lösung von Moses Problem76 an. Dadurch soll nicht einfach nur Moses Defizit kaschiert, sondern Mose in einen herausgehobenen Rang gegenüber dem Volk eingesetzt werden (vgl. die Einleitung zu dieser Szene in Ex 4,1). Zugleich wird in dieser Szene und auch in Ex 7,1f. deutlich, dass Mose Gottes Worte vermittelt,77 weil er der Gesandte Gottes ist. Ex 4,16 nach dem MT lautet: Aaron „aber soll für dich zum Volk reden. Und es wird geschehen, er wird für dich zum Mund sein, und du wirst für ihn zum Gott sein (‫“) ִתּ ְהיֶ ה־לּוֹ לֵ א ִהים‬. Demnach werden Mose und Aaron zum Volk und zueinander in ein Verhältnis gestellt, in dem Mose die Rolle Gottes einnimmt und Aaron diejenige eines Propheten Gottes. Die LXX folgt dem MT im ersten Teil des Verses, gibt den letzten Teil jedoch folgendermaßen wieder: „[D]u aber sollst für ihn die Gott betreffenden Dinge sein“ (σὺ δὲ αὐτῷ ἔσῃ τὰ πρὸς τὸν θεόν). Die Wendung τὰ πρὸς τὸν θεόν ist ein Ausdruck für das, was die Gottesbeziehung betrifft.78 Vielleicht um mögliche Missverständnisse hinsichtlich der „Göttlichkeit“ Moses zu vermeiden, wird Moses Funktion im Bezug zu Aaron abweichend vom Wortlaut des MT beschrieben.79 Allerdings ist in Ex 4,16 LXX mit Blick auf das Verhältnis Moses und Aarons zum Volk, Moses Funktion als „Gott“ und Aarons vermittelnde Funktion als Prophet impliziert.80 Mit Blick auf das Gottesverhältnis Aarons wird Mose jedoch seine vermittelnde Funktion inne haben. So könnte man hier (etwas freier) 76

Vgl. Ex 4,10: „schwache Stimme und langsame Zunge“. Vgl. Ex 4,12.15. 78 Vgl. für diese und ähnliche Wendungen Ex 18,19; Dtn 1,36; 9,7.24; 31,27; Jes 3,8; Dan 4,22; WILK 2010: 75 und ebd., Anm. 124. 79 Vgl. LXX.E 2011: 283. 80 Vgl. die Rede von Aaron als „Mund“ Moses (Ex 4,16) und dem Legen der Worte Gottes in Aarons Mund durch Mose (Ex 4,15). 77

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übersetzen: „du aber sollst für ihn alles regeln, was die (sc. seine) Gottesbeziehung betrifft.“ Nicht zuletzt aufgrund dieser Funktion im Verhältnis zu Aaron, Israel und zum Pharao nimmt Mose, der Gesandte Gottes (vgl. Ex 3f.), einen hervorragenden Platz unter den für das AT und (Früh-)Judentum bedeutenden Personen ein (vgl. Ex 33,12; Num 12,6ff.; Dtn 34,10ff). Das Motiv (oder auch Problem) „Mose als Gott“ beschäftigte denn auch einige (früh-)jüdische Ausleger wie z.B. Philo.81 Wenn sich „Götter“ nach der LXX auf menschliche Richter am Höchstgericht beziehen lassen und die gemeinten „Götter“ in V.1 und in V.6 identisch sind, wie muss man dann die Verse 6 und 7 verstehen? Dass hier wahrscheinlich das Urteil über die „Götter“ ausgesprochen wird, wurde schon festgestellt. Dieses besteht aus zwei Teilen, die (durch δέ) adversativ miteinander verknüpft sind. Im ersten Teil verweist Gott auf einen früheren Ausspruch (εἶπα) von ihm selbst (vgl. das Personalpronomen ἐγώ): „Ich sprach (zwar): Götter seid ihr und Söhne des Höchsten ihr alle.“ Indem Gott die Angesprochenen „Götter“ und „Söhne des Höchsten“ nannte, setzte er – und niemand sonst – sie in ihr Richteramt ein, in welchem sie an Gottes richterlichen Tätigkeit partizipierten und den höchsten Richter auf Erden vertraten. Zugunsten dieser „performativen“ Deutung des Ausspruchs als Einsetzung in ein Amt lässt sich auf Ps 2 verweisen, auch wenn es dort nicht um das Richteramt geht: Ps 81,6: Ich (sc. Gott) sprach (εἶπα): Götter seid ihr (ἐστε) und Söhne (υἱοί) des Höchsten (seid) ihr alle Ps 2,7: Der Herr (sc. Gott) sprach (εἶπεν): mein Sohn (υἱός µου) bist (εἶ) du… Gemäß Ps 2,7 hat Gott „zu mir“, d.h. zu seinem Gesalbten (vgl. V.2) in der Vergangenheit gesagt (εἶπεν): „Mein Sohn bist (Präsens!; vgl. Ps 81,6) du; ich habe dich heute gezeugt.“ V.6 legt nahe, dass dieser Ausspruch Gottes in der Vergangenheit einen performativen Akt darstellt, der gleichbedeutend ist mit der Einsetzung des als „mein Sohn“ Angeredeten zum König, die in der Vergangenheit stattgefunden hat: „Ich bin ja von ihm eingesetzt worden als König“ (ἐγὼ δὲ κατεστάθην βασιλεὺς ὑπ᾽ αὐτοῦ). Folgt man der Deutung des Ausspruches Gottes in Ps 81,6 als Einsetzung der Richter in ihr Amt durch Gott, impliziert dies, dass Gott auch das Recht hat, die Richter ihres Amtes zu entheben, wenn dies nötig ist. Im zweiten Teil (V.7) verkündet Gott das eigentliche Strafurteil: „Aber ihr sterbt (ἀποθνῄσκετε) wie Menschen (ὡς ἄνθρωποι; Pl.; MT hat den Singular ‫) ְכּ ָא ָדם‬, und wie einer der

81

Kurz behandelt bei MEEKS 1967: 192–195; MEEKS 1976; HURTADO 1998: 56–63; THOMPSON 2001: 32–34; LIERMAN 2004: 90–102, 229–247; LIERMAN 2006: 229–231; ausführlicher HOLLADAY 1977; RUNIA 1988; BAUCKHAM 2012.

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Herrscher (εἷς τῶν ἀρχόντων)82 fallt ihr (πίπτετε).“83 Die Verben stehen im Präsens. Allerdings ist schwer vorstellbar, wie das Sterben bzw. das „Fallen“84 im Moment der Urteilsverkündung vonstatten gehen kann. Allgemeine Sterblichkeit, die hier einfach konstatiert wird, scheint durch den zweiten Teil des Parallelismus eher nicht im Blick zu sein. Deshalb ist eine, grammatikalisch durchaus mögliche, futurische Deutung des Urteils vorzuziehen.85 Mithin könnte in V.6–7 impliziert sein, dass die Richter „unsterblich“ waren. Das Urteil, wonach sie sterben werden „wie Menschen“, scheint ja nur dann sinnvoll zu sein, wenn die Verurteilten in irgendeiner Weise mit dem Gegenteil gerechnet haben, d.h. mit Unsterblichkeit. Ist „Unsterblichkeit“ vor allem ein Attribut der Götter, liegt der Grund für die Götter-Anrede der Richter bei ihrer Einsetzung auf der Hand. Ihre Absetzung zieht folglich den Verlust jener Unsterblichkeit nach sich. Damit stünden wir vor dem Problem, dass „Unsterblichkeit“ Richtern in Israel zugesprochen wird. Allerdings ist diese Interpretation nicht zwingend. Die Formulierung „sterben wie Menschen“ lässt sich, zumal in Kombination mit „fallen wie einer der Herrscher“ auch dahingehend erklären, dass den „Göttern“ ein gewaltsamer Tod angekündigt wird, wie er ganz gewöhnliche Menschen und besagte Herrscher ereilt (hat), den Richtern jedoch eigentlich erspart geblieben wäre. Auf der Art des (auch für sie unvermeidlichen) Todes läge dann der Akzent.86 Auch in Gen 2–3 spielen einige der Motive aus Ps 81 ([Nicht-]Erkenntnis, Sein wie Götter, Sterblichkeit, geöffnete Augen bzw. Wandeln in Finsternis) eine wichtige Rolle.87 Damit ist nicht gesagt, dass die Übersetzer von Ps 81 auf Gen 2–3 anspielen, wenngleich der Konnex zwischen Wissen bzw. Erkenntnis, „Unsterblichkeit“ und der Bezeichnung „Götter“ für Menschen dafür sprechen könnte. Eine Lektüre von Ps 81 im Zusammenspiel mit Gen 2–3 stellt jedoch durchaus eine Lese-Möglichkeit dar.88 Zusammenfassend kann man sagen, dass es möglich ist, die „Götter“ von Ps 81 LXX als menschliche Richter aufzufassen, die Gottes richterliche Tätigkeit stellvertretend auf Erden ausführen. Eine andere Lese-Option, die hier nur 82 Nach CORDES (2004: 205) wird hier mit εἷς τῶν ἀρχόντων ein Bezug zu Ps 82,12 hergestellt. 83 Ist dies ein Merismus (so, jedoch zum MT, TSEVAT 1969–70: 131), der ungefähr gleichbedeutend ist mit „ihr (, die ihr ungerecht richtet und dadurch selbst verurteilt werdet,) seid jedoch sterblich wie alle Menschen, vom gewöhnlichen bis zum besonderen“? 84 Ein gewaltsamer Tod scheint hier impliziert zu sein (vgl. den Bezug via Ps 82,12 zu Ri 7,25; daneben Hos 7,16 LXX). 85 Gegen CORDES 2004: 205. 86 Die Wendung „wie Menschen“ (ὡς ἄνθρωποι) taucht ähnlich in Ri 16,7.11.13.17 auf (ὡς εἷς τῶν ἀνθρώπων bzw. ὡς πάντες οἱ ἄνθρωποι). Dort wird (der Richter) Sampson hinsichtlich seiner Kraft von gewöhnlichen Menschen unterschieden. 87 Darauf macht MAIER aufmerksam (vgl. 2008: 21,27). 88 Vgl. MACHINIST 2011: 210ff.

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kurz genannt, im Zusammenhang mit Tg Ps 82 und 11Q13 aber weiter ausgeführt und belegt wird (s.u.), besteht darin, die gemeinten „Götter“ als Völkerengel zu verstehen, zumal vor dem Hintergrund der frühjüdischen Angelologie bzw. Dämonologie. In (früh-)jüdischer Vorstellung gab es eine Tradition, wonach Gott über die siebzig Völker (vgl. Gen 10) siebzig Engel (= Söhne Gottes)89 als Richter und Herrscher eingesetzt hatte in Entsprechung zu den siebzig Ältesten, die als Richter über Israel fungierten. Natürlich galten die Gebote, die für Israels Richter galten, analog auch für jene Richter-Engel. Doch die Völkerengel mit Richterfunktion erfüllten ihre Aufgabe nicht so, wie es ihnen geboten war. Schließlich werden sie zur Verantwortung gezogen werden. Die Völkerengel erscheinen in frühjüdischen Schriften als bösartig und sogar dämonisch, nicht zuletzt, weil sie in Verbindung mit dem Götzendienst der Völker stehen. In Dtn 4,19f. LXX wird Israel gewarnt: …wenn du hinaufschaust in den Himmel und die Sonne und den Mond und die Sterne und den ganzen Schmuck des Himmels (πάντα τὸν κόσµον τοῦ οὐρανοῦ) siehst, lass dich nicht verführen, wirf dich nicht vor ihnen nieder und diene nicht denen, die der Herr, dein Gott, allen Volksstämmen (ἀπένειµεν κύριος ὁ θεός σου αὐτὰ πᾶσιν τοῖς ἔθνεσιν) unter dem Himmel zugeteilt hat! Euch aber hat Gott genommen und herausgeführt aus dem eisernen Ofen, aus Ägypten, damit ihr ihm das Volk seines Erbteils (λαὸν ἔγκληρον) seid wie an diesem Tag.

Demgemäß hat Gott den Volksstämmen die Sonne, den Mond und die Sterne, also den ganzen „Schmuck des Himmels“ (πάντα τὸν κόσµον τοῦ οὐρανοῦ) zugeteilt (ist hier „als Götter“ impliziert? [vgl. auch Dtn 17,3]). Israel aber soll den Herrn als Gott anbeten, sie sind das Volk seines Erbteils (λαὸν ἔγκληρον). Eine wichtige Parallele dazu findet sich in Dtn 32,9, wonach „der Anteil des Herrn sein Volk Jakob wurde, Israel der Gebietsanteil seines Erbbesitzes (κληρονοµίας αὐτοῦ Ισραηλ)“. Ein Vers vorher war davon die Rede, dass die Grenzen der Volksstämme nach der Zahl der Söhne Gottes, d.h. wohl Engel, festgelegt wurden. Beides steht in ähnlicher Weise nebeneinander wie in Dtn 4, sodass man folgendermaßen zuordnen kann: „Gestirne / Götter / Engel – Völker“ einerseits und „Israel – der Herr“ auf der anderen Seite. Bedeutsam ist, dass die von Gott abgefallenen Engel im Frühjudentum als Sterne, die auf die Erde fielen, bezeichnet werden (s.u.; hier spielten wohl u.a. Jes 14; Ez 28 eine wichtige Rolle). Von Belang ist nun, was der Septuagintapsalter über die Götter der Völker sagt. Nach Ps 95,4f. LXX ist der Herr als Schöpfer in allen Belangen über die Götter erhaben, denn „alle Götter der Völkerschaften sind Dämonen (πάντες οἱ θεοὶ τῶν ἐθνῶν δαιµόνια [MT: ‫)] ֱא ִל ִילים‬, der Herr aber hat die Himmel gemacht“90. 89 Zu Engeln als Gottessöhnen vgl. Gen 6,2.4 (einige MSS: Engel Gottes); Ps 88,7 LXX; Weish 5,5. 90 Vgl. auch Ps 80,9ff. („Höre, mein Volk, und ich bezeuge dir feierlich: Israel, wenn du auf mich hörst [oder: hören würdest; vgl. V.11], wird [oder besser: „soll“] bei dir kein neuer Gott [θεὸς πρόσφατος] sein, und du wirst [besser: „sollst“] vor keinem fremden Gott [θεῷ

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Diese Gleichsetzung der Götter der Völker mit Dämonen findet sich auch in Dtn 32,17, wo es heißt: „Sie (sc. Israel) opferten Dämonen und nicht Gott (δαιµονίοις καὶ οὐ θεῷ), Göttern (θεοῖς), die sie nicht kannten (gemeint sind die Götter der Völker).“ Es ist klar, dass gemäß Ps 81,6 LXX „der Höchste“ (ὕψιστος) niemand anders ist als Gott selbst. Dann sind bzw. waren aber die „Götter“, die die Adressaten der Urteilsverkündigung sind, seine „Söhne“. Dies ist angesichts der im AT anzutreffenden Bezeichnung der Engel als „Söhne Gottes“91 gut mit der Deutung auf Völkerengel, die gerichtet werden, zu vereinbaren. Von einem zukünftigen Gericht über den „Schmuck“ bzw. „Ordnung des Himmels“ (τὸν κόσµον τοῦ οὐρανοῦ)92 ist auch in Jes 24,21 die Rede, zumal sich dort wie auch in Ps 81,5 LXX ein zukünftiges (anders im MT!) Erbeben der Fundamente der Erde findet (allerdings mit anderem Verb, jedoch mit ähnlicher Bedeutung).93 Zu dieser Deutung der „Götter“ im Sinne von Völkerengeln-Richter fügt sich gut das Ende des Psalms 81 LXX. Wenn Gott von Anfang an Israel als Erbteil (λαὸν ἔγκληρον bzw. κληρονοµίας αὐτοῦ Ισραηλ [Dtn 4,20 und 32,8f.]) besaß und die Engel, die über die Völker eingesetzt waren, ihres Amtes enthoben werden, dann ist verständlich, dass Gott nun ihre Aufgabe übernehmen und die Erde richten soll. Unklar ist, wie man den folgenden Kausalsatz verstehen soll und wie dieser als Basis für die Aufforderung fungiert.94 Eine weitere hier zu nennende Möglichkeit besteht darin, in den „Göttern“ Könige zu sehen, die als Stellvertreter Gottes fungieren, wenn sie das Richteramt bekleiden. So galt im Alten Vorderen Orient die Rechtspflege als spezielle ἀλλοτρίῳ] niederfallen [vgl. Dtn 32,17]. Denn ich bin der Herr, dein Gott, der dich aus dem Land Ägypten heraufführt“); Ps 134f. 91 Siehe die Anmerkung in Fußnote 89 in diesem Kapitel. 92 Es ist von der Zuordnung „siebzig Engel – siebzig Völker“ her keine Überraschung, dass Jes 24,21 das Gericht über die/den Himmelsordnung/-schmuck (MT: Heer des Himmels) im gleichen Atemzug erwähnt wie das Gericht über die Könige der Erde. 93 Vgl. Jes 24,18–20 (zur Verbindung von Ps 82,7 und Jes 24,21 vgl. MidrPss [BUBER 1891] zu Ps 82,6). 94 Wird Gott Erbbesitz erhalten? Von wem und was wird er als Erbbesitz erhalten? Oder wird Gott Erbbesitz verteilen/etwas jemandem zum Besitz geben? An wen wird er Erbbesitz verteilen? Wie ist das Präpositionalgefüge in Kombination mit dem Verb κατακληρονοµέω, das den hebräischen Text wörtlich wiedergibt, aufzufassen? Als Lokalangabe im Sinne von „unter den Völkern“? Oder handelt es sich hier um einen „Hebraismus“, und die Präpositionalphrase gibt das Objekt des Verbs an (ähnlich wie in Ez 22,16; vgl. MURAOKA 2009: 372 [Ez 22,16 ist s. E. ein „Hebraism“])? Demgemäß würde die Begründung lauten: „denn du (und niemand anderes) wirst die Völker enterben“. Impliziert wäre dann, dass ihr Besitz an jemand anderen übergeben wird (an wen? Israel?). In Dtn (vgl. u.a. 12,29; 18,14; 19,1; 31,3) sind die Völker diejenigen, die Israel „enterben“ (und ihr Land in Besitz nehmen) soll, wobei dort kein ἐν verwendet wird. Zugleich gibt Gott Israel das Land gemäß Dtn 19,14. Die Klärung dieser Fragen braucht hier nicht weiter angestrebt zu werden, da die Interpretation von Joh 10,34ff. davon nicht berührt wird.

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Aufgabe des Königs.95 Einige biblische Texte weisen auf diese Pflicht des Königs hin (vgl. u.a. Ps 45[44],7f.; 72[71],1–4.12–14; Jes 9,2–7; Jes 11,1–5; 1Sam 15,2–6; Spr 16,10). Auch dies harmoniert mit der Deutung der „Götter“ als Könige, die ihren Pflichten in der Rechtsprechung nicht angemessen nachgekommen sind (Ps 81,2ff.). Dann müsste man den Ausspruch Gottes in Ps 81,6 in Entsprechung zu Ps 2,6f, als Einsetzung der Könige in ihr Amt begreifen. Das Todesurteil fiele dann mit ihrer Absetzung in eins. Als Beleg für die Anwendung der Bezeichnung „Gott“ für einen König wurde schon Ps 44(45),7f. erwähnt. Dem sind noch zwei weitere biblische Texte hinzuzufügen, Ez 28,2 und Jes 14,14.96 Nach Ez 28,2 wurde der Herrscher von Tyros hochmütig und sagte: „Gott bin ich (θεός εἰµι ἐγώ), Gottes Wohnsitz bewohne ich im Herzen des Meeres“ (eigene Übersetzung). Darauf antwortet Gott: „du aber bist (nur) ein Mensch und nicht Gott“ (σὺ δὲ εἶ ἄνθρωπος καὶ οὐ θεὸς; Ez 28,2). Dies wird in V.9 wiederholt. Zum Beweis dessen, dass der König nicht Gott, sondern ein Mensch ist, wird dem Machthaber ein gewaltsamer Tod angekündigt (V.7ff.). Gemäß Jes 14,13f. sagte der König von Babylon97 zu sich: „In den Himmel werde ich hinaufsteigen […] ich werde hinaufsteigen über die Wolken, ich werde dem Höchsten (Gott) gleich sein (ἔσοµαι ὅµοιος τῷ ὑψίστω).“ Aus der Negation in V.20 lässt sich schließen, dass damit die Vorstellung von Unsterblichkeit verbunden war („du wirst gewiss nicht Bestand haben für alle Zeit, [du] böser Same“),98 wenngleich dies von V.21 her gesehen nicht unbedingt so aufzufassen ist, dass der König selbst ewig leben würde (stattdessen könnte es um die ewige Nachkommenschaft gehen). Dieser Selbstüberhöhung steht Gottes Wort entgegen: „Nun aber wirst du in die Unterwelt hinabsteigen und in die Fundamente der Erde“ (V.15), d.h. sterben und zwar, so macht der Kontext deutlich (vgl. V.19f.), auf gewaltsame Art. Explizit wird diese Art des Todes einem „ehrenvollen“ Tod gegenübergestellt: „Alle Könige der Völkerschaften sind in Ehren entschlafen, ein jeder in seinem Haus; du aber wirst weggeworfen auf den Bergen wie ein gräulicher Leichnam mit vielen Getöteten, von Schwertern durchbohrt, die in die Unterwelt hinabsteigen“ (V.19). Mit Blick auf Ps 81(82),8 ist auch Jes 14,21 beachtenswert: „Bereite deine Kinder zur Schlachtung wegen der Sünden deines Vaters, damit sie nicht aufstehen und die Erde als Erbe erhalten (µὴ ἀναστῶσιν καὶ τὴν γῆν κληρονοµήσωσιν) und die Erde mit Kriegen erfüllen.“ 95

Vgl. TROTTER 2012: 234. Für außerbiblische Belege vgl. TROTTER 2012: 238. Seiner Liste ist noch 4Q246 hinzuzufügen. 97 In der LXX wird dieser Text wohl auf Antiochus IV. bezogen (vgl. LXX.E z.St.). 98 Langes Leben solange „die Sonne (scheint), solange der Mond (leuchtet)“ wird nach Ps 72,5 MT für den König erbeten. Gemäß Ps 21(20),5 MT bat der König selbst um Leben und Gott gab es ihm „Länge der Tage immer und ewig“ (LXX: „Er bat dich um Leben, also hast du [es] ihm gegeben, eine Länge an Tagen von Ewigkeit zu Ewigkeit.“). 96

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Es zeigt sich aus dieser Analyse, dass die Septuaginta-Fassung des Psalms (wie schon der hebräische Text) verschiedene Deutungsmöglichkeiten lässt (Bezug auf „heidnische“ Götter oder auf Engel oder auf Richter oder auf Könige). Auch und gerade deshalb ist ein Blick in die Auslegungstraditionen erforderlich. 2.3 Targum Ps 82 Im Psalmentargum heißt es zu Ps 82: ‫ תושׁבחתא על ידא דאסף‬1 ‫אלהים שׁכינתיה שׁריא בכינשׁת צדיקין דתקיפין‬ ‫באוריתא במצע דינין דקשׁוט ידין‬

‫עד אימתי רשׁיעיא תדונון שׁקר ואפי רשׁיעיא תסבון‬2 ‫לעלמין‬ ‫דונו מסכינא ויתמא ענייא ומסכינא אצדיקו‬3 ‫שׁזיבו מסכן וחשׁוכא מן ידיהון דרשׁיעיא פצו יתהון‬4 ‫לא חכימו לאוטבא ולא איתביינו באוריתא בחשׁוכא‬5 ‫מהלכין מטול היכנא מתמוטטין ריגליהון די בססי‬ ‫ארעא‬ ‫אנא אמרית היך כמלאכיא אתון חשׁיבין והיך אנגלי‬6 ‫מרומא כולכון‬ ‫ברם בקושׁטא היך בני־נשׁא תמותון והיך חד מן‬7 ‫רברבניא תפלון‬ ‫קום יהוה דון ית כל יתבי ארעא ארום את תחסין‬8 ‫חסין בכל עממיא‬

1. A psalm by Asaph. As for God, his Shekinah dwells in the assembly of the righteous who are mighty in the Law; he judges among the judges of truth. 2. How long, O you wicked, will you judge falsely, and show partiality to the wicked? For ever? 3. Judge the poor and the orphan; vindicate the afflicted and the poor. 4. Rescue the poor and the weak; deliver them from the hands of the wicked. 5. They do not know how to do good, nor do they understand the Law; they walk about in darkness; therefore the feet of the bases of the earth are shaken. 6. I said, “You are reckoned as like the angels, and like the angels of the height, all of you; 7. but you shall surely die like the sons of men, and fall like one of the princes.” 8. Arise, O Lord, judge all the inhabitants of the earth, for you shall take possession of all the nations.

Tg Ps 82 deutet „die Versammlung Els“ und die „Götter“ bzw. „Göttlichen“ in V.1 des hebräischen Textes als „Versammlung der Gerechten“ (‫)כינשׁת צדיקין‬99, die „stark sind in der Tora“100 (vermutlich so etwas wie „die sich mit der Tora befassen und sich nach ihr richten“), bzw. als „Richter der Wahrheit“, d.h. „gerechte, der Wahrheit verpflichtete Richter“. Das Verständnis von ‫ ֱא ִהים‬als Richter ist auch für die Targumim zu Ex 21,6; 22,7f.27 belegt: 99 Dieses Syntagma kommt in Tg Ps noch in Ps 26,12; 69,28; 116,10 vor. Es ist eine Bezeichnung (unter vielen anderen) für die Menschen, die sich treu zu Gott halten, seine Gebote befolgen und mit seiner Hilfe rechnen können (vgl. STEC 2004: 7f.) 100 Vgl. Aquila z.St.: „Versammlung von Starken/Mächtigen“.

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− TgO Ex 21,6: „Then his master should bring him before the judges (‫)דינייא‬, and he should bring him near a doorway“ (so auch TgPs-J; TgN)101 − TgO Ex 22,7f.: „If the thief could not be found, then the owner of the house should be brought before the judges (‫ )דינייא‬to swear that he did not lay a hand upon what his fellowman delivered to him. In all matters of guilt concerning an ox, a donkey, a lamb, a garment, any loss whereof one says, ‚This is it,‘ the case of both shall be brought before the judges (‫ ;)דינייא‬he whom the judges (‫ )דינייא‬declare guilty, shall make recompense…“ (TgPs-J und TgN haben ebenfalls „Richter“)102 − TgO Ex 22,27: „Do not slight a judge (‫)דיינא‬, nor curse the leader of your people“; vgl. TgN: „My people, children of Israel: Do not despise your judges and do not curse the lord who is in your people“ (TgPs-J ist ähnlich) Nach dem Tg Ps 82 richtet Gott jedoch nicht die Richter, sondern er befindet sich als Richter in ihrer Mitte (ähnlich wie sich Gott nach dem MT inmitten der Elohim befindet, d.h. von ihnen umringt richtet). Die Anklage richtet sich gemäß Tg Ps 82,2 gegen „die Bösen“ (‫ ;רשׁיעיא‬diese Identifizierung fehlt im MT). Allerdings haben auch sie eine Gerichtsfunktion inne. Diese „Bösen“ richten ungerecht, sie wissen nicht, wie man Gutes tut und – dies steht in deutlichem Kontrast zu den „Gerechten, die stark sind in der Tora“ (V.1) – verstehen nicht das Gesetz bzw. die Tora (V.5). Gemäß V.6 wurden die Adressaten des Urteilsspruches früher angesehen, als wären sie wie Engel (‫)כמלאכיא‬. Mittels des Kontrastes zwischen den „Gerechten, die stark sind in der Tora“, und den „Richtern der Wahrheit“ (V.1) auf der einen und den „Bösen“, die die Tora nicht verstehen, auf der anderen Seite wird eine Unterscheidung vorgenommen, die sich so weder im MT noch in der LXX findet. Die Adressaten des Urteilsspruches sind damit nicht einfach gleichzusetzen mit der Gruppe aus V.1. Dennoch scheinen sie früher ein Teil jener Gruppe gewesen zu sein.103 Dies würde jedenfalls dazu passen, dass sie 101 Übersetzung: GROSSFELD 1988b. Vgl. die Hinweise bei GROSSFELD 1988b: 59, Anm. 4 (Mek Nezikin 2 deutet das Vor-Gott-Bringen explizit als Zum-Gericht-Bringen; TgKG z.St.: „Eingang des Gerichts“). 102 Vgl. den Hinweis bei GROSSFELD 1988b: 63 u.a. auf bSanh 66a (‫ ֱא ִהים‬ist hier eindeutig als „Richter“ verstanden). Aber auch Philo, spec. IV 34 (darauf machen MCNAMARA/HAYWARD 1994: 95, Anm. 4 aufmerksam) ist beachtenswert: „Wenn sie aber nicht gefunden werden, so trete der Empfänger (des Pfandes) aus freien Stücken vor das göttliche Gericht (εἰς τὸ θεῖον δικαστήριον), und schwöre, die Hände zum Himmel erhebend, bei seinem Wohlergehen…“ 103 Denkbar wäre auch, dass sich V.6f. nach Tg Ps 82 überhaupt nicht auf die „Bösen“ aus V.2–5 bezieht. Dann gäbe es zwei Gruppen, die im Psalm angesprochen werden, neben derjenigen, in der sich Gottes Schekinah aufhält: V.1: Versammlung der Gerechten, die stark sind in der Tora, Richter der Wahrheit; V.2–5 die Bösen, die gerecht richten und aus den Händen der Bösen retten sollen; V.6–7: „ihr alle“. Doch welche Verbindung bestünde dann zwischen den jeweiligen Gruppen?

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„wie Engel“ angesehen waren. Der Urteilsspruch lautet schließlich: „Aber tatsächlich werdet ihr sterben wie die Söhne der Menschen (‫ )בני־נשׁא‬und fallen wie einer der Obersten (‫)רברבניא‬.“ Waren die „Bösen“ also vor diesem Urteilsspruch unsterblich? Oder hielten sie sich für unsterblich aufgrund ihrer erhabenen Position? Wird ihre Hybris aufgedeckt und bestraft durch einen gewaltsamen Tod, der zugleich den Verlust ihres Status mit sich bringt? Das Angesehen-Sein der „Bösen“ wie Engel erinnert an TgO Ex 24,11.104 Gemäß TgO Ex 24,9–11 befanden sich die Anführer bzw. Repräsentanten Israels (und damit auch das Volk Israel), als sie die Herrlichkeit Gottes sahen, im himmlischen Heiligtum. Dann heißt es in V.11, dass sie sich über ihre Opfer freuten, „als ob sie aßen und tranken“ (ähnlich TgN). In TgN und TgPs-J Gen 18,8; TgPs-J Gen 19,3 wird auch von Engeln gesagt, dass es nur so erscheint, als würden sie essen. Folglich waren die Anführer Israels, als sie sich im himmlischen Heiligtum befanden, wo die Engel Gott dienen, wie jene Engel. Nach Ex 24,1.9 MT bestand die besagte Gruppe aus Mose und Aaron, Nadab und Abihu und siebzig von den Ältesten Israels, die auf den Berg hinaufgehen durften (V.9–11). Wer aber waren diese siebzig von den Ältesten Israels bzw. „weisen Männer“ (so TgN z.St.)105? Klar ist, dass die siebzig von den Ältesten Israels „act as representatives of the people and, as a consecrated throng, are worthy of entering into contact with a holy, perfect God“106. Nach der in Ex 24,9–11 erzählten Begebenheit soll Mose (noch weiter oder erneut) auf den Berg hinaufsteigen, um die Tora zu empfangen. Diesmal lässt er die Ältesten Israels (ob der Kreis der siebzig gemeint ist oder ein größerer, ist nicht klar) unten am Berg und teilt ihnen gemäß dem MT Folgendes mit: „(Wartet hier auf uns, bis wir zu euch zurückkehren!) Siehe, Aaron und Hur sind ja bei euch: Wer eine Rechtssache (‫ ; ְדּ ָב ִרים‬vgl. Ex 18,16.22.26) hat, trete zu ihnen!“ Dadurch wird für den Fall vorgesorgt, dass Mose eine längere Zeit nicht da sein wird. Seine Funktion wird nun von Aaron als dem Hohepriester und Hur übernommen. Die LXX gibt dies folgendermaßen wieder: „Und siehe, Aaron 104

S. Haupttext bei Fußnote 159 im 3. Kapitel. Beachtenswert ist, dass die LXX ἑβδοµήκοντα τῆς γερουσίας Ισραηλ hat (Ex 24,9; in 24,1 und 24,14 ist dagegen nur von „siebzig von den Ältesten Israels“ [ἑβδοµήκοντα τῶν πρεσβυτέρων Ισραηλ] bzw. einfach von den „Ältesten“ [τοῖς πρεσβυτέροις] die Rede). SCHÜRER (1979: 202) schreibt dazu: „In Judaea […] there existed in the Greek period an aristocratic council, a γερουσία. […] The decisive authority in this supreme court lay without doubt in the hands of the priests“; vgl. auch DORIVAL 1996: 535: „la γερουσία est une institution politique bien attestée dans le vocabulaire politique grec pour designer une forme de gouvernement par les plus âgés“; JOSEPHUS, Ant. IV 218 (Demnach gibt es schwierige Rechtsfälle, die in die heilige Stadt gesandt werden sollen vor ein Gremium bestehend aus dem Hohepriester [ὁ ἀρχιερεύς], dem Propheten [ὁ προφήτης] und der Ältestenschaft [ἡ γερουσία], welches sein Urteil abgeben soll). 106 HOUTMAN 1993: 67. 105

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und Hor sind bei euch. Wenn bei jemandem ein Rechtsfall eintritt (ἐάν τινι συµβῇ κρίσις), mag er zu ihnen gehen.“ Folglich sind Aaron und Hur die oberste Gerichtsinstanz in Moses Abwesenheit. TgPs-J Ex 24,14 stimmt mit der LXX darin überein, dass es hier um einen juristischen Fall geht, doch soll man dann dem Tg zufolge zu den Ältesten kommen.107 Dies lässt darauf schließen, dass die Ältesten sowohl als Repräsentanten als auch als Richter angesehen wurden. Doch auch im MT und in der LXX kann man diesen Vers vor dem Hintergrund von Ex 18 (Einsetzung der Richter Israels) so verstehen, dass die Ältesten als Richter fungierten, die die schwierigen Fälle zum Hohepriester Aaron und zu Hur weiterleiten sollten, solange Mose abwesend war.108 Folglich können die siebzig von den Ältesten (= Richtern) Israels, die in das himmlische Heiligtum hineingehen durften (Ex 24,9–11), als Richter aufgefasst werden,109 die wie Engel waren. In diese Richtung weist auch Mek Amalek 4 zu Ex 18,18 („Du reibst dich auf, sowohl du als auch dieses Volk, das bei dir ist…“): Auch du: Du ist Mose, auch bezieht sich auf Aaron. Und dieses Volk, das bei dir ist: Das sind die siebzig Ältesten – Worte des Rabbi Jehoshua‘. Rabbi El‘azar von Modi‘in sagt: Du ist Mose, auch bezieht sich auf Aaron, Nadab und Abihu. Und dieses Volk, das bei dir ist: Das sind die siebzig Ältesten.110

Im Kontext von Ex 18,18 geht es um die Einsetzung zusätzlicher Richter, um das oberste Gericht, bestehend aus Mose und, nach Mek, auch aus Aaron bzw. Nadab und Abihu und den siebzig Ältesten, zu entlasten, sodass diese sich nur noch um die wichtigeren Angelegenheiten kümmern müssen (vgl. Mek Amalek zu Ex 18,23; TgPs-J Ex 18,23). Bemerkenswert ist dabei, dass die Priester Aaron, Nadab und Abihu sowie die siebzig Ältesten in Ex 18,13–27 MT im Zusammenhang mit dem Gericht keine Erwähnung finden (im MT erst in Ex 24). In Mek wird also jene Gruppe in Ex 24 mit dem obersten Gericht identifiziert. Ein weiterer Grund dafür, dass die siebzig von den Ältesten-Richtern (das oberste Gericht) gleichwie Engel galten, könnte darin liegen, dass in atl.-frühjüdischer Vorstellung ein Konnex besteht zwischen diesem obersten Gericht Israels und dem himmlischem Thronrat, der sich zusammensetzt aus himmlischen Wesen (den Engeln) und Gott als dem Herrscher und „Vorsitzenden“ bzw. obersten Richter (vgl. u.a. 1Kön 22,5–28 [besonders 19–28]; Hi 1,6; 2,1; Ps 89,6–8; Jes 6,1–12; 40,1–8; Jer 23,18; Sach 3,1–10; vgl. auch Gen 1,26; 107 „Und er sagte zu den Ältesten: ‚Wartet hier auf uns bis wir zu euch zurückkehren. Aaron, und Hur sind ja bei euch. Wenn jemand eine Rechtsangelegenheit hat, soll er zu euch (ed. pr. „zu ihnen“) kommen.‘“ 108 Vgl. PHILO, QE II 44. 109 Vgl. mSanh 1,6. 110 Text: LAUTERBACH 2004; Übersetzung: STEMBERGER 2010a; Vgl. auch TgPs-J Ex 18,18.

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3,22; 11,7)111. Nach Dtn 32,8 gemäß LXX und 4QDeutj Kol. XII entspricht die Zahl der Völkergrenzen der Zahl der „Söhne Gottes“. Die Zahl der Völker, die von Noahs Söhnen abstammten und die Gott über die ganze Erde zerstreute (vgl. Dtn 32,8 mit Gen 9,19; 11,8), beträgt siebzig (vgl. Gen 10). Daraus lässt sich schlussfolgern, dass der himmlische Thronrat aus siebzig Engeln bestand.112 Diese Schlussfolgerung wird gestützt durch TgPs-J Dtn 32,8 (vgl. auch 1Hen 89,59; 90,21ff. ): When the Most High gave the world as an inheritance to the peoples who came from the sons of Noah, when he divided the writings and languages among mankind, in the generation of the division, at that time, he cast lots on seventy angels, the leaders of nations, with whom it was revealed to see the city [Babel]; and at that time he established the borders of the nations according to the sum of the number of the seventy souls of Israel who went down to Egypt.113

Demnach gab es siebzig Engel, denen als „the leaders of [the] nations“ die siebzig Völker zugeteilt wurden. Die Zahl siebzig stimmt auch überein mit der Anzahl der Söhne Israels, die nach Ägypten kamen (somit bietet TgPs-J eine Art Kombination aus LXX und MT). Der himmlische Thronrat war aber auch ein Gerichtsrat; die siebzig Engel mithin Richter über die siebzig Nationen. Dies fügt sich gut zum Richterkollegium der siebzig Ältesten, die über Israel richten. Baumgarten resümiert daher: „This ancient tradition concerning the celestial court thus served as a prototype for the quorum of the elders of Moses and the Great Sanhedrin.“114 Lassen sich die wie Engel geltenden „Bösen“ aus Tg Ps 82,6 mit den siebzig von den Ältesten-Richtern Israels identifizieren, die auf dem Sinai wie Engel waren, stellt sich die Frage, woher ersichtlich ist, dass die siebzig Richter von den Ältesten-Richtern Israels in der Wüste gestorben sind? Zum einen kann man sich auf Num 14,29 berufen, wonach alle Israeliten, die älter als 20 Jahre waren, also auch die Ältesten, in der Wüste sterben mussten. Zum anderen könnte die über den MT hinausgehende Identifizierung der Angeklagten als „ihr Bösen (‫( “)רשׁיעיא‬Tg Ps 82,2) einen Hinweis enthalten. Zwar kommt diese Anrede innerhalb von Tg Ps mehrmals vor (z.B. in 1,1.4.6; 9,17ff.; 16,4), oft mit Bezug auf „Heiden“. Doch in TgPs-J Ex–Dtn wird diese Bezeichnung häufiger gebraucht, um eine Unterscheidung zwischen den „Bösen“ des Volkes und dem Gott treuen Teil des Volkes Israels vorzunehmen (vgl. TgPs-J Ex 10,23; 14,11; 16,27; 17,2; 32,19; 33,8; Num 11,1.8.33; 16,34; 21,30; 26,10; Dtn 1,26).115 Die „Bösen“ bzw. die Mitglieder der „bösen Versammlung“ mussten demnach in der Wüste sterben.116 Die „Bösen unter dem Volk“ begegnen auch in TgPs-J Num 11,1: 111

Vgl. CROSS 1973: 186–90. Vgl. BAUMGARTEN 1976: 68. 113 Übersetzung: CLARKE 1998: 90. 114 BAUMGARTEN 1976: 68. Für zusätzliche Evidenz s. BAUMGARTEN 1976: 70. 115 Vgl. CLARKE 1995: 217, Anm. 1: „HT [= Hebrew Text] ‚the people‘ is understood as ‚the wicked ones‘ as a number of biblical passages suggest (Exod 17:4, Num 14:11; etc.), but ‚my people,‘ by contrast, refers not to people in general but only to ‚the suitable ones.‘ Ps.-J. is the only Targum to adopt this distribution.“ 116 Vgl. TgPs-J Num 14,27.29; TgPs-J Dtn 30,15. 112

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„But the wicked among the people (‫)רשׁיעי עמא‬, like ones being troubled, were devising and speaking evil before the Lord; and it was heard before the Lord, so his anger increased and a consuming fire was kindled against them from before the Lord and destroyed some of the wicked ones who were on the outskirts of the camp, those of the house of Dan with whom there was an idol.“ Hier scheinen die „Bösen“ identisch zu sein mit denen von „dem Haus Dans, bei denen sich ein Götze befand“. Allerdings hat die erneute Berufung von siebzig Ältesten in Num 11 die Frage aufgeworfen, was mit den anderen siebzig (vgl. Ex 24) geschehen sei. Ginzberg zufolge gab es daher eine jüdische Deutung von Num 11,1, wonach die erste Gruppe der siebzig Ältesten unter den „Bösen“ waren, die nach Num 11 vom Feuer verzehrt wurden (in Analogie zu Nadab und Abihu, die ebenfalls das Privileg der Gotteschau hatten und gemäß Lev 10,1f. durch ein verzehrendes Feuer umkamen).117

Allerdings ist angesichts der rabbinischen Auslegungstradition (dazu gleich mehr) denkbar, dass in Tg Ps 82,6–7 kein Bezug auf die Ältesten-Richter vorliegt, sondern auf Israel am Sinai angespielt wird. Jedoch ist in Betracht zu ziehen, dass dies aus jüdischer Sicht gar keine Alternative darstellen muss, da die Ältesten-Richter Israel repräsentieren. 2.4 (Früh-)jüdische Auslegungstraditionen zu Ps 82 Eine frühjüdische Interpretation von Ps 82,1f. findet sich in einem der Texte vom Toten Meer, nämlich 11Q13 Kol. II, Z. 9–14: 9 das ist die Zeit des Jahres des Wohlgefallens (Jes 61,2) für Melchisedek und zu erhöhe[n durch das Gerich]t (?) die Heiligen Gottes für die Gerichtsherrschaft, wie es geschrieben ist 10 über ihn in den Liedern Davids, der gesagt hat. Gott [‫[ ]אלהים‬st]eht in der [Gottes [‫]]אל‬ver[sammlung,] inmitten von Göttern [‫ ]אלהים‬richtet er. (Ps 82,1) und über ihn hat er ge[sagt: Und] 11 kehre zurück über sie zur Höhe, Gott (‫ ;אל‬MT: ‫ ) ְיהוָ ה‬wird die Völker richten (Ps 7,8–9) Und wenn es hei[ßt: Wie lange noch wollt ihr] ungerecht richten und Partei er[greifen] für die Frevler? [Se]la, (Ps 82,2) 12 so bezieht sich seine Deutung auf Belial und auf die Geister seines Loses, di[e die Widerspensti]gen [waren, sie alle], indem sie abwichen von den Vorschriften Gottes, um [frevelhaft zu handeln.] 13 Aber Melchisedek wird die Rache der Gerichte Got[tes] nehmen [an diesem Tag, und er wird sie en]t[reißen aus der Hand] Belials und aus der Hand aller Gei[ster seines Loses.] 14 Und ihm zu Hilfe sind alle Götter

117 GINZBERG 2003: 695: „The sad predicament of Moses on this occasion is partly traceable to the fact that he had to face alone the murmurs and complaints of the people without the accustomed assistance of the seventy elders. Since the exodus from Egypt the seventy elders of the people had always been at his side, but these had recently been killed by the fire from heaven at Taberah, so that he now stood all alone. This death overtook the elders because like Nadab and Abihu they had not shown sufficient reverence in ascending Mount Sinai on the day of the revelation, when, in view of the Divine vision, they conducted themselves in an unseemly manner. Like Nadab and Abihu the elders would have received instantaneous punishment for their offense, had not God been unwilling to spoil the joyful day of the revelation by their death. But they had to pay the penalty nevertheless: Nadab and Abihu, by being burned at the consecration of the Tabernacle, and the elders similarly, at Taberah.“ Für die Belege vgl. GINZBERG 2003: 693, Anm. 462.

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(‫[ )אלי‬der Gerechtigkeit, (Jes 61,3) und] er ist es, d[er an diesem Tag stehen wird über] allen Söhnen Gottes, und er wird dieser [Rats]versammlung vor[sitzen].118

Gemäß diesem bruchstückhaften Text führt Melchisedek, eventuell eine überirdische Gestalt119, unter Mithilfe aller „Götter“ (‫ ;אלי‬Z.14) im endzeitlichen „Jahr des Wohlgefallens“ (Z.9) das Gericht Gottes über die Völker aus (Z.11). Dabei werden „Belial und die Geister seines Loses“, das sind „di[e die Widerspensti]gen [waren, sie alle], indem sie abwichen von den Vorschriften Gottes, um [frevelhaft zu handeln.]“ (Z.12), zur Rechenschaft gezogen. Dadurch werden die Völker einerseits und „Belial und die Geister seines Loses“ andererseits einander zugeordnet. „Belial“ ist nach Dimant „the archdemon […], leader of the forces of darkness“120. Diese Vorstellung von bösen übermenschlichen Wesen steht wahrscheinlich in einem Konnex mit der frühjüdischen Tradition (im NT ebenfalls bezeugt [vgl. 2Petr 2,4]) von den „Wächtern“ bzw. „abgefallenen Engeln“.121 In 1Hen 6ff. (vgl. auch 1Hen 86ff.) findet sich eine solche Tradition zum Abfall der Engel (dort bezeichnet als „Sterne“, die sich zu „Bullen“ verwandeln) im Anschluss an Gen 6,1–4122. In 1Hen 89,59f. ist dann Folgendes zu lesen: 59 Und er rief siebzig Hirten (oder genauer: Führer123; vgl. TgPs-J Dtn 32,8) und verstieß jene Schafe, dass sie sie weideten, und er sprach zu den Hirten und ihren Begleitern: „Jeder einzelne von euch soll von jetzt an die Schafe weiden, und tut alles, was ich euch befehlen werde! 60 Und ich werde sie euch nach der Zahl übergeben und werde euch sagen, wer von ihnen umgebracht werden soll – diese sollt ihr umbringen!“ Und er übergab ihnen die Schafe.124

Demnach hatte Gott nach der Zerstörung des ersten Tempels siebzig Engel125 ausgestattet mit Macht über Israel, um eine genau festgelegte Zahl der „Schafe“ zu töten bzw. töten zu lassen.126 Allerdings führen diese Völkerengel Gottes Befehl nicht korrekt aus und verfolgen Israel (vgl. u.a. 1Hen 89,65). Deshalb 118

Text und Übersetzung: STEUDEL 2001: 179ff. So MAIER 2008: 16. 120 DIMANT 2011: 236. 121 Vgl. COLLINS 1999: 893–895; AUFFAHRT/STUCKENBRUCK 2004 (darin besonders den Aufsatz von Stuckenbruck). 122 Zur frühjüdischen Rezeption von Gen 6,1–4 liegt die Monographie von WRIGHT 2003 vor. 123 Vgl. UHLIG 1984: 693, Anm. 59b. 124 Übersetzung: UHLIG 1984. 125 So auch UHLIG 1984: 693, Anm. 59b. Auch TestNaph 9 erwähnt die Völkerengel: Die siebzig Völker werden aufgefordert, sich Engel zu erwählen, die sie verehren wollen und die ihre Mittler bei Gott sein sollen (man beachte, dass die Engel, die zur Klasse der „Wächter“ gehören [ähnlich der Erzengel], nach 1Hen 15,2 bei Gott Fürbitte für die Menschen leisten sollen; vgl. WRIGHT 2003: 100f.). 126 BAMBERGER u.a. 2007: 156. 119

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werden sie gerichtet, nachdem die abgefallenen Engel („der erste Stern und die anderen Sterne“) in das Feuer geworfen wurden (1Hen 90,21ff. ) – somit erscheinen die siebzig Völkerengel als von den „Wächtern“ unterschiedene Engel: 21 Und der Herr rief jene sieben ersten weißen Männer, und er befahl, dass sie (alle) vor ihn bringen sollten, von dem ersten Stern an, der jenen Sternen vorausgegangen war, deren Schamglieder wie die Schamglieder der Rosse (waren), und den ersten Stern, der zuerst gefallen war. Und sie brachten sie alle vor ihn. 22 Und er sprach zu jenem Mann, der vor ihm schrieb, der einer von jenen sieben Weißen war, und er sprach zu ihm: „Ergreife diese siebzig Hirten, denen ich die Schafe übergeben hatte und die, indem sie sie nahmen, mehr töteten, als ich ihnen befohlen hatte.“ 23 Und siehe, ich sah sie alle gebunden, und sie standen alle vor ihm. 24 Und das Gericht fand zuerst über die Sterne statt, und sie wurden gerichtet und als Sünder (befunden) und kamen an den Ort des Gerichts (= der Verurteilung), und man warf sie in eine Tiefe, voll von Feuer und flammend, und voll von Feuersäulen. 25 Und jene siebzig Hirten wurden gerichtet und als Sünder (befunden), und sie wurden in diese Feuertiefe geworden.

Etwas anders scheint der Konnex in 11Q13 zu sein. Infolge der Verknüpfung der Nationen mit „Belial und den Geistern seines Loses“ in 11Q13 kann man annehmen, dass Letztere identisch sind oder zumindest in einem engen Zusammenhang stehen mit den (siebzig) Engeln, die den Nationen zugeteilt wurden (vgl. Dtn 4,19; 32,8 nach LXX und 4QDeutj Kol. XII; Dan 10,13.20; 12,1 u.a.).127 Nun ist bemerkenswert, dass jene Gruppe um „Belial“ als die Adressaten von Ps 82,2 angesehen wird. Das bedeutet, dass jene Wesen als zuständig für die Völker und als deren Richter galten, die jedoch versagt haben. Damit vergleiche man Jub 4,15: „…Und er nannte seinen Namen Jared. Denn in seinen Tagen stiegen herab die Engel des Herrn auf die Erde, welche Wächter heißen, dass sie lehrten die Menschenkinder und dass sie täten Recht und Ordnung auf Erden.“ Demnach bestand eine Aufgabe der „Wächter“ darin, auf die Erde zu kommen und die Völker Recht zu lehren. Doch die „Wächter“ „sündigten mit den Töchtern der Menschen“ (Jub 4,22; vgl. Jub 5); aus dieser Liaison entstanden die „Riesen“. Nach Jub 5,6 wurden die abgefallenen „Wächter“ von anderen Engeln im Auftrag Gottes gefesselt und in den Abgrund der Erde gesperrt, wo sie auf ihr Gericht warten (Jub 5,10). Trotz alledem sind der „Fürst der Geister, Mastema,“ und ein Teil der Geister (der Riesen), deren Väter die Wächter sind, noch aktiv und „stiften Verderben“ (Jub 10,5.8f. ). 11Q13 stellt eine Art Mischung und/oder Entwicklung der Tradition der siebzig Völkerengel aus 1Hen und der Tradition der „Wächter“ (Jub 4,15) dar. Es scheint mithin plausibel, dass im Zitat von Ps 82,1 die ‫ אלהים‬als eben jene Völkerengel angesehen werden,128 die von Melchisedek gerichtet werden (vgl. 11Q13 III,7, wonach Belial durch Feuer vertilgt wird). Ist dem so, dann ist es 127 128

Vgl. Jub 15,31f. So jedenfalls EMERTON 1966: 401.

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naheliegend, dass Ps 82,6 von dem Autor von 11Q13 auch auf die Völkerengel bezogen wurde.129 Schwieriger zu beantworten ist die Frage, ob nach Z.10 Gott oder Melchisedek als der Referent von ‫ אלהים‬in Ps 82,1 gilt, über den in den „Liedern Davids geschrieben ist“. Wenn Letzteres der Fall wäre, wäre nach dem Verständnis des Autors bzw. der Autoren von 11Q13 in Ps 82 ein Engel oder ein Mensch mit diesem Status, Melchisedek, der Ankläger der abgefallenen Engel und der Sprecher, der in der Thronratsversammlung Gottes steht.130 Wie dem auch sein mag, deutlich ist, dass sich das Geschehen, über das Ps 82 redet, gemäß 11Q13 auf einer übermenschlichen Ebene abspielt und die Protagonisten wohl irdische Wesen sind. Rabbinische Deutungen weisen eine zweigleisige Auslegung des Psalms 82 auf: Ps 82,1–5 wird mit Bezug auf menschliche Richter und vor dem Hintergrund der entsprechenden Richtergebote gedeutet wie z.B. im MidrPss zu Ps 82,1.131 Ps 82,6f. liest man oft als narrative Abbreviatur der Geschichte von Israels Sinaiaufenthalt; diese wird teilweise explizit mit der Paradieserzählung verknüpft, teilweise könnte diese Verbindung implizit vorhanden sein.132 In Mek Bachodesch 9 zu Ex 20,19ff. heißt es: Rabbi Jose [ben Chalafta, ein Tannait der dritten Generation, d.h. ca. Mitte des 2. Jahrhunderts n. Chr.133] sagt: Unter dieser Bedingung standen die Israeliten vor dem Berg Sinai, nämlich unter der Bedingung, dass der Todesengel nicht über sie herrsche. Es heißt ja: „Wohl habe ich gesagt: Ihr seid Götter“ (Ps 82,6) usw. Doch habt ihr eure Werke (‫ )מעשׂיכם‬verdorben; „daher sollt ihr sterben wie Menschen (‫( “)כאדם‬Ps 82,7).134

Gemäß Rabbi Jose bezieht sich Ps 82,7 auf das Urteil Gottes, nachdem die Israeliten „ihre Werke verdorben“ hatten; infolgedessen mussten sie sterben ‫כאדם‬.135 Mit dem „Verderben der Werke“ dürfte auf die Episode mit dem goldenen Kalb (Ex 32) angespielt sein (vgl. die Targumim zu Ex 32,7). Aber bevor sie ihre „Werke verdorben hatten“, standen sie unter der Bedingung vor dem Berg Sinai (zum Empfang der Tora), dass der Todesengel keine Macht über sie hatte. Es ist nicht ganz klar, ob das impliziert, dass die Israeliten schon 129

Vgl. EMERTON 1966: 401. Vgl. HORTON 1976: 74f. 131 Vgl. auch Mek Bachodesch 11 (zuvor wird Ps 82,1 sogar auf eine Versammlung von zehn Personen zu einer Synagoge bezogen). 132 Vgl. KAMINSKY 2000: 18 (er nennt und bespricht noch mehr Texte als die, die im Folgenden zur Sprache kommen [vgl. auch NEYREY 1989]. Für meine Belange sind die zitierten Passagen ausreichend). 133 Vgl. STEMBERGER 1992: 85. 134 Text: LAUTERBACH 2004; Übersetzung: STEMBERGER 2010a: 290f. 135 R. Jose folgt damit einer schon im Abschnitt zur Rezeption der Sinaitradition in Joh 5 deutlich gewordenen Tendenz, einige Psalmen mit Episoden aus Israels erinnerter Geschichte zu verbinden. Zugleich wird dadurch eine potenziell „polytheistische“ Interpretation ausgeschlossen. 130

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5. Kapitel: Die Rezeption der Sinaitradition in Joh 10,34ff.

mit der Annahme der Tora die Unsterblichkeit besaßen (die sie dann kurze Zeit später wieder verloren hatten), oder ob das bedeutet, dass Israel die Unsterblichkeit hätte erreichen können, wenn sie die Tora eingehalten hätten. Ebenfalls etwas ambivalent ist,136 ob R. Jose in dem Vergleich „Sterben ‫( “כאדם‬Ps 82,7) einen Bezug zu Adams Schicksal nach dem „Sündenfall“ sieht oder nicht. In der jüdischen Auslegung wurden die Sinaierzählung und die Paradiesgeschichte jedenfalls auch unabhängig von Ps 82,6f. miteinander verknüpft.137 Folglich konnte die Wendung „ihr werdet sterben ‫ “כאדם‬in Ps 82,7 als Hinweis auf Israels Schicksal nach ihrem Götzendienst angesehen werden, das in Entsprechung zu Adams Schicksal nach dem „Sündenfall“ stand. Zumindest spätere Auslegungen stellen diesen Konnex explizit her, der hier vielleicht implizit vorliegen mag. So liest man in ExR 32 zu Ex 23,20 Folgendes: Siehe, ich sende einen Engel. In Verbindung mit Ps. 82,6: „Ich sprach: Ihr seid Götter.“ Hätten die Israeliten auf Mose in Geduld gewartet und nicht jene That (das Kalb) begangen, so hätte keine Regierung auch nicht der Todesengel über sie Gewalt gewonnen. So heisst es auch Ex 32,16: „Und die Schrift war Gottes Schrift gegraben auf die Tafeln.“ Was heisst ‫ ?חרות‬R. Jehuda und R. Nechemja sind darüber verschiedener Meinung. Nach R. Jehuda bedeutet es: frei von (den Lasten) der Regierung, nach R. Nechemja dagegen: frei vom Todesengel. Denn als die Israeliten sprachen: „Alles, was der Ewige gesprochen, wollen wir thun und gehorchen,“ [Ex 24,7] da sprach Gott: Dem ersten Menschen hatte ich nur ein Gebot gegeben, hätte er es gehalten, so hätte ich ihn den Dienstengeln gleich gemacht, wie es heißt Gen. 3,22: „Siehe, der Mensch ist geworden wie einer von uns,“ die Israeliten dagegen, welche 613 Gebote und Verbote halten, […] ist es da nicht billig, dass sie leben und ewig fortbestehen! So heisst es auch Num. 21,19: Von Mathana Nachaliel’ d.i. durch das göttliche Erbtheil [die Tora] hatten sie Leben und ewigen Bestand erlangt, als sie aber sprachen: „Dies sind deine Götter, Israel,“ [Ex 32,4] da kam der Tod über sie. Ihr schlagt in die Fusstapfen des ersten Menschen ein, sprach Gott, welcher nicht drei Stunden in der Versuchung bestand und in der neunten Stunde wurde schon der Tod über ihn verhängt: „ich sprach: Götter seid ihr,“ allein ihr geht in den Eigenschaften des ersten Menschen, darum sollt ihr wie Adam sterben. Was heißt das Ps. 82,7: „Wie einer der Fürsten sollt ihr fallen?“ R. Jehuda sagt: Entweder wie Adam oder wie Eva.138

Diesem Text zufolge hätte der Todesengel139 dauerhaft keine Macht über Israel gehabt, wenn sie nach der Bekundung ihrer Absicht zum Gehorsam gegenüber den Worten Gottes (Ex 24,7) „jene Tat (das Kalb) nicht begangen“ hätten (dem 136

Nach NEYREY hat die Kürze und Dichte dieser Passage (darin ähnelt sie Joh 10,34ff.) damit zu tun, dass sie „reflects a very common tradition which is presumably well known. Not all of the elements of the midrash, moreover, need be explicitly mentioned when the Psalm is interpreted, for midrash is like an iceberg. As much is implied as is visible“ (1989: 658f.). 137 Dazu KAMINSKY 2000: 21ff. 138 Übersetzung: WÜNSCHE 1882: 250f. 139 Der Engel, den Gott senden würde, wird hier mit dem Todesengel identifiziert; vgl. Ex 23,20 mit 33,1–3 (vgl. KAMINSKY 2000: 22).

2. Digression

401

entspricht: „ihr verdarbt eure Werke und spracht zum Kalbe: ‚Dies sind deine Götter, Israel!‘“). Adam und Israel sollten durch Gottes Gebote ewig leben und in dieser Hinsicht den Engeln („Götter“) und Gott gleich sein.140 Doch auch darin ähneln die Israeliten Adam, dass sie das Gebot bzw. die 613 Gebote Gottes, die sie zuvor gehalten hatten, nun übertreten und sich den Götzen zugewandt hatten. Infolgedessen mussten sie sterben. Diese ihre „geistlichen“ Stationen (Gesetzgebung – Ewiges Leben – Tod [durch Sünde]) spiegeln sich gemäß der obigen Auslegung in den Reisenotizen in Num 21,19 wider.141 ExR zufolge konnte der Anteil an der Unsterblichkeit, die Gott und den Engeln eigen ist, unter der Voraussetzung des Gehorsams dauerhafter „Besitz“ Israels sein.142 Allerdings gibt es auch die Meinung, wonach ‫ חרות‬nicht Freiheit vom Todesengel, sondern Freiheit von den Regierungen bedeutet. Doch darauf wird nicht weiter eingegangen; stattdessen wird die Parallele zwischen Adams und Israels Unsterblichkeit und Todesverfallenheit dargelegt. Interessant ist, dass unmittelbar vor dem oben angeführten Ausspruch R. Joses in Mek Bachodesch 9 eine andere Meinung anonymer Herkunft zitiert wird, die auch in ExR 32 zu Ex 23,20 angeklungen war: „‚Möchten sie doch diese Gesinnung behalten‘ [Dtn 5,29] usw. Wenn es möglich wäre, den Todesengel zu beseitigen, hätte ich ihn beseitigt. Doch dieser Beschluss ist längst gefasst worden.“ Diese Ansicht scheint derjenigen von R. Jose zu widersprechen. Zwar hat Gott sich darüber gefreut, dass Israel die Bereitschaft an den Tag legte, die Tora anzunehmen und zu halten (vgl. Dtn 5,29). Infolgedessen hätte er ihnen gerne die Unsterblichkeit gegeben. Doch konnte Gott den (wohl seinen eigenen) Beschluss hinsichtlich der auch die Israeliten einschließenden Herrschaft des Todesengels nicht aufheben, da er schon längst gefasst worden war. Mit der Sünde Israels hat dies wohl nichts zu tun. „An dieser Stelle dürfte in der Tat die Paradiesgeschichte im Hintergrund stehen, auch wenn nicht eindeutig auf sie angespielt wird.“143 Da das Interesse offensichtlich woanders liegt, wird leider nicht gesagt, wie der Ausspruch Gottes „Ich habe gesagt: Götter seid ihr“ (Ps 82,6) aus Sicht dieser Autorität zu verstehen ist, wenn er sich schon nicht auf Unsterblichkeit bezieht. Im babylonischen Talmud (Traktat AZ 5a) kommen u.a. ebenfalls diese zwei Meinungen zur Sprache.144 Eine zuvor gemachte Aussage R. Simeon ben Laqischs (bzw. einfach Resch Laqisch, ein Ammoräer der zweiten Generation) über Israel am Sinai wird weiter ausgeführt. Dann werden verschiedene Gegenargumente zu seiner Deutung genannt: „Demnach ist anzunehmen, dass wenn sie [sc. die Israeliten] nicht gesündigt hätten, sie nicht gestorben sein 140

Vgl. NumR 16 zu Num 14,27. Ausführlicher diskutiert bei KAMINSKY 2000: 23. 142 Vgl. KAMINSKY 2000: 23. 143 LICHTENBERGER 2004: 236. 144 Text und Übersetzung: GOLDSCHMIDT 1903: 809ff. 141

402

5. Kapitel: Die Rezeption der Sinaitradition in Joh 10,34ff.

würden, es sind ja aber Abschnitte über die Leviratsehe und Abschnitte über das Erbgesetz vorhanden!?“, was die Tatsache des Todes von Israeliten voraussetzt. Die Vertreter der einen Position meinen, dass diese Verse „wegen der Eventualität geschrieben sind“, also nur für den Fall, dass die Israeliten sündigen würden. Erneut wird von der Gegenseite wie schon in Mek eingewandt: „den Todesengel abzuschaffen ist nicht mehr möglich, da eine Bestimmung bereits getroffen worden ist“. Israel hat durch die Tora nicht Unsterblichkeit erlangt; der vormals gefasste Beschluss über den Todesengel war nicht umkehrbar. Nichtsdestotrotz hatten sie einen großen Gewinn von der Annahme der Tora, der darin bestand, dass „keine Nation und kein Sprachstamm über sie Gewalt habe, denn es heisst: Damit es ihnen und ihren Kindern immerdar wohlergehe“ (Dtn 5,29).145 Mit den Worten R. Jose, dem Resch Laqisch zustimmt, wird gekontert mit Hinweis auf Ps 82,6f.: „Die Jisraéliten haben die Gesetzeslehre nur deshalb empfangen, damit der Todesengel keine Gewalt über sie habe, denn es heisst: Ich dachte, ihr seid Götter und insgesamt Söhne des Höchsten, ihr habt aber eure Handlungen verdorben; wahrlich, wie Menschen sollt ihr sterben.“ Dtn 5,29 interpretiert R. Jose dann so: „Es giebt ja kein besseres Wolergehen als das Nichtvorhandensein des Tods.“ Die Gegenseite erwidert diese Auslegung mit der eigenen Deutung von „Sterben“ in Ps 82,7: „Wahrlich, wie Menschen sollt ihr sterben!? – Unter ‚Tod‘ ist die Armut zu verstehen, denn der Meister sagte: Vier gelten als gestorben, und zwar: der Arme, der Blinde, der Aussätzige und der Kinderlose. Der Arme, denn es heisst: Gestorben sind die Leute; [Ex 4,19] das sind ja Dathan und Abiram, und diese waren ja nicht gestorben, vielmehr hatten sie ihr Vermögen verloren.“

Folglich wird „Götter“ innerhalb dieser Auslegung wohl nichts mit Unsterblichkeit der Israeliten zu tun gehabt haben. Stattdessen verbindet sich mit der Bezeichnung „Götter“ das Wohlergehen, inklusive Wohlstand, Freiheit von Unterdrückung usw. Es stellt sich nun die Frage, ob innerhalb der Sinaierzählung ein Äquivalent zum Ausspruch Gottes „Götter seid ihr“ existiert, welches die Deutung stützen kann, dass Israel am Sinai in einen herausgehobenen Status gelangte. In ExR 32 begegnete als entscheidende Angabe des Zeitpunkts für diesen „Statuswechsel“ Israels der Hinweis auf Ex 24,7. Demnach erklärt sich das Volk bereit, alles, was JHWH gesagt hat, „zu tun und zu hören“ ( ‫ר־דּ ֶבּר ְיהוָ ה נַ ֲ ֶשׂה‬ ִ ‫כֹּל ֲא ֶשׁ‬ ‫)וְ נִ ְשׁ ָמע‬. „Mit dem ‚wir wollen tun und wir wollen hören‘ gibt das Volk zu verstehen, dass es das sein bzw. werden will, was Ex 19,4–6 für das Bundesverhältnis verheißen hat“146. Gemäß Ex 19,5f. stellte Gott dem ganzen Volk Israel 145 „Es handelt sich um eine Auslegung des Motivs der von Gott selbst eingemeißelten Schrift auf den ersten beiden Bundestafeln [vgl. Ex 32,16], die darauf beruht, dass sich der Konsonantentext von ‫חרות‬, ‚eingraviert‘, auch als ‫חרות‬, ‚Freiheit‘, lesen lässt“ (LICHTENBERGER 2004: 237; vgl. u.a. ExR 32 [oben zitiert]). 146 DOHMEN 2004: 205.

2. Digression

403

in Aussicht, dass sie, wenn sie auf seine Stimme hören und seinen Bund halten würden, sein aus allen Völkern erwähltes Eigentum (MT: ‫ ; ְסגֻ לָּ ה‬LXX: λαὸς περιούσιος), ein ‫( ַמ ְמלֶ ֶכת כּ ֲֹהנִ ים‬Königreich von Priestern?)147 und eine heilige Nation (MT: ‫ ;גוֹי ָקדוֹשׁ‬LXX: ἔθνος ἅγιος) sein würden. Damit würden sie in einer Nähe zu Gott stehen, wie sie sonst nur Priestern vorbehalten war. „Die Antwort aus V 7 bedeutet also: Wir wollen ein heiliges Volk im Sinne der göttlichen Zusage sein, wir wollen in jener besonderen Nähe zu Gott leben.“148 Dass „Götter“ im Sinne einiger rabbinischer Ausleger in Verbindung steht zu dem in Ex 19,5f. verheißenen Status Israels als Gottes auserwählter Besitz, zeigt z.B. ExR 32 zu Ex 23,22 (eigentlich zu V.20). Allerdings wird dort nicht Ex 19,5f., sondern Dtn 32,8f. zitiert, wo jedoch etwas sehr Ähnliches wie in Ex 19,5f. über Israel gesagt wird: Oder: „Ich sende einen Engel.“ In Verbindung mit Ps. 82,6: „Ich dachte: Ihr seid Götter, alle Kinder des Höchsten.“ Als die Israeliten nämlich am Sinai standen und das Gesetz empfingen, sprach Gott zum Todesengel: Du sollst über alle Völker Gewalt haben, aber über dieses Volk nicht, denn sie sind mein Theil. Sowie ich lebe und bestehe, so sollen auch meine Kinder bestehen, wie es heisst Deut. 32,8: „Als der Höchste Sitze gab den Völkern und die Menschenkinder absonderte,“ und ferner das. V.9: „Denn des Ewigen Erbtheil ist sein Volk, Jacob das Los seines Besitzthums.“ Da wolltet ihr nicht, sondern ihr verdarbt eure Werke und spracht zum Kalbe: „Dies sind deine Götter, Israel!“ darum heißt es Ps 82,7: „Doch wie Menschen sollt ihr sterben.“

Folglich ist anzunehmen, dass in der Bezeichnung „Götter“ Israels Erwählung zum besonderen Eigentum Gottes, seine besondere (priesterliche) Nähe zu Gott, sein Heiliges-Volk-Sein mitschwingt. Diesen, durch Gehorsam zu bewährenden, Status hat Israel aufgrund dessen erhalten, dass sie Gottes Offenbarung empfangen haben und damit in einen Bund mit Gott getreten sind. Zwar findet sich in Jub 2,19f.31ff. kein Bezug zu Ps 82,6f., aber in diesem Text wird über die Erwählung Israels zum Volk Gottes am Sinai als Heiligung gesprochen und Israel in diesem Zusammenhang als erstgeborener Sohn bezeichnet, den Gott geheiligt hat: 19 Und er [sc. Gott] sagte zu uns [sc. den Engeln]: „Siehe, ich will schaffen und erwählen mir ein Volk mitten aus meinen Völkern. Und sie werden mir Sabbat halten. Und ich werde sie heiligen mir zu einem Volk. Und ich werde sie segnen. Wie ich geheiligt habe den Tag des Sabbats und ihn mir heiligen werde, so will ich es segnen. Und sie werden mir mein Volk sein, und ich werde ihr Gott sein. 20 Und ich habe auserwählt den Samen Jakobs unter allem, was ich gesehen habe, und habe ihn mir aufgeschrieben als erstgeborenen Sohn. Und ich habe ihn mir geheiligt in die Ewigkeit …“ […] 31 Und es segnete ihn, der alles schuf, und er heiligte nicht irgendein Volk noch Völker, um Sabbat zu halten an ihm, außer Israel allein. Ihm allein gab er, dass sie essen und trinken und Sabbat halten an ihm auf der Erde. 32 Und es segnete, der alles schuf, diesen Tag zum Segen und zur Heiligung und zur Herrlichkeit

147 148

Die Deutung des Syntagmas ist umstritten (vgl. die Kommentare z.St.). DOHMEN 2004: 205.

404

5. Kapitel: Die Rezeption der Sinaitradition in Joh 10,34ff.

vor allen Tagen. 33 Dieses Gesetz und Zeugnis wurde gegeben den Kindern Israels als Gesetz in Ewigkeit für ihre Generationen.149

Auch in 2Makk 2,16ff., im Rahmen von brieflichen Anweisungen von Juden Jerusalems und Judäas und des Ältestenrats hinsichtlich des Chanukkafestes (vgl. 1,18), taucht der Begriff der Heiligung mit Bezug auf Israels Erwählung (vgl. 2Makk 2,17 mit 1,25) auf. Dabei liegt unverkennbar eine (im Dienst der Deutung der Gegenwart stehende) Bezugnahme auf das Sinaigeschehen (vgl. Ex 19,6) vor: 16 Weil wir jetzt gerade die Reinigung begehen wollen, haben wir Euch geschrieben. Ihr aber werdet gut daran tun, diese Tage zu feiern. 17 Gott ist es, der sein ganzes Volk errettet und allen das Erbteil, das Königtum und die Priesterschaft und die Heiligung (τὸν ἁγιασµόν) gegeben hat, 18 so wie er es durch das Gesetz versprochen hat.150

2.5 Zusammenfassung In Ps 81,6 LXX ist wahrscheinlich Gott der Sprecher. Die Adressaten, die er „Götter“ und „Söhne des Höchsten“ nennt, sind nicht eindeutig identifizierbar. Möglich wäre eine Deutung auf Richter am Höchstgericht in Israel oder auf Könige mit Richter-Funktion. Andererseits kann man die „Götter“ als Gerichtsrat der siebzig Völkerengel-Richter verstehen, zumal vor dem Hintergrund der frühjüdischen Angelologie bzw. Dämonologie. Der Targum zu Ps 82 lässt ein Verständnis der ‫ ֱא ִהים‬im Sinne von „Richtern“ erkennen. Zumindest in V.1 ist dies eindeutig; in V.6 dagegen wäre angesichts der targumischen Interpretationen sowie rabbinischen Deutungen des Sinaigeschehens sowohl ein Bezug auf die siebzig Ältesten-Richter, die am Sinai in Gottes unmittelbare Nähe kommen dürfen und daher wie Engel 149 Übersetzung: BERGER 1981: 329 (kursiv von mir). Vgl. auch Jub 15,27–32: „27 Denn alle Engel des Angesichts und alle heiligen Engel – so ist ihr Geschaffensein vom Tage ihrer Schöpfung an. Und vor den Engeln des Angesichts und den heiligen Engeln hat er Israel geheiligt, dass sie mit ihm seien und mit seinen heiligen Engeln. 28 Und du gebiete den Kindern Israels, und sie sollen bewahren das Zeichen dieses Bundes für ihre Geschlechter zu seiner Ordnung für die Ewigkeit! Und nicht werden sie ausgerottet von der Erde. 29 Denn geboten ist die Ordnung des Bundes, dass sie sie bewahren in Ewigkeit bei allen Kindern Israels. 30 Denn den Ismael und seine Kinder und Brüder und Esau hat der Herr nicht nahegebracht zu sich und nicht auserwählt aus ihnen, weil sie aus den Kindern Abrahams sind, weil er sie kannte. Aber Israel hat er erwählt, dass sie ihm zum Volk seien. 31 Und er hat es geheiligt und gesammelt aus allen Menschenkindern. Denn es gibt viele Völker und viel Volk, und alle sind sein. Und über alle lässt er Geister herrschen, damit sie sie weg von ihm verführen. 32 Aber über Israel lässt er sie nicht herrschen, niemand, weder Engel noch Geist. Denn er allein ist ihr Herrscher. Und er bewahrt sie, und er wird sie fordern für sich aus der Hand seiner Engel und von seinen Geistern und aus der Hand aller und aller seiner Gewalten, damit er sie bewahre und er sie segne und sie ihm gehören und er ihnen gehöre von jetzt an und bis in Ewigkeit“ (BERGER 1981: 332 [kursiv von mir]). 150 Übersetzung: LXX.D.

3. Echos und Entsprechungen

405

erscheinen, als auch ein Bezug auf Israel am Sinai als Ganzes denkbar. Allerdings ist hier nicht allzu scharf zu unterscheiden, da die siebzig Ältesten-Richter eine repräsentative Funktion haben: sie stehen für Israel. Eine sehr frühe, eine der obigen Deutungen der LXX stützende Auslegung von Teilen von Ps 82 ist in den Schriftrollen vom Toten Meer bezeugt. In 11Q13 Kol. II,9–14 liegt das Verständnis der „Götter“ von Ps 82 im Sinne von bösen übermenschlichen Wesen zugrunde, denen das göttliche Gericht bevorsteht, welches von Melchisedek ausgeführt wird. Wahrscheinlich besteht zwischen diesen und den siebzig Völkerengeln ein Zusammenhang, da beide Gruppen als verantwortlich für die Rechtspflege angesehen werden. Rabbinische Deutungen beziehen die „Götter“ in Ps 82,1–5 auf menschliche Richter. In Ps 82,6f. sehen einige Rabbinen dagegen eine narrative Abbreviatur von Israels Sinaiaufenthalt (diese Abbreviatur weist nach einigen rabbinischen Auslegern Entsprechungen zur Paradiesgeschichte auf). Demnach wurde Israel am Sinai, als das Volk die Tora empfing und damit den Bund mit Gott schloss, in den Status von „Göttern“ erhoben. Israel büßte diesen Status jedoch durch den anschließenden Bundesbruch mit dem goldenen Kalb ein. Häufig wird mit dem Israel verliehenen Titel „Götter“ ihre Unsterblichkeit verbunden, die sie aufgrund ihres Götzendienstes verloren. Gleichwohl ist dies nicht in allen rabbinischen Auslegungen der Fall. Teilweise wird nämlich dafür argumentiert, dass auch der Toraempfang nichts an dem schon längst gefassten göttlichen Beschluss hinsichtlich der universalen Herrschaft des Todesengels geändert hat. Folglich impliziert der Titel „Götter“ für Israel am Sinai nicht notwendigerweise ihre Unsterblichkeit, sondern kann mit ihrer Erwählung zum Eigentum Gottes, ihrem Sein als heiliges Volk und ihrer priesterlichen Nähe verbunden werden (vgl. Jub 2,19f.31ff.; 2Makk 2,16ff.). Dies alles hat Israel am Sinai als Offenbarungsempfänger erhalten, und dies alles galt es zu bewähren.

3. Echos und Entsprechungen 3. Echos und Entsprechungen

Folgende Echos im Umfeld von Joh 10,34 (Ps 81,6a LXX) lassen sich ausmachen.151 Auf der sprachlichen Ebene lauten die Übereinstimmungen: Ps 81 LXX

Joh 10

81,7

10,33

ὑµεῖς δὲ ὡς ἄνθρωποι ἀποθνῄσκετε καὶ ὡς εἷς τῶν ἀρχόντων πίπτετε

ἀπεκρίθησαν αὐτῷ οἱ Ἰουδαῖοι· περὶ καλοῦ ἔργου οὐ λιθάζοµέν σε

151 Die folgenden sprachlichen Berührungen sind nicht weiter bedeutsam. Dies betrifft Joh 10,28f.39/Ps 81,4 LXX (ἐκ χειρός) und Joh 10,38/Ps 81,5 LXX (γινώσκω). In

406

5. Kapitel: Die Rezeption der Sinaitradition in Joh 10,34ff.

Ps 81 LXX

Joh 10 ἀλλὰ περὶ βλασφηµίας, καὶ ὅτι σὺ ἄνθρωπος ὢν ποιεῖς σεαυτὸν θεόν

81,6

ἐγὼ εἶπα θεοί ἐστε καὶ υἱοὶ ὑψίστου πάντες

10,36

βλασφηµεῖς, ὅτι εἶπον· υἱὸς τοῦ θεοῦ εἰµι

− Joh 10,33 / Ps 81,7 LXX: Für „die Juden“ ist Jesus ein Mensch, der sich selbst auf eine Stufe stellt mit Gott; mithin ist Jesu Anspruch, eins mit dem Vater zu sein, eindeutig Blasphemie. Deshalb muss Jesus sterben. Darauf antwortet Jesus mit dem Schriftwort. Gemäß dem Psalm hatten diejenigen, die „Götter“ genannt wurden, einen dieser Bezeichnung entsprechenden Status, verlieren diesen jedoch wieder, indem sie sterben müssen wie Menschen. Allerdings kommt es Jesus im Zusammenhang der Verteidigung seines Anspruchs, als Mensch Gottes Sohn zu sein, nur darauf an, dass und wodurch „jene“ einen solchen Status hatten. In diesem Zusammenhang scheint es naheliegend, dass „jene“, an die das Wort Gottes erging, eine Gruppe von Menschen waren, die in den Stand von „Göttern“ erhoben wurden. − Joh 10,36 / Ps 81,6 LXX: Zwar wird in Joh 10,34 nur der erste Teil von Ps 81,6 LXX zitiert, allerdings zeigt V.36, dass auch der zweite Teil jenes Verses für Joh 10 eine Rolle spielt. „Sohn Gottes bin ich“ scheint im Anschluss an Ps 81,6 LXX formuliert zu sein. Dafür spricht die für das JohEv ungewöhnliche Wortstellung152 (vgl. Ps 81,6a). Aus dem Zusammenhang geht hervor, dass der Anspruch Jesu, der Gesalbte (V.25ff. [im Sinne des johanneischen Jesus]), Gottes Sohn und eins mit dem Vater zu sein, ein Anspruch auf göttliche Würde ist, der durch die schriftgelehrte Argumentation nicht nivelliert oder relativierend entschärft, sondern noch stärker hervorgehoben wird. Sonst ließe sich die Reaktion „der Juden“ (vgl. V.39) nicht erklären. Obwohl der johanneische Jesus nicht explizit sagt, dass er Gott ist, ist dies doch die nächstliegende Schlussfolgerung. Im JohEv wird sowohl Joh 10,28f. sind die Hand des Sohnes und die des Vaters im Blick. In Joh 10,22–39 weist nichts darauf hin, dass die Hand des Sohnes oder die des Vaters der „Hand des Sünders“ entspricht. Eine solche Entsprechung zwischen der „Hand des Sünders“ und „ihrer (‚der Juden‘) Hand“ gemäß johanneischer Ironie wäre denkbar, doch ist zu bezweifeln, dass „die Juden“ in Bezug zu den „Göttern“ gesetzt werden (das „jene“ und der die Identifizierung vornehmende Relativsatz „an die das Wort Gottes erging“ in Joh 10,35a–b weisen in eine andere Richtung). Dies und die mangelnde Exaktheit und Spezifik in der Übereinstimmung zwischen Ps 81,5 LXX und Joh 10,38 lassen nicht zu, dass über die bloße Benutzung des Verbs γινώσκω sowohl in Ps 81,5 LXX als auch Joh 10,38 hinaus ein semantischer Effekt auftritt, zumal „die Juden“ in dieser Szene nicht als Richter auftreten wie die „Götter“ in Ps 81 LXX. 152 S. Fußnote 8 in diesem Kapitel.

3. Echos und Entsprechungen

407

„Sohn Gottes“ als auch „Gott“ mit Bezug auf Jesus gebraucht (vgl. Joh 1,1.18.34; 3,16f.; 20,28; vgl. auch besonders 5,18 mit 19,7 [beides Anklagen im Munde „der Juden“]). Auch in Ps 81,6 LXX sind die Bezeichnungen „Götter“ und „Söhne Gottes“ austauschbar. Dabei ist jedoch nicht zu übersehen, dass „Sohn Gottes“ (wie auch „Gott“) mit Bezug auf Jesus, den der Vater geheiligt und in die Welt gesandt hat, wesentlich mehr impliziert als mit Bezug auf „jene“, die aufgrund des Wortes Gottes, das an sie erging, „Götter“ (und Söhne Gottes) genannt wurden.153 Folgende Entsprechungen zu frühjüdischen Deutungen der Sinaitradition auf der sprachlichen Ebene sind zu verzeichnen: Frühjüdische Deutungen der Sinaitradition

Joh 10

Jub 2,19f.

19 … Und ich werde sie heiligen mir zu einem Volk. […] 20 Und ich habe auserwählt den Samen Jakobs unter allem, was ich gesehen habe, und habe ihn mir aufgeschrieben als erstgeborenen Sohn. Und ich habe ihn mir geheiligt in die Ewigkeit …“

10,35f.

Wenn er jene „Götter“ nannte, an die das Wort Gottes erging…über den, den der Vater geheiligt und in die Welt gesandt hat, sagt ihr: Du lästerst (Gott), weil ich sagte: Sohn Gottes bin ich?

2Makk 2,16ff

17 Gott ist es, der sein ganzes Volk errettet und allen das Erbteil, das Königtum und die Priesterschaft und die Heiligung (τὸν ἁγιασµόν) gegeben hat, 18 so wie er es durch das Gesetz versprochen hat.

10,34ff.

Steht nicht in eurem Gesetz geschrieben: „Ich habe gesagt: Götter seid ihr“? Wenn er jene „Götter“ nannte, an die das Wort Gottes erging…über den, den der Vater geheiligt und in die Welt gesandt hat, sagt ihr: Du lästerst (Gott), weil ich sagte: Sohn Gottes bin ich?

− Joh 10,35f. / Jub 2,19f. ; 2Makk 2,16ff: In Joh 10,35f. bringt Jesus das Ergehen des Gotteswortes an „Jene“ in einen Zusammenhang mit seiner eigenen Heiligung durch den Vater, gemeint ist die Heiligung zum Christus und Sohn Gottes nach seiner Taufe. In ähnlicher Weise führt der Vorgang der

153

Ähnlich ZUMSTEIN 2016: 406. Innerhalb des JohEv findet sich dazu die Analogie zwischen Jesus und den Jüngern: Gott ist zwar Vater sowohl der Jünger als auch der Vater Jesu, doch werden die Jünger Gotteskinder durch den Sohn. Sein Status als der Sohn bzw. Sohn Gottes bzw. der Einzigartige (Sohn) unterscheidet sich also deutlich von ihrem Stand als Gotteskinder.

408

5. Kapitel: Die Rezeption der Sinaitradition in Joh 10,34ff.

Heiligung als Auserwählung am Sinai nach Jub 2,19f. zum Status Israels als Volk Gottes (vgl. auch 2Makk 2,16ff.) und (erstgeborenen) Sohn. Daneben gibt es einige Entsprechungen auf der inhaltlichen-motivischen Ebene. Die folgenden Entsprechungen auf der inhaltlichen-motivischen Ebene beziehen sich auf rabbinische Auslegungstraditionen im Zusammenhang mit Ps 82. Rabbinische Auslegungstraditionen zu Ps 82

Joh 10

Mek Bachodesch 9 zu Ex 20,19ff.; ExR 32 zu Ex 23,20; bT AZ 5a u.ö.

Konnex zwischen Gottes Stimme, die die zehn Gebote spricht, und Gabe des ewigen Lebens

10,27f.

Konnex zwischen Jesu Stimme und Gabe des ewigen Lebens

Israeliten, die die Tora am Sinai annahmen, wurden „Götter“ genannt, weil sie Unsterblichkeit besaßen oder erlangen konnten

10,35

„jene“ wurden „Götter“ genannt, an die das Wort Gottes erging

− Joh 10,27f. / Mek Bachodesch 9 zu Ex 20,19ff.; ExR 32 zu Ex 23,20: Jesus greift in Joh 10,27f. seine „Hirtenrede“ (Joh 10,1–18) auf. Dabei spielt das Hören auf seine Stimme bzw. das Annehmen seiner Worte eine wichtige Rolle:154 Wer auf sie hört bzw. sie annimmt, folgt Jesus nach, und Jesus gibt ihm das ewige Leben. Ein ähnlicher Konnex findet sich in Mek Bachodesch 9 zu Ex 20,19ff. und in ExR 32 zu Ex 23,20. Dort wird jedoch Gottes Stimme, die die zehn Gebote spricht, mit der Gabe des ewigen Lebens verbunden. − Joh 10,35 / Mek Bachodesch 9 zu Ex 20,19ff.; ExR 32 zu Ex 23,20; bT AZ 5a u.ö.: Nach Joh 10,35 werden diejenigen, die gemäß Ps 81,6 LXX von Gott „Götter“ genannt wurden, als diejenigen identifiziert, an die das Wort Gottes erging, wobei wohl eine Gruppe von Menschen im Blick ist. Im Umfeld ist die Tora eindeutig präsent. So beabsichtigen „die Juden“ ja, Jesus aufgrund einer Blasphemie zu steinigen (10,31.33); Jesus selbst gebraucht die Angabe „in eurem Gesetz steht geschrieben“. Folglich besteht wohl eine Identität zwischen Tora und Wort Gottes. Aus allen (früh-)jüdisch belegten Deutungen von Ps 82,6f. entspricht der Interpretation Jesu am ehesten die in rabbinischen Texten bezeugte Auslegung von Ps 82,6f. Demnach sind die Israeliten, die am Sinai die Tora erhielten, mit der Bezeichnung „Götter“ gemeint. Wahrscheinlich gibt es (nach einigen Rabbinen) einen engen, 154 Vgl. meine Ausführungen zur Stimme Jesu in der vorliegenden Arbeit im Abschnitt zu Joh 5.

4. Reintegration

409

wahrscheinlich kausalen Zusammenhang zwischen der Unsterblichkeit, mithin dem Status als „Götter“, und der Tora, wenngleich dieser Konnex auch nicht in allen betrachteten rabbinischen Quellen eindeutig ist. Angesichts dessen, was der johanneische Jesus über die Fähigkeit der Tora, Leben zu spenden, im JohEv sonst sagt (s. die anderen Teile der vorliegenden Arbeit), steht jedoch zu bezweifeln, dass dies im Sinne Jesu die (faktische [wenn auch temporär] oder potenzielle) Unsterblichkeit durch die Tora impliziert.155 Zudem gab es auch rabbinische Ausleger, die gegen die Auffassung von Israels Unsterblichkeit am Sinai argumentierten, Ps 82,6f. also in einem anderen Sinne deuteten. Näher liegt es, dass der johanneische Jesus mit der Bezeichnung „Götter“ Bezug nimmt auf den von Gott an Israel verliehenen Status als Gottes erwähltes Eigentum, als Königreich von Priestern und als heiliges Volk (ἔθνος ἅγιον; vgl. Ex 19,5f.). Dafür sprechen der Gebrauch des im JohEv seltenen und in Joh 10,36 hervorstechenden Verbs „heiligen“ (ἁγιάζω) sowie der Zusammenhang mit Joh 17,17.19, wonach die Wahrheit bzw. das Wort Gottes „heiligt“. Folglich geht mit dem Ereignis der Offenbarung Gottes in seinem Wort an Israel am Sinai einher, dass Israel von Gott in einen Status der besonderen, priesterlichen Nähe zu Gott eingesetzt wird. Dies beinhaltet der Ehrentitel „Götter“.

4. Reintegration 4. Reintegration

4.1 Abgrenzung und Funktion der Jesusrede innerhalb des JohEv In Joh 10,22f. findet sich eine Zeit- (Ἐγένετο τότε τὰ ἐγκαίνια ἐν τοῖς Ἱεροσολύµοις, χειµὼν ἦν) und eine Ortsangabe (καὶ περιεπάτει ὁ Ἰησοῦς ἐν τῷ ἱερῷ ἐν τῇ στοᾷ τοῦ Σολοµῶνος), die das darauf Folgende als neue Szene markiert und chronologisch verortet. Die Szene wird in Joh 10,39 abgeschlossen mit der knappen Notiz, dass Jesus seiner Ergreifung durch „die Juden“ entkommt. Nach Wilk gehört diese Szene aufgrund der Verortung im Jerusalemer Tempel und der aus Joh 10,7–21 beibehaltenen Figurenkonstellation zum narrativen Zusammenhang Joh 7,1–10,39 und führt den bestehenden Konflikt zwischen Jesus und „den Juden“ einen entscheidenden Schritt weiter (vgl. 10,24 [die Christus-Frage „der Juden“] mit 7,26f.31.41f.; 9,22 sowie 10,25–29 mit 9,3f. [Werke Gottes] und 10,1–16 [meine Schafe]).156 Es handelt sich um die 155 So aber NEYREY 1989: 659: „The Fourth Gospel does not explicitly state that ‚gods … those to whom the word of God came‘ refers to Israel’s deathlessness, but only to its holiness in virtue of an obedient hearing of Torah. Although deathlessness is not explicitly mentioned in 10:34, I would argue that it is assumed in the link between holiness and godlikeness. After all, it is not the mere physical hearing of the Word of God, but hearing in faith and obedience which constitutes holiness.“ 156 Vgl. WILK 2016b: 79 und Anm. 104; daneben auch ZUMSTEIN 2016: 399.

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5. Kapitel: Die Rezeption der Sinaitradition in Joh 10,34ff.

letzte, auf die Identität Jesu fokussierende Konfrontation Jesu mit „den Juden“ vor seiner Passion.157 Jesu unüberbietbarer Anspruch auf göttliche Würde, der in seiner finalen Antwort auf die Frage „Bist du der Christus?“ enthalten ist, wird noch einmal zugespitzt herausgestellt, doch von „den Juden“ letztlich als Blasphemie abgewiesen. Damit lehnen sie Jesu bis zuletzt ergehende Aufforderung zum Glauben an den gesandten Sohn des Vaters und so auch den Vater selbst, mit angedrohter Gewalt, ab. Allerdings gelingt es ihnen noch nicht, Jesus zu töten; seine „Stunde“ ist noch nicht gekommen (vgl. aber Joh 12,23). Joh 10,22–39 trägt folglich auch zum Verständnis dessen bei, was zum Tod Jesu am Kreuz geführt hat und worin der eigentliche Konflikt zwischen Jesus und „den Juden“ bestand. 4.2 Gliederung Für die Szene Joh 10,22–39 ergibt sich aus den Angaben zum Setting und dem Erzählverlauf mit zwei „Gewaltausbrüchen“ (Theobald) „der Juden“ nach zwei Jesusreden folgende Gliederung:158 10,22f.: Setting (Zeit- und Ortsangaben) 10,24–31: Jesu Antwort auf die Christus-Frage „der Juden“ mit der Provokation des Steinigungsversuchs durch den Hinweis auf seine Einheit mit dem Vater 10,24: Die Christus-Frage „der Juden“ 10,25–30: Die Antwort Jesu mit dem Hinweis auf seine Werke als auch auf sein pastoral-soteriologisches Handeln an seinen „Schafen“ in Einheit mit dem Vater 10,31: Der Steinigungsversuch „der Juden“ 10,32–39: Vorwurf der Blasphemie und letztlich erfolglose Verteidigung des Anspruchs Jesu mittels einer schriftgelehrten Argumentation samt Hinweis auf seine Werke 10,32f.: Die vermeintliche Blasphemie Jesu als Grund für den Steinigungsversuch 10,34–36: Verteidigung Jesu mithilfe einer sich auf die Schrift stützenden Argumentation 10,37f.: Anschließender Hinweis auf seine Werke als Bestätigung seiner Einheit mit Gott, dem Vater 10,39: Erfolgloser Ergreifungsversuch durch „die Juden“ Da das Zitat von Ps 81,6 LXX und die daran anschließende Argumentation in Joh 10,34ff. stehen, wird das Hauptaugenmerk der nachfolgenden 157 Vgl. WILK 2016b: 96: „Letztlich wird mit Joh 10,22–39 […] die gesamte Darstellung des bisherigen öffentlichen Wirkens Jesu abgerundet – und damit der Neueinsatz, der mit dem Rückgriff auf 1,28 in 10,40 gegeben ist, vorbereitet.“ 158 Ähnlich ZUMSTEIN 2016: 399.

4. Reintegration

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Interpretation unter Beachtung des engeren und weiteren Kontextes auf dem Abschnitt Joh 10,32–39 liegen. Zuvor soll noch die syntaktische Struktur des Textabschnittes Joh 10,22–39 inklusive meiner Übersetzung präsentiert werden. 4.3 Syntaktische Struktur und Übersetzung von Joh 10,22–39 22 a b 23 24 a b c d e 25 a b c d e

26 a b 27 a b c 28 a b c

Ἐγένετο τότε τὰ ἐγκαίνια ἐν τοῖς Ἱεροσολύµοις, Damals fand das Fest der Einweihung (des Altars) in Jerusalem statt, χειµὼν ἦν, es war Winter, καὶ περιεπάτει ὁ Ἰησοῦς ἐν τῷ ἱερῷ ἐν τῇ στοᾷ τοῦ Σολοµῶνος. und Jesus ging im Tempel in der Halle Salomos umher. ἐκύκλωσαν οὖν αὐτὸν οἱ Ἰουδαῖοι Da umringten ihn die Juden καὶ ἔλεγον αὐτῷ· und sagten immer wieder zu ihm: ἕως πότε τὴν ψυχὴν ἡµῶν αἴρεις; „Wie lange noch erregst du unsere Seele? εἰ σὺ εἶ ὁ χριστός, Wenn du der Christus bist, εἰπὲ ἡµῖν παρρησίᾳ. (dann) sage es uns öffentlich!“ ἀπεκρίθη αὐτοῖς ὁ Ἰησοῦς· Jesus antwortete ihnen: εἶπον ὑµῖν „Ich habe (es) euch gesagt, καὶ οὐ πιστεύετε· und doch glaubt ihr nicht. τὰ ἔργα ↓ Die Werke, ἃ ἐγὼ ποιῶ ἐν τῷ ὀνόµατι τοῦ πατρός µου die ich im Namen meines Vaters tue, ↑ταῦτα µαρτυρεῖ περὶ ἐµοῦ· diese zeugen von mir. ἀλλὰ ὑµεῖς οὐ πιστεύετε, Aber ihr glaubt nicht, ὅτι οὐκ ἐστὲ ἐκ τῶν προβάτων τῶν ἐµῶν. denn ihr gehört nicht zu meinen Schafen. τὰ πρόβατα τὰ ἐµὰ τῆς φωνῆς µου ἀκούουσιν, Meine Schafe hören auf meine Stimme, κἀγὼ γινώσκω αὐτὰ und ich erkenne sie, καὶ ἀκολουθοῦσίν µοι, und sie folgen mir, κἀγὼ δίδωµι αὐτοῖς ζωὴν αἰώνιον und ich gebe ihnen ewiges Leben, καὶ οὐ µὴ ἀπόλωνται εἰς τὸν αἰῶνα und sie gehen nicht verloren in Ewigkeit, καὶ οὐχ ἁρπάσει τις αὐτὰ ἐκ τῆς χειρός µου.

412 29 a b

c 30 31 a b 32 a b c 33 a b c d e

34 a b c d 35 a b c

5. Kapitel: Die Rezeption der Sinaitradition in Joh 10,34ff. und niemand wird sie aus meiner Hand reißen. ὁ πατήρ µου ↓ Mein Vater, ὃ δέδωκέν µοι (im Blick auf das,) was er mir gegeben hat, ↑πάντων µεῖζόν ἐστιν, ist größer als alles,159 καὶ οὐδεὶς δύναται ἁρπάζειν ἐκ τῆς χειρὸς τοῦ πατρός. und niemand kann (sie) aus der Hand des Vaters reißen. ἐγὼ καὶ ὁ πατὴρ ἕν ἐσµεν. Ich und der Vater sind eins.“ Ἐβάστασαν πάλιν λίθους οἱ Ἰουδαῖοι Wieder hoben die Juden Steine auf, ἵνα λιθάσωσιν αὐτόν. um ihn zu steinigen. ἀπεκρίθη αὐτοῖς ὁ Ἰησοῦς· Jesus entgegnete ihnen: πολλὰ ἔργα καλὰ ἔδειξα ὑµῖν ἐκ τοῦ πατρός· „Viele gute Werke habe ich euch von dem Vater gezeigt. διὰ ποῖον αὐτῶν ἔργον ἐµὲ λιθάζετε; Für welches Werk von ihnen (sc. von den guten Werken) wollt ihr mich steinigen?“ ἀπεκρίθησαν αὐτῷ οἱ Ἰουδαῖοι· Die Juden antworteten ihm: περὶ καλοῦ ἔργου οὐ λιθάζοµέν σε „Wegen eines guten Werkes wollen wir dich nicht steinigen, ἀλλὰ περὶ βλασφηµίας, sondern wegen Lästerung, καὶ ὅτι σὺ↓ und zwar machst du, ἄνθρωπος ὢν der du (doch) ein Mensch bist, ↑ποιεῖς σεαυτὸν θεόν. dich selbst zu Gott.“ ἀπεκρίθη αὐτοῖς [ὁ] Ἰησοῦς· Jesus erwiderte: οὐκ ἔστιν γεγραµµένον ἐν τῷ νόµῳ ὑµῶν „Steht nicht in eurem Gesetz geschrieben: ὅτι ἐγὼ εἶπα· ‚Ich habe gesagt: θεοί ἐστε; Götter seid ihr‘? εἰ ἐκείνους εἶπεν θεοὺς Wenn er jene ‚Götter‘ nannte, πρὸς οὓς ὁ λόγος τοῦ θεοῦ ἐγένετο, an die das Wort Gottes erging, καὶ οὐ δύναται λυθῆναι ἡ γραφή,

159 Für eine Begründung dieser Übersetzung und der zugrundeliegenden textkritischen Entscheidung vgl. THEOBALD 2009: 693.

4. Reintegration

36 a b c d e f 37 a b 38 a b c d e f g 39 a b

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und es kann die Schrift nicht aufgelöst werden, ὃν ὁ πατὴρ ἡγίασεν sagt ihr dann über den, den der Vater geheiligt καὶ ἀπέστειλεν εἰς τὸν κόσµον und in die Welt gesandt hat, ὑµεῖς λέγετε ὅτι βλασφηµεῖς, ‚Du lästerst (Gott)‘, ὅτι εἶπον· weil ich sagte: υἱὸς τοῦ θεοῦ εἰµι; ‚Sohn Gottes bin ich‘? εἰ οὐ ποιῶ τὰ ἔργα τοῦ πατρός µου, Wenn ich nicht die Werke meines Vaters tue, µὴ πιστεύετέ µοι· dann glaubt mir nicht. εἰ δὲ ποιῶ, Wenn ich (sie) jedoch tue, κἂν ἐµοὶ µὴ πιστεύητε, selbst wenn ihr mir nicht glaubt, τοῖς ἔργοις πιστεύετε, glaubt (doch) den Werken, ἵνα γνῶτε damit ihr zur Erkenntnis gelangt καὶ γινώσκητε und (dauerhauft) erkennt, ὅτι ἐν ἐµοὶ ὁ πατὴρ dass der Vater in mir ist κἀγὼ ἐν τῷ πατρί. und ich im Vater bin.“ Ἐζήτουν [οὖν] αὐτὸν πάλιν πιάσαι, Sie wollten ihn [daraufhin] erneut ergreifen, καὶ ἐξῆλθεν ἐκ τῆς χειρὸς αὐτῶν. doch er entging ihrer Hand.

4.4 Interpretation der intertextuellen Bezüge in der Rede Jesu Beim jüdischen Fest τὰ ἐγκαίνια, das im Winter gefeiert wurde, befindet sich Jesus im Tempel in der Halle Salomos (Joh 10,22f.). Der Anlass dieses Festes war die Einweihung160 des neuen Brandopferaltars161 im Tempel im 2. Jahrhundert v. Chr. (165 oder 164 v. Chr.), nachdem er kurz zuvor durch Antiochus IV. entweiht worden war. Jener syrische König hat sich „selbst göttliche Würde zugesprochen und von seinen Untertanen entsprechende Verehrung

160

Nach BAUCKHAM jedoch die „inauguration“ (vgl. BAUCKHAM 2007: 258–262). Der alte Brandopferaltar wurde abgerissen, weil er entweiht worden war (vgl. 1Makk 4,45ff.). Der Name des Festes τὰ ἐγκαίνια bezieht sich auf die Einweihung des neugebauten Altars (vgl. 1Makk 4,53f.56). 161

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5. Kapitel: Die Rezeption der Sinaitradition in Joh 10,34ff.

verlangt“162. In 4Q246 Kol. II,1 heißt es über den König, vermutlich Antiochus IV163 (nach anderen der davidische Messias)164: „‚Sohn Gottes ‘ wird er genannt werden, und ‚Sohn des Höchsten‘ wird man ihn rufen.“165 Da die Einweihung des neuen Altars jedoch den Sieg der Makkabäer über Antiochus IV. voraussetzt, erinnerte das Fest auch an die Befreiung von der Fremdherrschaft. Allerdings hielt die erkämpfte politische Unabhängigkeit nicht lange und Israel geriet erneut unter Fremdherrschaft. Die Feier des Chanukkafestes unter diesen Umständen „would have been a time when the Jewish people looked back nostalgically to an era of past national glory and, more dangerously, looked forward in hope to Israel’s future liberation.”166 Vor dem skizzierten Festhintergrund gewinnen die Christus-Frage, die Antwort Jesu einschließlich seines Anspruchs auf göttliche Würde und der Blasphemievorwurf umso mehr Brisanz und Tiefenschärfe.167 Bei dem Fest der Einweihung (des Altars) geht Jesus also im Tempel umher. Da wird er von „den Juden“ umringt. Immer wieder oder fortwährend sagen sie (ἔλεγον ist Imperfekt [hier wohl iterativ oder durativ]): „Wie lange noch erregst du unsere Seele?“168 Darin spiegelt sich wider, dass „die Juden“ zutiefst gespalten sind über der Frage, wer Jesus wirklich ist (vgl. 10,19ff.).169 Er soll ihnen endlich in aller Öffentlichkeit sagen (εἰπὲ ἡµῖν παρρησίᾳ), ob er der Christus ist (Joh 10,24).170 Das Drängen dazu ist dadurch motiviert, dass Jesus sich zwar nicht explizit als „Christus“ bezeichnet, doch nach Joh 7,26f.31.41f. (vgl. auch Joh 9,22) diesbezüglich „Erwartungen geschürt“171 und in seiner Hirtenrede „auf die Bildfelder vom Messias-Hirten und vom JHWH-Hirten

162 THEOBALD 2009: 698 (dort auch der Hinweis auf „zeitgenössische Münzen mit der Aufschrift ‚König Antiochus Epiphanes – Gott‘“). Damit stand Antiochus IV in einer Reihe mit seinen Vorgängern (vgl. COLLINS/COLLINS 2008: 51–54). 163 So nach der Interpretation von COOK 1995; STEUDEL 2001: 167f. u.a. 164 Vgl u.a. COLLINS/COLLINS 2008: 65–73. 165 Zitiert nach STEUDEL 2001: 173. 166 HAYS 2016: 318. 167 Vgl. VANDERKAM 1990: 211–214; WHEATON 2009: 124–143. 168 Für einen Überblick der Diskussion dieser Frage s. WILDBERGER 2015: 255ff. 169 Vgl. WILDBERGER 2015: 252: „Es stellt sich die Frage, ob überhaupt eine Entscheidung zwischen einer Hoffnungsfrage und Ablehnung getroffen werden muss. Ist nicht vielmehr der Fokus darauf zu legen, dass dem impliziten Autor eine Meisterleistung gelingt? In der Christusfrage können beide Erzählstränge aus dem unmittelbaren Kontext, Kritik und Begeisterung, gefunden werden.“ 170 Die Christus-Frage und der in 10,33 begegnende Blasphemievorwurf erscheinen auch in der synoptischen Darstellung des Prozesses Jesu (vgl. 10,24f. mit Lk 22,67 und Joh 10,33 mit Mk 14,63f.); vgl. hierzu die Überlegungen bei Schleritt 2007: 369–374. In Joh 10,22–39 fehlen jedoch eindeutige Textsignale, die auf einen (offiziellen) Prozess schließen lassen (gegen NEYREY 1989: 652). 171 THEOBALD 2009: 692.

4. Reintegration

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rekurriert“172 hat. Dafür spricht der Rückverweis Jesu (vgl. nur V.25 u.a.): „Ich habe es euch (schon) gesagt.“ Auch nimmt Jesus in Joh 10,26–29 die in der vorherigen Hirtenrede gebrauchten Bildfelder wieder auf. Allerdings hat Jesus in seiner Hirtenrede mehrfach davon gesprochen, dass er aufgrund eines „Gebotes“ des Vaters sein Leben „für“ die Schafe einsetzen werde und dabei Vollmacht hat, dieses sowohl zu geben als auch wieder zu nehmen (vgl. 10,11.17f.). Diese Worte Jesu führen daher dazu, dass einige „der Juden“ sagen, dass Jesus einen Dämon hat und verrückt ist (vgl. 10,20). Der andere Teil „der Juden“ jedoch wendet ein (gemäß 10,21), dass Jesu Worte nicht von einem Besessenen stammen können, da kein Besessener einem Blinden die Augen öffnen kann (wie Jesus es ja zuvor getan hat). Jesus bejaht die Frage „der Juden“ nicht direkt, sondern verweist auf schon Gesagtes. Allerdings glauben „die Juden“ weder seinen Worten noch seinen Werken. Auch „die Werke“, die Jesus im Namen seines Vaters tut, zeugen von ihm (Joh 10,25). Im weiteren Zusammenhang ist damit auf die „Werke Gottes“, d.h. das schöpferische Wirken Gottes angespielt, das sich durch Jesus u.a. an dem Blindgeborenen offenbart, dem er gleichsam „neue Augen“ schafft (vgl. Joh 9,3–7). Der Grund für den Unglauben „der Juden“ liegt nach V.26 darin, dass sie nicht zu den „Schafen“ Jesu und des Vaters, der sie ihm gegeben hat, gehören. Jene hören ja auf seine Stimme, er kennt sie, und sie folgen ihm (als Jünger) nach. Mithin haben „die Juden“, weil sie nicht von seiner Herde sind, keinen Anteil an dem, was Jesus seinen Schafen gibt. Dazu zählt V.28f. gemäß, dass Jesus den Schafen ewiges Leben schenkt bzw. (negativ formuliert) dass sie nicht verloren gehen in Ewigkeit und niemand sie aus seiner Hand reißen kann. Gerade solch „steile“ Behauptungen stellt Jesus aber nicht ohne Bezug zum Vater auf. Immer wieder weist Jesus darauf hin, dass in seinem Wirken der Vater handelt. Dies wird auch durch die Parallelität der Aussagen in V.28c und V.29c zum Ausdruck gebracht: …niemand wird sie aus meiner Hand reißen (V.28c) …niemand kann (sie) aus der Hand des Vaters reißen (V.29c) Die Implikation dessen wird dann von Jesus selbst ausgesprochen: „Ich und der Vater sind eins.“173 Offensichtlich sind „Ich“ und „der Vater“ nicht ein und dieselbe Person; das schließt u.a. das Neutrum ἕν aus.174 Im Zusammenhang der Rede macht ἕν deutlich, zumal in Kombination mit der Kopula im Plural, dass der Vater und Jesus in ihrem Handeln eins sind, d.h.: der Vater ist im

172

ZIMMERMANN 2004a: 111. Zu dieser und anderen „Immanenzaussagen“ in den johanneischen Schriften und ihrem jüdischen Hintergrund liegt die ausführliche Studie von SCHOLTISSEK 2000 vor. 174 Vgl. THEOBALD 2009: 694; THYEN 2005: 499 u.a. 173

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5. Kapitel: Die Rezeption der Sinaitradition in Joh 10,34ff.

Handeln des Sohn am Werk.175 Allerdings lässt gerade die Art des Wirkens Jesu – er spendet ewiges Leben – kaum eine andere Schlussfolgerung zu, als dass „dem Handeln Jesu in Einheit mit seinem Vater […] ein Sein zugrunde [liegt]“176. Demgemäß lassen sich V.29f. gut als Begründung für V.28 lesen. Aus der Hand des Vaters kann niemand die Schafe reißen. Da gleichsam Jesu Hand die Hand des Vaters ist und der Vater dem Sohn die Schafe übergeben hat, wird niemand die Schafe aus Jesu Hand reißen. Der Sohn übt folglich die Hirten-Funktion des Vaters aus.177 Jesus und der Vater sind auch in dieser Hinsicht „eins“ (vgl. auch Joh 17,11.21ff.). Die Spitzenaussage von der Einheit Jesu mit dem Vater bündelt und macht explizit, was Jesus zuvor auch schon gemeint hat, wenn er von sich behauptete, ewiges Leben spenden zu können usw. Dies führt nun dazu, dass „die Juden“ erneut (vgl. Joh 8,59) Steine herbeischleppen, um Jesus zu töten (Joh 10,31), da er ihrer Meinung nach die Tora178 übertritt. Für sie entpuppt sich Jesus nicht als Christus, sondern als Antichristus, den es zu steinigen gilt. Jesus stellt ihnen dann eine mit ironischem Unterton formulierte Frage: „Viele gute Werke habe ich euch von dem Vater gezeigt. Für welches dieser Werke wollt ihr mich steinigen?“ (V.32). Diese Frage dient als Anknüpfungspunkt, erneut und noch pointierter zum Ausdruck zu bringen, worum es in der Konfrontation Jesu mit „den Juden“ geht. Jesus lenkt den Blick auf seine Werke und bezieht sich dabei wohl auf „die Werke“ Gottes, die an dem Blindgeborenen offenbar wurden (Joh 9,3f. ). Doch weshalb nennt er diese Werke hier „gute Werke“? Dieser Ausdruck ist im JohEv bis auf Joh 10,32f. singulär. Meines Erachtens wird dadurch ein Kontrast signalisiert. Jesu Leben wirkenden Werke sind als Werke Gottes des Vaters „gut“ (καλός), so wie Gottes Schöpfungswerke „gut“ (καλός) sind (vgl. Gen 1,4.8.10.12.18.21.25.31 mit 2,2f. [besonders LXX]); sie bezeugen daher Jesu Identität als Gesandter Gottes des Vaters (10,25) und wollen so zum Glauben führen. Die „Werke“ der Welt dagegen sind „böse“ (πονηρά; Joh 7,4 [vgl. 3,19ff.) und haben ihren Ursprung im Teufel (vgl. 8,39–41). Jesus bezeugt dies beständig und legt so die „bösen 175

Der Einheit Gottes als Vater und Sohn entspricht die Einheit der Jünger gemäß Joh 17,11.21 wie auch in (früh-)jüdischer Vorstellung der Einzigkeit Gottes die Tatsache entspricht, dass es einen (legitimen) Tempel, einen Altar, ein Gesetz und v.a. ein erwähltes Volk gibt, welches seine Einheit aus der Anbetung des einen Gottes gewinnt (vgl. BAUCKHAM 2007: 251 mit Belegen). 176 THEOBALD 2009: 694 (kursiv im Original). Vgl. auch BAUCKHAM (2007: 251): „So to say that Jesus and the Father are one is to say that the unique divine identity comprises the relationship in which the Father is who he is only in relation to the Son, and vice versa.“ Zum Zusammenhang von johanneischer Christologie und Theologie vgl. SÖDING 2002; BAUCKHAM 2007: 239–252. 177 Jesus begründet folglich keine neue, separate „Schafherde“ neben der „Schafherde“ des Vaters. 178 BAUCKHAM (2007: 250) sieht in Joh 10,30 eine Anspielung auf Dtn 6,4.

4. Reintegration

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Werke“ offen (3,20), weshalb die Welt ihn hasst (Joh 7,7) und ihn töten will (das böse Ur-Werk sozusagen; vgl. 8,40.44). Nach Joh 10,32 ist ein „gutes“ Werk der Grund für die Absicht zur Tötung durch Steinigung. Durch die „guten Werke“ also zeugt Jesus davon, dass die Werke der Welt „böse“ sind. Sie sind es, die den Hass der Welt und die Tötungsabsicht „der Juden“ provozieren, weil in seinem Gesandten der Vater wirkt, den die Welt gleichermaßen hasst, insofern sie seinen Gesandten hasst (vgl. Joh 15,23f. ). „Die Juden“ wollen ihren Blick jedoch nicht auf die Werke Jesu lenken lassen: „Wegen eines guten Werkes wollen wir dich nicht steinigen“ (10,33b). Es bleibt letztlich in der Schwebe, ob sie damit zugeben, dass Jesus „gute Werke“ getan hat. Sie fokussieren jedenfalls unter Ausblenden eben jener „guten Werke“ auf Jesu Worte allein. Der Grund für den Steinigungsversuch besteht ihnen zufolge darin, dass Jesus (wie Antiochus IV.) Blasphemie begeht (περὶ βλασφηµίας), die mit dem Tode zu bestrafen ist: Jesus, der (doch) ein Mensch ist, macht sich nämlich selbst zu Gott (ὅτι σὺ ἄνθρωπος ὢν ποιεῖς σεαυτὸν θεόν). Man ist erinnert an die Worte des Propheten Ezechiel über den Hochmut des Königs von Tyrus, der meinte, er wäre „Gott“.179 In Ez 28,2 heißt es in Entgegnung dieser Hybris: „du aber bist (nur) ein Mensch und nicht Gott“ (σὺ δὲ εἶ ἄνθρωπος καὶ οὐ θεὸς). Der gewaltsame Tod des Königs sollte der Beweis dafür sein (Ez 28,7ff.;), ein Tod, der auch Antiochus IV. ereilt hatte (vgl. 2Makk 9; Jes-LXX 14,13f.15.19f). Der Vorwurf „der Juden“ begegnete schon in Joh 5,18. Im Prozess Jesu taucht er dann erneut auf mit dem Unterschied, dass es dort heißt: „Wir haben ein Gesetz, und nach dem Gesetz muss er sterben, weil er sich selbst zu Gottes Sohn gemacht hat“ (19,7).180 Gottes Sohn in einem exklusiven Sinne zu sein impliziert also aus der Sicht „der Juden“, auf einer Stufe mit Gott zu sein. Ihrer Meinung nach ist Jesus jedoch bloß ein Mensch, der sich selbst zu Gott macht, d.h. der sich lediglich anmaßt, Gott zu sein und so automatisch in Konkurrenz zum einzig wahren Gott, dem Gott Israels, tritt. Aus johanneischer Perspektive ist dies jedoch ein Missverständnis – eines, das schon Joh 5,19–47 zu korrigieren versucht hat. Mit einer auf Zustimmung zielenden rhetorischen Frage (eingeleitet mit οὐκ) erwidert Jesus den Blasphemievorwurf: „Steht nicht in eurem Gesetz geschrieben“ (οὐκ ἔστιν γεγραµµένον ἐν τῷ νόµῳ ὑµῶν).181 Im Kontext dieser rhetorischen Frage signalisiert das Possessivpronomen „euer“ keine Distanzierung Jesu vom „Gesetz“, sondern will die Adressaten zur Einsicht bringen, dass das „Gesetz“, das sie selbst als höchste Norm anerkennen, Jesu Anspruch nicht

179

S. Haupttext nach Fußnote 96 in diesem Kapitel. Vgl. 4Q246. 181 Die Einleitungsformel „steht/ist nicht geschrieben“ findet sich im JohEv noch in Joh 2,17; 6,31.45; 12,14; 19,19f. 180

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5. Kapitel: Die Rezeption der Sinaitradition in Joh 10,34ff.

entgegensteht.182 Ganz im Gegenteil: Sie stehen mit ihrem gegen Jesus gerichteten Blasphemievorwurf dem Gesetz entgegen und erweisen sich so als Sünder, die das Gesetz verurteilt. Für diese Deutung spricht auch die ungewöhnliche Lokalisierung des Schriftwortes „in eurem Gesetz“ für einen Psalmvers.183 Eine solche Angabe für einen Psalmvers findet sich noch in Joh 12,34 und in Joh 15,25. Zuerst zu Joh 12,34: Hier ist der bzw. die Prätexte zwar nicht eindeutig bestimmbar – aufgrund der wörtlichen Entsprechungen handelt es sich wahrscheinlich um Ps 89(88),37184 –, aber es liegt auf keinen Fall ein Bezug zum „Gesetz“ im Sinne des Pentateuchs vor. Das Volk denkt vermutlich an einen (oder mehrere) Psalmtext(e), schreibt diesen bzw. diese jedoch dem Gesetz zu. Hier könnte der Grund für die Angabe „aus dem Gesetz (haben wir gehört)“ darin bestehen, dass sie damit unterstreichen wollen, dass ihr Wissen über den Christus als gottgegebene und normative Information Jesu Behauptung einer Notwendigkeit seiner „Erhöhung“ am Kreuz (vgl. Joh 3,14; 12,32f.) entgegensteht und sie damit desavouiert.185 Wichtiger für Joh 10,34 ist Joh 15,25, da beide Zitate mit ähnlicher Einleitungsformel sich im Munde Jesu finden. Nach Joh 15,25 zitiert Jesus ein Psalmwort als „das Wort, das in ihrem Gesetz geschrieben steht“. Vielleicht meint er Ps 35(34),19 oder (aufgrund einiger Entsprechungen) eher 69(68),5, zumal derselbe Psalm dem Evangelisten nachweislich bekannt ist (vgl. Joh 2,17; evtl. auch Joh 19,28f. ).186 Im Umfeld des Zitats geht es u.a. um die Sünde der „Welt“ (15,22.24), die darin besteht, dass sie Jesu Werke, die „kein anderer getan hat“, gesehen und sowohl ihn als auch seinen Vater dennoch gehasst hat (15,24), statt ihm zu glauben. Der Hass der „Welt“ gegen Jesus ergeht folglich zu Unrecht (Joh 15,22). Darin erfüllt sich das Schriftwort „sie haben mich ohne Ursache gehasst“ (ἐµίσησάν µε δωρεάν). Nun steht dieser Abschnitt im Zusammenhang der Abschiedsreden Jesu angesichts seiner kommenden Passion, d.h. der Hass der „Welt“ ist in Verbindung zu sehen mit dem Beschluss, Jesus zu töten (Joh 11,47–53). Diesen Beschluss begründen „die Juden“ gemäß Joh 19,7 mit dem Gesetz: „Wir haben ein Gesetz, und nach dem Gesetz muss er sterben, weil er sich selbst zu Gottes Sohn gemacht hat.“ Wenn also der Hass unbegründet ist, sind auch die Anklage gegen Jesus und der 182

Ähnlich AUGENSTEIN 1997: 312. Auch Paulus kann in der Einleitungsformel vom „Gesetz“ reden, dann aber aus den Psalmen oder aus Jesaja zitieren (vgl. Röm 3,19; 1Kor 14,21). Bei PS-PHILO, De Jona 176 findet sich ein Jesajazitat in Verbindung mit der Angabe „Gesetz“ (vgl. WILK 1998: 106, Anm. 31). Die Zuschreibung eines Psalmverses zum Gesetz ist von daher keine „nichtjüdische[…], sachlich unzutreffende Angabe“ (so MAIER 2008: 15), sondern entspricht zeitgenössischer Praxis und hat einen bestimmten Grund. 184 Vgl. VAN UNNIK 1959. 185 Vgl. auch die Diskussion um Jesu Herkunft in Joh 7,27.41f. 186 Vgl. OBERMANN 1996: 271–282. 183

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Todesbeschluss wegen Blasphemie mit dem Gesetz nicht zu vereinbaren. Dann trifft eigentlich das Gegenteil zu: Ihr eigenes Gesetz offenbart es als Sünde, dass „die Juden“ einen Unschuldigen, zumal den Gesandten des Vaters, der sich als solcher durch seine Werke auswies, „ohne Ursache“ (δωρεάν) zum Tode verurteilen.187 Somit stehen „die Juden“ unter dem Urteil des Gesetzes.188 Im Mittelpunkt der Auseinandersetzung Jesu mit „den Juden“ steht demnach das Gesetz. Ist Jesus ein Sünder (vgl. Joh 9,16.24f.31), der das Gesetz bricht, wenn er mit dem Anspruch auftritt, Sohn Gottes zu sein und folglich am Sabbat wirken darf? Oder sind „die Juden“ die Sünder, die gegen das Gesetz verstoßen (erkennbar daran, dass sie Jesus ablehnen und ihre Anklage gegen ihn erheben)? Vor diesem Hintergrund zielt die Lokalisierung des Psalmwortes „in eurem Gesetz“ auf den Aufweis der Unschuld Jesu und der Sünde „der Juden“. Daher kommt alles darauf an, ob die Argumentation Jesu auf der Basis „eures Gesetzes“ überzeugend ist und der sich ebenfalls (explizit oder implizit) auf das Gesetz beziehende Blasphemievorwurf durch das Gesetz selbst entkräftet werden kann. Folglich ist unwahrscheinlich, dass hier ein oberflächlicher und leichtfertiger Umgang mit der Schrift189 vorliegt.190 Auf das wörtliche Zitat aus Ps 81,6a LXX folgt ein Argument (V.35f.) in Form einer Konditionalperiode. Der Konditionalsatz in V.35 wird angezeigt durch die konditionale Konjunktion εἰ. Aufgrund der Verbindung mit dem Indikativ Aorist εἶπεν handelt sich dabei um den indefiniten Fall, d.h. vom „Sprecher / Schreiber wird das Verhältnis der Protasis zur Wirklichkeit unbestimmt“ gelassen, doch „[d]ie Schlussfolgerung wird […] als (logisch) notwendig hingestellt“191. Wichtig ist noch Folgendes: „Konditionalsätze rücken manchmal auch in die Nähe der Kausalsätze, und zwar in Kontexten, in denen die Bedingung eindeutig als erfüllt erscheint“192. Dies ist hier der Fall, denn Jesu Diskussionspartner sind „die Juden“, die das Schriftwort als maßgeblich anerkennen; es steht schließlich in „ihrem“ Gesetz geschrieben. Deshalb gibt es keinen Grund anzunehmen, dass die Bedingung nicht als erfüllt anzusehen ist. Der Konditionalsatz fungiert dann wie ein Kausalsatz. Jesus unterstreicht in einem eingeschobenen Kommentar, dass die Schrift nicht aufgelöst werden kann; er selbst setzt die Schrift mithin als gültig voraus. Seine Diskussionpartner würden dieser Aussage sicher zustimmen. Die Schrift 187 Ähnlich OBERMANN 1996: 279: „Indem das Gesetz ‚der Juden‘ (αὐτῶν) die Grundlosigkeit des gegenwärtigen Hasses gegenüber Jesus benennt, fällt ein negatives Licht auf ‚die Juden‘, da das Psalmwort ‚die Juden‘ ihres grundlosen Hasses behaftet und sie indirekt in die Verantwortung nimmt.“ 188 Vgl. Joh 5,37–45; 7,19–24. 189 Für eine Zusammenfassung dieser Position s. JUNGKUNTZ 1964: 556f. (er selbst vertritt sie allerdings nicht). 190 Vgl. NEYREY 1989: 654. 191 VON SIEBENTHAL 2011: 540. 192 VON SIEBENTHAL 2011: 539.

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wird demnach dann „aufgelöst“ bzw. außer Geltung gesetzt, wenn das zuvor zitierte und ausgelegte Schriftwort und mit ihm die besondere Würde derjenigen in Frage gestellt wird, an die das Wort Gottes erging.193 Genau das – das „Auflösen“ der Schrift – geschieht gemäß dem Zusammenhang durch den an Jesus gerichteten Vorwurf der Blasphemie, der sich damit auch gegen die Schrift richtet. Da Letzteres abwegig ist, ist auch ersteres abwegig. Den Dann-Satz im Präsens formuliert Jesus gemäß V.36c–d in Form einer vorwurfsvollen Frage: „sagt ihr (dann) über den, den …, ‚Du lästerst Gott?‘“ Dies sagen sie deshalb, weil Jesus von sich behauptet hat, dass er der Sohn Gottes ist (V.36e–f). Unmittelbar zuvor, d.h. in der vorherigen Szene (ab Joh 10,22), hat Jesus aber solches nicht wortwörtlich gesagt. Obwohl dies natürlich impliziert ist, wenn Jesus von Gott als seinem Vater (Joh 10,24.29) sprach, bleibt die Wortwahl dennoch auffällig. Sie kann folgendermaßen erklärt werden: Jesus greift ja den Blasphemievorwurf „der Juden“ auf. Dieser wiederum bezog sich auf die Aussage der Einheit des Sohnes mit dem Vater in V.30. Die jesuanische Aussage von seiner Einheit mit dem Vater, ihre Deutung durch „die Juden“ und die Sohn-Gottes-Behauptung Jesu werden so miteinander assoziiert (eine typisch johanneische „Technik“) und interpretieren sich gegenseitig. Die von Jesus in V.36f gewählte Formulierung steht augenscheinlich in Parallele zum in „eurem Gesetz“ geschriebenen Ausspruch Gottes „ich habe gesagt: Götter seid ihr“. So zeigt sich, dass der zweite Teil von Ps 81,6 „Söhne des Höchsten (seid) ihr alle“ durchaus im Blick des johanneischen Jesus (und mit ihm im Blick des Evangelisten) ist, auch wenn er ihn nicht zitiert: Ps 81,6 LXX: Joh 10,30.33.36: ich und der Vater sind eins… du maßt dir an,

Götter seid ihr, Söhne des Höchsten (seid) ihr alle Gott zu sein,…Sohn Gottes bin ich

Daraus folgt, dass Jesu Einheit mit dem Vater aus johanneischer Sicht bedeutet, dass ihm als Sohn Gottes göttliche Würde zukommt. Der Schriftbezug macht klar, dass Jesu Anspruch auf den Sohn-Gottes-Titel keine Blasphemie ist. Kann eine Deutung der „Götter“ im „polytheistischen“ Sinne aufgrund des Bekenntnisses zum einen Gott (vgl. Joh 5,44; 17,3) von vornherein als unplausibel ausgeschlossen werden – in welchem Sinne sind diese „ihr“ dann „Götter“? Die meisten verbleibenden Deutungsmöglichkeiten des Psalms fügen sich nur schlecht in das Umfeld des Zitats im JohEv ein. Dies gilt v.a. für die Völkerengel-Deutung.194 Nirgends in Joh 10 werden Engel explizit erwähnt oder wird erkennbar auf sie angespielt.195 Generell gibt das JohEv keine Hinweise 193

Vgl. ZUMSTEIN 2016: 406. Gegen EMERTON 1960; 1966. 195 Vgl. OBERMANN 1996: 174. 194

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dafür, dass den Engeln eine Richterfunktion zukäme, wenngleich dies auch nicht ausdrücklich ausgeschlossen wird.196 Der entscheidende Einwand ist jedoch, dass man den argumentativen Wert des Bezugs auf Engel kaum erkennen kann, wenn es doch darum geht, den Vorwurf abzuwehren, dass sich der Mensch Jesus selbst zu Gott mache.197 Die anderen Optionen, dass Jesus die „Götter“ als Richter oder Könige aufgefasst habe, hat mehr für sich, zumal auch hier Menschen „Götter“ genannt werden. Allerdings passen sie, wie die zuvor genannte, nur schlecht zu der von Jesus selbst gegebenen Identifikation im Relativsatz „an die das Wort Gottes erging“,198 es sei denn, er hätte die siebzig Ältesten-Richter im Blick, denen in der Sinaierzählung eine besondere Stellung zugeschrieben wird. Aber gerade da sie Israel repräsentieren fällt es schwer, diese Interpretation der folgenden vorzuziehen. Zudem sprechen die inhaltlich-motivischen Entsprechungen zur rabbinischen Auslegungstradition zu Ps 82,6f. sowie der Relativsatz Joh 10,35b eher für eine Deutung der „Götter“ auf Israel am Sinai. Dann aber ist der Konnex zwischen der Bezeichnung „Götter“ und dem ergangenen Wort Gottes noch enger zu sehen als gemeinhin angenommen. Die Phrase „das Wort Gottes“ bzw. „das Wort des Herrn (LXX) erging“ ist ein atl. Standardausdruck,199 wenn Gott zu bestimmten Menschen wie Abraham (Gen 15,1), Samuel (1Sam [1Kgt] 15,10), Salomo (1Kön 6,11 [kein Äquivalent in der LXX]), Elia (1Kön[3Kgt] 17,2), Jesaja (2Kön[4Kgt] 20,4; Jes 38,4), Hosea (Hos 1,1), Jona (Jon 1,1; 3,1), Sacharja (Sach 1,1.7), Jeremia (Jer 1,4.11.13 u.ö.; vgl. Dan 9,2) oder Ezechiel (Ez 1,3; 3,16; 6,1 u.ö.) u.a. spricht,200 wobei 196

Vgl. SCHUCHARD 1992: 63. So auch MENKEN 1997: 371 (anders BÜHNER 1977: 393f.). 198 Gegen BROWN 1966: 409f.; SCHUCHARD 1992: 64 (die Tatsache, dass eine Gruppe von Individuen im Blick ist, an die das Wort Gottes erging, und dass, wenn in der jüdischen Auslegung von Richtern die Rede ist, nichts von einem Ergehen des Wortes Gottes gesagt wird, wird von Schuchard u.a., die diese Deutung vertreten, nicht ausreichend berücksichtigt); DALY-DENTON 2000: 173. 199 Auch im Frühjudentum und im NT wird diese Formel verwendet: vgl. 1Hen 67,1; 2Bar 1,1; Lk 3,2. 200 In der Vergangenheit wurde diese Phrase als „Wortereignisformel“ bezeichnet und teilweise theologisch überfrachtet. Gemäß KRISPENZ (vgl. ihren 2014 verfassten Beitrag zu „Wortereignisformel/Wortempfangsformel“ im online frei zugänglichen Lexikon „Wissenschaftliches Bibellexikon“ [WiBiLex] unter https://www.bibelwissenschaft.de/ stichwort/35010/ [abgerufen am 18.10.2018]), die diese und ähnliche hebräische Phrasen untersucht hat, hat „[d]as JHWH-Wort […] in der Wortereignisformel keineswegs eine eigene, von seinem Ursprung unabhängige Macht und Wirksamkeit, die über das hinausginge, was von Worten im Alten Testament sonst ausgesagt wird. Jedenfalls gibt die Sprache keinen Anhalt zu einer so weitreichenden Deutung.“ Stattdessen „geht es lediglich um die Feststellung des Empfangs einer Mitteilung“. „Dass es sich dennoch gerade nicht um banale Kommunikation handelt, wird aus dem Umstand deutlich, dass die Analogien außerhalb des prophetischen Zusammenhanges auf die Kommunikation verweisen, die der König mit seiner Umgebung pflegt. Es spricht aber doch alles dafür, dass nicht ein selbständig agierendes 197

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häufig, jedoch nicht immer Propheten im Blick sind.201 An sich beinhaltet sie nicht notwendigerweise eine Beauftragung oder Sendung. Es spricht m.E. nichts dagegen, dass der johanneische Jesus sie gebraucht, um auf die atl. verbale Offenbarung Gottes an Israel (und nicht an einen bzw. die Propheten) zu verweisen (vgl. Joh 5,37f. ; 9,29)202 und dabei im Rahmen des Kommunikationsgeschehens die Empfängerseite zu betonen.203 Die Offenbarung Gottes durch sein Wort ist nach der rabbinisch bezeugten Tradition und wohl auch in Joh 10,34f. der eigentliche Grund dafür, dass die Israeliten am Sinai überhaupt „Götter“ genannt werden konnten;204 der Relativsatz hat also kausalen Nebensinn. Allerdings ist es aufgrund dessen, dass dem JohEv zufolge die Vermittlung des ewigen Lebens exklusiv durch Jesus geschieht, abwegig anzunehmen, dass die Israeliten Jesus zufolge ewiges Leben und Unsterblichkeit durch die Tora besaßen (ob nun zeitweise oder nur potenziell, spielt keine Rolle). Viel eher meint die Bezeichnung „Götter“ für die Israeliten am Sinai, an die das Wort Gottes ergangen ist, den besonderen Stand, in den Gott Israel am Sinai einsetzte, als er sie durch den mit der Tora gegebenen Bund zu seinem erwählten Eigentum, zu einem Königreich von Priestern und einer heiligen Nation (ἔθνος ἅγιον; vgl. Ex 19,5f.) machte.205 So gelangten die Israeliten am Sinai Wort in der Wortereignisformel zum Ausdruck kommt, sondern dass der Umstand, dass Gott selber redet, dem empfangenen Wort Gewicht verleiht.“ 201 Vgl. aber MENKEN 1997: 372. Nach MENKENS Auffassung (vgl. 1997: 376ff.) müssen sich die einzelnen menschlichen Rezipienten der Offenbarung des Wortes Gottes im himmlischen Thronrat unter den „Göttlichen“ befinden (tatsächlich ist dies bei den Propheten, wo die Phrase „es erging das Wort Gottes/des Herrn“ häufig vorkommt, ab und zu der Fall) und werden daher „Götter“ genannt. Dies trifft seines Erachtens nicht auf böse Engel und auch nicht auf Israel am Sinai zu. Angesichts der (früh-)jüdischen und targumischen Rezeption der Sinaitradition, wie ich sie im Abschnitt zu Joh 5 und auch oben zu Tg Ps 82 dargelegt habe, kann jedoch sehr wohl gesagt werden, dass sich das Volk Israel als Rezipient der Offenbarung Gottes aus (früh-)jüdischer Sicht im himmlischen Thronrat befindet, sei es, weil der himmlische Tempel mitsamt Thronrat/-saal auf den Sinai kommt, sei es, dass Israel sich als Ganzes oder auch die Repräsentaten Israels (evtl. mittels einer Vision) in den Thronsaal versetzt werden. Wie dem auch sein mag, die Phrase „an die das Wort Gottes erging“ beinhaltet nicht per se, dass die Empfänger des Wortes Gottes sich mittels einer Vision im himmlischen Thronrat befinden müssen. 202 So auch ZUMSTEIN 2016: 406; gegen SCHUCHARD 1992: 64. Im NT ist die Verwendung von „Wort Gottes“ für das Gesetz auch in Mt 15,6 belegt. 203 Dem entspricht es, dass Jesus in Joh 10,35a kein explizites Subjekt nennt und in V.35b nicht explizit gesagt wird, woher das Wort Gottes an „jene“ erging, obwohl Gott als Sprecher seines Wortes im Syntagma „Wort Gottes“ klar enthalten ist. 204 So auch NEYREY 1989: 654; THYEN 2005: 502f.; FELSCH 2011: 242. 205 Die Vorstellung von einer Heiligung Israels durch die Gebote erscheint in rabbinischen Texten häufig (u.a. in einem Lobspruch zum Chanukkafest; vgl. STRACK-BILLERBECK 1924: 540: „pSukka 3,53d, 8: Wie spricht man den Lobspruch über das Chanukkalicht? Rab hat gesagt: Gepriesen seist du Jahve, unser Gott, König der Welt, der uns geheiligt hat durch seine Gebote u. uns Befehl gegeben wegen Anzündens des Chanukkalichts!“). Avemarie

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durch das Ergehen des Wortes Gottes bzw. einfach durch die Tatsache, dass sie die Adressaten des Gotteswortes waren, in eine besondere Nähe zu Gott und wurden daher „Götter“ genannt. Damit wäre die Bedeutung des Wenn-Satzes geklärt, sodass es auf dieser Basis und auf der Grundlage der Diskussion des Dann-Satzes im Anfangsteil dieses Kapitels206 möglich ist, das Gesamtargument folgendermaßen zu paraphrasieren: Protasis:

Apodosis:

Wenn (aufgrund des Kontextes im Sinne von „da, weil“)207 Gott schon jene Menschen, nämlich die Israeliten am Sinai, „Götter“ nannte, da an sie das Wort Gottes erging, (und schon das keine Blasphemie darstellt, denn die Schrift kann in ihrer Geltung nicht aufgelöst werden) wie könnt ihr dann über den, den der Vater zum Christus geheiligt und in die Welt gesandt hat, sagen, dass er Gott lästert, weil er beansprucht, Sohn Gottes zu sein?

Der Schlüssel zum Verständnis liegt also tatsächlich in den beiden Relativsätzen und der Beobachtung, dass das Ergehen des Wortes Gottes an „jene“ (die Israeliten am Sinai) der Heiligung und Sendung Jesu in die Welt entspricht. So wird auch deutlich, warum Jesus erst recht beanspruchen kann, Sohn Gottes zu sein. Er wird nicht mit den Israeliten am Sinai verglichen, die durch das Wort Gottes zu „Göttern“ (geheiligt) wurden. Stattdessen wird er als Messias und Sohn Gottes mit dem Wort Gottes korreliert, welches die Adressaten zu „Göttern“ macht, auch wenn Jesus und die Israeliten zur Kategorie „Menschen“ zu zählen sind. Als derjenige, der vom Vater zum Christus und Sohn Gottes geheiligt und in die Welt gesandt ist,208 repräsentiert er den Vater und offenbart schreibt in seiner Untersuchung zum Zusammenhang zwischen Heiligkeit Israels und Gebot in rabbinischen Texten (AVEMARIE 1996: 517): „Israels Heiligkeit hat in mehrfacher Hinsicht mit den Geboten zu tun. Sie ist die durch Gottes Erwählung gesetzte Ursache, aus der Israel Gebote gegeben werden. Sie wird Israel durch die Gabe der Gebote selbst zuteil. Und sie kommt zustande, indem Israel gehorsam die Gebote erfüllt.“ 206 S. Haupttext nach Fußnote 12 in diesem Kapitel. 207 S. Haupttext bei Fußnote 192 in diesem Kapitel. 208 Einige Forscherinnen und Forscher sehen in der Heiligung Jesu durch den Vater einen anderen Bezug als den hier vertretenen. Gemäß FELSCH (2011: 231) wird Jesus – wie an anderen Stellen im JohEv, so auch hier – als „personifiziertes Heiligtum“ präsentiert (sie nennt als atl. Bezüge Num 7,1; 1Kön [3Kgt] 8,64; 9,3). BAUCKHAM meint dagegen: „Probably we should think not of his consecration to be the tempel as the place of sacrifice, but more specifically of his consecration as the new altar of burnt offering. Just as the altar installed by Judas Maccabaeus was a new one, so is Jesus the eschatologically new altar on which the final sacrifice is to be offered, not yet but soon, within the narrative time of the Gospel“ (2007: 264). Es ist prinzipiell nicht unmöglich, dass der Evangelist in Joh 10,36a mehrere Bedeutungsebenen intendiert. Doch die Deutung auf den Tempel oder den Altar passt nicht in den Zusammenhang von Joh 10,36a. Sie taugt nämlich nicht als Begründung

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ihn daher, so, wie auch das Wort Gottes Offenbarung Gottes ist. Allerdings gibt es auch einen gewichtigen Unterschied zwischen Sinaiereignis und Christusoffenbarung. Durch das Wort Gottes vom Sinai wurden die Israeliten zu „Göttern“ (geheiligt), d.h. Israel wurde zu Gottes auserwähltem Eigentum, zu einem Königreich von Priestern und zu einer heiligen Nation. Doch als der Messias und Sohn Gottes gibt Jesus ewiges Leben (10,28) und die Vollmacht, Gotteskinder zu werden; die Rettung der Welt ist ja das Ziel seiner Sendung vom Vater in die Welt (vgl. Joh 3,17). Damit überbietet das Christusereignis innerhalb der geschichtlichen Kontinuität von Gottes Offenbarung das Wort Gottes vom Sinai und führt den einen entscheidenden Schritt näher in die Gottesbeziehung. Treffend bemerkt Menken: „As so often in John, Jesus responds to Jewish objections to his claim to be of divine origin by explaining it, not by detracting from it (see, e.g., 5,16–47; 6,41–58)“209. In Joh 10,35–36 wird Jesu, seine Würde begründende, Heiligung zum Christus und Sendung vom Vater in die Welt vorausgesetzt und nicht nachgewiesen. „What is demonstrated is that, against the background of Ps 82,6 and its explanation, the divine envoy may rightly call himself the Son of God.“210 Der Bezug auf das „Gesetz“ in Form des Psalmwortes ist also von fundamentaler Bedeutung für die Abwehr des Blasphemievorwurfs. Somit hat Jesus entgegen aller Anschuldigungen „der Juden“, dass Jesu Anspruch Blasphemie und damit ein Kapitalverbrechen gegen das Gesetz ist, das Gesetz auf seiner Seite, wenn er sagt: „Sohn Gottes bin ich.“ Einige Forscher erwägen, dass die Sendung Jesu ein „Aspekt der für das vierte Evangelium charakteristischen Mose-Typologie“211 ist. Mose ist nach Num 12,8; Dtn 34,10; Hos 12,14 der Prophet schlechthin und Vorbild aller Propheten. Moses Berufung wird in Ex 3f. berichtet. In diesem Zusammenhang begegnet denn auch besonders oft das Verb ἀποστέλλω (vgl. Ex 3,10.12 [ἐξαποστέλλω].13.14.15; darüber hinaus: 4,28; 5,22; 7,16; Jos 24,5; 1Kgt 12,8; Ps 104,26; Mi 6,4; Apg 7,34f.). Damit ist von Anfang der Exodusgeschichte an deutlich, dass Mose der Gesandte Gottes ist. In Ex wird nirgends explizit von für die Aussage Jesu „Sohn Gottes bin ich“. Wie könnte die Tatsache, dass Jesus der personifizierte Tempel oder Altar ist, eine Begründung dafür sein, dass er sich „Sohn Gottes“ nennen darf? Die „Sendung in die Welt“ erfordert ein personales Verständnis. Aufgrund der engen Verbindung von „Heiligung“ und „Sendung in die Welt“ (die Reihenfolge – zuerst „Heiligung“ und dann „Sendung“ – signalisiert, dass die Heiligung die Voraussetzung der Sendung ist) gilt dies wahrscheinlich auch für die „Heiligung“, zumal als Begründung für die Sohn-Gottes-Bezeichnung. Darüber hinaus ist von einer Entsprechung zwischen altem und neuem Altar im johanneischen Text keine Rede. Wie ich oben zu zeigen versucht habe, ist der Festhintergrund des Chanukkafestes für die gesamte Szene, die Joh 10,22–39 schildert, durchaus von Belang; ein Tempelbezug in Joh 10,36a ist damit aber kaum verbunden. 209 MENKEN 1997: 380. 210 Ebd. 211 HAACKER 2005: 1659; vgl. auch MEEKS 1967: 305; MIRANDA 1977: 46–51; CHO 2006: 228f. und öfter; LIERMAN 2006: 211–214.

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Moses Heiligung gesprochen. Diese Leerstelle wurde im Frühjudentum ausgefüllt, indem das, was von anderen Propheten bekannt war, in der Darstellung Moses ergänzt wurde. Gemäß Sir 45,4 „heiligte er (sc. Gott) ihn (sc. Mose) mit Treue und Milde“ und „wählte ihn aus von allem Fleisch“ (ἐν πίστει καὶ πραΰτητι αὐτὸν ἡγίασεν ἐξελέξατο αὐτὸν ἐκ πάσης σαρκός). Eine „Heiligung (zum Propheten)“ wird in Sir 49,7 auch von Jeremia212 ausgesagt (vgl. auch AssMos 1,14). Der Autor von Weish nennt Mose213 in 11,1 einen „heiligen Propheten“. Demgemäß galt Mose bisweilen als Geheiligter und als Gesandter. Nun wird Mose in Ex auch als „Gott“ bezeichnet.214 Angesichts der Deutung des Psalmwortes 81,6 LXX auf die Israeliten am Sinai und des Rekurses auf die Werke, die zum Glauben an den Gesandten führen sollen, könnte man in Joh 10,36 einen (impliziten) Mosebezug (z.B. über „den Propheten [wie Mose]“) annehmen.215 Ein überzeugender Nachweis dessen kann allerdings nur schwer gelingen. In Joh 10,22–39 wird Mose nicht explizit genannt. Vor allem spricht gegen eine Assoziation Jesu als dem vom Vater Geheiligten und in die Welt Gesandtem mit Mose bzw. „dem Propheten (wie Mose)“, dass Jesus in 10,35f. (im Konnex mit der Frage, ob er der Gesalbte sei) als „Sohn Gottes“ identifiziert und mit dem Wort Gottes und nicht mit dessen Vermittler verbunden wird.216

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Zu Jeremia als „Prophet wie Mose“ vgl. GRÄTZ 2007. Diese Identifikation ist vom Kontext gefordert (sie wird u.a. auch von WINSTON 1979: 226f. vorgenommen). In Weish 10 wird analog zur biblischen Geschichte von Adam, Noah, Abraham über Lot, Jakob und schließlich Joseph erzählt, wie die Weisheit jeweils gewirkt hat. Ab 10,15 kommt der Autor auf den Exodus und die Wüstenwanderung zu sprechen. Dabei spielt „ein Diener des Herrn“ offensichtlich eine wichtige Rolle, denn die Weisheit geht in seine Seele ein (10,16). In 11,1 wird dann „ein heiliger Prophet“ genannt (vgl. Hos 12,14). Im Anschluss fährt Weish mit der Erzählung der Wüstenwanderung fort. Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass der „Diener des Herrn“ und der „heilige Prophet“ nicht ein und dieselbe Person sind. Wer, wenn nicht Mose, sollte sonst gemeint sein mit den Bezeichnungen „Diener des Herrn“ und „heiliger Prophet“? 214 S. Haupttext nach Fußnote 74 in diesem Kapitel (zu Ex 4,16; 7,1). 215 Vgl. BOISMARD 1974: 160–171 (wobei er in den „Göttern“ nicht die Israeliten am Sinai, sondern die ersten, von Mose eingesetzten Richter sieht). Da er das Psalmzitat auf Richter bezogen sieht (m.E. zu Unrecht), legt SCHUCHARD 1992: 70, Joh 10,34ff folgendermaßen aus: „The psalm is recalled in order to facilitate an argument in which John apparently wishes to establish the following: (1) The psalm addresses Israel’s judges who, because they possess an identity and authority derived from Moses (who is himself ‚like God‘), are referred to as ‚gods.‘ (2) Because Moses’ identity surpasses that of the ‚gods,‘ and Jesus’ identity [diese hat er [1992: 67] bestimmt als u.a. „the eschatological prophet like Moses who surpasses infinitely the person of Moses“] surpasses that of Moses, Jesus is able to speak as he does of his unity with the Father and is worthy of the title ‚Son of God’.“ 216 Außerdem wäre es unter der Voraussetzung, dass Jesus sich hier als „der Prophet (wie Mose)“ charakterisiert, höchst verwunderlich (zumal vor dem Hintergrund von Joh 6,14), dass „die Juden“ Jesus steinigen bzw. ergreifen wollen. 213

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Dass Jesus der vom Vater (zum Christus) Geheiligte und „in die Welt“ Gesandte ist, wird aber von „den Juden“ geleugnet. Ihren Einwand antizipiert Jesus, wenn er direkt im Anschluss an das schriftbasierte Argument erneut (vgl. 10,25.32) und dezidiert auf die von ihm getanen Werke des Vaters rekurriert (V.37f.). Joh 10,37f. zufolge müssten „die Juden“ Jesu Worten kein Vertrauen schenken, wenn er gar nicht die Werke des Vaters täte. Doch da er sie tut, sollen „die Juden“ ihnen glauben. Glauben sie den Werken, gelangen sie auch zur Erkenntnis, wovon die Werke Jesu hinsichtlich seiner Identität zeugen, und haben diese Erkenntnis dauerhaft. Worin besteht die zu erlangende und dauerhaft festzuhaltende Erkenntnis? Die Antwort lautet nach V.38f.: „dass der Vater in mir ist und ich im Vater bin“ (ὅτι ἐν ἐµοὶ ὁ πατὴρ κἀγὼ ἐν τῷ πατρι; vgl. Joh 14,10f.; 17,21.23.26).217 Damit reformuliert Jesus die Einheitsaussage aus V.30 und die Behauptung „Sohn Gottes bin ich“. Söding erklärt dies zutreffend folgendermaßen: „Die räumliche Metaphorik des wechselseitigen ‚in‘ verweist auf die relationale Einheit zwischen Vater und Sohn und erklärt ihre soteriologische Effektivität. Der Vater ist so sehr ‚in‘ Jesus, dass Jesus ganz ‚aus dem Vater‘ wirken kann (10,32) und dass Gott sieht, wer ihn anschaut (14,9); Jesus ist so sehr ‚in‘ Gott, dass Gott alles, die ganze Schöpfung und die volle Erlösung, ‚durch‘ ihn wirkt (1,3.17) und sich selbst offenbart, wenn Jesus spricht und handelt. Wie Gott rückhaltlos im Sohn gegenwärtig ist, so gehört der Sohn vollkommen in das Geheimnis Gottes hinein. Dass der Vater ‚in‘ Jesus ist, lässt sich letztlich nicht daraus erklären, dass Jesus sich auf ihn konzentriert, sondern dass Gott ihn an seinem Gottsein umfassend teilhaben lässt; dass Jesus ganz ‚in‘ Gott ist, folgt nicht daraus, dass Gott ihm von irgendeinem Zeitpunkt ab in seinem Herzen Raum gegeben hat, sondern dass er immer schon Gottes Sohn ist, wie Gott immer schon der Vater Jesu ist.“218

Leider findet die Aufforderung zum Glauben kein Gehör bei „den Juden“. Sie gelangen folglich nicht zur Erkenntnis dessen, wovon die Werke zeugen. Stattdessen wollen sie Jesus erneut ergreifen.219 Vor dem Hintergrund der Rede Jesu erweist sich dieser Versuch, Jesus zu ergreifen, als unrechtmäßiges Vergehen gegen ihr eigenes Gesetz und so gegen Gott selbst.220

217 Die Aussage, dass „der Vater in mir ist“ stützt den von einigen Forschern vorgeschlagenen Heiligtumsbezug in V.36a nur scheinbar, denn die Fortsetzung des Verses, dass Jesus „im Vater ist“, spricht dagegen. 218 SÖDING 2002: 198f. Vgl. auch SCHNACKENBURG 1971: 393: „Sie [sc. V.38f] sagt die denkbar engste Gemeinschaft aus, die in dieser Weise nur zwischen dem Vater und Jesus, seinem Sohn, besteht.“ In einem davon abgeleiteten Sinne sollen die Jünger Jesu in diese Gemeinschaft hineingezogen werden (vgl. Joh 14,20; 17,21). 219 Vgl. Joh 7,30.32.44. 220 Daly-Denton hört hier ein weiteres Echo („die Juden“ würden den ungerechten Richtern entsprechen, die von Gott in Ps 82[81],1–5 getadelt werden, weil sie gegen das Gesetz handeln; vgl. DALY-DENTON 2000: 174). Allerdings nennt sie keine überzeugenden Argumente dafür.

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4.5 Zusammenfassung Das Zitat von Ps 81,6a LXX in Joh 10,34c–d relativiert die Sohn-Gottes-Bezeichnung nicht. Vielmehr dient es als Beleg aus „eurem Gesetz“ dazu, Jesu Anspruch auf Gottessohnschaft und göttliche Würde gegen den Blasphemievorwurf – der sich irrtümlicherweise auf das Gesetz stützt – zu verteidigen. Ausgehend von der Identifikation der „Götter“ als Israeliten am Sinai, an die das Wort Gottes erging – wodurch sie in eine außerordentliche Beziehung zu Gott gesetzt wurden –, wird ein Argument gegen den Blasphemievorwurf formuliert (das schwerlich als a-fortiori Argument bezeichnet werden kann): Wenn schon die Israeliten am Sinai als Empfänger des Wortes Gottes, der Tora, „Götter“ genannt wurden, dann kann die Selbstbezeichnung Jesu als „Sohn Gottes“ keine Gotteslästerung sein. Schließlich ist er derjenige, den der Vater zum Christus „geheiligt“ und in Entsprechung zum Wort vom Sinai „in die Welt“ gesandt hat,221 um denen, die an ihn glaubten, ewiges Leben zu verleihen – in Überbietung der Offenbarung am Sinai.222 Der Verdacht auf Dämonenbesessenheit und der Blasphemievorwurf sind also haltlos. Ps 81,6a LXX als „euer Gesetz“ erweist „die Juden“ als die eigentlichen Gesetzesübertreter, allerdings nur unter der Voraussetzung, dass Jesus wirklich vom Vater geheiligt und gesandt ist (davon zeugen Jesu Werke). Die Sinaitora ist also für das JohEv Wort Gottes, das seine Empfänger zu „Göttern“ machte; gemeint ist damit wohl der besondere Status Israels als Gottes Eigentum, Königreich von Priestern und heiliges Volk, welcher auf einer anderen Ebene liegt als die, die „Sohn Gottes“ impliziert. Mit dem Reden Gottes zu Israel am Sinai wird die Heiligung und Sendung Jesu in die Welt korreliert. Im Verhältnis zur bis dahin bedeutsamsten aller Offenbarungen Gottes an Israel wird die Bedeutung Jesu so verdeutlicht und die Kontinuität unterstrichen. Innerhalb dieser Kontinuität bildet die Offenbarung Gottes in Jesus, dem Gesalbten, allerdings die Klimax. Das anstößige Psalmwort (wie auch die Schrift insgesamt) kann nicht „aufgelöst“ werden – es behält seine Gültigkeit als Schriftwort bei. Dabei wird es im Anschluss an jüdische Deutungen so gelesen, dass das Gesetz die göttliche Würde Jesu nicht widerlegt, sondern sie stützt. Das Psalmwort als Gesetz bzw. Schrift steht mithin im Dienste der Christologie. Dies ist vergleichsweise leicht zu erkennen. Das Schriftargument selbst ist dagegen nicht ganz so einfach zu verstehen, weil hier stark verdichtete und verkürzte Redeweise vorliegt. Die Kürze und Selbstverständlichkeit der Deutung des Psalmverses sprechen dafür, dass der 221

Als (zum Gesalbten) Geheiligter und Gesandter des Vaters wird Jesus nicht mit den Israeliten, sondern mit dem Wort Gottes assoziiert, durch welches die Israeliten zu „Göttern“ wurden. 222 Die Heiligung und Sendung durch den Vater begründet also Jesu Identität als Sohn Gottes. Die Schrift bezeugt sie.

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5. Kapitel: Die Rezeption der Sinaitradition in Joh 10,34ff.

johanneische Jesus bei seinen Zuhörern (und damit auch der Evangelist bei seinen Lesern) ein Wissen um die später rabbinisch bezeugte Auslegungstradition voraussetzt, das ohne großen Aufwand mit wenigen Worten evoziert werden kann. Spätere Lesende müssen dieses Wissen aus der (früh-)jüdischen Auslegungstradition re-konstruieren. Daraus lässt sich schlussfolgern, dass es aus hermeneutisch-heuristischen Gründen durchaus sinnvoll ist, rabbinische Deutungen zu beachten, auch wenn sie literarisch später als das JohEv fixiert wurden.

Kapitel 6

Zusammenfassung der Ergebnisse und Schlussfolgerungen Ergebnisse und Schlussfolgerungen

Im Folgenden werde ich aus den in dieser Arbeit gewonnenen Einsichten mit knappen Strichen ein Gesamtbild der Rezeption der Sinaitradition im Evangelium nach Johannes zeichnen und dabei die eingangs gestellte doppelte Frage beantworten: Inwiefern und wozu wird die für das Judentum so außerordentlich wichtige Sinaitradition im Evangelium nach Johannes bzw. in der johanneischen Darstellung der Christusbotschaft rezipiert? Das Ausmaß sowie die Art und Weise der Rezeption der Sinaitradition im JohEv. Im JohEv wird weder einmalig noch am Rande, sondern an mehreren und bedeutsamen Stellen auf die Sinaitradition Bezug genommen. Explizit markierte intertextuelle Einschreibungen finden sich in Joh 1,14–18; 5,37f., 6,31f.45f., 10,34ff. (implizit markierte Bezüge wurden nicht untersucht). Die erste Bezugnahme taucht an einem wichtigen, vielleicht sogar dem wichtigsten literarischen Ort im JohEv auf, nämlich dem Prolog, der, da er als Lektüreanweisung fungiert, in hermeneutischer Hinsicht für das Gesamtverständnis des Evangeliums von größter Bedeutung ist. Das allein lässt auf die Wichtigkeit der Sinaitradition für die johanneische Darstellung der Christusbotschaft schließen. Diese Annahme wird verstärkt durch die drei bzw. vier weiteren oben genannten Bezüge zur Sinaitradition. Sie begegnen jeweils im Zusammenhang der Auseinandersetzungen Jesu mit „den Juden“ (Joh 5–10), in deren Verlauf der Anspruch des johanneischen Jesus immer wieder neu geäußert und entfaltet wird. Der Evangelist lässt Jesus innerhalb dieser Auseinandersetzungen nicht auf die Schrift im Allgemeinen und auf die Sinaitradition im Speziellen verzichten, sondern macht auch und gerade in diesen Auseinandersetzungen umso massiver von ihnen bzw. ihr Gebrauch (vgl. besonders Joh 6). Die Rezeption der Sinaitradition in den jeweiligen Passagen des JohEv erfolgt auf verschiedene Art und Weise. In Joh 1,14–18 knüpft der Evangelist um die evidente Anspielung auf die Gabe des Gesetzes durch Mose herum ein Netz an intertextuellen Bezügen zur Namensoffenbarung Gottes am Sinai (Ex 33f.). In Joh 5,37f. spielt der johanneische Jesus in expliziter Weise auch und v.a. auf die „erste“ Sinaitheophanie an (Ex 19f; 24). Auf ein nicht aus der Sinaitradition stammendes Mischzitat im Mund der jüdischen Volksmenge antwortet der johanneische Jesus in Joh 6,32 mit einer explizit markierten Anspielung auf die Gabe der Tora; später gibt er im Konnex mit einem Zitat aus den Prophetenbüchern (konkret aus Jes 54,13) einen atl.-(früh-)jüdischen, aus der

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Ergebnisse und Schlussfolgerungen

Sinaitradition stammenden, Konsens wieder, wonach niemand Gott jemals gesehen hat. Im Anschluss an ein ebenfalls nicht aus der Sinaitradition stammendes Zitat (vgl. jedoch die Angabe „in eurem Gesetz“ in Joh 10,34) im Munde des johanneischen Jesus spielt der johanneische Jesus selbst auf die Sinaitradition an. Die drei letztgenannten Anspielungen sind mit Blick auf die Art und Weise der Bezugnahme auf die Sinaitradition besonders interessant. Denn sie machen deutlich, dass im JohEv auf die Sinaitradition mittels Texten referiert werden kann, die selber nicht direkt aus jener Tradition stammen. Die Sache, um die es geht, begegnet in der Sinaitradition; die Worte dafür stammen aber aus anderen Teilen der Schrift, z.B. aus den Psalmen (vgl. Joh 10,34ff.). Aus dem Gesagten lässt sich schlussfolgern, dass der Evangelist mit Auslegungstraditionen vertraut war, in denen sich ähnliche, z.T. recht komplexe Verknüpfungen von Sinaitradition und anderen Texten finden, die mittels Interpretation zustande gekommen sind. Die Vertrautheit des vierten Evangelisten mit Auslegungstraditionen, wie sie in (früh-)jüdischen Texten dokumentiert sind, zeigt sich nicht nur an der auffälligen Verknüpfung von Texten verschiedener Provenienz (allerdings alle aus der Schrift), sondern auch in deren Deutung (vgl. besonders Joh 6,31ff.; 10,34ff.). Offensichtlich hat der Evangelist mindestens die Sinaitradition oder Textabschnitte der Sinaitradition nicht isoliert, sondern in einem großen und hochkomplexen Verbund mit anderen Texten und Auslegungstraditionen gelesen und gedeutet. Aber auch schon innerhalb seiner Deutung der Sinaitradition hat er den weiteren Kontext und größere Zusammenhänge wahr- und in „seinem“ Evangelium aufgenommen (vgl. Joh 1,14–18, das Umfeld von Joh 5,37f. und von Joh 6,31f.45f.). Das setzt auf jeden Fall seinerseits eine breite Kenntnis der Schrift und der darauf aufbauenden Auslegungstradition voraus. In welcher Form bzw. in welchen Formen ihm die Schrift vorgelegen haben mag, ist nicht immer zweifelsfrei zu sagen und dürfte in den meisten hier untersuchten Stellen von untergeordneter Relevanz sein. Zwar ist der Evangelist mit jüdischen Auslegungstraditionen vertraut und bietet einige Entsprechungen dazu. Jedoch zeigt sich im Vergleich mit jenen Traditionen ein klares, von jüdischer Auslegung deutlich abgehobenes Profil seiner Rezeption der Sinaitradition. Die Bedeutung und Funktion der Rezeption der Sinaitradition im Evangelium nach Johannes. Die generelle Auskunft, dass die Rezeption der Sinaitradition im JohEv eine christologische Funktion hat, bestätigt die Ergebnisse früherer Untersuchungen,1 dürfte daher auch wenig überraschend sein. Wie sich dies im Einzelnen darstellt, ist jedoch bemerkenswert. Die Bezugnahmen auf die Sinaitradition dienen dazu, die Identität Jesu Christi, des inkarnierten Wortes, im Verhältnis zu Mose bzw. zum Gesetz, v.a. aber zum Gott Israels und seiner Offenbarung am Sinai zu beschreiben (Joh 1,14–18). Ferner ermöglichen sie im Zusammenhang der Auseinandersetzungen Jesu mit „den Juden“ 1

Vgl. besonders OBERMANN 1996.

Ergebnisse und Schlussfolgerungen

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die Sinaioffenbarung als Zeugnis von Jesus Christus, dem durch seine Stimme und durch sein Wort Leben gebenden Sohn Gottes, zu charakterisieren und „die (nicht-christusgläubigen) Juden“ von dem Volk Gottes als den Empfängern der Sinaioffenbarung zu distanzieren (Joh 5,37f.), die falsche Sichtweise „der Juden“ vom mosaischen Gesetz als Leben spendendem „Brot vom Himmel“ zu korrigieren (Joh 6,32), zugunsten der Explikation von Jesu Identität als von Gott gekommenem Offenbarer an einen jüdischen Konsens zu erinnen, dass niemand Gott, den Vater, gesehen hat (Joh 6,46), und schließlich Jesu Anspruch auf Gottessohnschaft und göttliche Würde gegen den Blasphemievorwurf zu verteidigen (Joh 10,34ff.). Folglich steht der Rekurs auf die Sinaitradition im Zentrum der johanneischen Darstellung der Christusbotschaft. Nirgends wurde im JohEv eine Polemik gegen die Sinaioffenbarung als zentralem Teil der Heilsgeschichte oder eine radikale Diskontinuität zwischen Sinai- und Christusoffenbarung deutlich. Im Gegenteil, es ist eine johanneische Hochschätzung der Sinaitradition und Sinaitora erkennbar, da sie Zeugnis von Jesus Christus, dem Sohn Gottes, ist. Aus der Sicht des Evangelisten gilt: Am Sinai hat sich Gott, der Vater Jesu Christi, seinem Volk offenbart, und dort hat er Mose seinen Namen kundgetan. Die Tora ist Wort Gottes, d.h. Offenbarung Gottes, die Mose gegeben und von ihm dem Volk Gottes vermittelt wurde. Durch dieses Wort wurden seine Empfänger zu „Göttern“ (im oben dargestellten Sinne); in ihm ist die Sinaioffenbarung grundsätzlich zugänglich. An die Sinaioffenbarung anknüpfend wird Jesus Christus, das inkarnierte Wort und der Einzigartige (Sohn Gottes), als die endzeitliche Offenbarung desselben Namens Gottes im temporären Heiligtum auf Erden, dem Menschen Jesus Christus, präsentiert. Daraus folgt, dass Moses Herrlichkeitsschau (Gottes Wahrheit als seine Gnade) der Herrlichkeitsschau der Augenzeugen (Gottes Wahrheit als Gnadenfülle) entspricht und die Steintafeln mit der Tora als permanentes Zeugnis der Offenbarung Gottes in Analogie stehen zu Johannes (dem Täufer) als permanentem Zeugen der Christusoffenbarung. Innerhalb der Kontinuität von Sinai- und Christusoffenbarung bildet das Christusgeschehen die Klimax. Denn nun bekommen alle, die an den Namen Jesu glauben, unmittelbar aus der Gnadenfülle des inkarnierten Wortes das, was einst nur Mose gewährt wurde, nämlich Gnade, und zwar im eschatologischen Übermaß. Nicht das an Israel durch Mose vermittelte Gesetz, sondern nur die Christusoffenbarung spendet ewiges Leben bzw. bevollmächtigt (durch den Glauben an Jesus Christus) zur Gotteskindschaft. Das Ziel der Christusoffenbarung ist folglich die Formung des Gottesvolkes aus allen, die an Jesus Christus glauben. Die Sinaioffenbarung und die Tora, die jene zugänglich macht, dagegen ist bestätigendes Zeugnis von Jesus Christus, dem Sohn Gottes. Sie steht dem Anspruch Jesu nicht entgegen, sondern stützt und erhellt ihn. Nicht zuletzt deshalb erfolgt im JohEv der Rekurs auf sie, zumal an entscheidenden Stellen in der johanneischen Darstellung bzw. in der Argumentation des johanneischen Jesus in den Auseinandersetzungen mit „den Juden“, für die das Gesetz der kritische Maßstab für

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Ergebnisse und Schlussfolgerungen

jegliche Offenbarungsansprüche ist. Allerdings setzt dies eine bestimmte Hermeneutik voraus, die man mit Hays beschreiben kann als „reading Scripture figurally – reading backwards in light of the story of Jesus“2. Zusammenfassend gilt hinsichtlich der johanneischen Rezeption der Sinaitradition das, was über die ntl. Rezeption der Schriften insgesamt zu sagen ist. Der Glaube an Christus und die Rezeption der Schriften erschließen sich wechselseitig. Das Christusgeschehen kann ohne die Schriften nicht sachgemäß verstanden werden, da sie „mit ihren Aussagen, Begriffen und Bildern allererst die Sprachmöglichkeiten bereit[stellt]“, mit deren Hilfe „die neue Offenbarung des einen Gottes“3 begriffen und mitgeteilt werden kann. Zugleich wird der „endzeitliche Sinn der Schriften“4 durch die Offenbarung Gottes in Christus aufgedeckt, sodass sie Zeugen des Christusgeschehens sind.

2

HAYS 2016: 345. WILK 2016a: 57. 4 Ebd. 3

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Altes Testament Genesis 1 1,1 2–3 2,2 3,22 3,23 6,1–4 6,2.4 7,4 10 15,17 22 22,17 28,12–13 32,30–31 32,31 35,7

275 3 387 216 276 275 397 388 270 388, 395 142 267 307 149 132 136 149

Exodus 2,24 3,1 3,14–15 3,14 3,15 3,2 3,5.12 3,6.13.15–16 3,6 4,1.5.8.9.31 4,16 7,1 10,28 13,17 15,22 15,25

169 140 95 50 42 78, 137, 148 156 149 163 141 385–86 385 51 279 326 281

18,13–27 18,16.22.26 18,18 21,6 22,28 23,17 23,20 25,7 25,8 25,16 28,18 28,37 29,1.7.21 29,42–44 30,6 30,25 31,18 40,27 40,28–32 40,28–29.32

394 393 394 383, 391 384 144, 219 400 148–49 149, 179 46 308, 322 142 374 151–53 150 374 46, 53 153 142 145

Levitikus 3,17 7,26–27 8,9 8,12 9,22–23 10,1–7 10,1–2 10,2–3 10,2 10,3 14,2 17,10–14 18,5 19,2

331 331 374 374 141 86 396 163 156 152 188 331 172, 182, 262 374

460

Stellenregister

19,15 21,17–21 23

380 189 226

Numeri 4,15 6,25–26 6,25 9,15–16 11,1 11,7 11,9 11,13 12,8 14,11 14,17 14,18 14,20 14,23 14,30 21,19 23,19 24,17

140 51 149 132 396 263 259, 293, 302, 352 292 60, 77, 85, 132, 424 254, 292 65, 87 65 65, 83 138, 294, 298 148 401 173 224

Deuteronomium 1,9–18 2,14.16 2,14 4,12 4,31 7,10 8,3.16 8,3 8,5 12,5.11 14,1 14,23 16,16 16,19 17 18,15–22 19,15–21 31,9.11 31,10–13 31,26 32,8 32,17 32,42 32,50

383 254 197 129 68 86 262, 298 261–62, 267 171 48, 95 384 48, 95 144 383 204–5 184, 234 204 140 227 224 395 389 295 282

32,8–9 32,9 33,2 33,16 34,10

403 388 149 148 48

Josua 5,11–12 24,1

283 181

Richter 5,4

186, 197, 326

1. Samuel 2,6 10,2

45 62

1. Könige 4,42–44 18,38–39 22,19

233 156 380

Jesaja 2,2–4 6 11,1–4 11,16 14,14 24,21 27,13 29,13 35,5 35,6 40,3 40,8 51,4 54,7–10 55 58,1

309 136 377 315 390 389 190, 197 315–16 187 187 3 325, 330, 357 310 69 310–16 161

Jeremia 23,29 31,2–3 31,31 31,33 31,34

145 69 326 324 114, 316–18

461

Stellenregister Ezechiel 1 1,26 10,5 28,2 37,1–14

130, 136 132 130 390, 417 160

Hosea 12,14

424

Joel 2,13

68

72,16 78,37–38 85 86,15 89,37 96,4–5 103 103,7–9 132,16–17 145

282, 283 67 45, 65 66 418 388 67 49 215 67

276 311 238

Jona 4,2

68

Sprüche 3,18 9,1.3–6 30,1–4

Micha 7,18–20

68

Hohes Lied 4,5

270

Habakuk 1,5

247

Klagelieder 3,22–24

69

Sacharja 9,14 14,5

160 167

Prediger 12,11

270

Daniel 7,9 7,14

321 211

Nehemia 9,6–10,1 9,15

67 257

Psalmen 2,6–7 18,10 29,7 44,7–8 69,5 69,10

386, 390 157, 182 158, 184 384 418 3

Außerkanonische Schriften neben dem Alten Testament Abraham-Apokalypse 31,1 160 Aristobulos Frgm. 2 Frgm. 4 Frgm. 5

149, 173, 195 174 206

Assumptio Mosis 1,14

425

2. Baruch 1,1 27,1.6 29 29,2 29,3 29,4 29,5 29,6–8 29,6

421 276 234 234 234, 276 234 234 235 276

462

Stellenregister

29,8 40,1–2

244, 276 211

4. Esra 3,18 6,23 13,37–38 14,5

157 160 211 79

Tragiker Ezechiel 77–78.89 77–81 83–89 99 100–101

86 78 79 78 78, 89, 104

1. Henoch 1,1–6 1,3–9 14,20–21 15,2 25,3 41,5 48,1 67,1 69,27 82,2–3 82,3 89,23.26.30 89,26 89,30–31 89,32–33 89,41 89,59–60 89,59 90,21–25 94,5

166 166, 190, 197, 198 75, 89, 104, 167 397 166 83 321, 336 421 211 321 336 75 75 167 167 167 397 395 395, 398 168

2. Henoch 21,6–22,3 22,1 22,2 22,9 22,10 37,1–2 37,2 39,3–8 39,3–7 39,8

75 75 76 77, 78 77 77, 90, 103 77 76 76 76

Judith 6,19 7,30 13,14

88 88 88

Joseph und Aseneth 8,5 274 8,9 274, 278 11,10–11 88 12,1 277 12,2 274 14,1–17,8 300 15,4 274 15,5 274, 302 16,8 275 16,9 275 16,11 275 16,14 275, 303 16,15 277 16,16 277 16,18 277 16,19 277 16,20 277 Jubiläen 1 1,27–28 2,19–20 2,19–20.31–33 4,15 4,22 5,10 5,16 5,6 6 6,21 8,19 10,5.8–9 15,27–32 15,31–32

215 190 407 403 398 398 398 212 398 169 228 165 398 404 398

Liber Antiquitatum Biblicarum 11,1–2 82, 100 11,1 180 11,2 167 11,3–5 166, 190 11,4 141 11,5 158 11,5.14 133

463

Stellenregister 11,14 12,1 12,10 12,2 12,9 15,6 15,8 19,5 19,8–9 19,9 19,11 20,8 23,6 23,6–7 23,9–10 23,10 24,1 32,7–8

181 82, 90, 100, 103 83 83 83 180 84 262 84 182 84 283 180 143 181 198 182 166, 190

1. Makkabäer 4,45–46 4,53–54.56

413 413

2. Makkabäer 1,25 2,16–18 2,17 3,24–30 7,30 9 14,15 14,35 15,27–36

404 404, 407 404 149 27 417 149 173 149

3. Makkabäer 6,18

59

4. Makkabäer 18,10

247

Psalmen Salomos 5,1–2.15 7,6 10,7 14,1–3 16,3 17,21–46 5,1–2.15

104 95 87 182 87 375 87

Weisheit Salomos 5,5 9,1 10,16 11,1 15,1 16,12 16,20 16,21 16,22 16,24 16,26 19,21

388 87, 104 425 425 104 263 262 262 262, 275 263 263 262, 263

Sirach 2,11 6,29.31 15,3 16,11–12 16,12 17,11 17,13 24,2 24,8 24,12 24,20 24,21 43,31 45,2 45,4 45,5 48,1 48,20 49,7 50,11 50,19 51,16 51,19 51,23–26 51,23 51,26

87, 104 57 279, 311 87 212 198 133, 168 276 108 276 276 268 115 77, 89, 101, 103 425 166 214 87 374 57 87 321 321 321 336 321

Testament Naphtalis 9 397 Vitae Prophetarum 17 376

464

Stellenregister

Qumran Damaskusschrift 2,12 3,12–16 11,1 11,7 12,17 15,5–19 20,2–4 20,4 20,25–26

170, 374 171 170 322 247 189 323 337 166, 190

Hymnenrolle 6,24 8,16–17 14,27–32 16,16–18 19,29–31

88, 109 88 322 109 88, 109

Kriegsrolle 10,8–11 10,10–11 11,7–8

168 189 170

Sektenregel 4,4 4,21–22 1Q34 2,1–8 2,5–8 4Q158 Frg. 4 Frg. 6

54, 109 323

168 189

143 133, 234

4Q164 Frg. 1

322, 337

4Q175 1–8

234

4Q175

133

4Q246

390, 414, 417

4Q270 Frg. 11, I,11–12 Frg. 11, I,15–21

198 171, 205

4Q377 Frg. 2, II Frg. 2, II,5–9

133, 170, 171, 189 189

4Q403 Frg. 1, II,6–8

168

4Q504 Frg. 3, II Frg. 3, II,7–9 Frg. 6

169 189 171, 198

4Q509 Frg. 97–98 I

168

4Q511 Frg.52–59

109

11Q13 II,9–14 III,7

396, 405 398

Neues Testament Matthäus 5,1 15,6 16,15–16

233 422 376

Markus 1,10–11 6,26

123 110

Lukas 2,47 3,21–22

110 123

465

Stellenregister 4,17 9,20 9,28–36 24,44

227 376 31 246

Johannes 1,1–2 1,1 1,4–5.9 1,4 1,7–8 1,11 1,12 1,14–18 1,14 1,17 1,18 1,19–34 1,20–21 1,20 1,23 1,29 1,31 1,32 1,33 1,41.45.49 1,41.49 1,45 1,49 1,51 2,1–11 2,17 2,19–22 3,11 3,2 3,22 3,29 4,10–15 4,12 4,14 4,20–21 4,32–34 4,36 5,18 5,19–47 5,26 5,35 5,37–40 5,37–38

30, 42, 43, 98, 363 3, 29, 36 100 92, 206, 210 214 97 39, 94, 97, 111, 114 25 5, 225 230 125, 252 123, 213 235 374 3 214 252 302 126, 252, 375 292 235 3, 246 235 302 2, 26 3, 418 165, 193, 225, 359 123, 253 243 226 38 240 245 237 233 240 361 417 417 92, 370 214 247 25, 369, 422

5,39.46 5,39 5,44 6,30.32 6,32 6,45 6,46 6,49 6,69 6,70 7,19.22 7,19 7,21 7,45–52 8,18–19 8,18 8,38 8,56–57 9,3–4 9,29 10,1–18 10,3 10,10 10,24 10,25 10,26–29 10,34–35 10,35–36 11,31 11,47–53 11,51–52 11,52 12,13 12,20 12,28 12,28–29 12,32 12,34 13,2.4.18.26 13,23 14,16 14,20 14,24 14,6 14,7 14,9 15,11 15,19 15,22

298 115, 240, 298 32, 420 3 25 69 125 3 376 108 25 199, 230 208, 216 234 219 120 253 253 416 25 408 207 38 374, 377, 414 415 415 5, 125 25 42 418 297 361 305 361 126 26 252, 361 418 331 42 237 426 126, 209 34, 377 125, 253 126 38 359 418

466

Stellenregister

15,23–24 15,25 17,3 17,6.11–12.26 17,6 17,11.21 17,11 17,17.19 17,17 17,19 17,21 17,22–23 18,36 18,37 19,7 19,15 19,28–29 19,35 19,37 20,16 20,30–31 20,31 21,24–25

417 418 34 95 359 416 373 372, 409 373 373 426 103 235 34, 377 200, 370, 418 223 418 105 257 249 122, 200, 213 94, 105, 111, 235 105

Apostelgeschichte 2 2,26 6,8 13,40 15,15 15,21 24,14

227 29 33 247 247 227 246

Römerbrief 2,5–11 3,19

212 418

1. Korintherbrief 13,12 14,21 15,52

157 418 161, 210

2. Korintherbrief 1,22 5,10 7,9 12,9

237 212 253 29

Galaterbrief 1,16 4,21–31

331 307

Epheserbrief 1,13–14 4,30 6,12

237 237 331

Philipperbrief 2,6

206

Kolosserbrief 1,15–20

37

1. Thessalonicherbrief 4,16 161, 210 1. Timotheusbrief 1,17

41

2. Timotheusbrief 4,1

110

Hebräerbrief 2,6 2,14 11,17

211 331 31

Jakobusbrief 5,10

110

1. Petrusbrief 1,11 4,5 4,14

221 208 110

2. Petrusbrief 1,19 2,4

214 397

1. Johannesbrief 1,1–4 1,1 1,3 2,4 2,5 2,7 2,14.24

122 30 375 218 218 218 125

467

Stellenregister 2,14 2,20 2,27 3,1–2 3,2 3,9.17 3,11.23 3,14 3,23 4,9 4,12.20 4,12 4,17 4,20 5,3 5,9–10 5,10 5,18 5,20

218 375 125 126 41 125 241 209 218 41, 377 125 41 209 41 241 122 218 31 34, 356

2. Johannesbrief 1,6 2

241 125

Johannes-Apokalypse 1,13 211 2,5.16 209 2,23 221 3,7 376 3,11 209 4–5 208 7,3 237 7,15 29 11,4 214 12,12 29 13,6 29 14,14 211 14,20 295 16,16 209, 295 17,6 295 19,17–21 295 20,13 212 21,3 29 22,7.12.20 209

Rabbinisches Schrifttum Mishna Megilla III,7,74b

228

Talmud Aboda Zara 5a Berakhot 64a 7a

401–2, 408 323, 337 71, 72–73, 73, 90, 103

Megilla 31a

136, 228

Rosh ha-Schana 17b

74

Schabbat 88b

159

Sota 35a

281

468

Stellenregister

Midrashim, Targumim, Sammelwerke Jalqut Shimoni 2 §317

324, 336, 337

Mekhilta Rabbi Jischmael Amalek 4 Bachodesch 3 4 9

394

Levitikus Rabba 16 20

188, 198 163

Numeri Rabba 1 16

326, 336 87, 401

Deuteronium Rabba 11 86

11

185 159, 161, 175, 197 143, 158, 159, 184, 197, 263, 399, 401, 408 399

Beshalla 1

279

Kohelet Rabba 1,9

Nezikin 2

392

Vayassa 1 3 6

326, 336 280 281

Pirque de Rabbi Eliezer 41 139, 159 46 73

Yitro 7

188, 198

Midrasch Psalmen 82,1 399 82,6 389 Midrash Rabba Genesis Rabba 54 Exodus Rabba 25 28 32 45 47

Hohelied Rabba 1,2 1,10 2,9–10 4,5

324, 325 188 282 283 282–83, 314

Pesiqta de Rab Kahana 12 166, 187, 188, 197, 323, 337 28 326, 336 Seder Olam Rabba 5 227 Sifre Sifre Numeri §103

326 281, 302 325 400, 401, 402, 403, 408 79, 85, 103, 402 281

§106

71, 72, 74, 84, 85, 103 61

Sifre Deuteronomium §339 282 Targumim Fragmenten-Targum Dtn 33,3 164

469

Stellenregister Targum Jesaja 6,1 12,3 16,1 26,19 55,1–5 55,1 54,13

155 313 321 160 337 336 306, 319, 320, 327, 337

Targum Jeremia 31,34

320

Targum Sacharja 14,4

159, 162, 197

Targum Hohelied 1,4 8,5

360 159

Targum Neofiti Gen 18,8 Ex 4,27

155, 393 164

Targum Onqelos Ex 21,6 Ex 21,7–8 Ex 22,27 Lev 9,24

392 392 392 156

Targum Pseudo-Jonathan Gen 18,8 155, 393 Gen 19,3 155, 393 Dtn 32,8 395 Dtn 33,2 158

Antike Schriftsteller Josephus Antiquitates Judaicae II 85–90 183, 195 II 276 183 III 26–32 270 III 26–27 283 III 27 283 III 79–81 184 III 80 186 IV 218 393 XI 3–5 247 XVII 149.214.216 115 Bellum Judaicum I 261–262 I 649 II 162

235 115 115

Contra Apionem II 175

227

Philon de confusione linguarum 56 179

de congressu eruditionis gratia 51 179 173–174 265 173 262 174 263 de decalogo 13 15 16 16–17 32 32–49 33 35 44 46 47 49 148

269 269 269 301 173 172–76, 184 174 175 174, 175 176 176, 195 176, 177, 180, 198 174

de posteritate Caini 16 79 88 174 142–145 159, 263 143 161

470 145 169

Stellenregister 39 81

de vita contemplativa 88 174 quod Deus sit immutabilis 74–76 88 de Cherubim 14 87–90

221 206

de migratione Abrahami 18 179 47 177 47–52 184 48 177 122 272 de mutatione nominum 9 81 169 247 258.260 265 258 262 259–260 302 259 264, 301 260 265, 301 de sacrificiis Abelis et Caini 69 174 de somniis I 29.259 I 62

174 144, 178

de specialibus legibus I 40–50 90 I 40 79 I 41–50 104 I 42 80, 104 I 43 80 I 45 80 I 46–47 80 I 47 80 I 48 80 I 49 80 II 159 115 IV 34 392

de vita Mosis I 162 I 191–208 I 205 II 67 II 69–70 II 213 II 213–220 II 215–216 II 216 II 263–264

272 264 265 80 80 265 265 265 265 265

Fuga et Inventione 94–105 101 133 137 137–138 138–139 138 139 165 197

80 80 267 267, 303 301, 303 301 302 268, 302 81 247

legum allegoriae III 56 III 100–102 III 162–176 III 162 III 164 III 169 III 173 III 174–175

174 81–82 301, 302 266 266, 301 266 267, 303 267

quaestiones in Exodum II 37.39 178 II 37 178 II 39 179, 198 II 44 394 II 45.47 80 II 45 179 II 47 179 quod deterius potiori 16.181 206 157 174 quod omnis probus liber sit 80–83 265

Personenregister Personenregister Akmajian, Adrian 22 Allen, Graham 8, 10 Allison, Dale C. 233 Annen, Franz 208 Asiedu-Peprah, Martin 119, 125, 199, 204 Auffahrt, Christoph 397 Augenstein, Jörg 2, 112, 418 Aurelius, Erik 140 Avemarie, Friedrich 276, 423 Bachtin, Michail 9, 10 Back, Frances 77 Baltzer, Klaus 307, 308 Bamberger, Bernard J. 397 Barclay, John M. G. 79, 88 Barrett, Charles Kingsley 122, 215, 223, 350 Barth, Karl 27, 37, 112, 114 Bauckham, Richard 28, 95, 235, 373, 386, 413, 416, 423 Baumgarten, Joseph M. 322, 395 Beale, Gregory K. 227 Beasley-Murray, George R. 39, 52 Bennema, Cornelis 375 Ben-Porat, Ziva 15 Berges, Ulrich 308, 309, 311, 315 Betz, Otto 130 Beuken, Willem A. M. 160 Beutler, Johannes 118, 128, 129, 133, 213, 216, 222, 223, 339, 368, 372 Bieringer, Reimund 4 Blenkinsopp, Joseph 311 Blumenthal, Christian 39 Boismard, Marie-Émile 2, 44, 425 Borgen, Peder 229, 230, 237, 242, 245, 247, 251, 257, 262, 263, 265, 266, 269, 279, 350, 351 Bormann, Lukas 18, 20

Böttrich, Christfried 75, 76, 77 Braulik, Georg 138, 139 Bregman, Marc 234 Breitmaier, Isa 140 Brendsel, Daniel J. 3 Brettler, Marc 137 Breytenbach, Cilliers 63, 87, 109 Brooke, George J. 155, 170 Brown, Raymond E. 40, 122, 224, 233, 331, 363, 373, 421 Brunson, Andrew C. 3, 8 Buchanan, George Wesley 234 Bühner, Jan-Adolf 29, 377, 421 Bultmann, Rudolf 2, 4, 33, 34, 62 Burchard, Christoph 273, 274, 275, 277, 278, 279 Burge, Gary M. 375 Burkett, Delbert 238, 328, 351, 352 Busse, Ulrich 377 Bynum, William Randolph 3 Carson, Donald A. 207, 212, 214, 224 Chennattu, Rekha M. 1 Chibici-Revneanu, Nicole 32, 145, 222, 223 Childs, Brevard S. 46, 47, 50, 53, 56, 135, 136, 273 Chilton, Bruce 319, 320, 321 Cho, Sukmin 2, 424 Clark, Gordon R. 54 Clarke, Ernest G. 73, 163, 395 Clark-Soles, Jaimie 3 Clifford, Richard J. 312 Cole, Robert L. 381 Collins, Adela Yarbro 414 Collins, John J. 397, 414 Coloe, Mary L. 165 Conzelmann, Hans 62 Cook, Edward M. 414

472

Personenregister

Cordes, Ariane 379, 381, 387 Cross, Frank Moore 395 Culpepper, R. Alan 8 Dahl, Nils A. 129, 133 Daly-Denton, Margaret 3, 8, 360, 372, 421, 426 Damgaard, Finn 59 Dennis, John A. 360, 361, 362 Dexinger, Ferdinand 234 Dietzfelbinger, Christian 3, 6, 7, 83, 180, 355 Dillmann, August 167 Dimant, Devorah 397 Dodd, Charles Harold 20, 33, 295, 355 Dogniez, Cécile 146 Dohmen, Christoph 46, 47, 48, 49, 50, 51, 52, 53, 55, 56, 57, 134, 135, 136, 137, 140, 152, 402, 403 Dorival, Gilles 60, 61, 393 Draisma, Sipke 8 Edwards, Ruth B. 39, 40 Ego, Beate 322, 323, 327 Eiss, Werner 169, 227 Emerton, John Adney 398, 399, 420 Enz, Jacob J. 2 Epp, Eldon Jay 2, 29, 95, 114 Eßer, Hans Helmut 62 Evans, Craig A. 29, 44 Feldman, Ariel 170, 171 Felsch, Dorit 3, 144, 197, 204, 219, 226, 233, 297, 422, 423 Finsterbusch, Karin 318, 319 Fitzmyer, Joseph A. 31 Fix, Ulla 8, 9, 11, 12 Fraade, Steven 184 Franz, Matthias 53, 54, 55, 65, 66, 67, 68 Freed, Edwin D. 350 Frey, Jörg 3, 5, 29, 30, 44, 95, 105, 108, 119, 123, 199, 200, 204, 206, 208, 209, 210, 211, 212, 213, 222, 235, 240, 252 Frühwald-König, Johannes 165 Fuglseth, Kåre Sigvald 165

Gansel, Christina 8, 11 Gentry, Peter J. 312 Gerber, Christine 303 Gese, Hartmut 30, 33, 110 Ginzberg, Louis 396 Glaßner, Gottfried 307 Glasson, Thomas F. 2, 354 Glueck, Nelson 63, 64 Grappe, Christian 44 Grätz, Sebastian 425 Griffig, Thomas 11, 12 Grossfeld, Bernard 154, 155 Gundry, Robert 43 Haacker, Klaus 27, 377, 424 Hahn, Hans Christoph 214 Hanson, Anthony Tyrrell 5, 6, 44, 96, 112, 127, 223 Harl, Marguerite 146 Harris, Murray J. 31, 39, 42 Harrison, James R. 37, 63, 64 Harstine, Stan 2 Hartenstein, Friedhelm 49 Hatina, Thomas R. 11 Hays, Richard B. 1, 3, 8, 19, 20, 21, 225, 414, 432 Hayward, Charles Thomas Robert 144, 145, 148, 149, 150, 151, 152, 153, 154, 155, 158, 164, 320, 392 Heiligenthal, Roman 237 Heilmann, Jan 295, 328, 332, 338 Heinemann, Wolfgang 11, 12 Helbig, Jörg 14, 15, 16, 17, 19, 22 Hempfer, Klaus W. 10, 11, 12 Hengel, Martin 1, 2, 5, 6, 27, 197 Hirsch-Luipold, Rainer 356 Höffken, Peter 311 Hofius, Otfried 42 Holladay, Carl R. 386 Holthuis, Susanne 12 Hooker, Morna D. 37, 111 Horton, Fred L. 399 Hossfeld, Frank-Lothar 45, 65, 66, 380, 382 Houtman, Alberdina 159 Houtman, Cornelis 47, 48, 50, 51, 56, 260, 393 Huizenga, Leroy A. 22

Personenregister Hurtado, Larry W. 78, 386 Hylen, Susan 8, 232, 233, 253, 292, 293, 302 Ibuki, Yu 32, 34, 35 Jacob, Benno 30, 49, 50, 51, 53, 56, 57, 140, 152 Jacobson, Howard 78, 83, 180, 181, 182, 227 Jassen, Alex P. 170, 234 Jenner, Konrad D. 159, 160 Jeremias, Joachim 224 de Jonge, Marinus 235 Joosten, Jan 59, 62, 63, 64 Jungkuntz, Richard 419 Jürgens, Frank 8, 11 Kaminsky, Joel S. 399, 400, 401 Kanagaraj, Jey J. 2 Karrer, Martin 316, 317, 374 Kedar-Kopfstein, Benjamin 134 Kellenberger, Edgar 54, 62, 63, 64 Kerr, Alan R. 165 Kierspel, Lars 3 Kister, Menahem 273, 280, 281 Klaiber, Walter 208 Klauck, Hans-Josef 3, 31, 41, 122, 218, 375 Klein, Günter 114 Koester, Craig R. 29, 30, 95, 108, 111, 338 Koole, Jan L. 307, 312, 328 Korpel, Marjo C. A. 311 Köstenberger, Andreas J. 373, 377 Kotila, Markku 2 Kraus, Hans-Joachim 134, 227 Kraus, Wolfgang 3, 4, 316 Krispenz, Jutta 421 Kristeva, Julia 9, 10, 11 Küchler, Max 37 Kuhn, Peter 84, 85, 172, 173, 174, 175, 176, 177 Kuyper, Lester J. 44 Labahn, Michael 3, 197 Landmesser, Christof 34, 35 Lange, Armin 321 Lauterbach, Jacob Z. 279, 280, 394

473

Lee, Dorothy A. 2 Leonard, Jeffrey M. 258 Levenson, Jon D. 208 Levine, Lee I. 227 Lichtenberger, Hermann 160, 161, 162, 401, 402 Lierman, John 2, 386, 424 Lieu, Judith 1, 3, 165, 242 Lindemann, Andreas 2 Lipton, Judith 52, 73 Lohse, Eduard 227 Lundbom, Jack R. 317 Machinist, Peter 381, 384, 387 Mackay, Ian D. 338 Mackie, Scott D. 79, 177, 179 Maiberger, Paul 261, 264 Maier, Johann 381, 383, 384, 387, 397, 418 Malina, Bruce J. 270 Manning, Gary T. 3 Marböck, Johannes 165, 166 Marcus, Ralph 178 Maronde, Christopher A. 2 McHugh, John F. 31, 32, 36, 40, 42, 43 McNamara, Martin 74, 158, 164, 271, 392 Meeks, Wayne A. 2, 4, 79, 129, 133, 206, 224, 235, 273, 386, 424 Menken, Maarten J. J. 3, 5, 6, 226, 232, 233, 236, 244, 245, 247, 256, 257, 258, 285, 292, 304, 305, 332, 346, 351, 369, 421, 422, 424 Merz, Annette 14, 16, 17 Metzenthin, Christian 322 Metzger, Bruce M. 42, 345 Metzner, Rainer 192, 204 Miller, Paul 3 Miranda, Juan Peter 377, 424 Moberly, Walter L. 46, 50, 51, 52, 55, 56 Moloney, Francis J. 236, 237, 238, 239 Moser, Marion 3, 8, 13 Mosser, Carl 379 Mowvley, Henry 33, 44, 52, 97, 109 Muraoka, Takamitsu 29, 60, 306, 380, 389 Myers, Alicia D. 3, 4

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Personenregister

Neef, Heinz-Dieter 168 Neudecker, Reinhard 228 Neugebauer, Fritz 214, 215 Newman, Judith H. 83, 84 Neyrey, Jerome H. 368, 377, 399, 400, 409, 414, 419, 422 Nicklas, Tobias 263 Niebuhr, Karl-Wilhelm 279 Nye-Knutson, Alena 270, 271, 273 Obermann, Andreas 1, 2, 3, 5, 37, 43, 111, 112, 221, 229, 242, 243, 256, 257, 258, 304, 305, 353, 354, 358, 359, 369, 372, 418, 419, 420, 430 O’Day, Gail R. 340 Ogden, Graham 51 Olsson, Birger 2, 26 Orlov, Andrei A. 76, 77 von der Osten-Sacken, Peter 2 Oswalt, John N. 159 Otto, Eckart 137, 138, 139, 261 Paganini, Simone 311 Pancaro, Severino 2, 122, 123, 127, 128, 129, 133, 213, 216, 218, 224, 240, 369 Park, Sejin 227 Paroschi, Wilson 44, 95, 110, 112, 114 Passaro, Angelo 263 Peisker, Carl-Heinz 30 Pendrick, Gerard 31 Perkins, Larry 58 Perri, Carmela 15 Petersen, Silke 357 Pfister, Manfred 9, 10 Plett, Heinrich F. 17 Polak, Frank 50 Popp, Thomas 233, 238, 253, 292, 361, 362 Potin, Jean 159 de la Potterie, Ignace 33, 34, 43, 109, 110, 112, 113 Prijs, Leo 152 Pucci, Joseph M. 18, 22 Rahner, Johanna 165 Reeg, Gottfried 227 Reim, Günter 2, 257, 304 Reiterer, Friedrich Vinzenz 166

Rendtorff, Rolf 142 Rese, Martin 20 Reynolds, Benjamin E. 208, 211, 212, 237, 238 Richter, Georg 229, 231, 257, 285, 294, 304 Ridderbos, Herman N. 331 Riesner, Rainer 31 Röhser, Günter 252 Ronning, John L. 319 Rösel, Martin 61 Ruck-Schröder, Adelheid 94, 95 Ruckstuhl, Eugen 39, 110 Runia, David T. 386 Sahlin, Harald 2, 232 Saito, Tadashi 2 Salters, Robin B. 381 Sänger, Dieter 114, 277, 278 Schapdick, Stefan 2 Schaper, Joachim 381 Schenker, Adrian 316, 382 Schiffman, Lawrence H. 227 Schippers, Reinier 237 Schleritt, Frank 414 Schlund, Christine 3 Schmidt, Uta 315 Schnackenburg, Rudolf 32, 37, 45, 114, 119, 120, 129, 133, 219, 223, 224, 232, 233, 234, 236, 279, 302, 328, 331, 339, 343, 345, 354, 358, 368, 373, 426 Schneiders, Sandra 331 Schnelle, Udo 2, 8, 244 Scholtissek, Klaus 2, 3, 4, 5, 355, 415 Schoneveld, Jacobus 2 Schreiber, Stefan 227 Schröder, Jörn-Michael 235, 331, 338 Schuchard, Bruce G. 3, 244, 256, 257, 258, 285, 353, 378, 421, 422, 425 Schürer, Emil 393 Schwienhorst-Schönberger, Ludger 365 Schwindt, Rainer 44, 109 Scoralick, Ruth 51, 53, 54, 55, 65 Scriba, Albrecht 133 Seebass, Horst 132 Seitz, Manfred 221 Sheridan, Ruth 3, 372 Shively, Elizabeth E. 166

Personenregister von Siebenthal, Heinrich 8, 29, 32, 35, 36, 38, 42, 126, 132, 153, 166, 207, 211, 213, 217, 218, 221, 224, 251, 262, 419 Siggelkow-Berner, Birke 181, 227 Smith, Robert H. 2 Söding, Thomas 5, 111, 206, 416, 426 Sommer, Benjamin D. 59, 316 Spieckermann, Hermann 53, 56, 62, 111 Stadelmann, Helge 43 Stare, Mia 236, 239, 296, 331 Steins, Georg 227 Stemberger, Günter 183, 279, 394, 399 Stenzel, Jürgen 18, 19, 22 Steudel, Annette 265, 322, 397, 414 Stiegler, Bernd 9 Stocker, Peter 11, 13, 14, 19 Straub, Esther 206 Stromberg, Jacob 312 Stuckenbruck, Loren T. 397 Suomala, Karla R. 75 Swancutt, Diana M. 328, 330 Tegtmeyer, Henning 10, 12 Theobald, Michael 4, 6, 27, 30, 31, 32, 36, 37, 40, 41, 42, 43, 95, 96, 105, 108, 112, 113, 119, 120, 125, 129, 133, 200, 204, 206, 207, 209, 211, 212, 224, 226, 229, 231, 232, 233, 237, 240, 244, 246, 258, 331, 354, 355, 365, 368, 375, 376, 410, 412, 414, 415, 416 Thiessen, Matthew 305, 306 Thompson, Marianne Meye 126, 127, 206, 208, 360, 386 Thyen, Hartwig 2, 30, 31, 32, 37, 38, 40, 42, 44, 108, 109, 110, 112, 121, 122, 127, 128, 129, 133, 212, 229, 233, 238, 244, 245, 253, 295, 331, 338, 339, 346, 348, 368, 375, 415, 422 Tischer, Ute 22, 23 Trotter, James M. 381, 390 Tsevat, Matitiahu 387 Turner, Cuthbert H. 32

475

Uehlinger, Christoph 132 Umemoto, Naoto 179 van Unnik, Willem C. 418 Untergaßmair, Franz Georg 94 VanderKam, James C. 139, 165, 227, 414 Vermes, Geza 272, 273, 284 Vermes, Pamela 73, 74 Vogel, Manuel 273, 279 Wagner, J. Ross 20 von Wahlde, Urban C. 119, 121, 125, 129, 218 Weigold, Matthias 321 Weinfeld, Moshe 138, 139, 187 Welck, Christian 119, 120, 197, 206 Wevers, John William 50, 57, 61, 141, 142, 143, 146, 147, 148, 150, 151, 152, 153, 261 Wheaton, Gerald 414 Wilckens, Ulrich 127 Wildberger, Benjamin 372, 414 Wilk, Florian 17, 18, 20, 21, 118, 226, 227, 228, 385, 409, 410, 418, 432 Williams, Catrin 3 Williams, Peter J. 40, 41 Willoughby, Thomas N. 96, 114 Wilson, Ian 137, 138 Winston, David 262, 425 Wittmer, Stephen E. 3, 304 Woyke, Johannes 88 Wright, Archi T. 397 Wright, Benjamin 77 Zager, Werner 166 Zeller, Dieter 39, 112 Zenger, Erich 45, 65, 66, 255, 256, 318, 380, 382 Zimmerli, Walther 49, 62 Zimmermann, Ruben 2, 3, 4, 377, 378, 415 Zsengellér, József 263 Zumstein, Jean 27, 40, 105, 115, 119, 128, 212, 219, 221, 233, 246, 250, 251, 339, 354, 355, 356, 372, 373, 407, 409, 410, 420, 422

Sachregister Sachregister Abendmahl 239, 331 Aktualisierung 139, 143, 146, 153, 163, 168, 188, 198, 219, 221, 227 Ältester 393, 394, 395, 421 Angesicht Gottes 48, 51, 59, 70, 71, 73, 75, 77, 80, 86 Anspielung 1, 15, 17, 18, 21, 22 Anthropomorphismus 70, 73, 104, 320 Antijudaismus 4 Antiochus IV. 413 Auferstehung 159, 160, 161, 162, 186, 192, 197, 198, 208, 210, 212 Augenzeugen 36, 96, 103, 105, 108 Auslegungshorizont, jüdischer 23, 24 Barmherzigkeit 62, 64, 65, 67, 84, 87, 313 Bilderverbot 138, 147 Blasphemie 207, 220, 367, 371, 406, 410, 417, 420 Blut 331, 336 Brot des Lebens 274 Brot vom Himmel 255, 259, 262, 263, 264, 266, 267, 268, 270, 294, 300, 329, 330, 334, 337, 355, 356 Bund 46, 47, 48, 49, 55, 56, 63, 68, 83, 89, 96, 100, 113, 114, 136, 138, 168, 169, 181, 204, 205, 207, 298, 307, 309, 310, 312, 317, 318, 320, 323, 403, 405, 422 Dämon 388, 397 Diskontinuität 22, 52, 225, 431 Distanzierung 219 Echo 21 Einheit 95, 98, 103, 207, 212, 216, 223, 416

Einschreibung, intertextuelle 15, 16, 28 Einweihung 413 Einzigartige, der 31, 42 Endtext 8, 24 Engel 155, 382, 388, 393, 394, 397 Entsprechung 25 Erfüllung 37 Erkenntnis 34, 41, 51, 52, 69, 70, 80, 81, 82, 90, 97, 115, 116, 125, 151, 242, 252, 266, 278, 279, 292, 300, 317, 318, 353, 360, 363, 382, 387, 426 Ersetzung 39, 40, 112 Erwählung 49, 55, 58, 108, 113, 138, 168, 169, 179, 185, 192, 337, 359, 403, 404 Feuer 137, 138, 142, 145, 147, 153, 156, 158, 171, 174, 176, 179, 185, 214 Fleisch 255, 295, 330, 331, 336, 337 Fülle 37, 38, 39 Gebetstext 87 Geist 301 Geist Gottes 123, 237, 274, 303, 374, 376 Gericht 166, 180, 198, 206, 208, 213, 224, 263, 294, 381, 382, 397, 398 Gesetz 58, 83, 89, 90, 96, 100, 112, 114, 115, 116, 117, 137, 138, 139, 140, 145, 146, 153, 158, 162, 163, 164, 166, 167, 171, 180, 182, 185, 186, 187, 188, 192, 197, 198, 205, 218, 220, 221, 224, 230, 233, 240, 247, 254, 255, 259, 261, 263, 264, 265, 266, 272,276, 278, 279, 280, 281, 298, 302, 303, 311, 317, 318,

Sachregister 319, 320, 323, 324, 325, 327, 330, 332, 333, 334, 336, 337, 350, 351, 356, 357, 358, 364, 365, 368, 369, 391, 400, 402, 405, 408, 409, 416, 417, 418, 419, 422, 424, 426, 431 Gestalt Gottes 125, 130, 132, 133, 147, 216, 220 Gewänder, herrliche 57 Glaube 97, 104, 141, 192, 209, 214, 222, 224, 252, 336 Gnade 33, 40, 48, 51, 54, 55, 56, 58, 64, 65, 66, 67, 72, 96, 97, 100, 104, 106, 109, 113, 116 Gottes Wort 355 Gottesschau 41, 97, 104, 115, 125, 126 Heiligtum 95, 108, 139, 141, 145, 149, 150, 152, 153, 155, 156, 157, 162, 163, 165, 185, 193, 338, 359, 383, 393 Heiligung 142, 153, 371, 372, 373, 374, 375, 376, 403, 404, 407, 408, 423, 424 Heilsgeschichte 4, 5, 6, 7, 67, 355 Heilszeit, messianische 37, 66, 113, 276, 282, 320 Herrlichkeit 30, 44, 46, 49, 50, 52, 57, 58, 59, 60, 64, 66, 74, 77, 80, 86, 95, 101, 103, 108, 133, 137, 138, 142, 145, 153, 162, 169, 171, 179, 260 Hören 123, 125, 126, 130, 133, 138, 141, 146, 147, 175, 192, 209, 249, 252 Inkarnation 31, 104, 108, 111, 113, 116, 239, 272, 295, 357 Intertextualität 8, 9, 11, 12 Judentum 2, 4, 7, 339 Kennen 252, 253 Kindschaft 95, 97, 106, 111, 114 Klimax 104, 220, 427 Kommen 251, 334, 336, 337, 358, 360 Kommunikation 8, 10, 11, 13, 14, 15, 19, 22, 105 König 235, 236, 314, 354, 374, 386, 389, 414, 421 Konkurrenz 114, 221, 357

477

Kontext 20, 21, 25 Kontinuität 22, 52, 104, 112, 145, 148, 149, 150, 161, 187, 220, 323, 364, 365, 424, 427, 431 Konvergenz 21, 25 Kreuz 239, 295, 297, 331, 361 Leben 92, 97, 100, 104, 115, 116, 122, 137, 146, 161, 166, 171, 179, 187, 192, 195, 197, 198, 205, 206, 208, 210, 216, 220, 221, 222, 236, 238, 241, 242, 255, 259, 261, 269, 274, 276, 278, 296, 298, 301, 303, 331, 358, 363 Legitimation 60, 76, 83, 134, 141, 142, 156, 183, 242, 243, 245, 282, 349, 353, 356, 374 Lehre 139, 146, 219, 247, 249, 251, 255, 265, 303, 308, 309, 311, 315, 316, 317, 318, 319, 323, 324, 325, 336, 337, 338, 360, 362 Lehrer 79, 249, 255, 305, 318, 321, 325, 327, 361, 362 Lektüre, intertextuelle 13, 22 Lektüreanweisung 27, 105 Lernen 139, 146, 247, 249, 252, 255, 303, 309, 318, 319, 334, 337, 338 Licht 82, 92, 100, 176, 180 Liebe 95, 205, 207, 223 Logos 5, 7, 27, 37, 78, 80, 82, 90, 108, 112, 114, 178, 179, 206, 237, 266, 267, 268, 272, 301 Manna 231, 234, 243, 244, 254, 255, 258, 259, 260, 261, 262, 263, 265, 267, 268, 269, 270, 271, 272, 273, 275, 276, 279, 280, 281, 282, 283, 294, 295, 298, 301, 302, 303, 350, 351, 352, 353, 355, 357, 358, 365 Markierung 13, 14, 16, 19, 25, 27 Melchisedek 397, 399 Menschensohn 237, 238, 240, 336 Monotheismus 370 Nachfolger 92 Name Gottes 48, 49, 50, 51, 52, 53, 56, 59, 61, 64, 65, 67, 74, 92, 95, 96, 97, 98, 100, 101, 104, 108, 109, 111, 112

478

Sachregister

Offenbarung 1, 5, 30, 33, 34, 46, 50, 52, 55, 56, 64, 80, 82, 84, 95, 96, 97, 100, 104, 108, 109, 111, 125, 126, 152, 173, 174, 175, 220, 221, 275, 337, 358, 360, 363, 403, 422, 424 Perfekt 119 Polytheismus 368 Präexistenz 5, 6, 27, 35, 36, 43, 98, 105, 215, 253, 270, 271, 373 Prätext 9, 12, 14, 15, 17, 19, 20, 21 Prophet 35, 84, 170, 214, 215, 234, 235, 237, 238, 240, 242, 244, 245, 268, 297, 349, 353, 364, 384, 385, 424, 425 Proselyt 305 Rezeptionsgeschichte 23 Richter 383, 386, 387, 392, 394, 421 Rücken Gottes 52, 60, 73, 85, 103 Rückkehr aus Exil 159, 160, 197, 307, 315, 319, 359, 360, 361, 362, 364 Salbung 374, 376 Schöpfung 160, 173, 174, 176, 194, 195, 197, 206, 274, 278, 296, 314, 333 Schriftauslegung 115, 116, 164, 221, 279, 302, 350 Schriftbeweis 4 Schriftbezug 1, 27 Schriftgebrauch 4 Schriftkenntnis 3 Schriftrezeption, johanneische 1, 2, 3, 7, 24 Schüler 232, 249, 281, 309, 311, 320, 324, 325, 334, 337, 338, 359, 361, 363 Sehen 41, 51, 52, 58, 59, 66, 74, 75, 79, 84, 85, 86, 97, 101, 103, 121, 123, 125, 126, 130, 133, 135, 138, 144, 147, 159, 167, 176, 252, 253, 362 Sendung 156, 204, 215, 216, 242, 245, 315, 372, 377, 385, 424 Sinaitradition 1 Sohn Gottes 122, 123, 124, 195, 204, 205, 207, 214, 235, 238, 253, 370, 372, 375, 377, 383, 389, 403, 406, 407, 414, 419, 420, 423, 424, 425

Stimme 123, 124, 125, 126, 127, 130, 133, 136, 138, 140, 147, 158, 161, 162, 163, 168, 174, 175, 176, 183, 192, 210, 212, 216, 219, 220 Sünde 192, 419 Sündenfall 400 Taufe Jesu 123, 124, 128, 214, 217, 219, 220 Tempel 49, 139, 142, 144, 145, 148, 150, 151, 154, 157, 162, 164, 165, 185, 193, 216, 219, 227, 338, 359, 422, 423 Text 8, 9, 10, 11, 12 Theophanie 52, 58, 76, 109, 128, 133, 136, 149, 167, 168 Todesengel 400 Unglaube 97, 192, 204, 209, 210, 219, 220, 221, 222, 223, 224, 252, 294, 297 Unsterblichkeit 263, 274, 276, 387, 390, 400, 401, 402 Vergebung 55, 56, 64, 65, 67, 97, 100, 104, 111, 313 Verklärung Jesu 31 Vermittler 57, 61, 76, 113, 134, 139, 192, 283 Vermittlung 173, 179, 243, 385, 422 Versiegeln 237 Volk Gottes 38, 55, 89, 108, 114, 219, 225, 250, 251, 297, 305, 306, 308, 322, 337, 359, 360, 361, 362, 403, 408, 431 Wächter 397, 398 Wahrheit 34, 54, 66, 96, 97, 109, 115, 205, 213, 356, 362, 363, 373 Weisheit 264, 266, 267, 276, 278, 300, 301, 302, 303, 311, 321, 330, 332, 333, 334, 336, 355 Werk 118, 119, 120, 197, 208, 216, 222, 240, 241, 415, 416 Wesen Gottes 33, 42, 51, 67, 68, 79, 80, 88, 111 Wiederherstellung 322, 323, 325, 360, 361, 362

Sachregister Wort Gottes 124, 127, 137, 139, 147, 169, 180, 216, 217, 219, 220, 261, 263, 267, 268, 269, 296, 313, 315, 330, 333, 334, 351, 358, 363, 369, 424 Zeichen 232, 236, 238, 239, 241, 242, 244, 255, 292, 297, 333, 353, 357, 385

479

Zelt 29, 48, 58, 95, 139 Zelten 29, 48, 95, 96, 108 Zeuge 118, 205, 215, 222 Zeugnis 35, 46, 58, 96, 105, 111, 118, 119, 120, 121, 122, 124, 128, 150, 152, 213, 214, 215, 216, 220, 222 Zion 308, 309, 311, 320, 337, 338, 359, 360 Zitat 15, 17, 21, 25