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German Pages [507] Year 2022
Andersheit – Fremdheit – Ungleichheit Erfahrungen von Disparatheit in der deutschsprachigen Literatur
Band 12
Herausgegeben von Paweł Zimniak und Renata Dampc-Jarosz
Die Bände dieser Reihe sind peer-reviewed.
Zbigniew Feliszewski (Hg.)
Bertolt Brecht in Systemkonflikten Produktion – Rezeption – Wirkung
V&R unipress
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. Diese Publikation wurde von der Schlesischen Universität in Katowice mitfinanziert. Gutachterin: Małgorzata Dubrowska © 2023 Brill | V&R unipress, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau und V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Das Berliner Ensemble. Foto: Zbigniew Feliszewski, graphische Bearbeitung: Monika Blidy Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2699-7487 ISBN 978-3-7370-1459-5
Inhalt
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Brechts Theatersystem(e). Ästhetische, wissenschaftliche und theaterpädagogische Annäherungen Jan Knopf (Karlsruhe) »Das Petroleum sträubt sich gegen die fünf Akte«. Technifizierung der Literatur: Brechts Mann ist Mann (1925–1927) . . . . . . . . . . . . . . .
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Frank M. Raddatz (Berlin) Die Brechtbühne im Anthropozän – Momente einer Begegnung von Brecht und Latour . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Nikolaus Müller-Schöll (Frankfurt am Main) Theater für alle und keinen. ›Opportunismus‹ und ›refraktäre‹ Praxis in Brechts Arbeit nach 1937 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Karolina Prykowska-Michalak (Łódz´) Galileo Galilei – zwischen Natur und Kultur
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Joachim Lucchesi (Schopfheim) Die Ausnahme der Regel. Störfaktor Musik in Brechts Lehrstücken . . . . 103 Florian Vaßen (Hannover) »Die Erscheinungen in ihre Krise« bringen, »um sie fassen zu können.« Das produktive Potential der Krise im Theaterprozess . . . . . . . . . . . 117 Gerd Koch (Berlin) »… auszuarbeiten … angewandtes theater …« (Bertolt Brecht, 10. 10. 1942) – m/ein kleiner Versuch (2018) . . . . . . . . . . . . . . . . . 135
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Inhalt
Bertolt Brechts Gesellschafts- und Systemkritik. Deutungen, Analysen, Berichte Jürgen Hillesheim (Augsburg) »In ihnen ist nichts, und über ihnen ist Rauch …« Der universale Fatalismus in Kurt Weills und Bertolt Brechts Oper Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Helmuth Kiesel (Heidelberg) Brechts Lektüre von Souvarines Stalin-Buch: ein doppeltes Versäumnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Wolfgang Beutin (Köthel) Politisches Tagesgeschehen und Geschichtsbild in Brechts Arbeitsjournal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Karoline Sprenger (Bamberg) Subversives in Kleinform. Systemkritik in Brechts Kinderlyrik . . . . . . . 209 Klaus-Dieter Krabiel (Frankfurt am Main) In unserem Lande zur Jahreswende. Politische Grüße im Wandel sozialer Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229
Bertolt Brechts (Streit)Gespräche mit Zeitgenoss:innen. Politische und ästhetische Divergenzen und Konvergenzen Ralf Schnell (Siegen / Berlin) Montage: Brecht vs. Eisenstein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 Tanja Kinkel (München) Zwei, die in kein System passen: Die Freundschaft zwischen Bertolt Brecht und Lion Feuchtwanger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 Zbigniew Feliszewski (Katowice) »… Manches mal fragt man sich welchen tieferen Sinn es hat hier zu bleiben…« Caspar Neher und Bertolt Brecht . . . . . . . . . . . . . . . . 289 Frank D. Wagner (Oldenburg) Nationalismus. Zu Brechts radikaler Kritik
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Inhalt
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Hannelore Scholz-Lübbering (Berlin) »In mir habt ihr einen, auf den könnt ihr nicht bauen«. Brecht und die Frauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337
Bertolt Brecht in »fremden« Kontexten. Literarische, theatrale und filmische Rezeption Markus Wessendorf (Honolulu) Die Auseinandersetzung mit Brecht im afroamerikanischen Kontext – am Beispiel von Nina Simones Pirate Jenny und Branden Jacobs-Jenkins’ An Octoroon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357 Graz˙yna Barbara Szewczyk (Katowice) Der Fall Brecht und die zeitgenössische schwedische Literatur . . . . . . . 385 Nina Nowara-Matusik (Katowice) Der verfremdete Brecht. Zu Eberhard Hilschers Umgang mit dem Stückeschreiber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401 Gad Kaynar-Kissinger (Tel Aviv) Migration eines fremden Flüchtlings in eine selbstmarginalisierte Gesellschaft. Einige Betrachtungen zu Brecht im jüdischen Palästina/Israel 1933–1963 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413 Graz˙yna Krupin´ska (Katowice) Er wird stachelig bleiben. Brechts Rezeption in Polen in den frühen 1950ern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 433 Arno Gimber (Madrid) Bertolt Brechts unaufhaltsamer Aufstieg im Franco-Spanien . . . . . . . . 453 Andrzej Gwóz´dz´ (Katowice) Verfilmt, aber ob wirklich filmisch? Filmische Zeugnisse der Brecht-Rezeption in beiden deutschen Staaten (1949–1989) . . . . . . . . 469 Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 495
Einleitung
Es ist einer der Gemeinplätze der Brechtforschung, dass Brecht in verschiedenen politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, kulturellen Systemen lebte und wirkte, wie auch dass er mit unterschiedlichen Gesellschaftsschichten und -gruppen wie Künstlerformationen in Berührung kam. Tatsache ist auch, dass er einige von ihnen mit unverhohlener Freude hinter sich ließ, um neuen – Erfolg und persönliche Erfüllung versprechenden – Platz zu machen; andere hingegen musste er aus Angst vor Verfolgung und Freiheitsverlust verlassen. So ließ er das konservativ anmutende Augsburg der 1920er Jahre, auch München, hinter sich und zog in die Weltmetropole Berlin; hingegen musste er sich aus der letzten Station seines Exils, dem US-amerikanischen Kalifornien einen Tag nach dem Verhör vor dem Ausschuss für Unamerikanische Umtriebe in einer beinahe Nacht-und-Nebel-Aktion evakuieren, um sich in Zürich und letztlich in Berlin niederzulassen, das bald zur Hauptstadt des Arbeiter-und-Bauern-Staates werden sollte. Unterschiedlichere Gesellschaftssysteme hätte es wohl kaum geben können. Doch auch viele Jahre vor seinem Exil sah er sich mit verschiedenen politischen, sozialen, kulturellen und ökonomischen Systemen konfrontiert. Von dem Fronteinsatz im Ersten Weltkrieg drückte er sich vermittels seines in den Augsburger Kreisen einflussreichen Vaters und kritisierte in Zeitungsbeiträgen lieber subtil die Kriegspolitik Wilhelms II. Die Ausrufung der Räterepubliken in München und Augsburg beobachtete er distanziert und abwartend. In den sog. Goldenen Zwanzigern der Weimarer Republik wurde ihm ein genauso überwältigender wie kaum zu erwartender Erfolg beschert. Die Uraufführung der Dreigroschenoper am 31. August 1928 katapultierte ihn in die Höhen der Anerkennung als Künstler, die sich bald über die Grenzen Deutschlands ausbreitete. Als er fünf Jahre später, 35 Jahre alt, mit seiner Frau Helene Weigel, auf der Flucht vor der politischen Verfolgung durch die Nationalsozialisten in den Zug nach Prag einstieg, hatte er kaum damit gerechnet, dass die politischen Umstände in Deutschland eine dermaßen schlechte Wendung nehmen würden. Fünfzehn Jahre Exil und acht Länder, in denen sich Brecht kürzer oder länger
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Einleitung
aufhielt, waren es insgesamt. Mit brennendem Interesse verfolgte er die Faschisierung Deutschlands, traf sich mit deutschen Exillant:innen und in diesen Ländern lebenden Schriftsteller:innen, mit Film- und Theaterleuten. Er schrieb weiter, teilweise »auf Vorrat«, suchte neue Möglichkeiten, das Publikum für seine Stücke zu gewinnen, konnte sich aber nur schwer arrangieren, besonders in den USA, deren sozial-ästhetisches Umfeld seiner u. a. auf den Studien des Marxismus fundierten Weltanschauung und seiner rebellischen Gesinnung bei weitem nicht entsprach. 1948 war er wieder zurück. Dass er aber in der Sowjetischen Besatzungszone, später der DDR, lebend und arbeitend ein Konto in der Schweiz, die österreichische Staatsbürgerschaft behielt und einen Vertrag mit dem westdeutschen Suhrkamp-Verlag schloss, kann nicht alleine mit seinem Drang nach einem angenehmen, aufwendigen Leben erklärt werden, der sich schon 1928 abzeichnete, als er, 30 Jahre alt, mit dem berühmten Gedicht Die singenden SteyrWägen sich das Automobil »ersungen« hatte, das bald als berühmtes »BrechtAuto« populär wurde. Es stellt sich die Frage, die an dieser Stelle zu beantworten wäre: Wie erklärt man es sich dann? Doch Brecht war auch ein guter Taktiker. Bereits 1922 bezeichnete er in seinem Tagebuch das »Lavieren« als das »Gesündeste für den Menschen«. In der Tat konnte er in und zwischen sehr unterschiedlichen Systemen oszillieren. Der Politik der kommunistischen DDR stimmte er äußerlich zu, behielt gleichzeitig eine kritische Distanz dazu, die mehr in seinen im ironischen Ton gehaltenen Gedichten und hinter Metaphern versteckt und weniger in öffentlichen Reden und Bekundungen zum Ausdruck kam. Auch über die Verbrechen des Stalinismus schwieg er, übte aber in subtiler Weise, in verschlüsselter, historisierter Form Kritik daran – etwa in Leben des Galilei oder in seiner privaten Korrespondenz. Die Letztere legt offen, dass er seinen in der Sowjetunion verfolgten Bekannten und Mitarbeiter:innen aus der Gefahr zu helfen versuchte – mit unterschiedlichem, jedoch meistens dürftigem Ergebnis. Mit dem Nationalsozialismus hingegen ging er grundsätzlich hart ins Gericht, und zwar an allen Fronten: in öffentlichen Reden, in seinen Notizen und Tagebüchern, in den Hitler-Gedichten und in seinen Stücken. Es galt den (kleinen) »Verüber großer Verbrechen« zu entthronen, zu demaskieren und zu entmythologisieren. Auf der einen Seite trifft man auf die Parodie Hitlers als eines komplexbeladenen Gangsters vor der Kulisse eines Blumenkohlhandels, wie er ihn in Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui zu Bild bringt. Auf der anderen Seite stößt man auf banal klingende, jedoch ein enormes politisches Kritikpotenzial enthaltende Strophen, wie diese des Kinderspruchs: »Adolf Hitler, dem sein Bart, ist von ganz besondrer Art. Kinder da ist etwas faul: Ein so kleiner Bart und ein so großes Maul.« Brecht verstand den Nationalsozialismus nicht als Auswuchs, sondern als Ergebnis eines unregulierten Wachstums. Seinen Nährboden sah er im Kapitalismus und in der Bourgeoisie. Zu den größten Verdiensten des Theaters Brechts
Einleitung
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gehört, dass es nicht die »Auswüchse oder skandalöse Erscheinungen des Kapitalismus, sondern den Kapitalismus selbst« (Lehmann) an den Pranger stellt und die Geschäftsleute mit Gangstern gleichsetzt (Arendt). Die unermüdliche Auseinandersetzung mit der Nazidiktatur hinderte ihn jedoch keineswegs daran, in den späten 40er Jahren zu einigen, darunter in der NS-Zeit schwer belasteten Theaterleuten Kontakte zu haben: Gustaf Gründgens oder Hans Schweikart. Wie dem auch sei. Als genialer Dramatiker und außergewöhnlicher Theatermensch wusste er um die Nützlichkeit und den Gebrauchswert seiner Arbeit, die über verschiedene Kanäle und durch unterschiedliche Kontakte zu hochgestellten Persönlichkeiten des Theaterbetriebs möglich war. Und diese machte er sich zunutze. Brecht ist voller Widersprüche: »Wer immer es ist, den ihr sucht: ich bin es nicht« – diese Tagebucheintragung verdient eine besondere Beachtung. Widersprüche, Risse, Brüche und Unvereinbarkeiten in seinem Leben wie in seinen Texten machen eine verflachende Leseweise schwer, sie fordern zur aktiven Suche heraus – ein Verfahren, das auch seinem Theater zugrunde liegt. Was es auszeichnet, ist gerade seine entschiedene Absage an die Totalität und an die ganze psychologische Tradition des bürgerlichen Dramas. Brechts Theater ist materialistisch, prozesshaft und widersprüchlich. Nicht zuletzt wegen dieser Eigenschaften wurde er oft zur Zielscheibe verreißender Kritiken. Seine Kunst, seine Theorien wie politischen Statements wurden im Laufe der Jahre oft missdeutet, überinterpretiert und politisch vereinnahmt. Dabei hat schon 2016 Hans-Thies Lehmann ein erneutes Interesse an Brecht vorausgesehen. Den fruchtbarsten Nährboden dafür sieht er u. a. in der Veränderung der politischen Mentalität, im Erscheinen neuer politischer Fronten und nicht zuletzt in der Erschütterung der etablierten Demokratievorstellungen durch politische, wirtschaftliche und ökologische Krisen. Alte Perspektiven von Gemeinschaft, Gerechtigkeit, Verteilungsprinzipien und vom Subjekt sollen und müssen neu gedacht werden. Auch die omnipräsente Medialisierung der sozialen Wirklichkeit mit all ihren Problemfeldern wie Post-Faktisches oder Politisierung von Inhalten aller Art, fördert die Qualität der engagierten Kunst, die Mythen, Stereotype und Anachronismen unterminiert, ein komfortables, vereinfachtes Denken angreift und zu vieldeutigen Interpretationen einlädt. Brechts konsequente Verweigerung der logischen Zusammenhänge im Leben, die Infragestellung der Nachhaltigkeit von Kulturen und politischen Systemen und die vehemente Hervorhebung des Widersprüchlichen im Menschen, in gesellschaftlichen und historischen Prozessen, bildet einen Orientierungspunkt für eine vertiefte Reflexion über die Bedeutung des Theaterdenkers heute. Angesichts der vielerorts »schwierigen Rezeption« Brechts stellt sich auf der anderen Seite die Frage nach seinem Nachleben in diversen Erdteilen und gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Systemen erneut. Das ermutigt zu einer
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Einleitung
neuen, transnationalen Lesart Brechts, die, der Globalisierung und dem Multiund Transkulturalismus zum Trotz, vielerorts weiterhin in alten, nationalen Denkmustern begriffen zu sein scheint. Mit den im Titel des Bandes genannten Systemkonflikten wird eine Bestandaufnahme und Kontextualisierung politischer und ideologischer Hintergründe in den Blick genommen, die Brecht zu bestimmten Haltungen und Handlungen antrieben. Ihnen ist die Forderung nach einer Systemveränderung zu entnehmen, gleichzeitig bestimmten sie Brechts Theaterpraxis, die nicht zuletzt darin bestand, gegen den sog. »gesunden Menschenverstand« zu schreiben und die Veränderbarkeit und Veränderlichkeit in den Raum zu stellen. Das erste Kapitel des Bandes Bertolt Brechts Theatersystem(e). Ästhetische, wissenschaftliche und theaterpädagogische Annäherungen präsentiert Beiträge, die Brechts Theater- und Dramentheorien wie seine Bühnenarbeit auf deren ästhetische Konzepte unter Berücksichtigung nicht-literarischer Problemfelder der Wissenschaft, Ökonomie, Politik und ästhetischer Erfahrung beleuchten. Jan Knopf liest Brechts frühes Stück Mann ist Mann durch den Filter der sich verwandelnden Wirtschaftswelt. Nach dem Ersten Weltkrieg begann der Umstieg von Kohle auf Petroleum, der beinahe alle Lebenssphären beeinflusste. Mit seinem Stück nahm Brecht ein völlig neues Literatur- und Kunstprogramm vorweg, das sowohl die alten Natur- und Familienmetaphern außer Kraft setzte, wie auch die bloße Nachahmung der Maschinenwelt bei weitem als unzulänglich entlarvte. Brechts Interesse gilt nicht der Beschreibung der neuen Verhältnisse, sondern deren Demaskierung, dem sprachlichen wie bildlichen Zum-AusdruckBringen ihrer Funktionsgesetze. Unter Zuhilfenahme des Konzeptes der politischen Ökologie von Bruno Latour verbindet Frank M. Raddatz Brechts Theater mit der Projektion der Folgen des wissenschaftlichen Zeitalters. Dem Theater von Brecht fehlt – betrachtet man es aus heutiger Perspektive – »das kritische Potenzial der Naturwissenschaften«. Die grundlegende Frage nach den von der Natur ausgehenden Bedingungen menschlicher Existenz befinden sich außer seinem Blickfeld. Die Zukunft des Verfremdungseffektes liegt – so Raddatz – in der Verortung der Brechtszene von einem sozialen auf einen globalen, planetarischen Raum, in dem nicht nur soziale Korrelationen zur Sprache gebracht werden, sondern diverse Wechselbeziehungen von Wirkungsmächten und -mechanismen mit im Spiel sind. Von der Entstehungsgeschichte der Stücke: Die Gewehre der Frau Carrar und Leben des Galilei ausgehend schildert Nikolaus Müller-Schöll Brechts Wirkmächtigkeit. Die Gewehre der Frau Carrar wurde in der DDR stark rezipiert und im Wesentlichen ideologisch vereinnahmt. Galileos Erfolg in den USA beeinträchtigte wiederum nachhaltig Brecht politische Wirkung. Unter Berücksichtigung ihrer refraktären Praxis wird auf dieser Basis im Beitrag der konfliktreiche Zusammenstoß von »Theater für alle« und »Theater für keinen« ausgearbeitet.
Einleitung
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Müller-Schöll untersucht die Parallelen zwischen Galileis Widerruf und Brechts Erfahrungen mit dem Stalinismus sowie den Moskauer Prozessen, erörtert seinen Umgang mit der aristotelischen Einfühlungsdramaturgie vor dem Hintergrund seines Konzepts eines radikal unmöglichen Theaters. Karolina Prykowska-Michalak widmet sich in ihrem Beitrag dem Stück Leben des Galilei und dessen Inszenierung von Frank Castorf im Berliner Ensemble im Jahre 2019 und beschreibt beide im Kontext bedeutungsträchtiger historischer und wissenschaftlicher Ereignisse. Ins Zentrum ihrer Analyse rückt sie die vielschichtigen Komplexsysteme, die in der Verschränkung von Macht, Gesellschaft, Wissenschaft und Religion vehement zum Ausdruck kommen. In Anlehnung an den Begriff »Ökosophie« aus dem Manifest von Félix Guattari Die drei Ökologien bespricht sie das Schwinden der Beziehungen der Individuen zur Gesellschaft. Dabei ist die schon mit Brechts epischem Theater vorgeschlagene Sichtweise des »transversalen Denkens« eine passende Lesart der Welt und des Theaters. Joachim Lucchesi beschäftigt sich mit der für Brechts Lehrstücke komponierten Musik, mit ihrer verfremdenden und »disziplinierenden« Funktion. Die Musik folgt verfremdend dem Grundgedanken des Lehrstücks. Auf der anderen Seite fördert sie – störend – die Auseinandersetzung mit dem Stück. Die strenge musikalische Prägung der Stücke ist für ihren eigentlichen Adressaten: das Laien- und Amateurtheater, kaum zu bewältigen. Lucchesi stellt dabei die Frage nach der Homogenität und Geschlossenheit des Begriffes »Lehrstück« und leitet über zum Nachdenken über die sich jeglicher begriffs- und genrebestimmenden entziehenden Kategorisierung des Werks von Brecht. Vor dem Hintergrund der von Brecht und Benjamin konzipierten Zeitschrift »Krise und Kritik« erörtert Florian Vaßen das Bedeutungspotenzial der Krise im theatralen Arbeitsprozess. Brechts Theaterpraxis bestand nicht zuletzt darin, die Krisen zu initiieren, um das produktive Potenzial der an der Inszenierung Beteiligten zu entfesseln und es zur Geltung zu bringen. Fehler haben Wirkungen zur Folge. Brechts Schüler, Heiner Müller, radikalisiert eine solche Vorgehensweise durch Entlarvung und Unterminierung autoritärer, hierarchischer Strukturen. Das Ziel ist, das Bekannte und Eigene derart zu verfremden, dass das Neue, das eine Veränderung ermöglicht, sichtbar wird. Auch Gerd Kochs Beitrag ist der theaterpädagogischen Praxis verpflichtet. Dabei stehen gesellschaftliche Bildung und Sozialisation als pädagogische Lebensbegleitung, die gleichzeitig an der »Architektur« von Gesellschaft(en) aktiv mitwirken, im Zentrum seines Interesses. Gesellschaftliches Lehren und Lernen gleichen einem Partizipationsprozess an ästhetischen Modellen individueller und kollektiver Kreativität. Kochs Perspektive ist mit seiner eigenen Praxiserfahrung verbunden, die voraussetzt, dass diverse Kunstformen und -erscheinungen als erkenntnisfördernde Wissensspeicher aufzufassen sind.
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Einleitung
Im Fokus des zweiten Kapitels Bertolt Brechts Gesellschafts- und Systemkritik. Deutungen, Analysen, Berichte stehen gesellschafts- und systemkritische Analysen Brechts Werke in Bezug auf deren substanziellen Gehalt mit Verweis auf die Möglichkeiten ihrer Neu-Deutungen und Re-Interpretationen. Jürgen Hillesheims Deutung von Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny wählt einen anderen Zugang als die üblichen Interpretationen der Oper als ein Werk, das das kapitalistische Gesellschaftssystem schonungslos analysiert. Vielmehr wird die Aufmerksamkeit auf Brechts pessimistische bzw. fatalistische Weltsicht gerichtet, die die Basis der Oper sei. Für eine nicht-marxistische Lektüre spricht laut Hillesheim die Tatsache, dass Brecht und Weill keine Alternative für das utopische Trugbild des Kapitalismus anbieten. Die Philosophien Schopenhauers und Nietzsches bestimmten die Oper. Die Welt, die Oper ist kein in sich geschlossenes, harmonisches Ganzes. Dies verdeutlichen Text und Musik mit Verweisen auf verschiedenste Traditionszusammenhänge, die zu verifizieren ein ästhetisches Vergnügen bereitet; trotz der Düsternis des Werkes. Helmuth Kiesel analysiert in seinem Beitrag Brechts Einstellung zu den politischen Systemen, die er in zahlreichen Notizen und Schriften ausdrücklich betonte. Seine Einträge lassen in ihm einen Vertreter der sog. Totalitarismusforschung erblicken. Kiesels Beitrag geht einem Dilemma in Brechts Arbeitsjournal nach. Nach der Lektüre von Souvarines monumentalem Buch über Stalin versucht Brecht, dessen Terrorherrschaft, obwohl er sie als solche genau erkannte, zu relativieren, weil er prinzipiell die Entwicklungen in der Sowjetunion befürwortete. Den Totalitarismus Stalins vergleicht Brecht mit dem des nationalsozialistischen Deutschlands, der das neue sowjetische Gesellschaftssystem zu vernichten drohe, was mit allen Mitteln verhindert werden müsse. Wolfgang Beutin konzentriert sich in seinem Aufsatz auf die Schilderung und Analyse tagesaktueller Ereignisse in Brechts Arbeitsjournal, das eine reichliche Quelle tagespolitischer Betrachtungen Brechts darstellt. Besprochen werden Brechts Einträge über die beiden Weltkriege, das Münchner Abkommen, die Verteidigung Moskaus im Winter 1941, aber auch die Gründung des Nationalkomitees »Freies Deutschland«, das Stauffenberg-Attentat, die Eroberung Berlins durch die Rote Armee oder der Arbeiteraufstand in der DDR am 17. Juni 1953. Beutin stellt diese politischen Betrachtungen und Analysen Brechts in Zusammenhang mit dessen literarischem Werk. Karoline Sprenger widmet sich der subversiven Schreibtaktik der Kinderlyrik Brechts. Da zeigt sich wieder der Autor des Schneiders von Ulm als ein gewandter, intelligenter Taktiker, dessen Kinderliteratur viel mehr abzugewinnen ist, als man von der Kinderlyrik erwarten könnte. Sprenger legt nahe, dass sich Brecht mit seinen Kindergedichten nicht in die Rolle eines Lehrmeisters begab, sondern in einer nicht gleich erkennbaren, episierenden Form über die traditionellen Empfindlichkeiten hinweg, eine Kritik an Systemen zum Ausdruck brachte.
Einleitung
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Anhand dreier Kindergedichte: Ulm 1592, Der Pflaumenbaum und Tiervers wird das Schwanken zwischen individueller Freiheit und sozial-politischen Zwängen beschrieben und vor diesem Hintergrund Brechts Systemkritik herausgearbeitet. Dem lyrischen Werk Brechts ist auch der Beitrag von Klaus-Dieter Krabiel gewidmet. Es geht um dessen wenig bekanntes Gedicht In unserem Lande zur Jahreswende, das als eine Transformation der Rede Brechts am Internationalen Schriftstellerkongress zur Verteidigung der Kultur zu verstehen ist. Krabiel rekapituliert die Geschichte der Um- und Neuschreibung des Gedichtes, wie seiner Neusetzung und analysiert diesen Umkomponierungsprozess vor dem Hintergrund von Brechts Exil. Dabei werden Brechts Kontakte zu befreundeten Schriftstellern und Verlegern, wie auch die politisch-ideologische Inbezugnahme des Gedichts, insbesondere in der DDR detailliert geschildert. An diesem Beispiel schildert Krabiel den Weg der Kleinform von persönlicher Widmung, über die Politisierungsversuche bis hin zur historisierenden Aufnahme. Das dritte Kapitel ist Brechts Kontakten mit seinen Zeitgenoss:innen gewidmet. Ralf Schnell analysiert Brechts und Eisensteins Theorie und Praxis der Montagetechnik. Überrascht von dem »Ergriffensein« des Publikums während der Projektion des Films Panzerkreuzer Potemkin attestiert Brecht der Kunst ein überwältigendes Potenzial, die eine »Herstellung einer Gemeinschaft« bewirken kann. Dennoch blieben beide Künstler, wenn sie auch in ihren Werken stark auf Montage setzten, uneinig. Der Beitrag liefert eine Studie von Entwicklungsschritten bei der Ausarbeitung von Eisensteins Montagestil und -theorie, die mit Brechts Versuchen einer Umfunktionierung der Kunst in eine »pädagogische Disziplin« stark kontrastiert. Dabei geht Brechts Postulat des Verzichts auf »Wachstum« als Grundmerkmal der dramatischen Form und dessen Ersatz durch die dem epischen Theater zugrunde liegende Montage mit dem Ideengehalt der Montage in Panzerkreuzer Potemkin im Geringsten nicht konform. Hingegen schien für Brecht Eisensteins unvollendeter Film Que viva Mexico! als viel mehr geeignet für die Inbesitznahme und Aneignung technischer Apparaturen als Maßstab für die Kunst und insbesondere für das epische Theater. Tanja Kinkel thematisiert die langjährige Freundschaft zwischen Brecht und Lion Feuchtwanger. Anhand von Tagebucheintragungen, Korrespondenz, aber auch unter Berücksichtigung literarischer Quellen schildert sie die Geschichte einer inspirierenden und fruchtbaren Beziehung der beiden Autoren, die bis auf die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg zurückgeht, und die auch solche Unstimmigkeiten, wie Brechts entschiedene Absage, seinen Namen als Titel des Feuchtwangerschen Romans zu verwenden, nicht beeinträchtigen konnte. Feuchtwanger hatte für Brecht die Mentor- und Mittlerfunktion, er sorgte für die Aufführung seiner Stücke, vermittelte ihm Stoffe. Brecht war für Feuchtwanger
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Einleitung
ein anregender Gesprächspartner, der aus dem Verhaltensmuster damaliger Autor:innen deutlich herausfiel. Der Beitrag von Zbigniew Feliszewski konzentriert sich auf die Beziehung zwischen Brecht und seinem Bühnenbildner Caspar Neher, dem Freund aus den Augsburger Jahren. Obwohl beide bis Brechts Tod mehr oder weniger intensive Kontakte pflegten, hielten sie an ihren unterschiedlichen politischen Anschauungen fest, die sich im Laufe der Zeit radikalisierten. Aus dem wenig bekannten, bis heute unveröffentlichten Briefwechsel zwischen Naher und Rolf Badenhausen kann gefolgert werden, dass Neher sich mit den in Berliner Ensemble herrschenden Verhältnissen nicht im Klaren war, obwohl er hin und wieder nach Ostberlin reiste, um für Brecht das Bühnenbild zu gestalten. Dass er in den 40er und 50er Jahren wie auch nach Brechts Tod Kontakte zu den in der NS-Zeit belasteten Künstlern aufrecht erhielt, spielte da keine Rolle. Frank D. Wagner führt Brechts und Arnolt Bronnens widerspruchsvolle Auffassungen von Nation und Nationalismus vor Augen. Den Schriften und Texten Brechts wird Bronnens Roman O.S. gegenübergestellt. Am Beispiel Bronnens zeigt Wagner deutlich, welche Folgen das Schwanken zwischen verschiedenen ideologischen Kraftfeldern mit sich bringen kann. Während Bronnen »occasionell« vorgeht, und von verschiedenen Seiten das nimmt, was zu seinem Konzept des Nationalen passt, verfährt Brecht komplexer. Bronnen war der Idee des »nationalen Willens« verschrieben. Brecht hingegen träumte von übernationalen Utopien. Im Mittelpunkt des Beitrags von Hannelore Scholz-Lübbering stehen die Porträts von Frauen, die Brechts Leben und Schreiben wesentlich beeinflussten. Die Schilderung der Mitarbeiterinnen und Lebensgefährtinnen Paula Banholzer, Elisabeth Hauptmann, Marianne Zoff und Helene Weigel werden vor dem Hintergrund verschiedener Lebensphasen Brechts dargestellt und erlauben Einblicke in dessen Leben und Wirken. Brecht arbeitete im Kollektiv. Ohne die Mitarbeit von Frauen, aber auch Männern wäre sein Werk in vorlegender Form nicht zustande gekommen. Das Kapitel Bertolt Brecht in »fremden« Kontexten. Literarische, theatrale und filmische Rezeption konzentriert sich auf Brechts Nachwirkung in unterschiedlichen kulturellen Kontexten. Dabei handelt es sich nicht nur um die traditionelle Rezeption von Brechts Stücken, sondern auch die literarische und filmische. Marcus Wessendorf setzt sich mit dem Begriff »Rasse« im afroamerikanischen Kontext auseinander. Brecht unterstellte Rasse als Problem stets dem Begriff der Klasse. Dies trifft auf die US-amerikanische Gesellschaft jedoch nicht zu, in der die Rasse nach wie vor zu den größten identitätsstiftenden Faktoren gehört. Durchbrechung und Umkehrung des Brechtschen Stoffes, etwa durch Nina Simone oder Jacob Jenkins in dessen Stück An Octoroon, zielt auf die Herausstellung der Rassendiskriminierung ab. Wessendorf schildert Jenkins’ zahlreiche
Einleitung
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Bezüge zu Brechts Verfremdung, Historisierung, Gestus, Bruch mit dem Bühnenillusionismus, die auf Konfrontation des Publikums mit der Ungleichbehandlung von Schwarzen in der amerikanischen Gesellschaft ausgerichtet sind. Graz˙yna Barbara Szewczyk rekapituliert die Rezeption von Brechts Schaffen in Schweden, wobei ihr Hauptaugenmerk auf den Äußerungen von Schrifsteller:innen, Publizist:innen und Übersetzer:innen liegt, die Brechts Dramentheorie und politisches Engagement kommentieren und literarisch verarbeiten. Erörtert werden Fragen nach Brechts Auffassung von Realismus, nach schwedischen Kontexten der Stücke, nach Verfremdungsstrategien und nach ästhetischer und ideologischer Form seines Theaters. Im Fokus des Beitrags stehen ein Essay von Ivar Lo-Johansson Der Bürger und der Proletarier – ein Wunschtraum, das Stück Sternfall von Lars Kleberg und die Debatten, die nach der Veröffentlichung einer Interpretation des Gedichtes An die Gleichgeschalteten von der Dichterin Madeleine Grive aufkamen. Nina Nowara-Matusik bespricht einen Aspekt aus Brechts DDR-Rezeption. Im Zentrum ihres Beitrags steht ein Kapitel aus Eberhard Hilschers Roman Die Weltzeituhr, in dem Bertolt Brecht im Kontext des Arbeiteraufstandes von 1953 literarisch dargestellt wird. Von der Frage nach der Verstrickung des Künstlers in den Systemkonflikt werden Brechts und Hilschers Verfremdungsstrategien analysiert. Aus der narrativ-sprachlichen Ebene Hilschers Romans geht hervor, dass Brecht hier als eine Spielfigur konzipiert ist. Die Antwort auf die Frage nach der Verantwortung des Künstlers in einem Systemkonflikt bleibt unbeantwortet. Gad Kaynar-Kissinger geht den Ambivalenzen in der israelischen Rezeption Brechts aus er Zeit der vorstaatlichen Periode Israels und der Frühzeit der israelischen Staatlichkeit nach. Brechts große Popularität auf israelischen Bühnen ist seiner sozialistischen Agenda, antifaschistischer Haltung und der didaktischen Absicht seines Theaters zu verdanken. Der entscheidende Faktor war jedoch, dass er ein Flüchtling war. Insbesondere für viele mitteleuropäische Migrant:innen bildete Brechts Theater die Möglichkeit, ihrer eigenen Fremdheit Ausdruck zu verleihen. Kaynar-Kissinger stellt dabei die zwiespältigen Einstellungen gegenüber Brecht und die soziokulturelle Fremdheit heraus, die sich u. a. in ästhetischen und formalen Unstimmigkeiten und Missverständnissen in der Aufführungsart manifestieren. Der polnischen Rezeption des Theaters von Brecht in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg ist Graz˙yna Krupin´skas Aufsatz gewidmet. Den Ausgangspukt ihrer Analyse bilden die Gastspiele des Berliner Ensembles in den frühen 1950er Jahren, die in der polnischen Theaterlandschaft zu einem entscheidenden Ereignis wurden. Vor dem Hintergrund der Realismus-Debatte in Deutschland und der Einführung der Doktrin des sozialistischen Realismus wird der sog. »Streit um Brecht« rekapituliert, dessen Ursprünge auf die Entscheidung der DDRFunktionäre, das Berliner Ensemble zu »disziplinieren« und ihren Auffüh-
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Einleitung
rungsstil als formalistisch zu schmälern, zurückgeht. Es ist nicht gelungen, Brecht in den ideologischen Bann des sozialistischen Realismus zu ziehen. Die Gastspiele trugen vielmehr zu einer Demontage der Methode und zur Erneuerung des Theaters bei. Auch Arno Gimber setzt sich in seinem Beitrag mit der schwierigen Rezeption Brechts in diktatorischen Systemen auseinander. Sein Interesse gilt den Aufführungsstrategien und Zensurmaßnahmen in Franco-Spanien. Dabei spielen politisch-kritische Anspielungen auf die Nazi-Diktatur, religiöse Kriterien und generell die politische Brisanz des Brechtschen Theaters mit ihrem subversiven Potential eine besondere Rolle. Dass Brecht-Stücke in Franco-Spanien dennoch oftmals zur Aufführung kamen, hängt einerseits mit der Notwendigkeit der Legitimierung der Diktatur zusammen, andererseits ist es als Resultat einer intensiven Auseinandersetzung von Dramatikern und Regisseuren mit den ästhetischen Voraussetzungen des epischen Theaters zu verstehen. Diese beiden Tendenzen finden bis heute im spanischen Theater ihren Niederschlag. Im letzten Beitrag des Bandes schildert Andrzej Gwóz´dz´ die Brecht-Rezeption anhand filmischer Zeugnisse in der DDR und der BRD. Die zahlreichen Adaptionen dienen nicht nur der Darstellung des Umgangs mit der »Umschreibung« eines Theatertextes in die Filmsprache, sondern sind Ausdruck einer medienästhetischen Reflexion über die Gattungsgrenzen der filmischen Kunst. Gwóz´dz´ konzentriert sich vornehmlich auf die Unterschiede in der kultur-politischen Auffassung der visuellen Kultur der beiden deutschen Staaten und stellt deren Antagonismen heraus. Der Beitrag ist gleichzeitig eine Typologisierung der Filmgenres von und nach Brecht. Dank Gefördert wurde das Buch aus den Mitteln der Schlesischen Universität in Katowice. Ich bedanke mich bei dem Dekan der Humanistischen Fakultät der Schlesischen Universität, Prof. Dr. Adam Dziadek, für die finanzielle Unterstützung dieses Projektes. Mein Dank gilt auch Prof. Dr. Jürgen Hillesheim, dem Leiter der Brecht-Forschungsstätte Augsburg für die Zur-Verfügung-Stellung der Korrespondenz zwischen Caspar Neher und Rolf Badenhausen, die ich für den Zweck dieser Veröffentlichung wissenschaftlich auswerten durfte. Allem voran bedanke ich mich bei allen Beiträger:innen, die an diesem Band mitgewirkt haben, für ihre erkenntnisreichen Aufsätze. Zbigniew Feliszewski August 2022
Brechts Theatersystem(e). Ästhetische, wissenschaftliche und theaterpädagogische Annäherungen
Jan Knopf (Karlsruhe)
»Das Petroleum sträubt sich gegen die fünf Akte«. Technifizierung der Literatur: Brechts Mann ist Mann (1925–1927) Zurückgeführt wird das Kunstmachen auf den dem Menschen eingeborenen Drang, sich auszudrücken. Dieses Bedürfnis sei ein Urbedürfnis, heißt es. Der Mensch drücke sich aus, wie der Fisch schwimme. (GBA 21, 507)1 Denn der Film wurde mit dem Vorschuß auf jenes Geld uns abgekauft, das sein Verkauf einbringen sollte. Man musste ihn verkaufen, bevor er gekauft war. (GBA 21, 505) Das Ganze halt! Kilkoa! Gleich wie die gewaltigen Tanks unserer Queen mit Petroleum aufgefüllt werden müssen, damit man sie über die verdammten Straßen dieses zu langen Goldlandes rollen sehen kann, so ist den Soldaten das Whiskytrinken unerläßlich. (GBA 1, 96)
Es ist nicht nur die goldene Farbe, die die Parallele von Whisky und Benzin herausfordert, es ist auch die Wirkung, die das »flüssige Gold« in zweierlei Konsistenz hat: den Rausch. Das jedenfalls behauptet der erste Satz von Bertolt Brechts 1925 in einer ersten Fassung abgeschlossenem Stück: Mann ist Mann oder Die Verwandlung des Packers Galy Gay in den Militärbaracken zu Kilkoa im Jahre neunzehnhundertfünfundzwanzig.2 Der Erste Weltkrieg, die »Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts«3, hatte eine Tatsache geschaffen, die 100 Jahre ignoriert wurde: Das bisherige Rauch- und Antriebsmittel, der Rohstoff Kohle, den Deutschland im eigenen Boden so ausreichend zur Verfügung zu haben schien, würde nicht ausreichen, um den künftigen Bedarf nach Tempo, Dynamik, künstlich befeuerter Beleuchtung der großen Städte und nach »militärischen 1 Brecht, Bertolt: Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Herausgegeben von Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei, Klaus-Detlef Müller. Berlin, Weimar, Frankfurt/ Main: Aufbau, Suhrkamp 1988–2000, Bd. 21, S. 507. – Im laufenden Text: (GBA Band, Seitenzahl). 2 Das Typoskript befindet sich in meinem Besitz. Entgegen allen Verlautbarungen der BrechtForschung und entgegen den Angaben im Kommentar der GBA (2, 407f.) zum Stück lag der Text im Herbst 1925 in einer ersten Fassung abgeschlossen vor und war in mehreren Zeitungen für eine kurzfristig geplante Uraufführung angezeigt. Brecht bot das Stück u. a. Max Reinhardt zur Uraufführung am Deutschen Theater Berlin an, in dessen Nachlass sich das Typoskript ursprünglich befand. 3 Den Begriff prägte der amerikanische Historiker George F. Kennan, mit seiner Publikation: The Decline of Bismarck’s European Order. Franco-Russian Relations, 1875–1890. Princeton: University Press 1979, S. 3.
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Ehren« – ob auf rotem Teppich oder auf dem »Feld der Ehre« – auch nur annähernd zu befriedigen. »Es entstand binnen kurzer Zeit, die niemals in der Weltgeschichte eine solche Entwicklung sah, das Kulturreich der Kohle mit Glanz, Überfluß, Farbe, Licht, Schnelligkeit und Verschwendung«4 – und es ging binnen kurzer Zeit zu Ende. Nach ihrer maßlosen Verpulverung im 1. Maschinen-Krieg zeigte die »sonnengeborene Tochter« der Erde deutliche Schwächen und drohte zu sterben. Damit die Maschinerie nach der »geologischen Erschöpfung der Kohle« weiterrollen konnte,5 überfiel ein neuer Rausch, ein »Goldrausch«, den Globus, der nicht mehr dem Edelmetall und seinen »Reserven« galt: Der offene Krieg ging über in den »geheimen Kampf, den die Völker, besonders aber England und Amerika, um das Öl« führten.6 Den Begriff »flüssiges Gold« für die leibliche Schwester der Kohle prägte in den zwanziger Jahren der russisch-deutsche Schriftsteller Essad Bey, Mitarbeiter an der »Literarischen Welt« von Willy Haas.7 Das Wort fand allgemeine Verbreitung über Beys Buch Flüssiges Gold von 1933.8 Heute wird der Begriff fast ausschließlich für edles Speiseöl verwendet. Die Diagnose über das Ende der Kohle, die sich so aktuell anhört, stammt aus einem Buch, das der nationalistisch gesinnte Ingenieur Anton Lübke angesichts des ersten »Weltkraftkongresses« mit 35 Nationen und 2000 Teilnehmern 1924 in London schrieb und das 1925 mit dem Titel Die sterbende Kohle erschien. Lübke kam wie der Weltkongress nach seinen Beratungen zum Fazit, dass, nachdem die Kohle sich zwar langsam, aber deutlich zu verabschieden begann, auch ihre »Schwester«, ebenfalls eine »Tochter der Sonne« mit der Leihmutter Erde, nur noch auf absehbare Zeit ihr unterirdisches Dasein zu durchzuhalten vermochte. Diese Tatsache bärge in sich gefährliche »Konfliktstoffe, die in Europa und der Welt die Beziehungen der Länder in eine sehr schwere Lage« bringen könnten und folglich einen grundlegenden Wandel in der Erzeugung von Energie erforderten.9 Das war 1924/25. Der Zukunftsaspekt, das Ende des Erdöls, den Lübke anspricht, interessiert hier nicht oder nur insofern, als in den Zeiten der Ölkrise der siebziger Jahre, die 4 Lübke, Anton: Die sterbende Kohle, das kulturelle und wirtschaftliche Schicksal Europas. Regensburg: G. J. Manz 1925, S. 447. 5 Vgl. ebd. 6 Ebd., S. 371. 7 Willy Haas, der eine kleine Monografie über Brecht schrieb, äußerte sich in der »Neuen Rundschau« Nr. 41, 1930, S. 21, in ähnlicher Weise über die Veränderung der literarischen Stoffe und bedauerte, dass ohne die Kenntnisse von Wirtschaftsproblemen und Statistik »auch Literaturkritik, wenn sie einigermaßen solide und exakt sein will, überhaupt nicht mehr möglich« sei. 8 Bey, Essad: Flüssiges Gold. Ein Kampf um die Macht. Berlin: Wegweiser Verlag 1933, Titel passim. 9 Lübke, Anton: Die sterbende Kohle, S. 374.
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Kohle immer noch als Ersatz für Öl angesehen wurde und nichts geschah. Es interessiert aber durchaus die von Ideologie offenbar unabhängige Diagnose, dass sich die technische Fortschrittsgeschichte mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts unerbittlich an eine Ausbeutungsgeschichte der Rohstoffe koppelte. Diese Gier nach Energie, die sich »Bedarf« nannte, um »Notdurft« zu assoziieren, schlug ständig in lokale Kriege um, die sich fernab von den Verbrauchern abspielten – und sie fand auch mit dem ersten globalen Krieg kein Ende. Im Westen hatte der siegreiche Imperialismus die Macht der Technik und die Überlegenheit der modernen Waffen erkannt; mit der Sowjetunion im Osten war nach der Revolution 1917 ein neuer mächtiger Gegner erwachsen. Erschwerend kam hinzu, dass ausgerechnet im Osten die ertragreichsten Ölfelder Europas und Zentralasiens lagen. Durch die rapide Ausbreitung des Automobils, angeschoben vom klugen amerikanischen Autobauer Henry Ford, blieb jedoch das Konfliktpotenzial im Kampf um das flüssige Gold nicht nur erhalten, im Gegenteil nahm es eine ungeahnt rasante Fahrt auf, und zwar im globalen Maßstab. In den USA setzte Ende 1923 ein »geradezu wahnwitziger Ölrausch ein […], die fieberhafte Jagd nach der kostbaren Flüssigkeit, von der man weiß, daß sie eines Tages versiegen«10 würde. Die Gefahr, durch die »gewaltige Entwicklung der Automobilindustrie« von ausländischem Öl abhängig zu werden, musste zum Objekt der Politik werden.11 Der besitzheischende Blick der amerikanischen Ölgesellschaften, allen voran Standard Oil, richtete sich in Richtung Osten: Sowjetunion, Türkei, Persien; dort jedoch saß das Britische Empire. England schien mit dem Ersten Weltkrieg die beiden wichtigsten Ziele seiner imperialen Politik erreicht zu haben: die Ausschaltung Deutschlands vom Weltmarkt und die Sicherung der Ölfelder von Ostindien und Britisch-Borneo. Die weiteren Begehrlichkeiten des British Empire richteten sich nach Persien, Aserbaidschan, Mesopotamien (damals das Gebiet zwischen Iran und Irak). Deutschland schien mit dem Versailler Vertrag 1919 vom Verteilungskampf ausgeschlossen zu sein; die Kolonien waren weg, und immense Reparationskosten waren aufzubringen. Dass das neue amerikanische Kreditsystem, zeitgenössisch in Deutschland mit »Konsumfinanzierung«12 benannt, alles auf den Kopf stellen könnte, ging ins deutsche öffentliche Bewusstsein nicht ein, in dem noch immer die Ideen von Vaterland, Recht, Freiheit etc. unabhängig von der Ökonomie nisteten. Der Dawes-Plan von 1923/24 ließ in Deutschland, wie die schöne Metapher hieß, die »Dollarsonne« aufgehen.
10 Ebd., S. 363. 11 Ebd., S. 362. 12 Bühn, Hermann: Die Konsumfinanzierung. Heidelberg: Univ., Diss., 1929, 1930.
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Die amerikanischen Investitionen und Kredite sollten die deutsche Wirtschaft instand setzen, die auferlegten Kosten für die Reparationen auch beschaffen zu können. Tatsächlich sorgte der importierte »Fordismus« dafür, dass er massenhaft neue Arbeitsplätze schuf, diese Arbeitsplätze Löhne und Einkommen sicherten, diese wiederum dafür sorgten, dass eine Konsumgesellschaft entstand, die bis dahin unbekannt war und die einen allgemeinen und bescheidenen Wohlstand hervorbrachte, der ebenfalls unbekannt war in einem Land, das auf Einzelhandel setzte und unter »Heimat« bodenständiges Dorfleben mit sonntäglichem Kirchgang verstand. Diese Unbekannte ging als die »Golden Twenties« in die deutsche Geschichte ein und dauerte kaum fünf Jahre. Das amerikanische Kapital verschaffte gleichzeitig und durchaus nicht geplant der deutschen Schwerindustrie das flüssige Gold, das sie benötigte, um die Eisen- und Stahlerzeugung – weitgehend immer noch mit Kohle – anzuheizen, sowie den Maschinenbau und die damit verbundene, zunächst noch geheime Re-Militarisierung voranzutreiben. In ihr verbarg sich die nationale »Erneuerung«, die nur wenige Jahre später in die offene Unterstützung der Nazis durch Thyssen-Krupp umschlug und die neue Aufrüstung in den nächsten Krieg vorantrieb. 1925 wählte die Mehrheit des deutschen Volkes seinen »verdienten Massenmörder« Hindenburg zum Präsidenten einer demokratischen Republik.13 Als Repräsentant des alten Preußentums setzte dieser nach wie vor ideologisch auf die »sterbende Kohle«, während das Öl langsam, aber beharrlich die Herrschaft auf dem Markt übernahm. Wenige Jahre später übergab der greise Präsident, der noch einem Kaiser huldigte, der 1916 – mitten in den Materialschlachten – das Auto als »vorübergehende Erscheinung« ansah, einem Psychopathen die Macht. Die Nazis wussten, dass die einheimische Kohle für einen kommenden Krieg nicht mehr ausreichen würde. Die Eroberung Polens 1940, so konnte der Ökonom Lübke rückblickend und quasi frohlockend feststellen, hatte zur »wesentlichen Erweiterung der Rohstoffversorgung« geführt, den Weg in die russischen Rohstoffgebiete geöffnet sowie mit dem »Südostraum«, gemeint ist Zentralasien, die künftige Ölversorgung gesichert. Der verbrecherische Vernichtungskrieg der Nazis stellte sich für den weitsichtigen Ingenieur in perverser Form als angebliche Einlösung eines notwendigen Eroberungskrieges heraus,14 weil die Deutschen zugunsten ihrer »Kumpel« und deren Arbeitsplätze den Umstieg von der Kohle auf andere Energiequellen verpasst hatten.
13 Brecht bezeichnete in den 50er Jahren Stalin als »verdienten Mörder des Volkes« in Anlehnung an die DDR-Auszeichnung für Ärzte (vgl. GBA 15, 300). 14 Vgl. Lübke, Anton: Das deutsche Rohstoffwunder. Wandlungen der deutschen Rohstoffwirtschaft. Stuttgart: Forkel 1940, 6. Auflage, S. 23.
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Es war folglich keine Überraschung, dass ein wirtschaftlich wieder erstarktes, aber nach wie vor national gesinntes Deutschland, und dann noch als »Drittes Reich«, auf einen zweiten Weltkrieg hinauslief. Anton Lübkes »Voraussagen« von 1925 waren 1940 eingetroffen, nicht als Realisierung einer dystopischen – für ihn utopischen – Vision, sondern als Konsequenz der verborgenen Realitäten der Zeit um 1925, als Brecht den verdrängten »Stoff« mit der ausdrücklichen und damit auffälligen Nennung des aktuellen Jahres aufnahm. Nach alter Übereinkunft, was »schöne Literatur« zu sein hatte, galt der Kampf um Rohstoffe als nicht literaturfähig: Die Vorstellung, die unsere Zeit von sich selber hat, ist es wert, aufgezeichnet zu werden. Zum Beispiel ist die Geologie heute keine trockene Sache mehr. Ohne die lederne Sprache der Bücher ist diese Geschichte der ständigen Umgestaltung der Erdoberfläche von den ersten Erdkatastrophen bis heute einer der spannendsten Stoffe, die die Kunst hat. […] Beinahe dasselbe gilt von der Mechanik und der Statistik. […] Zu Beginn dieses Jahrhunderts setzte an allen Punkten der Erdoberfläche der Start großer technischer Rekorde ein. Die Geschichte der Menschheit hat wenig Imposanteres. (GBA 21, 205)
Diese wenig zitierten Sätze, die ein völlig neues Literatur- und Kunstprogramm annoncierten, schrieb Brecht im Juni 1927, als er mit dem Filmemacher Carl Koch und dem Komponisten Kurt Weill für das Ruhrgebiet, das Zentrum der deutschen Schwerindustrie und nach wie vor der »Kohlenpott« Deutschlands, ein so genanntes Ruhrepos plante. Das Projekt sollte die Maschinen und damit die Verhältnisse buchstäblich »zum Tanzen bringen«. Die wenigen Verse, die er dazu verfasste, deuten an, dass Brecht den blumigen Natur- und Familienmetaphern der Techniker einen humorvollen anthropomorphen Maschinen-»Park« in Anspielung auf die Spielautomaten der Zeit entgegenzusetzen gedachte; hier eine »moralische« Ansprache an den Kran Karl: Rauch nicht den ganzen Tag wie ein Kapitalist Bete und arbete! Rutsch mal vier Meter vor! Rutsch mal vier Meter retour! Mach mal Männchen Leg mal dein Greiferchen vor dich auf die Schienen! So ist’s brav, Karlchen. […] // Karl, mach mal ein marxistisch aufgehelltes Gesicht! (GBA 13, 374)
Organisierte antisemitische und reaktionär-nationalistische Kreise setzten dem Essener Oberbürgermeister mit einer öffentlichen Kampagne so zu, dass dieser den Vertrag, den er mit Brecht und Weill schon unterzeichnet hatte, kündigte und damit das gesamte multimediale Projekt cancelte. Ein Flugblatt mit der Schlagzeile »Diese zwei Juden sollen jetzt die ›große Kunst‹ von Berlin nach Essen bringen« mobilisierte offensichtlich sehr erfolgreich alte Vorurteile und reak-
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tionäres Kunstverständnis in der Rhein-Ruhr-Metropole. Diese hatte damals über 10 Millionen Einwohner und galt als Hort der deutschen »Arbeiterklasse«, von der allerdings keinerlei Einspruch gegen die Hetzschrift kam. Das Dokument »deutscher Kultur« befindet sich heute in der Essener Stadtbücherei und wird hier in der originalen Schreibweise wiedergegeben: Als Zugstück für die Bühnen ist ein Schlager ausgedacht – eine Ruhrrevue – großer Theaterspektakel mit Ausstattung, Gesang und Tanz […]. Zur Ausführung sind […] von den Hintermännern des Planes die zwei Juden Brecht und Weil vorgeschoben, welche schon fest von der Stadt [Essen] engagiert sind. Brecht (der eigentlich Baruch heißen soll) ist Verfasser wertloser, dekadenter perverser Schauspiele (Trommel in der Nacht, Baal, Mann ist Mann), die trotz aller Judenreklame außerhalb Berlins nicht ziehen. Weil ist kleiner verkrampfter Operettenverfertiger.
Vorausgegangen war ein Projekt, das Brecht 1920 mit dem Titel Galgei begonnen hatte und das Ende 1925 in einer ersten Fassung als Mann ist Mann Oder Die Verwandlung des Packers Galy Gay in den Militärbaracken von Kilkoa im Jahre neunzehnhundertundfünfundzwanzig vorlag (diese Urfassung ist aufgrund der Einsprüche der Brecht-Erben und des Bertolt-Brecht-Archivs in Berlin noch nicht publiziert). Das Essener Pamphlet reklamierte das Drama, das im Herbst 1926 in Darmstadt und Düsseldorf uraufgeführt wurde, ausdrücklich als Beispiel eines perversen »jüdischen« Schauspiels. Brecht hatte es von Beginn an als »Lustmordspiel« gedacht. (Vgl. GBA 26, 144) In einem Brief an den Bruder Walter von Anfang 1926 präzisierte er seine Absichten. Dieser solle sich das Stück »wie ein Chaplinlustspiel« vorstellen, »den Verwandlungsakt mit Jazzband, jede Nummer einzeln und dazwischen, während sie ihren Mann und ihre Kantine ummontieren, singen sie mit Steps den ›Mann-ist-Mann‹-Song / Denn Mann ist Mann / Schau ihn nur an. Usw.« (GBA 28, 249). Der »trockene« Stoff sowie das fiktive Kilkoa waren für die Zeit schon Herausforderung genug. Dass Brecht überdies als Personal eine versoffene Soldateska wählte und die dürftige Handlung um einen Geschäftsschwank, den Elefantenkauf, herum baute, konnte er in Verhältnissen, in denen die Nationalisten ungestraft in die Politik eingriffen und in den Feuilletons noch der alte Kunstbegriff herrschte, kaum auf Verständnis treffen. Entsprechend fand Brecht in der Metropole auch keine Bühne, die bereit gewesen wäre, das Stück aufzuführen. Auch die Aktualisierung, die Brecht 1926 mit dem Einbau der Auto-Montage zusammen mit dem Mann-ist-Mann-Song vornahm und in Parallele zur Ummontierung des Packers Galy Gay in die »Kampfmaschine« Jeraiah Jip setzte, nützte da nichts: Militärklamotte und Geschäftemacherei bedienten nicht die nötige Unterhaltung für den Aufschwung, den die neue Vergnügungsindustrie mit ihren Revuen und Kabaretts einleitete. Da mussten nackte Frauen und knallige Lieder her, wie es James Klein an der Berliner Komischen Oper erfolg-
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reich vorführte. 1924 setzte er die Zeichen der Zukunft mit der Revue Das hat die Welt noch nicht gesehn…, nämlich das, »worauf die Frauen sitzen«; so führte es auch der zentrale Liedtext der Revue aus. Die Volksbühnen-Inszenierung von Mann ist Mann Silvester 1927 mit aktualisierter Jahreszahl, wiederum ausgeschrieben, unternahm einen neuen Anlauf und traf in den Feuilletons der führenden Zeitungen Deutschlands wiederum nur auf beißenden Hohn, der sich vor allem am zentralen Elefantenkauf des Stücks entzündete. Dieses Geschäft motiviert im Stück die letzte Möglichkeit, den immer noch zögerlichen Galy Gay dazu anzuhalten, endlich den freien Platz des Soldaten Jip einzunehmen. Galy Gay wird des Betrugs überführt, nach militärischem »Recht« zum Schein hingerichtet, um dann als neuer Mensch aufzuerstehen. Als solcher erweist er sich als die »menschliche Kampfmaschine« (GBA 2, 157), die für jeden imperialistischen Krieg verwendungsfähig ist. Sie rollt am Ende erfolgreich auf den Straßen des »zu langen Goldlandes« Indien voran, um »die gewaltigen Tanks unserer Queen mit Petroleum« aufzufüllen. (GBA 2, 96) Die Kritik wütete: »der Elefant, den zwei Schauspieler mit umwickeltem Gebein auf der Bühne vorturnten, dieser von Darstellern geschaffene Zirkusulk war die Höhe«; der »Verkauf eines Elefanten, der kein Elefant ist, von Soldaten fälschlich als Elefant in Verkleidung vorgestellt, – dies hier ist einfach geistig zurückgeblieben«; »vergeblich all der fade Spaß mit dem Elefanten, der keiner ist, vergeblich alles, und es muß ein Projektsapparat einspringen, um zu erklären, was Brecht sagen will«. Alfred Kerr, der Starkritiker der Berliner Szene, der sich regelrecht vorgeführt sah, ließ die Nummer nicht einmal als schlechten Scherz durchgehen: »kindisch-armselig« sei die Darstellung, »lallender Stumpfsinn« beherrsche die Dialoge: Sein Fazit: »Unexportierbares; – für drollig-beschränkte Lokalpatrioten.«15 Selbst die wohlwollendsten Kritiker, die Erich Engel, um sich den Silvesterspaß nicht zu verderben, erst zum 5. Januar 1928 »zur Premiere« in die Volksbühne am Bülowplatz eingeladen hatte,16 zeigten sich irritiert, als sie das Nummern-Spiel mit dem falschen Elefanten über sich ergehen lassen mussten. Galy Gays ausdrücklicher Hinweis, der Elefant sei »allerdings auch eine Abnormität«, konnte nichts retten. Im Dreigroschenroman formulierte Brecht: Jedermann weiß, daß die Verbrechen der Besitzenden durch nichts so geschützt sind, wie durch ihre Unwahrscheinlichkeit. Die Politiker können überhaupt nur deshalb Geld nehmen, weil man sich ihre Korruptheit allgemein feiner und geistiger vorstellt, als sie 15 Die Kritiken sind versammelt im Materialienband von Wege, Carl (Hg.): Brechts »Mann ist Mann«. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1982, S. 297–314, hier vor allem S. 313. 16 Die eigentliche Premiere am 31. Dezember 1927 sowie der Untertitel mit der ausgeschriebenen aktualisierten Jahreszahl, die Anfang Januar 1928 schon anachronistisch war, ist in den Anzeigen der einschlägigen Tageszeitungen von Berlin nachgewiesen. Den meisten Kritikern wie auch der Forschung war das offenbar entgangen.
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es ist. Würde sie einer so schildern, wie sie ist, nämlich ganz plump, dann würde jedermann ausrufen: was für ein plumper Patron! und damit den Schilderer meinen. (GBA 16, 202)
Danach reagierten die Feuilletons wie bestellt, und Engel tat recht, als er sich die Premiere durch die Presse nicht vermiesen ließ. Um die aktuellen Verhältnisse nicht zu vergessen, damit deutlich wird: Fordismus und Kreditwirtschaft haben den Zweiten Weltkrieg überlebt. »Wirecard« im Jahre 2020. Schon vergessen? Da legten ein paar biedere Gauner, deren Spürsinn für Dummheit als »genial« gepriesen wurde, mit dem altbewährten, jetzt digital aufgemotzten Schneeballsystem die gesamte Finanzwelt und die halbe Welt der Politik herein. Die »mutmaßlichen« Verbrecher – nach heutiger Sprachregelung werden Tatsachen erst durch die Rechtsprechung nachträglich »hergestellt« – »generierten« ein als komplex getarntes Finanzdienstleistungssystem, einen Dienst am Dienst des Dienstes bzw. des elektronischen Zahlungsverkehrs und Risikomanagements, ohne Inhalt, ohne materielle Basis und katapultierten diese Luftnummer angesichts einer Welt, die starr wie das Kaninchen vor der Schlange auf Industrie 4.0, auf KI und BIG DATA schaut, ins Oberhaus der deutschen Börse mit Banklizenz. Die »kleinen Leute« finanzierten das Ganze mit dem Kauf der Aktien, deren Anstieg ihnen täglich die offizielle Tagesschau bestätigte, und schauten am Ende in eine 3D-Röhre ohne Brille und Boden. Brecht erfand mit dem primitiven Elefantenspiel eine clowneske Handlung, die die »Konsumfinanzierung« in den Jahren ihrer Erfindung auf der Bühne zu Wort und Bild brachte. Sie wird bis heute gewinnbringend praktiziert, ändert nur immer wieder ihren Namen, um vorzugaukeln, es handle sich um die größte gewinnbringende Neuigkeit. Diese Kreditgeschäfte mit virtuellen Gegenständen/ Sachen waren in einer Zeit, als man noch Sparstrümpfe füllte und das »Geld in die Hand nahm« (mit solchen Phrasen tönen die Sprechblasen der Politik auch heute noch), um es »auszugeben« und dafür ein materielles Produkt entgegenzunehmen, völlig neu. Sie leiteten zusammen mit den Anleihen des Dawes-Plans in der gesamten alten Welt die Metamorphose des Kapitalismus im 20. Jahrhundert global ein und brachten den Geschäftszweig der Kreditwirtschaft und Investitionsgeschäfte prächtig zum Blühen und Wachsen. Es handelte sich um die Umwandlung von »Handelswerten« in alle möglichen Vermögensgegenstände (Autos, Wohnungen, Eigenheime, Landbesitz), die es (noch) nicht gab, vielmehr erst materiell eingelöst wurden, wenn die Finanzierung »gesichert« war. Dabei war allerdings nicht immer ausgemacht, ob das auch klappte. Denn das Geld »floss« nicht mehr im Austausch mit dem Produkt, sondern indirekt und nur virtuell über Finanzverträge. Diese konnten auch »platzen«, und dann war das Geld weg und kein Produkt da.
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Ab Mitte der zwanziger Jahre etablierten sich in Deutschland die lukrativen Kreditbanken. Am 23. November 1926 nahm die Warenkredit-Gesellschaft des Hamburger Einzelhandels als erste genossenschaftliche Teilzahlungsgesellschaft ihr Geschäft auf. Die »unabhängigen« Konsumfinanzierungs-Institute schoben sich zwischen Verkäufer (Anbieter) und Käufer (Konsument) und sorgten dafür, dass die Konsumenten viel Geld erhielten für Produkte, die sie sich (eigentlich) nicht leisten konnten und auch nicht unbedingt benötigten. Man sparte nicht mehr, bis das Geld beisammen war, um das Produkt direkt zu kaufen, vielmehr ließ man sich Werte »vorschießen«, die der Konsumfinanzierer virtuell borgte: Dar-Lehen genannt. Die Konsumenten als »Lehnsmänner« zahlten dafür Zinsen und Finanzierungsgebühren, an denen die Lehnsherren immer prächtiger verdienten, obwohl sie weder etwas herstellten, noch real ein Produkt verkauften. Dienstleistung ist ein »immaterielles Gut«, ein Herr-Knecht-Verhältnis – Dienst ~ Diener = Knecht –, das nicht der Produktion von Gütern dient. In virtueller Form wirkte der alte Feudalismus fort; aber niemand hat’s gemerkt. Der Konsum und nicht mehr die Produktion trieb die Räder der Fabriken an. Der starke Arm der Arbeiter, was in Deutschland noch ein wenig dauerte, legte sich ums Lenkrad des finanzierten Automobils und verlor allmählich und noch im Jahrzehnt der Golden Twenties die Kraft, die Räder stillzustellen. Es war die Verwandlung des klassischen Ausbeutungskapitalismus in den Konsumkapitalismus nach Henry Ford, eine Metamorphose, die dem Kapitalismus den Anstrich sozialer Gerechtigkeit verlieh, indem er die neuen Massen in der industriellen Produktion an den Gewinnen beteiligte: Wohlstand durch »Wachstum«, wobei die sprachlichen Metaphern weiterhin aus der Natur stammten, um den Geschäften den Anstrich des Natürlichen zu verleihen, oder aus den engeren Verwandtschaftsbeziehungen bezogen wurden, um auch noch die vertraute Blutsbande zu bemühen; nach dem euphemistischen Motto, dass die Arbeitenden in den Unternehmen einer »großen Familie« angehörten. Die zunehmende Automatisierung in den Fabriken sowie vor allem die Erfindung des laufenden Bandes, ermöglichten eine ungeheure Steigerung der Produktion. Henry Ford war es, der, statt mit dem Lohn zu knausern, auf die Idee kam, die Löhne zu erhöhen, ja zu verdoppeln. Gleichzeitig senkte er die hohen Preise für die Edelkarossen der Anfangsjahre mit dem am Fließband billig produzierten Einheitsmodell Ford T, mit der so genannten »Tin Lizzie« (Blechliesel), sodass die Autos – über die Konsumfinanzierung – auch für »einfache Leute« erschwinglich wurden. Der erhöhte Lohn floss über den Kauf des Produkts an den Unternehmer zurück: Heute nennt man das eine »Win-Win-Situation«. Auch wenn diese »Entwicklung« im konservativen Deutschland nur zögerlich verlief, begann das Auto, vor allem in Berlin, den öffentlichen Verkehr zu dominieren. Im Herbst 1921 eröffnete Berlin mit dem Bau der Avus nach Wannsee die erste ausschließliche Autostraße = erste Autobahn der Welt mit einem Au-
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torennen als Reklame-Anschub für den neuen Flüssig-Goldfresser. Die ersten elektrischen Ampelregelungen wurden 1922 in Deutschland installiert. 1923 gab es in Berlin neben dem Kraftverkehr (Busse, Bahnen, LKW) bereits über 100.000 Privatautos auf den wenigen Straßen, die dafür geeignet waren. 1926 bauten die Berliner auf dem Potsdamer Platz einen mächtigen Turm für die Regelung des Auto-Verkehrs. Brecht als Autofreak wusste also, weshalb er die Mann-ist-MannMontage ans Auto koppelte. Im Hintergrund der Golden Twenties allerdings wüteten die VerteilungsKämpfe um die Rohstoffe weiter. Im Ersten Weltkrieg hatten die europäischen Kolonialmächte das amerikanische Militär benötigt, um mit vereinten Kräften den Größenwahn der »verspäteten Nation« Deutschland niederzuschlagen. Nach dem Krieg aber saß Amerika plötzlich mitten in Europa und auf dem europäischen Markt, der neu zu ordnen war. Die für den Konsum nötigen Rohstoffe mussten neu verteilt werden, zudem mit der bolschewistischen Sowjetunion noch ein weiterer unberechenbarer Teilhaber ins Welt-Geschäft eingetreten war. In den scheinbar friedlichen Gefechten zwischen den Siegermächten, vertreten durch Great Britain mit Royal Dutch Shell (GB) und durch die USA mit Standard Oil und ihrem neuen sowjetischen Partner, dem Naphta-Syndikat, erreichten die Auseinandersetzungen auf dem europäischen Ölmarkt 1927 aufgrund des »Siegeszuges« des Automobils einen vorläufigen Höhepunkt. Der Beginn des Artikels in der »Reichspost«, Wien, vom 25. Oktober 1927, liest sich wie eine Regieanmerkung zu Mann ist Mann: Persien ist die russische Landstraße nach Indien. Von alters her kreuzten sich dort die russischen und die britischen Interessen. […] Die britische Royal Shell Company, die über ein Kapital von einer Viertelmilliarde Pfund Sterling verfügt, hat in Persien den Kampf mit der amerikanischen Standard Oil Company aufgenommen, die zurzeit große russische Interessen hat.
Im Herbst 1927 sind die Gazetten voll vom »Oelkrieg«. Die »Rote Fahne« vom 14. September 1927 sah die »imperialistische Kriegsfront gegen die Union« aufgerichtet. Die »Wiener-Sonn- und Montags-Zeitung« verzeichnete am 19. September 1927 die »Ölwirtschaftspolitik der Welt« als alles beherrschenden »Rohölkonflikt«; und das Wiener »Tagblatt« vom 14. Oktober 1927 bezeichnete das »Petroleum als Hauptfaktor für Verkehrs-, Industrie- und Kriegstechnik«. Wie sich der Krieg auf die heimische Bevölkerung Kilkoas oder Tibets oder Afghanistans oder Aserbaidschans auswirkte – das klang alles so fremd und deshalb gleich –, interessierte wie üblich in Europa niemand. Diese waren, wie der Überfall auf die Pagode im Stück drastisch vorführt, der Willkür ihrer Besatzer ausgesetzt und durften nur untertänigst Hilfsdienste verrichten. Die aktualisierte Inszenierung – und dann zu Silvester 1927, das eben dieses Jahr abschloss – hätte auch trotz des fiktiven Kilkoa kaum missverstanden werden können, wenn nicht wei-
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terhin ein blinder Idealismus geherrscht hätte, der diese Zusammenhänge für die Literatur nicht akzeptierte und deshalb, kamen sie vor, einfach ignorierte. Ins Bewusstsein der Allgemeinheit oder gar in die Köpfe der Intellektuellen drangen diese Handelskriege auch außerhalb der Literatur wie üblich nicht vor. Im Grunde fand für die meisten Deutschen alles irgendwie und irgendwo statt. Das Benzin kam aus der Zapfsäule und stammte nicht etwa aus Aserbaidschan. Der Zapfhahn wurde in einem hübsch verkleideten Verkaufs-Tempelchen versteckt, um die Technik unsichtbar zu machen. Das Benzin floss, raffiniert und zum Verbrauch bereitet, aus dem eigenen Boden unmittelbar in den deutschen Tank. Essad Bey formulierte den Tatbestand zeitgenössisch so: Sorglos tankt der Autofahrer zehn Liter der hellen übelriechenden Flüssigkeit. Sorglos fährt er über die breite Landstraße. Mit eintönigem Surren verbrennt im Motor das Benzin. Der dünne bläuliche Rauch am Auspufftopf ist das Ende des langen Weges, den die farblose Flüssigkeit vom Innern der Erde zu den Röhren der Raffinerien, zu den Frachtdampfern und schließlich zu den Tankstellen in fernen Kontinenten nimmt. Der Autofahrer aber, und unzählige Menschen gleich ihm, ahnt nichts von diesem beschwerlichen Weg …17
Es ging um die neue Massengesellschaft, die damit verbundene Vereinzelung der Menschen, die sich auch als »Abschaffung der Persönlichkeit« verstehen ließ (so die zeitgenössische Auffassung). Diese Vereinzelung wurde von Beginn an ideologisch als neu errungene »Freiheit der Mobilität« verklärt, wobei einfach übersehen wurde, dass sie sich in einer abgeschlossenen Blechkiste manifestierte, die den Insassen ihre Funktionsgesetze vorschrieb und deren Ausübung durch neue Verkehrsordnungen streng geregelt wurde.18 Die zunehmende Kommunikationslosigkeit und Entfremdung der Kontakte hatte Brecht bereits 1923 Im Dickicht der Städte – auch sprachlich – thematisiert, was ihm durch Thomas Mann, der als privilegierter Bürger solche Tatsachen nicht kannte, das Etikett des »Bolschewismus« für seine Kunst einbrachte. Die christlich fundierte MoralIdeologie, es komme auf den Einzelnen an, war anachronistisch geworden. Dass die Repräsentanten des Volks im Parlament nur ihrem Gewissen unterworfen sowie an Aufträge und Weisungen nicht gebunden seien, wie es die Paragraphen der Weimarer Verfassung formulierten, öffnete dem späteren Missbrauch alle Tore; denn eben dieses Gewissen war in den Schützengräben des Weltkriegs mit
17 Bey, Essad: Flüssiges Gold, S. 11. 18 Brecht hat in der Erzählung Barbara von 1926 das Auto als gefährliches Gefängnis für Mitfahrer satirisch beschrieben, wenn der Lenker das schnelle Gefährt zur Abreaktion seines sexuellen Frusts missbraucht. Die Rettung des in der Blechkiste inhaftierten Ich-Erzählers geschieht noch rechtzeitig dadurch, dass das Benzin ausgeht und die beiden Insassen, gerade noch dem Tod entronnen, die schwere Kiste schieben müssen, um zu erkennen, dass sie ohne den Roh-Stoff ein gewaltiger Klotz am Bein ist (GBA 19, 280–283).
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den Granaten zerplatzt, und die neue Republik hatte keine Konsequenzen daraus gezogen; im Gegenteil. Brecht benannte den Sachverhalt 1930 mit dem Begriff »Apparaterlebnis«, ein »mediales« Erlebnis, das sich – wie er sarkastisch anmerkte – in der »schönen Literatur« der Weimarer Republik mit den Front-Romanen, schon früh mit Ernst Jüngers In Stahlgewittern von 1920, oder 1928 mit Erich Maria Remarques Im Westen nichts Neues, durchsetzte. Brecht notierte 1930 rückblickend: Die schöne Literatur stellt das Apparaterlebnis des einzelnen in den Vordergrund. Der stark entwickelte Glaube an die Persönlichkeit zeigte sich in seinem komischsten Lichte, wenn das Kriegsproblem als psychologisches Problem gezeigt wurde […]. Ohne Psychose war nichts erklärbar, da ja die gewissen geschäftlichen Differenzen auch »anders« (gemeint war billiger) hätten »beigelegt« werden können. […] Die schöne Literatur stellte die Persönlichkeit vollends ganz in den Vordergrund und schilderte das Apparaterlebnis. (Die stärksten Erleber erlebten Auflagen bis zu einer Million. Sie schilderten, wie schrecklich es war, vier Jahre lang keine Persönlichkeit gewesen zu sein.) Jeder einzelne fühlte, daß der Krieg nicht sein eigener Krieg war, nicht die Folge seiner Taten, nicht die Konsequenz seiner Gedanken (wo je hatten seine Gedanken eine Konsequenz gehabt?). Man hatte sie nicht gefragt. (GBA 21, 306) Nichts hatte ihn [den deutschen Soldaten; hier auf Piscator bezogen] so deprimiert im Felde, als daß er ausgelöscht war als Einzelwesen, eine bloße Nummer, ein Etwas, das sich auf Kommando in den Dreck warf und auf Kommando, oder auch ohne Kommando, nur dem Masseninstinkt einer angreifenden Truppe folgend, aus dem Dreck sich in die Bahn der Geschosse erhob. […] er spürte, daß diese Zusammenfassung von Menschen etwas durchaus Furchtbares sein konnte, wenn dieser Zweck nicht jedem einzelnen dieser Masse zugute kam. Hier tauchte das scheußliche Ideal jenes künstlichen Kollektivs auf, das seine Einigkeit daraus bezog, daß aller Interessen gleichermaßen verletzt wurden: das faschistische Kollektiv. Über ihm formulierte sich schon der Satz: Gemeinnutz geht vor Eigennutz. (GBA 22, 122f.)
Erich Engel, der Regisseur der Volksbühnen-Inszenierung setzte zu beiden Seiten der Bühne nach Erwin Piscators Vorbild – jedoch nicht in dessen Funktion eines Bühnenbilds – Filme ein, die die unmittelbaren Bezüge zu aktuellen politischen und ökonomischen Ereignissen der Zeit herstellten. Es dominierten die Relationen zu Royal Dutch Shell sowie zur »Konsumfinanzierung« durch Reklametafeln. Markiert wurde über die Massenartikel der neue Massentypus, der sich, wie die Kritik im »Berliner Lokal-Anzeiger« vom 2. Januar 1928 ausführte, »selbst und seine eigene Not verhöhnt, am Ende über alles schmunzelt und sich als braves Kanonenfutter für die Interessen der Petroleumkönige der Royal Dutch Shell-Company noch gar zum ›Helden‹ aufschwingt«. Den Typus hatte Brecht bereits in frühen Entwürfen zum Stück angesichts der Kriegsereignisse beschrieben, deren Folgen ihm in den Lazaretten von Augsburg anhand der zerfetzten Körper drastisch vor Augen gehalten wurden:
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Es ist die Vision vom Fleischklotz, der maßlos wuchert, der, nur weil ihm der Mittelpunkt fehlt, jede Veränderung aushält, wie Wasser in jede Form fließt. Der barbarische und schamlose Triumph des sinnlosen Lebens, das in jede Richtung wuchert, jede Form benützt, keinen Vorbehalt macht noch duldet. […] // Die Frage: Lebt er denn? / Er wird gelebt. (GBA 26, 223; Tagebuch, Samstag 28. Mai 1921)
Dass man gelebt wurde, entsprach dem neuen Zeitgefühl, wie der Begriff euphemistisch heißt, wenn die technische Aufrüstung der Großstadt die Wege vorzuschreiben beginnt, wenn die Menschen sich nach dem Zeittakt der Verkehrsmittel ausrichten müssen, wenn die Massen durch die Straßen strömen und nur vorwärts kommen, wenn sie sich im Gleichtakt bewegen. So erfasste zum Beispiel die Boulevard-Zeitschrift »Die schöne Frau« von 1927 den Tagesablauf des neuen Typus Frau in der Berliner Öffentlichkeit zu bestimmten Uhrzeiten als ein »Erscheinen und Verschwinden«: »sie kommen und gehen immer gleich scharenweise, viele einzeln, gewiß, und doch jede eingeordnet der großen Maschinerie, die alle ankurbelt. […] Es ist ein großer Strom in der Frühe um 8, abends um 5 und 7 Uhr, seine Nebenflüsse, mittags zwischen 12 und 4 Uhr, das Heimtröpfeln der Tischzeitmädchen, fallen weniger ins Auge.«19 Die »große Maschinerie, die alle ankurbelt«, sie entstieg unmittelbar nach dem Krieg aus den Schützengräben und kurbelte nun den Alltag der Großstadt an. Es handelte sich beim Beispiel der »Schönen Frau« um die »Fräuleins mit dem eiligen Gang«, um die Kontoristinnen und Verkäuferinnen, die das Funktionieren der Konsumgesellschaft garantierten und ihre Abläufe im Zehnstundentakt am Rotieren hielten, indem sie sich, ihr Verhalten, ihr Aussehen, ihren Habitus den Vorgaben der Maschinerie, die jetzt unsichtbar geworden war, unterwarfen und langsam, aber sicher als gewohnt und dann als natürlich gegeben internalisierten. Die Metaphern aus dem Bereich der Natur, der große Strom, das Tröpfeln, die Nebenflüsse beseitigten auch sprachlich das Besondere und warfen alles Menschliche buchstäblich in den Fluss, der nicht aufzuhalten sein würde. Der Film mit seiner einäugigen und beschränkten Sichtweise sowie aufgrund seiner Technik entwickelte längst eine dem neuen Medium angepasste Spielweise. Der Filmemacher und Filmtheoretiker Hans Richter und Zeitgenosse Brechts, beschrieb sie als das apparat-gerechte Spiel Chaplins im Film: Er schien entdeckt zu haben, daß der Körper vor allem aus Hebeln, Gewichten und Gelenken besteht (wie die Kamera) – und das Gesicht aus Muskeln und Bändern, die man exakt verlängern und verkürzen kann. Indem er an sich selbst dieses mechanische System in Bewegung setzte, brachte er sich in Übereinstimmung mit der Apparatur. […] Sie [seine Filme] unterliegen einem mechanischen Ablauf, dessen einzelne Teile gewissermaßen auseinandernehmbar sind. Das Fühlen wird da nicht als unteilbarer Fluß, 19 Zitiert nach Sykora, Katharina / Dorgerloh, Annette (Hg.): Die neue Frau. Herausforderung für die Bildmedien der zwanziger Jahre. Marburg: Jonas 1993, S. 128.
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als Naturbewegung ausgedrückt, sondern als ein teilbarer, als ein durchaus zerlegbarer Prozeß, der bei allen Tänzen und Sprüngen, beim Wechsel vom Lachen zum erstarrten Ausdruck, bei allen Gesten übersichtlich und rhythmisch organisiert ist.20
Um diese Zeit etablierten sich auch schon die »maschinisierten Athleten« im Sport, in den friedlichen Kampfformen, die die neuesten technischen Errungenschaften in der Regel zuerst ausprägen. »Die Neue Bücherschau« veröffentlichte in ihrem 2. Heft vom April/Mai 1927 Fotos vom finnischen Ausnahmeläufer Saavo Nurmi, dessen Körper nur noch aus Strängen und Muskelauswüchsen zu bestehen schien und der wie ein zusammengesetzter Humanoid und nicht mehr wie ein lebendiger Mensch auftrat. Die Fotos führt die Zeitschrift zusammen mit einer Abbildung eines beinlosen Roboters als Beispiel für das »Ende der Persönlichkeit« an. Sie illustrieren den gleichnamigen Artikel von Klaus Herrmann im Zusammenhang mit Brechts Stück Mann ist Mann: »Persönliches, das die Fortentwicklung des Kapitalismus dem Menschen entriß, wird hier auch dichterisch abmontiert wie die falschen Spannungen der alten Bühne.« Das traf sich mit Herbert Jherings Diagnose: Solange die Welt noch das Problem der Kollektiv- und Individualmenschen tragisch und philosophisch betrachtet, kann sie sich nicht auf Humor umstellen. […] // Brecht ist der erste deutsche Bühnendichter, der die Mechanik des Maschinenzeitalters weder feiert noch angreift, sondern selbstverständlich nimmt und dadurch überwindet.21
Brecht traf den Grundwiderspruch der Zeit: die zunehmende Technisierung und die mit ihr verbundene Techno-Evolution der Menschen, das heißt ihre notwendige Anpassung an die Technik. Die Techno-Evolution zwang die Einzelnen in Abhängigkeiten, die den Anschein des natürlich Gegebenen annahmen. Während die deutsche Arbeiterbewegung und ihre Parteien, die SPD und KPD, noch meinten, mit Hilfe des Parlaments und demokratischer Propaganda, durch die Organisation von Arbeiter-Vereinen, Sportorganisationen und Agit-Prop, die Republik vor ihren kriegstreibenden Gegnern retten zu können, und die »schöne« Literatur weiterhin den Verlust der Persönlichkeit anhand von persönlichen »Schicksalen« bejammerte, setzte Brecht auf die Darstellung der eigentlichen Geschäfte in Wort und zunehmend auch Bild und benutzte dafür mit Bedacht die Tempel der bürgerlich-feudalen Theater mit ihrem Publikum. Mit der Technisierung war die Realität, wie er es später nannte, »in die Funktionale gerutscht«. (GBA 21, 469) Wie das Funktionieren der Technik im Haus hinter Gips verschwand, so wurden die Funktionsgesetze der Wirtschaft mehr und mehr unsichtbar – und nur scheinbar komplexer, konnten aber so, wie alles andere 20 Richter, Hans: Der Kampf um den Film [Manuskript abgeschlossen 1939]. Herausgegeben von Jürgen Römhild. München, Wien: Hanser 1976, S. 140. 21 Zitiert nach Wege, Carl (Hg.): Brechts »Mann ist Mann«, S. 310.
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auch in der neuen Konsumgesellschaft, als solche verkauft werden, damit niemand auf die Idee kam nachzufragen, welcher »Art« diese Komplexität denn sei. Brecht setzte genau da an. Er nutzte die Bühne, um die Funktionsgesetze offenzulegen und ihre Durchschaubarkeit mit ästhetischen Bildern zu demonstrieren. Die Lage wird dadurch so kompliziert, dass weniger denn je eine einfache »Wiedergabe der Realität« etwas über die Realität aussagt. Eine Fotografie der Kruppwerke oder der AEG ergibt beinahe nichts über diese Institute. Die eigentliche Realität ist in die Funktionale gerutscht. Die Verdinglichung der menschlichen Beziehungen, also etwa die Fabrik, gibt die letzteren nicht mehr heraus. Es ist also tatsächlich »etwas aufzubauen«, etwas »Künstliches«, »Gestelltes«. Es ist also ebenso tatsächlich Kunst nötig. Aber der alte Begriff der Kunst, vom Erlebnis her, fällt eben aus. Denn auch wer von der Realität nur das von ihr Erlebbare gibt, gibt sie selbst nicht wieder. (GBA 21, 469)
Brecht nannte ab 1931 das »Künstliche« und »Gestellte« »Versuche«, wie die Reihe, in der er beim Kiepenheuer Verlag in Berlin begann, seine Werke in grauen Heften in ungewohnt großem Format sowie mit ausgesucht edlem Satz zu veröffentlichen. Der Begriff ist geläufig aus den experimentellen Wissenschaften und bezeichnet dort den Nachbau von isolierten, für das Experiment definierten Naturvorgängen, um ihr Funktionieren nachzuvollziehen und, wenn er erfolgreich ist, mathematisch zu definieren. Versuche sind Nachahmung von Natur und künstliches Konstrukt zugleich; sie beschreiben nicht »die« Natur als Ganzes, sondern ausgesuchte, gesonderte Naturvorgänge, die, gelingt ihr »Abbild«, nachgebaut, reproduziert und unabhängig vom wissenschaftlichen »Prototyp« überall einsetzbar sind: als technische Apparate. Wenn nicht mehr der Mensch, der »sich ausdrückt« (siehe Motto) und im Zentrum der Kunst als »Mittelpunkts-Held« steht, sondern wenn die »Stoffe« dominieren, durch die der moderne Mensch »gelebt« oder zum »Erleber« wird, dann ändert sich auch die Versuchsanordnung radikal. Der »Stoff« bestimmt den Aufbau und die Anordnung des Experiments, und die einzelnen »Teilchen« (das sind die beteiligten »Figuren«) werden erfasst durch ihr Verhalten, sowohl als Masse wie als Einzelne: wie sie von ihm abhängen, mit ihm umgehen, ihm begegnen, Widerstand leisten, ihn nutzen oder ihm erliegen; hinzu kommt, dass der »Stoff« es ist, der die Menschen gesellschaftlich verbindet und ihren Umgang sowie die Grenzen vorgibt: als Masse, wobei nur das Massenverhalten berechenbar ist, und der Einzelne außerhalb der Berechnung bleibt. In Mann ist Mann bildet das Militärmilieu die Versuchsanordnung und regelt die Verhältnisse der Figuren untereinander. Dieses Milieu stellt – wie das wissenschaftliche Experiment die Natur – die Gesellschaft nicht als »Ganzes« im »Abbild« dar, sondern konstruiert ein anschauliches, überschaubares Modell, das auf die Gesellschaft hochgerechnet werden kann. Das Militär ist dadurch
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begründet, dass in Deutschland spätestens mit Hindenburgs Vereidigung als Reichspräsident, sein »Abschreiten der Front vor dem Reichstag« am 12. Mai 1925 in Postkarten verbreitet, der preußische Militarismus wieder offen auf die Straßen zurückgekehrt war. Vergleichbar ist Brechts ästhetisches Verfahren mit den Datenerhebungen der empirischen Soziologie. Das Verfahren ist dann repräsentativ durchgeführt, wenn über »Stichproben« relativ weniger, aber breit gestreute und die gesellschaftlichen Gruppierungen berücksichtigenden Probanden auf allgemeines gesellschaftliches Verhalten zu schließen ist. Da wie das Natur-Ganze nicht »alle« zu berücksichtigen sind, muss nach qualitativen oder quantitativen Kriterien ausgewählt, wenn man will »vereinfacht« oder konzentriert werden. Jede »Wiedergabe« realer Verhältnisse stellt, ob »fotorealistisch« oder »nachgeahmt«, eine Vereinfachung der Tatsachen dar. Die Literaturwissenschaft und die Brecht-Forschung insbesondere belegen die Brechtschen Versuche vornehmlich mit dem Fachterminus »Parabel«, auch deshalb, weil der Autor ihn als Genre-Bezeichnungen für seine Stücke gebraucht hat. Der Begriff geht insofern in die Irre, weil er im fachterminologischen Verständnis als Gleichnis definiert ist, das bestimmte Lehren durch Handlungen, Geschehensabläufe, »Erzählungen« veranschaulicht, die von den Lesern erkannt und dann auf weitere »Beispiele« übertragen und verallgemeinert werden sollen. Im Vordergrund der Parabel steht ihr »Konstrukt« im Hinblick auf den Zweck bzw. das Ziel, Einsichten zu vermitteln, die auf der Bildebene der Erzählung »versteckt« und aus ihr zu entschlüsseln sind. Für Brechts Versuche dagegen gilt, dass sie reale Abläufe nachzeichnen und ihre unsichtbaren Funktionsgesetze zur Anschauung sowie zur Sprache bringen. Ihr Ende bleibt offen, die Katastrophe oder das Happy End werden prinzipiell verweigert. Deshalb lässt sich auch keine diskursiv formulierbare Lehre ableiten. Wie das reale Geschehen weiterläuft, so werden lediglich Einblicke in Teilabläufe vermittelt, die das Publikum zu Konsequenzen anhalten, diese aber nicht – hier auf der Bühne – vollziehen. Später heißt dies: Der Vorhang zu und alle Fragen offen; das Publikum muss sich selbst den Schluss suchen. »Versuche« bedeutet bei Brecht auch: Die poetischen Werke sind lediglich als Vorschläge, als vorübergehende Angebote zu sehen, die keinen Anspruch mehr haben auf die für Poesie nach traditionellen Vorstellungen notwendige Autonomie, Geschlossenheit und klassische Endgültigkeit mit »Ewigkeitswert«. Die Versuche als Titel für die Schriften, deren Publikation durch die Nazis beendet wurde, waren demnach Angebote für die Produktion, die bei jeder Gelegenheit überprüft, modifiziert oder auch grundlegend verändert werden konnten. Sie benennen auch Brechts Produktionsverfahren der Veränderlichkeit und Veränderbarkeit.
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Brecht schrieb sein einst als Galgei entworfenes Drama, der Zeit und den geänderten Umständen entsprechend, ständig um. Mann ist Mann schloss er in einer ersten Fassung (Urfassung) im Herbst 1925 ab. Als er keine Bühne fand, baute er die Auto-Montage und den Song im Frühjahr 1926 ein. Die Ummontierung des Menschen war übertragbar geworden, weil sie im Roboterbau der zwanziger Jahre in die erste humanoide Implantierung übergegangen war. Im März 1927 erfolgte eine Hörspielfassung mit der Musik von Edmund Meisel, die gesonderter Würdigung bedürfte. Der Erstdruck im Propyläen-Verlag Berlin erschien etwa gleichzeitig und konnte zum Mitlesen der Hörspielfassung, wie es damals üblich war, benutzt werden. Ende 1927 übertrug Brecht Erich Engel die Aktualisierung für die Inszenierung an der Volksbühne. Engel übernahm das Montageverfahren mit offen gezeigter Technik für – als reklamehafte Erweiterung des Bühnenbilds, ohne es durch Technik zu ersetzen. Das Montage-Verfahren verschärfte Brecht 1929 sowie 1930 für die Aufführung am Staatlichen Schauspielhaus. Ernst Legal, der diesmal inszenierte, beseitigte durch Teilmaskierung der Gesichter das menschliche Antlitz der Schauspieler, legte diesen überdimensionierte Kostüme an und stellte sie auf Stelzen. Diese Technisierung der menschlichen Körper, die am historischen Datum des 6. Februar 1931 erstmals brutal auf dem Theater demonstrierte, was im Grunde jeden Tag in Berlin auf der Straße zu beobachten war, löste – von den Nazis provozierte – Tumulte aus, die in der Premiere und in den noch folgenden fünf Vorstellungen kein Durchspielen mehr zuließen. Genervt musste die Intendanz das Stück absetzen. Noch waren es zwei Jahre, bis Hindenburg dem österreichischen Gefreiten die Macht in der Republik übergeben würde. Mann ist Mann und seine Entstehungs- wie Aufführungsgeschichte dokumentieren unbeabsichtigt – weil sein Autor sich als ästhetisches Medium der Zeit verstand – die Untergangsgeschichte der Republik in Deutschland. Als die Massen der Nazi-Horden jede sachliche und vernünftige Diskussion um »Massenverhalten« endgültig erledigt hatten, baute Brecht die Montage für die Exilpublikation 1938 in den Gesammelten Werken ein weiteres Mal so um, dass deutlich wurde, wie die vom »wunderbaren Bazillus« (GBA 22, 56)22 befal22 Brecht schrieb um 1934 einen Text ohne Titel, in dem er seine Zeit in einem Zustand beschreibt, als ob sie von einem »wunderbaren Bazillus« befallen wäre, eine Zeit, in der »die meisten Menschen in der Lage sind, die allerabsurdesten Behauptungen ohne jede Beschwerde zu schlucken«, wie zum Beispiel in deutlicher Anspielung auf Hindenburg: »Den General, den sie gestern einen Schlächter nannten, nennen sie heute, einigen wenigen Hinweisen in ihrer Zeitung Gehör schenkend, einen ›alten Soldaten‹« (GBA 22, 56); eine »beispiellose Vaterlandsliebe« habe das möglich gemacht. In einer späteren Satire, die am 14. März 1935 mit dem Titel Eine Befürchtung in der »Basler National-Zeitung« erschien, führt der Ich-Erzähler unter Berufung auf den französischen Psychiater Henry Damaye die angeblich unerklärlichen Massenpsychosen in Deutschland auf einen bakteriellen Erreger zurück, der die Einzelnen ergriffen habe und ihn, den Erzähler, selber aber leider nicht,
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lene Herde von Menschen jedes vernünftige Verhalten beseitigte und die Gefolgsleute der Herrschaft zu barbarischen Bestien mutierten, die vor nichts mehr haltmachen, und zwar gerade deshalb, weil die neue Maschinerie, die sie in ihre Mordfabriken überführten, alle »persönliche« Beteiligung und Verantwortung so gut verstecken ließ. Vergleichsweise harmlos war der Begriff des »Gummimenschen«, dessen Ankunft Brecht Anfang 1927 in der Anleitung der Hauspostille noch in Aussicht stellte. Im 2. Kapitel der Chroniken, der Ballade auf vielen Schiffen, die »in Stunden der Gefahr« zu lesen sei, »kommt der Gummimensch in Sicht«. (GBA 11, 39) Die Lyrik-Anthologie, die von Abenteurern, Außenseitern, Naturwesen beherrscht ist und an den exotischsten Orten, nicht zuletzt im imaginären »Mahagonny« angesiedelt ist, markierte 1926 und 1927, in ihren Erscheinungsjahren, die Zeit des Übergangs, eine »Inzwischenzeit«, in der die letzten Individuen »versaufen« (vgl. GBA 11, 80) und der Gummimensch an ihre Stelle tritt. Der Begriff meint nicht den Artisten, der sich und seine Extremitäten so verbiegen kann, als wären sie aus Gummi, so die Wörterbuch-Bedeutung. Er erfasst den Menschen als Knetmasse, der sich jeder Form anpasst bzw. in jede Form pressen lässt und der, nachdem ihm die erste Haut abgezogen wurde, sich im Gummi seiner zweiten Kunsthaut geborgen fühlt. Um in der Masse nicht ganz unterzugehen, schottet der Gummi ihn ab und macht ihn unempfindlich gegen alles, was von außen als Realität auf ihn einströmt. Er verkriecht sich gut gepolstert in ein Ego, das ihm gesellschaftlich nicht mehr zugestanden wird, ihm aber die Imago öffnet, er wäre doch bei sich. Denn er soll nicht merken, dass gilt: Lebt er denn? Und die Antwort lautet: Er wird gelebt. Dieser Prozess, den Brechts Stück mit seinen ästhetischen Mitteln offenlegt, ging Schritt für Schritt aus der Massengesellschaft über in den internalisierten Gleichschritt sowie in die politische und die ideologische Gleichschaltung durch die Nazis. Am 19. März 1927 überfielen SA-Trupps unter dem Kommando des Berliner »Gauleiters« Goebbels eine Musikkapelle des Rotfrontkämpferbundes (KPD) im Lichterfelder Bahnhof und feierten ihren blutigen Hinterhalt als »die bis jetzt größte Schlacht und den geschlossensten Umzug, den die NSDAP in Berlin erlebt hat«.23 Das Datum markiert den Beginn der anhaltenden Straßenschlachten der extremistischen Parteien. Sechs Jahre vor der offiziellen Machtübergabe an den künftigen Schlächter und seine Schergen zog der offene Terror der Nazis in die Straßen der Weimarer Republik. Auf der nur scheinbar ganz anderen Seite – und auf dem geschützten Boden seines Schwarzwaldes – beschrieb Martin Heidegger sodass er von der Begeisterung für das »Vaterland« und den »Führer« ausgeschlossen bleiben müsse (Eine Befürchtung; GBA 22, 103–105; vgl. den Kommentar S. 914). 23 Overesch, Manfred / Saal, Friedrich-Wilhelm: Die Weimarer Republik. Eine Tageschronik der Politik, Wirtschaft, Kultur. Augsburg: Weltbild 1992, S. 330.
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die Zeit mit großem sprachlichem Aufwand als das »Sein zum Tode« und erkannte den »Tod als die eigenste Möglichkeit des Daseins«.24 Es handelt sich nur um die Extreme derselben Sache: der Vermassung entspricht die Konzentration auf den Einzelnen und da insbesondere auf die Grenzen des »Daseins«; aber letztere gaukelt dem Individuum vor, es gäbe die Persönlichkeit, die mit sich selbst identisch ist und am Ende das »Eigenste« finden könnte. Kurt Tucholsky konstatierte in der »Weltbühne« vom 26. April 1927 angesichts der Ereignisse: »Es gibt, um eine Bürokratie zu säubern, nur eines […]: Umwälzung. Generalreinigung. Aufräumung. Lüftung«, und verlegte 1929 seinen Wohnsitz nach Schweden. Brechts Freund, der Maler Rudolf Schlichter, resignierte und schrieb rückblickend: »Tiefeinschneidende Ereignisse um 1927 herum bewirkten in mir eine innere geistige Wandlung und Umkehr. Ich verließ meinen bisherigen Wirkungskreis und kehrte zur katholischen Kirche zurück.« Ihr gemeinsamer Freund George Grosz verzog sich ab 1927 immer wieder ins französische Ausland und ging 1932 endgültig in die USA.25 Brecht erkannte, dass für die Zusammenhänge zwischen Politik und Ökonomie neue ästhetische Mittel und eine neue Sprache geschaffen werden müssten. Es war also kein Zufall, wenn Brecht das Petroleum als Metapher für den viel zitierten Satz wählte: »Das Petroleum sträubt sich gegen fünf Akte, die Katastrophen von heute verlaufen nicht geradlinig« (GBA 21, 303); das war 1930/31, als er seine Position – mehr oder minder gezwungen anhand der Auseinandersetzungen um die Verfilmung der Dreigroschenoper – im Dreigroschenprozeß theoretisch zu begründen hatte und dabei seine wohl wichtigsten grundlegenden poetologischen Überlegungen formulierte. Die alten Formen der Übermittlung nämlich bleiben durch neu auftauchende nicht unverändert und nicht neben ihnen bestehen. Der Filmesehende liest Erzählungen anders. Aber auch der Erzählungen schreibt, ist seinerseits ein Filmesehender. Die Technifizierung der literarischen Produktion ist nicht mehr rückgängig zu machen. Die Verwendung von Instrumenten bringt auch den Romanschreiber, der sie selbst nicht verwendet, dazu, das, was die Instrumente können, ebenfalls können zu wollen. (GBA 21, 464)
Damit ist – negativ abgegrenzt – jede Übernahme oder Empfehlung von klassischen Formen oder Techniken prinzipiell für eine zeitgenössische realistische Literatur und Kunst ausgeschlossen. Positiv gewendet – ist es geboten, die technischen Mittel, welche die Apparate benutzen, in Sprache und in die Ästhetik so umzusetzen, dass sie in der Lage sind, deren Möglichkeiten mit Sprache »auszubilden«, oder sage ich wieder in der Sprachmetapher: zur – zu »ihrer« – 24 Heidegger, Martin: Sein und Zeit. Tübingen: Max Niemeyer 1967 (zuerst 1927), S. 263. 25 Zu den Einzelheiten Tucholsky, Schlichter, Grosz vgl. Knopf, Jan: Bertolt Brecht. Lebenskunst in finsteren Zeiten. München: Hanser 2012, S, 169–183.
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Sprache zu bringen. Brechts Überlegungen, wie die Bühne die neuen Verhältnisse zur Darstellung bringen konnte, schlossen eine Technisierung aus, wie sie beispielhaft und mit sensationellem Erfolg Piscator mit dem »laufenden Band« 1928 in seiner Schweyk-Inszenierung auf die Bühne brachte. Auf der Bühne war der Einsatz von Technik möglich und konnte, wie Piscator ebenfalls beispielhaft demonstrierte, das Bühnenbild durch den Film ersetzen und so Zeitdokumente unmittelbar dem Spiel hinzufügen. Wie aber verhielt es sich mit Kunstwerken, die sich beim besten Willen nicht technisieren ließen? Geht es um reine Sprachwerke – wie Lyrik oder Erzählung oder Roman –, so waren Techniken zu entwerfen, die sprachlich das vermochten, was die Apparate mit ihrer Technik leisteten. Dafür steht der Begriff »Technifizierung«, der abzugrenzen ist von »Technisierung«, der die Erweiterung und Intensivierung der technischen Mittel und ihrer »Apparate« erfasst. Das hat einschneidende Konsequenzen. Wenn ein Kunstwerk auf der Höhe der Zeit sein wollte, musste es sich entsprechend ausweisen. Im Juni 1927 veröffentlichte Brecht einen fiktiven Brief an den »lieben Herrn X« mit der Frage: »Sollten wir nicht die Ästhetik liquidieren?« Er führt dort einen Soziologen ein, an Fritz Sternberg erinnernd, der wohl der Einzige wäre, der seinen Überlegungen zustimmen könnte: Wir werden anscheinend nur den Soziologen auf unserer Seite haben, wenn wir sagen, dies Drama [das überholte bürgerliche] sei nie mehr zu bessern, und wenn wir verlangen, es sei zu liquidieren. Der Soziologe weiß, daß es Situationen gibt, wo Verbesserungen nichts mehr helfen. Die Skala seiner Schätzungen liegt nicht zwischen »gut« und »schlecht«, sondern zwischen »richtig« und »falsch«. Er wird ein Drama, wenn es »falsch« ist, nicht loben, weil es »gut« (oder »schön«) ist, und er allein wird taub sein gegen die ästhetischen Reize einer Aufführung, die falsch ist. Er allein weiß, was falsch ist, er ist kein Relativist, er hält sich an Interessen vitalerer Art, er hat keinen Spaß daran, alles beweisen zu können, sondern er will nur das einzige herausfinden, was zu beweisen sich lohnt, er übernimmt keineswegs die Verantwortung für alles, sondern nur die für eines. Der Soziologe ist unser Mann. (GBA 21, 203f.)
Die Einführung der Wertung »falsch« und »richtig« hätte die klassisch-bürgerliche Ästhetik ins Mark treffen müssen, wenn sie es bemerkt hätte. Aber sie hätte es bemerken können, denn Ludwig Wittgenstein hat später – in seinen Philosophischen Untersuchungen (ab 1936) – die Beobachtung gemacht, dass in der Ästhetik in der Regel gar keine ästhetischen Begriffe wie zum Beispiel »schön« verwendet werden, dagegen die Wertung »richtig« durchaus. Brechts Bruch mit der traditionellen Ästhetik ist einschneidend, wie er zugleich einen Ausgleich mit dem »sozialistischen Realismus« prinzipiell ausschloss. Ein Begriff wie der der »Totalität«, wie ihn Georg Lukács inflationär verwendete für seine Forderung, die Kunst habe das »Ganze« darzustellen, was sowieso ein Popanz ist, oder die berühmten »Menschen aus Fleisch und Blut«,
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sind für Brechts Kunstverständnis undenkbar. Die Kategorien der Veränderung und der Veränderlichkeit, aber auch die der Nicht-Umkehrbarkeit der gesellschaftlichen »Entwicklung«, die durchaus kein Fortschritt sein muss, wurden seit Im Dickicht (1923) bestimmend für Brechts Werk. Und spätestens 1925, als Brecht in seinen Glossen zu Stevenson feststellte, dass »die filmische Optik auf diesem Kontinent vor dem Film da war«, waren auch seine theoretischen Reflexionen so weit gediehen, festzustellen, dass die Technifizierung der Literatur unausweichlich geworden ist, diese dann gelingen kann, wenn sie die Sprache nach »dem optischen Gesichtspunkt hin« umgruppiert (GBA 21, 107). Die Darstellung des literarischen Personals funktioniert nicht mehr »psychisch«, indem sie sich mit Sprache »ausdrückten«, genauer: versuchten, ihre »innere Befindlichkeit« möglichst intensiv mitzuteilen und Mitgefühl zu wecken, sondern »physisch«, dass sie wie im Film an ihrem »äußerlichen« Verhalten erfasst und erkennbar werden: Miller war aufgestanden, Hawthorne betrachtete ihn von unten her. Miller warf einen kurzen und verwunderten Blick auf ihn, aber er blieb nach wie vor sitzen. Das änderte viel für Miller. Er begann zu altern. Sein Rücken krümmte sich, seine Zähne fielen aus, sein Haar wurde schütter, seine Weisheit nahm zu. (GBA 16, 239)
Dem altehrwürdigen Banker Miller ist gerade mitgeteilt worden, dass er bankrott ist und statt eines ruhigen und weisen Greisen-Daseins den Rest seiner Tage in der Gosse verbringen darf. Er hat auf die Investitionen und Versicherungen eines Herrn Macheath vertraut. Brechts »filmische Prosa« verwandelt den Grand Seigneur des traditionellen Bankwesens, der wähnte, immer fair und seriös seine Geschäfte abgewickelt zu haben, im Zeitraffer in einen Penner unter den Brücken von Soho. Der Aufwand scheint gering; der Effekt ist gewaltig. Der anonyme Erzähler muss nicht viele Worte machen. Ein sprachliches »Morphing«26 genügt, und schon steht mit wenigen Worten der abgerissene, zahnlose Gammler da. Dieses Verfahren ist realistischer als jeder wortreiche Sprachschwall, der moralisch zum Mitempfinden anhält. Diejenigen, die im Geschäftsleben unterliegen, treten realiter lautlos, leise und unbeweint ab. Von ihnen wird nie wieder die Rede sein. Auch hier erfolgt die Umgruppierung der Sprache vor einer Zeit, ehe das Verfahren durch den Computer in unmittelbarer Anschauung darstellbar wurde. Für die Leser des Romans jedoch bleibt viel Raum, sich in ihrer
26 Mit »Morphing« werden die Computer-Effekte bezeichnet, die entstehen, wenn durch digitale Bearbeitung ein Bild in andere Bilder überführt und womöglich dabei noch verzerrt wird; die Übergänge – die Digitale macht sie möglich – sind fließend, sodass ein Prozess entsteht, der einem traditionellen Zeitraffer ähnelt, aber die Illusion einer direkten, quasi »lebendigen« Verwandlung einer Person (in diesem Fall) in einen anderen »Zustand« vermittelt, ob nun als Alterungsprozess oder als Überführung in eine andere Person (Mann ist Mann) oder in ein Tier und so weiter.
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Fantasie (und wenn sie wollen: mit ihren Gefühlen) auszumalen, wie das »Schicksal« des armen Bankiers sich künftig gestalten wird und was er unter der Brücke mit seiner Weisheit wohl anfangen könnte. Nicht anders funktioniert die Technifizierung auf der Bühne. Szene 10 von Mann ist Mann spielt »im rollenden Waggon«; »draußen« fliegt die Landschaft vorbei. (GBA 2, 145) Sie funktioniert die traditionelle Teichoskopie technisch um, ohne Technik zu bemühen. Das alte theatralische Mittel, gleichzeitiges, aber unsichtbares Geschehen in die sichtbare Bühnenhandlung zu integrieren, kommt mit dem rollenden Eisenbahnwaggon ins Bild und zugleich sprachlich in Fahrt. Die existenzielle Internierung der Soldateska auf dem Lebensweg ihrer Bestimmung – stets den Tod vor Augen – setzt die Szene bühnengemäß unmittelbar anschaulich um und fordert die Fantasie der Zuschauer heraus: Jeder Aufbruch aus dem Camp führt auf die »verdammten Straßen dieses zu langen Goldlandes«, und auf diesen rollen die Tanks der Queen in den Tod. Mit den scheinbar »einfachen« Mitteln des Schauspiels realisiert die Szene Handlungsabläufe, wozu der Film den Einsatz aufwändiger Apparate benötigte – oder der Computer jetzt die digitale Technik. Diese Dynamisierung der Bühne entspricht keineswegs dem Verfahren Piscators, das Fließband direkt auf die Bühne zu bringen und Schweyk mit ihm auf seinen langen Marsch zu schicken. Die Übertragung der neuen Produktionstechnik aus der Fabrik auf die Bühne wäre reiner Naturalismus, bloße technische Nachahmung durch die Kunst. Piscator technisierte die Bühne, Brecht technifizierte sie; Piscators Verfahren ist naturalistisch: ahmt die technische Apparatur der Fabrik nach, reproduziert Sichtbares; Brechts ist realistisch: baut die Funktion im ästhetischen Konstrukt auf, macht Unsichtbares sichtbar. Wir sind in einer Zeit, in der die Technik mit rasanter Beschleunigung immer mehr ehemals menschliche Tätigkeiten übernimmt. Es könnte der Eindruck entstehen, die Technik übernähme tatsächlich Körperfunktionen und erweiterte den Körper. So wäre zum Beispiel das Rad eine Erweiterung des Fußes, oder der Mensch flöge tatsächlich, wenn er ins Flugzeug steigt, obwohl er nur im und mit und durch den Apparat des Flugzeugs fliegt und sich vom Rad fahren lässt, wozu er dann seine Füße nicht mehr benötigt. Diese unreflektierten, aber stark verbreiteten Philosopheme der grassierenden Digitalisierungs-Euphorie haben Folgen, nämlich der Technik zu überlassen, was der Mensch in seinem Griff belassen und halten sollte, sowohl begrifflich als auch tatsächlich. Brechts Konzept der Total-Verwandlung eines Menschen enthält bereits das ganze Programm in sich. Zu erinnern ist nochmals, ehe die Tradition und ihre Voraussetzungen für heute vergessen sind: Im Ersten Weltkrieg waren es die so genannten »Kriegszitterer«, die zum 100-jährigen Jubiläum in der Fernseh-Blockbuster-Serie Babylon Berlin, die ab 2017 angelaufen ist, mit der Figur des Gereon Rath wiederbelebt werden, weil nach hundert Jahren die zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts »dran« sind.
»Das Petroleum sträubt sich gegen die fünf Akte«
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Der englische Name für das Kriegszittern ist »Shell Shock«, der medizinische »Schüttelneurose«. Das Zerbersten der Granaten, denen die Soldaten im Schützengraben hörbar, aber nicht sichtbar Tag für Tag über Monate und Jahre ausgesetzt waren und von denen sie nie wissen konnten, wann auch sie, in Stücke zerteilt, auf dem Feld der Ehre ausgebreitet würden, bemächtigte sich des Körpers und machte seine Funktionen unbeherrschbar. Dass der Shell Shock inzwischen weitgehend – eine Erneuerung gab es 1942/43 vor Stalingrad – verschwunden ist, schreibe ich besser: verschwunden zu sein scheint, dürfte daran liegen, dass sich die Menschen offenbar dermaßen an die technischen »Errungenschaften«, die mit »privater Raumfahrt«, Cyborg und Megaverse inzwischen groteske Übermaße annehmen, gewöhnt haben, dass sie ihnen »in Fleisch und Blut« übergegangen sind. Ob das das letzte Wort sein kann?
Literatur Brecht, Bertolt: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Herausgegeben von Werner Hecht, Jan Knopf, Klaus-Detlef Müller, Werner Mittenzwei. 30 Bände (= 33 Teilbände). Berlin und Weimar/Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1988–2000. Gottl-Ottlilienfeld, Friedrich von: Fordismus. Über Industrie und Technische Vernunft. Jena: Gustav Fischer 1926. Halfeld, Adolf: Amerika und der Amerikanismus. Kritische Betrachtungen eines Deutschen und eines Europäers. Jena: Eugen Diederichs 1927. Knopf, Jan: Brecht-Handbuch. Theater. Stuttgart: Metzler 1980. Knopf, Jan: Brecht-Handbuch. Lyrik, Prosa, Schriften. Stuttgart: Metzler 1984. Knopf, Jan: Die Sinnmacher. Bertolt Brechts Märchenstück über die Tuis: »Solch ein reinliches Blatt / Narbenbedeckt«. In: Das Theater der fünfziger Jahre. Jahrbuch für die Literatur der fünfziger Jahre. Herausgegeben von Günter Häntschel, Ulrike Leuschner und Sven Hanuschek. München 2019 (= Treibhaus Band 14/15), S. 261–296. Manova, Dariya: »Sterbende Kohle« und »flüssiges Gold«. Rohstoffnarrative der Zwischenkriegszeit. Göttingen: Wallstein 2021. Schwaiger, Michael (Hg.): Bertolt Brecht und Erwin Piscator. Experimentelles Theater im Berlin der Zwanzigerjahre. Wien: Christian Brandstätter 2004. http://www.brecht-lebt.eu/ (Blog ab 2019).
Frank M. Raddatz (Berlin)
Die Brechtbühne im Anthropozän – Momente einer Begegnung von Brecht und Latour
Im Libretto der 1930 uraufgeführten Oper Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny lässt Bertolt Brecht seiner Spottlust freien Lauf, indem er die Naturkatastrophen als überflüssig apostrophierte, weil der Kapitalismus ihre Wirkung selbst hervorbringen kann: Wir brauchen keinen Hurrikan Wir brauchen keinen Taifun Was der an Schrecken tuen kann Das können wir selber tun1
Drei Generationen später verdecken derartige Sarkasmen den zugrunde liegenden Mechanismus, dass die globalisierte »Paradiesstadt«2 die sie bedrohende Palette ökologischer Verwerfungen selbst generiert. »Wir brauchen einen neuen Brecht«3, postuliert Brechtfan Bruno Latour, der aktuell führende Theoretiker des anbrechenden Anthropozän-Zeitalters, im Kontext seiner Auseinandersetzungen mit Leben des Galilei. Wendet sich theatertheoretische Reflexion im 21. Jahrhundert dem epischen Theater und dessen Architektur zu, ist das Interesse damit allerdings keineswegs museal motiviert. Brecht die Treue zu halten, heißt vielmehr, seinen Entwurf mit den Problemhorizonten unserer Gegenwart zu verkoppeln. Insbesondere da eine ökologisch bewusste Bühne genetisch auf dem Modell Brechts sattelt, da sie, wie immer ihre Ausformungen sich künftig gestalten mögen, stets mit der Wissenschaft verwoben ist. Ohne Wissenschaft kein Anthropozän. Dass es sich bei den gegenwärtigen »thermodynamischen Veränderungen unseres Planeten«4 um keine der üblichen
1 Brecht, Bertolt: Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny. In: Brecht, Bertolt: Gesammelte Werke 2, Stücke 2, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1967, S. 499–564, hier S. 562. 2 Ebd., S. 505. 3 Latour, Bruno: Kampf um Gaia: Acht Vorträge über das neue Klimaregime. Berlin: Suhrkamp 2017, S. 108. 4 Danowski, Deborah / Viveiros de Castro, Eduardo: In welcher Welt leben? Ein Versuch über die Angst vor dem Ende, Berlin: Matthes & Seitz 2019, S. 7.
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Klimaschwankungen handelt, die in der Geschichte des Homo Sapiens vielfach belegt sind, wird aus Bohrkernen, in denen sich hunderte Millionen Jahre geologischer Geschichte dokumentieren, weltweiten Aufzeichnungen, Satellitenmessungen, computergestützten Simulationen und den Forschungen der Disziplinen der Erdsystemforschung extrapoliert. Bei der Gestalt des Anthropozäns als einer äußerst brisanten, anthropogen angestoßenen geologischen Entwicklung handelt es sich um eine wissenschaftliche Konstruktion. Die Verbindung zur Wissenschaft ist aber auch dadurch gegeben, dass dieser Prozess einer planetarischen Reaktionsbildung nur aufgrund der Einwirkungen der wissenschaftlich-technischen Erfindungen der Industriegesellschaft und ihrem stetig anwachsenden Maschinenpark stattfindet. Hatte Brecht »ein Theater eines wissenschaftlichen Zeitalters«5 entworfen, so ist es an der Gegenwart, ein Theater der Nebeneffekte des wissenschaftlichen Zeitalters zu projektieren. Wurde Brechts Wissenschaftstheater noch vom Geist der Naturbeherrschung getragen, muss ein Modell auf der Höhe der heutigen Zeit sich mit den ökologischen Bedrohungshorizonten und dessen Axiomen und Präliminarien auseinandersetzen. Von daher ist eine Re-konstruktion des Bauplans des epischen Theaters unumgänglich. Um eine Bühne auf dem Boden der Vernunft zu errichten, welche Zugang zu den bewegenden Kausalitäten hinter den Erscheinungen gewährt, beseitigt Brecht alle Elemente, Techniken, Spielweisen und Effekte, die ihm irrationaler Abkunft schienen. Ein verblüffendes Ergebnis dieses Vorgehens ist, das der Hegelianer Brecht und der Exponent des Surrealismus Antonin Artaud die Grundüberzeugung teilen, dass es sich bei Theater basal um eine magische Angelegenheit bzw. um Hexerei handelt. So konstatiert der bayrische Stückeschreiber: »Allerdings sollten wir die Theaterleute entschuldigen, denn sie können die Vergnügungen, […] weder mit genaueren Abbildungen der Welt bewirken, noch ihre ungenauen Abbildungen auf weniger magische Weise anbringen.«6 Allerdings ziehen die ungleichen Zwillinge entgegengesetzte Schlüsse aus diesem Tatbestand, der sich unschwer als Erbe der dionysischen Rauschbühne identifizieren lässt. Als wolle er die Chemie von Fortbeständen der Alchemie in Form von kultischen Grammatiken, Überresten eines kollektiven Unbewussten und Traumbildern reinigen, installiert Brecht als konsequenter Jünger der Aufklärung das Theater als von Manipulationseffekten zu säubernden Denkraum. Tatsächlich rekurriert sein surrealistisches Gegenbild dagegen auf den Begriff des »alchimistischen Theaters«7, das seinen Traum einer transformierenden und transgressiven Bühne gegenüber rationalen Herangehensweisen 5 Brecht, Bertolt: Kleines Organon für das Theater. In: Brecht, Bertolt: Werke. Bd. 16, Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1967, S. 659–708, hier S. 662. 6 Ebd., S. 674f. 7 Artaud, Antonin: Das alchimistische Theater. In: Artaud, Antonin: Das Theater und sein Double, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1969, S. 51–56.
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kennzeichnet. Während der wilde Archäologe Artaud die dämonisch-rituellen Fundamente dieser Kunstform belebt, um deren Wirkkraft und Intensität zu reaktualisieren, schottet Brecht das Dispositiv des Theaters im Namen der Wissenschaft gegen okkulte Aberrationen ab, um die Reflektion vor Verunreinigung zu schützen. Eine Entscheidung, die auf dem theatralen Schachbrett eine Logik situiert, die das epische Theater nicht als Vollender der Tradition sondern als deren radikale Negation entwirft und ein Bündel kaum auflösbarer Inkohärenzen erzeugt. Dieser Kurs lässt ihn zeitweise der Versuchung nachgeben, seine Form als »Thaeter«8 zu bezeichnen. Dieser Austausch der Vokale soll die Differenz seiner Konstruktion zu den gängigen Prägungen des Theaterlogos betonen. Insbesondere die Einfühlung gilt es aus dem Fundus der Theaterpraxis zu entfernen, weil sie als Hauptmechanismus der herkömmlichen Stücke und ihrer Aufführungen die toxischen Wirkungen der Bühne verantwortet. Die darstellende Kunst erweist sich aus dieser Perspektive als ein Aufmarschgebiet der Gegenaufklärung, geben doch Präsentationen auf »hypnotisch suggestiver Grundlage«9, die das Publikum »in eine eingeschüchterte, gläubige, ›gebannte‹ Menge«10 verformen, dieser künstlerischen Disziplin die Regel. »Ödipus, der sich gegen einige Prinzipien, welche die Gesellschaft der Zeit stützen, versündigt hat, wird hingerichtet, die Götter sorgen dafür, sie sind nicht kritisierbar.«11 Eine Lesart, die Brechts Theoreme zwar stützt, aber kaum dem Überlieferten entspricht. Weder lässt sich das Inzesttabu, das durchgängig bis in unsere Gegenwart gilt, disqualifizieren, indem es als systemkonform und nur für eine bestimmte geschichtliche Epoche gültig, eingestuft wird, noch wird Ödipus hingerichtet. Vielmehr sticht er sich die Augen aus, und vollzieht damit eine Strafe, die in Griechenland zur Zeit des Sophokles bei der Ahndung von schweren Sexualdelikten Anwendung fand. Darüber hinaus ist die Schlussfolgerung wenig kohärent. Die antiken Tragöden teilen zwar Brechts optimistisches Geschichtsbild nicht, zeigen aber zum Beispiel mit Antigone und Prometheus durchaus Figuren, die anders als die Galilei-Figur die Legitimität der Mächtigen auf Erden wie im Olymp öffentlich anzweifeln und bereit sind, damit verbundene persönliche Konsequenzen in Kauf zu nehmen. Die Ungereimtheiten lassen die Intention umso deutlicher hervortreten. Ein Gestus der Affirmation und Unterwerfung soll das gesamte Dispositiv des Theaters durchherrschen. Wie in dem Science-Fiktion-Film The Matrix von Larry und Andy Wachowski führen auch in Brechts Zeichnung stillgestellte Subjekte eine von ihren Phantasien abgespaltene Existenz: Im Zuschauerraum 8 9 10 11
Brecht, Bertolt: Kleines Organon für das Theater, S. 662. Ebd., S. 681. Ebd., S. 675. Ebd., S. 677.
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befinden sich »ziemlich reglose Gestalten«12, die »wie das Volk von den Alpträumern sagt, auf dem Rücken liegen. […] Sie sehen wie gebannt auf die Bühne, welcher Ausdruck aus dem Mittelalter stammt, der Zeit der Hexen und Kleriker.«13 Eine historisch fragwürdige Einordnung, fällt doch der Großteil der Hexenverbrennungen in die Epoche zwischen 1570 und 1700, also eine Zeit, in der die Entdeckung Amerikas, der Beginn von Neuzeit und Renaissance schon Geschichte waren. Die Grundlagen der Theaterkunst selbst, so gibt es Brechts theatertheoretische Hauptschrift aus seinen letzten Lebensjahren zu verstehen, sind magisch kontaminiert: Keineswegs erhalten sie den »beobachtenden Geist frei und beweglich«.14 Ganz gleich, ob Ödipus, Othello, Wallenstein, Die Gespenster oder Die Weber gespielt werden, das Medium ist die Botschaft. In diesem Fall besteht sie darin, dass sich die Zuschauer in »Inkubusgewohnheiten«15 üben und trainieren wie ihre »Seelen, die ›plumpen‹ Körper verlassend, eindringen in jene traumhaften oben auf dem Podium«16, um sich gesellschaftlich folgenlosen Illusionen hinzugeben. Obwohl Brechts Theoreme nahelegen, dass es beim Übergang von den archaischen Sündenbockritualen zu den unterhaltsamen Spielen der »Kultbühne«17 zu gravierenden Verunreinigungen oder Entstellungen durch die Form gekommen ist, marginalisiert der Theaterarchitekt die »Geschehnisse zwischen Menschen und Göttern«18 und erklärt deren Bedeutung für die Entstehung dieser Kunstform für nichtig. Mit der Begründung, dass es ihm um »eine Bestimmung des Minimums zu tun ist«19, exkludiert er trickreich die Beziehungen zu den nicht-menschlichen Mächten aus der DNA des Theaters und beschränkt dessen Wirkkreis auf das Soziale. Nachdem durch diesen Eingriff die Beziehung zu den außermenschlichen Gewalten mitsamt Dionysos, dem die Aufführungen der Tragödien im Rahmen der Dionysien bekanntlich geweiht waren, aus der Begriffsbestimmung Theater getilgt wurden, wird im nächsten Schritt die Trennung der darstellenden Künste von ihrem rituellen Mutterboden vollzogen: »Wenn man sagt, das Theater sei aus dem Kultischen gekommen, so sagt man nur, das es durch den Auszug Theater wurde; aus den Mysterien nahm es wohl nicht den kultischen Auftrag mit, 12 13 14 15 16 17
Ebd., S. 673. Ebd., S. 674. Ebd., S. 680. Ebd., S. 677. Ebd. Heinrich, Klaus: arbeiten mit ödipus, Begriff der Verdrängung in der Religionswissenschaft. Dahlemer Vorlesungen 3, Basel, Frankfurt/Main: Stroemfeld/Roter Stern 1993, S. 184. 18 Ebd. 19 Ebd., S. 663.
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sondern das Vergnügen daran, pur und simpel.«20 Die hintangesetzten Adjektive, die der Bekräftigung der These dienen sollen, deuten an, dass die Angelegenheit so einfach nicht ist. Denn irgendetwas muss bei dem Entnabelungs- und Säkularisierungsprozess der Opferzeremonien schließlich schief gelaufen sein. Wozu sonst die immer neuen Anläufe des epischen Theaters, die Bühne von magischen Beigaben zu säubern? Wozu die Einführung des V-Effekts, Abhandlungen über die Mechanismen der Distanzierung der Zuschauenden, angebliche Rückgriffe auf das chinesische Theater, die doch allesamt der Entzauberung der Bühnenvorgänge dienen? Brechts Argumentation gerät ins Taumeln, da er sich mit der Rationalisierung der Genese des Theaters der Möglichkeit beraubt hat, die anhaltenden Aberrationen und Fehlentwicklungen auf kultische Traditionen zurückzuführen, die sich mitunter historisch im Ungefähren verlaufen mögen, aber doch noch immer geschichtsmächtig genug sind, fähig, die Bühne und verwandte Medien wie den Film in Produktionsstätten falschen Bewusstseins zu verwandeln. Warum den Erfolg der Wagnerbühne und ihrer Weihespiele nordischer wie keltischer Sagen bekämpfen, wenn die mythischen Wurzeln, auf unterirdische Weise nicht weiterhin aktiv sind und nicht aufgehört haben, das Licht der Aufklärung in Dunkelheit zu tauchen. Anders als Ernst Bloch in Erbschaft dieser Zeit bringt es Brecht nicht über sich, den Traum- und Wunschbildern zumindest Faszinationskraft zuzugestehen. Stattdessen wird das wissenschaftliche Theater inmitten bodenloser magischer Sümpfen positioniert, in denen Wagners Gesamtkunstwerk fließend in das Dritte Reich übergeht. Ein politisch-ästhetisches Gebilde, das Brecht gelegentlich als »Bayreuther Republik«21 pointiert. Die Funktion des wissenschaftlichen Theaters besteht eindeutig darin, die Bühnenkunst anstatt auf Magie auf ein analytisches Verhalten zu sockeln. Damit teilt es eine gemeinsame Basis mit der Naturwissenschaft. In deren Schule sollen – so die programmatische Anekdote – die Zuschauer »jenen fremden Blick entwickeln, mit dem der große Galilei einen ins Pendeln gekommenen Kronleuchter betrachtete. Den verwunderten diese Schwingungen, als hätte er sie so nicht erwartet und verstünde es so nicht von ihnen, wodurch er auf die Gesetzmäßigkeiten kam.«22 Artistische Logik und wissenschaftliche Herangehensweise werden in einem Begriff der Kritik vereint, in dem Denken und Techniken der Naturbeherrschung übergangslos ineinander verschmelzen: Die »Haltung ist eine kritische. Gegenüber einem Fluss besteht sie in der Regulierung des Flusses;
20 Ebd. 21 Brecht, Bertolt: Gesammelte Werke Bd. 18, Schriften zur Literatur und Kunst I. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1967, S. 254. 22 Ebd., S. 681f.
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gegenüber einem Obstbaum in der Okulierung des Obstbaums, gegenüber der Fortbewegung in der Konstruktion der Fahr- und Flugzeuge.«23 Sowenig es Brecht gelingen wollte, hinsichtlich der Genese des Theaters und dessen Abstammung aus dem Kult eine stringente Argumentation zu entwickeln, so disparat gerät auch seine Beschreibung der Wissenschaft und ihrer Wirkungen. So werden in der Vorrede neben Galilei die Physiker Albert Einstein und Robert Oppenheimer als Zeugen für »eine Ästhetik der exakten Wissenschaften«24 aufgerufen, ist »von der Eleganz bestimmter Formeln und dem Witz der Experimente«25 die Rede und wird dem »Schönheitssinn«26 eine entdeckerische Qualität attestiert. Dagegen fallen die im Text anschließenden Konkretionen eher in das Gebiet der Gräuel: »In diesen Kriegen durchforschen die Mütter aller Nationen, ihre Kinder an sich gedrückt, entgeistert den Himmel nach den tödlichen Erfindungen der Wissenschaft.«27 Eine Verwandtschaft von Schönheit und Schrecken aber liegt abseits der ästhetischen Positionsbestimmung von Brechts Modell. Den Lackmustest würde diese Theatertheorie erbringen, indem sie demonstriert, wie ein antizipatorischer Funkenregen vom kritischen Potential der Naturwissenschaften auf die gesellschaftlichen Verhältnisse überspringt. Doch das ist nur bedingt der Fall. Angesichts der Frage, warum der auf der Wissenschaft beruhende Fortschritt nur mangelhaft das Soziale durchdringt, treten weitere Inkohärenzen zu Tage. Zwar räumt Abschnitt 17 des Kleinen Organons ein: »Der neue Blick auf die Natur richtete sich nicht auch auf die Gesellschaft«28, doch ist dieser Scheuklappeneffekt gegenüber den emanzipatorischen Prinzipien des wissenschaftlichen Denkens einem bösen Willen geschuldet. Ein Erklärungsversuch, der wenig überzeugend ausfällt: Der Grund dafür, dass die neue Denk- und Fühlweise die großen Menschenmassen noch nicht wirklich durchdringt, ist darin zu suchen, dass die Wissenschaften, so erfolgreich in der Ausbeutung und Unterwerfung der Natur, von der Klasse, die ihr die Herrschaft verdankt, dem Bürgertum, gehindert werden, ein anderes Gebiet zu bearbeiten, das noch im Dunkel liegt, nämlich das der Beziehungen untereinander bei der Ausbeutung und Unterwerfung der Natur.29
Woher der Wissenschaftler in Brecht um die Wirksamkeit der attestierten Wechselwirkung weiß, wenn diese keine Signifikanz aufweisen, wird nicht ausgeführt. 23 24 25 26 27 28 29
Ebd., S. 671. Ebd., S. 662. Ebd. Ebd. Ebd., S. 670. Ebd., S. 669. Ebd., S. 669.
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Die Ironie der Geschichte besteht darin, dass gegen Ende des 20. Jahrhunderts zwar Rückkopplungseffekte einsetzen, aber keineswegs stellt, wie prognostiziert, der naturwissenschaftlich grundierte Unterbau der materiellen Praxis die gesellschaftlichen Verhältnisse auf neue Beine. Vielmehr werden die reziproken Mechanismen von der gerade beschworen Naturbeherrschung freigesetzt, indem das planetarische Habitat »sich ganz anders als jene berühmten ›leblosen‹ Dinge verhält, deren Gesamtgefüge angeblich die ›NATUR‹ war.«30 Das Postulat des Fortschritts von der Natur als unendlicher aber stummer Ressource, deren gerechte Distribution Brecht vor allem am Herzen liegt, havariert im 21. Jahrhundert. Die Annahme, dass es sich bei der Erde um eine passive Materie handelt, hat, so Michel Serres, ein Vordenker des Anthropozän avant la lettre,31 es erlaubt, »Millionen Tonnen Kohlenoxide und andere toxische Abfälle in die Atmosphäre«32 zu emittieren, ohne Wechselwirkungen befürchten zu müssen. Diese Hypothese, auf der das große Experiment der Moderne mit der Erde beruht, erweist sich als irrig. Im Gegenteil erweist sich der Erdplanet als ein äußerst sensibler und reaktionsfreudiger Resonanzraum. Während Brecht an der Doppelrolle der Wissenschaften, einerseits immense Innovationen anzutreiben und andererseits ein unvergleichliches Vernichtungspotenzial bereitzustellen, verzweifelte, so dass er Leben des Galilei mehrfach umschrieb, registrieren die Theoretiker des Anthropozän die Abhängigkeiten, welche die Schäden auslösen, die der globalisierte Alltag anrichtet: Inzwischen zeichnet sich ab, dass unser industrielles know how wahrscheinlich katastrophal in diese globale Natur eingreift, […] Fortan hängt nicht nur sie von uns ab, wir hängen im Gegenzug vielmehr für unser Überleben von jenem atmosphärischen System ab, das schwankend, unzuverlässig, aber recht dauerhaft, deterministisch und stochastisch und mit Quasi-Perioden ausgestattet ist.33
Die potenzierte Gewalt, welche die Wissenschaft in Form von Waffentechnik und Massenvernichtungsmittel bereit stellt, setzt sich in den Zerstörungen der vernachlässigten ökologischen Rahmenbedingungen durch die industrielle Produktionsweise fort: »den Abfall, den sie nebenbei produzieren, lassen die chemischen Fabriken, die großen Tiermastanstalten, die Atomkraftwerke oder die Riesentanker die globale objektive Gewalt wiederaufleben.«34 Diese Kehrseite des
30 Latour, Bruno: Wo bin ich? Lektionen aus dem Lockdown. Berlin: Suhrkamp 2021, S. 125. 31 Vgl. Rheinberger, Hans-Jörg: Das Ganze der Natur. Hommage an Michel Serres. In: »Lettre International« Nr. 128, 2020, S. 32–35, hier S. 32. 32 Serres, Michel: Der Naturvertrag. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1994, S. 51. 33 Ebd. 34 Ebd., S. 33.
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Industriezeitalters als Manifestation materieller Gewalt könnte als Grundlage einer Kriegsfibel neuen Typs dienen: Die Bilanz der Schäden, die der Welt bis auf den heutigen Tag zugefügt worden sind, kommt den Verheerungen gleich, die ein Weltkrieg hinterlassen hätte. […] so als ob der Krieg nicht mehr nur den Militärs gehörte, seit sie ihn mit Instrumenten führen oder vorbereiten, die ebenso ausgeklügelt sind, wie jene, die sonst in der Forschung oder Industrie verwendet werden.35
Damit aber kollabiert das dem Organon zugrundeliegende Fortschrittstheorem, das Brecht aufgrund Hegels Axiom einer unendlichen Akkumulation des Wissens durch die Wissenschaft als tragenden geschichtsphilosophischen Pfeiler in sein Theatergebäude eingezogen hatte. Die optimistische Doktrin, dass das Leben »in einem ganz neuen Umfang von den Wissenschaften bestimmt«36 wurde, seit es aufgrund der Methode des Experiments gelang, »der Natur ihre Geheimnisse zu entreißen«37, wird im Anthropozän integraler Bestandteil des ökologischen Bedrohungshorizonts. Heute liegt die Tatsache, dass die Gewerbe »auf eine neue Art organisiert, eine riesige Produktion begannen«38, der globalen Dystopie zugrunde. Brechts Conclusio: »Bald zeigte die Menschheit Kräfte, von deren Ausmaß sie zuvor kaum zu träumen gewagt hatte«39, entblößt eine obszöne Kehrseite. Statt der gesellschaftlichen Ordnung kommt das ökologische Habitat in Bewegung und verschiebt die zentrale Stellung der menschlichen Spezies auf dem Planeten. Der Homo Faber, der Brechts Modell des Wissenschaftstheaters das Maß gibt, mutiert aufgrund seiner Einwirkungen auf die erdgeschichtlichen Realitäten zu einem geologischen Akteur. Dieser Atlaseffekt, der dem Menschen fortan die Verantwortung für die fragilen ökologischen Sphären und deren Gleichgewicht aufbürdet, zeigt nicht nur die Grenzen von Brechts Modell und dessen impliziten Voraussetzungen auf, sondern stiftet zugleich das Apriori, auf dem ein ökologisches Wissenschaftstheater zu errichten ist. Hatte Brechts System die Entwicklung einer auf Wissenschaft gestützten Technologie als dynamischen Prozessor im Rahmen der Geschichte aufgefasst, verändert sich mit einem Schlag der geschichtsphilosophischen Uhr das Szenario, denn im 21. Jahrhundert kreuzen sich Erd- und Menschheitsgeschichte. Der Vorhang hebt sich vor dem planetarischen Zeitalter mit unserem Himmelskörper als allgegenwärtigen und unhintergehbaren Referenten. »Die globale Geschichte
35 36 37 38 39
Ebd., S. 59. Brecht, Bertolt: Kleines Organon für das Theater,S. 668. Ebd. Ebd. Ebd.
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tritt in die Natur ein und die globale Natur in die Geschichte: das ist das Novum in der Philosophie«40, konstatiert Serres. Eine Zäsur in vielerlei Hinsicht. Denn mit der Leitplanke des Fortschritts brechen auch die epistemischen Voraussetzungen und damit die Fundamente des Theaterbaus weg. Ausgerechnet die Galionsfigur des epischen Theaters Galileo Galilei machen die Wissenschaftshistoriker Serres und in seiner Nachfolge Latour für den blinden Fleck der Naturwissenschaften und damit auch der Technologie verantwortlich. Angesichts der enigmatischen Galileifigur wird jener Paradigmenwechsel plastisch, der sowohl Brechts Natur – wie auch seinem Wissenschaftsbegriff den Boden entziehen soll. Felsenfest schien der von der neuzeitlichen Astronomie und Physik konfiszierte Grund, auf dem Brecht im 20. Jahrhundert das wissenschaftliche Theater errichtete. Doch gegenwärtig diskutiert die politische Ökologie den Weg, den die Wissenschaft mit Galilei eingeschlagen hat, als defizitäre, wenn nicht verhängnisvolle Richtungsentscheidung. So Serres: Galilei umzäunt als erster das Terrain der Natur und verfällt darauf zu sagen: Das hier gehört der Wissenschaft; […] Die Natur wird zum globalen menschenleeren Raum, […] in dem der Gelehrte urteilt und Gesetze erlässt, den er beherrscht und in dem die positiven Gesetze die Techniker und Industriellen mehr oder minder in Ruhe gelassen haben.41
Der von Galilei vollzogene Paradigmenwechsel konzipiert eine homogene Welt, in der jeder »Ort buchstäblich der gleiche war wie ein anderer, bis auf die Koordinaten«42. Dagegen wendet Latour mit Berufung auf Lynn Margulis und James Lovelock ein, dass im Gegensatz zu allen anderen uns bekannten »die ERDE ein lebender Planet ist, da ihre Atmosphäre sich chemisch nicht im Gleichgewicht befindet«43. Unser Himmelskörper wird nicht länger als abstrakter physikalischer Körper betrachtet, was Galileis zentralen »Gedanken, daß alle Planeten einander gleichen«44 fundiert, sondern im Gegenteil gilt: »die ERDE ist ein Planet, der keinem anderem gleicht!«45 Dieses zentrale Axiom der von Latour vehement geforderten »anti-kopernikanischen Gegenrevolution«46 korrespondiert der basalen Conclusio des Naturvertrags: »Die Natur verhält sich als Subjekt.«47
40 41 42 43 44 45 46 47
Serres, Michel, Der Naturvertrag, S. 16. Ebd., S. 142. Latour, Bruno: Kampf um Gaia, S. 136. Ebd., S. 137. Ebd., S. 133. Ebd. Ebd., S. 111. Serres, Michel, Der Naturvertrag, S. 65.
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Ist es der Zweck der Brechtbühne, die geheimen Gesetze, die das Zusammenleben der Menschen steuern, mit »praktikablen Abbildungen«48 erkennbar zu gestalten, nimmt sein ökologisches Pendant die Bedingungen in den Fokus, welche die Existenz der menschlichen Spezies ermöglichen und die Latour als »die vielförmige und vieltausendjährige Aktivität von Milliarden von Wirkmächten«49 identifiziert. Das Augenmerk verlagert sich vom Kosmos des Homo Faber, dessen eingreifende Praxis Brecht als Urbild der Kritik bestimmt, zu der »Kritischen Zone«, also in jenem sich nur wenige Kilometer erstreckenden Gebiet »zwischen Atmosphäre und Muttergestein«50, die einzig Leben beheimatet. Während das epische Theater auf einem gleichgültigen Verfügungsraum als einem Ensemble von leblosen Dingen thront, der mit Hilfe der Wissenschaften systematisch nutzbar gemacht wird, gründet eine Bühne des planetarischen Habitats auf dem Theorem, dass das Leben auf diesem Planeten eine singuläre und damit absolute Qualität besitzt. Dagegen operiert die Galilei-Figur in Brechts Bühnenstück auf der Ebene der Quantität, selbst und gerade wenn sie das Tor zur Unendlichkeit des Universums aufstößt: Andrea fischt hinter den Sterntafeln ein großes hölzernes Modell des ptolemäischen Systems hervor. […] ANDREA bewegt die Schalen: Das ist schön. Aber wir sind so eingekapselt. GALILEI sich abtrocknend: Ja, das fühlte ich auch, als ich das Ding zum ersten Mal sah. Einige fühlen das. Mauern und Schalen und Unbeweglichkeit! Durch zweitausend Jahre glaubte die Menschheit, dass die Sonne und alle Gestirne des Himmels sich um sie drehten… Aber jetzt fahren wir heraus, Andrea, in großer Fahrt. Denn die alte Zeit ist herum, und es ist eine neue Zeit. […] Denn alles bewegt sich, mein Freund. […] Bald wird die Menschheit Bescheid wissen über ihre Wohnstätte, den Himmelskörper, auf dem sie haust. Was in den alten Büchern steht, das genügt mir nicht mehr. Wo der Glaube tausend Jahre gesessen hat, eben da sitzt jetzt der Zweifel!51
Dass Latour diese Passage in Kampf um Gaia – Acht Vorträge über das neue Klimaregime ausgiebig kommentiert, wie er auch in weiteren Texten zur politischen Ökologie immer wieder auf Galilei wie auf dessen dramatischen Gewährsmann Brecht zurückkommt, ist kein Zufall. Denn der »vom neuen Klimaregime aufgezwungene Kosmologiewechsel«52 konstituiert sich in einer spiegelverkehrten Symmetrie zur kopernikanischen Revolution. Im 21. Jahrhundert finden sich die Planetenbewohner statt in den Weiten des Universum erneut 48 49 50 51
Brecht, Bertolt: Gesammelte Werke. Bd. 16, S. 672. Latour, Bruno: Wo bin ich?, S. 78. Latour, Bruno: Das terrestrische Manifest. Berlin: Suhrkamp 2018, S. 92. Brecht, Bertolt: Leben des Galilei. In: Brecht, Bertolt: Werke. Stücke. Bd. 5. Berlin und Weimar: Aufbau, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1988, S. 9f. 52 Latour, Bruno: Wo bin ich?, S. 173.
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eingekapselt bzw. »eingekerkert in ihre winzig dünne lokale Atmosphäre. […] Galileis expandierendes Universum ist gewissermaßen suspendiert, es geht nicht weiter vorwärts.«53 Hatte René Descartes zeitnah zu Galileis Entdeckungen die unendliche Ausdehnung als res extensa zu einer wesentlichen Kategorie der Erkenntnistheorie erklärt, erweist sich Brechts damit in Einklang stehender technizistischer Traum von der »großen Fahrt« mit der Ära des Anthropozäns als illusionär. In unserer Gegenwart erfährt unsere Spezies stattdessen, dass die Spielräume enger werden, weil »die Temperatur innerhalb der klimatisierten Blase, in der wir hausen, von unserem eigenen Handeln abhängt.«54 Der Atlaseffekt bewirkt, so Deborah Danowski und Eduardo Viveiros de Castro, »dass unsere Welt, die Erde, auf der einen Seite plötzlich klein und fragil, auf der anderen empfindlich und unerbittlich geworden ist.«55 Will die Brechtbühne Licht in die sozialen Beziehungen bringen, besteht ein wesentlicher Zweck der ökologischen Bühne darin, den Sphären- oder Blasenbewohner mit ihrer Atlasfunktion vertraut zu machen, den Blick auf das Verhältnis einer Gesellschaft zu den planetaren Rahmenbedingungen zu lenken, und zu diskutieren, welche Verhaltensweisen ihnen »die feine, nur wenige Kilometer breite Existenzschicht«56 auferlegt. Der Entwurf des Planeten als Subjekt, als Zusammenspiel vielfältiger, einander stimulierender und affizierender Sphären, ist Ausdruck eines erkenntnistheoretischen Bruchs. Von Michel Serres bis Donna Haraway, von Karen Barad bis Bruno Latour, von Isabelle Stengers bis Eduardo Viveiros de Castro herrscht dahingehend Einigkeit, dass in der gegenwärtigen Zeitenwende Aktanten, und Quasi-Subjekte die traditionellen Objekte der Erkenntnistheorie ablösen. Die ökologisch katastrophalen Auswirkungen der technischen Infrastruktur gehen demnach auf die Verkennung von Akteuren bzw. Wirkmächten als tote Dinge zurück. Durch die Fokussierung, so Karen Barad, Physikerin für Theoretische Teilchenphysik, auf deren »Tätigkeit, eine Gerinnung von Tätigsein«57 verwandeln sich Objekte in Quasi-Subjekte. Erst unter dem Aspekt der Agency lassen sich die aus den Interaktionen aller beteiligten Aktanten hervorgehenden Handlungsgefüge erfassen, die diesen Planeten »bewohnbar gemacht haben«58. Durch die Kopplung an die Wissenschaft kann sich das epische Theater epistemischen Kontinentalverschiebungen nicht entziehen. Seine Re-Formulierung ist bereits in seiner Konzeption angelegt. Diese Transformation betrifft 53 54 55 56 57
Latour, Bruno: Kampf um Gaia, S. 141. Latour, Bruno: Wo bin ich?, S. 79. Danowski, Deborah / Viveiros de Castro, Eduardo: In welcher Welt leben?, S. 101. Latour, Bruno: Wo bin ich?, S. 44. Barad, Karen: Agentieller Realismus. Aus dem Englischen von Jürgen Schröder. Berlin: Suhrkamp 2012, S. 40. 58 Latour, Bruno: Wo bin ich?, S. 172.
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auch den Produktionsbegriff, den Brecht aus den Naturwissenschaften hervorgehen lässt und der einen zentralen Baustein seiner Kunsttheorie bildet. Durch die »neuen Wissenschaften«59 entfalteten sich jahrtausendealte Gewerbe, so Brecht, die »allerorten große Menschenmassen in sich sammelnd, welche auf eine neue Art organisiert, eine riesige Produktion begannen.«60 Diese grundlegende Umgestaltung der materiellen Basis modifiziert das Denken großer Teile der Gesellschaftspyramide: »Seitdem gibt es etwas vom wissenschaftlichen Geist in der Tiefe, bei der neuen Klasse der Arbeiter, deren Lebenselement die große Produktion ist.«61 Daher ist der Begriff der Produktion bestens geeignet, »die breiten Massen«62, die »Naturwissenschaft«63 und die Bühne miteinander zu verschweißen: »Ein Theater, dass die Produktion zur Hauptquelle der Unterhaltung macht, muß sie auch zum Thema machen.«64 Mittlerweile hat sich die Ausgangslage in ihr Gegenteil verkehrt. Wird die Brechtszene von sozialen Wesen bevölkert, die sich wie Mutter Courage über die Struktur und Unstimmigkeit ihrer Gemeinwesen keine Rechenschaft ablegen können und sich deswegen beispielsweise in immer weitere Kriege verstrickt sehen, agieren auf den anthropozänen Tanzplätzen Sphärenbewohner, die feststellen, dass die Entfesselung der Produktivkräfte vielfältige Reaktionen von Wirkmächten auslöst, die mittelbar ihre Existenz ebenso gefährden wie die Konflikte, die im Rahmen der Geschichte ausgetragen werden. Wo vor drei Generationen noch die Fahne des Fortschritts wehte, sieht sich der heutige mit der Wissenschaft gewappnete Atlas-Mensch vor die Aufgabe gestellt, das ökologische Gleichgewicht aufrechtzuerhalten. Wollte die Brechtbühne »Abbildungen des menschlichen Zusammenlebens« an »Flußbauer, Obstzüchter, Fahrzeugkonstrukteure und Gesellschaftsumwälzer […] ausliefern«65, um »sie zu verändern nach ihrem Gutdünken«66, steht heute die Re-Naturierung von Mooren oder Flussläufen auf der Agenda. Fokussierte sich die politische Ökonomie auf die Logik der Produktion, plädiert die politische Ökologie dafür sich den Erzeugungssystemen und ihren Prinzipien zuzuwenden. »Freiheit das eine, Abhängigkeit das andere«67, so Latour. Abhängigkeiten stehen deshalb so hoch in Kurs, weil mit den Worten von Anna Lowenhaupt Tsing für das Leben »ein Zusammenspiel von zahlreichen Lebensformen erforderlich ist.«68 Mit der Maxime: »es 59 60 61 62 63 64 65 66 67 68
Brecht, Bertolt: Gesammelte Werke Bd. 16, S. 668. Ebd. Ebd., S. 670. Ebd., S. 672. Ebd. Ebd. Ebd., S. 671. Ebd. Latour, Bruno: Das terrestrische Manifest, S. 96. Lowenhaupt Tsing, Anna: Der Pilz am Ende der Welt. Berlin: Matthes & Seitz 2019, S. 7.
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soll gelernt werden, wie man von ihnen abhängt«69, protegiert Latour in der Nachfolge Brechts einen ökologisch akzentuierten didaktischen Gestus. Was das Brechttheater als Ressource zur Erzeugung vom gesellschaftlichen Reichtum betrachtet, perspektiviert sich im ökologischen Kontext als Kraftfeld komplexer Wechselbeziehungen und kaum kalkulierbarer Rückkopplungseffekten. An die Stelle Galileis tritt Alexander von Humboldt, auf den die Devise »Alles ist mit allem verbunden« zurückgehen soll. Stifteten die Ozeane, Wüsten, Wälder in der Moderne die Kulisse der sozialen Kämpfe, so avancieren sie im 21. Jahrhundert zu den Protagonisten des globalen Klimas. Sie spielen, so der Konsens der aktuellen Erdsystemforschung, die entscheidende Rolle beim Erhalt des ökologischen Gleichgewichts. Diese tonangebenden Akteure des neuen Klimaregimes, deren Verhalten über das Schicksal der Welt entscheidet, dechiffrieren sich als Quasi-Subjekte mit politischen Dimensionen, denn sie konstituieren die geschichtlichen und narrativen Konflikte der nächsten Generationen. »Ich werde Wald sein, Berg, Meer, Wüste«70, verkündet bereits Ende der 1970 er Jahre der gescheiterte Revolutionär Sasportas in Der Auftrag, einem erschienen Stück des geläuterten Brecht-Schülers Heiner Müller. Diese Verflechtung der Landschaften mit politischen Energien weist eine Affinität zu den außer-menschlichen Eminenzen des mythischen Kosmos auf, deren Launen und Aktivitäten mitunter das Schicksal einer Polis oder wie im Fall des Prometheus des gesamten Menschgeschlechts entscheiden. Im Kontext der epistemischen Wende drängt sich somit die hypothetische Frage auf: Was sind Götter, Nymphen und Satyrn, wenn nicht personifizierte Natur- bzw. Wirkmächte? In Riten und ihren mythischen Beschwörungsgesängen, den Wurzeln von Theater und poetischer Praxis, sedimentieren Versuche, sich mit den als metaphysische Wesenheiten maskierten Quasi-Subjekten ins Vernehmen zu setzen. In diesem Kontext enträtselt sich auch die das Brechttheater fundierende Dichotomie von Wissenschaft und Magie. Als Platon Philosophie und Wissenschaft im strikten Gegensatz zum Mythos wie den auf ihm basierenden künstlerischen Formen der Kunst abgrenzt, kommt er im Zehnten Buch der Politeia auf den Streit oder die Fehde zwischen Philosophie und Dichtung zu sprechen. Die Dichter werden verurteilt, so Roberto Calasso, weil sie mimesis praktizieren, also die gefährliche Kunst der Nachahmung […]. Und wenn das Rad der Nachahmung vielgestaltig und verderbt erscheint, wird der Betreffende, wie es im Staat heißt, nicht nur zum Dichter, sondern genauso wie der Gott, den
69 Latour, Bruno: Das terrestrische Manifest, S. 101. 70 Müller, Heiner: Der Auftrag. In: Müller, Heiner: Werke 5. Die Stücke 3. Herausgegeben von Frank Hörnigk. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2002, S. 11–42, hier S. 40.
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er besingt – zum góes, zum Hexenmeister. In diesem Wort gewinnt der Feind für Platon am deutlichsten Gestalt, einerlei ob er Gott oder Dichter ist.71
Die für das Brechttheater grundlegende Gegnerschaft findet sich in diesen Zeilen Platons präskribiert. Brechts Chuzpe besteht darin, das platonische Verdikt gegen Mythos und Tragödie in das Feld der theatralischen Verfahren zu übertragen. Werden aber die personifizierten Kräfte der Metamorphose als Wirkmächte identifiziert, beginnt sich der scharfe Widerspruch von Kunst und Wissenschaft aufzulösen. So hält der Historiker Philipp Blom den Abgrund zwischen Mythos und Erdsystemforschung mit »wissenschaftlichen Metaphern«72 für überbrückbar. Die Annäherung der als unvereinbar betrachteten Traditionen kulminiert in der Gaia-Hypothese, mit der die Erde als Zusammenhang von mannigfaltigen Wirkmächten beschrieben wird, die zusammen das Netz des Lebens konstituieren. Gaia bezeichnet ein Gefüge, in dem die klassischen Gegensätze zusammenschießen. Latour spricht von der »einigermaßen beängstigende[n] Form einer zugleich mythischen, wissenschaftlichen, politischen und wahrscheinlich auch religiösen Kraft.«73 Diese Re-Inthronisation identifiziert eine aktive, lebendige und im Gegensatz zur abrahamitischen, keineswegs verstummten Erde als zentralen Gegenstand der (Natur-) Wissenschaft. Eine kulturhistorische Weltenwende, wird doch mit der Rehabilitation von Gaia die »Renaissance […] einer nichtbiblischen dramatischen Weltkonzeption«74 eingeleitet. Die Auferstehung der mythischen Akteure als Quasi-Subjekte im naturwissenschaftlichen Gewand verflüssigt den starren Antagonismus, von dem Brechts Modell seine Kontur bezog. Von heute aus werden die für das Theater basalen Kulte und Rituale, die durch Anrufung von Dionysos das Sprießen des Grüns im Frühling ekstatisch bejubeln und symbolisch verdichten, als Hommage an jenen planetarischen Effekt lesbar, der das Leben von Flora und Fauna im jährlichen Rhythmus unterhält und stimuliert. Ein kosmischer Akt, der den Blick auf jene Abhängigkeiten freisetzt, denen sich bereits das um Zyklen organisierte Dionysos-Theater bewusst war. Indem Brecht die Bühne zum Ort von Geschehnissen allein »zwischen Menschen«75 erklärt, wird nicht nur einen Schutzschirm gegen magische Praktiken errichtet sondern die Matrix des Theaters selbst unkenntlich gemacht. Obwohl 71 Calasso, Roberto: Die Schrecken der Fabeln. In: Calasso, Roberto: Die neunundvierzig Stufen. Aus dem Italienischen von Joachim Schulte. München, Wien: Carl Hanser Verlag 2005, S. 347– 360, hier S. 349ff. 72 Blom, Phillip: Das große Welttheater. Von der Macht der Vorstellungskraft in Zeiten des Umbruchs, Wien: Zsolnay 2020, S. 102. 73 Latour, Bruno: Kampf um Gaia, S. 14. 74 Blom, Phillip: Das große Welttheater, S. 101. 75 Brecht, Bertolt: Gesammelte Werke. Bd. 16, S. 663.
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seine Theatertheorie durchaus weiß, dass neben Menschen- auch »Tiermasken«76 zur Grundausstattung des Theaters gehören, es sich also ab ovo an nichtmenschliche Kräfte wendet, geht seine Argumentation weder darauf ein, dass sich die Bezeichnung »Tragödie« vom Wort »Bocksgesang« herleitet, noch dass sich Theatergott Dionysos auf offener Bühne in einen Stier verwandelt. Die Ungereimtheiten, welche die von Brecht gezeichnete Genese der Theaterkunst durchziehen, entfallen, wenn die Beziehungen der »Erdenbürger in humaner wie nicht-humaner Gestalt«77 als wesentliche Antriebskräfte bei dessen Herausbildung angesetzt werden. Statt Brechts rigoroser Ablehnung der Tragödie steht deren Re-Aktualisierung auf der theatralischen Agenda. Dafür spricht nicht nur die epistemische Transformation von Objekten in Aktanten und Quasi-Subjekte, die eine strukturelle Nähe zu den personifizierten Wirkmächten der Antike aufweisen. Sondern darüber hinaus nimmt mit dem Anthropozän eine Tragödie des Wissens Konturen an, deren Ausgang noch völlig offen erscheint. Der Schatten Melpomenes verdunkelt zunehmend das von der Aufklärung beschworene Licht der Rationalität, da die ökologischen Horrorszenarien maßgeblich durch die von der Wissenschaft ermöglichten technischen Innovationen verursacht werden. Während in der Matrix des Theaters die Beziehung zum Sozialen wie zum Planetarischen bzw. den Naturprozessen angelegt ist, beruht Brechts Modell auf einer Vereinseitigung, die den Anthropozentrismus, wenn auch in einer gesellschaftlich militanten Lesart verabsolutiert: »Über den kämpfenden Klassen kann niemand stehen, da niemand über den Menschen stehen kann.«78 Selbstredend haben sich die sozialen Kämpfe mit den ökologischen Verheerungen nicht erledigt. Doch angesichts der planetarischen Krise kann das Soziale nicht länger wie in der Industriegesellschaft als unhintergehbarer Horizont verstanden werden. Die große Zukunftsfrage für eine anthropozäne Bühne besteht im Gegenteil darin, die politische Ökonomie und die politische Ökologie zu synchronisieren. In Das terrestrische Manifest bedauert Bruno Latour ähnlich militant wie Brecht, dass die sozial-ökologische Transformation – »im Sinne der Revolutionskriege«79 überfällig ist, weil »Sozialismus und Ökologie es nicht zu Stande brachten, wirksam ihre Kräfte zu bündeln. Zu schwach waren sie, weil sie glaubten, vor einer bestimmten Wahl zu stehen: sich entweder um die sozialen Fragen kümmern zu müssen oder um die ökologischen«80. Im 21. Jahrhundert lässt sich in seinen eigenen Worten gegen Brechts Einseitigkeit einwenden, dass zwischen der 76 Ebd., S. 680. 77 Sloterdijk, Peter: Das Anthropozän – Ein Prozeßzustand am Rande der Erdgeschichte. In: Sloterdijk, Peter: Was Geschah im 20. Jahrhundert? Berlin: Suhrkamp 2017, S. 7–43 hier S. 42f. 78 Brecht, Bertolt: Gesammelte Werke. Bd. 16, S. 687. 79 Latour, Bruno: Das terrestrische Manifest, S. 77. 80 Ebd., S. 69.
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Ausbeutung der Menschen und der Unterwerfung der Natur offenbar Zusammenhänge bestehen. Ein epistemisch revidiertes Wissenschaftstheater in der Nachfolge Brechts wird den Fokus vom Sozialen auf die Naturprozesse verschieben bzw. um die Naturprozesse erweitern. Auch darf es die Erde nicht länger als »ein passives Territorium«81 entwerten, will es auf der Höhe der Zeit agieren und wird die von der Logik der Produktion getragene Anbindung an den Fortschritt verabschieden. Letztere erlaubte dem epischen Theater, selbst angesichts katastrophaler historischer Entwicklungen, Humor und Vergnügen als Basis der Theaterkunst zu behaupten. Auf dem Spiel basierend, soll es »keinen anderen Ausweis als den Spaß«82 benötigen. Als Brecht in den 1930er und 40er Jahren vor einem Abgrund stand, der viele Millionen menschliche Leben verschlingen sollte, entschied er sich für das Komische. Statt den Schlächtern Übermenschliches zu attestieren, reduzierte er sie auf ihre kleinste Größe. Adolf Hitler wird zum Chef einer Gangsterbande, die den Blumenkohlmarkt unter ihre Kontrolle bringt. Anders als Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui blieb Schweyk im Zweiten Weltkrieg unvollendet. Sicherlich liegt das Vaudeville fern, wenn UN-Generalsekretär Antonio Guterres, den UnoKlimareport 2021 vor Augen, die Alarmstufe Rot für den Planeten ausruft, aber geschichtliche Parallelen drängen sich auf. Vielleicht werden die Abenteuer und Valentinaden des braven Soldaten in den von Harald Welzer prognostizierten Klimakriegen83 die Absurditäten eines delegitimierten Lebensstils aufzeigen, der sich ohne Rücksicht auf die ökologischen Bedingungen und die Zukunftschancen der kommenden Generationen selbst fetischisiert. Auch eine anthropozän grundierte Darstellungsform postuliert keine Wahrheitsereignisse sondern sensibilisiert, problematisiert, schafft Möglichkeitsräume. Trotz aller Differenzen ist das Theater der politischen Ökologie unauflösbar mit dem Theater Brechts verbunden, teilen sie doch dieselbe Intention. Beider Funktion besteht darin, die Veränderbarkeit der Welt aufzuzeigen. »Bei der Aufstellung neuer künstlerischer Prinzipien und der Erarbeitung neuer Methoden der Darstellung müssen wir ausgehen von den gebieterischen Aufgaben einer Zeit des Epochenwechsels«84, hatte Brecht seinem Modell in die Präambel geschrieben und das Verfahren nicht nur als ein »transportables Technikum«85 bezeichnet sondern zudem prognostiziert: »Ein neues Theater wird unter an-
81 Ebd. 82 Brecht, Bertolt: Gesammelte Werke. Bd. 16, S. 663. 83 Welzer, Harald: Klimakriege. Wofür im 21. Jahrhundert getötet wird. Frankfurt/Main: Fischer Verlag 2008. 84 Brecht, Bertolt: Der Messingkauf. In Brecht, Bertolt: Gesammelte Werke. Bd. 16, S. 499–657, hier S. 631. 85 Ebd., S. 626.
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deren Effekten […] den V-Effekt nötig haben.«86 Die Frage ist, wie sich ein Verfahren, das für die »Neuformierung der Gesellschaft«87 entwickelt wurde, auf die Transformation einer globalen Zivilisation übertragen lässt. Brecht hatte die Technik der Verfremdung entwickelt, um die zementierten Raster der Wirklichkeitserfahrung zu verflüssigen und damit gestaltbar zu machen: »Einen Vorgang oder einen Charakter verfremden heißt zunächst einfach, dem Vorgang oder dem Charakter das Selbstverständliche, Bekannte, Einleuchtende zu nehmen und über ihnen Staunen und Neugierde zu erzeugen.«88 Dieser sokratische Affekt löst die Reflexion aus, welche die kulinarische Rezeption verhindert. Indem die Vorgänge auf der Bühne »das Publikum wundern machen«89 wird dessen Möglichkeitssinn gestärkt, so dass es durch die Art der Darstellung und/oder die Spielweise provoziert, »laufend fiktive Montagen«90 am Dargestellten vornimmt. Auch wenn die Nähe zur Praxis der Naturbeherrschung offensichtlich ist, erschöpft sich diese Aktivität nicht in der Kritik der Verhältnisse. Sein Surplus besteht in seiner subversiven Qualität. Indem das »Verhalten etwas Unnatürliches bekommt, wodurch die aktualen Triebkräfte ihrerseits ihre Natürlichkeit einbüßen und handelbar werden«91, erweist sich die Konsistenz und damit die Unnachgiebigkeit der Realität als illusionär. Indem der V-Effekt die Gewordenheit der gesellschaftlichen Verhältnisse aufzeigt, wird die Unveränderbarkeit des Sozialen als Schein entlarvt: »Verfremden heißt also historisieren, heißt Vorgänge und Personen als historisch, also als vergänglich darstellen.«92 Für das ökologische Wissenschaftstheater stellt sich somit die Frage, ob sich der V-Effekt nach der Kreuzung von Erd- und Menschengeschichte, radikalisieren lässt, indem er auf die sogenannte Natur und ihre Natürlichkeit ausgeweitet wird? Wenn das Anthropozän das Ende einer objektzentrierten Sicht auf das Gesamtgefüge der Wirkmächte markiert und stattdessen mit einem über viele Jahrhundertmillionen konstituierten Resonanzraum und Kraftfeld operiert, wird eine Demontage des Gewohnten und Gängigen der Naturbilder, eine De-Naturalisierung der Natur im ästhetischen Feld unumgänglich. Für Latour resultiert aus den komplexen Prozessen der Wirkmächte ein durch und durch künstliches Gebilde:
86 Ebd. 87 Ebd. 88 Brecht, Bertolt: Über Experimentelles Theater. In: Brecht, Bertolt: Gesammelte Werke. Bd. 15, S. 285–305, hier S. 301. 89 Brecht, Bertolt: Kleines Organon für das Theater, S 682. 90 Ebd., S. 680. 91 Ebd., S. 680. 92 Brecht, Bertolt: Über Experimentelles Theater, S. 302.
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alles, worauf wir stoßen – die Berge, das Gestein, die Luft, die wir atmen, der Fluss, indem wir baden, der krümelige Humus, in dem wir unsere Salate pflanzen, die Viren, deren wir Herr zu werden versuchen, der Wald, in dem wir auf Pilzsuche gehen, alles bis hin zum blauen Himmel–, ist das Ergebnis, das Produkt, ja, sagen wir es ruhig: das künstliche Resultat von Wirkkräften… Auf ERDEN ist nichts wirklich ›natürlich‹93
Diese epistemische Konstruktion versteht Natur als Produkt von aufeinander einwirkenden Aktanten, die Terraforming betreiben, also das planetarische Habitat konstituieren und bearbeiten. Die planetarische Natur ist das Ergebnis von Prozessen, deren Dynamik mittlerweile keineswegs mehr in einer Tiefenzeit angesiedelt ist, wie sie noch Müllers Der Auftrag imaginierte: »Warum sind wir nicht einfach da und sehen dem Krieg der Landschaften zu.«94 Diese Prozesshaftigkeit, die Geschichte und Natur teilen, bildet den Boden für eine Ausweitung des V-Effekts, der das Verschwinden der Prozesse hinter dem Produkt, auf das sich »die Tradition der Verdinglichung stützt«95, revoziert. Mit der Ausweitung des V-Effekts auf das planetarische Habitat verlieren dessen Realien wie zum Beispiel der Golfstrom ihren Status als quasi-ontologische Gegebenheit. Während für Brecht die Veränderbarkeit des Sozialen Voraussetzung für eine gesellschaftliche Umwälzung ist, ist das Wissen um die Veränderbarkeit der ökologischen Parameter Voraussetzung für eine umfassende zivilisatorische Transformation, mit dem Ziel das Gleichgewicht der in Bewegung geratenen Sphären zu restituieren. Sollte es der ökologischen Bühne gelingen, den V-Effekt produktiv zu machen, erweist sich die Zukunftsfähigkeit von Brechts zentraler Prozedur, indem den Naturerscheinungen zugleich ihr vertrauter Charakter genommen wird. Dies ist mehr als ein bloßer Effekt: »Je mehr wir über den Planeten wissen, desto fremder wird er uns«96, konstatiert Eugene Thacker. Solange Natur als unendlich beherrschbar gilt, tritt sie uns nicht als fremd gegenüber. Aber Gaia besitzt eine Dimension des Unberechenbaren und verfügt über Kipppunkte, die sich der empirischen Überprüfbarkeit entziehen. Zugleich handelt es sich dabei um eine Rekursion, insofern bereits in der griechischen Antike die »wilderness« keineswegs als etwas Vertrautes betrachtet wurde. So wird beispielsweise Dionysos in seiner Heimatstadt Theben ausdrücklich als Fremder identifiziert. Damit ist evident aufgezeigt, dass Natur auch immer einen kulturgeschichtlichen Sockel besitzt. Es existiert keine Natur, die nicht in ein kulturelles Konzept 93 Latour, Bruno: Wo bin ich?, S. 35. 94 Müller, Heiner: Der Auftrag, S. 38. 95 Zˇizˇek, Slavoj: Körperlose Organe – Bausteine für eine Begegnung von Deleuze und Lacan. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2005, S. 45. 96 Thacker, Eugene: Im Staub dieses Planeten – Horror der Philosophie. Berlin: Matthes & Seitz 2020, S. 191.
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eingebettet ist. Wenn die Menschen des Jungpaläolithikums sich als »tierische Mischwesen zeichnen, umgeben von anderen Tieren«97, vergehen Jahrzehntausende, in denen Totemismus und Tiergötter die Gemeinwesen beherrschen, bis die anthropozentrisch kontextualisierte griechische Plastik, »dazu gelangte die menschliche Gestalt allein darzustellen – und überdies nackt.«98 Bezeichnet der Name der griechischen Göttin Gaia im 21. Jahrhundert den Erdplaneten, nimmt damit, so Blom, »eine nichtabrahamitische Konzeption der Erde neue Gestalt«99 und resümiert: »Die Erde als Göttin und Akteurin, als Gebärerin und Handelnde ist etwas anderes als die Erde als bloße Oberfläche, aufgerissen, zubetoniert, durchbohrt, verbrannt, gerodet, verseucht.«100 Indem unsere Spezies heute vor einem »vom Neuen Klimaregime aufgezwungenen Kosmologiewechsel«101 steht, wird evident, wie sehr religiöse, philosophische oder politische Prämissen bzw. wissenschaftliche Paradigmen bis hin zu deren kosmologischer Kontextualisierung die Gestalt des Anderen der Natur prägen. Ganz gleich in welchem symbolischen Feld zum Beispiel Tiere oder Landschaften thematisch werden, stets handelt es sich um eine Kulturalisierung. Damit wird Latours Axiom: »Die ›Natur‹ gibt es nur für ein Subjekt«102 insofern zum Schlüsselsatz für das ökologische Theater, als Natur immer ein Konzept von Natur meint. Dieses Konzept aber stammt evident aus dem Bereich der Kultur. Die Aufgabe jener ästhetischen Operationen, die Brecht unter Verfremdung subsumiert, besteht heute darin, den kulturellen Kern der Natur offenzulegen. Dieser Nukleus archiviert das kulturgeschichtliche Gewordensein der jeweiligen Entwürfe, das deren Naturalisierung verdeckt. Folgerichtig bestimmen Danowski und Viveiros de Castro Gaia als »materialisierte Geschichte«103. Indem das Wissenschaftstheater, die in die Konzepte eingegangenen Haltungen verflüssigt, sichtbar und somit handhabbar gestaltet, transzendiert es die zu einer opaken Realität verdichteten historisch bedingten Einstellungen. Unter anthropozäner Prämisse wird der V-Effekt in die Tiefe der Geschichte und Kultur verlängert und um eine vertikale oder archäologische Ausrichtung bereichert wird. Dies gilt insbesondere für die nicht- menschlichen Lebensformen. So standen beispielsweise in der altägyptischen Kultur um die dreißig Tierarten unter dem Schutz des Gesetzes, das deren Existenz mit drakonischen Strafen beschirmte. Dem römischen Recht gelten Tiere dagegen als Eigentum ohne eigene Ansprüche. Erscheint der westlichen Kultur die Rechtlosigkeit der Tiere als »natürlich« 97 98 99 100 101 102 103
Calasso, Roberto: Der Himmlische Jäger. Berlin: Suhrkamp 2020, S. 26. Ebd. Ebd., S. 102. Blom Phillip: Das große Welttheater, S. 103. Latour, Bruno: Wo bin ich?, S.173. Ebd., S. 116. Danowski, Deborah / Viveiros de Castro, Eduardo: In welcher Welt leben?, S. 114.
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gegeben, manifestieren sich darin kulturelle Setzungen, die erst revidiert werden können, wenn ihr künstlicher Charakter plastisch wird. Das Beispiel ist nicht zufällig gewählt. Denn die epistemische Re-Konzeptualisierung dementiert tradierte Rechtsauffassungen, die auf der Subjekt–Objekt-Relation gründen: »Die Objekte selbst sind Rechtssubjekte«104, pointiert Serres die ökologische Wende und kommt zu dem Schluss: »Wenn die Objekte selbst zu Rechtssubjekten werden, dann neigen sich alle Waagschalen der Gleichgewichtsposition zu.«105 Exemplarisch auf eine Revision der Rechtsordnung bezogen wird evident, dass der ästhetische Zentralmechanismus der Brechtbühne mitnichten verrentet werden darf, soll die Kunstform Theater historisch relevant sein und als Akteur zur Überwindung der anthropozänen Krise beitragen. Sie wird damit zu einem integralen Bestandteil jenes Zielhorizonts, den Peter Sloterdijk als »Zivilisierung der Globalisierung« beschreibt, die »falls sie erfolgreich vonstatten geht, auf der Synergie von Recht, Wissenschaft und Technik«106 fußt. Zugleich seien alle Bemühungen der Krisenbewältigung zum Scheitern verurteilt, »wenn es nicht gelingt, sie in einen umfassenden Wandel einzubetten, der die moralischen und spirituellen Antriebssysteme der Globalisierung erfasst. Ein solcher Wandel müsste die Ausmaße einer Kulturrevolution annehmen.«107 Bei dieser umfassenden Transformation wird das revidierte, aber genetisch auf Brechts Entwurf basierte Wissenschaftstheater die Funktion eines entscheidenden Motors innehaben.
Literatur Artaud, Antonin: Das alchimistische Theater. In: Artaud, Antonin: Das Theater und sein Double. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1969. Barad, Karen: Agentieller Realismus. Aus dem Englischen von Jürgen Schröder. Berlin: Suhrkamp 2012. Blom, Phillip: Das große Welttheater. Von der Macht der Vorstellungskraft in Zeiten des Umbruchs. Wien: Zsolnay 2020. Brecht, Bertolt: Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny. In: Brecht, Bertolt: Gesammelte Werke 2, Stücke 2, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1967. Brecht, Bertolt: Der Messingkauf. In: Brecht, Bertolt: Gesammelte Werke 16, Frankfurt/ Main, 1967. Brecht, Bertolt: Kleines Organon für das Theater. In: Brecht, Bertolt: Gesammelte Werke 16, Frankfurt/Main, 1967. 104 Serres, Michel, Der Naturvertrag,, S. 67. 105 Ebd. 106 Sloterdijk, Peter: Das Experiment Ozean. In: Sloterdijk, Peter: Was Geschah im 20. Jahrhundert?, S. 60–76, hier S. 72. 107 Ebd.
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Brecht, Bertolt: Schriften zur Literatur und Kunst. In: Brecht, Bertolt: Gesammelte Werke 18, Frankfurt/ M. 1967. Brecht, Bertolt: Leben des Galilei. In: Brecht, Bertolt: Werke, Stücke 5, Berlin und Weimar, Frankfurt/ Main 1988. Calasso, Roberto: Die Schrecken der Fabeln. In: Calasso, Roberto: Die neunundvierzig Stufen. München, Wien 2005, S. 347–360 Calasso, Roberto: Der Himmlische Jäger. Berlin 2020. Deborah Danowski, Eduardo Viveiros de Castro: In welcher Welt leben? Ein Versuch über die Angst vor dem Ende. Berlin 2019. Heinrich, Klaus: arbeiten mit ödipus, Begriff der Verdängung in der Religionswissenschaft. Dahlemer Vorlesungen 3. Basel, Frankfurt/Main 1993. Latour, Bruno: Kampf um Gaia: Acht Vorträge über das neue Klimaregime. Berlin 2017. Latour, Bruno: Das terrestrische Manifest. Berlin 2018. Latour, Bruno: Wo bin ich? Lektionen aus dem Lockdown. Berlin 2021. Lowenhaupt Tsing, Anna: Der Pilz am Ende der Welt. Berlin 2019. Müller, Heiner: Der Auftrag. In: Müller, Heiner: Stücke 3, Werke 5. Frankfurt/Main. 2002. Rheinberger, Hans-Jörg: Das Ganze der Natur – Hommage an Michel Serres. In: »Lettre International« 128. Berlin 2020, S. 32–35. Serres, Michel: Der Naturvertrag. Frankfurt/Main 1994. Sloterdijk, Peter: Das Anthropozän – Ein Prozeßzustand am Rande der Erdgeschichte. In: Sloterdijk, Peter: Was Geschah im 20. Jahrhundert? Berlin 2017, S. 7–42. Sloterdijk, Peter: Das Experiment Ozean. In: Sloterdijk, Peter: Was Geschah im 20. Jahrhundert? Berlin 2017, S. 60–76. Thacker, Eugene: Im Staub dieses Planeten – Horror der Philosophie. Berlin 2020. Viveiros de Castro, Eduardo / Danowski, Deborah: In welcher Welt leben? Ein Versuch über die Angst vor dem Ende. Berlin 2019. Welzer, Harald: Klimakriege. Wofür im 21. Jahrhundert getötet wird. Frankfurt/Main 2008. Zˇizˇek, Slavoj: Körperlose Organe – Bausteine für eine Begegnung von Deleuze und Lacan. Frankfurt/Main. 2005.
Nikolaus Müller-Schöll (Frankfurt am Main)
Theater für alle und keinen. ›Opportunismus‹ und ›refraktäre‹ Praxis in Brechts Arbeit nach 1937
An einem konfliktuösen Kreuzungspunkt Am 25. Februar 1939 schreibt Bertolt Brecht im dänischen Exil in Svendborg in sein Arbeitsjournal1 den folgenden Eintrag, der eine genauere Lektüre verdient: Leben des Galilei ist technisch ein großer rückschritt, wie Frau Carrars Gewehre allzu opportunistisch. man müßte das stück vollständig neu schreiben, wenn man diese ›brise, die von neuen küsten kommt‹, diese rosige morgenröte der wissenschaft, haben will. alles mehr direkt, ohne die interieurs, die ›atmosphäre‹, die einfühlung. Und alles auf planetarische demonstrationen gestellt. die einteilung könnte bleiben, die charakteristik des galilei ebenfalls. aber die arbeit, eine lustige arbeit, könnte nur in einem praktikum gemacht werden, im kontakt mit einer bühne. es wäre zuerst das Fatzerfragment und das Brotladenfragment zu studieren. Diese beiden fragmente sind der höchste standard technisch.2
Die Notiz kann als eine für Brechts »destruktiven Charakter«3 nicht ungewöhnliche Manifestation des Zweifels am einmal Erreichten gelesen werden. Man kann darin die einen Künstler auszeichnende Bescheidenheit sehen: dass der fertige Text ihm, gemessen an den eigenen Ansprüchen, nicht genügt. Mit Blick auf die verschiedenen Varianten fast aller seiner Stücke drückt sich hier nicht 1 Brecht, Bertolt: Arbeitsjournal. Erster Band 1938 bis 1942. Zweiter Band 1942 bis 1955. Herausgeben von Werner Hecht. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1974. Diese Ausgabe wird hier verwendet, weil in ihr anders als in der späteren Edition im Rahmen der Großen Berliner und Frankfurter Ausgabe die Kleinschreibung Brechts nicht verändert wird. Der Name »Arbeitsjournal« wurde von Helene Weigel verwendet, weil Brecht die Notizen so mitunter bezeichnete und sie damit umging, dass die Publikation von Brechts Tagebüchern in der DDR nicht erwünscht war. Vgl. Brecht, Bertolt: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Herausgegeben von Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei, Klaus-Detlef Müller. Berlin, Weimar, Frankfurt/Main: Aufbau, Suhrkamp 1994, Bd. 26. Journale 1, S. 604. Die Werkausgabe wird nachfolgend im laufenden Text zitiert als: (GBA Band, Seitenzahl). 2 Brecht, Bertolt: Arbeitsjournal, S. 32. 3 Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften. Bd. VI, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1980, S. 538. Vgl. auch Benjamin, Walter: Der destruktive Charakter. In: Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften. Bd. IV, 1, S. 396.
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zuletzt seine beständige produktive Unruhe aus, ist ein Arbeiten zu beobachten, das mehr am Prozess als am Produkt interessiert ist. Und nicht zuletzt kann man annehmen, dass Brecht auch im Moment dieses Eintrags bewusst war, dass er ein Stück »auf Vorrat« geschrieben hatte, wie er sich im Gespräch mit Benjamin im Juli 1938 ausgedrückt hatte, ohne Kontakt mit seiner »Bühne« und seinem »Publikum«4, die ihm die Nazis genommen hatten, mithin der Möglichkeiten beraubt, die er zum Zeitpunkt der zwei Fragmente Fatzer und Brotladen noch hatte, an denen er arbeitete, als ihm der Erfolg der Dreigroschenoper und die enge Verbindung mit allen wichtigen Künstlern und Theoretikern seiner Zeit nahezu die volle Freiheit des Experimentierens im und mit dem Theater eröffnet hatten. Doch es steckt mehr und anderes in dieser kurzen Notiz: Sie verweist auf den Moment in Brechts Arbeit, in dem sich zwei Tendenzen konfliktuös kreuzen, deren eine zu seinen großen Erfolgen und seinem weltweiten Nachruhm führen wird, deren andere auf seine – der eigenen Einschätzung nach – in künstlerischer Hinsicht bedeutendste Entdeckungen zurück- und zugleich vorausweist: auf deren Bergung und Einschließung in den kommenden Arbeiten und schließlich im Theater des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts. So zumindest die Hypothese, der ich im kommenden Aufsatz in vier Schritten weiter nachgehen will. Zunächst werde ich erläutern, was Brecht dazu gebracht hat, erst Die Gewehre der Frau Carrar, dann Leben des Galilei contre coeur nicht dem »höchsten standard technisch« entsprechend zu schreiben. Im zweiten Schritt gehe ich Brechts Kritik an Leben des Galilei nach, indem ich herauszufinden versuche, was ihm daran als »allzu opportunistisch« galt.5 Anschließend arbeite ich heraus, welchen Aspekt des Stücks man mit einem Begriff Brechts als »refraktär« bezeichnen könnte. Von hier aus erscheint das Stück als Teil einer ganzen Reihe von Szenen und Notizen, die Brechts Arbeit im Konflikt zwischen einem »Theater für alle« und einem für »keinen« zeigen. Dabei lebt in seinem »Theater für keinen« etwas fort, was mit Brechts Notizen der 20erJahre als »Messianismus« bezeichnet werden kann: Die Erinnerung an seine Konzeption eines radikal unmöglichen Theaters, an dem er zur Zeit von Fatzer und Brotladen gearbeitet hatte, eines Theaters der Potentialität.
4 Vgl. Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften. Bd. VI, S. 539. 5 Im Rahmen dieses Aufsatzes muss ich mich dabei auf die erste Variante des Stückes, die Brecht 1938 abschließt, beschränken. Vgl. Brecht, Bertolt: Leben des Galilei. In: GBA 5, 7105.
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Vom Lehrstück zum Broadway: Archäologie des Erfolgsstückes Leben des Galilei Der Moment, in dem Brecht innerhalb von drei Wochen Leben des Galilei schreibt, ist einer der größten Isolation. Von ihr zeugen die Notizen Walter Benjamins, der mit Brecht 1938 den Sommer in Svendborg verbringt, aber auch ein Brief Margarete Steffins an Benjamin, in dem sie schreibt, es »wäre wichtig, daß er [Brecht] dies Nest endlich verließe. Ich predige dauernd: Amerika!«6 Nicht nur ist Brecht in Svendborg fernab von beinahe allen Freunden und Weggefährten, von Bühne, Publikum und Zeitgenossen anderer Disziplinen, er ist vor allem auch doppelt isoliert: Als vor den Nazis geflohener, politisch verfolgter Exilant, aber auch als marxistischer Künstler, der sich über die Vorgänge in Moskau keine Illusionen macht. Er weiß, dass seinen Freunden dort der Prozess gemacht wird, dass sie verhaftet oder ermordet worden sind.7 Er sieht sich angesichts des Schweigens über Stalin, auf dessen »rote Armee« er im Kampf gegen Nazi-Deutschland hoffen muss,8 dem Vorwurf des Opportunismus ausgesetzt.9 Er weiß aber auch, dass er in Dänemark nicht wird bleiben können, da die Pässe von Helene Weigel und dem Sohn Stefan am 12. April ablaufen.10 In diesem Moment macht sich Brecht auch selbst daran, die Übersiedelung in die USA vorzubereiten, an der mehrere seiner Freunde bereits seit geraumer Zeit arbeiten. Und an genau diesem Nullpunkt öffnet sich für ihn durch eine Begegnung im Exil die Aussicht, dort Fuß fassen zu können. Sie wird prägend für die Form des Galilei werden. Ferdinand Reyher, dem er in Kopenhagen von seinem Stückplan über Galilei erzählt, schlägt ihm vor, dazu ein Exposé zu einem »Film zu schreiben, für den sich in den USA möglicherweise ein Produzent finden ließe« (GBA 5, 335). Innerhalb von drei Wochen schreibt Brecht das Stück und schickt es dem Bekannten mit der Bemerkung: »Sie können aus der ›Galilei‹Sache sehen, in welcher Isolierung man heute auf diesem abwirtschaftenden Kontinent sitzt. Ihr kameradschaftliches Interesse in Kopenhagen genügte, mich sofort zu einer doch immerhin ganz umfangreichen Arbeit zu ermuntern.« (GBA 29, 120) Im zeitgleich verschickten Brief an Herbert Levi wird er noch deutlicher und spricht davon, »der Versuchung erlegen« zu sein, »wieder einmal 6 Zit. nach Hecht, Werner: Brecht Chronik. 1898–1956. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1997, S. 561. Margarete Steffin wird, als es so weit ist, auf der Reise in die USA in Moskau sterben. 7 Vgl. Brecht, Bertolt: Arbeitsjournal, S. 27f.; Hecht, Werner: Brecht Chronik. S. 560. 8 Vgl. Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften. Bd. VI, S. 536. 9 Vgl. Held, Walter: Stalins deutsche Opfer und die Volksfront. In: »Unser Wort« Nr. 4–5, Oktober 1938, S. 8. Zit. nach: Pike, David: Brecht and Stalin’s Russia: The Victim as Apologist (1931–1945). In: beyond brecht. Über Brecht hinaus. In: »Brecht Yearbook« Nr. 12, Detroit, München: Wayne State University Press, edition text + kritik 1982, S. 143–196, hier S. 196. 10 Vgl. Hecht, Werner: Brecht Chronik, S. 560.
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zu probieren, Kontakt mit dem Theater zu gewinnen.« (GBA 29, 121) Das heißt genauer, ein Stück um eine »Riesenrolle« herum zu schreiben, mit einem klaren Kalkül: »[…] wenn man an einen einflußreichen großen Schauspieler damit käme, würde er vielleicht etwas für eine Aufführung tun.« (GBA 29, 119) Allerdings auch mit Zweifeln: »Aber vielleicht hängen Aufführungen in Amerika nicht wie in Europa von Schauspielern ab?« (GBA 29, 119) Reyher wie Levi schlägt er in jedem Fall vor, das Stück »einflußreichen großen Schauspielern« (GBA 29, 119) in den USA und Großbritannien vorzustellen: »Ich stelle mir vor, daß man (z. B. Viertel) an Laughton damit herankommen könnte. Homolka wäre auch ein sehr guter Galilei.« (GBA 29, 121) Welcher »Versuchung« Brecht »erlegen« war, wofür er sich nun, und sei’s gespielt, in einer religiösen Metapher anklagte und was der Notiz im Arbeitsjournal zufolge »opportunistisch« war, wird deutlich, wenn man vergleicht, was ihn im Fall der zwei kritisierten Stücke jeweils dazu bewogen hat, den »standard technisch« zu senken: Die Gewehre der Frau Carrar (Vgl. GBA 4, 305–337) war eine auf die Bitte von Slatan Dudow hin für »eine deutsche Truppe in Paris« verfasste Auftragsarbeit. Eine ganz konkrete historische Situation ließ Brecht ein Stück aktivistischen Theaters verfassen, das er in den Dienst der Unterstützung des Kampfes gegen den Faschismus stellte: Als Akt der Solidarität mit den antifaschistischen Kämpfen verfasste er die szenische Aufforderung, den Gegnern Francos Waffen zu liefern. Aber Brecht schickt dem Stück – man könnte sagen: entschuldigend – im Paratext voraus: »Es ist aristotelische (Einfühlungs-)Dramatik.« (GBA 4, 306) Und er macht Vorschläge, wie die »Nachteile dieser Technik […] bis zu einem gewissen Grad ausgeglichen werden« können: Durch einen gleichzeitig gezeigten »Dokumentenfilm« oder eine »propagandistische […] Veranstaltung«. (GBA 4, 306) Niedriger als »der höchste standard technisch«, Brechts Zitat lässt hier keinen Zweifel, ist die Technik der »aristotelischen Einfühlungsdramatik«. »Aristotelisch« wie »Dramatik« gebraucht er dabei im Sinne des 18. Jahrhunderts.11 Es deutet auf die Einheit von Zeit, Raum und Handlung hin, die durch den Vorgang des Brotbackens naturalistisch vor Augen gestellt wird: Der Teig, den Frau Carrar zu Beginn in den Ofen schiebt, wird am Ende, als Brot gebacken, herausgeholt. Dabei baut Brecht das Stück so, dass sich die pazifistische Haltung der Frau Carrar in den Dialogen immer weiter verstärkt, bis sie am Ende, abrupt, unter dem Eindruck des Todes ihres Sohnes, in ihr Gegenteil kippt. Es ist, als sollte uns jedes erdenkliche Argument gegen den Griff zu den Waffen vor Augen geführt werden, um schließlich im Augenblick des Point of no 11 Vgl. zu einer Korrektur dieser Aristoteles-Auffassung und der tatsächlichen Affinität zwischen Aristoteles und Brecht: Hamacher, Werner: Das eine Kriterium für das, was geschieht. In: Ebert, Olivia / Holling, Eva / Müller-Schöll, Nikolaus / Schulte, Philipp / Siebert, Bernhard / Siegmund, Gerald (Hg.): Theater als Kritik. Theorie, Geschichte und Praktiken der Ent-Unterwerfung. Bielefeld: Transcript 2018, S. 19–36.
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Return entkräftet zu werden, wenn sich Frau Carrar entschließt, in den Krieg zu ziehen. Dabei ist, folgt man dem Paratext, die »geweißnete […] Stube«12 der Frau Carrar ein Guckkasten, genauer: ein White Cube13, der ausstellt, was sich darin vor den Augen der Zuschauenden abspielt. Es erscheint als eine Folge von Tableaus im Sinne Denis Diderots und der Weimarer Klassik.14 Allerdings wird der so angelegte technische »Opportunismus« des Stückes vielfach gebrochen: Die Stube wird durch ein offenes Fenster entgrenzt, das ein schwarzes Loch in den weißen Kubus einfügt. Von draußen hört man Kanonendonner, die Reden der Generäle und die Musik der internationalen Brigaden. Dorthin schaut und horcht die Carrar beständig, es sei denn, eine andere Tätigkeit hindert sie daran. Dann muss ihr Sohn Paolo für sie ans Fenster. Alle spielen hier insofern, trotz des klassizistischen Rahmens, im epischen Stil des »Nicht-Sondern«15, als sie mit dem, was sie tun, noch eine andere, gegenläufige Handlung oder Absicht verbinden, an anderes denken, auf anderes schauen. Episch ist auch die Figurenzeichnung: Keine der Figuren in diesem Stück und seiner späteren Inszenierung ist ganz integer. Jede hat Recht.16 Das heißt auch: Die gegenteilige Handlung wird mit in die Handlung des Stückes aufgenommen. Das es könnte auch anders sein bleibt im Entschluss am Ende enthalten. Die Küche mit dem geöffneten Fenster zum Krieg kann dabei zugleich als Mise en abîme des Stückes selbst gelesen werden: Es ist als Ganzes nicht einfach aus sich heraus zu verstehen. Vielmehr ist es ein Stück, das als Stück auf eine einmalige historische Situation antwortet, ein Kunstopfer des Emigranten Brecht für den Krieg gegen Franco. Das Fenster in der White Box steht für die Öffnung, die Brecht sich mit diesem »technischen Rückschritt« im Angesicht höchster Dringlichkeit erlaubt. Es ist ein gefährliches Zugeständnis an die Zeitläufte, wie sich später zeigen wird: Das Stück wird »eines seiner meistgespielten Stücke«17 in SBZ und DDR, 12 Ebd., S. 307. 13 Vgl. zum White Cube: O’Doherty, Brian: Inside the White Cube. The Ideology of the Gallery Space. Berkeley, Los Angeles: University of California Press 1986; Steyerl, Hito: Black Box und White Cube. Kunst und Kino. In: Steyerl, Hito: Die Farbe der Wahrheit. Dokumentarismen im Kunstfeld, Wien: Turia + Kant 2008, S. 101–111. 14 Vgl. Heeg, Günther: Das Phantasma der natürlichen Gestalt. Körper, Sprache und Bild im Theater des 18. Jahrhunderts. Frankfurt/Main, Basel: Stroemfeld 2002, S. 76–80; Barthes, Roland: Diderot, Brecht, Eisenstein. In: Barthes, Roland: Écrits sur le théâtre. Paris: Éditions du Seuil 2002, S. 332–339. Vgl. zu einer ungerechten, jedoch in ihrer Polemik brechtischen Kritik von Brechts so vorweggenommener »Theatervorstellung« nach 1954: Schleef, Einar: Droge Faust Parsifal. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1997, S. 182–184. 15 Vgl. Brecht, Bertolt: Kleines Organon für das Theater, GBA 23, S. 65–97, hier S. 87. 16 Vgl. zu diesen zwei Aspekten eines epischen Theaters nach Brecht: Müller, Heiner: Gesammelte Irrtümer 3. Interviews und Gespräche. Frankfurt/Main: Verlag der Autoren 1994, S. 189; Kluge, Alexander / Müller, Heiner: »Ich bin ein Landvermesser«. Gespräche mit Heiner Müller. Neue Folge. Hamburg: Rotbuch 1996, S. 24. 17 Vgl. dazu den Kommentar zum Stück in: GBA 4, 517.
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Teil des Repertoires im musealisierten Berliner Ensemble und sein Erfolg wird von Brechts traditionalistischen Gegnern in der Kulturpolitik der DDR gegen ihn und seinen Nachruhm genutzt. Doch die Motive sind klar: Im Kampf gegen den Faschismus muss ein Künstler seine Kunstüberzeugungen ebenso opfern wie Frau Carrar ihren Pazifismus. Das einzige, was ihm bleibt, ist, das Opfer mit in den Text zu schreiben, lesbar für die, welche zu lesen verstehen. Blickt man auf Brechts Rezeption, so bleibt dieses Kunstopfer trotz des großen Nachkriegserfolgs in der DDR ein Nebenweg, der allein seine Kunst nicht beschädigt hätte. Anders verhält es sich mit Leben des Galilei: Dieses Stück wird ursprünglich als Lehrstück18 geplant, als Stück »für Arbeiter«19, nun wird es auf die narzisstische Befriedigung eines nach einer »Riesenrolle« (Vgl. GBA 29, 120) suchenden bürgerlichen Starschaupielers hin umgeschrieben und mit seinen »interieurs«, seiner »atmosphäre« und seiner »einfühlung« zur Kontaktanbahnung (Vgl. GBA 29, 120) verwendet. Was Brecht als »technisch große[n] rückschritt« und als »opportunistisch« geißelt und was ihn davon träumen lässt, »das stück vollständig neu« zu »schreiben«, ist die Erkenntnis, dass er mit diesem Stück um des Erfolgs willen seine künstlerische Entdeckung geopfert hat, seine größte Erfindung, die Theodor W. Adorno treffend auf die Formel brachte: »das Lehrstück als artistisches Prinzip.«20 Das wird Wirkung zeigen, die über die Nachkriegszeit hinaus reicht: Mit diesem Bewerbungsbrief bei Broadway und Hollywood entsteht ein Stück, dessen internationaler Erfolg Brechts politische Wirkung für Jahrzehnte behindern, ihn von der Entwicklung des Theaters in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und des beginnenden 21. Jahrhunderts abschneiden und seine Kunst wie sein Erbe beschädigen wird, bis heute, vielleicht irreversibel.21
Brechts und Galileis »Opportunismus« Was aber meint Brecht mit den »interieurs«, der »atmosphäre« und der »einfühlung«, mit denen er für sich den »opportunismus« des Stücks beschreibt? Vergleicht man die frühen Entwürfe, insbesondere der »fassung für arbeiter«, mit dem Stück, so entdeckt man schnell, wie sich um das Skelett des Plans in der ersten Variante des fertigen Stückes Elemente der Komödie ranken, Nebenfiguren wie der dumme reiche Schüler Doppone, Nebenhandlungen, die Virginias 18 Vgl. den frühen Szenenplan in: Brecht-Archiv 426/57 sowie den Kommentar zur Entstehung in: GBA 23, 334. 19 Vgl. Brecht-Archiv 366/13. 20 Adorno, Theodor W.: Engagement. In: Adorno, Theodor W.: Noten zur Literatur. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1981, S. 409–430, hier S. 419. 21 Vgl. ausführlicher zu dieser Beschädigung: Müller, Heiner: Fatzer + Keuner. In: Müller, Heiner: Material. Herausgegeben von Frank Hörnigk. Leipzig: Reclam 1989, S. 30–36.
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Heiratspläne betreffen, oder Galileis Schlauheit im Umgang mit Herrschern und Klerus vorführen, atmosphärische Ausschmückungen dessen, was man mit Brecht als »Fabel«22 bezeichnen könnte. Sie lassen das Stück in seinem Sinne »kulinarischer« werden, zum abendfüllenden »Schauspiel« (GBA 5, 7), angelegt um einen Protagonisten, den wir in seinem komplexen Innenleben kennenlernen, statt – wie noch im frühen Stücktitel »Die Erde bewegt sich« geplant – zu einem Lehrstück, das, einer Parabel gleich,23 das, was zu erweisen wäre, im Wechselspiel von Demonstrationen und Chören bzw. »Dokument« und »Kommentar«24 vor Augen führte. Soviel zu »interieur« und »atmosphäre«. Komplexer ist das Problem der Einfühlung. Leben des Galilei ist mit Sicherheit ein Stück, dessen »dramatische[r] Rahmen«, wie Albert Einstein es formulierte, »ungemein fesselnd ist«25, anders, mit Brechts Worten gesagt: dessen Strategien des Banns und der Manipulation der Zuschauenden sich kaum jemand wird entziehen können. Und genau diese Qualität, Einfühlungstheater par excellence zu sein, dürfte aus Brechts Sicht auch sein Problem sein. Um sich von ihr exemplarisch ein Bild zu machen, muss man deshalb bei der Suche nach dem, was im Stück Brechts abfälliges Urteil rechtfertigt, überall dorthin schauen, wo das Stück nach Maßgabe klassischer – das heißt aus Brechts Sicht »rückschrittlicher« – dramaturgischer Betrachtung besonders stark ist. Das ist zunächst einmal die zentrale Szene des Widerrufs. Sie zeigt Brecht auf dem Gipfel der dramatischen Kunst: Sie beginnt – allerdings nachdem ein epischer Titel ihr Ende bereits vorwegnimmt – mit dem Gespräch der Schüler Galileis über die Frage, ob er widerrufen wird. Sie tauschen die Befürchtungen über das, was ihm droht, aus, überlegen, wann er hätte anders handeln können. Ihr Gespräch füllt die Minuten, die sie vom Moment trennen, an dem die Glocken läuten sollen, falls er widerruft. Die Zeit der Darstellung deckt sich hier mit der dargestellten Zeit. Die verheerende Aussicht auf einen Widerruf wird Stück für Stück als das etabliert, was sie in den Augen der Schüler wäre: Das Ende jenes Neubeginns, den Galilei zu Beginn angesprochen und den Brecht in seiner Arbeitsjournalnotiz zitiert hat, mit den Worten: »O Frühe des Beginnens! O Hauch des Windes, der von neuen Küsten kommt!« (Vgl. GBA 5, 11 und 91)26 Seine Standhaftigkeit dagegen wäre das Zeichen, dass man »mit Gewalt […] 22 Vgl. Brecht, Bertolt: Das kleine Organon, sowie [Weitere Nachträge zum Kleinen Organon], GBA 23, 292. 23 Vgl. zu Galilei als Parabel Lehmann, Hans-Thies: Brechts Galilei. In: Lehmann, Hans-Thies: Brecht lesen. Berlin: Theater der Zeit 2016, S. 203–221. 24 Vgl. zum Verhältnis von Dokument und Kommentar, insbesondere in Brechts Fatzer: Wilke, Judith: Brechts »Fatzer«-Fragment. Lektüren zum Verhältnis von Dokument und Kommentar. Bielefeld: Aisthesis 1998. 25 Zit. nach Hecht, Werner: Brecht Chronik. Ergänzungen. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2007, S. 34. 26 Vgl. mit einer kleinen Abwandlung Galilei ebd. S. 11. Vgl. Brecht, Bertolt: Arbeitsjournal, S. 32.
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nicht ungesehen machen« kann, »was gesehen wurde.«27 Wenn der Augenblick der Entscheidung naht, »verstopfen« sie »sich die Ohren«, warten, atmosphärisch begleitet vom murmelnden Beten Virginias, die des Vaters Widerruf erhofft.28 Dann ist die Stunde gekommen, Brecht steigert mit einem retardierenden Moment noch einmal die Spannung, zeigt den Enthusiasmus, der die Wartenden nun, wo Galilei der Folter getrotzt zu haben scheint, alle Befürchtungen und alle Erwartungen für den Fall, dass Galilei widerruft, frei aussprechen lässt: »es geht nicht mit Gewalt! […] Jetzt beginnt wirklich die Zeit des Wissens […] ich war voll Sorge […] Ich aber wußte es.«29 Satz für Satz häufen die Schüler mit an Schiller erinnerndem Pathos an, was der Widerruf bedeutet hätte: »Der Mensch hebt den Kopf, der gepeinigte, und sagt: ich kann leben. So viel ist gewonnen, wenn einer Nein sagt!«30 – Dann läuten die Glocken. Der Widerruf wird verlesen. Nach dieser Inszenierung in einer Art von Mauerschau, bei der das eigentliche Ereignis außen vor bleibt, während seine Wirkungen sich im Widerhall bei Galileis Gefährten zeigen, lässt Brecht Galilei wiederkehren, »völlig, beinahe bis zur Unkenntlichkeit, verändert durch den Prozeß«31. Nicht minder effektvoll inszeniert Brecht die Machenschaften, welche verhindern, dass Galilei, wie es dem Titel der 11. Szene zufolge sein Wille ist, seine Gründe und Beweise dem neuen Papst, einem Mathematiker, vorbringen kann. Er lässt den Inquisitor dem Papst unterbreiten, weshalb Galilei auf jeden Fall widerrufen muss. Der Inquisitor ist derjenige, der Galileis Revolution am besten versteht, besser als der Papst, dem er erst erklären muss, dass die Zahlen »vom Zweifel kommen«, wobei der »Zweifel« in seiner Rede durch die Assonanz an die Stelle des Teufels tritt. »Sollen wir die Gesellschaft auf den Zweifel begründen und nicht mehr auf den Glauben?«32, fragt er rhetorisch und erweist sich darin als symmetrischer Gegenspieler Galileis, der gleich zu anfangs verkündet, dass der »Zweifel« eben da sitze, »wo der Glaube tausend Jahre gesessen hat.«33 Wie alle Figuren der herrschenden Klasse in Brechts Stücken ist der Inquisitor eine satirisch gezeichnete Figur voller Witz, wenn er etwa den Katechismus unter dem Vorzeichen des Zweifels umschreibt: »›Du bist mein Herr, aber ich zweifle, ob das gut ist. Das ist dein Haus und deine Frau, aber ich zweifle, ob es nicht mein sein soll.‹«34 Brecht inszeniert den advocatus dei gewissermaßen als advocatus diaboli im Aufklärungskontext. Er gleicht als der aufgeklärteste Gegner Galileis der 27 28 29 30 31 32 33 34
Ebd. Vgl. ebd., S. 92. Ebd. Ebd. Ebd., S. 93. Ebd., S. 86. Ebd., S. 10. Ebd., S. 86.
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Witwe Begbick in Mann ist Mann und Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny, Mauler in Die heilige Johanna der Schlachthöfe, dem Reishändler in der Maßnahme, der Verbrecherwelt in der Dreigroschenoper und Mutter Courage im gleichnamigen Stück sowie vielen anderen. Wie der Teufel im Jahrmarkttheater verkündet er die Erkenntnis aus der Gegenperspektive: Mit den Maschinen wollen sie Wunder tun. Was für welche? Gott brauchen sie jedenfalls nicht mehr, aber was sollen es für Wunder sein? Zum Beispiel soll es nicht mehr Oben und Unten geben. Sie brauchen es nicht mehr. Der Aristoteles, der für sie sonst ein toter Hund ist, hat gesagt (und das zitieren sie mitunter): Wenn das Weberschifflein von selber webte und der Zitherschläger von selber spielte, dann brauchten allerdings die Meister keine Gesellen und die Herren keine Knechte. Und so weit sind sie jetzt, denken sie.35
Es dürfte kein Zufall sein, dass der Inquisitor Aristoteliker ist, wenngleich einer, der Aristoteles nicht minder einseitig liest als das von Brecht in seinem antiaristotelischen Ansatz umgebildete dramatische Theater des 18. Jahrhunderts. In jedem Fall können er und Galilei als die zwei Antipoden eines Lehrstücks betrachtet werden. Gegen die lange Zeit vorherrschende Interpretationsfolie, wonach das Stück als Historiendrama, Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Wissenschaft und Politik oder Intelligenz und Faschismus zu lesen wäre, haben Günther Heeg und Hans-Thies Lehmann zurecht argumentiert, dass das Stück tatsächlich viel eher als Selbstportrait Brechts im Spiegel Galileis zu lesen ist36 sowie im Kern als Auseinandersetzung mit dem Verhältnis zum Stalinismus.37 Beide Analysen, an die jede weitere Auseinandersetzung mit dem Stück anknüpfen muss, legen wieder frei, was Hanns Eisler im Gespräch mit Bunge auf den Begriff brachte, dass es in der ersten Fassung um »Die Schlauheit des Überlebens«38 ging: »Die Physik ist nur der Aufhänger, das Thema, mit dem ein Mensch gezeigt wird, der mit einer großen Macht kämpft, sich verändert, deformiert, ausverkauft, den Ausverkauf bedauert und das Ausverkaufen auch decouvriert.«39 Dabei werde 1939/40 »zurückprojiziert […] in die Renaissance.«40 Was Eisler ausspart, wenn er das Stück auf die Formel bringt »Wie lang kann man kämpfen, ohne vernichtet zu werden?«41, ist, dass er dabei im selben Maße 35 Ebd., S. 86f. 36 Vgl. Heeg, Günther: Zombie Galilei. Für ein Theater der Schatten. In: Heeg, Günther: Klopfzeichen aus dem Mausoleum. Brechtschulung am Berliner Ensemble. Berlin: Vorwerk 2000, S. 143–172. 37 Vgl. Lehmann, Hans-Thies: Brechts Galilei, S. 212–214. 38 Vgl. Bunge, Hans: Fragen Sie mehr über Brecht. Hanns Eisler im Gespräch. München: Rogner & Bernhard 1970, S. 250. 39 Ebd., S. 252. 40 Ebd., S. 255. 41 Ebd., S. 250.
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Galilei wie Brecht, den Co-Verfasser der gemeinsam konzipierten Lehrstücke, beschreibt. Die Parallele umfasst augenscheinlich das Detail der getürkten Erfindung des Fernrohrs, die dem »Plagiat« der Dreigroschenoper vergleichbar ist, insofern sie ihrem Autor die Mittel verschafft, die es braucht, um unbeschränkt forschen zu können – in Brechts Fall sich statt weiteren Erfolgsstücken der Serie der Lehrstücke, Fatzer und Brotladen zuzuwenden. Ähnlich sind sich Galilei und Brecht aber auch in ihrer experimentellen Arbeitsweise und ihrem manischen42 Arbeitseifer und darüber hinaus methodisch in der Maxime, wonach es in der Wissenschaft nicht darum gehe, »der unendlichen Weisheit eine Tür zu öffnen, sondern eine Grenze zu setzen dem unendlichen Irrtum.«43 Die Grenze wird gesetzt durch einen radikalen Zweifel, der sich aus nichts anderem rechtfertigt als aus der Unmöglichkeit eines »göttlichen Tricks«44 bzw. einer nicht bezweifelbaren Wahrheit. Wenn Galilei aber eine Projektion Brechts war, dann trifft Lehmanns Charakterisierung, dass es »um ein im politisch-pragmatischen Sinne ›richtiges Verhalten‹, nicht um persönliche Moral« gehe, und um »unlösbare Konflikte innerhalb des eigenen Denkens, des marxistischen, kommunistischen Denkens«45 den Punkt nur bedingt: Das Stück verhandelt aus heutiger Sicht unbestreitbar die Auseinandersetzung mit der stalinistischen Macht, wie sie Brecht in den für ihn nachgerade unbegreiflichen »Moskauer Prozessen« beobachten konnte. (Vgl. GBA 22, 365–369) Er weiß um seine Freunde und Bekannten, die verschwunden sind,46 und die »Arbeitermonarchie« UDSSR, eine »Diktatur über das Proletariat«47 ist die Folie, auf der Brecht die Machtverhältnisse im Italien des Galilei zeichnet. Doch was er beschreibt, ist vor allem, welche Beschädigung diese Macht ganz spezifisch ihm zugefügt hat. Wenn er zu Benjamin sagt: »Von meinem Standort kann ich nicht zugeben, daß Shakespeare grundsätzlich eine größere Begabung gewesen sei. Aber auf Vorrat hätte er auch nicht schreiben können. Er hat übrigens seine Figuren vor sich gehabt. Die Leute, die er dargestellt hat, liefen herum […]«48, so beschreibt er damit auch das Dilemma der 42 Vgl. Brecht, Bertolt: Arbeitsjournal, S. 538. 43 Vgl. Müller-Schöll, Nikolaus: Das Theater des ›konstruktiven Defaitismus‹. Lektüren zur Theorie eines Theaters der A-Identität bei Walter Benjamin, Bertolt Brecht und Heiner Müller. Frankfurt/Main, Basel: Stroemfeld 2002, S. 307–324. 44 Vgl. Haraway, Donna: Situiertes Wissen. Die Wissenschaftsfrage im Feminismus und das Privileg einer partialen Perspektive. In: Hammer, Carmen / Stieß, Immanuel (Hg.): Donna Haraway. Die Neuerfindung der Natur: Primaten, Cyborgs und Frauen. Frankfurt/Main: Campus 1995, S. 73–97, hier S. 80. 45 Lehmann, Hans-Thies: Brechts Galilei, S. 206. 46 Vgl. Brecht, Bertolt: Arbeitsjournal, S. 27f.; Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften. Bd. VI, S. 538. 47 Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften. Bd. VI, S. 539. 48 Ebd.
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Figurenzeichnung seines Galilei: Er konnte in ihm nur die eine Figur beschreiben, die er noch vor sich hatte, sich selbst. Und dies als Person, für die galt, was er als Antwort auf den Vorwurf der »Dekadenz« formulierte, dem die Vorstellung organischer Blüte zugrunde lag: die literatur blüht nicht, […] man sollte sich hüten, in alten bildern zu denken. die vorstellung von der blüte ist einseitig. […] abstieg und aufstieg sind nicht durch daten im kalender getrennt. diese linien gehen durch personen und werke durch.49
So interessiert Brecht an Politik war, so wenig waren anderseits seine Stücke Schlüsselstücke in dem Sinne, wie das an Brecht anknüpfende Regietheater der 70er-Jahre die große Politik verhandelte. Vielmehr ging die Politik vermittelt über das Dispositiv,50 mit dem er sich auseinandersetzte, in seine Stücke ein. Und hier waren es in erster Linie Lukács und Stanislawski, mit denen Brecht zu kämpfen hatte. Brecht verabscheut die sowjetische Kulturpolitik.51 Er konstatiert, dass das, was bei Stanislawski dem Verstand entgegengesetzt wird, das Gefühl, allemal vermittelt über den Verstand eingesetzt wird. Man könnte sagen, dass der Verstand für ihn das Supplement des Gefühls ist.52 Anlässlich eines Artikels über Stanislawski zu dessen Tod notiert er: »sein orden ist ein sammelbecken für alles pfäffische in der theaterkunst. der verstand wird in seiner ›methode‹ nicht etwa unterdrückt, er ist der ›kontrolleur‹.«53 Es ist wohl nicht übertrieben, wenn man sagt, dass die Schule Stanislawskis Brecht die Anschauung seiner Darstellung der Gegner Galileis lieferte: die verlogenheit der stanislawskischule mit ihrem kunsttempel, wortdienst, dichterkult, ihrer innerlichkeit, reinheit, exaltiertheit, ihrer natürlichkeit, aus der man immer fürchtet und fürchten muß ›draus‹ zu kommen, entspricht ihrer geistigen zurückgebliebenheit, ihrem glauben an ›den‹ menschen, ›die‹ ideen usw. das ist ›echter‹ naturalismus, die natur ist der große unbekannte, er wird imitiert, indem man seinen falschen bart imitiert.54
Aus Brechts Worten sprechen Wut und Ohnmacht desjenigen, der bei den Marxisten, also bei den ihm – vermeintlich – nahestehenden Denkern und Politikern, mit der Zumutung einer Kulturpolitik zu tun hat, die ihm einen »Realismus« als Norm und Maß vorschreiben möchte, den er als eine Ideologie des Naturalismus ansieht. Und genau vor diesem Hintergrund wird nun die harsche 49 Brecht, Bertolt: Arbeitsjournal, S. 23. 50 Vgl. zum hier verwendeten Dispositiv-Begriff: Müller-Schöll, Nikolaus: Das Dispositiv und das Unregierbare. Vom Anfang und Fluchtpunkt jeder Politik. In: Aggermann, Lorenz / Döcker, Georg / Siegmund, Gerald (Hg.): Theater als Dispositiv. Dysfunktion, Fiktion und Wissen in der Ordnung der Aufführung. Frankfurt/Main: Peter Lang 2017, S. 67–88. 51 Vgl. Brecht, Bertolt: Arbeitsjournal, S. 19–23. 52 Vgl. ebd., S. 24f. 53 Ebd., S. 24. 54 Ebd., S. 25.
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Kritik der eingangs zitierten Notiz verständlich: Sein »opportunismus« ist dem Widerruf Galileis vergleichbar, es ist das Einknicken vor der hier unverblümt kritisierten Pfaffenschule in der Theaterkunst. Das heißt nicht, dass Brecht sich die Einfühlung gänzlich verboten hätte. In einer im Jahr der Niederschrift des Galilei-Stückes verfassten Notiz Über Fortschritte hält er fest: Im Drama fing ich an mit einem fünfaktigen Stück mit einer Mittelpunktsfigur, einem Plot ältester Art (dem Enoch-Arden-Motiv) und einem aktuellen Milieu. Nach einiger Zeit war ich soweit, daß ich sogar die Einfühlung aufgab, an die selbst die weitest Fortgeschrittenen noch glaubten. Ich gab das Alte, bei aller Liebe zum Neuen, nicht ohne zähes Daranfesthalten bis zum Scheitern auf. Als ich für das Theater mit der Einfühlung beim besten Willen nichts mehr anfangen konnte, baute ich für die Einfühlung noch das Lehrstück. Es schien mir zu genügen, wenn die Leute sich nicht nur geistig einfühlten, damit aus der alten Einfühlung noch etwas recht Ersprießliches herausgeholt werden konnte.55
Die Notiz verdeutlicht, worin der spezifische »Opportunismus« des Galilei-Stückes lag: Darin, dass die Einfühlung, eine »bis zum Scheitern« erprobte Technik, von Brecht aus der Mottenkiste des abgelegten Theaterrepertoires wieder in ein »Schaustück« eingebaut worden war, und dies, um ein besonders gelungenes Stück zu schreiben – nach Maßgabe einer amerikanischen Filmästhetik und eines Schauspielertheaters. Die Notiz Brechts fährt allerdings mit einer Volte fort, die in ihrer Formulierung einen Hinweis enthält, dem weiter nachzugehen ist: »Übrigens habe ich nie etwas von Revolutionären gehalten, die nicht Revolution machten, weil ihnen der Boden unter den Füßen brannte.«56 Der Satz liest sich zunächst als Quintessenz des bis hier Beschriebenen: Revolution wäre demnach erst dann zu machen, wenn alle anderen Möglichkeiten erschöpft sind, gliche der von Marx mit einer Katachrese beschriebenen »Situation«, »die jede Umkehr unmöglich macht« und wo »die Verhältnisse selbst rufen: Hic Rhodus, hic salta / Hier ist die Rose, hier tanze!«57 Und Brecht distanzierte sich demgemäß von Revolutionären, die vorschnell das Alte aufgaben, schon bevor ihnen »der Boden unter den Füßen brannte.« Doch Brechts Formulierung ist zweideutig, denn eine zweite Lesart ist nicht minder denkbar: Dass er nichts von Revolutionären hält, welche die Revolution unterließen, »weil ihnen der Boden unter den Füßen brannte«. Betont die erste Lesart, dass eine Revolution gemacht werden muss, wenn sie nicht mehr nicht gemacht werden kann, so die zweite, dass eine Re55 Brecht, Bertolt: Über Fortschritte. In: Brecht, Bertolt: Tagebücher 1920–1922. Autobiographische Aufzeichnungen 1920–1954. Herausgegeben von Herta Ramthun. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1975, S. 225. 56 Ebd. 57 Vgl. Marx, Karl: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte. 9. Auflage Berlin: Dietz 1988, S. 23.
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volution von den Revolutionären nicht nicht gemacht werden darf, »weil ihnen der Boden unter den Füßen brannte«. Ist die erste Variante noch die Beschreibung von Brechts Verhalten bis 1937, so trifft ihn die zweite in seinem Verhalten bei der Niederschrift Galileis im Jahr 1938. Der Satz hält in einer rhetorischen Figur, die Benjamin vermutlich als »Dialektik im Stillstand«58 bezeichnet hätte, fest, was schon der Marx des 18. Brumaire zu bedenken gibt: Die Unmöglichkeit einer positiven Definition dessen, wann der richtige Moment einer Revolution gekommen ist. Und wenn Brecht fortfährt: »Ein Fehler? Ich habe immer nur Widerspruch ertragen«59, so ist es nun an der Zeit, Brechts Behauptung, er sei mit Galilei »allzu opportunistisch« gewesen, zu widersprechen.
Brechts refraktäre Praxis Vor Brechts eingangs zitierter Selbstkritik findet sich im Arbeitsjournal eine von Brecht als Wiedergabe der »aristotelische[n] Kunsttheorie« bezeichnete Passage aus der Einleitung von Hegels Ästhetik, die verdeutlicht, welcher Art Brechts Einwand gegen die Einfühlungsästhetik in philosophischer Hinsicht war. Brecht zitiert Hegel: So gibt man wohl auch für das Zusammenleben der Menschen und den Staat den Endzweck an, daß sich alle menschlichen Vermögen und alle individuellen Kräfte nach allen Seiten und Richtungen hin entwickeln und zur Äußerung bringen sollen. Aber gegen eine so formelle Ansicht erhebt sich bald genug die Frage, in welche Einheit sich diese mancherlei Bildungen zusammenfassen, welches eine Ziel sie zu ihrem Grundbegriff und letzten Zweck haben müssen. Wie beim Begriffe des Staats entseht auch beim Begriffe der Kunst das Bedürfnis teils nach einem den besonderen Seiten gemiensamen, teils aber nach einem höheren substantiellen Zwecke.60
Hegels Definition enthält die letztlich enigmatische Widersprüchlichkeit, dass sich die individuellen Kräfte in Staat wie Kunst zu einer Einheit und einem Ziel vereinen sollen. Dieser archeo-teleologisch zu nennenden Richtung auf einen »gemeinsamen« und »höheren substantiellen« Zweck und dem korrespondierend auf ein Theater für alle widersetzt sich Brecht, wenn er sein Theater als ›antiaristotelisch‹ bezeichnet. Und die Hegel-Passage verdeutlicht, dass dies zugleich ästhetische wie politische Implikationen hat.
58 Vgl. Benjamin, Walter: Was ist das epische Theater? . In: Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften. Bd. II, 2, S. 519–531. 59 Brecht, Bertolt: Tagebücher, S. 225. 60 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Ästhetik I. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1989, S. 73; vgl. Brecht, Bertolt: Arbeitsjournal, S. 31f.
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Wie elementar und zugleich wie konfliktuös aus Brechts Sicht das Verhältnis der Kunst zu dem, was er als die Politik seiner Zeit ansah, zur proletarischen Revolution, war, wird deutlich, liest man den nach der Lektüre von Lenin und Marx im Jahr 1926 verfassten Entwurf eines Vorworts zum erklärtermaßen ersten »epischen Stück« Mann ist Mann. Dort schreibt Brecht: eine proletarische kunst ist ebenso kunst wie irgendeine andere: mehr kunst als proletarisch. sie mag unnützlich sein[,] und während eines kampfes ist sie es sogar bestimmt, aber das ist ihr gleich. man könnte, mit einer geringfügigen übertreibung, sagen daß der k. die ansichten der künstler gleichgültig sind. sie ist keine sache der ansichten. […] was die künstler betrifft so halte ich es für sie am besten, wenn sie unbekümmert darum ›um die Sache des revolutionären Sozialismus, NMS‹ machen was ihnen spaß macht, sie können sonst nicht gute arbeit liefern.61
Der für Form wie Inhalt der Dichtung Brechts zentrale Konflikt zwischen Kunst und Proletariat bzw. revolutionärem Sozialismus kehrt in seinen Gesprächen im Exil in Svendborg wieder. Das geht aus zwei Passagen der Aufzeichnungen Benjamins hervor. Am 6. Juli 1934 gibt er die folgenden Überlegungen Brechts unkommentiert wieder: Ich denke oft an ein Tribunal, vor dem ich vernommen werden würde. ›Wie ist das? Ist es Ihnen eigentlich ernst?‹ Ich müßte dann anerkennen: Ganz ernst ist es mir nicht. Ich denke ja auch zu viel an Artistisches, an das, was dem Theater zu gute kommt, als daß es mir ganz ernst sein könnte. Aber wenn ich diese wichtige Frage verneint habe, so werde ich eine noch wichtigere Behauptung anschließen: daß man Verhalten nämlich erlaubt ist.62
Ganz ernst, so ließe sich ableiten, ist es jener Kunst wie jener Politik, jener KunstPolitik, deren Theorie Brecht im oben zitierten Arbeitsjournaleintrag bei Hegel wiederfindet und als aristotelisch bezeichnet. Was keinem »substantiellen Zwecke« dient, hat in ihr sein Recht verwirkt. Das ist in concreto das Artistische, letztlich das Theater selbst. Mit Brechts (Selbst-)»Behauptung« wird dagegen nicht ein weiteres Mal des Aristoteles Geringschätzung der Opsis angeprangert, sondern erneut ein der Kunst ganz allgemein eigenes Moment geltend gemacht, das er am 27. September 1934 in dem Maße genauer zu fassen versucht, wie er es als Problem einer Parabel erkennt, »in der sich die artistische Meisterschaft dadurch bewährt, daß die Elemente der Kunst am Ende sich in ihr wegheben«63, um nun seine Bedenken dagegen anzumelden. In Benjamins Worten: »Diese Bedenken einer tieferen Schicht richten sich auf das artistische und spielerische
61 Vgl. Brecht, Bertolt: Notizbücher 16–29. 1924–1926. Berlin: Suhrkamp 2021, S. 282–284 und 292. 62 Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften. Bd. VI, S. 524f. 63 Ebd., S. 531.
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Element der Kunst, vor allem aber auf diejenigen Momente, die sie teilweise und gelegentlich refraktär gegen den Verstand machen.«64 Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen wird deutlich, dass Brechts Zweifel an »Leben Galileis« einerseits, wie beschrieben, dessen Tendenz gelten, ein Theater für alle zu sein, also den Zugeständnissen an einen doppelten substantiellen Zweck, den man als Publikumstauglichkeit im Sinne der Kulturindustrie von Broadway und Hollywood, als »Realismus« im Sinne der sowjetischen Kunstideologie bezeichnen könnte. Wo es, wie im Fall des amerikanischen Theaters, nur »um den verkauf von abendunterhaltung«65 geht oder aber wo, wie unter der sowjetisch dominierten Kunstpolitik, die »Bekämpfung der Ideologie zu einer neuen Ideologie geworden«66 ist, spielt die Idee keine Rolle mehr, »daß auf dem theater die angelegenheiten eines volkes behandelt werden könnten«.67 Andererseits, und dem entgegengesetzt, gelten sie aber nicht minder der gegenläufigen Tendenz, ein Theater für keinen zu sein, in Anbetracht eines Fehlens dessen, was Brecht 1926 vage andeutet, wenn er schreibt, dass Kunst, »sowohl was ihre entstehung als auch was ihre wirkung betrifft etwas kollektivistisches«68 sei, und was er 1938 aufgreift, wenn er konstatiert, dass die Nazis ihm seine Bühne und sein Publikum geraubt hätten.69 Die Kunst, anders gesagt, ist für Brecht eine Sache des Volks.70 Umso bedeutsamer ist es, wenn Walter Benjamin an Brechts Stück diesem zufolge hervorhob, dass der »›Held‹ des Werks […] nicht Galilei, sondern das Volk« (vgl. GBA 24, 242) sei. Benjamin sieht, wie man in seinem von Brecht beglaubigten Aufsatz Was ist das epische Theater? von 1939 liest, den »wirklich epische[n] Vorgang«71 in der 13. Szene: »1633–1642. Als Gefangener der Inquisition setzt Galilei bis zu seinem Tode seine wissenschaftlichen Arbeiten fort. Es gelingt ihm, seine Hauptwerke aus Italien herauszuschmuggeln.«72 (GBA 5, 94) Weniger dem Ausgang als »den Begebenheiten im einzelnen« gelte hier die Spannung, wodurch dieses Theater anders als das tragische »mit dem
64 65 66 67 68 69 70
Ebd. Brecht, Bertolt: Arbeitsjournal, S. 243. Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften. Bd. VI, S. 538. Brecht, Bertolt: Arbeitsjournal, S. 244. Brecht, Bertolt: Die Notizbücher, S. 286. Vgl. Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften. Bd. VI, S. 539. Volk wäre hier in dem Sinn zu begreifen, in dem Kafka davon spricht, dass die Literatur eine Sache des Volkes sei, was einerseits die gesamte Bevölkerung (im Sinne der von Brecht an anderer Stelle vorgeschlagenen Ersetzung) umfasst, andererseits aber auch das arme Volk. Vgl. zu einer Klärung des »Volks«-Begriffes in diesem Sinne: Agamben, Giorgio: Was ist ein Volk? In: Agamben, Giorgio: Mittel ohne Zweck. Noten zur Politik. Zürich: Diaphanes 2002, S. 31–36. 71 Vgl. Benjamin, Walter: Was ist das epische Theater? . In: Ders: Gesammelte Schriften, Bd. II, 2, S. 532–539, hier S. 533. 72 Ebd.
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Zeitverlauf im Bund« sein und, darin dem »Mysterienspiel« vergleichbar, »die weitesten Zeiträume überspannen« könne.73 Worauf Benjamin hierbei anspielte, dürfte nicht zuletzt die im Stück selbst verhandelte Frage über das Verhältnis von Held, und Gemeinschaft sein. Der Ausspruch von Galileis Schüler Andrea: »Unglücklich das Land, das keine Helden hat.«, wird von Galilei beantwortet: »Unglücklich das Land, das Helden nötig hat.« (GBA 5, 93) Galileis Antwort zeichnet als Utopie ein Gemeinwesen, in dem, mit Brechts früheren Worten, das »allgemeine Menschenrecht auf Armut«74 gilt. Der Einzelne darf in einem solchen Gemeinwesen arm, feig, fehlbar, schwach, kurz: endlicher und insofern »asozialer«75 Mensch sein, der Staat hat auszugehen von der Existenz solcher Einzelner und sich nach ihr zu richten. Doch diese Vorstellung des Staates wird kontrastiert mit der zu Brechts Zeiten weiterhin gültigen Erinnerung Andreas, dass es zumindest noch der Helden bedarf. Die Hegelsche Staats- und Kunstvorstellung kehrt so in der im Stück als Angelegenheit des Volks verhandelten Frage des Helden wieder, als unauflösbarer Widerstreit zwischen dem Individuum in seiner je singulären Schwäche und einem Allgemeinen, das aus nichts anderem als solchen refraktären Einzelnen gebildet werden kann, deren keines jene Unendlichkeit verkörpern kann und darf, die in allen metaphysischen, das heißt in allen klassischen politischen Entwürfen von Aristoteles bis Hegel, zum Ausdruck kommt. Refraktär gegen die im Stück von Galilei propagierte Herrschaft der Vernunft erweist sich auch die Art, wie Brecht Galilei sie vertreten lässt. Ihre Spaltung wird im Stück deutlich, wenn Galilei der Absicht, Glaube durch Zweifel zu ersetzen, zum Trotz das System der Vernunft auf Glauben gründen muss: »Ich glaube an den Menschen, und das heißt, ich glaube an seine Vernunft! Ohne diesen Glauben würde ich nicht die Kraft haben, am Morgen aus meinem Bett aufzustehen.« (GBA 5, 30) Sicher nicht von ungefähr wiederholt Galilei gleich darauf diese Formulierung, ergänzt durch einen Verweis auf Gewalt: »Ja, ich glaube an die sanfte Gewalt der Vernunft über die Menschen.« (GBA 5, 31) Vernunft, so legt Galileis paradoxer Glaube nahe, kann sich nicht rein vernunftmäßig durchset73 Ebd. Der von Benjamin hier aufgebrachte Vergleich mit dem Mysterienspiel kann im Zusammenhang dieses Aufsatzes so wenig weiterverfolgt werden wie die von Benjamin angedeutete Spannung zwischen Held und Gemeinwesen. Vgl. zu dieser aber: Müller-Schöll, Nikolaus: Das Theater, S. 489f. 74 Vgl. ebd., S. 667. 75 Vgl. zu dem für Brecht wie später Heiner Müller zentralen Begriff des »Asozialen«: MüllerSchöll, Nikolaus: Das Theater, S. 411–474. Brecht begreift den Asozialen im Gegensatz zum Unsozialen als denjenigen, der auf ein selbst asoziales Gemeinwesen asozial reagiert und schreibt ihm von daher das Potential der Veränderung zu. Diese affirmative Besetzung des Begriffes stellt eine Verkehrung und Verschiebung derjenigen dar, die später zur Grundlage der Verfolgung, Inhaftierung und Ermordung der so stigmatisierten in den Lagern des NSStaates wird.
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zen, sie ist gezwungen, auf eben das zurückzugreifen, was sie zu ersetzen beabsichtigt: Glauben und Gewalt. Entsprechendes wird deutlich, wenn die Beweiskraft des Beweises nicht etwa, wie man es von einem Aufklärer erwarten würde, auf dessen Evidenz oder die Stringenz seiner Herleitung gestützt wird, sondern vielmehr auf die »Verführung, die von einem Beweis ausgeht« (GBA 5, 31). Wo die Rede eines kirchlichen Philosophen und Gegenspielers Galileis in der späteren Variante des Stückes, wonach sein Argument durch die deutsche Sprache an »Glanz« verliere, vermuten lässt, dass die Schönheit der sprachlichen Darstellung dem Argument äußerlich sei, gleichsam eine List des dogmatischen Ideologen (vgl. GBA 5, 220), da legt die Berufung auf die Verführung anderes nahe: Dass die Schönheit der sprachlichen Darstellung dem Argument nicht äußerlich ist, es vielmehr dieses supplementären76 Zusatzes bedarf, um es durchzusetzen. Doch ergänzt um diesen notwendigen Zusatz ist das Argument nicht mehr, was es zu sein vorgibt; seine Theatralität77 ent-setzt es im Moment der Setzung. Im Stück zeigt sich dies in den vielen kleinen und großen Elementen, mit denen Brecht die aristotelische Einfühlungsdramaturgie refraktär und insofern episch unterbricht: Angefangen bei den Szenentiteln, die mal vorwegnehmen, was mit Spannung danach entwickelt wird, mal konterkarieren, was folgt, über die kaum versteckten Aporien und Widersprüchlichkeiten bis zu einer grundlegenden radikalen Kritik noch des Grundes, auf dem Galilei seinen neuen Grund zu finden scheint, des Zweifels bzw. der Kritik.78 Die radikale Vernunftkritik des Brechtschen Galilei findet ihr Echo im Monolog des kleinen Mönchs. Wenn Vernunft, und allgemeiner: Aufklärung nicht in der Lage ist, sich rein aus sich selbst heraus zu begründen, und wenn sie, so sie dies behauptet, in das umschlägt, wogegen sie sich wendet, in Ideologie, dann folgt daraus ein begrenztes Recht desjenigen, der ihr, und sei’s mit bloßer Erfahrung, widerspricht. Der kleine Mönch, der die Lehre der Kirche, die dem armseligen Leben der Bauern einen Sinn gibt, gegen Galilei zu verteidigen sucht, ist insofern eine beachtliche Proletarier-Figur Brechts, als er nicht zum edlen Arbeiter stilisiert, nicht idealisiert wird. Sein begrenztes Recht liegt darin, dass die Vernunft so wenig wie die Kirche einen absoluten Beweis ihrer Aussagen
76 Vgl. zum Supplement und der damit verbundenen Logik: Derrida, Jacques: Grammatologie. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1983, S. 248–272; Derrida, Jacques : Das Supplement der Kopula: Die Philosophie vor der Linguistik. In: Derrida, Jacques: Randgänge der Philosophie. Wien: Passagen 1988, S. 175–204. 77 Theatralität wird hier im Sinne der französischen und amerikanischen Theoriediskussion begriffen. Vgl. Weber, Samuel: Theatricality as Medium. New York: Fordham University Press 2004. 78 Hier steht meine rhetorische Lektüre Brechts derjenigen entgegen, die Günther Heeg entwickelt, wenn er davon spricht, dass es »die geheime Intention des Epischen Theaters« sei, zu zeigen, »was, nein: daß die Welt im Innersten zusammenhält«. Vgl. Heeg: Zombie, S. 147.
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geben kann. Anders als die Kirche hat aber die neue Lehre, für die Galilei steht, für den Einzelnen keinen Trost und keine Hoffnung (vgl. GBA 5, 64–67). Liest man den »Widerruf« Galileis als Mise-en-abîme, die den vermeintlichen Widerruf Brechts in Szene setzt und als Teil des Stückes damit die Ästhetik des Stückes selbst, den »Ausverkauf« des Lehrstücks, im Sinne Eislers »decouvriert«79, so gewinnt die von Benjamin hervorgehobene Szene zusätzlich an Bedeutung. Wie Galilei widerruft Brecht, weil ihm der Boden unter den Füßen brennt, wird zum reaktionären Revolutionär. Doch mit dieser Katastrophe geht das Stück nicht tragisch zu Ende, es geht weiter, widersetzt sich dem Enden in der Katastrophe und weist – in einer Dialektik im Stillstand – über sich hinaus: Galilei forscht und schreibt im auferlegten Müßiggang der Inquisition weiter und sorgt dafür, dass seine Entdeckung ihn überlebt. In der mit Interieurs gezeichneten, ebenso satirischen wie rührseligen 13. Szene erfährt man, dass Galilei »noch ein Buch« (GBA 5, 103) geschrieben hat, eines, das »niemals in einem Buchladen liegen« werde: »Ich schreibe es für mich.« (GBA 5, 103) Er beschreibt es mit Brechts Vorstellung, »nicht nur in seinem eigenen Kopf, sondern auch in den Köpfen anderer zu denken« (GBA 5, 103), als »Schreibübungen« (GBA 5, 103) und will, dass Andrea dieses Vermächtnis über die Grenzen schmuggelt und, so Galilei, dafür Sorge trägt, dass »diese Blätter mit äußerster Vorsicht geprüft werden, denn sie stehen auf nichts als sich selber.« (GBA 5, 105) Damit deutet Leben des Galilei an, dass es als Stück nur den Ausschnitt einer Geschichte erzählt, eine Parabel, die über sich hinausweist, vielleicht so, wie Brecht zufolge, Kafkas Parabeln: »Sein Ausgangspunkt ist die Parabel, das Gleichnis, das sich vor der Vernunft verantwortet und dem es deshalb, was seine Geschichte angeht, nicht ganz ernst sein kann.«80 Allerdings wirft dies die Frage auf, was es mit diesem über Galileis Scheitern hinausweisenden Buch auf sich hat? Welcher Praxis korrespondiert es im Leben Brechts? Es liegt nahe, hier an zwei konkrete Blättersammlungen zu denken, Schreibübungen, die zu Brechts Lebzeiten nicht in die Buchläden kamen: Sein Arbeitsjournal und den Messingkauf. Am 20. Juli 1938 beginnt Brecht Notizen zu schreiben, die er in einem Arbeitsjournal sammelt, das erstmals 1973 als Buch unter dem Titel Arbeitsjournal erscheint. Über dessen besonderen Charakter notiert er am 21. April 1941: daß diese aufzeichnungen so wenig privates enthalten, kommt nicht nur davon, daß ich selbst mich für privates nicht eben interessiere (und kaum eine darstellungsart, die mich befriedigt, dafür zur verfügung habe), sondern hauptsächlich davon, daß ich von vorneherein damit rechnete, sie über grenzen von nicht übersehbarer anzahl und qualität
79 Bunge, Hans: Fragen Sie, S. 252. 80 Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften. Bd. II, 3, S. 1253f.
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bringen zu müssen. der letztere gedanke hält mich auch davon ab, andere als literarische themen zu wählen.81
Es ist vielleicht kein Zufall, dass Brecht in diesen Aufzählungen seine Abrechnung mit der sowjetischen Kultur- und Theaterpolitik festhält, die Nähe des »kampf[es] gegen den formalismus« mit »den national›sozialistischen‹ manövern«82 konstatiert, sich wiederholt mit Lukács auseinandersetzt, den er öffentlich nicht kritisiert, und sich gegen die Vorwürfe der »Dekadenz« ebenso wie gegen falsches Lob für sein Furcht und Elend des dritten Reiches verwehrt. – Am 12. Februar 1939 hält Brecht in seinem Arbeitsjournal fest: »viel theorie in dialogform DER MESSINGKAUF (angestiftet zu dieser form von galileis DIALOGEN).«83 Das Konvolut, in das Texte eingehen, die Brecht bereits zuvor verfasst hat und das er, weitgehend unveröffentlicht, bis zu seinem Tod fortsetzen wird, knüpft an die Zeit von Fatzer und Brotladen an, indem es das Motiv des Philosophen, der das Theater besucht, aufgreift,84 das Brecht erstmals im Fragment Aus Nichts wird Nichts (GBA 10,1, 679–718)85 in Szene setzte, von dem Walter Benjamin in seinem Aufsatz Was ist das epische Theater? berichtet.86 Wie Fatzer und Brotladen ist es, obgleich »in dialogform« verfasst, »theater nur für lehrzwecke«87, eines, das beginnt, wenn das offizielle Theater – vielleicht nicht von ungefähr ein kommerzielles Theater, in dem man mit Sicherheit den Galilei gerne gespielt hätte – beendet ist. Der Messingkauf verweist auf ein Theater, das Brecht zu Lebzeiten nicht zu schreiben vermochte, ein Theater, das die Beziehungen zwischen den Menschen in planetarischen Demonstrationen88 vor Augen führen sollte, man könnte sagen: Ein Theater als Aushandlungsstätte des Politischen. Kein politisch aktivistisches Theater also, keine Theaterillustration der unerträglichen Verhältnisse, keine Abendunterhaltung mit den Katastrophen der Welt und ihrer Ordnung, sondern ein »Laboratorium«89, vergleichbar jenem Theater der »großen Pädagogik« (GBA 10,1, 691), die Brecht zur Zeit der zwei Stücke konzipiert hat, denen er den »höchsten standard technisch« bescheinigt. 81 82 83 84 85 86 87 88 89
Brecht, Bertolt: Arbeitsjournal, S. 194. Ebd., S.12. Ebd., S.28f.; vgl. Brecht, Bertolt: Der Messingkauf. In: GBA 22,2., S. 695–869. Vgl. zu diesem Zusammenhang: Müller-Schöll, Nikolaus: Bruchstücke eines (immer noch) kommenden Theaters (ohne Zuschauer). Brechts inkommensurable Fragmente Fatzer und Messingkauf. In: »The creative spectator. The Brecht Yearbook« Nr. 39, 2016, S. 30–54. Vgl. dazu auch den Herausgeberkommentar (GBA 10,2, 1191–1197). Müller-Schöll, Nikolaus: Theaterarbeit unter Fremden. Brechts Arbeit als Dramaturg. In: »The Brecht Yearbook« Nr. 45, 2020, S. 23–36, hier S. 28–30. Vgl. Benjamin, Walter: Was ist das epische Theater? , S. 523. Brecht, Bertolt: Arbeitsjournal, S. 28. Vgl. ebd., S. 32, vgl. auch S. 29. Vgl. Benjamin, Walter: Der Autor als Produzent. In: Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften. Bd. II, 2, S. 683–701, hier S. 698.
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Arbeitsjournal und Messingkauf sind Orte einer Selbstbehauptung im Moment äußerster Isolation, geschrieben für das von Brecht und seinen Mitarbeiterinnen schon zu Lebzeiten akribisch gepflegte Archiv, das seine Arbeit begleiten, ihre Niederlagen wie ihre verworfenen anderen Möglichkeiten dokumentieren und ihre versteckten Dimensionen öffnen wird. Die beiden Konvolute, vielleicht »seine Hauptwerke« im Sinne des Galilei-Stücks, sind Verstecke für Texte, die Brecht aus historischen Gründen nicht veröffentlichen konnte, die er jedoch in die Nachwelt schmuggeln ließ, zur Prüfung »mit äußerster Vorsicht« (GBA 5, 103).
Das Theater für keinen – Brechts Messianismus Wenn das offene Fenster in Die Gewehre der Frau Carrar sowie die ausgeschmuggelten Hauptwerke und immanenten Inkohärenzen in Leben des Galilei hier als refraktäre Momente innerhalb der aufgrund ihrer Orientierung – hin auf ein »Theater für alle« – »allzu opportunistischen« Stücke betrachtet wurden, so nicht zuletzt, um die »linien von auf- und abstieg«90 in Brechts Person wie seinen Stücken sichtbar zu machen. »Auf- und Abstieg« sind dabei ihrerseits als in sich dialektisch zu sehen: Aus Sicht der älteren Brecht-Forschung im Osten wie im Westen stieg Brecht im Lauf der Jahre zu einem reifen Dramatiker auf, der dem Leben Galileis Stücke wie Mutter Courage oder Bearbeitungen und Inszenierungen wie seinen Hofmeister folgen ließ und sich mit der Regie von Strittmatters Katzgraben (GBA 25, 399–490) an die Ausgestaltung eines »sozialistischen Realismus« machte. Dem steht entgegen, dass Brecht jedem dieser Fälle eines exoterischen »Theaters für alle« esoterisch Spuren eines »Theaters für keinen« eingeschrieben hat, refraktäre Hinweise darauf, dass er die späteren Stücke als Abstieg sah, als Senkung des Standards, und Erinnerungen an das andere Theater, das zu realisieren ihm zu Lebzeiten unmöglich war. Kasimir Malevitsch, dem widerrufenden Künstler des Supprematismus, vergleichbar, der in seine späten, »realistischen« Bildern als Signatur das an sein supprematistisches Manifest und das legendäre Werk von 1915 erinnernde schwarze Quadrat einschmuggelte,91 setzte Brecht der historisch bedingten Senkung des technischen Standards Denkmäler in den Stücken: Etwa in Gestalt der trommelnden – und sich mit diesem Trommeln opfernden – Kattrin im Schlussbild der Mutter Courage92, oder im als Selbstportrait lesbaren, sich selbst entmannenden Schul90 Brecht, Bertolt: Arbeitsjournal, S. 23. 91 Vgl. Kazimir Malevich 1878–1935. Herausgegeben von Ministry of Culture USSR u. Stedelijk Museum The Netherlands. Amsterdam 1989. 92 Vgl. Müller-Schöll, Nikolaus: Das Theater, S. 240–246.
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meisters in Der Hofmeister93. Nach der Puntila-Premiere im November 1949 fragt er im Arbeitsjournal: »wann wird es das echte, radikale epische theater geben?«94 In einem unveröffentlichten Dialog der Katzgraben-Notate antwortet er auf die Vorhaltung, er arbeite nicht mit »eigentlichen Verfremdungen«, wie sie im Kleinen Organon beschrieben würden: »Nein. Wir sind nicht weit genug.« (GBA 25, 430) Die Schauspieler müssten zunächst umgeschult werden und das Publikum »Verständnis für Dialektik« entwickeln: Das Theater ist wie ein Schwimmer, der nur so schnell schwimmen kann, wie es ihm die Strömung und seine Kräfte erlauben. Im Augenblick etwa, wo das Publikum unter realistischer Darstellung noch eine Darstellung versteht, welche die Illusion der Wirklichkeit gibt, würden wir keine der beabsichtigten Wirkungen erzielen. (GBA 25, 430)
Was Brecht dabei verschweigt, wird beim Blick auf die Umstände deutlich, unter denen Brecht und Helene Weigel ihr Berliner Ensemble aufbauen: Ihr Theater muss sich nicht nur gegen die Anfeindungen der an den sowjetischen Doktrinen orientierten Kulturpolitik schützen, es muss vor allem auch trotz aller Hindernisse und Anfeindungen schnellen Erfolg haben, das Publikum erreichen. Doch dieser Erfolg ist nur zu haben auf dem Weg einer Produktion mit gesenktem Standard. Was Brechts Leben des Galilei als »Theater für alle« und für »keinen«, in seinem »opportunismus« wie seiner »refraktären« Praxis, nahelegt, ist eine beharrliche Ausgrabung jenes »Theaters für keinen«, von dem Brecht im unveröffentlichten Aufsatz aus den 20er Jahren unter dem Stichwort Der Messiasglaube in d. literatur festhält: für das ungeheure loch in der »geistes«geschichte der bourgoisie (sic!) waren + sind wir jedenfalls nicht die ausfüllung. es wird nie mehr ausgefüllt werden und wenn wir eine rolle nennen sollen die zu spielen uns zumindest übrig bleibt, ist es die, daß wir sorgen werden daß es noch erweitert wird. (GBA 25, 430)
Messianisch an Brechts Theater ist das Festhalten an einem – zu seinen Lebzeiten und bis heute – unmöglichen Theater, das jedes ihm mögliche Theater übersteigt und seine Zukunft immer noch vor sich hat. Wenn ein »Theater für alle« zu Brechts Lebzeiten wie heute kaum einer Rechtfertigung bedurfte und bedarf, weil es die Prämisse der Kulturpolitiken seit 1945 war, so hat das »Theater für keinen«, an dem Brecht in den refraktären Elementen seiner Kunst nolens volens immer festhielt, seine Rechtfertigung vermutlich in nichts als seinem Verweis auf eine immer noch kommende Gemeinschaft und eine Zu-kunft der Kunst, die ihren Zweck in sich hat. 93 Vgl. Müller-Schöll, Nikolaus: Der kastrierte Lehrmeister. Brecht, der Hofmeister und Lenz. In: »Lenz-Jahrbuch. Literatur – Kultur – Medien 1750–1850«, Bd. 23, 2016, S. 7–32. 94 Brecht, Bertolt: Arbeitsjournal, S. 558.
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Karolina Prykowska-Michalak (Łódz´)
Galileo Galilei – zwischen Natur und Kultur Immer weniger kann die Natur von der Kultur getrennt werden und wir müssen lernen, die Wechselwirkungen zwischen Ökosystemen, Mechanosphäre und sozialen wie individuellen Bezugswelten »im Querschnitt« zu denken. Félix Guattari Die drei Ökologien
Am 19. Januar 2019 inszenierte Frank Castorf am Berliner Ensemble Leben des Galilei – eines von Brechts anspruchsvollsten Stücken, das nie wirklich fertig wurde. Es lässt sich in verschiedenen Kontexten lesen. Den Ausgangspunkt für Castorf bildete das Konzept von Antonin Artaud Das Theater und die Pest.1 Auszüge aus diesem Essay wurden während der Aufführung zitiert. Der bekannte Berliner Regisseur wollte sich vom Autor der Mutter Courage etwas distanzieren und gab seiner Inszenierung den Titel Galileo Galilei – Das Theater und die Pest. Und weiter heißt es: Von und nach Bertolt Brecht mit Musik von Hanns Eisler. Dadurch sichert sich Castorf ab gegen einen Skandal, wie es ihn bei seiner jüngsten Aufführung von Brechts Baal2 gegeben hatte. Diesmal war es jedoch die Metapher des französischen Theateravantgardisten, die das Aufsehen erregen könnte: Wie die Pest ist das Theater eine Krise, die mit dem Tod oder der Heilung endet. Und die Pest ist ein höheres Leiden, weil sie eine vollständige Krise ist, nach der nichts übrig bleibt als der Tod oder eine Läuterung ohne Maß. So ist auch das Theater ein Leiden, denn es stellt das höchste Gleichgewicht dar, das nicht ohne Zerstörung erreichbar ist.3
Die Inszenierung multipliziert das Gefühl der Bedrohung, der menschlichen Ohnmacht angesichts der tödlichen Seuche. Sowohl im Inhalt der Erstfassung von Leben des Galilei (1938) als auch in Castorfs Version ist die Pest ein Element 1 Der Artikel Das Theater und die Pest Artauds erschien erstmals 1938 in dem Buch Le théâtre et son double bei Gallimard, Paris. 2 2015 inszenierte Castorf am Münchner Residenztheater Brechts Baal. Die Erben von Bertolt Brecht betrachteten die Aufführung als Verletzung ihres Urheberrechts, Peter von Becker, Urheberrecht, Urheberrecht. URL: https://www.tagesspiegel.de/kultur/frank-castorf-baal-bei m-theatertreffen-urheberrecht-urheberbrecht/11702616.html / letzter Zugriff am 20. 12. 2021. 3 Wewerka, Alexander (Hg.): Das Theater und die Pest. Mit Texten von Antonin Artaud, André Breton, Jerzy Grotowski, Heiner Müller und Anaïs Nin Kreisbändchen. Berlin: Alexander Verlag, 2020, S. 35–36.
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einer Macht, das die gesamte dargestellte Welt organisiert. Die Zuschauer müssen sich während der Aufführung mit vielen verschiedenen Problemen auseinandersetzen: mit der Verantwortung der Wissenschaft, dem Kampf um die wissenschaftliche Wahrheit, der Bedeutung der Macht, der Bedeutung der Religion sowie der Pestepidemie, die jede dieser Kategorien beherrscht und überwindet. Können diese Kategorien also auf die beiden Primate: Kultur und Natur reduziert werden, und wie sind die Begriffe Kultur und Leben bzw. Kultur und Natur gleichzusetzen? Artauds Postulat war, Kultur und Leben als gemeinsame Sphären zu behandeln, die Beziehung zwischen Künstler und Publikum neu zu definieren. Dem französischen Surrealisten dient der Begriff »Theater als Pest« dazu, die ideale Bühne der Zukunft als einen Ort größtmöglicher Kontingenz zu beschreiben, wie Matthias Warstat4 feststellt. Da sich bereits in den 1930er Jahren Artauds Postulate auf keine spezifische Theaterästhetik bezogen, weist er auch darauf hin, dass es gelte, diese Theorie als Herausforderung zu überprüfen. Castorf versucht nun, mehr oder weniger erfolgreich, Artauds Projekt für Brechts Entwicklungsprojekt Galileo zu adaptieren. Als Analysegrundlage für die hier thematisierte Theaterproduktion schlage ich das Konzept Die drei Ökologien von Félix Guattari vor, einem französischen Psychiater und Psychoanalytiker, der u. a. auf das Modell des transversalen Denkens verweist, das im Konzept von Artaud zu finden ist und auf die die Strategie von Brechts kontinuierlicher Arbeit an Galileo anwendbar ist. Ich möchte versuchen, die Arbeitsmethoden von Brecht und auch Castorf experimentell zu analysieren, um ihren Modus Operandi zu entschlüsseln.
Die drei Ökologien Der Aufsatz Die drei Ökologien (Les trois écologies) ist ein Manifest des breiten und umfassenden Verständnisses des Begriffs »Ökologie«. In dem Aufsatz plädiert Guattari für einen Wandel im Denken über die sozialen und mentalen Bereiche von Umwelt, da diese Sphären vielfältig miteinander verbunden seien. Er entwirft daher das Konzept der Ökosophie, das unter anderem vom marxistischen Paradigma der sozialen Revolution inspiriert ist und Ökologie als ethisch-politische Waffe versteht, weil »die ökologische Krise nur in planetarischem Maßstab eine wirkliche Antwort geben [kann], und nur dann, wenn sich
4 Warstat, Matthias: Krise und Heilung. Wirkungsästhetiken des Theaters. München: Wilhelm Fink Verlag 2011, S. 16.
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eine authentische politische, soziale und kulturelle Revolution vollzieht«5. Guattaris Denken steht Brechts Attitüde also recht nah. Seine Forschung offenbart einen interdisziplinären Ansatz, in dem philosophische Konzepte mit wissenschaftlichen Errungenschaften, Kunst mit künstlerischem Schaffen und der eigenen beruflichen Erfahrung kombiniert werden. Guattari zeigt auf, dass die künftige Entwicklung des Menschen Strukturen und Probleme, die viele individuelle, soziale, politische und wirtschaftliche Aspekte miteinander verbinden, immer größere Bedeutung erlangen. Seine Idee geht von der Notwendigkeit aus, sowohl auf der Makro- als auch auf der Mikroebene Maßnahmen zu ergreifen, und hierarchische Modelle abzulehnen, nach denen bestimmte Werte und Kulturen und Länder vor anderen rangiert werden. Er postuliert, die Behandlung von Leben und Umwelt als Ganzes zu behandeln sowie plädiert für die Wiederentdeckung heterogener Beziehungen, die in den bisher gebauten Strukturen fehlten. Neue Techniken, Technologien und Werkzeuge seien die komplexesten Artefakte, deren Entwicklung und Anwendung eine andere individuelle oder Gruppensubjektivität mit sich bringe. Daher sei es wichtig, durchgeführte Aktivitäten in einem transversalen System zu betrachten, wobei das Hauptforschungsfeld Interaktionen auf verschiedenen: vertikalen und lateralen umfassen müsse. Die von Guattari vorgeschlagene ökosophische Referenz zeigt die Richtungen der Neuzusammensetzung menschlicher Praktiken in verschiedenen Bereichen auf, sowohl auf individueller als auch auf kollektiver Ebene. Das Spektrum der erfassten Bereiche erstreckt sich dabei vom Aufbau des Staates und der Gesellschaft bis hin zu künstlerischen Aktivitäten.6
Modus Operandi Nach der Analyse jüngster Veröffentlichungen7, die ein rethinking von Brechts Schaffen anregen, kann davon ausgegangen werden, dass Brechts Denken eine vergleichbare Grundlage hatte. Es geht nicht nur um eine ähnliche politische Haltung, sondern auch um die Technik oder den Modus Operandi des Denkens und des Aufbaus vieler verschiedener nicht-vereinigender, nicht-vertikaler und nicht-horizontaler Systeme, auch um eine gewisse Neuzusammensetzung 5 Guattari, Félix: Die drei Ökologien (= Peter Engelmann [Hrsg.]: Passagen forum). 4. Auflage. Wien: Passagen Verlag 2019, S. 13. 6 Ebd., S. 35–44. 7 Knopf, Jan (Hg.): Der neue Brecht. Würzburg: Königshausen & Neumann 2006ff; Heeg, Günther: Klopfzeichen aus dem Mausoleum. Brechtschulung am Berliner Ensemble. Berlin: Vorwerk 2000; Heeg, Günther, (Hg.): Recycling Brecht. Berlin: Theater der Zeit 2018; Lehmann, Hans-Thies: Brecht lesen. Berlin: Theater der Zeit 2016; Wagner, Frank D.: Brecht als Philosoph. Blaufelden: Königshausen & Neumann 2021.
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menschlicher/kollektiver Praktiken in verschiedenen Bereichen, wie z. B. in Wissenschaft, Religion, Macht und Politik. Ein Beispiel für eine ständige Neudefinition von Bedeutung und damit verbundene Zweifel an dauerhaften oder eindeutigen Kategorien ist das Drama Leben des Galilei. Jan Knopf nennt es ein »nicht vorhandenes Drama«, da es eine Art Lebenswerk Brechts war. Das Problem des Wissenschaftlers, der mit dem Dilemma der Wahrheitsfindung gegen die Macht und mit der Bedrohung seines eigenen Lebens konfrontiert ist, wurde von Brecht viele Male umgearbeitet und weiterentwickelt. Die erste Fassung, die sogenannte Urfassung, entstand 1938 im dänischen Exil. In der Niederschrift findet sich der Titel Die Erde bewegt sich. Wissenschaft scheint also Grundlage des Stücks zu sein. Hans-Thies Lehmann merkt an, dass im Dezember 1938 deutsche Wissenschaftler – die Chemiker Otto Hahn und Fritz Straßmann – die Urankernspaltung entdeckten, was Brecht zu einer kleinen Korrektur der Urfassung veranlasste.8 Die Uraufführung, die im September 1943 in Zürich gezeigt wurde, trug bereits den neuen Titel Leben des Galilei. Die zweite Version der sogenannten »amerikanischen Fassung« wurde im Juli 1947 als Galileo in Coronet Theater on La Cienega Boulevard in Los Angeles gezeigt. Diese Fassung ist nach dem Atombombenabwurf entstanden – orientiert sich also unmittelbar an den historischen Ereignissen, die mit der Titelfigur verbunden waren. Dem amerikanischen Publikum entsprechend, folgte der Text ganz den klassischen dramatischen Schemata.9 In Amerika feierte das Stück indes keine besonderen Erfolge. »Die dortigen [amerikanischen] Sehgewohnheiten kamen mit der Brechtschen Methode, seiner mehr auf distanzierter Betrachtung als auf Einfühlung basierenden Theateridee nicht zurecht«10, so Lehmann. Die letzte Berliner Fassung entstand am Berliner Ensemble 1955–56, hier kehrte Brecht zu seiner Urfassung zurück, verstarb jedoch während der Arbeiten an der Inszenierung. Diese Bühnenversion hatte also mehr als nur einen Vater, viele Menschen bearbeiteten und interpretierten sie. Als authentische Informationsquelle dieser Fassung gilt die hörenswerte Bearbeitung von Stephan Suschke Brecht probt Galilei. 1955/56 aus dem Jahre 202011. Dafür wurden zweieinhalb Stunden Probenmitschnitte ausgewählt und kommentiert. Es gibt viele Studien, die den anspruchsvollen Charakter des Dramas thematisieren. So zeigt Hans-Thies Lehmann in seinem Buch Brecht lesen die grauen 8 Vgl. Lehmann, Hans-Thies: Brechts Galilei. In: Lehmann, Hans-Thies: Brecht lesen, S. 203– 221, hier S. 204. 9 Ebd., S. 216. 10 Ebd. 11 Suschke, Stephan (Hg.): Brecht probt Galilei 1955/56. Ein Mann, der keine Zeit mehr hat. Originalaufnahmen. Ausgewählt und zusammengestellt von Stephan Suschke. Berlin: speak low 2021.
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stalinistischen Zeiten als Metapher der mittelalterlichen Inquisition. An dieser Stelle seien einzelne Aspekte aus den Arbeiten herausragender Brechtologen anzuführen (Brecht lesen von Hans-Thies Lehmann und Klopfzeichen aus dem Mausoleum von Günther Heeg), die meiner Meinung nach auf die Grundlagen von Brechts transversalem Denken verweisen. Neben den ideologischen, politischen und gesellschaftlichen Motiven, die Brecht veranlasst haben, sein Studium an Galileo fortzusetzen, ist auch die Methode der Arbeit an diesem Stück wichtig. Sie besteht darin, die aufgestellten Thesen ständig zu hinterfragen – eine dialektische Technik, die sich darauf gründet, neue, zusätzliche, zusammenhängende oder getrennte Kontexte aus verschiedenen Feldern der Politik, Wissenschaft etc. aufzuzeigen. Man betrachte die Erstfassung des Dramas von 1938, in der die Hauptfigur Galileo »ein Märtyrer der Wissenschaft« sein soll, aber aufgeben muss, um sein Leben zu retten. Lehmann behauptet, dass dies nur eine scheinbare Ebene sei, die auf eine andere Ebene übertragen werden könne. »Es geht um ein im politisch-pragmatischen Sinne ›richtiges Verhalten‹, nicht um persönliche Moral.«12 »Richtiges Verhalten« betrifft aber kein Individuum, sondern eine von einer bestimmten Kraft erzeugte Haltung – zu Galileos Zeiten war es das Wissen, für Brecht – die marxistische Idee. Die Wissenschaft soll der Gesellschaft dienen – genauso wie die marxistische Ideologie. Die Inquisition ist Macht – in älteren Interpretationen des Dramas sahen Literaturwissenschaftler darin die Macht des Faschismus. In Lehmanns jüngster Neuinterpretation sind es der Terror und die Verbrechen des Stalinismus, die Brechts Botschaft zugrunde liegen und die geheime Kraft der Inquisition ausmachen. Diese Kontraste dienen nicht dem Aufbau dramatischer Spannung, sie sind nur eine von vielen Ebenen, die Brechts ständige Unzufriedenheit mit diesem Werk und den ständigen Aktualisierungsbedarf zeigen. Es entsteht die Frage nach notwendiger Aktualisierung – schließlich ist das Stück ein Parabelstück. Lehmann weist in seinem Essay auf diese Eigenschaft hin und hinterfragt die einfache Deutung vor dem Hintergrund des Kriegsendes und die Lesbarkeit des Stückes als historisches Drama.13 Die Kommunikation auf den verschiedenen Ebenen von Wissenschaft – Macht – Kunst – Wissenschaft – Politik – Wissenschaft – Religion ist transversal – ein querliegendes Denken, das sich durch die Gegenstände und Objekte hindurchzieht. »Es bricht mit horizontalen oder vertikalen Aufzählungen von Adjektiven oder Prädikaten, die versuchen, immer
12 Lehmann, Hans-Thies: Brechts Galilei, S. 204. 13 Ebd. S. 206.
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wieder ein situiertes Subjekt zu vervollständigen und festzulegen,«14 wie Birgit Wartenpfuhl schreibt. Nachfolgefassungen des Brechtschen Dramas und die Konstruktion der Titelfigur hatten mehrstufige Dimensionen. Die Urfassung wurde kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs geschrieben, als die Arbeit an Atomwaffen noch kein Thema gewesen sei, wie Lehmann bemerkt. Gerade die zweite amerikanische Version hat dem Drama vereinfachte Interpretationen auferlegt. Die englischsprachige Fassung entstand nach dem Atombombenabwurf auf Hiroshima im Jahre 1945. Die Fragen nach der Entwicklung der Wissenschaft und der damit verbundenen Risiken waren unbedingt gültig und wichtig, aber durch die Besonderheit des amerikanischen Theaters war dem Drama kein Erfolg beschieden. Die lediglich sechs Aufführungen in New York provozierten leider keine Atomwaffendiskussion. Lehmann zufolge erscheint in dieser Bearbeitung die Hauptfigur als »Kollaborateur«15. Die Eigenverantwortung des Wissenschaftlers und das gesamte Stück wenden sich psychologischen und moralischen Fragen zu – wir haben also mit einer neuen Querschnittsbewegung einer historischen Figur zu tun, womit wir zu den aktualisierten Problemen der Wissenschaft kommen: der Suche nach Wahrheit, Wissenschaftsfreiheit, der Frage der Forschungsfinanzierung. Brechts letzte Auseinandersetzung mit dem betreffenden Drama hatte offenbar ideale Rahmenbedingungen: ein vertrautes Schauspielerensemble, ein eigenes Theater – das Berliner Ensemble, das dann in den 1950er Jahren eine unvollendete Fassung entwickelte, da Brecht im August 1956 starb. Die erwähnte Aufführung fand am 15. Januar 1957 unter der Regie von Erich Engel im Berliner Ensemble statt, wobei die Titelrolle Ernst Busch übernahm. Diese Fassung, so Lehmann, sei unter dem Einfluss eines Politikwechsels während der Arbeiten an dem Stück umgebaut worden. Er verweist auf die Geheimrede von Chruschtschow – Über den Personenkult (vom 25. Februar 1956) – eine Kritik des Stalinismus. Wörtlich heißt es bei Lehmann: Nach verschiedenen Berichten von Zeugen, die bei den Proben zugegen waren, verschärfte Brecht, nicht zuletzt unter dem Eindruck dieser Enthüllungen die Kritik an Galilei zu einer tatsächlich mörderischen Analyse. Galilei erklärt er zu einem »sozialen Verbrecher«, er »haßt die Menschheit fanatisch«. Das Bild des Verbrechers sollte das des Wissenschaftlers völlig überlagern. Direkt äußerte Brecht auch jetzt nicht, dass er im Galilei Probleme der durch den Stalinismus erstarrten kommunistischen Weltbewegung behandelt hatte.16 14 Wartenpfuhl, Birgit : Dekonstruktion von Geschlechtsidentität – Transversale Differenzen. Eine theoretisch-systematische Grundlegung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2000, S. 235. 15 Lehmann, Hans-Thies: Brechts Galilei, S. 216. 16 Ebd., S. 217.
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Die indirekten Aussagen sollen den Rezipienten anregen, ihn an ähnliche Denkstrukturen heranzuführen. Brecht wollte, dass der positive Held, dass Galilei, der die Wahrheit verschleiert, als Verbrecher beurteilt wird. Lehmann nennt das »eine (typisch) Brechtsche Camouflage«17 und zitiert als Beweis eine Notiz eines Mitarbeiters des Berliner Ensembles aus der Probenzeit von 1956, in der er sich auf einen Wortwechsel zwischen Brecht und Ernst Busch (dem Darsteller des Galilei) bezieht. Brecht ließ ihn den Verbrecher spielen. Busch entgegnete, eine solche Figur stehe nicht im Text. Lehmann glaubt, es sei Galileis Haltung, die Brecht stigmatisieren wollte: »jeden Anflug von Opportunismus des einzelnen Intellektuellen gegenüber der Partei.«18 Diese von Brecht postulierte Tarnung bildete für den Betrachter ein Rätsel: wie ein Individuum einzuschätzen ist und wie es die Gesellschaft beeinflusst. Dadurch entstand eine Antithese zum epischen Theater, denn Busch als Galilei erregte Sympathie und Mitleid – was in entsprechenden Aussagen belegt ist. Einem anderen bekannten Brecht-Forscher, Günther Heeg, zufolge ist die erwähnte Berliner Fassung »Brechts weitestgehender Versuch, die Frage nach der Schuld zum Dreh- und Angelpunkt des Epischen Theaters zu machen.«19 Schuld betreffe die individuelle Einschätzung der Hauptfigur und der historischen Figur und solle ein vererbtes Merkmal der Gesellschaft sein. Vergleichbare Probleme beschreibt Guattari, wenn er von der mentalen Ökosophie spricht und darauf hinweist, dass sich die Beziehungen der Individuen zur Gesellschaft und zur Natur aufgrund der Passivität der Individuen, eines Mangels an Bewusstsein sowie der Machtbeziehungen immer weiter verschlechtern. Die Macht sollte die Probleme nicht in der Vielzahl ihrer Aspekte (d. h. ganzheitlich aus der Ferne) betrachten, sondern sie auf ihre Bestandteile herunterbrechen, um auf verschiedenen Ebenen Verbesserungsmaßnahmen zu ergreifen. Galilei – als historische Figur, an die uns das Drama jedoch ständig heranführt, und die von Brechts Dramatis Personae anders wahrgenommen wird, ist ein Beispiel für komplizierte, vielschichtige Systeme von Wissenschaft, Macht und Gesellschaft. Somit ist sie auch ein Beispiel für Guattaris These, wonach es falsch ist, einzelne Komponenten zu betrachten, wenn das Ganze dadurch in Mitleidenschaft gezogen wird. Galileo Galilei wurde erst 1992 von der katholischen Kirche rehabilitiert.
17 Ebd. 18 Ebd., S. 217. 19 Heeg, Günther: Klopfzeichen aus dem Mausoleum. Brechtschulung am Berliner Ensemble, Berlin: Vorwerk, 2000, S. 147.
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Richtungen des Theaterdenkens Eigentlich zeigt schon die Grundidee von Brecht – also das epische Theater – die verschiedenen Richtungen des Theaterdenkens. Das epische Theater, verstanden als offenes Konzept, hat das Potential für transversales Denken. Es ist ein Versuch, eine neue Ordnung einzuführen, die mit der bestehenden Theatertradition nicht im Einklang steht. Dabei muss berücksichtigt werden, dass der Begriff Theater natürlich mehrdeutig und vielschichtig ist. Es geht nicht nur um Bühnenkunst, um Theaterästhetik oder den szenischen Text, sondern auch um den Betrachter. Immer wieder neu soll Distanz hergestellt werden, sollen Spannung, Mitleiden und Illusion durchbrochen werden. Brecht war gegen die Mimesis, die Nachahmung. Und in diesem Sinne war er nah an Artauds Konzeption, die keine Nachahmung der Realität will, sondern die Realität– und die ist grausam. Zu dieser These ist festzuhalten, dass Castorf es unternimmt, ein episches Drama zu inszenieren, ohne die Wirkungen anzustreben, von denen Brecht träumte, nämlich die intellektuelle Beteiligung des Publikums. Castorf möchte, dass Kunst wie eine Pest wirkt, d. h. den Betrachter voll einbezieht, um ihn zu heilen oder zu zerstören. Das zumindest kann man dem Titel entnehmen. Castorf greift in seinem Schaffen die Herausforderungen von Antonin Artauds Theorie beständig auf. Er baut diese Aufführung aus vielen modernen Elementen (Verweise auf #MeToo-Bewegung, queere Spiele), alten Requisiten (hölzernes Fernrohr) und Artefakten. Die Hauptrolle wurde von Jürgen Holtz gespielt. Damals (Januar 2019) spielte der 86-jährige Stammschauspieler des Berliner Ensembles nicht nur den Galileo (in den meisten Szenen nackt), sondern fungierte auf der Bühne auch als Figuren-Assemblage. Der fast weiße Körper Galilei, der wie eine Papierskulptur auf einem Holzstuhl sitzt, kontrastierte mit der glamourösen, aber kahlgeschorenen Jeanne Balibar, die gleich mehrere Rollen übernahm. Diese beiden Figuren sind wie der in Guattaris Essay erwähnte Oktopus, der in den verschmutzten Hafengewässern von Marseille lebt und stirbt, wenn er in sauberes Wasser gesteckt wird. Hier sehen wir – wie in einem Standbild – den alten Körper des Schauspielers, der unsere Aufmerksamkeit fokussiert und die zentrierende Kraft dieser Darstellung ist, und den jungen Körper der Schauspielerin, der aus vielen sozialen und politischen Gründen (trans)sexuell wird und zugrunde geht.
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Assemblage Guattari will die Notwendigkeit transversalen Denkens mit den Begriffen »Agencement« und »Assemblage« präzise erklären, wobei er sich auf ein neues Modell der Beschreibung der Realität bezieht. Es ist eine Denkweise über die Wirklichkeit, in der auch zwischen Subjekt und Objekt keine objektiv binären Gegensätze bestehen, sondern performativ hergestellt werden, und die Grenzen zwischen ihren einzelnen Elementen sogar verschwimmen. Die Wirklichkeit in ständiger Bewegung wird im Kontext der gegenseitigen Interaktion heterogener Elemente zu neuen Arrangements in sozialen, politischen, technologischen, systemischen und organisatorischen Systemen. Die Castorfsche Aufführung wird allerdings nicht als Triumph der Macht des Theaters vermerkt, wie ein Zitat des Rezensenten der »Süddeutsche Zeitung«, Jens Bisky, zeigt: »Eine Kraft, die nichts Triumphierendes hat und dafür überzeugender wirkt: Jürgen Holtz als Galileo Galilei.«20 Die Technik, die Castorf anwendet, ist ähnlich. Michael Wolf von »Nachtkritik.de« beurteilt es so: Castorf setzt beide Unternehmungen parallel: Galilei strebt mit Mitteln der Wissenschaft, Artaud mit denen der Kunst nach Erkenntnis. Nicht zuletzt ist seine Inszenierung eine Selbstbefragung, eine Vergewisserung über die Relevanz, die Macht und Legitimität von Kunst. Er setzt an diesem Abend das Berliner Ensemble in den Mittelpunkt der Welt, um zu falsifizieren, ob es diesen Ort verdient hat.21
In einem Interview bekräftigt Castorf seine Intentionen: den Ausnahmezustand im theatralischen Abbild und nicht die Illustration journalistischer Normalität22 zu zeigen. Dieses Ziel erreicht er auch, wie Überschriften von Rezensionen zeigen, z. B. von Anke Dürr im »Spiegel«– »Er raubt uns den Verstand«23, oder von Reinhard Wengierek in »Die Welt«– »Denken am Limit. Das Drama des alten Mannes: Frank Castorf macht in ›Galileo Galilei‹ aus Brechts Verfremdungseffekt eine Horrorshow.«24 20 Bisky, Jens: Voller Würde, unvergesslich. URL: https://www.sueddeutsche.de/kultur/theate r-voller-wuerde-unvergesslich-1.4295360/ letzter Zugriff am 28. 12. 2021. 21 Michael Wolf: Tod für so viel Verwegenheit. URL: https://www.nachtkritik.de/index.php?opti on=com_content&view=article&id=16304:galileo-galilei-frank-castorf-huldigt-am-berliner -ensemble-bertolt-brecht-antonin-artaud-und-der-ordnungssprengenden-kraft-der-pest&c atid=50&Itemid=40/ letzter Zugriff am 28. 12. 2021. 22 Karkowsky, Stephan / Castorf, Frank: Aktualität ist für mich nicht wirklich interessant. URL: https://www.deutschlandfunkkultur.de/frank-castorf-ueber-galileo-galilei-aktualitaet-ist-fu er-100.html/ letzter Zugriff am 29. 12. 2021. 23 Dürr, Anke: Er raubt uns den Verstand. URL: https://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/ga lileo-galilei-am-berliner-ensemble-frank-castorf-fordert-ein-publikum-a-1248948.html/ letzter Zugriff am 28. 12. 2021. 24 Wengierek, Reinhard: Denken am Limit, URL: https://www.welt.de/print/welt_kompakt/kul tur/article187395894/Denken-am-Limit.html/ letzter Zugriff am 29. 12. 2021.
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Karolina Prykowska-Michalak
Der Theaterkünstler hat wohl nicht vorausgesehen, wie schnell dieser »Ausnahmezustand« auf der Bühne – die Pest (sehr deutlich im Szenario präsent und mit Symptomen auf der Bühne vielfach dargestellt) – zur Illustration der Normalität werden würde.
Die Pest – 2021 Etwas mehr als ein Jahr nach der Premiere von Castorfs Galileo hat die Pest – COVID-19 – die Welt erobert, und Galileos Fall oder Galileos Geschichte wird nach fast 400 Jahren zu einem neuen Konfliktsystem ausgearbeitet: Macht – Wissenschaft – Religion (Kirche) durchdringen einander, kreuzen sich. Vorerst fehlt uns die Perspektive, um die transversalen Systeme zu verstehen. Wenn wir 2021 lesen, dass Theater und Pest gleichrangige Kategorien sind, wissen wir genau, dass sie es nicht sind. Theater ist und bleibt eine kreative und nachahmende Kunst – die Pest ist kein Fake.
Literatur Peter von Becker: Urheberrecht, Urheberrecht. URL: https://www.tagesspiegel.de/kultur/ frank-castorf-baal-beim-theatertreffen-urheberrecht-urheberbrecht/11702616.html. / letzter Zugriff am 20. 12. 2021. Jens Bisky: Voller Würde, unvergesslich, URL: https://www.sueddeutsche.de/kultur/theate r-voller-wuerde-unvergesslich-1.4295360/ letzter Zugriff am 28. 12. 2021. Anke Dürr: Er raubt uns den Verstand. URL: https://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/gali leo-galilei-am-berliner-ensemble-frank-castorf-fordert-ein-publikum-a-1248948.html/ letzter Zugriff am 28. 12. 2021. Félix Guattari: Die drei Ökologien (= Peter Engelmann [Hrsg.]: Passagen forum), 4. Auflage, Wien: Passagen Verlag 2019. Günther Heeg (Hg.): Recycling Brecht, Berlin: Theater der Zeit 2018. Günther Heeg: Klopfzeichen aus dem Mausoleum. Brechtschulung am Berliner Ensemble, Berlin: Vorwerk 2000. Stephan Karkowsky und Frank Castorf: Aktualität ist für mich nicht wirklich interessant URL: https://www.deutschlandfunkkultur.de/frank-castorf-ueber-galileo-galilei-aktua litaet-ist-fuer-100.html/ letzter Zugriff am 29. 12. 2021. Jan Knopf (Hg.): Der neue Brecht. Würzburg: Königshausen & Neumann 2006–2016. Hans-Thies Lehmann: Brecht lesen. Berlin: Theater der Zeit 2016. Fank D. Wagner: Brecht als Philosoph. Blaufelden: Königshausen & Neumann 2021. Matthias Warstat: Krise und Heilung. Wirkungsästhetiken des Theaters. München: Wilhelm Fink Verlag 2011.
Galileo Galilei – zwischen Natur und Kultur
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Birgit Wartenpfuhl: Transversale Differenzen – Transversales Denken: Herausforderungen. In: Dekonstruktion von Geschlechtsidentität – Transversale Differenzen. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2000. Reinhard Wengierek: Denken am Limit, URL: https://www.welt.de/print/welt_kompakt/k ultur/article187395894/Denken-am-Limit.html/ letzter Zugriff am 29. 12. 2021. Alexander Wewerka (Hg.): Das Theater und die Pest. Mit Texten von Antonin Artaud, André Breton, Jerzy Grotowski, Heiner Müller und Anaïs Nin. Kreisbändchen, Berlin: Alexander Verlag 2020. Michael Wolf: Tod für so viel Verwegenheit. URL: https://www.nachtkritik.de/index.php?op tion=com_content&view=article&id=16304:galileo-galilei-frank-castorf-huldigt-am-b erliner-ensemble-bertolt-brecht-antonin-artaud-und-der-ordnungssprengenden-kraft -der-pest&catid=50&Itemid=40/ letzter Zugriff am 28. 12. 2021.
Joachim Lucchesi (Schopfheim)
Die Ausnahme der Regel. Störfaktor Musik in Brechts Lehrstücken
In der Forschung jüngeren Datums wird Brechts sechs Lehrstücken ein »eigenständiger Spieltypus«1 zugeschrieben. Doch gibt es ihn überhaupt – den eine Oberbegrifflichkeit und Praxisdefiniertheit behauptenden Spiel-»Typus«? – Diese Frage wird nochmals problematisiert, wenn man die Spielvoraussetzungen um 1930 mit denjenigen nach dem Zweiten Weltkrieg bis heute vergleicht. Brechts Lehrstücke sind neben ihrer textlichen Qualität nicht minder stark geprägt durch ihre Musik, welche einen werkkonstituierenden Bestandteil bildet. Gleich von Beginn an hatte Brecht namhafte Komponisten des 20. Jahrhunderts in seine Produktion miteinbezogen. Über Paul Hindemith, Kurt Weill, Hanns Eisler und Kurt Schwaen flossen Tendenzen der zeitgenössischen Musik in die Lehrstücke ein: durch Hindemith die Gemeinschafts-, Sing- und Spielmusik als bewusster Gegenentwurf zum professionellen bürgerlichen Konzertbetrieb, durch Weill die Auseinandersetzung mit neuen Formen des Jazz, der populären Musik und der Kammer- bzw. Schuloper, durch Eisler die Aneignung barocker Oratoriums- und Passionsmusik zum Zweck ihrer Einbindung in zeitgemäße proletarische Kampfmusik, und durch Schwaen ein anspruchsvoll-forderndes Komponieren für Schülerinnen und Schüler unter konsequenter Vermeidung von ästhetisch fragwürdiger »Kindertümelei« und »Simplizität«. Doch auch nach Brechts Tod wurde Musik zu den Lehrstücken komponiert, so 1972 durch Louis Andriessen für Die Maßnahme. Brecht und seine Komponisten waren mit ihrem Interesse an den Stücken nicht allein. Auch andere Schriftsteller und Komponisten hatten sie vor allem um 1930 produziert, darunter die Komponisten Ernst Toch zu Das Wasser (Alfred Döblin), Hermann Reutter zu Der neue Hiob (Robert Seitz), Paul Dessau zu Das Eisenbahnspiel (Robert Seitz), Paul Höffer zu Das schwarze Schaf (Robert Seitz) oder Wolfgang Fortner zu Cress ertrinkt (Andreas Zeitler). Die Zahl der musik1 Krabiel, Klaus-Dieter: Lehrstück. In: Kugli, Ana / Opitz, Michael (Hg.): Brecht Lexikon. Stuttgart: Metzler 2006, S. 174. Einen aktuellen Überblick zu den Debatten über das Lehrstück gibt Cohen, Robert: The Learning Play. In: »The Brecht Yearbook« Nr. 46, 2021, S. 196–218.
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begleiteten Lehrstücke wuchs sprunghaft an und hatte zur Folge, dass der sich herausbildende Gattungsbegriff »Lehrstück« mit Pauschalität und Unschärfe auf andere Gattungen wie Oper und Schauspiel übertragen wurde und eine breite Diskussion in den Medien nach sich zog.2 Klaus-Dieter Krabiel sah in Hindemith den schöpferischen Impulsgeber für diese neue Spielform und formulierte, dass es »Paul Hindemith war, der die Voraussetzungen für das Lehrstück als Spieltyp geschaffen hat. Ohne ihn und ohne Baden-Baden gäbe es das Brechtsche Lehrstück nicht.«3 Zu Krabiels These kann relativierend eingewendet werden, dass sich zeitgleich – wie oben erwähnt – auch andere Schriftsteller und Komponisten mit dem Lehrstück auseinandergesetzt hatten. Aber eine am musikalischen Material belegbare Tatsache ist: kein weiterer mit Brecht arbeitender Komponist hatte nach Hindemith eine so offenflexible, die praktische Lehrstück-Arbeit berücksichtigende Musik geschaffen. Denn alle anderen Komponisten, also Weill mit Der Lindberghflug und Der Jasager, Eisler mit Die Maßnahme und Schwaen mit Die Horatier und die Kuriatier benutzten das herkömmliche Setting einer Komposition, welche mit der in Notenschrift festgelegten Musik, vorgeschriebenen Instrumenten, erforderlichen Chören, Sängerinnen, Sängern und Dirigenten eine mit musikalisch-technischen Herausforderungen behaftete Aufführung verlangt. Diese Vorgaben sollten gravierende Konsequenzen für die spielpraktische Arbeit haben – bis heute. Doch unabhängig davon entwickelte sich erst wieder ab den frühen 1970er Jahren ein generelles Interesse am Lehrstück in beiden deutschen Staaten.4 Gerd Koch, Reiner Steinweg, und Florian Vaßen gründeten 1980 in der Bundesrepublik Deutschland die Gesellschaft für Theaterpädagogik, welche sich zur Aufgabe machte, Brechts Lehrstücke als politisch-pädagogisches Modell theoretisch und praktisch in Workshops und Seminaren zu erproben und die Ergebnisse seit 1984 in der Zeitschrift Korrespondenzen (später Zeitschrift für Theaterpädagogik) zu publizieren.5 Doch führte jetzt die Suche nach spielpraktischen Möglichkeiten meist zur Ausblendung der mit den Lehrstücken verbundenen Musik. Aber auch in den wissenschaftlichen Diskursen schlug sich diese Tendenz in text- oder spielzentrierten und dadurch »musikfernen« Resultaten nieder. Die verengte und 2 Siehe an verschiedenen Stellen in: Jöde, Fritz / Boettcher, Hans (Hg.): Musik und Gesellschaft Arbeitsblätter für soziale Musikpflege und Musikpolitik 1930/31. Reprint: Kolland, Dorothea. West-Berlin: verlag das europäische buch 1978. 3 Krabiel, Klaus-Dieter: Brechts Lehrstücke. Entstehung und Entwicklung eines Spieltyps. Stuttgart: Metzler 1993, S. 52. 4 Zur praktischen Lehrstückarbeit in der DDR siehe: Lucchesi, Joachim / Schneider, Ursula (Hg.): Lehrstücke in der Praxis. Zwei Versuche mit Bertolt Brechts »Die Ausnahme und die Regel«, »Die Horatier und die Kuriatier«. Arbeitsheft 31 der Akademie der Künste der DDR. Ost-Berlin 1979. 5 Ein ebenfalls an der Universität Hannover entstandenes Lehrstück-Archiv wurde 2007 von der Hochschule Osnabrück übernommen.
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deshalb eine ganzheitliche Werkrezeption vernachlässigende Perspektive zeigte sich modellhaft am Jasager oder – noch markanter – an der Maßnahme. Ihr Verbot kam seit 1954 verschärfend hinzu – und doch: Brechts Drucktext blieb weiterhin öffentlich verfügbar (auch in weltweiten Übersetzungen), während Eislers Musik wegen des Verbots nicht zugänglich war. Die Partitur blieb bis heute ungedruckt und ist als Leihmaterial über einen Musikverlag erhältlich. Die immer wieder betonte Verfügbarkeit und Spielbarkeit der Lehrstücke geriet zeitweise in Widerspruch zu juristischen und institutionellen Regelungen, so beim Lehrstück und vor allem bei der Maßnahme. Die Aufführungsverbote der Autoren und ihrer Erben sowie der kontrollierte Vertrieb des Leihmaterials (Partitur, Orchester- und Vokalstimmen) durch Verlage gaben ihnen bis heute einen »geschlossenen« und »offiziellen« Status mit Copyright-Absicherung. Dieser problematisierte oder verhinderte gar ein Eingreifen der Spielenden in diese Lehrstücke im Sinne einer Anpassung, Einfügung oder Streichung von Text- und Musikpassagen. Wenngleich auch nach 1945 zu Brechts Lehrstücken Musik komponiert wurde, so hatte sich seine Lehrstück-Produktion hauptsächlich in den letzten Jahren der Weimarer Republik vollzogen; fünf seiner sechs Lehrstücke entstanden vor 1933. Vier Lehrstücke kamen gemeinsam mit ihrer Musik zur Uraufführung, zu zwei weiteren (Die Ausnahme und die Regel und Die Horatier und die Kuriatier) wurde die Musik erst später hinzukomponiert. Oder genauer: bei Die Ausnahme und die Regel hatte Brecht eine Musik zunächst nicht vorgesehen – erst 1938 komponierte sie Nissim Nissimov für die Uraufführung in Palästina, gefolgt durch eine weitere von Paul Dessau 1948. Beim Lehrstück Die Horatier und die Kuriatier kam die von Brecht im dänischen Exil drängend gewünschte Vertonung durch Eisler nicht zustande und führte zu ihrem zeitweiligen Zerwürfnis – die Musik wurde erst 1955 durch erneutes Insistieren Brechts von Kurt Schwaen in Ost-Berlin angefertigt. Schon an diesen wenigen werkgeschichtlichen Daten lässt sich erkennen, wie wichtig für Brecht die musikalische Gestaltung der Lehrstücke war und wie beharrlich er seinen Wunsch am Beispiel von Die Horatier und die Kuriatier über zwei Jahrzehnte verfolgte. Die vor dem Zweiten Weltkrieg entwickelten Lehrstücke Brechts waren Prototypen eines spezifischen »Musik-Theater-Lern-Spiels«, das es in dieser Form bisher nicht oder nur in Ansätzen gab. Sie konstituieren sich weder in rein textbezogener, rein dramatischer oder rein musikalischer Ausprägung, sondern vielmehr in einer durch alle Bestandteile sich bedingenden, gleichberechtigten und miteinander fest verbundenen Werkstruktur, ganz im Sinne auch von Brechts späteren Formulierungen über das Kollektiv selbständiger Künste. 1937 hatte Brecht in seinem Text Zur Theorie des Lehrstücks ausgeführt: »Es liegt dem Lehrstück die Erwartung zugrund, daß der Spielende durch die Durchführung bestimmter Handlungsweisen, Einnahme bestimmter Haltungen, Wiedergabe
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bestimmter Reden usw. gesellschaftlich beeinflußt werden kann.«6 Auf die Musik bezogen könnte der Satz lauten: »dass der Spielende durch die Einnahme bestimmter Haltungen gegenüber der Musik, seiner Wiedergabe bestimmter Gesänge usw. gesellschaftlich beeinflusst werden kann.« Den beabsichtigten Einfluss von Musik auf die Akteure und ihre Zuschauer hatte Brecht in seinen Aufsätzen und Notaten verschiedentlich beschrieben. Bei den Darstellungen zur Theorie und Praxis der Lehrstücke lassen sich zwei markante Positionen ausmachen: zum einen der systematisierende Rekonstruktionsversuch einer aus Brechts verstreuten Texten entwickelten »Theorie des Lehrstücks« durch Reiner Steinweg ab Beginn der 1970er Jahre, und zum anderen 1993 der Versuch Klaus-Dieter Krabiels, den Diskurs auf die ignorierte oder vernachlässigte musikalische Dimension der Lehrstücke zu lenken, um sie als »Prototyp einer neuen Form musikalischer Praxis«7 zu positionieren. Doch weder bei Steinweg noch bei Krabiel ist die entscheidende Frage diskutiert worden, ob die Lehrstücke in ihrer ursprünglichen Form einschließlich ihrer Adressiertheit an nichtprofessionelle Akteure und an aktiv eingreifende Zuschauer heute überhaupt noch aufführbar sind? Nachfolgend soll diese Frage an den Lehrstücken Der Jasager und Die Maßnahme näher betrachtet werden. Der Jasager, den Weill und zeitweilig auch Brecht statt »Lehrstück« dezidiert als »Schuloper« bezeichneten, stellt Text, Musik und Spiel gleichberechtigt nebeneinander. Erforderlich sind ein Schulorchester, singende Solisten und Chor; Weills Partitur verlangt also einen fixierten, nicht-improvisatorischen Charakter des Spiels. Nach der erfolgreichen Uraufführung gab es allein in Deutschland rund 60 verschiedene Aufführungen und weitere im europäischen Ausland, so dass Der Jasager neben der Dreigroschenoper zu einer Art »Blockbuster« für Brecht und Weill wurde. Das Lehrstück gelangte in Berlin zur ersten Aufführung durch den Jugendchor und die Jugendinstrumentalgruppe der Staatlichen Akademie für Kirchen- und Schulmusik; Brecht und Weill waren in die im Mai 1930 beginnenden Proben miteinbezogen. Die solistisch zu besetzenden Rollen wurden mit Schülerinnen und Schüler aus mehreren Berliner Schulen besetzt, der Dirigent war ein kurz vor seinem Schulabschluss stehender Gymnasiast. Im Juni 1930 erfolgte die im Rundfunk übertragene Aufführung und erlangte viel Beachtung und Lob. Der heute in der gymnasialen Schulpraxis tätige Musiklehrer Andreas Hauff, zugleich Fachberater für Musik und Kenner von Weills Musik, bezweifelt mit Blick auf den Jasager eine breite Spielbarkeit, da deutsche Schulorchester heute 6 Brecht, Bertolt: Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Herausgegeben von Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei, Klaus-Detlef Müller. Berlin, Weimar, Frankfurt/ Main: Aufbau, Suhrkamp 1988–2000, Bd. 22, S. 351. 7 Krabiel, Klaus-Dieter: Lehrstück.
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in vergleichbarer Besetzung und Qualität sehr selten geworden sind und somit den Verbreitungsgrad und das Leistungsvermögen von Schulorchestern der Weimarer Republik kaum mehr erreichen. Oder anders ausgedrückt: der »musikalische Breitensport« der Weimarer Republik sei heute zum »musikalischen Spitzensport« geschrumpft.8 In einer Fachzeitschrift zum schulischen Musikunterricht führt er dazu weiter aus: Deutlich zurückgegangen ist auch die Bereitschaft, sich aktiv musizierend zu präsentieren – zumindest in der Schule. Nicht selten nämlich hagelt es inzwischen hämische Kommentare von Mitschülerinnen und -schülern, denen das Gezeigte nicht gefällt, die es nicht verstehen, die Live–Musik ohne aufwändige technische Einkleidung schlicht nicht mehr gewohnt sind oder die einfach Spaß am ›Dissen‹ haben. […] Wer sich singend, spielend, sprechend, tanzend auf der Bühne präsentiert, ist verletzlich.9
Dieser markanten Aussage, die auch die Problematik aktueller Lehrstückpraxis am Beispiel des Jasagers berührt, sei seine Aufführung im Rahmen des KurtWeill-Festes Dessau gegenübergestellt, die am 28. Februar 2006 durch etwa 70 Schülerinnen und Schüler der Musikschule Dessau, der Gymnasien Liborius, Philanthropinum und des Roßlauer Goethe-Gymnasiums erfolgte. Während die jungen Sängerinnen und Sänger aus der Musikschule die solistischen Rollen übernahmen (Mutter, Lehrer, Knabe, drei Studenten), bildeten die Gymnasiasten den Chor und das Orchester, betätigten sich beim Bühnenaufbau, bei der Beleuchtung und Technik, bei der Anfertigung der Kostüme und beim Schminken. Zusammen mit der spieltechnisch anspruchsvollen Vertonung des Neinsagers aus dem Jahr 1990 durch den Ost-Berliner Komponisten Reiner Bredemeyer (1929–1995) gelang hier eine von Publikum und Medien hochgelobte DoppelAufführung beider Lehrstücke. Doch diese helle Seite hat ihre dunkle Kehrseite – beide bilden die »Ausnahme der Regel«. Weist doch der beispielhaft-geglückte Einzelfall aus Dessau umso eindrücklicher auf das Fehlen von Voraussetzungen für eine heutige, breit aufgestellte Arbeit an Schulen hin, wie sie in der Weimarer Republik noch möglich war. Der Komponist hatte 1930 zum Jasager bemerkt:
8 Telefonische Auskunft von Andreas Hauff, Lehrer und Fachberater für Musik an einem Gymnasium in Rheinland-Pfalz am 15. Juni 2019. Nach einer in jüngster Zeit nochmals geführten Diskussion äußerte sich Hauff vorsichtig hoffnungsvoll: »Insofern könnte man für den Jasager und die anderen Lehrstücke auch folgende Idee haben: Gemischte Ensembles aus Profis und jugendlichen Laien – in Form eines freiwilligen Projekts – an den Schulen gestützt durch fächerverbindende Arbeit von Musik, Geschichte, Deutsch, Ethik, Bildender Kunst. Aber – wer will und kann unter heutigen Umständen sich die Arbeit machen, so etwas vorzubereiten?« Email vom 24. Februar 2022 an Joachim Lucchesi. 9 Hauff, Andreas: Warum Neue Musik wichtig ist. Ein Plädoyer und ein Bericht über das Herbstkonzert des JugendEnsembleNeueMusik Rheinland-Pfalz/Saar. In: »Newsletter Bundesverband Musikunterricht e. V. LV Rheinland-Pfalz«. Mainz 2019, S. 40.
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Ich habe daher den Jasager so angelegt, daß er in allen Teilen (Chor, Orchester und Soli) von Schülern ausgeführt werden kann, und ich kann mir auch denken, daß Schüler zu diesem Stück Bühnenbilder und Kostüme entwerfen. Die Partitur ist entsprechend den Besetzungsmöglichkeiten eines Schülerorchesters eingerichtet: als Stammorchester Streicher (ohne Bratschen) und zwei Klaviere, dazu ad libitum drei Bläser (Flöte, Klarinette, Saxophon), Schlagzeug, Zupfinstrumente. Ich glaube aber nicht, daß man den Schwierigkeitsgrad der Musik bei einer Schuloper zu weit herabsetzen soll, dass man eine besonders ›kindliche‹, leicht nachsingbare Musik für diese Zwecke schreiben soll. Die Musik einer Schuloper muß unbedingt auf ein sorgfältiges, sogar langwieriges Studium berechnet sein. Denn gerade im Studium besteht der praktische Wert der Schuloper, und die Aufführung eines solchen Werkes ist weit weniger wichtig als die Schulung, die für die Ausführenden damit verbunden ist. Diese Schulung ist zunächst eine rein musikalische. Sie soll aber mindestens ebensosehr eine geistige sein. Die pädagogische Wirkung der Musik kann nämlich darin bestehen, daß der Schüler sich auf dem Umweg über ein musikalisches Studium intensiv mit einer bestimmten Idee beschäftigt, die sich ihm durch die Musik plastischer darbietet und die sich stärker in ihm festsetzt, als wenn er sie aus Büchern lernen müßte. Es ist daher unbedingt erstrebenswert, daß ein Schulstück den Knaben außer der Freude am Musizieren auch Gelegenheit bietet, etwas zu lernen.10
Als im September 1997 Brechts und Eislers Maßnahme am Berliner Ensemble ihre Premiere11 hatte, war dies vor allem ein musikalisches Ereignis, handelte es sich doch um die deutsche Erstaufführung der kompletten Eislerschen Musik seit dem Kollaps der Weimarer Republik und den ab 1932 einsetzenden Aufführungsbedrohungen oder -verboten seitens der Nationalsozialisten. Kurz vor seinem Tod erließ Brecht ein eigenes Aufführungsverbot der Maßnahme, dabei im Blick habend, dass politische Entwicklungen in der Sowjetunion seit Stalin sowie der inzwischen vorherrschende Kalte Krieg zwischen den Machtblöcken nicht nur zu Missverständnissen und politisch ungewollten Umdeutungen des Stückes führen könnten, sondern dass mit der Liquidierung der deutschen Arbeiterbewegung ab 1933 auch die für die Maßnahme aufführungspraktisch entscheidenden Arbeiterchortraditionen unwiederbringlich zerstört worden waren. Seitdem war Eislers Partitur nicht mehr freigegeben worden,12 lediglich der gedruckte Klavierauszug13 ließ die hohe Qualität der Musik erahnen. Die Londoner BBC-Aufführung 1987, initiiert durch John Willett und mit kompletter Eisler10 Vgl. Weill, Kurt: Über meine Schuloper Der Jasager. In: Hinton, Stephen / Schebera, Jürgen (Hg.): Kurt Weill. Musik und musikalisches Theater. Gesammelte Schriften. Mainz: Schott Musik International 2000, S. 119–120, hier S. 120. 11 Am 13. 9. 1997, Regie Klaus Emmerich, Kammerensemble Neue Musik Berlin (Leitung Roland Kluttig), Chor der Deutschen Staatsoper Berlin. Mit Götz Schulte, Mira Partecke, Georg Bonn, Achmed Bürger und Thomas Wendrich. 12 Bis heute liegt Eislers Maßnahme-Partitur im Druck nicht vor; sie kann als Leihmaterial von der Universal Edition Wien für Aufführungen angefordert werden. 13 Veröffentlicht 1931 durch die Universal Edition Wien.
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Musik, sowie diejenige 1995 an der Berliner Studentenbühne BAT mit reduzierter Wiedergabe am Klavier (anstelle des verlangten Instrumentalensembles) waren die trotz Verbot genehmigten und vielbeachteten Ausnahmeaufführungen. Doch sie trugen nicht zuletzt wegen ihrer großen Resonanz zur Aufweichung und schließlich zur Rücknahme des Verbots durch die Brecht-Erben bei. Somit hatte die Maßnahme bis zu ihrer endgültigen Freigabe im Vorfeld des 100. Geburtstags von Brecht eine gegensätzliche, fast schon kuriose Doppelexistenz: einerseits als weltweit gedruckter und in Übersetzungen verfügbarer, öffentlich diskutierter Brecht-Text; andererseits mit Eislers verborgener Musik dazu, die selbst Spezialisten unbekannt war. Doch was wurde in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg gelesen, diskutiert, analysiert und aufgeführt? Nicht etwa die Maßnahme als ein gemeinsames Werk Brechts und Eislers, sondern nur ein Teil von ihr: das Libretto in seinen Druckfassungen bzw. in seiner theatralen Umsetzung. Im Gegensatz dazu hatten Brecht und Eisler darauf verwiesen, dass sie ihr Werk vom ersten Wort bis zum letzten Takt Musik in intensiver Zusammenarbeit geschaffen hatten: »Ich bin doch jeden Tag« – erinnerte sich Eisler – »ein halbes Jahr von neun Uhr vormittags bis ein Uhr mittags in seiner Wohnung, ich glaube, am Knie, gewesen, um die ›Maßnahme‹ zu produzieren, wobei der Brecht gedichtet hat und ich jede Zeile kritisiert habe.«14 Text und Musik sind »maßgeschneidert« in diesem oratorischen Schau- und Hörstück miteinander verbunden. Brecht hatte schon im Vorfeld der Uraufführung auf die gattungsüberschreitende Spezifik dieses Werks hingewiesen und dabei seine Bezeichnungen als »Theaterstück« oder auch »Lehrstück« durch den neutralen Begriff der »Veranstaltung« ersetzt: die Maßnahme sei »kein Theaterstück im üblichen Sinne. Es ist eine Veranstaltung von einem Massenchor und vier Spielern.«15 Erst seit der Freigabe des Stücks 1997 wurde deutlich, dass in der etwa eine Stunde dauernden Aufführung über 30 Minuten Musik zu hören sind. Doch Eislers Musik widersetzt sich einem am Lehrstück-Spiel orientierten Gebrauch. Hatte noch Hindemith für das Lehrstück eine »offene« Partitur geschrieben und damit flexible, nach jeweiligen Verhältnissen und vorhandenen Musikern sich richtende Aufführungsbedingungen geschaffen, so verlangt Eislers Musik die notengetreue Befolgung der Partitur mit ihren Besetzungsvorgaben. Andrzej Wirth ist zuzustimmen, wenn er über die Maßnahme-Musik schreibt: »Die Musik schließt die Freiheit der Improvisation aus und ist nicht nur ein verfremdendes,
14 Notowicz, Nathan: Wir reden hier nicht über Napoleon. Wir reden von Ihnen! Herausgegeben von Jürgen Elsner. Berlin: Verlag Neue Musik 1971, S. 189f. 15 Brecht, Bertolt: Die Maßnahme. Kritische Ausgabe mit einer Spielanleitung von Reiner Steinweg. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1972, S. 237.
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sondern auch ein disziplinierendes Mittel.«16 Diese »Disziplinierung« ist doppelt vorhanden, denn sie wird im Stück als Thema zentral erörtert und zugleich auch durch die Ausführungsvorschriften der Partitur verlangt. Damit ist bei der praktischen Aufführung eine Barriere errichtet, die jegliches Improvisieren, jegliches Abweichen und Suchen nach neuen Angeboten im Spielerischen wie im Musikalischen erschwert oder sogar ausschließt. Dagegen zeigten sich Freiheiten im spielerischen Umgang mit dem Libretto der Maßnahme, also bei jenen meist nichtöffentlich-studentischen Produktionen, die sich nur auf Brechts Stücktext konzentrierten und damit das Aufführungsverbot von 1956 unterliefen. Doch mit der für die Maßnahme komponierten Musik Eislers wird ihre Verwendbarkeit für eine Laienspiel-Praxis aufgegeben und das Stück in einen professionellen oder semiprofessionellen Rahmen gestellt. Im Stück sind Merkmale für Brechts episches Theater verwirklicht: das selbstreferentielle Spiel im Spiel, das ausgestellte Zeigen, Wiederholen, Sichtbarmachen und Verfremden von Spielvorgängen, die Verwendung von Halbmasken, die eine gestische Spielweise erfordernde und selbst gestisch gestaltete Musik sowie der die Handlung musikalisch kommentierende Kontrollchor. Damit hatte die Maßnahme durch ihre »strenge« und – um einen Lieblingsausdruck Brechts zu nehmen – »ausmathematisierte« Struktur den Boden des spielerische Freiräume schaffenden Lehrstück-Experiments verlassen. Erst aus dieser Perspektive wird verständlich, warum Brecht auf Wekwerths Frage nach dem Modell für ein »Theater der Zukunft« die Maßnahme nennt.17 Deutlich wird, dass Brecht zwar den Stücktitel nennt, ihn aber nicht ausdrücklich dem Lehrstück zuordnet – er belässt ihn unter der Wekwerthschen Firmierung »Theater der Zukunft«. Bis in die Besetzungsliste der Uraufführung hinein spiegelt sich das aufführungspraktische Verhaftetsein der Maßnahme im konventionellen theatralischmusikalischen Milieu: Drei Berufsschauspieler waren in den Rollen der Agitatoren zu sehen: Helene Weigel, Ernst Busch und Alexander Granach. Hinzu kam der Konzert-, Lied- und Oratoriensänger Anton Maria Topitz (Tenor), der wechselnd die Rollen des 1. Agitators, des Parteihausleiters, des Händlers und des 1. Kulis zu übernehmen hatte. Ebenfalls waren ein professionelles Ensemble von Musikern unter der Leitung des Chordirigenten Karl Rankl, der Bühnenbildner Teo Otto sowie der Film- und Theaterregisseur Slatan Dudow beteiligt. Schließlich bildeten Sängerinnen und Sänger dreier Arbeiterchöre (Berliner Schubert-Chor, Gemischter Chor Groß-Berlin, Gemischter Chor Fichte) ge16 Wirth, Andrzej: Lehrstück als Performance. In: Gellert, Inge / Koch, Gerd / Vaßen, Florian (Hg.): Massnehmen. Bertolt Brecht/Hanns Eislers Lehrstück Die Massnahme. Berlin: Theater der Zeit. Recherchen 1, 1998, S. 207–215, hier S. 209. 17 Brecht, Bertolt: Die Maßnahme, S. 265.
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meinsam den Kontrollchor. Während der Aufführung wurden Textprojektionen auf eine die Konzertorgel abdeckende Leinwand eingeblendet; als Spielebene war für die vier Agitatoren ein Boxring vorbereitet, der bereits als Bühnenrequisit im Songspiel Mahagonny und in der Oper Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny selbstzitierende Verwendung gefunden hatte. Obwohl die beteiligten Chöre mit der sozio-musikalischen Bezeichnung »Arbeiterchöre« als Indiz für den Laienund Lehrstückcharakter der Maßnahme galten, waren sie im Vergleich zu den meisten der landesweit zahllosen Amateurchöre auf technisch hohem Gesangsniveau. Erprobt an Aufführungen anspruchsvoller Passions- und Oratorienwerke von Bach und Händel oder der 9. Symphonie Beethovens waren diese drei Chöre befähigt (wie das von der Kritik hochgelobte Ergebnis zeigte), die Anforderungen der Eislerschen Musik zu bewältigen. Auch der aus Lehrstück-Perspektive zunächst befremdlich wirkende Uraufführungsort – die alte Berliner Philharmonie an der Bernburger Straße als Tempel bürgerlicher Hochkultur – war in Anbetracht solch geballter Professionalität dann doch wieder stimmig. Die Uraufführung 1930 sowie die in den nächsten zwei Jahren nachfolgenden acht Aufführungen in Deutschland und Österreich betonten die Großdimensionalität der Maßnahme. Sie ist formal dem Massenspiel, dem Massenoratorium nahe;18 zeitweilig standen – wie in der Uraufführung – etwa 300 bis 400 Chorsänger19 auf der Bühne. Das szenische Tableau dieses »Podiumsstücks«20 lässt eine Bild- und Tonsprache von großer Gewalt entfalten: Vier Agitatoren müssen sich vor dem Kontrollchor verantworten, welcher auf stufig nach hinten ansteigenden halbrunden Podesten »erhöht« steht und damit einen überlegenen »Macht-Raum« anzeigt. Zugleich entfalten sich in dem kontrastierenden körpersprachlichen Gegenüber von »Masse-Individuum« und dem stimmlichakustischen »Laut-Leise« des gesprochenen oder gesungenen Worts enorme Spannungsbögen. Hinzu kommt, dass die Musik überwiegend dem Kontrollchor zugeordnet ist, welcher durch das gesungene und instrumental begleitete Wort eine zusätzliche Verstärkung und Akzentuierung erlangt – die Maßnahme ist ein »chordominiertes« Stück. Insgesamt herrscht eine vokalstilistische Vielfalt vor, die dem Stück eine Sonderstellung verleiht; sie reicht vom rhythmischen Sprechen über das Rezitativ, das Arioso, den Song bis hin zum chorischen Gesang. Für den Vokalpart sind vorgeschrieben: ein Solotenor, vierstimmiger Männerchor und vierstimmiger gemischter Chor. Das Instrumentalensemble (3 Trompeten, 18 Helmuth Kiesel hat in seinem aufschlussreichen wie kontrovers diskutierten Aufsatz Bezüge der Maßname zum germanischen/nationalsozialistischen Thingspiel hergestellt. Siehe: Kiesel, Helmuth: Die Maßnahme im Licht der Totalitarismustheorie. In: Gellert, Inge / Koch, Gerd / Vaßen, Florian (Hg.): Massnehmen, S. 83–100. 19 Die Zahlenangaben schwanken in der Literatur. 20 Ernst Busch: »Die ›Maßnahme‹ war kein Theaterstück, sondern ein Oratorium, ein Podiumsstück.« In: Brecht, Bertolt: Die Maßnahme, S. 465f.
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2 Hörner, 2 Posaunen, 2 Pauken, Schlagzeug und nur an einer einzigen Stelle – fast ausgezirkelt in der Stückmitte – ein Klavier beim Lied des Händlers) spricht ebenfalls von Machtverhältnissen. Nicht, dass Eisler und Brecht Streichinstrumente generell für ästhetisch indiskutabel gehalten hätten (im Lindberghflug und im Jasager werden sie auch verwendet). Doch Blechbläser bringen machtvollere, durchdringendere Musik hervor und können sich gegenüber einem Massenchor akustisch durchsetzen, gleichsam die sieben Posaunen erinnernd, welche laut Altem Testament die Mauern von Jericho zum Einsturz brachten. Aber auch eine weitere Konnotation ist naheliegend, denn Blasorchester, Fanfarenzüge und Schalmeiengruppen prägten den musikalischen Alltag der Arbeiter – Eisler erzeugte absichtsvoll scheinbar vertraute Klangmuster. Wie sehr die der Musik innewohnende Kraft scheinbar richtig erkannt wurde, zeigt die letzte, am 28. Januar 1933 in Erfurt durch Polizeigewalt abgebrochene Maßnahme-Aufführung: die Partitur weist Einstiche von Bajonetten auf. War es so, dass mit der von Brecht und Eisler als »Lehrstück« ausgewiesenen Maßnahme deren vornehmliche Adressaten – also die vielen Laienspielgruppen und Amateurvereinigungen der Weimarer Republik – ins spielpraktische »Abseits« gerieten? Es muss bejaht werden, denn das Werk war kein Lehrstück mehr im spezifischen Sinne. Die Musik erforderte Schauspieler mit gesangssolistischen Anforderungen und professionelle Instrumentalisten, einen technisch geschulten Chor, geleitet von einem Dirigenten. Zudem schränkte das Stück wegen seines oratorischen Charakters, des geforderten Massenchors und des beabsichtigten Spielens vor Zuschauern die Auswahl von Aufführungsorten erheblich ein und zielte aus Spiel-, Platz- und Akustikgründen auf eine Großraum-Architektur. Die Maßnahme konnte mit ihren sakrale Raumarchitektur »mitdenkenden« Bachschen Passionszitaten nicht auf mobilen Lastwagen gespielt werden, wie etwa Szenen aus der Mutter. Es stellt sich die Frage, wie in der Maßnahme mit der vielzitierten Losung des »learning by doing« umgegangen werden soll. Bezieht sich dieses auch auf Rollentausch ausgerichtete Spielprinzip auf die vier Agitatoren? Wenn ja: sind die drei mit reinen Sprechrollen versehenen Agitatoren – immer vorausgesetzt, dass die Maßnahme mit ihrer Musik aufgeführt wird – in der Lage, beim Rollenwechsel die Gesangspartien des Tenors (1. Agitator, Leiter des Parteihauses, 1. Kuli, Händler) zu übernehmen? Und weiter gefragt: können die Kontrollchorsänger auch Spielende, die Spielenden auch Chorsänger sein? Die Antwort wäre aller Wahrscheinlichkeit nach »nein«, denn hier kommt arbeitsteiliges Spezialistentum dem lehrstückgemäßen rotierenden Rollenspiel in die Quere. Es stellt sich heraus, dass alleinig der Text den spielerischen Umgang mit dem Stück »leicht« macht, dagegen die von Brecht und Eisler gemeinsam entwickelte Maßnahme mit ihren musikalischen Erfordernissen ungeahnte Widerborstigkeiten gegen ihr Aufführen entwickelt. Eisler entwirft in seiner Musik ein
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komplexes Gewebe von Gesang, Sprechstimmen und Instrumentalensemble; es reicht »vom orchestergestützten Dialog über den trommelbegleiteten Sprechchor, den solistisch vorgetragenen Song, den Männerchorsatz bis zur Zusammenführung von Sologesang, Sprechstimme, gemischtem Chor und Orchester«21. Erst seit den 1980er Jahren wird die bislang unterbewertete Musik im Kontext der Lehrstücke betont.22 Dieser Perspektivwechsel auf die Lehrstück-Musik hatte jedoch kaum Einfluss auf die nach wie vor textzentriert und spielpädagogisch ausgerichtete Forschung. Dann beschrieb Krabiel 1993 in seiner Studie das Brechtsche Lehrstück als einen eigenständigen vokal-musikalischen Spieltypus und distanzierte sich von Steinwegs Positionen. Doch erst mit der bahnbrechenden, werkkompletten Aufführung der Maßnahme 1997 in Berlin stärkte sich die musikgerichtete Perspektive auf das Lehrstück erneut ein weiteres Mal und weckte bei manchem der im Publikum anwesenden Wissenschaftler selbstkritische Zweifel gegenüber einer musikausblendenden Betrachtung des Werks. Weitere Erkenntnisse zur Musik im Lehrstück lieferte Gerd Rienäcker,23 der Eislers Musik mit ihrem vielschichtigen Traditionsbezug kenntlich machte und auf prägende Stilzitate aus Bachs Passionen, Händels Oratorien oder der 1. Sinfonie von Brahms verwies. In seiner Analyse zu Ändere die Welt, sie braucht es gibt er ein Beispiel für Eislers komplexe Verwendung von altem Material in neuen Zusammenhängen: so weist er im Notenbild kirchentonartliche Wendungen sowie Elemente aus der barocken Figurenlehre nach.24 Einzigartig ist auch die formale Anlehnung an sakrale Passionsmusiken mit Eingangschor, homophonen und kanonischen Chorsätzen, an Rezitative und Arien – auch im Vergleich zur Musik der anderen Lehrstücke. Ausgehend von der offenen gattungstypologischen Frage, ob die Maßnahme ein »Lehrstück«, ein »Oratorium« oder ein »oratorisches Lehrstück« ist, sollte sich die Brecht-Forschung fragen, ob es ihn überhaupt gibt, den »eigenständigen Spieltypus« der Lehrstücke? Bilden sie nicht vielmehr in sich selbst eine ganz heterogene Versuchs- oder Laborreihe aus mit unterschiedlichsten Werkstrukturen, Aufführungsbedingungen, Schwierigkeitsgraden, spielpädagogischen In21 Die Musik. Beschreibung von Manfred Grabs. In: Brecht, Bertolt: Die Maßnahme, S. 214. 22 Vgl. Betz, Albrecht: Hanns Eisler. Musik in einer Zeit, die sich eben bildet. München: edition text + kritik 1976; Dümling, Albrecht: Lasst euch nicht verführen. Brecht und die Musik. München: Kindler 1985; Hennenberg, Fritz: Das große Brecht-Liederbuch. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1984; Lucchesi, Joachim / Shull, Ronald K.: Musik bei Brecht. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1988; Schebera, Jürgen: Hanns Eisler. Eine Bildbiographie. Berlin: Henschelverlag 1981. 23 Rienäcker, Gerd: Musik als Agens. In: Gellert, Inge / Koch, Gerd / Vaßen, Florian (Hg.): Massnehmen, S. 180–189. 24 Vgl. Rienäcker, Gerd: …aber ändere die Welt, sie braucht es! In: Tadday, Ulrich (Hg.): Hanns Eisler. Angewandte Musik. Musik-Konzepte Sonderband. München: edition text + kritik 2012, S. 64–81.
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tentionen, Produktionsmobilitäten und aufführungsbezogenen Zielgruppen? So wird anhand des Radiostücks Der Lindberghflug ein neuartiges Rundfunk- und Kommunikationsmodell ausprobiert, das in weit über die Zeit hinausgreifende Bereiche des interaktiven Dialogs zwischen Mensch und modernster Technik weist, schreibt Paul Hindemith für das Lehrstück eine dem aktuellen musikpraktischen Trend »Gebrauchsmusik« folgende »offene Partitur«, die sich wechselnden Aufführungsbedingungen, Besetzungsgegebenheiten und Schwierigkeitsgraden flexibel anpasst, liegt der Schuloper Der Jasager ein pädagogisch hochmodernes Konzept der Musikunterweisung von Jugendlichen im Rahmen ihrer schulischen Ausbildung zu Grunde. Auch die Uraufführungsorte dieser Lehrstücke entsprechen der Vielfalt: das Festival Deutsche Kammermusik BadenBaden, das Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht Berlin und die alte Berliner Philharmonie. Möglicherweise – um eine Prognose für die Zukunft zu wagen – entwickelt sich der aufführungspraktische Umgang mit dem Jasager und der Maßnahme parallel weiter: erstens im Sinne von bisher praktizierten Aufführungen unter Ignorierung der originalen Werkgestalt, realisierbar mit wenigen Akteuren und dem Verzicht auf die Originalmusik. Zweitens dann in professioneller, öffentlichkeitsorientierter Aufführung im Theater oder im Konzertsaal zusammen mit ihren Originalmusiken. Vielleicht sollten beide Stücke heute an den Ort zurückfinden, den sie um 1930 aus Opposition verlassen hatten, nämlich das professionelle Theater. Aber nur dann, wenn man den werkkonstituierenden Charakter ihrer Musik anerkennt und sie deshalb mitaufführen will. Und wenn man akzeptiert, dass sich heute, beinahe ein Jahrhundert nach ihren Uraufführungen, die spielpraktischen Anforderungen wie Aufführungsbedingungen für Brechts Lehrstücke gravierend verändert haben. Doch mit der Zurückgewinnung für den öffentlichen Kunstbetrieb wird ihre bis heute behauptete Ausrichtung als flexibel-offene Spielpraxis für Laien wohl zusammen mit dem Jungen Genossen zu Grabe getragen.
Literatur Betz, Albrecht: Hanns Eisler. Musik in einer Zeit, die sich eben bildet. München: edition text + kritik 1976. Brecht, Bertolt: Die Maßnahme. Kritische Ausgabe mit einer Spielanleitung von Reiner Steinweg. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1972. Brecht, Bertolt: Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Herausgegeben von Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei, Klaus-Detlef Müller. Berlin, Weimar, Frankfurt/Main: Aufbau, Suhrkamp 1988–2000, Bd. 22. Cohen, Robert: The Learning Play. In: »The Brecht Yearbook« Nr. 46, 2021, S. 196–218.
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Dümling, Albrecht: Lasst euch nicht verführen. Brecht und die Musik. München: Kindler 1985. Hauff, Andreas: Warum Neue Musik wichtig ist. Ein Plädoyer und ein Bericht über das Herbstkonzert des JugendEnsembleNeueMusik Rheinland-Pfalz/Saar. In: Newsletter Bundesverband Musikunterricht e. V. LV Rheinland-Pfalz. Mainz 2019. Hennenberg, Fritz: Das große Brecht-Liederbuch. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1984. Jöde, Fritz / Boettcher, Hans (Hg.): Musik und Gesellschaft Arbeitsblätter für soziale Musikpflege und Musikpolitik 1930/31. Reprint: Kolland, Dorothea. West-Berlin: verlag das europäische buch 1978. Kiesel, Helmuth: Die Maßnahme im Licht der Totalitarismustheorie. In: Gellert, Inge / Koch, Gerd / Vaßen, Florian (Hg.): Massnehmen. Bertolt Brecht/Hanns Eislers Lehrstück Die Massnahme. Berlin: Theater der Zeit. Recherchen 1, 1998, S. 83–100. Krabiel, Klaus-Dieter: Brechts Lehrstücke. Entstehung und Entwicklung eines Spieltyps. Stuttgart: Metzler 1993. Krabiel, Klaus-Dieter: Lehrstück. In: Kugli, Ana / Opitz, Michael (Hg.): Brecht Lexikon. Stuttgart: Metzler 2006. Lucchesi, Joachim / Schneider, Ursula (Hg.): Lehrstücke in der Praxis. Zwei Versuche mit Bertolt Brechts »Die Ausnahme und die Regel«, »Die Horatier und die Kuriatier«. Arbeitsheft 31 der Akademie der Künste der DDR. Ost-Berlin 1979. Lucchesi, Joachim / Shull, Ronald K.: Musik bei Brecht. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1988. Notowicz, Nathan: Wir reden hier nicht über Napoleon. Wir reden von Ihnen! Herausgegeben von Jürgen Elsner. Berlin: Verlag Neue Musik 1971. Rienäcker, Gerd: …aber ändere die Welt, sie braucht es! In: Tadday, Ulrich (Hg.): Hanns Eisler. Angewandte Musik. Musik-Konzepte Sonderband. München: edition text + kritik 2012, S. 64–81. Rienäcker, Gerd: Musik als Agens. In: Gellert, Inge / Koch, Gerd / Vaßen, Florian (Hg.): Massnehmen, S. 180–189. Schebera, Jürgen: Hanns Eisler. Eine Bildbiographie. Berlin: Henschelverlag 1981. Weill, Kurt: Über meine Schuloper Der Jasager. In: Hinton, Stephen / Schebera, Jürgen (Hg.): Kurt Weill. Musik und musikalisches Theater. Gesammelte Schriften. Mainz: Schott Musik International 2000, S. 119–120. Wirth, Andrzej: Lehrstück als Performance. In: Gellert, Inge / Koch, Gerd / Vaßen, Florian (Hg.): Massnehmen. Bertolt Brecht/Hanns Eislers Lehrstück Die Massnahme. Berlin: Theater der Zeit. Recherchen 1, 1998, S. 207–215.
Florian Vaßen (Hannover)
»Die Erscheinungen in ihre Krise« bringen, »um sie fassen zu können.« Das produktive Potential der Krise im Theaterprozess
Überlegungen zur Krise mit einem Blick auf die Kritik Krise und Kritik stehen grundsätzlich in einem sehr engen Zusammenhang und sind auch etymologisch nah verwandt, was sich auch daran zeigt, dass laut dem Grimmschschen Wörterbuch »KRITISCH, in doppelter geltung, als das adj. zu krisis und zu kritik«1 zu sehen ist. Beide Begriffe stammen von dem griechischen Verb krítein, d. h. prüfen, scheiden und entscheiden, urteilen, beurteilen und verurteilen, anklagen und auswählen. Krisis bedeutet nach dem Deutschen Universalwörterbuch »Entscheidung, entscheidende Wende, Zeit [die den Höheund Wendepunkt einer gefährlichen Entwicklung darstellt]; Schwierigkeit, kritische Situation, Zeit der Gefährdung, des Gefährdetseins […].«2 Anfang des 16. Jahrhunderts fand Krisis (aus dem lat. Crisis) im deutschen Sprachraum Eingang in die medizinische Wissenschaftssprache, im 18. Jahrhundert wurde die »Crise«, vermittelt über das französische la crise zur Bezeichnung einer ökonomischen oder politischen Situation; entsprechend spielt der Begriff Krise heute vor allem in der Medizin, der Psychologie und Psychoanalyse, der Soziologie und Politikwissenschaft, der Ökonomie und Ökologie eine wichtige Rolle. Im kulturund theaterwissenschaftlichen Kontext sind vor allem »operative Krisen«3 von Bedeutung, die sich als Störungen und Unterbrechung eines Ablaufs oder Zusammenhangs manifestieren. Der Begriff »Kritik«, übernommen aus dem Französischen (la critique – Critic – Critik) und auf der altgriechischen Bezeichnung kritike¯ (techne¯) basierend, ein Femininum zu kritikos, d. h. Kunst der Beurteilung, bedeutet Entscheidung und
1 Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm auf CD-ROM und im Internet. Bd. 11, Sp. 2336. dwb.uni-trier.de/ letzter Zugriff am 20. 01. 2021. 2 Duden. Deutsches Universalwörterbuch. 4., neu bearbeitete und erweiterte Auflage. Herausgegeben von der Dudenredaktion. Mannheim u. a.: Duden 2001, S. 965. 3 Krise: URL: https://www.wikipedia.org/wiki/krise/ letzter Zugriff am 20. 01. 2021.
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Beurteilung, Beanstanden und Bemängeln.4 Im 16. Jahrhundert wird Kritik ebenfalls in die deutsche Medizinsprache übernommen, in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts »im Sinne von ›entscheidend‹ in bezug auf einen Zeitpunkt oder Zeitabschnitt entlehnt«, eine Bedeutung, die »dann (Ende 18. Jh.) in ›bedrohlich‹, ›gefährlich‹ in bezug auf eine Situation oder Lage übergeht.«5 Die Krise kann Folge von Kritik sein, aber auch ihr Ausgangspunkt, also Kritik auslösen, die die Krise zu überwinden versucht, indem sie Veränderungen und Neues initiiert. Der Begriff Krise wird heute inflationär gebraucht, Krisen sind allgegenwärtig und in Form von Krisenbewältigung längst zu einem Geschäft geworden; die Kommerzialisierung der Krise zeigt sich in vielfältigen Komposita: »Kriseninformationsdienst, Krisenforschungsinstitut, Krisenberatungsgesellschaft, […] Krisenmanagerverband, Krisenakademie«; selbstverständlich gibt es einen »Krisenshop« und die Ausbildung zum »›Krisenkommunikationsmanager‹.«6 In gesellschaftlichen Krisen kann es ökonomische und politische Gewinner und Verlierer geben, z. B. die digitalen Medien gegenüber den Printmedien, Ökostrom gegenüber der Braunkohle, typisch für Krisensituationen sind jedoch Ambivalenzen, ein oft dichotomisches Weltbild kommt ins Schwanken. Auch persönliche Krisen sind nicht nur negativ konnotiert, neben Konflikten und der Eskalation einer Situation, die Gefühle und Verhaltensweisen wie Unsicherheit und Versagensangst hervorrufen, können sie auch eine produktive Zuspitzung oder Spannung darstellen und neue oder zuvor verdeckte Fähigkeiten sichtbar machen. Wie in Medizin und Psychologie Krisen zur Heilung oder zum Tod führen können, so können sie auch in ästhetischen Prozessen negative oder positive Folgen haben. An die Stelle von Sinn-, Identitäts- oder gar Existenzkrise träte dann eine weiterführende, produktive Krise im Verlauf der künstlerischen Arbeit und ästhetischen Wahrnehmung, konkret etwa während des Theaterprozesses. Der Soziologe Ulrich Oevermann differenziert zwischen einer »Traumatisierungskrise« wie Tod oder Krankheit, einer »Entscheidungskrise« wie bei der Wahl von Studium oder Beruf und einer »Krise durch Muße«, situiert außerhalb von Ökonomie, Nutzen und zweckrationalem Handeln.7 Da der Begriff Muße 4 Vgl. Duden Deutsches Universalwörterbuch, S. 966; vgl. den lateinischen Begriff »ars critica«. In: Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. Bd. 11, Sp. 2335. 5 Etymologisches Wörterbuch des Deutschen. München: dtv 1995, S. 736. 6 Rötzer, Florian: Medien in der Krise. Krise in den Medien. Ein Streifzug durch neue Öffentlichkeiten. In: Kursbuch 170. Krisen lieben. Hamburg: Murmann 2012, S. 133–149, hier S. 147. 7 Siehe Oevermann, Ulrich: Krise und Muße. Struktureigenschaften ästhetischer Erfahrung aus soziologischer Sicht. Vortrag am 19. 06. 1996 in der StädelSchule. URL: http://publikationen.u b.uni-frankfurt.de/files/4953/Krise-und-Musse-1996.pdf/ letzter Zugriff am 10. 07. 2013; zit. nach Bähr, Ingrid u. a.: Irritation im Fachunterricht. Didaktische Wendung der Theorie transformatorischer Bildungsprozesse. In: Bähr, Ingrid u. a. (Hg.): Irritation als Chance. Bildung fachdidaktisch denken. Wiesbaden: Springer 2019, S. 3–39.
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mehrdeutig ist8 und es meines Erachtens weniger um Muße als »freie Zeit und [innere] Ruhe« geht9 als um ästhetische Wahrnehmung, Haltung und Handlung in einem Moment des Innehaltens und der Konzentration, würde ich allerdings statt »Krise durch Muße« die Formulierung »Krise als ästhetische Erfahrung« vorschlagen. Wichtig bei dem Begriff Krise ist der Aspekt der engen zeitlichen Begrenzung, sie bezeichnet ein »Ereignis«. Bei längerer Dauer,10 aktuell etwa in Bezug auf das Klima, ist die Bezeichnung »Katastrophe« zutreffend. In der Krise müssen Entscheidungen getroffen werden, oft besteht ein Zeitdruck, und es entsteht eine besondere Dynamik und Beschleunigung. Es kann aber auch ein Stillstand entstehen, der zur Konzentration auf einen Aspekt führt und die tiefe Durchdringung eines Bereichs, die intensive Beschäftigung mit einem Problem und die daraus resultierenden neuen Erkenntnisse und Erfahrungen ermöglicht. Wenn Oevermann in der Lebenspraxis die Krise als Gegensatz zu Routine, Gewohnheit und unreflektiertem Alltagsverhalten versteht,11 dann lässt sich diese Konstellation auch auf die Theaterpraxis übertragen. In der neueren pädagogischen und theaterpädagogischen Diskussion wird häufig anstelle von Krise der Begriff »Irritation« verwendet. Offensichtlich soll damit zum einen eine Fokussierung auf das Individuum im transformatorischen Bildungs- und Lernprozess vorgenommen werden und zum anderen soll der katastrophische Aspekt wie etwa bei Existenzkrisen reduziert bzw. ausgeklammert werden.12 Der Auslöser wäre dann nicht so schwerwiegend, die Situation nicht so gefährlich, das Ereignis nicht so bedrohlich, die psychische Reaktion 8 Gerade zu Corona-Zeiten verstärkt sich aufgrund des Lockdowns die Diskussion über Langeweile, die in der Regel negativ gesehen wird und in der extremen Form des ennui zu innerer Leere und Depressionen führen kann. Es gibt aber auch eine schöpferische Langeweile, die in Form von Kontemplation und Muße Veränderungen und Innovationen generiert. 9 Vgl. Duden Deutsches Universalwörterbuch, S. 1110. 10 Macho betont, dass Krise ein zeitlich begrenztes Ereignis ist und deshalb Begriffe wie Klimakrise, Flüchtlingskrise oder Krisenzeiten, die eine längere Zeitspanne bezeichnen, nicht zutreffend und folglich unbrauchbar sind. Fernand Braudels longue durée steht eine histoire événementielle entgegen. Macho, Thomas: Krisenzeiten: Zur Inflation eines Begriffs. URL: https://geschichtedergegenwrt.ch (Online-Magazine)/ letzter Zugriff am 31. 05. 2020. 11 Siehe Oevermann, Ulrich: Krise und Muße; vgl. auch die internationale Jahreskonferenz des Exzellenzclusters »Die Herausbildung normativer Ordnungen« zum Thema Krise; URL: w ww.normativeorders.net/jahreskonferenz; vgl. dazu den Text Von Schleiermacher bis zum Kapitalozän vom 5. 02. 2018. URL: https://www.fb03.uni-frankfurt.de/70315237/Von_schleier macher_bis_zum_kapitalozän/ letzter Zugriff am 3. 01. 2021. 12 »Krise Verstehen wir dabei als einen Einbruch in einen (gewohnten Handlungsablauf). Irritation dagegen kann in einem hermeneutischen Kontext […], als Moment des Problematisch-Werdens der eigenen interpretativen Verfügungsmöglichkeiten aufgefasst werden […].« Combe, Arno / Gebhard, Ulrich: Irritation, Erfahrung, Verstehen. In: Bähr, Ingrid u. a.: Irritation als Chance, S. 133–158, hier S. 143; vgl. auch Bähr, Ingrid u. a.: Irritation im Fachunterricht, S. 5.
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weniger zerstörerisch. Abgesehen davon, dass mit dem Begriff der Irritation die individuelle »Mikroebene«13 einseitig betont wird, während die gesellschaftliche Makroebene ausgeklammert bleibt, bzw. die enge Verbindung beider Bereiche aus dem Blick gerät, scheint mir die Gefahr zu bestehen, dass, mit Bernhard Waldenfels formuliert, nur eine »schwache Erfahrung«14 stattfindet: Eine »didaktisch-methodisch domestizierte Krise«15, von der in der pädagogischen Forschung gesprochen wird, wird aber auch nur eine »domestizierte« Wirkung zur Folge haben. Hinzu kommt, dass auch die Etymologie des Wortes »Irritation« Fragen aufwirft. Geradezu im Gegensatz zu krítein bedeutet irritieren – im 16. Jahrhundert entlehnt von Lateinisch irritare – »reizen, erregen, provozieren« und erhält im 19. Jahrhundert durch »volksetymologische Anlehnung an irr, irren […] die Bedeutung ›irre, unsicher machen, ablenken, stören‹«16. »Irritation« heißt laut dem Duden ein »auf jmd., etwas ausgeübter Reiz, Reizung« bzw. »Erregtsein« oder »Verwirrung, Zustand der Verunsichertheit«17. Vor allem die Konnotation »verwirren«, »ärgern, ärgerlich machen«18 scheint mir in eine problematische, sozusagen negative Richtung zu gehen. Für mich spricht deshalb auch in theaterpädagogischen Zusammenhängen nichts dagegen, anknüpfend an Oevermann, bei dem Begriff »Krise durch ästhetische Erfahrung« zu bleiben.
Bertolt Brechts und Walter Benjamins Zeitschriftenprojekt Krise und Kritik Das Zusammenspiel von Krise und Kritik haben der bedeutendste deutschsprachige Theatermacher der ästhetischen Moderne des 20. Jahrhunderts und einer ihrer wichtigsten Theoretiker gemeinsam zu realisieren versucht, ich spreche von Bertolt Brecht und Walter Benjamin. Mit Bezug auf die außergewöhnliche ökonomische und politische Krise am Ende der Weimarer Republik und angesichts des drohenden Nationalsozialismus konzipierten sie 1930 eine Zeitschrift mit dem Titel »Krise und Kritik«, deren erstes Heft im April 1931 im Rowohlt Verlag erscheinen sollte. Dabei bedeutet für sie die Gesellschaftskrise in
13 Bähr, Ingrid u. a.: Irritation im Fachunterricht, S. 6. 14 Ebd., S. 8. 15 Bonnet, Andreas / Hericks, Uwe: Professionalisierung bildend denken. Perspektiven einer erziehungswissenschaftlichen Professionstheorie. In: Müller-Roselius, Katharina / Hericks, Uwe (Hg.): Bildung- empirischer Zugang und theoretischer Widerstreit. Opladen: Budrich 2013, S. 35–54, hier S. 46; zit. nach Bähr, Ingrid u. a.: Irritation im Fachunterricht, S. 17. 16 Etymologisches Wörterbuch, S. 592. 17 Duden. Bd. 5. Fremdwörterbuch. 8., neu bearbeitete und erweiterte Auflage. Mannheim u. a.: Dudenverlag 2005, S. 480. 18 Duden. Deutsches Universalwörterbuch, S. 847.
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Form zunehmender Faschisierung zugleich eine »Kulturkrise«, und so konzentrierte sich die Planung neben der Gesellschaftskritik auf die »Darstellung der Krise in Wissenschaft und Kunst«19, besonders akzentuiert und konkretisiert in der Auseinandersetzung mit Theaterkritik und Buchrezension. Mit der Kritik wurde also zum einen auf die Krise reagiert: »Das Arbeitsfeld der Zeitschrift ist die heutige K r i s e [Hervorhebung im Original] auf allen Gebieten der Ideologie und die Aufgabe der Zeitschrift ist es, diese Krise festzustellen oder herbeizuführen, und zwar mit den Mitteln der Kritik.«20 Zum anderen ging es um eine selbstreflexive Auseinandersetzung, d. h. um »eine ›Kritik der Kritik‹«21, die als Genre einen eigenständigen Platz neben Literatur und Philosophie erhalten sollte. Vor allem sollte die Kritik sich nicht in Geschmacksurteilen erschöpfen, sondern »eingreifendes Denken«22 praktizieren, das als »gesellschaftliches Verhalten [Hervorhebung im Original]« (GBA 21, 422) verstanden wurde. Brecht betont insbesondere die »Notwendigkeit einer Kritik des Faschismus als eines Komplexes von Verhaltungsweisen durch das eingreifende Denken [Hervorhebung im Original]«. (GBA 21, 422) Mitarbeiter der Zeitschrift sollten neben Brecht und Benjamin die führenden Linksintellektuellen der damaligen Zeit von Georg Lukács bis Ernst Bloch, von Alfred Kurella bis Herbert Ihering, von Franz Hessel bis Siegfried Krakauer sein, deren individuelle Differenzen und politische Divergenzen gerade in Bezug auf die Politik der Sowjetunion allerdings in besonderem Maße zum Scheitern des Projekts beitrugen. Dennoch hatte dieses Unternehmen Modellcharakter, es verweist – in einer dialektischen Konstellation – zugleich, so Bertolt Brecht, auf die »Krisis der Literatur« und den Versuch, »aus der Krisis herauszukommen.«23
19 Benjamin, Walter: Brief an Bertolt Brecht [nach dem 05. 02. 1931]. In: Benjamin, Walter: Gesammelte Briefe. Herausgegeben vom Theodor W. Adorno Archiv. Bd. IV. Herausgegeben von Christoph Gödde / Henri Lonitz. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2000, S. 15; zit. nach: Wizisla, Erdmut: Benjamin und Brecht. Die Geschichte einer Freundschaft. Mit einer Chronik und den Gesprächsprotokollen des Zeitschriftenprojekts »Krise und Kritik«. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2004, S. 129. 20 Benjamin, Walter: [Programmatische Notiz]. In: Stiftung Archiv der Akademie der Künste, Berlin, Walter Benjamin Archiv Ts 2470; zit. nach: Wizisla, Erdmut: Benjamin und Brecht, S. 130. 21 Wizisla, Erdmut: Benjamin und Brecht, S. 131. 22 Brecht, Bertolt: Entwurf zu einer Zeitschrift »Kritische Blätter«. In: Brecht, Bertolt: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Herausgegeben von Werner Hecht / Jan Knopf / Werner Mittenzwei / Klaus-Detlef Müller. Berlin / Weimar / Frankfurt/Main: Aufbau, Suhrkamp 1988–2000, Bd. 21. Schriften 1. Schriften 1914–1933. Berlin / Weimar / Frankfurt/Main: Aufbau, Suhrkamp 1992, S. 330f., hier S. 331 – Im laufenden Text: (GBA Band, Seitenzahl). 23 Brecht, Bertolt: [Äußerung auf der Redaktionssitzung vom 26. 11. 1930]. In: Stiftung Archiv der Akademie der Künste, Berlin, Walter Benjamin Archiv Ts 2483; zit. nach Wizisla, Erdmut: Benjamin und Brecht, S. 155.
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Bertolt Brecht und die Krise in Gesellschaft und Theater Unsere Hoffnung heute ist die Krise, so lautet der Titel der Publikation von Brechts Interviews 1926–1956 im Suhrkamp Verlag (2023). Dabei bezieht sich der Begriff Krise auf die gesellschaftlichen Verhältnisse, auf die Konstitution des Individuums und auf ästhetische Prozesse, speziell das Theater. »Der Dialektiker«, so Brecht, »arbeitet bei allen Erscheinungen und Prozessen das Widerspruchsvolle heraus, er denkt kritisch, d. h. er bringt in seinem Denken die Erscheinungen in ihre Krise, um sie fassen zu können.« (GBA 25, 416) In Brechts wichtigstem und umfangreichstem, allerdings Fragment gebliebenem theatertheoretischen Text Der Messingkauf heißt es demzufolge: »Die Kritik […], entsteht aus den Krisen und verstärkt sie.« (GBA 22.2, 751) Krisen, hervorgerufen durch die Zuspitzung der ästhetischen Widersprüche, speziell um ein FremdMachen zu erreichen, können Gewohnheit und Routine überwinden und zu experimentellen Formen von Kunst führen, es entsteht eine Ästhetik der Krise. In Brechts Theaterpraxis wie in seiner Theatertheorie spielt der Arbeitsprozess, der zum Ergebnis der Aufführung führt, eine besondere Rolle. Auf »einem Notizbuchblatt aus dem Jahr 1940« (GBA 22.2, 1119) findet sich bei Brecht ein kurzer Text mit dem Titel Probe (GBA 22.2, 764), und auch an anderen Stellen seiner theoretischen Überlegungen zur »Schauspielkunst« (GBA 23, 191) beschäftigt er sich immer wieder mit den »Proben« (GBA 22.2, 642 und 644) und dem »Probieren« (GBA 22.2, 675). Dabei versteht er die Probe als ein »Ausprobieren [Hervorhebungen im Original]« von »mehrere[n] Möglichkeiten«, wie er in seinem Text Haltung des Probenleiters (bei induktivem Vorgehen) (GBA 22.1, 597–599) betont. Brecht spricht offensichtlich bewusst nicht vom Regisseur, sondern vom »Probenleiter«, der die »Aufgabe« hat, »die Produktivität der Schauspieler (Musiker und Maler24 usw.) zu wecken und zu organisieren.« (GBA 22.1, 597) Dieses Wecken von Produktivität gelingt jedoch nur, wenn der »Probenleiter« es schafft, »alle schematischen, gewohnten, konventionellen Lösungen von Schwierigkeiten zu entlarven. Er muß Krisen [Hervorhebung im Original] entfesseln.« (GBA 22.1, 597) Er muss sie also nicht nur zulassen, sondern auch initiieren.25 Der »Probenleiter« darf dabei jedoch, so Brecht, nicht davor zurückschrecken, zuzugeben, daß er nicht immer »die« Lösung weiß und parat hat. Das Vertrauen der Mitwirkenden zu ihm muß eher darin begründet sein, daß er im Stande ist, herauszubringen, was keine [Hervorhebung im Original] Lösung ist. Er
24 In Parenthese: Brecht verwendet in der Regel, wie es zu seiner Zeit üblich war, das generische Maskulinum, wir würden heute von Probenleiter:in, Schauspieler:innen, Musiker:innen und Maler:innen sprechen. 25 Vgl. die Diskussion in Bähr, Ingrid u. a.: Irritation im Fachunterricht, S. 25.
»Die Erscheinungen in ihre Krise« bringen, »um sie fassen zu können.«
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hat die Fragen beizusteuern, den Zweifel, die Vielfalt möglicher Gesichtspunkte, Vergleiche, Erinnerungen, Erfahrungen. (GBA 22.1, 597)
Mit Hilfe von Widersprüchen und Krisen entsteht, so Brecht, keine »organische Verbindung«, sondern »Element[e] der Überraschung« (GBA 22.1, 597f.)26 und der »Unordnung«27, die zu einer »staunende[n] Haltung [Hervorhebung im Original] der Schauspieler« (GBA 22.1, 598) führen. Durch die von Brecht propagierte »Zuschaukunst« (GBA 23, 191) soll eine vergleichbare Haltung auch bei den Zuschauer:innen erreicht werden, auch sie müssen die »Gelegenheit zu diesem Stutzen und Widersprechen haben.« (GBA 22.1, 598) Die Probe steht zweifelsohne auch bei Brecht für Wiederholung, Sicherung und Festlegung der Aufführungskonzeption, ebenso wichtig aber ist für ihn die Bewegung des Suchens und Findens, des wieder Verwerfens und neu Entwerfens als spezifische Form von Krise und Kritik, d. h. ihr Experimentcharakter28 sowie ihre kollektive Arbeitsweise.29 Brecht bezieht seine Theorie der »Schauspielkunst« übrigens explizit auch auf nichtprofessionelle Schauspieler:innen und arbeitet dem entsprechend auch mit Amateuren: »Von Anfang an wurden Amateure mit ausgebildet.« (GBA 22.1, 555) Ausdrücklich betont er, dass »es sich lohnt, vom Amateurtheater zu sprechen«. (GBA 22.1, 593) Brecht war in seinen Arbeitskollektiven zwar eindeutig der primus inter pares und in Bezug auf sein episches Theater hat er künstlerische Positionen, die von seiner eigenen abwichen, nur bedingt akzeptiert. Auch in den Proben kann er durchaus streng sein, deutlich kritisieren und sogar schimpfen, aber dennoch herrscht dort eine entspannte und zugleich konzentrierte Arbeitsatmosphäre. Brechts Proben waren in ihrer Vorgehensweise offen, ohne eine streng vorgegebene Struktur und eindeutige Methode und vor allem ohne absolute Herr26 Brecht hat, wie Walter Benjamin berichtet, eine besondere Vorstellung von »Produktion«: »Sie ist das Unvorhersehbare. Man weiß nie, was bei ihr herauskommt.« Benjamin, Walter: Tagebuchnotizen 1938. In: Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften. Bd. VI. Herausgegeben von Rolf Tiedemann / Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1991, S. 532– 539, hier S. 537. Zu Brechts Proben-Arbeit siehe die Hinweise in: Matzke, Annemarie: Arbeit am Theater. Eine Diskursgeschichte der Probe. Bielefeld: transcript 2012, S. 175–184. 27 Hinz, Melanie / Roselt, Jens: Poetiken des Probierens. Vorwort. In: Melanie Hinz / Jens Roselt (Hg.): Chaos und Konzept. Proben und Probieren im Theater. Berlin: Alexander 2011, S. 8. 28 Zu Brechts Theaterexperimenten vgl. Vaßen, Florian: Bertolt Brechts Theaterexperimente. Galilei versus Lehrstück. In: Kreuzer, Stefanie (Hg.): Experimente in den Künsten. Transmediale Erkundungen in Literatur, Theater, Film, Musik und bildender Kunst. Bielefeld: transcript 2012, S. 91–130. 29 Zur kollektiven Theaterarbeit vgl. Gromes, Hartwin: Das Brecht-Kollektiv. In: Kurzenberger, Hajo u. a. (Hg.): Kollektive in den Künsten. Hildesheim, Zürich, New York: Georg Olms 2008, S. 73–84 (= Medien und Theater. Neue Folge, Bd. 10) und Vaßen, Florian: From Author to Spectator: Collective Creativity as a Theatrical Play of Artists and Spectators. In: Fischer, Gerhard / Vaßen, Florian (Hg.): Collective Creativity. Collaboration Work in Sciences, Literature and Arts. Amsterdam, New York: Rodopi 2011, S. 299–312.
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schaft des Regisseurs, wie ein Bericht von Carl Weber aus dem Jahr 1952 verdeutlicht: Ich ging auf die Probe und es war offensichtlich, dass sie gerade eine Pause machten. Brecht saß auf einem Stuhl und rauchte eine Zigarre, der Regisseur Egon Monk und ein oder zwei Assistenten saßen bei ihm. Einige Schauspieler saßen auf der Bühne, andere standen bei Brecht, machten witzige Bemerkungen und lachten darüber. Dann ging ein Schauspieler auf die Bühne und versuchte über dreißig verschiedene Arten, von einem Tisch zu fallen. Man unterhielt sich etwas über die Szene »In Auerbachs Keller«. […] Dann machte sich ein anderer Schauspieler am Tisch zu schaffen und die Versuche wurden lachend verglichen. So ging das immer weiter und als jemand ein Brot aß, dachte ich mir, dass es sich um eine ziemliche lange Probenpause handeln müsse. Erst als der Regisseur Monk sagte »Gut, das war es für heute, lasst uns Schluss machen«, kapierte ich, dass all dies schon die Probe war.30
In einer 2021 veröffentlichten Tondokumentation findet sich eine Auswahl der im Brecht-Archiv gefundenen 133 Tonbänder mit Aufzeichnungen von fast 100 Stunden aus Brechts Proben des Galilei, seiner letzten Inszenierung im Jahr 1955/ 56. Zu Beginn bittet Brecht die Schauspieler:innen, »ihm Rollenwünsche und Fragen über Stück und Aufführung zu stellen bzw. schriftlich zu übergeben.«31 Er ist interessiert an den »spielerischen Angeboten der Schauspieler, provoziert, verführt sie mit seinem Interesse, seinem Kichern und durch die Originalität seiner Beschreibungen und Anweisungen.«32 Brecht macht auch selbst Haltungen oder Gesten vor und spricht einzelne Sätze oder Passagen. Immer wieder stellt er die Frage: »Wie machen wir das?«33 oder »Wie können wir das darstellen?«34 Seine Regiehinweise leitet er häufig mit Sätzen ein wie: »Darf ich was sagen …«, »Ich möchte was sagen …« oder »Da würde ich ….«, »Ich kann mich irren, aber …«, »Es könnte sein …«, »Jetzt müssen wir …«. Er benutzt also viele Modalverben und Adverbien wie »vielleicht« oder »möglich«, die Potentialität ausdrücken, und signalisiert Zustimmung: »Ich bin einverstanden«; ein häufiger Satz lautet: »Das müssen wir untersuchen.«35 Trotz vorheriger theoretischer Überlegungen und konzeptioneller Vorbereitung wird auf den Proben nicht theoretisiert, nicht eine fertige Idee des Regisseurs, sondern die Experimente der 30 Carl Weber: Brecht As Director. In: »The Drama Review« Nr. 12 (Herbst 1967), H. 1, S. 101– 107, hier S. 102f.; zit. nach: Roselt, Jens: 1952. Brecht probt in Berlin induktiv. In: Zanetti, Sandro (Hg.): Improvisation und Invention. Momente, Modelle, Medien. Zürich: Diaphenes, S. 263–272, hier S. 263. 31 Brecht probt Galilei 1955/56. Ein Mann, der keine Zeit mehr hat. Originalaufnahmen. Ausgewählt und zusammengestellt von Stephan Suschke. Berlin: speak low 2021, S. 14. 32 Ebd., S. 26. 33 Ebd. 34 Die Brecht-Zitate, die nicht aus dem Text von Suschke stammen, sind direkt den Tonaufnahmen entnommen. 35 Ebd., S. 22.
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Probenarbeit mit Umwegen und Unterbrechungen, Verlangsamung und Konfrontation sind entscheidend. Brecht betont sogar: »In der Nähe der Fehler liegen die Wirkungen.«36 Insgesamt bestätigt sich: Brechts Arbeitsweise auf den Proben ist »induktiv« und nicht »deduktiv«.
Heiner Müllers Radikalisierung der Krise »Theater ist Krise«37, formuliert Heiner Müller prägnant und provokant und wendet sich mit seinem Diktum zugleich gegen das ständige Lamentieren über das Theater in der Krise, wie es in Bezug auf Finanz- und Zuschauerprobleme sowie angesichts der gesellschaftlichen Dominanz von Film, Fernsehen und vor allem der digitalen Medien allenthalben zu hören ist.38 Theater als »Ort, wo noch Dinge live passieren«, als Ort der »Verwandlung«, wo »der Mensch nicht total auswechselbar« ist, bedeutet nach Müller im Sinne von George Bataille »Verschwendung«: »Nichts ist so tödlich, wie ein Theater, das wunderbar funktioniert. […] Es kann nur als Krise und in der Krise funktionieren, sonst hat es überhaupt keinen Bezug zur Gesellschaft außerhalb des Theaters.«39 Heiner Müller ist ein kritischer »Schüler« von Bertolt Brecht – auch in Bezug auf den Aspekt der Krise in der Theater-Praxis. Für Müller ist Theater nicht nur »Krise«, er radikalisiert vor allem die offene Probensituation, wie Brecht sie praktiziert hat. Auch er versteht sich eher als »Probenleiter«, denn als Regisseur, auch er sieht sich nicht als genialen Künstler, der eine Regiekonzeption vorgibt und sie auf den Proben mit den Schauspieler:innen lediglich umzusetzen versucht. Vielmehr geht er wie Brecht »induktiv« und nicht »deduktiv« vor; er lässt sie probieren, ermöglicht, dass sie ihre eigenen Vorstellungen realisieren, heterogenes Material ausbreiten, bietet lediglich einen Rahmen, stellt Fragen und gibt Anregungen, aber keine Lösungen. Die klare Trennung von Regisseur:in und Schauspieler:in wird so in Frage gestellt, das Künstlergenie40 mit seinem indivi36 Ebd., S. 25. Als Resümee formuliert Suschke in dem Booklet: »Und immer wieder Brechts Stimme, sehr klar, entschieden, manchmal zweifelnd, aber nie schwach, vorsichtig und zupackend, Pausen, wenn er sich Vorschläge anhört, sie ausprobiert mit Lust, Spaß, sein gickelndes Lachen, neu denken, abwägen, entscheiden, neu denken, abwägen, entscheiden, neu denken […].« Ebd., S. 45. 37 Müller, Heiner: Theater ist Krise. In: Müller, Heiner: Werke. Bd. 12. Gespräche 3. Herausgegeben von Frank Hörnigk. Berlin: Suhrkamp 2008, S. 792–811, hier S. 810. – Im laufenden Text: (HMW Band, Seitenzahl). 38 Siehe u. a. Schmidt, Thomas: Theater, Krise und Reform. Eine Krise des deutschen Theatersystems. Wiesbaden: Springer VS 2017. 39 Ebd., S. 794, 797f. und 810f. 40 Erst Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts war der Regisseur vom »Verwaltungsbeamten im Hofdienst« zu einem »Regiekünstler« geworden, verkörpert vor allem von Max Reinhardt.
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duellen »Regieeinfall«41 wird Teil eines Theater-Kollektivs, das sich im Probenprozess und in der Aufführung konstituiert.42 Indem Müller sich als Regisseur quasi verweigert, stürzt er allerdings diejenigen Schauspieler:innen, die gewohnt sind nach klaren Regievorgaben zu arbeiten, oft in eine Arbeitskrise. Sie empfinden sein »Nicht-Regie-Verhalten« als negativ und destruktiv, sie fühlen sich alleingelassen und hilflos, denn sie sind Umwege und Widersprüche sowie die daraus folgenden Störungen und Krisen in der Probenpraxis nicht gewöhnt. Ein zentraler Grund dafür ist: »Müller kommt dem nachvollziehbaren Bedürfnis nicht nach, psychologische Erklärungen für Figurenhaltungen zu liefern.« Damit provoziert er vor allem die Schauspieler: innen, »die ihre Rolle auf einem psychologischen Fundament aufbauen.«43 Die in der deutschen Schauspielausbildung absolut dominierenden Methoden von Konstantin Sergejewitsch Stanislawski, Lee Strasberg und Michail Tschechow sind offensichtlich für eine derartige Probenarbeit nicht besonders geeignet, die Schauspieler:innen fühlen sich überfordert und geraten so in eine Krise. In einem Gespräch von Heiner Müller mit Gunnar Nyquist, 1986 in der norwegischen Theaterzeitschrift »Spillerom« unter dem Titel Drama ist eine Maschine, die sich selbst schreibt (Übersetzung aus dem Norwegischen) veröffentlicht, erwähnt Heiner Müller eine »geplante« Krise auf einer Probe, eine Krise also, die er extra initiiert hat, um den Schauspieler in seinem gewohnten Sprechen zu verunsichern und so eine andere Spielweise zu erreichen. Das war am Schauspielhaus Bochum, Westdeutschland. Ein guter Schauspieler und Freund von mir hatte übergroßen Respekt vor dem Text und wollte dem Publikum deutlich machen, dass dies große Dichtung sei. Er behandelte den Text, als sei er Poesie und das war der Tod für das Drama. Also dachten wir uns eine Überraschung für ihn aus, ich sagte ihm vorher nichts. Ich durfte das machen, weil er ein Freund von mir war. In einer Szene befand er sich auf allen Vieren auf dem Boden, während er den Text sprach, das war sowohl poetisch als auch pathetisch. Plötzlich löste sich eins von den Bodenbrettern unter ihm, und er war nur damit beschäftigt sich festzuklammern, es war
Roselt, Jens: 1926. Der Einfall der Regie im Theater. In: Zanetti, Sandro: Improvisation und Invention, S. 317–332, hier S. 321. 41 Ebd., S. 324. Der individuelle Regieeinfall wird besonders sichtbar in modernen Klassikerinszenierungen, seit den 1920er Jahren charakterisiert mit dem »Reizwort Hamlet im Frack«, S. 328; das Skandalon der letzten Jahrzehnte war die Nacktheit der Schauspieler:innen. 42 Vgl. auch die Hinweise in Alexander Weigel: Die Archäologie des Maulwurfs. Heiner Müller und das Deutsche Theater. In: »Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur«. Hg. v. Heinz Ludwig Arnold. München 1997. Zweite Auflage: Neufassung, S. 155–178, bes. S. 167–169; Hanne Speicher: Das deutsche Theater nach 1989. Eine Theatergeschichte zwischen Resilienz und Vulnerabilität. Bielefeld: transcript 2021, S. 62–66. 43 Dokumentation von Heiner Müllers Inszenierung von Hamlet/Hamletmaschine im Archiv der Akademie der Künste ID 677. Probennotat vom 13. 10. 1989; zit. nach: Matzke, Annemarie: Arbeit am Theater, S. 269.
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ihm unmöglich, ›große Kunst zu schaffen‹. Da kam der Text zum ersten Mal zur Geltung, plötzlich stand der Text alleine da und wurde viel leichter und verständlicher.44
Müller geht es hier um »Lesarten des Textes«, nicht um psychologische Aneignung und Verkörperung. Wie Brecht will er die Poetik des Textes45 vor der Inbesitznahme durch die Schauspieler:innen retten, und versucht so, die Theatertexte vor dem »Eintheatern« durch die Theater, wie Brecht es nennt (vgl. GBA 24, 58), zu bewahren. »Ich glaube grundsätzlich«, so denkt Müller Brecht weiter, daß Literatur dazu da ist, dem Theater Widerstand zu leisten. Nur wenn ein Text nicht zu machen ist, so wie das Theater beschaffen ist, ist er für das Theater produktiv und interessant. […] Es gibt genug Stücke, die das Theater, so wie es ist, bedienen, das braucht man nicht neu zu machen, das wäre parasitär. (HMW 10, 57)
Brecht benutzte dazu das epische Theater mit Szenentiteln, einleitenden Versen, mit Erzähler und Chor und er schuf die Lehrstücke, die als »eine andere Kette von Versuchen […] sich zwar theatralischer Mittel bedienten, aber die eigentlichen Theater nicht benötigten, […].« (GBA 22.1, 167) Bei Müller sind es Theatertexte wie Die Hamletmaschine und Bildbeschreibung, die gegen das Theater geschrieben sind und sich mit ihrer reduzierten bzw. fehlenden dramatischen Struktur der üblichen Inszenierungspraxis widersetzen. Es geht also auch hier um ein Spannungsverhältnis in Form einer produktiven Krise. Mit der Konstellation der »Störung« (HMW 11, 370) wendet sich Müller nicht nur auf einer inhaltlichen Ebene gegen die gewaltförmige Kontinuität der gesellschaftlichen Verhältnisse, sondern entwirft auch in Form einer Ästhetik der Krise eine »Poetik der Störung«46 mit dem Prinzip der Unterbrechung47, »um die Wirklichkeit unmöglich zu machen.« (HMW 8, 218) Fragmentierung und Montage, Ambiguität und Polyphonie sowie Selbstreflexivität und Transkulturalität sollen die gewohnten Verhaltens- und Wahrnehmungsmuster sprengen. Sich erneut auf Brecht beziehend schreibt Müller: Es gibt bei Brecht den Satz, wenn eine Szene nicht funktioniert, so muß man das Nichtfunktionieren der Szene belassen. Und man muß die nächste Szene machen, keine falsche Logik hineinbringen, nicht angleichen. So ist es mit Texten generell auch in 44 Müller, Heiner: Drama ist eine Maschine, die sich selbst schreibt. In: Nitschmann, Till / Vaßen, Florian (Hg.): Heiner Müllers KüstenLANDSCHAFTEN. Grenzen – Tod – Störung. Bielefeld: transcript 2021, S. 257–263, hier S. 258f. 45 Vgl. »Meine Texte sind eine autonome Landschaft, diese Landschaft kann man weiter ausbreiten und ausbauen, unabhängig von politischen Systemen.« (HMW 11, 698). 46 Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater. 3., veränd. Aufl. Frankfurt/Main: Verlag der Autoren 2005, S. 264. 47 Vgl. Lehmann, Hans-Thies: Wie politisch ist postdramatisches Theater? In: Lehmann, HansThies: Das politische Schreiben. Essays zu Theatertexten. Berlin: Theater der Zeit 2002, S. 11– 21 (= Recherchen 12).
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bezug auf ihren revolutionären Sinn, der ja auch eine Art Widerborstigkeit gegenüber der Realität ist. (HMW 11, 92f.)
Die erwähnte konstruierte Probensituation in Bochum ist sicherlich grenzwertig, und Müller betont ja auch extra, dass er mit dem Schauspieler befreundet war. Nicht mit jedem/r Schauspieler:in, vor allem mit Amateur-Schauspieler:innen, sollte eine solche Situation nicht hergestellt werden; sie wären zu erschrocken, bekämen vermutlich Angst, würden vielleicht das Sprechen und Spielen beenden und sogar jede Lust am Theater verlieren. Möglich ist es aber sicherlich, sie vorsichtig zu verunsichern, um sie von ihrer gewohnten, gutgemeinten, oft den digitalen Medien »abgeguckten« Spielweise »wegzulocken«. So könnte ihnen etwa der Gestus der großen Bedeutung fremd werden, indem sie einen Text in Blankversen in eine Alltagsszene einfügen oder eine Szene von Goethes Iphigenie in aktueller Jugendsprache spielen. Brecht z. B. thematisiert die ökonomische Krise des 20. Jahrhunderts, indem er das Pathos aus Schillers Jungfrau von Orleans in seiner Heiligen Johanna der Schlachthöfe mit Schlachthof, Dosenfleisch und Überproduktionskrise verbindet. Er schreibt sogar »Parallelszenen«, die z. B. mit Hilfe der »Übertragungen […] des Streits der Königinnen aus ›Maria Stuart‹ in ein prosaisches Milieu« (GBA 22.2, 830), das der »Fischweiber« (GBA 22.2, 834), »der Verfremdung der klassischen Szenen dienen.« (GBA 22.2, 830) B. K. Tragelehn, Heiner Müllers langjähriger Weggefährte im Theater, beschreibt ein Beispiel für eine »ungeplante« Krise als Schock während der Probenarbeiten zu August Strindbergs Fräulein Julie am Berliner Ensemble. Er berichtet: Eine Art Zufall war’s. In einer frühen Probenphase haben wir Übungen gemacht, Improvisationen. Wir spielten zum Beispiel Blinde Kuh. Jutta Hoffmann hatte die Augen verbunden und suchte uns, Schleef und Holtz und mich. Auf der Probebühne lag eine Gliederpuppe herum von irgendeiner anderen Produktion, eine lebensgroße Puppe. Und wir nahmen die und hielten sie ihr, die sie ja nicht sehen konnte, hin. Sie schreckt zurück, wir lassen die Puppe fallen, und es klappert. Jutta hat einen Schock und stürzt in Panik davon, über die Stuhlreihen weg. Die Probebühne hatte, wie die Bühne, ein paar ansteigende Reihen Gestühl, mit einem Gang in der Mitte für die Bewegungsfreiheit bei der Probe, aber sie rannte nicht in den Gang, sondern blind auf das Gestühl zu und stieg über die Reihen und riss sich erst dabei die Binde von den Augen. Beim Probieren des Schlusses, viel später, haben wir uns daran erinnert. Und fanden, dass das die Lösung wäre.48
Die Inszenierung von Fräulein Julie endet damit, dass Jutta Hoffmann, die Schauspielerin der Julie, »über die Zuschauerreihen stieg in einer – besonderen Zerbrechlichkeit. Sie musste gestützt und gehalten werden vom Publikum, das 48 Tragelehn, B. K.: Theater- und Text-Landschaft bei Heiner Müller. In: Nitschmann, Till / Vaßen, Florian: Heiner Müllers KüstenLANDSCHAFTEN, S. 137–147, hier S. 144.
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darauf ja nicht vorbereitet war«49. Beide Beispiele, die geplante und die ungeplante Krise bei Müller bzw. Tragelehn, basieren auf einer »Konfrontationsstruktur«50. Ob die schauspielerische Krise produktiv wirkt, ob in dem so geschaffenen »Möglichkeitsraum«51 Neues entsteht, ist aber nie sicher und schon gar nicht planbar. Es bleibt ein Risiko, es gibt keine Gewissheit des Gelingens, weil es auch zu Kränkungen und Verunsicherungen kommen kann, »im schlimmsten Fall (sogar) zur Paralyse«52, wie Annemarie Matzke es mit dem Schauspieler JörgMichael Körbl am Beispiel von Müllers Regiearbeit bei der Inszenierung von Hamlet/Die Hamletmaschine beschreibt.53 Die individuelle Krise der Schauspieler:innen können sich bis zu Versagensängsten und zur Verweigerung steigern. Die offene Probensituation ist insofern oft eine Zumutung für die Beteiligten, als sie der an deutschen Bühnen, gerade im sogenannten Regie-Theater zumeist vorherrschenden Theater-Arbeit, in der den Schauspieler:innen jegliche Entscheidungs- und Wahlmöglichkeit vorenthalten wird, diametral entgegensteht. Intendiert aber ist statt dessen: Die Institution Theater in ihrer gängigen Form, in der die Schauspieler:innen in der Regel in völliger Abhängigkeit, gerade auch von den Regisseur:innen, arbeiten, d. h. die autoritäre und hierarchische Struktur des Theaters, soll in die Krise gebracht werden.
Fremdheit, Krise und Übergangsfähigkeit Theater ist nicht nur Krise, wie Müller betont, es ist zugleich auch »Schauplatz des Fremden«54, so Bernhard Waldenfels. Fremdheit bezeichnet immer eine Relation, denn sie ist nur in Bezug zur Eigenheit zu verstehen. Das Eigene und das Fremde sind demnach untrennbar miteinander verbunden, sie bedingen sich wechselseitig. Wichtig ist dabei die Haltung der Akzeptanz der Fremdheit des Fremden, sowohl seine Ablehnung als auch seine Vereinnahmung würden Lernprozesse und Veränderungen verhindern. Im Theaterprozess zeigt sich das Verhältnis von Eigenem und Fremden vor allem in der Beziehung von Spieler:innen und Theaterfiguren, aber auch im Verhältnis von Theaterpraxis und Theatertext, sei er nun ein poetischer oder ein
49 50 51 52 53 54
So formuliert Thomas Irmer in diesem Gespräch. Ebd., S. 143. Vgl. Combe, Arno / Gebhard, Ulrich: Irritation, Erfahrung, Verstehen, S. 135. Matzke, Annemarie: Arbeit am Theater, S. 270. Ebd. Vgl. auch Hanne Speicher: Das deutsche Theater nach 1989, S. 69. Waldenfels, Bernhard: Sinne und Künste im Wechselspiel. Modi ästhetischer Erfahrung. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2010, S. 241.
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von den Beteiligten selbst erstellter alltagssprachlicher.55 Es handelt sich dabei jedoch nicht um eine binäre Konstellation, sondern um plurale Bezüge und Überschneidungen. Entscheidend ist das Spannungsverhältnis, das Dazwischen56, die Überschreitung von Liminalität und damit die Differenzerfahrungen der Beteiligten als Basis von Krisenerfahrungen. Im Zentrum von Brechts Überlegungen steht bekanntlich die »Beschreibung einer neuen Technik der Schauspielkunst, die einen Verfremdungseffekt hervorbringt« (GBA 22.2, 641): »Ihr existiert alles nur, indem es sich wandelt, also in Uneinigkeit mit sich selbst.« (GBA 23, 82) Bekanntes muss fremd werden, damit es erkannt wird. Brechts Methode entspricht demnach dem Vorgang der »Entselbstverständlichung«57, wie er mit Hilfe von Krisenerfahrungen auch in transformatorischen Bildungsprozessen angestrebt wird. Um diese Bewegung zu ermöglichen, bedarf es jedoch eines »hohen Grad[es] an Übergangsfähigkeit«58, es könnte auch Krisenfähigkeit heißen. Wenn diese Bereitschaft, Eigenes in Frage zu stellen und neu zu denken, nicht existiert bzw. nicht entwickelt wird, dominiert die Abwehr von allem Unbekannten und Fremden, seien es komplexe Demokratiediskurse oder Intersektionalität von race, Klasse und Gender, experimentelle Kunstprozesse oder radikale ästhetische Erfahrungen. Oft besteht eine Haltung der Verweigerung, die Forderung, sich auf Neues einzulassen, wird als Zumutung empfunden, denn das Bekannte-Eigene ist das Sichere und damit scheinbar auch das Richtige. Walter Benjamin stellt sogar die provokante Behauptung auf, dass »[d]ie meisten Menschen […] keine Erfahrungen machen […] wollen«, da sie durch »ihre Überzeugungen« zu festgelegt sind.59 – eine extreme Ausprägung dieser Haltung sehen wir aktuell im Trumpismus. Die besondere Schwierigkeit in der Krise – auch in der TheaterPraxis – besteht demnach darin, den ersten Schritt in Richtung des Neuen zu gehen, eine erste Veränderung zuzulassen. Zwar tendieren die »kollektiven Suchprozesse« im Theater – anders als bei nicht-künstlerischen Gegenständen und Arbeitsweisen – zu einer »ergebnis-
55 Vgl. Gebhard, Ulrich u. a.: Antworten auf Irritationsmomente im Biologie- und Theaterunterricht. In: Bähr, Ingrid u. a. (Hg.): Irritation als Chance, S. 221–258, hier S. 226. 56 Vgl. auch Bähr, Ingrid u. a.: Irritation im Fachunterricht, S. 16; Pfeiffer, Malte: Zuwenden und Vermeiden. Irritation in kollektiven Theaterprozessen. In: Bähr, Ingrid u. a.: Irritation als Chance, S. 323–346, hier S. 326. 57 Combe, Arno / Gebhard, Ulrich: Sinn und Verstehen. Die Rolle von Phantasie und Erfahrung. Wiesbaden: Springer 2012, S. 89f.; zit. nach Combe, Arno / Gebhard, Ulrich: Irritation, Erfahrung, Verstehen, S. 140. 58 Wolfgang Welsch: Die zeitgenössische Vernunftkritik und das Konzept der transversalen Vernunft. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1996, S. 831. 59 Benjamin, Walter: Zur Erfahrung. In: Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften. Bd. VI, S. 88f., hier S. 89.
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offenen«60 Vorgehensweise und damit zumeist zu einer weniger negativen Bewertung von Krisen, aber viele Schauspieler:innen, besonders aber nichtprofessionell Agierende empfinden diese gleichwohl oft als bedrohlich bzw. destruktiv. Es entsteht ein ambivalentes Verhältnis zu krisenhaften Situationen, »kreative[.] Antworten [kursiv im Original]«61 stehen oft der Verweigerung und voreiligen Beurteilungen von richtig und falsch gegenüber; »Praktiken des Zuwendens und Praktiken des Vermeidens [kursiv im Original]«62, wie Malte Pfeiffer es nennt, liegen dicht beieinander. Er spricht deshalb von der Notwendigkeit eines richtigen »Mischverhältnis[ses] von Gewissheits- und Irritationsmomenten«63, gerade auch in theaterpädagogischen Prozessen. Aber auch im professionellen Theater ist die Haltung des »Übergangs« die Voraussetzung dafür, dass die Krise der Schauspieler:innen in den Proben nicht in Verzweiflung mündet, sondern zu einer Selbstvergewisserung führt und letztlich in einem Neu-Entwurf endet. Mit Hilfe der spielerischen, sprachlichen wie körperlichen Krisenelemente der Theater-Kunst, auf Grund der Etablierung von Räumen sozialer Phantasie, aus Neugier, Distanz und Befremden können erstarrte Zustände in Bewegung geraten, es entsteht Ungewöhnliches und auch Verstörendes, eine Haltung der »Störung« bietet die Möglichkeit zu Transformationen. »Uneinigkeit mit sich selbst« (GBA 23, 82), so Brecht, als Folge einer Krise ist die Basis für produktive, eingreifende, neugierige Verhaltensweisen, denn das Neue kommt aus der Fremde bzw. dem Fremden. Schon 1929 formuliert er deshalb pointiert mit Blick auf die Schauspieler:innen und die Zuschauer:innen: »Jeder sollte sich von sich selber entfernen. Sonst fällt der Schrecken weg, der zum Erkennen nötig ist.« (GBA 21, 280) Theater ist eben – Krise! Krise und Kritik greifen auch im gesellschaftlichen Kontext ineinander, wie etwa an der »Befürwortung von Deglobalisierung«, an »Anti-Neoliberalismus« und Anti-Kolonialismus sowie an Black Lifes Matter und Fridays for Future, also an einem »neue[n] politisch-ökonomisch-ökologisch-soziale[n] Weg«64 zu sehen 60 Pfeiffer, Malte: Zuwenden und Vermeiden, S. 325. Kunst ruft grundsätzlich Irritationen hervor. Die Überraschung in Form ästhetischer Produktion und Rezeption als Gegenposition zur Vorhersehbarkeit, die Unterbrechung und das Fremdsein, das Staunen, von dem Brecht als wichtigem Faktor im Theaterprozess spricht, lassen »die Gesellschaft mit sich uneins werden«, wie erst jüngst der Soziologie Dirk Baecker wieder konstatiert hat. »Die eigentliche Botschaft der fiktiven Welten der Künste ist das Nein zu jeder realen Wirklichkeit, ein Nein allerdings, das selbst Teil der realen Wirklichkeit ist.« Baecker, Dirk: Von Foersters Vermutung und die Kunst oder Wie Unvorhersehbarkeit paradoxerweise das Gefühl der Kontrolle erhöht. In: »Theater der Zeit« Nr. 76, 3, 2021, S. 33–36, hier S. 36. 61 Pfeiffer, Malte: Zuwenden und Vermeiden, S. 339. 62 Ebd., S. 336. 63 Ebd., S. 339. 64 Gilcher-Holtey, Ingrid: Die Rückkehr des Ringens um die konkrete Utopie. Krise und Kritik – Debatte über die Zukunft Frankreichs. In: »Frankfurter Rundschau« vom 07. 05. 2022, S. 22f, hier S. 22.
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ist. Gerade die Corona-Krise hat unser Leben deutlich verändert, vor allem Nähe und Körperlichkeit sind privat, gesellschaftlich und ästhetisch, besonders auch im Theater, nahezu unmöglich geworden und werden ersetzt durch digitale oder hybride Formate oder zumindest mit ihnen kombiniert. Es entsteht eine »Krise der Versammlung« und damit Transformationen in einem »postpandemische[n] Theater«65. Aber auch der Begriff der Krise selbst verändert sich, sie wird durch das Virus bedrohlicher, umfassender und existentieller. Nicht zu vergessen ist dabei allerdings, dass die vermutlich zeitlich begrenzte Virus-Krise Teil der umfassenden Klima-Katastrophe ist, in deren Folge verstärkt Zoonosen als Ausgangspunkt für neuartige gefährliche Virus-Erkrankungen auftreten. Mit Bezug zu Jean Baudrillards Virustheorie entwickelte Heiner Müller schon 1995 in dem kurzen Text Krieg der Viren, sozusagen als Ergänzung zum »Krieg der Landschaften« (HMW 8, 336), eine »Gegenwelt« der Viren: »Unbekannte verdeckten Gesichts / Ihr Kämpfer an der unsichtbaren Front.« (HMW 5, 308)66
Literatur Artaud, Antonin: Das Theater und sein Double. In: Ders.: Das Theater und sein Double. Das Théâtre de Séraphin. Frankfurt a. M.: Fischer 1979, S. 7–154. Avanessian, Armen: Postpandemisches Theater und die Krise der Versammlung. In: »lfb Journal«. Hg. v. Literaturforum im Brechthaus. Berlin 2021, S. 10–13. Baecker, Dirk: Von Foersters Vermutung und die Kunst oder Wie Unvorhersehbarkeit paradoxerweise das Gefühl der Kontrolle erhöht. In: »Theater der Zeit« 76 (2021), H. 3, S. 33–36, hier S. 36 Bähr, Ingrid u. a.: Irritation im Fachunterricht. Didaktische Wendung der Theorie transformatorischer Bildungsprozesse. In: Dies. u. a. (Hg.): Irritation als Chance. Bildung fachdidaktisch denken. Wiesbaden: Springer 2019, S. 3–39. Benjamin, Walter: Brief an Bertolt Brecht [nach dem 5. 2. 1931]. In: Ders.: Gesammelte Briefe. Hg. v. Theodor W. Adorno Archiv. Bd. IV. Hg. v. Christoph Gödde/Henri Lonitz. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2000, S. 15. Benjamin, Walter: Zur Erfahrung. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. VI. Hg. v. Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1991, S. 88f. Benjamin, Walter: Tagebuchnotizen 1938. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. VI. Hg. v. Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1991, S. 532– 539. Bonnet, A./Hericks, U.: Professionalisierung bildend denken. Perspektiven einer erziehungswissenschaftlichen Professionstheorie. In: Müller-Roselius, K./ Hericks, U. (Hg.): 65 Vgl. Avanessian, Armen: Postpandemisches Theater und die Krise der Versammlung. In: »lfb Journal«. Herausgegeben vom Literaturforum im Brechthaus. Berlin 2021, S. 10–13. 66 Vgl. hierzu Eke, Norbert Otto: Utopie als/der Störung. Heiner Müller und die »Lücke im Ablauf«. In: Rhetorik. Ein Internationales Jahrbuch. Herausgegeben von Markus Mülke u. a. Bd. 39. Rhetorik und Utopie. Berlin / Boston: de Gruyter 2020, S. 71–85.
»Die Erscheinungen in ihre Krise« bringen, »um sie fassen zu können.«
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Bildung – empirischer Zugang und theoretischer Widerstreit. Opladen: Budrich 2013, S. 35–54. Combe, Arno/Gebhard, Ulrich: Irritation, Erfahrung, Verstehen. In: Bähr, Ingrid u. a. (Hg.): Irritation als Chance. Bildung fachdidaktisch denken. Wiesbaden: Springer 2019, S. 133– 158. Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm auf CD-ROM und im Internet. Bd. 11, Sp. 2336. dwb.uni-trier.de/ letzter Zugriff am 20. 1. 2021. Duden. Deutsches Universalwörterbuch. 4., neu bearbeitete und erweiterte Auflage. Hg. v. der Dudenredaktion. Mannheim u. a.: Duden 2001. Duden. Bd. 5. Fremdwörterbuch. 8., neu bearbeitete und erweiterte Auflage. Mannheim u. a.: Dudenverlag 2005. Eke, Norbert Otto: Utopie als/der Störung. Heiner Müller und die »Lücke im Ablauf«. In: Rhetorik. Ein Internationales Jahrbuch. Hg. v. Markus Mülke u. a. Bd. 39. Rhetorik und Utopie. Berlin/Boston: de Gruyter 2020, S. 71–85. Etymologisches Wörterbuch des Deutschen. München: dtv 1995, S. 736. Gebhard, Ulrich u. a.: Antworten auf Irritationsmomente im Biologie- und Theaterunterricht. In: Bähr, Ingrid u. a. (Hg.): Irritation als Chance, Bildung fachdidaktisch denken. Wiesbaden: Springer 2019, S. 221–258. Gilcher-Holtey, Ingrid: Die Rückkehr des Ringens um die konkrete Utopie. Krise und Kritik – Debatte über die Zukunft Frankreichs. In: Frankfurter Rundschau vom 7. 5. 2022, S. 22f. Gromes, Hartwin: Das Brecht-Kollektiv. In: Kurzenberger, Hajo u. a. (Hg.): Kollektive in den Künsten. Hildesheim u. a.: Georg Olms 2008, S. 73–84 (= Medien und Theater. Neue Folge, Bd. 10). Hinz, Melanie/Roselt, Jens: Poetiken des Probierens. Vorwort. In: Dies. (Hg.): Chaos und Konzept. Proben und Probieren im Theater. Berlin: Alexander 2011, S. 8. Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater. 3., veränd. Aufl. Frankfurt a. M.: Verlag der Autoren 2005. Lehmann, Hans-Thies: Wie politisch ist postdramatisches Theater? In: Ders.: Das politische Schreiben. Essays zu Theatertexten. Berlin: Theater der Zeit 2002, S. 11–21 (= Recherchen 12). Macho, Thomas: Krisenzeiten: Zur Inflation eines Begriffs. URL: https://geschichtedergeg enwrt.ch (Online-Magazine) / letzter Zugriff 31. 5. 2020. Matzke, Annemarie: Arbeit am Theater. Eine Diskursgeschichte der Probe. Bielefeld: transcript 2012, S. 175–184. Müller, Heiner: Werke. 12 Bde. u. ein Registerbd. Herausgegeben von Frank Hörnigk. Frankfurt a. M. / Berlin: 1998–2011. Müller, Heiner: Drama ist eine Maschine, die sich selbst schreibt. In: Nitschmann, Till/ Vaßen, Florian (Hg.): Heiner Müllers KüstenLANDSCHAFTEN. Grenzen – Tod – Störung. Bielefeld: transcript 2021, S. 257–263. Oevermann, Ulrich: Krise und Muße. Struktureigenschaften ästhetischer Erfahrung aus soziologischer Sicht. Vortrag am 19. 6. 1996 in der StädelSchule. URL: http://publikatio nen.ub.uni-frankfurt.de/files/4953/Krise-und-Musse-1996.pdf/ letzter Zugriff am 10. 07. 2013.
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Pfeiffer, Malte: Zuwenden und Vermeiden. Irritation in kollektiven Theaterprozessen. In: Bähr, Ingrid u. a. (Hg.): Irritation als Chance, Bildung fachdidaktisch denken. Wiesbaden: Springer 2019, S. 323–346. Reichert, Melanie: Kultur in Stücken. Barthes, Brecht, Artaud. Bielefeld: transcript 2020. Rötzer, Florian: Medien in der Krise. Krise in den Medien. Ein Streifzug durch neue Öffentlichkeiten. In: Kursbuch 170. Krisen lieben. Hamburg: Murmann 2012. Roselt, Jens: 1952. Brecht probt in Berlin induktiv. In: Zanetti, Sandro (Hg.): Improvisation und Invention. Momente, Modelle, Medien. Zürich: Diaphenes, S. 263–272. Roselt, Jens: 1926. Der Einfall der Regie im Theater. In: Zanetti, Sandro: Improvisation und Invention. Momente, Modelle, Medien. Zürich: Diaphenes, S. 317–332. Schöttker, Detlev: Brechts »Theaterarbeit«. Ein Grundlagenwerk und seine Ausgrenzungen. In: »Weimarer Beiträge« 53 (2007), H. 3, S. 438–451. Suschke, Stephan (Hg.): Brecht probt Galilei 1955/56. Ein Mann, der keine Zeit mehr hat. Originalaufnahmen. Ausgewählt und zusammengestellt von Stephan Suschke. Berlin: speak low 2021. Tragelehn, B. K.: Theater- und Text-Landschaft bei Heiner Müller – Ein Gespräch. In: Nitschmann, Till/Vaßen, Florian: Heiner Müllers KüstenLANDSCHAFTEN. Grenzen – Tod – Störung. Bielefeld: transcript 2021, S. 137–147. Vaßen, Florian: From Author to Spectator: Collective Creativity as a Theatrical Play of Artists and Spectators. In: Fischer, Gerhard/Vaßen, Florian (Hg.): Collective Creativity. Collaboration Work in Sciences, Literature and Arts. Amsterdam/New York: Rodopi 2011, S. 299–312. Vaßen, Florian: Bertolt Brechts Theaterexperimente. Galilei versus Lehrstück. In: Kreuzer, Stefanie (Hg.): Experimente in den Künsten. Transmediale Erkundungen in Literatur, Theater, Film, Musik und bildender Kunst. Bielefeld: Transcript 2012, S. 91–130. Waldenfels, Bernhard: Sinne und Künste im Wechselspiel. Modi ästhetischer Erfahrung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2010. Weber, Carl: Brecht As Director. In: »The Drama Review« 12 (Nr. 1 Herbst 1967), H. 1, S. 101–107. Welsch, Wolfgang: Die zeitgenössische Vernunftkritik und das Konzept der transversalen Vernunft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1996. Wizisla, Erdmut: Benjamin und Brecht. Die Geschichte einer Freundschaft. Mit einer Chronik und den Gesprächsprotokollen des Zeitschriftenprojekts »Krise und Kritik«. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2004. Krise: URL: https://www.wikipedia.org/wiki/krise/ letzter Zugriff am 20. 1. 2021.
Gerd Koch (Berlin)
»… auszuarbeiten … angewandtes theater …« (Bertolt Brecht, 10. 10. 1942) – m/ein kleiner Versuch (2018)
Meine Motivation »Theatralisierung von Lehr-Lern-Prozessen«1 ist meine generelle Grundierung in beruflicher und erkenntnispraktischer wie -theoretischer Hinsicht. Sie ist ferner eingebettet in Aspekte einer »demokratischen Experimentalität«2 und wird vom Bedenken einer gelingenden »Mikropolitik«3 (Horst Bosetzky) sowie Überlegungen zu einer »deliberativen«, also beratenden, abwägenden, aushandelnden Demokratie,4 eines »Konvivialismus«5 im Verbund von Ideen eines »buen vivir« (guten Lebens)6 anregend begleitet. Gesellschaftliche Bildung (Verfasstheit) als informelle und formelle Sozialisation will ich als ein Zugleich von zwei Perspektiven / Dimensionen / Wirk1 Koch, Gerd u. a.: Theatralisierung von Lehr-Lernprozessen. Milow: Schibri 1995; siehe auch Koch, Gerd: Theatralisierung (von Lehr- und Lernprozessen). In: Koch, Gerd / Streisand, Marianne (Hg.): Wörterbuch der Theaterpädagogik. Milow: Schibri 2003, S. 329f.; Vgl. Koch, Gerd: Lernen mit Bert Brecht. Bertolt Brechts politisch-kulturelle Pädagogik. Frankfurt/Main: Brandes & Apsel 1988, erweiterte Neuausgabe. 2 Vgl. Brunkhorst, Hauke: Demokratischer Experimentalismus. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1998. 3 Siehe Heinrich, Peter / Schulz zur Wiesch, Jochen (Hg.): Wörterbuch zur Mikropolitik. Opladen: Leske und Budrich 1998 (darin Koch, Gerd / Wahrheit, Günther: Büro als Bühne, S. 38–42). 4 Velasco, Juan Carlos: Deliberation / deliberative Demokratie. In: Sandkühler, Hans Jörg (Hg.): Enzyklopädie Philosophie. Velasco gibt diesen Hintergrund an: »Theorien der d. D. (deliberativen Demokratie – Anm. GK) berufen sich häufig auf zwei ›historische‹ Modelle (die Institutionen der griech. Polis und der Salons und Cafés des bürgerlichen Raums vor und nach der Französischen Revolution) sowie auf institutionelle Erfahrungen der modernen Welt (deliberative Umfrage, Schöffengericht, Beteiligungshaushalt usw.). Schon daran sieht man, dass die Implementierung der d. D. einer bereits fest verwurzelten partizipatorischen Kultur bedarf. Die politische Partizipation der Bürger ist grundlegend für das Verständnis deliberativer Politik.« (S. 363): URL: http://digital.csic.es/bitstream/10261/31935/3/%2BDeliberation% 20-20Enziklop%C3%A4die%202010.pdf / letzter Zugriff am 26. 11. 2021. 5 Les Convivialistes: Das konvivialistische Manifest. Für eine neue Kunst des Zusammenlebens. Bielefeld: Transcript 2014. Siehe auch Nanz, Patrizia / Leggewie, Claus: Die Konsultative. Mehr Demokratie durch Bürgerbeteiligung. Berlin: Wagenbach 2016. 6 Acosta, Alberto: Buen Vivir. Vom Recht auf ein gutes Leben. München: oekom 2015.
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weisen / »Verhaltungslehren« (Brecht) 7 verstehen: Sie ist eine pädagogische, edukative, personale Lebensbegleitung und sie ist aktiv in kleinen und für kleine Öffentlichkeiten, die an einer Gestaltung der Architektur (building) von Gesellschaft/en kleinschrittig mitwirken. Und in beiderlei Hinsicht wird gezielt in Richtung auf gelingendes, gutes Leben, auf Mit-Bürgerlichkeit gehandelt. Es sind versuchsweise und bedachte Eingriffe.8 Nebenbei: Ich schreibe gerne »Ein-Griffe«, um das Partielle zu akzentuieren, um einerseits das kleine, auch stück-werkhafte Format deutlich zu machen und, um mit Brecht zu sprechen, das Aktive/ Tätige (auch Körperliche), was im Wort »Eingreifen« steckt und was mittels experimentierender Versuche geschieht, zu verdeutlichen. Brecht nannte seine erste Werk-Ausgabe (1930–1933) Versuche. Und zum Gestus des Experimentierens referiert der Philosoph Günther Anders Brecht in seinen Gesprächen mit Brecht: »Was Sie in Ihrem Theater durchführen, sind […] Experimente […] Experimentaldramatik […]. Sie [waren] darauf aus […], mit Hilfe literarischer Werke nützliche Experimente aufbauen zu können.« Brecht antwortete darauf: »Stimmt. Kürzer: […] Episches Theater ist zugleich experimentelles Theater« – darauf wieder Günther Anders: Ihre Theorie des Zeigens […] stammt aus der Praktikums-Situation […] Weil das im Praktikum durchgeführte Experiment nicht nur dasjenige zeigt, was sich nun physikalisch oder chemisch abspielt, sondern immer zugleich, was man, soll das Experiment gelingen, zu tun oder zu lassen hat […] dieses doppelte Zeigen […] also Zeiger und Gezeigtes zugleich.9
Und es ist als ein »horizontales« und nicht »vertikales« Handlungsmodell10 zu benennen – für die Förderung einer »Demokratisierung von unten […], lokal 7 Im Gedicht Streit und Kampf heißt es beim Dichter und Anarchisten Erich Mühsam: »Aktionsprogramm, Parteistatut, / Richtlinien und Verhaltungslehren – / schöpft nur aus allen Quellen Mut! / Ein jedes Kampf System ist gut, / das nicht versagt vor den Gewehren!« In: Mühsam, Erich: Alarm. Manifeste aus 20 Jahren 1925. URL: Streit und Kampf – Das Blättchen (das-blaettchen.de) / letzter Zugriff am 17. 11. 2021. 8 Siehe auch Brechts Konzept eines »eingreifenden Theaters«, wie er es etwa im »Kleinen Organon für das Theater« entfaltet (Brecht, Bertolt: Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Herausgegeben von Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei, Klaus-Detlef Müller. Berlin, Weimar, Frankfurt/Main: Aufbau, Suhrkamp 1988–2000. Bd. 23, S. 65–97 – im laufenden Text [GBA Band, Seitenzahl]). Und Bertolt Brecht lässt seinen »Ziffel« in den Flüchtlingsgesprächen sagen: »Die Begriffe, die man sich von was macht, sind sehr wichtig. Sie sind Griffe, mit denen man die Dinge bewegen kann.« »… die Lebensweise (Hervorhebung – GK) der Begriffe, dieser schlüpfrigen, unstabilen, verantwortungslosen Existenzen … Sie treten sozusagen paarweise auf, jeder ist mit seinem Gegensatz verheiratet …« (GBA 14, 1461). 9 Anders, Günther: Der Mensch ohne Welt. München: C. H. Beck 1993, 2. Aufl. 1993, S. 138f. 10 »Soziale Bewegungen aus der ganzen Welt haben sich hier in Porto Alegre zum Weltsozialforum versammelt. Gewerkschaften und Nicht-Regierungsorganisationen (NGOs), Bewegungen und Organisationen, Intellektuelle und Künstler, gemeinsam bauen wir ein umfas-
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und kommunal, unter Berücksichtigung gewachsener Strukturen und mit Einbindung aller Menschen in einen Prozess [in Prozesse, GK] der selbst gestalteten [gestaltenden, GK] Ermächtigung.«11 In dieser Hinsicht kann gesellschaftliches Lehren und Lernen partizipieren an ästhetischen Produktionsmodellen individueller und kollektiver Kreativität,12 namentlich des Kommunikations- und Öffentlichkeitsmodells Theater als einer spontanen, unmittelbar zeigenden/demonstrierenden Demokratie, als Lebensund Alltagspraxis, als Beziehungs-, Handlungs- und Erkenntnisformat, als – um mit Heinrich Heine zu sprechen – »Weltergänzung durch Poesie«13, als »publizistisches Theater«.14 Ein in öffentlicher Sprache Sich-Handelnd-Bewegen-Können ist für die Philosophin Hannah Arendt Ausdruck einer vita activa und wirkt als Konstituens von Demokratie. Ich gehe von der Überlegung und Praxiserfahrung aus, dass Poesie, Literatur, Dichtung, Fragmente Wissensspeicher sind, die Impulse geben, um CoProduzentInnenschaft, aktive Zuschaukunst, Erzähl- und Erkenntniskräfte sowie reflektierendes Kommentieren und Reflektieren ermöglichen und bilden (GBA 22.1, 370)15 – auch und gerade im alltagsweltlichen Zusammenhang (s. o. Bildung als Verfasstheit/Verfassung). Es wird keine »von außen« kommende Methodik/Technik an die (literarischen) Werke herangetragen, sondern
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sendes Bündnis, um eine neue Gesellschaft zu schaffen, die sich von der herrschenden Logik unterscheidet, in der der freie Markt und das Geld als das einzige Maß aller Dinge gelten.« / Aufruf zur Mobilisierung aus Porto Alegre. URL: http://weltsozialforum.org/2001/2001.auf ruf/index.html. / letzter Zugriff am 23. November 2021. Siehe auch Holloway, John: Change the World Without Taking Power – der Titel lautet in der deutschen Übersetzung: Die Welt verändern, ohne die Macht zu übernehmen. 5. Aufl. Münster: Westfälisches Dampfboot 2018; besser hätte er wohl lauten sollen: … ohne Herrschaft zu übernehmen, weil »Herrschaft« den Echoraum »Knechtschaft« erzeugt und Macht dagegen auch mittels weicher Kommunikation diskursiv ausgeübt werden kann. Trojanow, Ilija: Nach dem Abzug aus Afghanistan: Wahnsinniger Hochmut. In: »die tageszeitung«, 20. 10. 2021, S. 12. Koch, Gerd / Marx, Sinah: Collective Creative Processes in Behavioural Studies: Community Theatre as an Agency of Political Research and Action. In: Fischer, Gerhard / Vaßen, Florian (Hg.): Collective Creativity. Collaborative Work in the Science, Literature and the Arts. Amsterdam, New York: Rodopi 2011, S. 45–57. Chawtassi, Grigorij: Weltergänzung durch Poesie. Zu ästhetischen Ansichten Heinrich Heines. In: »Weimarer Beiträge« Nr. 7, 1972, S. 145ff. Koch, Gerd: Drei Theaterabende, drei aktuelle Theaterstücke – ein Ensemble! Publizistisches Theater im Chinesischen Kulturzentrum Berlin 19.–21. November 2013. In: »Zeitschrift für Theaterpädagogik« Nr. 64, S. 62–67; siehe auch Lassak, Jens: Das Theaterfeature. Uckerland: Schibri 2013; Binnerts, Paul: REAL TIME ACTING für ein Theater der Gegenwärtigkeit SPIEL ZEIT RAUM. Uckerland: Schibri 2014. Vgl. auch Brecht 1927/28 zum (damals neuen) Medium des Radios (GBA 21, 215–219). Die Straßenszene. Grundmodell einer Szene des epischen Theaters (1940). Siehe Ritter, Hans Martin: Brechts Straßenszene und die Kunst des Erzählens. In: Ritter, Hans Martin: Nachspielzeit. Uckerland: Schibri 2020, S. 154–165.
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es wird davon ausgegangen, dass das Impuls(e)-gebende Werk selbst eine Didaktik (unbeabsichtigt/beabsichtigt) in sich trägt, d. h. der Text als Lehrer, dem man begegnet ist, dem man aber nicht im Detail folgen muss – weil das Begegnen das Entscheidende ist.16 Und es wird davon ausgegangen, dass diejenigen, die sich hier »ans Werk« machen – gegenüber dem Werk eines Anderen – selbst über alltägliche, gewöhnliche Didaktiken (so will ich »Auto-Didaktik«/autodidaktisch« als Selbst-Bildung – selbst & Selbst – verstehen) und über Entschlüsselungs- und Gestaltungsweisen verfügen (siehe Weisheits-Wissen); denn »culture is ordinary«17: Alltagswissen/-praxis – Zivilgesellschaft/egalitäre Gesellschaft. Mit anderen Worten: Es wirkt in mehrfacher Hinsicht ein selbststeuerndes, offenes, kreatives, neu-schaffendes, auch dialektisches System – bestehend aus einer eben solchen System-Vorgabe eines Autoren-Textes und aus den personalen System-Vorgaben des aktiv mit ihm handelnden Subjekts, so dass gewissermaßen eine dritte System-Formation, ein vitales Produkt/eine aktive Produktion, erarbeitet wird und zur öffentlichen Disposition steht/gestellt wird, gleich einer vitalen System-Prozessualität als ein Bündnis unterschiedlicher Wirklichkeiten, Machbarkeiten.18
Mein Anlass Im August 2018 hatte ich die Gelegenheit, in Oaxaca (Mexiko) an einem Symposium zum gesellschaftlichen Wandel teilzunehmen – Simposio: »Realidades Complejas: Aproximaciones desde las Ciencias Sociales«, wo sich auch eine spezielle Arbeitsgruppe dem Feld von »Arte, Cultura y Desarrollo Social« widmete. Eine Dokumentation der gesamten Tagung erschien 2020 in spanischer Sprache
16 Henrich, Dieter: Hegel im Kontext. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1971, S.191f.: »So ist einer Schüler gerade dann, wenn er dem Lehrer nicht folgt, sofern nur seine ›Unfolgsamkeit‹ daraus entsteht, daß er dem Lehrer begegnet ist.« »Der Schüler eignet sich die Meinung des Lehrers (hier: das von Brecht angebotene Stück als lehr-lernhaftes Angebot – Anm. GK) nicht an, indem er […] sie imitieren lernt.« »Der gute Schüler ist gegen den Lehrer er selbst, aber nichts ohne ihn.« 17 Siehe zum Kontext Williams, Raymond: Gesellschaftstheorie als Begriffsgeschichte. Studien zur historischen Semantik von »Kultur«. München: Rogner & Bernhard 1972; Williams, Raymond: Innovationen. Über den Prozeßcharakter von Literatur und Kultur. Frankfurt/ Main: Syndikat 1977; sowie die Studien des »Centre for Contemporary Cultural Studies« in Birmingham und Koch, Gerd (Hg.): Kultursozialarbeit. Eine Blume ohne Vase? Frankfurt am Main: Brandes & Apsel 1989. 18 Siehe Ernst Bloch. In: Münster, Arno (Hg.): Tagträume vom aufrechten Gang. Sechs Interviews mit Ernst Bloch. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1977, S. 124: »Was ich anstrebe, ist, aus der Gegenwart das Mögliche (auch: Un-Mögliche – Anm. GK), das in ihr angelegt ist, herauszulesen.«
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unter dem Titel Encontrar y Encontrarse – en desafío transdisciplinario desde las sciencias sociales.19 Das akademische Symposium zeichnete sich insgesamt aus durch viele Chancen des geselligen Austausches. Eine Überfrachtung durch Vorträge wurde vermieden – gute Zeitmaße für »conversatio« in einem emphatischen und produktiven Sinne waren vorhanden und bildeten die tagungs-didaktische und sozialwissenschaftliche Grund-Haltung. Brecht hat 1938/39 eine Unterscheidung getroffen, indem er zwei Theaterformen so klassifizierte: das alte Theater sei nach dem K-Typus (dem Karusselltypus) gestaltet und das neue Theater nach dem P-Typus (nach dem planetarischen Typus): Diese Dramatik vom P-Typus … setzt ihn [den Zuschauer – Anm. GK) doch mehr instand, zu handeln. Ihr sensationeller Schritt, die Einfühlung des Zuschauers weitgehend aufzugeben, hat nur den einen Zweck, die Welt in ihren Darstellungen dem Menschen auszuliefern, anstatt, wie es die Dramatik vom K-Typus tut, der Welt den Menschen auszuliefern. (GBA 22.1, 389)20
Bertolt Brecht ist mir ein Produzent, der sowohl theoretisch wie praktisch sich der Wirkungsweise von Poesie, Theater und Gedichten zugewandt hat, und der mit so genannten Amateuren-Theater zu spielen angeregt hat. Am 10. 10. 1942 notiert sich Brecht: Es wäre auszuarbeiten das thema angewandtes theater, dh, es müßten einige grundbeispiele des einander-etwas-vormachens im täglichen leben beschrieben werden sowie einige elemente theatralischer aufführung im privaten und öffentlichen leben. wie leute anderen leuten zorn zeigen […] wichtig die auch im privaten leben geübte gruppierung in den verschiedenen situationen. […] rolle der gruppierung bei der alltäglichen dramatisierung der sozialen beziehungen – wo und wie sitzt der vorgesetzte?21
Für meine (theaterpädagogische) Mitarbeit am geselligen Abschlussabend des Symposiums zu sozialen Wissenschaften in einem großen, weitläufigen Saal eines Restaurants ließ ich mich von einer weiteren Praxisempfehlung Bertolt Brechts von vor über 90 Jahren leiten. Er notierte: 19 Kniffki, Johannes / Briseño Maas, María Leticia / Reutlinger, Christian (Hg): Encontrar y Encontrarse – un desafío transdisciplinario desde las sciencias sociales. Berlin: Frank & Timme 2020. Siehe darin Koch, Gerd: El teatro es »Arte, Cultura y Desarrollo Social«, S. 41–56. 20 Siehe auch Kotte, Andreas: Theaterwissenschaft. Eine Einführung. Köln, Weimar, Wien: UTB Böhlau 2005, S. 105f.: »Brecht nun war skeptisch gegenüber […] Gegenwärtigkeit, in die die Zuschauer in ein Geschehen hineingerissen würden, als ob sie auf einem Karussell säßen. Er schlug vor, szenische Vorgänge herzustellen, die betrachtet werden, als säße man im Planetarium und beobachtet das Kreisen der Planeten im Weltraum.« Vgl. erweiternd die Praxis des »archipelischen Denkens« (auch creolité) bei Glissant, Édouard: Philosophie der Weltbeziehung. Poesie der Weite. Heidelberg: Wunderhorn 2021. 21 Brecht, Bertolt: Arbeitsjournal, Bd. 2: 1942–1955. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1973, S. 526.
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Ich würde gern sehen, wenn das Publikum bei unseren Aufführungen rauchen dürfte (GBA 21, 134):«Einrichtung eines Theaterlaboratoriums […] in dem Schauspieler, Autoren und Regisseure so arbeiten, wie es ihnen Spaß macht, ohne besondere Absicht. Und jeder, der herein möchte, kann sich das Laboratorium und Vorstellungen auf der Experimentierbühne ansehen. (GBA 21, 138)
Der Ablauf des Abschlussabends Alle TeilnehmerInnen (knapp 100 Personen aus Brasilien, Deutschland, Mexiko, Schweiz, USA) hatten an Tischen zum Abendessen Platz gefunden. Auf den Esstischen der Teilnehmenden hatte ich diesen kleinen Text von Brecht in spanischer Sprache ausgelegt: EL MALVADO BAAL como funcionario de Migración. una mujer lucha por la vida de su hermano. el funcionario cumple todos los trámites. la prisa apremia. (cañonazos, reloj) Bertolt Brecht
Es handelt sich dabei um eine kurze Notiz aus Bertolt Brechts Fragmenten zu Der böse Baal der asoziale von etwa 1930.22 So lautet sie in Brechtscher Schreibweise: »DER BÖSE BAAL. als paßbeamter. eine frau kämpft um das leben ihres bruders. der beamte erfüllt sämtliche formalitäten. eile ist alles. (kanonendonner, uhr).« Nach dem Servieren von Vorspeisen und Getränken wurden 8 TeilnehmerInnen durch einen der Symposiums-Koordinatoren animiert, sich für eine kleine, improvisierte, öffentliche Theateraufführung freiwillig zur Verfügung zu stellen, ausgehend von der Brecht-Notiz auf den Tischen. Es waren vier Frauen und vier Männer (aus den Sozialwissenschaften), die nun zum ersten Male der Brecht-Notiz begegneten, um coram publico jeweils ein kurzes szenisches Geschehen in die Welt zu setzen – und sie konnten es! Schon einige Tage vorab hatte ich eine professionelle Tänzerin mit dem Brecht-Fragment vertraut gemacht, um sich für zwei kurze Auftritte vorzubereiten – gewissermaßen als körper-sprachlicher Kommentar zu den spontan entstandenen Szenen – die sie noch nicht kennen konnte (Stichwort: KontrastMontage). Auf das gesamte Unternehmen einer »Intervención escenia y musical y baile« (szenische, musikalische und tänzerische Intervention) hatte ich mich wie folgt vorbereitet: 22 Brecht, Bertolt: Baal. Der böse Baal der asoziale. Texte, Varianten, Materialien. Kritisch ediert und kommentiert von Dieter Schmidt. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1968. Siehe auch Koch, Gerd / Steinweg, Reiner / Vaßen, Florian (Hg.): Assoziales Theater. Spielversuche mit Lehrstücken und Anstiftung zur Praxis. Köln: Prometh 1983.
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Überblick Ort der Veranstaltung ist ein Restaurant mit einer separaten, aber offen einsehbaren Spielfläche die gemeinhin für theatrale, musikalische und tänzerische oder Kino-Abend-Unterhaltung genutzt wird. Freiwillig beteiligt sind Symposium-Teilnehmerinnen und eine Tänzerin. Ich liefere nur kurze, koordinierende Hinweise zum Verfahren. Die nun gleich spielenden Tagungsmitglieder geben sich wechselseitig durch einen roten Lippenstift einen Punkt auf die Nase und zeigen damit an, dass sie für eine gewisse Zeit jemand anderes sein können. Die Tänzerin agiert/probt eigenständig und ist nicht sichtbar. Für das gesamte Geschehen sind etwa 50 Minuten (zwischen 19–20 Uhr) vorgesehen.
Meine Absicht Der Impuls ist ein literarisches Fragment von Bertolt Brecht mit dem Titel: DER BÖSE BAAL als Paßbeamter. Aus dieser fragmentarischen Notiz wollte Brecht später eine Szene oder ein Theaterstück machen. Dazu ist er aber nicht mehr gekommen. Brecht hatte übrigens seinen Fragmenten/Skizzen zum BÖSEN BAAL diese Aufmerksamkeitsrichtungen und Rollen-Modellhaftigkeiten vorangestellt: BAAL auftauchen als / gast / hure / richter / kaufmann (stiere) / ingenieur (will nur das experiment) / hilfsbedürftiger – bittsteller (er beutet das ausgebeutetseinwollen aus) / liebhaber der natur / demagoge / arbeiter (streikbrecher) / mutter / historiker / soldat / liebhaber … / als pfaffe / als beamter …23
Der Ablauf im Einzelnen Es entwickeln in einem Restaurant nicht-professionelle Spieler:innen IHRE performance! Sie nehmen die Text-Idee von Brecht auf und sind nun selber Experten, um mit dem kleinen Fragment von Brecht etwas in/vor Öffentlichkeit zu gestalten und zu zeigen – aus ihren Erfahrungen, ihren beruflichen Kenntnissen, ihren Träumen, ihren sozialen Utopien, ihrem Protest, ihrer Tagesform. Vielleicht erfinden sie auch etwas ganz anderes, was aber durch oder gegen den Text von Brecht angeregt wurde. Acht Personen werden zum spontanen Theater-Spielen benötigt – sowie eine professionelle Tänzerin. Geprobt wird »vor aller Augen«. Die Restaurant-Besucher:innen sind ebenfalls aufmerksam-aktiv dabei (können vom Tisch aufstehen 23 Brecht, Bertolt: Baal. Der böse Baal der asoziale. Texte, Varianten, Materialien, S. 78.
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und direkt an der Spielfläche stehen, mit ihrem Getränk in der Hand, oder diskutieren über die Textvorlage an ihrem Tisch oder verlassen den Raum zum Rauchen.) All dieses findet öffentlich im Restaurant statt. Die Personen, die nicht auf der Spielfläche aktiv sind (also die Besucher im Restaurant) können bei den Proben aktiv beobachten und zuhören und denken und fühlen. Sie werden angeregt, sich auch von ihren Plätzen (Stühlen, Tischen, Bar) in Richtung Spielfläche zu begeben. Die Tänzerin nimmt – nun auch – als (sich selbst vorbereitet habende) Beobachterin teil. Es wurden zwei Theaterspielgruppen zu je 4 Personen gebildet, die sich – zufällig (?!) –in selber Anzahl nach »männlich« und »weiblich« fanden. Die Gruppen erstellen gemeinsam eine kleine/kurze Szene (von etwa 5 Minuten Spieldauer) – ausgehend vom Impuls von Brecht. Dafür haben sie 15 Minuten Zeit. Jede Theaterspieler:in schreibt zum Abschluss ein kleines Kommentar-Gedicht, das aus 7 Wörtern in 4 Zeilen besteht, in dieser Form: Poesia / Commentario en 4 lineas y 7 términos 1. Zeile: Ein Wort 2. Zeile: Zwei Wörter 3. Zeile: Drei Wörter 4. Zeile: Ein Wort
Wenn die Spieler:innen mit ihren Proben für die Szene fertig sind, werden die Szenen nacheinander vorgespielt – in dieser Weise: Szene 1 gespielt und anschließend je einzeln 4 Kommentar-Gedichte nacheinander laut außerhalb der Rolle vorgelesen und in Richtung Publikum gesprochen (10 Minuten). Tanz (3 Minuten). Szene 2 gespielt und anschließend je einzeln 4 Kommentar-Gedichte nacheinander laut außerhalb der Rolle vorgelesen und in Richtung Publikum gesprochen (10 Minuten). Tanz (3 Minuten). Benötigte Arbeitsmaterialien: BAAL-Text, Papier, Stifte, Lippenstift, zufällig im Restaurant Vorhandenes …
Zwei verschiedene Szenen entstehen aus dem Brechtschen Text-Fragment-Impuls Eine »naturalistische«/anschauliche Szene (gespeist aus Not, Furcht, Gewalt) an einer staatlichen Grenzstation, gespielt von der Gruppe der Frauen unter Nutzung der im Restaurant vorhandenen »Requisiten«: Stühle, Tisch, Pflanzen, auch
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das vorhandene Mikrophon wird für »sounds« genutzt, etwa zum Markieren von Kanonendonner/Schießen. Die von der Männergruppe gespielte Szene improvisierte die Möglichkeit, doch noch in eine Fußball-Arena zu kommen, auch wenn man zur falschen Fan-Gruppe gehört – erst körperliches Gerangel und Bestechung machen den Zugang möglich. Die Tätigkeit einer Tänzerin hat sich als ein Konzentrations- und Kontrastpunkt erwiesen: Sie stellte sich einen Holzstuhl aus dem Restaurant auf die leere Spielfläche. Dessen kleine Sitzfläche wurde nun ihre kleine, etwas erhöhte Bühne und auch ihre Requisite. Die körperliche, verbal-stumme Zentrierung/Konzentration war zugleich ein illustrativer, plastischer wie thematischer Kommentar und ein Muster zum genauen Zuschauen für das interessierte Publikum sowie eine Spiegelung für die SpielerInnen. Während des Abschiedsabends des Symposiums gab es ein Erstaunen unter spielenden und zuschauenden Akteur:innen darüber, was innerhalb so kurzer Zeit kreativ entstehen kann. An den Esstischen wurde lebhaft weiter debattiert; man besuchte sich wechselseitig: Vom szenischen Debattieren zum verbalen Austausch und zum spontanen, kleinen Weiterspiel in einer zufälligen Variante eines Tischtheaters.24
Meine nachträglichen Reflexionen – mit Brecht und anderen 1. Mein Impuls, gegeben vom französischen Soziologen Pierre Bourdieu: Man muß Platons immer wieder kommentierten Ausdruck … ›ernsthaft spielen‹, ganz ernst nehmen …, indem man ernsthaft spielt und die Dinge des Spiels ernst nimmt, indem man sich ernsthaft mit Problemen beschäftigt, die die ernsthaften wirklich beschäftigten Leute ignorieren – aktiv oder passiv.25
2. Meine Lesefrüchte aus Wolf-Rüdiger Wagners Blick auf Platons ›Schriftkritik‹ – eine Anleitung zum angemessenen Umgang mit schriftlichen Texten. Ich liefere eine Zitat-Collage:
24 Ich erinnere an das »Tischtheater«, auch Papiertheater genannt ( japanisch: Kamishibai, englisch: Toy Theatre): Ein ursprünglich aus Papierbögen herzustellendes Figuren- und Bühnenmaterial zum Spielen von Theaterstücken oder Märchen / Geschichten etwa auf häuslichen oder Schul-Tischen oder beweglichen Podesten auf Straßen. Es wurde auch als Bildungsinstrument genutzt, um literarische Produkte, die für große Bühnen gedacht waren, kleinformatig und häuslich »in Szene« zu setzen und so anschaulich zu machen; siehe: Mahler, Regine / Koch, Rüdiger: Papiertheater. In: Koch, Gerd / Streisand, Marianne (Hg.): Wörterbuch der Theaterpädagogik. Uckerland: Schibri 2003, S. 218f. 25 Bourdieu, Pierre: Ernsthaft Spielen. In: Bourdieu, Pierre: Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1998, S. 204.
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Bezug genommen wird dabei vor allem auf den Phaidros-Dialog, ein fiktives philosophisches Gespräch zwischen Sokrates und seinem Freund Phaidros […] Schrift überliefere ›totes Wissen‹. Wissen, das wachsen und Samen tragen solle, müsse im Gespräch nach den ›Vorschriften der dialektischen Kunst‹ gesät und gepflanzt werden. […] Sokrates [geht – Anm. GK] auf die zu Beginn des Dialogs von Phaidros gestellte Frage ein, ob das Schreiben [Hervorhebung – GK] von Reden ›schimpflich‹ und zu ›mißachten‹ wäre. […] Für Sokrates zeichnet sich der gute Redner [Hervorhebung – GK – Anm. ich will hier ›Spieler‹ lesen] dadurch aus, dass er situations- und adressatengerecht formuliert, Reaktionen seiner Zuhörer aufnimmt und Fragen aufgreifen kann. Im Vergleich dazu ist die geschriebene Rede ›tot‹.26
Wichtig ist mir die Überlegung, dass von »ernsthaft spielenden« Menschen gesprochene, gestaltete Wörter zu lebendigem Wissen werden, zur menschlichen Kommunikation (siehe: communio, community) gehörend werden. Auch sog. tacit knowledge/tacit knowing – also implizites (Gedächtnis-)Wissen – kann so zu explizitem Wissen, zu selbstbewusster und -geschaffener »Lebenskunst« (GBA 23, 290)27 beitragen/herausfordern – als gewissermaßen lebendiges, vitales, öffentliches Wissen, als eine Praxis des Lebens: Eine neue, bisher nicht gekannte Produktivität nimmt Gestalt an durch die Begegnung im learning-play-Prozess ausgehend vom Herausforderungsgrad fragmentarischer, poetischer (Autor-)Vorlagen – hier also einer solchen von Bertolt Brecht.28
26 In: Medienberatung Niedersachsen. NKQ (Niedersächsisches Landesinstitut für schulische Qualitätsentwicklung) Hildesheim, Stand: 25. 06. 2014. Vgl. auch Wagner, Wolf-Rüdiger: Bildungsziel Medialitätsbewusstsein. München: kopaed 2013, S. 126, 128. Nach Giesecke, Michael: Die Entdeckung der kommunikativen Welt. Studien zur vergleichenden Mediengeschichte. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2007, S. 41, »stellt Platon die Leistungsfähigkeit der Schrift als Kommunikationsmedium, also zur Vermittlung von Wissen, in Frage. Seine Kritik richtet sich nicht gegen die Schrift als Informationsmedium zur Stütze für das Gedächtnis.« 27 »Alle Künste tragen bei zur größten aller Künste, der Lebenskunst«. Siehe auch: Katharina Narbutovic, Susanne Stemmler (Hg.): Über Lebenskunst. Utopien nach der Krise. Berlin: Suhrkamp 2011; Koch, Gerd: »Lebenskunst« (Bertolt Brecht). In: Schewe, Manfred (Hg.): 81 Sprüche zur Enthärtung unserer Welt. On the Softening of Our World, 81 Sayings. Berlin: Schibri 2021, S. 216–218. 28 Das kann auf durchaus listige Weise geschehen; »Mit (Ernst) Bloch, (Bertolt) Brecht und (Robert) Jungk kann man ein Lernen, ›das von seinem Stoff aktiv betroffen‹ ist, (v)erlangen und dazu aufrufen, Lehren und Lernen als listiges Überschreiten zu üben.« – so schrieb ich es in der deutschsprachigen Zusammenfassung meiner Notizen zum Versuch einer experimentellen Pädagogik des ›aufrechten Gangs‹, die in serbokroatischer Sprache erschienen unter dem Titel Zabiljesˇke uz pokasˇaj eksperimentalne pedagogije ›uspravnog hoda‹ in der Zeitschrift »Filozofska Istrazivanja« Nr. 21, 1987, S. 479–489, hier S. 489; Vgl. auch Elkana, Jehuda: Anthropologie der Erkenntnis. Die Entwicklung des Wissens als episches Theater einer listigen Vernunft. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1986. Elkana bezieht sich in seinem Konzept des List-Wissens auf die griechische Oceanide namens Metis. Und es liegt – möglicherweise, auch – nahe, Bertolt Brechts Buch der Wendungen (GBA 18, 45–94), dessen chinesischer »Meister Meti« (S. 47) darin das sinntragende Handlungsmodell darstellt, in Bezug auf die ›Göttin‹ des praktischen, impliziten Scharfsinns, nämlich Metis, zu setzen: Brecht notiert sich
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Das geschieht auch in Formen des Montierens/Hinzufügens eigener Erfahrungen, Erinnerungen, Zweifel und durch Material, das mittels kollektivem/ gruppenmäßigem Geschehen sich zusammenfügt. »Die ganze Schriftstellerei wird eben, von einzelnen betrieben, immer fragwürdiger«, so Brecht zum Dreigroschenprozeß. Ein soziologisches Experiment (1931/1932), dem er das Motto »Die Widersprüche sind die Hoffnungen!« voranstellte. (GBA 21, 449) Seine hinterlassenen Manuskripte zeugen auch davon, welch unterschiedliche Materialien in sie hineingeklebt wurden durch Brecht, so dass er seine montierende Arbeitsweise mit dem Begriff »Klebeologie«29 charakterisierte. Brecht nannte nicht zufällig seine ersten versammelten Werke Versuche; denn ein bewegliches, selbstproduktives und -reflexives Ganzes (System?) entsteht aus Stücken, Versuchen, Experimenten. Florian Vaßen äußerte sich am 31. 1. 2010 in einem Gespräch an der Hochschule Osnabrück (Campus Lingen) im Institut für Theaterpädagogik akzentuierend so: »Brecht ist kein einheitliches System. Es gibt keine Homogenität, und das ist auch gut so: Seine Heterogenität ist eine Stärke, keine Schwäche.«30 Es geschieht ein exemplarisches Lernen mit/in/zu soziologischer Phantasie.31 Speziell Brechts Lehrstücke können wir als Rohstoffe für theaterpädagogische Umgangsweisen verstehen: Gerade das Unvollendete hat auffordernden Lehrund Lernwert. Wer ihnen begegnet, kann/soll angeregt sein, weiter selbstproduktiv zu werden: Der Wert eines Texts liegt darin, ihm begegnet zu sein, nicht ihm zu folgen.32 Beim ernsthaft-spielenden Umgang mit Vorlagen von Brecht (seien es Fragmente, Gedichte, Lehrstücke) findet eine gestaltete Interaktion zwischen ästhetisch-literarischem Gegenstand und ernsthaft spielenden Menschen statt: Die Begegnung mit Brecht, so ließe sich sagen, konstituiert Lebensgeschichte der Spielenden mit. Die literarische, schriftliche Vorlage wird ein Sozialisationsfaktor, wird ein Element bei der Ausbildung von sozialer Personalität des Ich als »Beziehungsgröße« (Jean-Paul Sartre) sowie von mikropolitischer »Lebenskunst«, und Brecht sagt in seinem Buch der Wendungen (»Me-ti«) als »Kin-jeh«: »Liebe [ist] eine Produktion«:
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1934, als er »die Schriften des chinesischen Philosophen« Mo Di wohl erstmals rezipiert, ihn in der Schreibweise »Me Ti« (GBA 18, 487). Thiemann, Iliane: Fragmente am laufenden Band. Ein (fragmentarischer) Streifzug durch das Bertolt-Brecht-Archiv. In: Oesmann, Astrid /Rothe, Matthias (Hg.): Brecht und das Fragment. Berlin: Verbrecher Verlag 2020, S. 220. Meine Mitschrift. Vgl. Negt, Oskar: Soziologische Phantasie und exemplarisches Lernen. Zur Theorie der Arbeiterbildung. Frankfurt/Main: Europäische Verlagsanstalt 1968. Henrich, Dieter: Hegel im Kontext, S. 191.
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Es ist das Wesen der Liebe wie anderer großen Produktionen, daß die Liebenden vieles ernst nehmen, was andere leichthin behandeln, die kleinsten Berührungen, die unmerklichen Zwischentöne. Den Besten gelingt es, ihre Liebe in völligem Einklang mit anderen Produktionen zu bringen; dann wird ihre Freundlichkeit zu einer allgemeinen, ihre erfinderische Art zu einer vielen nützlichen und sie unterstützen alles Produktive. (GBA 18, 175f.)33
Der praktisch-ernst-spielende Umgang mit Wissensformen, wie sie etwa künstlerische Produkte beinhalten und transportieren, macht menschliche Entscheidungsfindung lernbar, darstellbar und vor-zeigbar. Und zugleich ist mit Brecht daran zu denken, dass ein Ich durch seine je besondere Sozialisation eine Mehrdimensionalität erwirbt/erwerben kann, dass jeder Mensch ein Schnittpunkt ganz verschiedener Einflusslinien ist. Und Brecht nennt deutlich seine Aufgabe als Dramatiker. Sie sei es nicht, uns die Taten dieses Menschen möglichst begreiflich zu machen, sondern sie uns ganz ungeheuerlich, unmenschlich, fremdartig, […] als bemerkenswertes, aber fast unzulängliches Tier vorzustellen. Dadurch entsteht der Zuwachs im Zuschauer, denn er erlebt die Reichhaltigkeit und [die] durch sein Verständnis keineswegs erschöpfbare Göttlichkeit der Welt. (GBA 21, 283)
Der urbane Städtebewohner Brecht erkennt (geschrieben etwa 1926): »Da es unerträglich ist, in großen Massen individuell zu leben, wird der Massenmensch es aufgeben. Um vom Erträglichen zum Lustvollen zu kommen, wird er das Dividuelle ungeheuer ausbauen müssen. Er tut es.« (GBA 21, 179) »In den wachsenden Kollektiven erfolgt die Zertrümmerung der Person.« (GBA 21, 320) Jedoch: »Der Zwiespalt zwischen Individuum und Dividuum macht den Künstler aller Zeiten aus […] Kunst ist nichts besonders Individuelles. Ein reiner Individualist wäre schweigsam.« (GBA 21, 179) Die Mutmaßungen der alten Philosophen von der Gespaltenheit des Menschen realisieren sich: in Form einer ungeheuren Krankheit spaltet sich Denken und Sein in der Person. Sie fällt in Teile, sie verliert ihren Atem. Sie geht über in anderes, sie ist namenlos, sie hört keinen Vorwurf mehr, sie flieht aus ihrer Ausdehnung in ihre kleinste Größe, aus ihrer Entbehrlichkeit in das Nichts – aber in ihrer kleinsten Größe erkennt sie tiefatmend übergangen ihre neue und eigentliche Unentbehrlichkeit im Ganzen. (GBA 21, 320)
Etwa 1941/42 notiert Brecht: Das Individuum erscheint uns immer mehr als ein widerspruchsvoller Komplex in stetiger Entwicklung, ähnlich einer Masse. Es mag nach außen hin als Einheit auftreten und ist darum doch eine mehr oder minder kampfdurchtobte Vielheit, in der die 33 Siehe auch Koch, Gerd: Von Brechts Me-ti ausgehend: Gedanken zum Produzieren. In: Massalongo, Milena / Vaßen, Florian / Ruping, Bernd (Hg.): Brecht gebrauchen. Theater und Lehrstück – Texte und Methoden. Uckerland: Schibri 2016, S. 83–91.
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verschiedensten Tendenzen die Oberhand gewinnen, so daß die jeweilige Handlung nur das Kompromiß darstellt. (GBA 22.2, 691)34
Weitere Fragmente vom Bösen Baal bieten sich hierzu als Handlungen und Erkenntnis stimulierende Stoffe an, aber auch prägnante, auffordernde Formulierungen aus epischen Stücken können anregen – etwa solche aus Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny: »Aber etwas fehlt«, »Können uns und euch und niemand helfen«35; oder: »Denn wovon lebt der Mensch« aus der Dreigroschenoper; oder: die humanistische Rechtsprechung des Azdak im Kaukasischen Kreidekreis (etwa mit Blick auf die UN-Kinderrechtskonvention von 1989). Etwas Herausgerissenes hat Aufforderungscharakter: An den Rändern wird deutlich, dass etwas fehlt! Solcher Mangel kann produktiv aufgenommen werden und versuchsweise in verschiedenen Gestaltungen – öffentlich – angegangen werden – ergänzend, verschärfend, kontrastiv, utopisch, wunschhaft. Brecht: »Unsere gewöhnlichste Art zu denken ist: zu revoltieren (also zu drehen, zu wenden – Anm. GK). Unsere besten Leistungen sind Fragmente. Den Grad der uns möglichen Vervollkommnung haben wir erreicht, bevor wir fertig geworden sind.« (GBA 21, 262)36 Und: »das eigene muß so gut gelernt sein wie das Fremde« (Friedrich Hölderlin 1801).
Literatur Acosta, Alberto: Buen Vivir. Vom Recht auf ein gutes Leben. München: oekom 2015. Anders, Günther: Der Mensch ohne Welt. München: C. H. Beck 1993, 2. Aufl. 1993. Aufruf zur Mobilisierung aus Porto Alegre. URL: http://weltsozialforum.org/2001/2001.auf ruf/index.html / letzter Zugriff am 23. 11. 2021. Binnerts, Paul: REAL TIME ACTING für ein Theater der Gegenwärtigkeit SPIEL ZEIT RAUM. Uckerland: Schibri 2014. Bourdieu, Pierre: Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1998.
34 Brecht verwendet eine süddeutsche (heimatliche) Variante für das grammatikalische Geschlecht des Wortes »Kompromiss«. 35 Siehe Koch, Gerd / Vaßen, Florian / Zeilinger, Doris, unter Mitarbeit von Marx, Sinah Marie (Hg.): »Können uns und euch und niemand helfen«. Die Mahagonnysierung der Welt. Bertolt Brechts und Kurt Weills ›Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny‹. Frankfurt/Main: Brandes & Apsel 2006. 36 Zum Fragmentarischen etwa bei Leonardo da Vinci siehe: Jaspers, Karl: Lionardo als Philosoph. Bern: Francke 1953, S. 64: »Ein Tatbestand ist offenbar: Lionardo war ein Fragmentarier. Vollendete Kunstwerke gibt es von ihm in geringer Zahl und ihm selbst gelten auch diese nicht als vollendet«; S. 67: »Das Fragmentarische, die Fülle in statu nascendi, ist zugleich die Folge der an jeder Vollendung ein Ungenügen erblickenden Universalität. […] Er will im Grunde überall die Vollendung im Besonderen, aber sich nicht an sie verlieren.«
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Bertolt Brechts Gesellschafts- und Systemkritik. Deutungen, Analysen, Berichte
Jürgen Hillesheim (Augsburg)
»In ihnen ist nichts, und über ihnen ist Rauch …« Der universale Fatalismus in Kurt Weills und Bertolt Brechts Oper Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny
Bertolt Brechts und Kurt Weills Oper Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny provozierte mit ihrer Premiere in Leipzig am 9. März 1930 einen der größten Theaterskandale der Weimarer Republik. Nationalsozialisten grölten und randalierten, es kam zu Tumulten, aber auch Kommunisten drückten ihr Unverständnis und ihre Missbilligung aus; noch nach Jahrzehnten.1 Das bürgerliche Publikum zwischen diesen beiden Extremen war überwiegend empört. Etliche Intellektuelle aus allen Lagern jedoch waren begeistert. Das Werk hat eine bemerkenswerte Entstehungsgeschichte. Die Initiative ergriff Kurt Weill. Der hatte in seiner Eigenschaft als Kritiker Brechts Drama Mann ist Mann hochgelobt. Im April 1927 wurde er dann auf Brechts Hauspostille aufmerksam, die gerade erschienen war. Wieder war er fasziniert von den Texten und suchte die Begegnung mit Brecht, denn er hatte die Idee, einige der Gedichte der Hauspostille, die zwischen 1916 und 1925 entstanden waren, zu vertonen. Dazu gab es einen konkreten Anlass: Weill nämlich hatte den Auftrag, für das avantgardistische und hochangesehene Musikfest in Baden-Baden des Jahres 1927 eine Komposition vorzulegen; eigentlich war an eine Kurzoper gedacht. Und nun sollte es ein Songspiel werden, auf der Basis einiger weniger Gedichte Brechts. Der Autor war von dieser Idee Feuer und Flamme. Schließlich wollten doch in dieser Zeit beide einen großen Erfolg landen, groß und berühmt werden im Kulturleben der Weimarer Republik und darüber hinaus auch noch Geld verdienen. Und dass dieses, neben vielem anderen, möglicherweise ja auch »sinnlich mache«2, ist im Libretto der Oper dann auch zu lesen.
1 Vgl. hierzu: Weisstein, Ulrich: Von reitenden Boten und singenden Holzfällern: Bertolt Brecht und die Oper. In: Hinderer, Walter (Hg.): Brechts Dramen. Neue Interpretationen. Stuttgart: Metzler 1984, S. 266–299, hier S. 290f. 2 Vgl. Brecht, Bertolt: Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Herausgegeben von Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei, Klaus-Detlef Müller. Berlin, Weimar, Frankfurt/Main: Aufbau, Suhrkamp 1988–2000, Bd. 2, S. 347. – Im laufenden Text: (GBA Band, Seitenzahl).
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Um welche Gedichte ging es? Weill meinte die Mahagonnygesänge, die identisch sind mit der sog. »vierten Lektion« der Hauspostille. Es handelt sich um insgesamt fünf Gedichte, jene drei Mahagonnygesänge und zwei thematisch ihnen zugehörige, im Zyklus direkt auf sie folgende Songs, den Alabama Song und den Benares Song (GBA 11, 100–106). Sie wurden dann zur Basis des Librettos des Songspiels Mahagonny. Weill änderte die Reihenfolge und ergänzte die Texte mit instrumentalen Vor-, Nach- und Zwischenspielen. Der Erfolg in Baden-Baden war bemerkenswert und beflügelte beide, dieses eher kleinere Werk von einer Aufführungsdauer von ca. 35 Minuten zu einer großen Oper auszugestalten. Diese Arbeit wurde dann unterbrochen, weil die Dreigroschenoper dazwischenkam, das, wie sie mit Recht meinten, erfolgversprechendere Projekt, mit dem sie den nationalen wie internationalen Durchbruch schaffen sollten. Die Premiere war am 31. August 1928, sofort entfachte sich eine Art von »Dreigroschenfieber«, das sich schnell über Deutschland hinaus verbreitete. Brecht und Weill waren plötzlich große Stars. Dann ging es weiter mit Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny.
I Selten wurde Gesellschafts- und Systemkritik eindringlicher vorgeführt, und deren Deutung immer wieder an dem Namen »Mahagonny« festgemacht; mit Recht, dabei aber wurde Wesentliches aus den Augen verloren. Mahagonny ist eine Stadt des Vergnügens und der Lasterhaftigkeit, weit draußen in der Einöde. Der Name Mahagonny benennt keinen realen Ort, sondern ist fiktiv, ein Kunstprodukt, und geht auf den 1922 publizierten und schnell bekannt gewordenen afrikanischen Gesellschaftstanz Komm nach Mahagonne zurück. Doch Mahagonny ist, wie bei Brecht so häufig, ambivalent, mehrdeutig und durchaus auch widersprüchlich. So spielt der Name vordergründig auch auf das edle Tropenholz Mahagoni an. 1923 brachte Brecht den Begriff, negativ konnotiert, in Zusammenhang mit Hitler und den zu erwartenden Staat, sollte er die Macht übernehmen.3 Verallgemeinernd lässt sich sagen, dass Mahagonny für einen Ort oder eine Sphäre der Unmoral, der Sitten- und Maßlosigkeit steht, der gleichfalls Assoziationen zum Alten Testament, zu Babylon und Sodom und Gomorrha, nahelegt. Auch wird auf das US-amerikanische Las Vegas angespielt,4 zudem auf den amerikanischen Goldgräberwahn, der in Jack Londons Roman Ruf der Wildnis (1903) viele in die 3 Vgl. Knopf, Jan: Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny. In: Knopf, Jan (Hg.): Brecht-Handbuch. Bd. 1, Stücke. Stuttgart, Weimar: Metzler 2001, S. 178–197, hier S. 190. 4 Vgl. ebd., S. 180–182.
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imaginäre Goldgräberstadt Klondike ziehen lässt und durch Charles Chaplins außergewöhnlichen Film Goldrausch in Erinnerung gerufen wurde. Dieser war in Deutschland erstmals 1926 zu sehen.5 Ganz allgemein war das Faszinosum Amerika ein wesentlicher Antrieb. Lotte Lenya, die Frau Weills, die in der BadenBadener Premiere des Songspiels mitwirkte, berichtet: »In unser Mahagonny ging alles ein, was wir über das Amerika der zwanziger Jahre gelesen und gehört hatten – Gangsterfilme, Zeitungsberichte […] Klatsch über Berühmtheiten.«6 Als »gelobtes Land« ex negativo lockt Mahagonny mit entgrenztem Genuss, mit Völlerei, Alkoholexzessen und sexuellen Ausschweifungen. Es zieht die Menschen, die unter Langeweile und Sinnleere leiden und entwurzelt sind, magisch in seinen Bann und zu sich hin. Denn ist man einmal dort angekommen, hat man sich keinen moralischen Regeln mehr zu unterwerfen – so die Aussicht. Die Verheißung lautet, dass »man hier alles dürfen darf« (GBA 2, 362). Doch es handelt sich nicht um ein Schlaraffenland. Denn die Genüsse gibt es – das ist das einzige, allerdings absolute Gesetz – nur gegen Bares: Aber dieses ganze Mahagonny Hat nichts für euch, wenn ihr kein Geld habt Für Geld gibt’s alles Und ohne Geld nichts Drum ist’s das Geld nur, woran man sich halten kann. (GBA 2, 388)
Geht dieses aus, so wird der Mensch von Mahagonny gnadenlos ausgespuckt bzw. er ist dem Untergang geweiht. So groß und maßlos die Freiheit in Mahagonny zu sein scheint, so deutlich bekommt man bei diesem Punkt die Grenzen und Mechanismen seines Systems zu spüren. Paul Ackermann, der Protagonist, und andere Figuren werden das am eigenen Leibe erfahren. Die verheißene absolute Freiheit endet in Knechtschaft, Leid und Untergang, in einer Kälte, die noch größer ist als die der Großstädte. Vor dem zeitgeschichtlichen Hintergrund ist Mahagonny durchaus als kapitalistisches bzw. spätkapitalistisches Trugbild zu deuten,7 in dem das Geld die alten Gottheiten ersetzt. Diese Analogie zu bilden ist so naheliegend wie trivial. Zwar ist auch jenes Mahagonny wie die biblischen Städte der Lasterhaftigkeit dem Untergang geweiht. Doch so sehr Songspiel und spätere Oper auch unbedingt als schonungslose Analyse des Kapitalismus zu deuten sind, so klar verbietet sich die Verortung in marxistischem Gedankengut. Denn es fehlt die Al5 Vgl. Spoto, Donald: Die Seeräuber-Jenny. Das bewegte Leben der Lotte Lenya. München: Droemer Knaur 1990, S. 95. 6 Weill, Kurt / Lenya, Lotte: Sprich leise, wenn Du Liebe sagst. Der Briefwechsel Kurt Weill/Lotte Lenya. Herausgegeben von Lys Symonette, / Kim H. Kowalke. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1998, S. 67. 7 Vgl. hierzu den Forschungsbericht bei Knopf: Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny, S. 185.
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ternative. Dass, wie Ulrich Weisstein ausführt, die Oper »ideologisch unstimmig«8 sei, ist geradezu verharmlosend; sie ist schlicht keinerlei Ideologie anpassbar, unterminiert sie allesamt.9 Die marxistische Lehre steht am Ende nicht als heilbringende Option da; auch sonst keine. Der Leser bzw. Zuschauer wird gerade nicht belehrt, sondern aufgeklärt, damit desillusioniert und mit dem bevorstehenden Untergang Mahagonnys dann alleine gelassen. Er muss sich seinen eigenen Reim darauf machen oder es bleiben lassen. Tatsächlich tangiert Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny wesentlich mehr, sozusagen »Allgemeinmenschliches«, das Brecht derart pessimistisch bzw. fatalistisch bewertet, dass hier der Schlüssel zu jener dem Werk zutiefst eingeschriebenen grundsätzlichen Systemkritik oder noch besser: Totalverweigerung zu finden ist, zu jener abstrakten »Haltung der Nachdenklichkeit gegenüber allen äußerlich entworfenen Überwindungsstrategien«10.
II Über Mahagonny lässt sich viel Richtiges sagen, es wurde dargelegt, aber wie kann es überhaupt zu Mahagonny, zu dieser Stadt oder Stätte, kommen? Was sind die Bedingungen, die ihre Gründung erst ermöglichten? Das wird zu Beginn der Oper sehr klar zum Ausdruck gebracht und dann zu einer der grundlegenden Isotopieebenen, die sich bis zum Schluss in der Art eines Leitmotivs durchzieht. Es klingt beinahe wie eine Selbstrechtfertigung der »Stadtgründer«: Aber dieses ganze Mahagonny Ist nur, weil alles so schlecht ist Weil keine Ruhe herrscht Und keine Eintracht Und weil es nichts gibt Woran man sich halten kann. (GBA 2, 237)
Also muss man dem Menschen etwas bieten, »woran er sich halten« kann, scheinbar zumindest, und das Attribut der »Netzestadt«, das Mahagonny von Witwe Begbick, eine der Gründerinnen, zugeschrieben wird, erhält plötzlich einen doppelten Sinn: Es ist wie ein überdimensioniertes Vogel- oder Spinnennetz, in dem sich Menschen verfangen sollen: 8 Vgl. Weisstein, Ulrich: Von reitenden Boten und singenden Holzfällern, S. 290. 9 Vgl. hierzu: Müller-Schöll, Nikolaus: Schurkenstadt, Schurke Staat und Schurke Brecht: Fiktion des Politischen und A-Humanismus in Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny. In: »Mahagonny.com. The Brecht Yearbook« Nr. 29, 2004, S. 293–305, hier S. 295. 10 Karydas, Dimitris / Sagriotis, Giorgaos: »Sans reve et sans merci« sich verzehren: Hohlraum »Mahagonny« als U-topos der Hoffnung. In: »Mahagonny.com. The Brecht Yearbook« Nr. 29, 2004, S. 65–82, hier, S. 78.
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Sie soll sein wie ein Netz Das für die essbaren Vögel gestellt wird. (GBA 2, 336)
Und tatsächlich werden ja die, die in ihm hängen bleiben, ausgesogen, bis sie kein Geld mehr haben und dann verschlungen. Aber womit lockt das Netz, warum verfängt man sich in ihm? Weil es Halt verspricht, denen, die ziellos umherflattern und taumeln im Nichts, Halt verspricht gar mit der Utopie, »Nicht zu leiden und alles zu dürfen.«(GBA 2, 336) Insofern ist das »Netz Mahagonnys« auch deshalb eine Falle, weil es in Aussicht stellt, wie im Zirkus für den Artisten eine Art Sicherheitsnetz zu sein, das den Stürzenden aufzuhalten vermag, ihm »Halt« gibt, dass er nicht auf dem Boden zerschelle und direkt ins Nichts fahre. In der Tat, es ist eine »kalte Welt«, deren neuer Mittelpunkt Mahagonny zu werden scheint. Über diese Welt und die Gesetze, nach der sie funktioniert, kann man am meisten lernen, wenn man sich immer im Bewusstsein hält, woher die Gedichte stammen, die sich Kurt Weill für die Vertonung ausgesucht hat. Diese Gedichte sind die Basis nicht nur des Songspiels, sondern auch der späteren Oper. Sie sind eben der Hauspostille entnommen, Brechts berühmtestem Zyklus, dessen weitaus meiste Gedichte in seiner Augsburger Zeit entstanden waren. Die philosophische und literarhistorische Basis lässt sich mit Namen wie Arthur Schopenhauer, Georg Büchner und Friedrich Nietzsche konkreter fassen. In verschiedensten Varianten wird der Mensch in der Hauspostille vorgeführt als bedauernswertes Wesen, hineingeworfen in eine Welt, die einen Himmel hat, der »leer« ist, weil Gott abhandenkam; irgendwie. Das ist aber längst passé, für ihn interessiert sich niemand mehr so richtig. Nur noch in Form eines doppelten Spiels, also auf einer Meta-Metaebene, lässt man ihn in der Oper gegen Ende noch kurz auftreten. Da teilt man ihm mit, dass er ein Trottel ist und sich lächerlich macht, wenn er den Menschen mit der Hölle droht: »Weil wir immer in der Hölle waren.« (GBA 2, 286) Auch in dieser kleinen Szene verdinglicht sich eine Stimmung von Trostlosigkeit und Depression, das Inferno, »das Dante als das von ihm geschilderte erkannt haben würde«11. Jean-Paul Sartres 1994 uraufgeführtes Drama Geschlossene Gesellschaft (Huis clos), das in mancherlei Aspekten Entsprechungen zu Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny aufweist, wird von Brechts und Weills Oper sogar in den Schatten gestellt: Deren Hölle ist weitaus eindringlicher als die von Sartre geschaffene, in der gleichfalls der Mensch des Menschen Teufel ist und keine anderen Kräfte in Anspruch genommen werden müssen, ihn in unsagbares Leid zu stürzen.
11 Bentley, Eric: Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny. In: Hennenberg, Fritz / Knopf, Jan (Hg.): Brecht/Weill Mahagonny. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2006, S. 396–402, hier S. 398.
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III Trotz dieser Ferne und Bedeutungslosigkeit Gottes sind die Anlehnungen an die Bibel immens. Das Leben erscheint als Passion, die im Nichts endet. Es sei denn, man stellt sich, mit weitergedachtem Nietzsche,12 dieser Realität und gewinnt ihr, neusachlich-abgeklärt, eine gewisse Lebensqualität ab. Dann endet man zwar immer noch im Nichts, aber die Zeit bis dahin wird ein wenig erträglicher, bisweilen gar genussvoll, wenn man es gescheit anstellt. In Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny aber geht es um die anderen, die weniger Starken und »Coolen«, die es nicht vermögen, sich an dieses »Nichts« – nun als Substantiv, Brecht verwendet das Wort häufig doppeldeutig – zu »halten«, mit ihm zurechtzukommen. Dieses »Nichts« ist einer der wichtigsten Schlüsselbegriffe der Oper. Es ist nicht zuletzt die emotionale Bedürftigkeit des Menschen, die dieses Nichts als so unerträglich erscheinen lässt. Letztlich leiden die »Männer von Mahagonny« unter dem Mangel an Zuwendung. Hart gearbeitet haben sie in Alaska, ganze, so die symbolträchtige Zahl,13 sieben Jahre, größte Entbehrungen und Gefahren in Kauf genommen; ein weiteres Leitmotiv, das die Oper durchzieht. Die sieben Winter Die großen Kälten Wie wir zusammen Die Bäume fällten. (GBA 2, 378)
Sie haben das dort Verdiente redlich gespart, zusammengekratzt, trotzdem bietet ihnen die Gesellschaft keinen Raum: In ihr würden sie scheitern, zugrunde gehen, merkwürdige Randfiguren sein. Auch das Motiv der Baumfäller, die, jenseits der Zivilisation, im Wald ihrer Tätigkeit nachgehen, verweist auf die Hauspostille, auf eines ihrer frühesten Gedichte: Vom Tod im Wald von 1916 (vgl. GBA 11, 80– 82). Außerdem ist das Baumfäller-Motiv in Brechts erstem großen Drama, in Baal, von Bedeutung; (vgl. GBA 1, 38–40) Paul Ackermanns »Urbanisierungsversuch«14 wird dort in Teilaspekten antizipiert. 12 Vgl. Karydas, Dimitris / Sagriotis, Giorgaos: »Sans reve et sans merci« sich verzehren, S. 77. 13 Der Sieben kommt in einer Vielzahl von Kulturen Bedeutung zu, auch im deutschen Märchen. Relevant aber dürfte hier der alttestamentliche Bezug sein, der in den Kontext der Bibelbezüge und des Oratorischen der Oper passt. Gott hat die Welt in sieben Tagen erschaffen, und in Zusammenhang mit der Gründung Mahagonnys, die wie der ins Negative gewendete Schöpfungsplan Gottes erscheint, wird die Sieben auch erstmals eingeführt (Vgl. GBA 2, 336). Daran wird angeschlossen: Ganze sieben Jahre haben die Männer in Alaska geschuftet, um sich ihre Welt zu »erschaffen«, ihr glückliches, exzessives Leben in Mahagonny, wo sie, so denken sie, machen können, was sie wollen. 14 Vgl. Kindt, Tom: Die Politisierung Brechts und die Urbanisierung Baals. Anmerkungen zur Interpretation der Oper Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny. In: Koch, Gerd / Vaßen,
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Jetzt, in Mahagonny, das sie aufzufangen scheint, angekommen, haben die Männer die Illusion, für das sauer Ersparte Zuwendung zu bekommen. Denn sie haben doch schließlich Dollar, das Einzige, das Wert hat in Mahagonny. Paul Ackermann wird mit der Prostituierten Jenny einig. Der sich anschließende Dialog mit ihr wirkt auf den ersten Blick banal, er gehört aber, in Verbindung mit der Musik Weills, zu den poetischen Höhepunkten der deutschen Oper des 20. Jahrhunderts und deutet auf das kommende Martyrium jener »Männer von Mahagonny« voraus. Jenny Ich habe gelernt, wenn ich einen Mann kennenlerne Ihn zu fragen, was er gewohnt ist. Sagen Sie mir also, wie sich mich wünschen. Paul Wie sie sind, so gefallen sie mir. Wenn Sie »du« zu mir sagten Würd ich denken, ich gefalle ihnen. […] Jenny Aber wie ist es mit der Wäsche, mein Freund? Trag ich Wäsche unterm Rock Oder geh ich ohne Wäsche? Paul Ohne Wäsche. Jenny Wie sie wollen, Paule. Paul Und Ihre Wünsche? Jenny Es ist vielleicht zu früh, davon zu reden. (GBA 2, 346)
Mit diesem Dialog beginnt der Leidenswegs Paul Ackermanns, und die Musik Kurt Weills verdeutlicht dies durch ihre Nähe zu den Passionswerken Bachs, konkret zu dessen Accompagnato-Rezitativen. Paul Ackermann weiß, dass es sich bei Jenny um eine Prostituierte handelt und bei dieser Art von Beziehung um eine Illusion, die menschliche Nähe betreffend. Dennoch versucht er, ihre Zuneigung zu gewinnen, sie so, wie sie ist, zu mögen. Das erbetene »Du« räumt Jenny ihm ein. Aber als er von ihr als Person, als Individuum mehr wissen will, indem er sich nach ihren Wünschen erkundigt, was für einen zahlenden »Freier« Florian / Zeilinger, Doris (Hg.): »Können uns und euch und niemand helfen.« Die Mahagonnysierung der Welt. Bertolt Brechts und Kurt Weills Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny. Frankfurt/Main: Brandes & Apsel 2006, S. 50–59, hier S. 54, 57f.
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eigentlich ein großes Entgegenkommen ist, verschließt sie sich. Dergleichen gehört nicht zum Geschäft, das sie betreibt. Hier Auskunft zu erteilen, wäre ihr zu intim. Jenny antwortet doppeldeutig, ihn auf die Zukunft verweisend, mit einer Wendung höchster Poesie. Diese »rettet« sie in der Situation und lässt gleichzeitig Paul Ackermann seine Illusion. Der Zuschauer aber weiß, dass er »Nichts« für sein Geld bekommen wird, »nichts, woran er sich halten kann«; zumindest nicht das Ersehnte. Paul Ackermann ist in der Tat an der ersten Station seines Leidensweges angekommen, der mit seiner »Kreuzigung« enden wird. Doch um dieses rezitativartige, betörend-schüchtern wirkende Miteinandersprechen ein wenig zu erden: Woher hat Brecht den Inhalt? Handelt es sich um eine eigene Inspiration? Keineswegs! Brecht wusste, dass Lotte Lenya, die Frau seines Komponisten Weill, in ihrer Jugend in Wien der Prostitution nachging, worüber Auskunft zu geben sie niemals ein Problem hatte. Bei der Gestaltung von Prostituiertenfiguren für Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny und der Dreigroschenoper erkundigte Brecht sich dann einfach mal. Sie selbst erzählt, wie Brecht sie fragte: »›Lenya, was sagt eines dieser Mädchen, wenn sie einem Kunden begegnet?‹ Ich antwortete: ›Soll ich einen Schlüpfer darunter tragen?‹ Er übernahm das sofort.«15 Das tat er auch und legte Lenyas Antwort in Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny der Prostituierten Jenny in den Mund. Es geht, bald folgend, weiter mit großer Poesie, die diesen Dialog kommentiert und gleichzeitig überhöht ins Allgemeingültige. Es handelt sich um das möglicherweise bedeutendste Liebesgedicht Brechts, um Die Liebenden, das Weill für die Oper in die Form eines Duetts brachte. Wieder ist es ein Dialog zwischen Paul Ackermann und Jenny. Die beiden »Kraniche fliegen in großem Bogen«, sanft dahingleitend und dennoch trunken, gewiss ihrer Liebe, die sie in einen Zustand totaler Entrückung und höchsten Glückes versetzt, ihnen scheinbar etwas Einzigartiges verleiht. Im Gleichklang mit der Welt, dem Universum, wähnen sie sich. Sie wiegen sich im Wind, der ihre Richtung, ihre Geschwindigkeit bestimmt. Doch das Überdauernde, den Kategorien von Zeit und Raum Enthobene, trügt. Denn: Sie werden einander »nicht bleiben«. Die auktoriale Instanz tritt für sich ebenfalls in einen Dialog mit fiktiven Gesprächspartnern: »Ihr fragt, wie lange sind sie schon beisammen? […] Seit kurzem […] Und wann werden sie sich trennen? […] Bald.« Darauf folgt als Resümee der reimende Vers: »So scheint die Liebe den Liebenden ein Halt.« (GBA 2, 365) Können sie, die Kraniche, Paul Ackermann und Jenny oder wer auch immer, in der Liebe tatsächlich etwas finden, das Halt gibt, in einer Welt, in der es »nichts gibt, woran man sich halten kann«? Selbst wenn auch nur für kurze Zeit, für die Dauer der Liebe, die die Erinnerung prägt? Nein, das ist Illusion – mit »scheint« 15 Farneth, David (Hg.): Lotte Lenya. Eine Autobiographie in Bildern. Köln: Könemann 1999, S. 66.
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deutlich genug ausgesprochen. Tatsache ist, dass Paul Ackermann einen Deal mit einer Prostituierten hat, sich wünscht, Zuneigung zu erfahren, diese aber nur für Geld und in Form der üblichen Lieferungen von Prostituierten und dem Vorgaukeln von emotionaler Nähe bekommt. Wovon im Gedicht die Rede ist, findet zwischen Jenny und ihm nicht statt; auch nicht für eine kurze Weile. Anstatt dessen wird kein Zweifel daran gelassen, wo der Wind und die vermeintliche Liebe die vermeintlich Liebenden hinführt: »Nirgendhin«, »in das Nichts«. (GBA 2, 365) Den Flug geradeaus in den Himmel gibt es nicht. Man dreht sich im Kreise, bleibt in Mahagonny; in der Trostlosigkeit, im Nichts. Es ist geradezu ein Gewaltakt: In der Form hoher Poesie zerstört Brecht in tief berührender Weise den traditionellen Liebesbegriff. So also ist auch die Liebe ein Leidensweg; grundsätzlich, jenseits aller »Systeme«. Kurt Weills Vertonung des »Kranich-Duetts« ruft Bachs Passionsmusik auf. Die Stilistik und Instrumentierung mit Flöte und Oboe orientiert sich nicht nur allgemein an Arien der Matthäus- und Johannes-Passion, sondern es handelt sich darüber hinaus um zwei konkretere Anlehnungen. Zum Ende des Vorspiels der Sopranarie Sehet, Jesus hat die Hand, aus der Matthäus-Passion findet sich eine dem Vorspiel des »Kranich-Duetts« entsprechende Parallelführung der Holzbläser.16 Dies ist geradezu paradigmatisch für Brechts und Weills Verweisungstechnik in Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny: »Material« wird entgegen dessen eigentlicher Aussageabsicht verwendet. Bachs Arie stellt einen Ruhepunkt, eine kontemplative Pause innerhalb des bedrückenden Berichts über Leiden und Sterben Jesu Christi dar. Bei aller Angst, aller Verzweiflung, mitten im Todeskampf am Kreuz: Letztlich ist es Jesus, der dem Menschen – und damit sind wir bei einer zentralen Isotopiekette der Mahagonny-Oper angelangt – »Halt gibt«. Denn: »Sehet, Jesus hat die Hand, uns zu fassen, ausgespannt.«17 Brecht und Weill dagegen stellen dies auf den Kopf: Niemand kann dem Menschen, in diesem Fall Paul Ackermann, helfen, nicht in der Liebe, nicht kurz vor seiner Hinrichtung; weder in diesem noch in einem anderen Leben. Abermals gilt: Es »gibt nichts, woran man sich halten kann«. Die zweite Anlehnung bezieht sich auf das berühmte, hochdramatische Duett für Sopran und Alt, unmittelbar nach der Verhaftung im Garten Gethsemane: So ist mein Jesus nun gefangen,18 und da ist die Analogie noch klarer: beide, Jesus wie Paul Ackermann, sind festgesetzt und sehen ihrer Tötung entgegen, die unausweichlich ist. Der Zuhörer der Oper Brechts und Weills weiß nun, falls er diese Anspielung an die Matthäus-Passion nachvollziehen kann, dass Paul Ackermann 16 Vgl. Bach, Johann Sebastian: Neue Ausgabe sämtlicher Werke. Herausgegeben von JohannSebastian-Bach Institut Göttingen/Bach-Archiv Leipzig: Serie II, Bd. 5b. Kassel u. a.: Bärenreiter 2004, S. 220f. 17 Vgl. ebd., S. 221f. 18 Vgl. ebd., S. 95–103.
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verloren ist. Niemand wird ihn mit Geld auslösen, und es wird auch, anders als in der Dreigroschenoper, keine »wunderbare« Rettung erfolgen. Als ob dies noch nicht deutlich genug wäre, wird später, doch in diesem Kontext, direkt an die Passionsberichte des Neuen Testaments angeschlossen. Paul Ackermann nämlich übergibt vor seiner Hinrichtung Jenny für die Zeit nach seinem Tod in die Obhut seines Freundes Heinrich Merg (vgl. GBA 2, 383) – so wie Jesus am Kreuz seine Mutter Maria in die seines Lieblingsjüngers.19 In diesem »Gestus« verdichtet sich das Trost- und Perspektivlose, das Absurde und gleichzeitig auch das artistische und vielschichtige Raffinement der Oper abermals: Der in traditionellem Sinne wirklich liebende, letztlich nicht urbanisierbare Paul übergibt, trotz seiner Todesnot, in Fürsorglichkeit seine »Geliebte« in »gute Hände«: eine Prostituierte in die seines alten Freundes aus Alaska. Beide verweigerten Paul das Geld, das ihm leicht das Leben gerettet hätte; aus verschiedenen Gründen, aus lebensnotwendigem Geschäftssinn einer Prostituierten in Mahagonny und, im Falle Heinrich Mergs, aus der Einsicht heraus, dass er, wenn er sein Geld nicht zusammenhält, ähnlich enden wird wie Paul. Im Passionsbericht mag dieses Anvertrauen einer Person an eine andere tröstlich, erbaulich sein; denn Jesu Mutter scheint gut aufgehoben, der Leser muss sich keine Gedanken um sie machen. In der Oper aber schreitet eine Prostituierte am Arm eines in finanzieller Hinsicht genau kalkulierenden Menschen aus der Szenerie. Wohin werden sie wohl gehen? Gleichfalls ins Nichts, mit Gewissheit! Möglicherweise jedoch dorthin weniger sanft entführt als die Kraniche vom Wind. Eine Hölle folgt der anderen. Das Leid zeigt sich in Mahagonny in vielfältigen Formen. Einer derer, die mit Paul Ackermann »sieben Jahre lang die Bäume fällten«, frisst sich zu Tode, ein anderer wird in einem Boxkampf erschlagen, oder genauer: ermordet. Jene Männer brachten zwei wertvolle Dinge mit aus Alaska: das schwer verdiente Geld und eine über lange Zeit gewachsene, organische Männerfreundschaft. Dabei geht es nicht um eine floskelhafte Solidarität, sondern um wirklichen Zusammenhalt, notwendig, in Alaska überlebensnotwendig. Diese Freundschaft wird in Mahagonny zerstört. Als Paul Ackermann, dem das Geld ausgegangen ist, zum Tode verurteilt wird, hätte er diesem »Gerichtsverfahren« und der Hinrichtung leicht mit ein wenig Geld entgehen können, worum er, es wurde gerade erwähnt, seinen Freund und Kameraden von einst, Heinrich Merg, bittet. Der setzt sich zwar bei dem Prozess vehement für Paul Ackermann ein, als es aber um sein Geld geht, so schwer verdient, ist ihm die eigene Haut näher als das Leben des Freundes, und er verweigert seine Hilfe. (GBA 2, 378) 19 Vgl. Joh 19, 26f. Dieses Motiv findet bei Brecht und Weill keineswegs erstmals Eingang in die Literatur. Schon Leo Tolstoi bediente sich seiner im 1867 erstveröffentlichten Monumentalroman Krieg und Frieden.
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IV Anhand zweier Beispiele sei noch Brechts Nähe zu Früherem und das Zerrissene, Fragmentarische der Oper, das die Realität des Sinnlosen, des Nichts spiegelt, gezeigt. Das erste ist schnell dargestellt: Einer jener »Männer von Mahagonny«, die früher mit Paul Ackermann in Alaska waren, heißt Joseph Lettner. Ein Lettner, mit Vornamen Oscar, war ein sehr enger Kindheits- und Jugendfreund Brechts. Er wurde am 10. Februar 1893 geboren und wohnte in Brechts Nachbarschaft. Auszüge aus Lettners Tagebuch, die sich im Bertolt-Brecht-Archiv in Berlin befinden, zeigen, wie eng und dauerhaft die Freundschaft mit Brecht war; bis mindestens 1912. Lettner ging in Brechts Wohnung ein und aus. Man unternahm gemeinsam Radtouren, spazierte durch die Stadt, besuchte das Volksfest. Im Ersten Weltkrieg geriet Lettner in Kriegsgefangenschaft. Dass Brecht eine Figur der Oper nach Lettner benennt, ist eine Reminiszenz an den Freund von ehedem und damit auch ein Fingerzeig auf seine Augsburger Zeit, in der in wesentlichen Teilen die Hauspostille, die Interpretationsbasis der Oper, entstand. Das zweite, ungleich wichtigere Beispiel ist Brechts Montage eines eigenen Gedichts aus der Hauspostille, eines ihrer frühesten sogar. Damit vergrößert er das Repertoire aus diesem Zyklus, das Weill für das Songspiel zusammengestellt hatte, um ein weiteres Gedicht. Das macht die Nähe zur poetischen Welt des Frühwerks noch augenscheinlicher. Es ist nicht irgendeines, sondern der exponierte Schluss der Hauspostille, die Komprimierung derer Lehren sozusagen. Es heißt Gegen Verführung, (GBA 11, 116) ein früherer Titel lautet Lucifers Abendlied. Herausgehoben ist das Gedicht auch in der Oper: Bevor es Paul Ackermann singt, sagt er: »jetzt rede ich:« (GBA 2, 357) Er kündigt damit Wichtiges, Grundsätzliches an und trägt dies in der Form eines Chorals vor. Die »Lehre« ist einfach: In einer Welt ohne Gott darf sich der Mensch nicht von dessen vermeintlichen Vertretern oder der Gesellschaft zur Askese »verführen« lassen. Vielmehr soll er das Leben exzessiv genießen, da es kurz ist. An dessen Ende weint man um alles Versäumte. So gesehen, würde dies als Credo wunderbar zur Stadt Mahagonny und deren Freuden passen. Aber das ist nicht so, wie sich ja zeigte. Merkwürdig unorganisch, »ganz deplatziert«20, steht der Choral nun da. Paul Ackermann kommentiert ihn dann und denkt ihn konsequent weiter: Wenn es etwas gibt Was du haben kannst für Geld Dann nimm dir das Geld. Wenn einer vorübergeht und hat Geld Schlag ihn auf den Kopf und nimm dir das Geld: 20 Hartung, Günter: Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny. In: Hennenberg, Fritz / Knopf, Jan (Hg.): Brecht/Weill Mahagonny. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2006, S. 374–386, hier S. 384.
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Du darfst es! […] Im Interesse der Ordnung Zum Besten des Staates Für die Zukunft der Menschheit Zu deinem eigenen Wohlbefinden Darfst du! (GBA 2, 358f.)
Nimmt Brecht nun die Lehre aus seiner Jugend zurück, zeigt er, wohin sie, zu Ende gedacht, führt? Zu Mord und Totschlag nämlich. Das aber wäre gleichbedeutend mit einer Zurücknahme auch des Zyklus Aus dem Lesebuch für Städtebewohner, Brechts lyrischer Anleitung, im »Moloch der Großstadt« zu überleben und Erfolg zu haben. Diesen Zyklus hatte er gerade erst verfasst und dessen »Lehre« nicht zuletzt sich selbst zu eigen gemacht. Das liegt auf der Hand, selbst wenn es sich um Rollengedichte handelt und lyrisches Ich und Autor grundsätzlich auseinanderzuhalten sind. Man könnte auch umgekehrt sagen: Brecht hat eigene Lebensmaximen zu Gedichten gemacht. Doch tatsächlich geht es um Anderes: Die Leere, das Elend der Welt, der Nihilismus sind so gewaltig und allumfassend, dass sich jeglicher Ratschlag verbietet, sogar der, das transzendenzbefreite Leben zu genießen. Alles führt zu Leid, alles ist absurd. Insofern stellt Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny sogar eine Radikalisierung der Hauspostille dar – von Brecht genussvoll und mit Lebensfreude vorgeführt. Das ist ein Widerspruch, ein Paradoxon, mit dem der Zuschauer zurechtkommen muss.
V Immer weiter voran schreitet die Desillusionierung traditioneller Muster aus Literatur- und Musikgeschichte; so des romantischen Topos der Nacht, wie man ihn z. B. aus dem Werk Novalis’, vor allem aber aus Wagners stark schopenhauerisierender Oper Tristan und Isolde kennt. Eine schöne Vorstellung: Der Tag steht für den Bereich des Luges und Truges, des »Einer gegen Alle«. Nur in der Nacht, in deren Zauber, kann Erhabenes, kann wahre Liebe stattfinden, nur in der Nacht ist man in der Lage, den so bedrückenden Kategorien von Zeit und Raum für eine Weile zu entfliehen. Brecht kannte Wagners Oper gut; eine Parodie in poetischer Form ist die 1921 entstandene Ballade vom Liebestod (vgl. GBA 11, 110–112)21. In Paul Ackermanns nächtlicher Arie, kurz vor seiner »Gerichtsver-
21 Vgl. hierzu: Hillesheim, Jürgen: »Ich habe Musik unter meiner Haut…« Bach, Mozart und Wagner beim frühen Brecht. Freiburg: Rombach 2014, S. 227.
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handlung« und Hinrichtung, wird daran angeknüpft. In der ersten Strophe scheint er sich in Einklang mit der Romantik, mit Wagner zu befinden. Wenn der Himmel hell wird Dann beginnt ein verdammter Tag. Aber jetzt ist der Himmel ja noch dunkel. Nur die Nacht Darf nicht aufhören. Nur der Tag Darf nicht sein. (GBA 2, 375)
Dann allerdings stellt sich heraus, dass es hier keineswegs um die Verklärung der Nacht geht, sondern schlicht um die Hölle, um die fürchterliche Angst eines Delinquenten, dem die Hinrichtung auf dem elektrischen Stuhl bevorsteht. Ich habe Furcht, daß sie schon kommen. Ich muß mich auf den Boden legen Wenn sie da sind. Sie müssen mich vom Boden reißen Wenn ich mitgehen soll. (GBA 2, 375)
Verzweifelt klammert sich Paul Ackermann an die Dunkelheit, die ihm eine Verweilfrist in seinem armseligen, leiderfüllten Leben gewähren soll. Nackte Todesangst treibt ihn um: Sicher, der Himmel bleibt noch lange dunkel […] Es darf nicht hell sein. (GBA 2, 375f.)
So wird der große, hehre, romantische Begriff der Nacht von Brecht völlig destruiert, musikalisch verstörend realisiert von Kurt Weill. Die Einsicht dieses provokanten Materialismus: Es sind vordergründige Dinge, die das Leben des Menschen bestimmen, naturwissenschaftlich erklär- und nachvollziehbare Abläufe und Reaktionen; nichts weiter. Am Schluss der Oper begibt Kurt Weill sich musikalisch zumindest assoziativ ein weiteres Mal in die Nähe der Passionen Bachs. Man meint, sie von Weitem zu hören, ihre Botschaft jedoch wird auf den Kopf gestellt. Bei Bach entwächst, nach der tiefsten Überzeugung des Komponisten, dem Leiden und Sterben Jesu Christi die christliche Heilsperspektive, die Hoffnung auf Erlösung der Menschheit. Brecht und Weill, die Gott zuvor nur einmal kurz als Popanz auftreten ließen, resümieren dagegen: Wir brauchen keinen Hurrikan Wir brauchen keinen Taifun Was der an Schrecken tuen kann Das können wir selber tun. (GBA 2, 387)
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So die Erkenntnis, die nicht lange vor der »Machtübernahme« durch die Nationalsozialisten beinahe den Charakter des Prophetischen hat. Ruft das Christentum, rufen Ideologien auf zu altruistischem Handeln, zum Wohle aller oder bestimmter Parteien, gleich welcher, so lautet der letzte Satz des furiosen Finales der Oper: »Können uns und euch und niemand helfen.« (GBA 2, 389) An diesem Ende wird noch einmal das Gestaltungsprinzip des Fragmentarischen, Unorganischen, das die Oper prägt, eindrucksvoll vor Augen geführt. Beinahe alle Leitmotive, das Werk durchziehende Topoi, Motive und Redewendungen werden noch einmal komprimiert vorgeführt, »litaneiartig wiederholt«22, teilweise ineinander verschachtelt: »Denn wie man sich bettet, so liegt man«, »dieses ganze Mahagonny«, der »moon of alabama« (GBA 2, 388) – dies aber völlig zusammenhanglos, beinahe wie eine Kollage. Das Raffinement und Widersprüchliche dabei ist, dass es sich gleichzeitig um den krönenden Abschluss der Oper handelt, in dem das Schöne dem Zuhörer nochmals gebündelt serviert wird – so wie man es, bleibt man im 20. Jahrhundert, z. B. von einigen Werken Richard Strauß’ kennt. Es spiegelt sich das Chaos, die Orientierungslosigkeit, die »Verwirrung« (GBA 2, 386), jene »Haltlosigkeit als Grundprinzip der Welt«. Dies wird durch das Durcheinanderlaufen der Züge direkt auf den Zuschauer übertragen und durch die Musik affektiv und ästhetisch höchst anspruchsvoll wahrnehmbar gemacht. Es ist wie in einem Strudel, in dem sich alles im Kreise dreht, alles in die Tiefe, in den Abgrund gezogen und gesogen wird: Schopenhauer, Büchner und Nietzsche23 sind hier die Gewährsmänner – nicht Kant, Hegel oder Marx.
VI Dieses Ende ist niederdrückend, verstörend und absolut kompromisslos. Neben diesen Fatalismus gestellte politische Utopien wie die einer klassenlosen Gesellschaft24 oder gar angestrengte Theaterpädagogik würden lächerlich wirken wie ein Gesang der Heilsarmee, den niemand mehr recht ernst zu nehmen gewillt ist. Wäre es vielleicht die Lösung, im Sinne Schopenhauers, eine Ethik des Nichts, 22 Wizisla, Erdmut: »Juristisch-physikalische Schreibweise« Mahagonny als Experiment. In: »Mahagonny.com. The Brecht Yearbook« Nr. 29, 2004, S. 269–274, hier S. 272. 23 Vgl. hierzu: Giles, Steve: Materialism and Modernity in Mahagonny. Brecht’s Double Dystopia. In: »Mahagonny.com. The Brecht Yearbook« Nr. 29, 2004, S. 307–332, hier S. 311. 24 In dieser Hinsicht völlig naiv und am Text vorbei: Jäger, Christian: Zerstreuung verdichtet: Überlegungen zum roten Geheimnis bei Brecht. In: »Mahagonny.com. The Brecht Yearbook« Nr. 29, 2004, S. 343–351, hier S. 350. Was schlicht nicht belegbar, nachweisbar ist, aber man offenbar gerne sehen möchte, wird eben als »Geheimnis Brechts« verkauft.
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eine Art »Quietiv des Willens« zu erreichen, alle menschlichen Begehrlichkeiten zu zügeln und sich herauszuhalten aus der Welt? Auf, wie in Goethes berühmtem Gedicht, eine andere Art von »Nichts« zu bauen, weil das Leben und seine Lockungen und Genüsse nur Leid bringen? Ich hab mein Sach auf Nichts gestellt. Juchhe! Drum ist’s so wohl mir in der Welt. Juchhe! Und wer will mein Kamerade sein, Der stoße mit an, der stimme mit ein Bei dieser Neige Wein. Ich stellt mein Sach auf Geld und Gut. Juchhe! Darüber verlor ich Freud und Mut. O weh! Die Münze rollte hier und dort, Und hascht ich sie an einem Ort, Am andern war sie fort.25
Immerhin inspirierte dieses Gedicht nicht nur Schopenhauer, sondern auch Max Stirner, sogar später Thomas Mann in dessen Künstlerroman Doktor Faustus. Doch dergleichen Entsagung wird man von den »Mahagonny-Leuten« (GBA 2, 339) in diesem Gewirr von Tätern und Opfern wohl nicht erwarten dürfen. Was bleibt, ist Resignation, umfassende Perspektivlosigkeit in dieser Hölle, diesem »Jammertal«. Jürgen Kühnel bringt es auf den Punkt: »Mahagonny ist vielleicht die radikalste Anti-Utopie der Theatergeschichte.«26 So ist es auch völlig einleuchtend, dass Mahagonny kein konkreter Ort ist. Das würde dem Parabelhaften des Werks widersprechen.27 Es gibt demzufolge auch keinerlei nationale Denkmuster. Jene »Männer von Mahagonny« kommen von überall her. Sie laufen in diesem Mahagonny, wie in einem Auffangbecken, zusammen, in Mahagonny, dem Hort der Trostlosigkeit. Entsetzen, aber auch Einsamkeit und Lethargie herrschen hier. In dieser allgemeinmenschlichen Realität werden die Nationen sozusagen amalgamiert. Egal, woher der Mensch kommt, er changiert immer zwischen Täter und Opfer, manchmal »tritt er«, in 25 Goethe, Johann Wolfgang von: Berliner Ausgabe. Poetische Werke. Berlin: Aufbau, 1960ff., Bd. 1, S. 92–93. 26 Kühnel, Jürgen: »Darum laßt uns hier eine Stadt gründen…« Zum Motiv der Stadtgründung im (Musik)theater des 19. Und 20. Jahrhunderts. In: Csobáldi, Peter u. a. (Hg.): Mahagonny. Die Stadt als Sujet und Herausforderung des (Musik-)Theaters.Vorträge und Materialien des Salzburger Symposions 1998. Anif, Salzburg: Mueller-Speiser 2000, S. 95–117, hier S. 117. 27 Vgl. Neumüllers, Marie: Mahagonny, das ist kein Ort. In: »Mahagonny com. The Brecht Yearbook« Nr. 29, 2004, S, 43–53, hier S. 44.
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der Regel aber »wird er getreten«. Er ist nun einmal so. Das zeigt Brecht in Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny gerade mit den Mitteln seines epischen Theaters, in dieser Oper vielleicht mehr als in vielen anderen seiner Stücke. Explizit ist sie ja, wie übrigens auch die Dreigroschenoper, als »epische Oper« ausgewiesen (vgl. GBA 2, 334). Die gezeigte Perspektivlosigkeit gerade mit Hinweis auf dieses »epische Theater« schönzureden, wie oft geschehen, und das Prozesshafte des Menschen und damit auch die Option dessen Veränderbarkeit hervorzuheben,28 geht – für jeden aufmerksamen Zuhörer affektiv wahrnehmbar – an der Realität vorbei, so wie sie von Brecht und Weills Musik in diesem Werk vorgeführt wird. Da spielt es auch keine Rolle, dass Brecht selbst in seiner Theatertheorie dergleichen ganz ohne Zweifel postuliert: Dass die Veränderbarkeit der Verhältnisse vor dem Hintergrund der Prozesshaftigkeit des Menschen möglich sei und zum Besseren führen möge. (vgl. GBA 22, 739)29 Das ist ein artistisches Spiel, ein Modell, mit dem sich auf der Bühne hervorragend und effektreich arbeiten lässt. Tatsächlich ist es »Theorie«, die – bekanntermaßen und frei nach Goethe – »grau« ist und vielfach nichts mit der Wirklichkeit zu tun hat. Gewiss einmal nicht mit der in Mahagonny intendierten. Die desorientierten »endlosen Züge in Bewegung« (vgl. GBA 2, 368), wie sie die Schlussszenen zeigen, werden sich niemals »in Form« bringen, sich synchronisieren lassen und im Gleichschritt geradeaus in eine bessere Zukunft marschieren. In eine sozialistische mit Bestimmtheit nicht. Und, die Oper lehrt es: Sie würden ja eben nicht geradeaus, sondern im Kreis marschieren und kämen in einer kommunistischen Gesellschaft im gleichen Elend, im gleichen Barbarismus in anderem Kleide an. Es wäre eine Prozesshaftigkeit, die sich selbst ad absurdum führt – eine solche, die das Leid potenziert.
VII Dieses artifizielle Unorganische, Zerrissene spiegelt sich auch in der Musik Weills, die korrespondiert mit Brechts Ästhetik der »Materialverwertung«. Die Opern- bzw. Musikgeschichte wird sozusagen fragmentiert, Bausteine übernommen, auf die Tradition angespielt, wobei diese übernommenen »Bausteine« oder Anspielungen Verweisungscharakter haben. Das entspricht auch der Textebene, wenn Brecht z. B. eigene ältere Gedichte verwertet, sie einbaut, vor neuen Horizont stellt und damit kommentiert, aber auch Brüche in Kauf nimmt bzw. sie 28 Vgl. Herrmann, Hans-Christian von: Wüste und Turbulenz: Anmerkungen zu Brechts Soziologie. In: »Mahagonny.com. The Brecht Yearbook« Nr. 29, 2004, S. 30–39, hier S. 32f. 29 Vgl. hierzu: Hillesheim; Jürgen: »Instinktiv lasse ich hier Abstände…«. Bertolt Brechts vormarxistisches Episches Theater. Würzburg: Königshausen & Neumann 2011, S. 57f.
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mit diesem Verfahren sehr bewusst konstruiert. Es ist immer wieder die Rede davon, dass die traditionelle Oper damit zerstört und eine neue Art von Oper geschaffen werde.30 Dies hätte auch etwas Gesellschafts- bzw. Bourgeoiskritisches, weil die Oper als sehr elitäre, bürgerlich-repräsentative Form innerhalb der Musikgeschichte galt. In die Oper kann gehen, wer es sich leisten kann, wer sich zudem, gerade bei Premieren, gesellschaftlich zeigen will. Mit dergleichen war in der Weimarer Republik nun einmal kein Staat mehr zu machen, das war zu langweilig, zu etabliert, nicht provokant genug. Ein wenig subversiv musste es schon zugehen, um Aufmerksamkeit zu erregen, und Brecht wusste, wie man das macht. Deshalb sind auch seine vielfachen Einlassungen zur Destruktion der traditionellen Oper nicht zuletzt als »Werbemaßnahmen« zu verstehen, als Mittel, Aufsehen zu erregen. Zunächst einmal ist festzuhalten, dass diese Methode in der Musik-, vor allem in der Operngeschichte nichts Neues ist. Übernahmen, Anlehnungen an Werke von anderen Komponisten sind ein markantes ästhetisches Gestaltungsmerkmal der Oper des Belcanto, die zeitlich etwa der deutschen Romantik entspricht. Die Mode und der Anspruch waren, dass die Komponisten in kürzester Zeit immer wieder Neues vorzulegen hatten. Man vergegenwärtige sich nur die Anzahl der Werke von den großen Belcanto-Komponisten Rossini, Donizetti und Bellini. Manche Opern kennt man bis heute, die weitaus meisten allerdings sind aus den Aufführungsrepertoires verschwunden, allenfalls noch musikwissenschaftlich interessant. Dieser Schaffungsbeschleunigung nachzukommen, war es ein probates Mittel, Inspirationen, Versatzstücke anderer zu übernehmen, und dies war keineswegs verpönt. Man machte das ganz offen, es war ein Gestaltungsmerkmal, und wenn der Zuhörer dem auf die Schliche kam, also die Quellen wiedererkannte, freute man sich. Wie nah zum Beispiel sind Rossinis Opern bisweilen denen Mozarts. Donizetti bediente sich gar beim Deutschen Kunstlied der Romantik, bei Schuberts Schöner Müllerin.31 Dieses Verfahren beschränkt sich keineswegs auf diese Periode. Wie viel übernahm dann später Verdi aus den Belcanto-Opern, in seiner frühen Oper Macbeth spielt er auch auf Mozarts Don Giovanni an und Carl Maria von Weber in seinem Freischütz auf Werke Haydns, gleichfalls Mozarts und auf Beethovens Fidelio. Viele weitere Beispiele könnten hier noch angeführt werden. Es ist genau dieses Verfahren, das Brecht und Weill bei der Komposition der Musik zu Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny anwandten. Im Text wie in der Musik macht man Anlehnungen an Mozarts Zauberflöte,32 in Zusammenhang 30 Vgl. Knopf, Jan: Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny, S. 192. 31 Vgl. Sprenger, Karoline: Romantische Lebensuntüchtigkeit. Zu Donizettis Rezeption von Schuberts Schöner Müllerin. In: »Musik & Ästhetik« Nr. 92, 2019, S. 68–82, hier S. 74–76. 32 Vgl. Weisstein, Ulrich: Von reitenden Boten und singenden Holzfällern, S. 289.
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mit dem Begriff des »Netzes« solche an den eben schon genannten Freischütz33 und eben auch an Wagners Tristan und Isolde34 und Parsifal.35 Porter sieht gar Analogien zu Wagners gesamten Ring des Nibelungen.36 Präsent sind die Passionen Bachs, darüber hinaus auch dessen Choral-,37 und Fugenkunst.38 Die Hurrikan-Musik ruft zudem Unwetter beschreibende Musik aus dem Belcanto auf: Opern von Rossini (Il Barbiere di Siviglia, La Cenerentola), Donizetti (Lucia di Lammermoor), auch Verdis Rigoletto.39 Auf die Gerichtsszene in dessen Aida verweist eindeutig die Verurteilung Paul Ackermanns (GBA 2, 381), mit einem »ostinaten Motiv hämmernder Schärfe«40. Auch auf die zeitgenössische Musik wird gedeutet; so auf die Oper Die Vögel von Walter Braunfels,41 die 1920 in München im Nationaltheater uraufgeführt wurde, also mitten in Brechts Münchner Zeit. Das werden gewiss nicht alle Anlehnungen sein. »Eine ganze literarisch-musikalische Tradition, ein klassisch-romantisches Weltempfinden, wird in dieser Oper aus dem Jahr 1930 dem harten Licht einer veränderten Welt ausgesetzt.«42 Man nimmt das Werk nur rudimentär wahr, wenn man diese integrierten »Scherben«43 nicht erkennt, die Montagen nicht nachvollzieht. Denn große Bereiche des komplexen Beziehungsgeflechtes bleiben dann unerschlossen. Letztlich ist das wiederum recht elitär, fast erinnert es schon an Thomas Mann, an dessen oft leitmotivartige Verweisungstechnik. Wer, außer dem verpönten Bil33 Vgl. Knopp, Peter: Durch die Wüste – Kurt Weills musikalische Ausfahrt nach Mahagonny. In: Koch, Gerd / Vaßen, Florian / Zeilinger, Doris (Hg.): »Können uns und euch und niemand helfen.« Die Mahagonnysierung der Welt. Bertolt Brechts und Kurt Weills Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny. Frankfurt/Main: Brandes & Apsel 2006, S. 84–93, hier S. 86f. 34 Vgl. hierzu auch: Wagner, Gottfried: Weill und Brecht: das musikalische Zeitalter. München: Kindler 1977, S. 194. 35 Vgl. Knopp, Peter: Durch die Wüste, S. 90. 36 Vgl. Porter, Andrew: Bemerkungen zu Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny. In: Hennenberg, Fritz / Knopf, Jan (Hg.): Brecht/Weill Mahagonny. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2006, S. 370–374, hier S. 371f. 37 Vgl. Rienäcker, Gerd: »Haltet euch aufrecht, fürchtet euch nicht«: Zur Rolle des Chorals in Brecht-Weills Oper Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny. In: »Mahagonny.com The Brecht Yearbook« Nr. 29, 2004, S. 211–221, hier S. 212, 217. 38 Vgl. Peiter, Anne D.: Musik und Gehalt in Brechts Mahagonny-Texten und in Kraus’ Die letzten Tage der Menschheit. In: »Mahagonny.com. The Brecht Yearbook« Nr. 29, 2004, S. 137– 146, hier S. 146. 39 Zu diesem Thema vgl. allgemein den erkenntniseröffnenden Beitrag von: Chisholm, David: Brecht′s and Weill′s Views of Mahagonny: Musical-Textuals Tensions. In: »Mahagonny.com. The Brecht Yearbook« 29, 2004, S. 183–192, besonders S. 184–186. 40 Vgl. Hartung, Günter: Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny, S. 381. 41 Vgl. Gaertner, Jan Felix: Vogelstaat und Netzestadt: Aristophanes’ Vögel und Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny von Bertolt Brecht und Kurt Weill. In: »Germanisch-Romanische Monatsschrift« Nr. 59, 2009, 4, S. 551–563, hier S. 562f. 42 Knopp, Peter: Durch die Wüste, S. 89. 43 Ebd., S. 87.
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dungsbürger und Intellektuellen, wird denn diese Anspielungen erkennen und daran, von Brecht und Weill sehr wohl beabsichtigt, Freude, ein dekadent-kulinarisches Vergnügen haben können? Jenseits der sowieso außerfragestehenden »Melodienseligkeit« einzelner Nummern der Oper?44 Denn Weill schreibt die Musik vielfach eben nicht gegen die traditionelle Oper, wie das Kantable beispielsweise des Kranich-Duetts oder der großen Arie Paul Ackermanns vor seiner Hinrichtung zeigt. Anders ausgedrückt und mit Eric Bentley gesprochen: Das Publikum »kann sich die Oper einverleiben wie ein gutes Dinner; Brecht selbst schloß sich später zunehmend der altüberlieferten aristotelischen Ansicht an, daß die Bestimmung des Theaters eben die sei, Vergnügen zu bereiten. Auf Mahagonny trifft das jedenfalls zu.«45 Dagegen zu behaupten, dass dieses »kulinarische Spiel« lediglich »inszeniert« sei, und dies mit waghalsigen Theorien zu untermauern, entspricht den altbekannten Verbiegungstendenzen des Werkes Brechts und wirkt, angesichts des Texts und der Musik, ein wenig aus der heutigen Zeit gefallen.46 Diese Art von Kulinarik, wie sie von Brecht und vor allem von Weill realisiert wird, passt freilich nicht so recht zum Klassenkämpfer und »Proletarier«; möglicherweise auch nicht zu dessen wissenschaftlichen Apologeten. Man kennt das Werk Bachs möglicherweise nicht, vielleicht auch keine Belcanto- oder WagnerOpern. Mit vielem dem Werk Eingeschriebenen und Integrierten kann man nichts anfangen. Auch das nahmen Dichter und Komponist in Kauf. Aber wie dem auch sei: Die traditionelle Oper- bzw. Musikgeschichte mag in Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny wohl instrumentalisiert werden, doch sie wird nicht 44 So Drexel, Kurt: Musiktheater und Politik. Mahagonny im Spannungsfeld kulturideologischer Richtungskämpfe. In: Csobádi, Peter u. a. (Hg.): Mahagonny. Die Stadt als Sujet und Herausforderung des (Musik)-Theaters. Vorträge und Materialien des Salzburger Symposions 1998. Anif, Salzburg: Mueller-Speiser 2000, S. 605–623, hier S. 623. 45 Bentley, Eric: Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny, S. 400. 46 Vgl. Vaßen, Florian: Potenzielle Spiele und tödliche Inszenierungen: Bertolt Brechts Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny. In: »Mahagonny.com. The Brecht Yearbook« Nr. 29, 2004, S. 277–290, hier S. 277, 286. Dass es in Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny immer wieder »Spiel im Spiel-Situationen« gibt, ist zwar richtig, aber nun wirklich nichts Neues, auch innerhalb des Werkes Brechts nicht. Jan Knopf legte schon 1984 überzeugend dar, dass Dergleichen und viele andere Elemente epischen Theaters bereits in Trommeln in der Nacht zu beobachten sind. Vgl. Knopf, Jan: Trommeln in der Nacht. In: Hinderer, Walter (Hg.): Brechts Dramen. Neue Interpretationen. Stuttgart: Metzler 1984, S. 48–66, hier S. 51, 55f., 63. Übrigens ist das auch nichts Neues über Brecht hinaus. In der Operngeschichte, um die es hier ja geht, ist dies immer wieder zu beobachten, von Mozarts Da Ponte-Opern bis zu Ruggero Leoncavallos verismo-Oper Pagliacci und dann in zahlreichen experimentellen Werken des frühen 20. Jahrhunderts. Es sei nur auf Mozarts Cosi fan tutte (ca. 140 Jahre älter als Brechts und Weills Mahagonny-Oper) verwiesen, eine Oper, die fast komplett aus »verfremdenden« »Spiel im Spiel-Situationen« besteht. Darf Mozarts Oper deshalb nicht »kulinarisch« sein? Oder der Zuschauer diese gleichfalls hochartifiziell inszenierte Kulinarik nicht kulinarisch rezipieren?
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zerstört, höchstens gelegentlich »subtil unterminiert«47. Man schließt an sie an, stellt sich in ihre Tradition und profitiert von ihr, indem man sie nutzt für das, was mitgeteilt wird: dass der Mensch seiner Natur gemäß so ist, wie er ist, und es tatsächlich nichts gibt, »woran man sich halten kann«. Alles ist unsicher, Fragment, Bruchwerk – nichts Organisches, Ganzes, das einem Orientierung gewähren könnte. Dass der Zuhörer dies erfährt und dabei höchsten ästhetischen Genuss empfinden kann, treibt die Provokation auf die Spitze und hat den Charakter des Dekadenten. Vor dem Untergang hat man noch Freude an derartiger Demonstration der Sinnlosigkeit der Welt und der eigenen Existenz. Besondere Relevanz hat die Nähe zur Passionsmusik Johann Sebastian Bachs. Dieser war für Brecht seit jeher ein Komponist von Bedeutung,48 aber auch für Weill, dessen großer Lehrer Ferruccio Busoni Werke Bachs neu herausgab und etliche seiner Orgelwerke für Piano transkribierte.49 Vor dem Hintergrund von dessen Passionsmusik wird das Schicksal Paul Ackermanns als Leidensweg gestaltet,50 der im Tod, in seiner beinahe in liturgischen Formen vollzogenen Hinrichtung, endet. Insofern ist die Oper Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny als Vorstufe der Lehrstücke zu betrachten, vor allem der Maßnahme,51 auch wenn deren Musik von einem anderen Komponisten, von Hanns Eisler, stammt. Auch hier wird, mit Verweisen auf das Neue Testament und die Passionen Bachs, der Leidensweg eines Individuums auf die Bühne gebracht, das, in diesem Falle, Opfer der Revolution, des kommunistischen Barbarismus, wird.52 Wie weit aber könnte es möglich sein, sich über diese »Kälte der Welt« hinwegzusetzen, sie als ontologischen Zustand und »systemimmanent« zu akzeptieren und so mit ihr vielleicht sogar ganz gut klarzukommen? Ob dies gelingen kann, im »Moloch der Großstadt«, jener in der Oper angeblich negierten »Spaßgesellschaft«53, muss der einzelne für sich selbst erkunden. Dies nicht selten gegen den »Terror guter Gesinnung«, den der »guten Seelen und heißen 47 Vgl. Knopp, Peter: Durch die Wüste, S. 89. 48 Vgl. hierzu: Hillesheim: »Ich habe Musik unter meiner Haut…«, S. 23–57. 49 Vgl. Schebera, Jürgen: Kurt Weill. 1900–1950. Eine Biographie in Texten, Bildern und Dokumenten. Mainz u. a.: Schott 1990, S. 32, 35. 50 Vgl. Herz, Joachim: Kurt Weill, Bertolt Brecht und ihr Mahagonny. Absurdes Theater oder Lehrstück: Musiktheater unter dem Hammer der Politik. In: Csobádi, Peter u. a. (Hg.): Mahagonny. Die Stadt als Sujet und Herausforderung des (Musik)-Theaters. Vorträge und Materialien des Salzburger Symposions 1998. Anif, Salzburg: Mueller-Speiser 2000, S. 56–604, hier S. 575. 51 Vgl. hierzu: Krabiel, Klaus-Dieter: Die Maßnahme. In: Knopf, Jan (Hg.): Brecht-Handbuch. Bd. 1, Stücke. Stuttgart, Weimar: Metzler 2001, S. 253–266, hier S. 254, 257. 52 Vgl. Hillesheim, Jürgen: Zwischen Affirmation und Verweigerung. Bertolt Brecht und die Revolution. Würzburg: Königshausen & Neumann 2019, S. 195–201. 53 Dieser Gemeinplatz wird in der Forschungsliteratur tatsächlich mehrfach bedient; vgl. Vaßen, S. 288, und Brüns, Elke: Spaß muß sein?! Mahagonny und die Spaßgesellschaft. In: »Mahagonny.com. The Brecht Yearbook« Nr 29, 2004, S. 395–405.
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Herzen«54, wie Norbert Bolz nicht ganz unzutreffend formuliert. Brecht selbst scheint dies bisweilen gelungen zu sein.
Literatur Bach, Johann Sebastian: Neue Ausgabe sämtlicher Werke. Herausgegeben von JohannSebastian-Bach Institut Göttingen / Bach-Archiv Leipzig: Serie II, Bd. 5b. Kassel u. a.: Bärenreiter 2004. Bentley, Eric: Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny. In: Hennenberg, Fritz / Knopf, Jan (Hg.): Brecht/Weill Mahagonny. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2006, S. 396–402. Bolz, Norbert: Die Marke Mahagonny. Über konsumistische Urbanität. In: »Mahagonny.com The Brecht Yearbook« Nr. 29, 2004, S. 352–364. Brecht, Bertolt: Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Herausgegeben von Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei, Klaus-Detlef Müller. Berlin, Weimar, Frankfurt/Main: Aufbau, Suhrkamp 1988ff., Bd. 2. Brüns, Elke: Spaß muß sein?! Mahagonny und die Spaßgesellschaft. In: »Mahagonny.com. The Brecht Yearbook« Nr 29, 2004, S. 395–405. Chisholm, David: Brecht′s and Weill′s Views of Mahagonny: Musical-Textuals Tensions. In: »Mahagonny.com. The Brecht Yearbook« 29, 2004, S. 183–192. Drexel, Kurt: Musiktheater und Politik. Mahagonny im Spannungsfeld kulturideologischer Richtungskämpfe. In: Csobádi, Peter u. a. (Hg.): Mahagonny. Die Stadt als Sujet und Herausforderung des (Musik)-Theaters. Vorträge und Materialien des Salzburger Symposions 1998. Anif, Salzburg: Mueller-Speiser 2000, S. 605–623. Farneth, David (Hg.): Lotte Lenya. Eine Autobiographie in Bildern. Köln: Könemann 1999. Gaertner, Jan Felix: Vogelstaat und Netzestadt: Aristophanes’ Vögel und Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny von Bertolt Brecht und Kurt Weill. In: »Germanisch-Romanische Monatsschrift« Nr. 59, 2009, 4, S. 551–563. Giles, Steve: Materialism and Modernity in Mahagonny. Brecht’s Double Dystopia. In: »Mahagonny.com. The Brecht Yearbook« Nr. 29, 2004, S. 307–332. Goethe, Johann Wolfgang von: Berliner Ausgabe. Poetische Werke. Berlin: Aufbau, 1960ff., Bd. 1. Hartung, Günter: Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny. In: Hennenberg, Fritz / Knopf Jan (Hg.): Brecht/Weill Mahagonny. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2006, S. 374–386. Herrmann, Hans-Christian von: Wüste und Turbulenz: Anmerkungen zu Brechts Soziologie. In: »Mahagonny.com. The Brecht Yearbook« Nr. 29, 2004, S. 30–39. Herz, Joachim: Kurt Weill, Bertolt Brecht und ihr Mahagonny. Absurdes Theater oder Lehrstück: Musiktheater unter dem Hammer der Politik. In: Csobádi, Peter u. a. (Hg.): Mahagonny. Die Stadt als Sujet und Herausforderung des (Musik)-Theaters. Vorträge und Materialien des Salzburger Symposions 1998. Anif, Salzburg: Mueller-Speiser 2000, S. 569–604.
54 Vgl. Bolz, Norbert: Die Marke Mahagonny. Über konsumistische Urbanität. In: »Mahagonny.com The Brecht Yearbook« Nr. 29, 2004, S. 352–364, hier S. 352f.
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Helmuth Kiesel (Heidelberg)
Brechts Lektüre von Souvarines Stalin-Buch: ein doppeltes Versäumnis
In zwei Journal-Einträgen aus den Jahren 1941 und 1943 zeigt sich Brecht, pointiert gesagt, als früher Vertreter einer vergleichenden Totalitarismusbeobachtung, die später unter dem Namen Totalitarismusforschung oder Totalitarismustheorie gepflegt und wissenschaftlich ausgebaut wurde. Bemerkenswerte Folgen hatten Brechts Beobachtungen allerdings nicht, weder für ihn selbst noch für die Brecht-Forschung. Zu konstatieren ist vielmehr ein doppeltes Versäumnis. Doch zunächst zu den beiden Journal-Einträgen, die es wert sind, in voller Länge wiedergegeben zu werden. Der erste Eintrag vom Oktober 1941 nimmt Bezug auf einige Artikel, die Brecht von dem im amerikanischen Exil lebenden marxistischen Philosophen Karl Korsch zugesandt bekommen hatte. Korsch (1886–1961) war 1919 Mitglied zunächst der USPD, dann der KPD geworden und betätigte sich in den 1920er Jahren unter anderem als kommunistischer Dozent und Publizist. Wegen seiner Kritik an der Stalinisierung von Komintern und KP wurde er 1926 aus der Partei ausgeschlossen, spielte aber in verschiedenen Zirkeln eine wichtige, zum Teil führende Rolle. Brecht lernte Korsch im November 1928 kennen, nahm an Vortrags- und Diskussionsveranstaltungen mit Korsch teil, studierte seine Schriften und nannte ihn 1934 in einem kleinen Artikel, der allerdings nicht gedruckt wurde, seinen »Lehrer«1. Die Artikel, die Brecht im Herbst 1941 von Korsch zugesandt bekam, waren 1940/41 in der Zeitschrift »Living Marxism« erschienen und galten der »faschistischen Konterrevolution«, den allgemeinen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklungsmöglichkeiten und der Bedeutung des Kriegs für die Revolution. (GBA 27, 384) Sie müssen hier nicht referiert und erörtert werden, weil Brecht sich in seiner Journal-Notiz nicht weiter
1 Vgl. Brecht, Bertolt: Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Herausgegeben von Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei, Klaus-Detlef Müller. Berlin, Weimar, Frankfurt/Main: Aufbau, Suhrkamp 1988–2000, Bd. 22, S. 45f. (»Über meinen Lehrer«); vgl. auch die Anmerkungen der Herausgeber ebd., S. 894 sowie im Band 27, S. 384.– Im laufenden Text: (GBA Band, Seitenzahl).
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auf sie einlässt und weil es hier auch nicht um Korsch, sondern um Brecht geht; es reicht, zu sehen, was Brecht aus Korschs Artikeln herausgelesen hat: 27.10.41 / Korsch schickt einige Aufsätze in »Living Marxism«. In einem davon gibt er einen kurzen Überblick über den gegenwärtigen Stand der Monopolisierung der USA, der gegenüber tatsächlich die demokratischen Prinzipien keinerlei Funktion mehr haben können. In gewisser Hinsicht treten die Ähnlichkeiten der beiden großen Bewegungen Faschismus und Bolschewismus, welche den planwirtschaftlichen Tendenzen entsprechend die neuen autoritären Staatsgebilde geschaffen haben, mehr hervor als ihre Unähnlichkeiten. Da sind die allmächtigen Parteien, sowohl in den Parlamenten als auch mit zivilen Militärformationen arbeitend, die revolutionären Formen, die Hierarchien, die Polizeisysteme, Jahrespläne, Propagadamethoden, Jugendmilitarisierungen, Mythen, kommandierten Preise, Terrorwellen usw. usw., aber da sind auch ganz verschiedene Klassen, in deren Auftrag die Zentralisierung der Wirtschaft durchgeführt wird (was diesen verschiedenen Klassen allerhand kostet). Möglich, daß die faschistische Konterrevolution dem Proletariat da eine sehr trübe Phase erspart, indem sie sie erledigt (im Doppelsinn). Das alles machen besser Korporationen als Räte. Schade, dass Karl Korsch das nicht zu sehen scheint! (GBA 27, 20)
Folgt man diesem Gedankengang, so gab es im Jahr 1941 nur noch zwei politische Systeme auf der Welt: das faschistische, das in den USA allerdings noch demokratisch drapiert war, und das bolschewistische. Sie glichen einander in Zielsetzung (Herstellung von »autoritären Staatsgebilden«) und Methoden (Planwirtschaft, Polizeisysteme, Terror usw.). Unterschiedliche »Grade« des Autoritarismus, der Planwirtschaft und der polizeilichen oder paramilitärischen Machtausübung spielten hingegen keine Rolle. Ein derart entdifferenzierendes Denken war in den 1930er und 1940er Jahren weit verbreitet und wurde durch die amerikanische Politik des »New Deal« und durch faschismusfreundliche Äußerungen amerikanischer Politiker begünstigt; Wolfgang Schivelbusch hat dies 2005 in einer findigen Studie unter dem Titel Entfernte Verwandtschaft mit vielen Hinweisen und Zitaten auf frappierende Weise dargetan.2 Aber die Suggestion von »Verwandtschaft« (Schivelbusch) oder »Ähnlichkeit« (Brecht) sollte nicht einfach übernommen werden. In einer vergleichenden Studie über die Entwicklung der politischen Systeme nach dem Ersten Weltkrieg kam der Historiker Tim B. Müller 2014 zu dem Befund, dass von einer »entfernten Verwandtschaft« der Demokratien und der Diktaturen in den dreißiger Jahren nicht im Entferntesten die Rede sein kann. […] Ob in den institutionellen Details, bei den Ideen und Intentionen der Handelnden oder im Hinblick auf die pluralistischen gesellschaftlichen Interessen, die in der Demokratie zum Aus-
2 Schivelbusch, Wolfgang: Entfernte Verwandtschaft: Faschismus, Nationalsozialismus, New Deal 1933–1939. München und Wien: Hanser 2005.
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gleich gebracht wurden – von zeittypischen Oberflächlichkeiten abgesehen, könnte die Kluft im historischen Vergleich auch in der Krisenbewältigung kaum größer sein.3
Brecht und Korsch haben offensichtlich wichtige Unterschiede übersehen. Der bedeutendste ist die Differenz in der Anwendung von Zwangsmaßnahmen und in der Ausübung terroristischer Staatsgewalt. Für die Zwangskollektivierung und die Ausrottung der »Kulaken«, für den dauernden Tscheka-Terror und die große »Säuberung« der Jahre um 1937 gibt es in den USA – und noch nicht einmal im europäischen Faschismus – kein Pendant. Das scheint sogar Brecht gesehen zu haben, wie sein Hinweis darauf zeigt, dass »die faschistische Konterrevolution dem Proletariat da eine sehr trübe Phase erspart« habe oder ersparen könne. Weiter ließ Brecht sich auf diese »trübe Phase« allerdings nicht ein. Korschs Hinweise auf »die Ähnlichkeiten der beiden großen Bewegungen Faschismus und Bolschewismus« beunruhigten Brecht mehr, als die Notiz vom 27. Oktober erkennen lässt. Anfang November antwortete er Korsch auf dessen Zusendung mit einem längeren Brief, der das von Korsch benannte Skandalon der Systemkonvergenzen aufzulösen suchte. Die zentralen Sätze lauten: Natürlich bin ich mit Ihrer Stellungnahme zum ersten Arbeiterstaat der Geschichte […] immer noch nicht glücklich. Es ist eben nicht nur ein Arbeiterstaat, sondern auch ein Arbeiterstaat! Es scheint mir so sehr deutlich, dass die spezifische Staatsform (die stalinistische) sich in allerengstem Zusammenhang mit der Sozialisierung der Wirtschaft (den Fünfjahresplänen), der Kollektivisierung und Industrialisierung der Landwirtschaft und der Landesverteidigung entwickelt hat. Da zwingen vielleicht doch gewisse elementare historische Aufgaben den verschiedenen Klassen ähnliche Methoden und Institutionen auf ? Sie bleiben verschieden Klassen mit ihren ähnlichen Apparaten und die proletarische Klasse schafft doch so viel tiefere Umformung der Basis selber. Jedenfalls muß da ein Feld überschritten werden, das äußerst distrahierende Tendenzen aufweist, wenn die Zentralisierung der Wirtschaft die Aufgabe ist. […] Die dialektische Situation (widerspruchsgeladene Situation) erfordert ein dialektisches Handeln (im selben Sinn). scheint mir. (GBA 29, 217)
Mit diesem Brief ließ Brecht die Beobachtung der Methoden- und Institutionenähnlichkeit hinter sich und verlagerte den Systemvergleich auf die handelnden Klassen und deren Ziele, und hier gehört Brechts Sympathie selbstverständlich der »proletarischen Klasse« und ihrer »tieferen Umformung der Basis«, also der sozioökonomischen Verhältnisse. Das ließe sich hören, wenn diese Sympathie mit dem »ersten Arbeiterstaat« von einer etwas genaueren Beobachtung der tatsächlichen Verhältnisse und einer wenigstens ansatzweisen Charakterisierung der dort verwendeten Methoden der Sozialisierung und Zentralisierung begleitet würde. Vertrat die KPdSU tatsächlich die »proletarische 3 Müller, Tim B.: Nach dem Ersten Weltkrieg: Lebensversuche moderner Demokratien. Hamburg: Hamburger Edition HIS 2014, S. 148f.
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Klasse«? Was bedeutete »Kollektivisierung und Industrialisierung der Landwirtschaft« für die betroffenen Bauern? Dergleichen Fragen stellte Brecht nicht.4 Die Dignität des »ersten Arbeiterstaats« war für ihn über alle Zweifel erhaben. Die Methoden, mit denen er errichtet und am Leben erhalten wurde, scheinen zwar nicht nur erfreulich gewesen zu sein, weswegen sie verteidigt werden müssen: sie sind der Notwendigkeit geschuldet, die »distrahierenden Tendenzen« der historischen Situation zu überwinden, und müssen dialektisch verstanden werden. Das führte Brecht im Schreiben an Korsch nicht weiter aus, doch scheint es, dass er sich in seinen Schriften, vor allem im Buch der Wendungen, an dem er in all diesen Jahren arbeitete, darin übte. Zum Anlass, die Methoden, denen der »erste Arbeiterstaat« seine Existenz verdankte, genauer zu betrachten und seriös zu bewerten, hätte anderthalb Jahre später die Lektüre von Boris Souvarines Stalin-Biographie werden können, ja werden müssen. Dieses geradezu monumentale Buch war 1935 unter dem Titel Stalin. Aperçu historique du bolchévisme erschienen,5 wurde 1940 erneut aufgelegt und zugleich unter dem Titel Stalin. A critical survey of Bolshevism ins Englische übersetzt.6 Eine deutsche Übersetzung erschien erst viel später (1980) unter dem Titel Stalin. Anmerkungen zur Geschichte des Bolschewismus.7 Brecht las die englische Ausgabe. Souvarine und sein Stalin- oder Bolschewismus-Buch sind heute keineswegs vergessen, spielen aber in der Auseinandersetzung mit dem Stalinismus keine prominente Rolle. In der Großen Berliner und Frankfurter Brecht Ausgabe wird im Kommentar zu Brechts Journal-Notiz nur auf die französische Ausgabe von 1935 hingewiesen, zum Verfasser und Inhalt des Buches aber kein Wort gesagt. (GBA 27, 462). In drei neueren deutschsprachigen Darstellungen von Stalins Herrschaft – Gerd Koenen, Utopie der Säuberung (2000)8; Jörg Baberowski, Der rote Terror (2003)9; Jörg Baberowski, Verbrannte Erde: Stalins Herrschaft der Gewalt (2012)10 – werden weder der Autor noch das Buch erwähnt, ebenso wenig in Timothy Snyders Bloodlands: Europa zwischen Hitler und Stalin (2010/11).11 In 4 Brecht stellte solche Frage nie im Ernst, sondern hielt sich, wie das Gedicht Tschaganak Bersijew oder Die Erziehung der Hirse (1950) zeigt, zeitlebens vertrauensvoll an die propagandistischen Darstellungen sowjetischer Autoren (vgl. GBA 15, 228ff. und 449ff., sowie Brecht-Handbuch in fünf Bänden. Band 2: Gedichte. Stuttgart und Weimar: Metzler, 2001, S. 420ff.) 5 Souvarine, Boris: Stalin. Aperçu historique du bolchévisme. Paris: Plon 1935. 6 Souvarine, Boris: Stalin. A critical survey of Bolshevism. London: Secker and Warburg 1940. 7 Souvarine, Boris: Stalin. Anmerkungen zur Geschichte des Bolschewismus. München: Bernard & Graefe 1980. 8 Koenen, Gerd: Utopie der Säuberung. Frankfurt/Main: Fischer 2000. 9 Baberowski, Jörg: Der rote Terror. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2003. 10 Baberowski, Jörg: Verbrannte Erde: Stalins Herrschaft der Gewalt. München: Beck 2012. 11 Snyders, Timothy: Bloodlands: Europa zwischen Hitler und Stalin München: Beck 2011.
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dem von Stéphane Courtois und anderen erarbeiteten Schwarzbuch des Kommunismus (1997/98)12 wird sechsmal auf Souvarine verwiesen. In Michael Rohrwassers Untersuchung Der Stalinismus und die Renegaten: die Literatur der Exkommunisten (1991)13 wird er zwar mehrfach erwähnt, aber, weil es um deutsche Exkommunisten geht, nicht mit einem eigenen Kapitel bedacht. Hinweise, die der Souvarines Bedeutung entsprechen, finden sich – soweit ich sehe – nur in Wolfgang Wippermanns Abhandlung Totalitarismustheorien: die Entwicklung der Disskussion von den Anfängen bis heute (1997)14 und – ein Jahr zuvor – in Karol Sauerlands Aufsatz Das Phänomen Stalin oder die Blindheit der Dichter, wo Brechts Souvarine-Lektüre knapp erörtert wird.15 Souvarine16 wurde 1894 in Kiew geboren und hieß zunächst Boris Lifschitz. Bereits 1897 kam er mit seiner Familie nach Frankreich, lernte das Goldschmiedehandwerk, trat 1914 der sozialistischen Partei bei und wurde 1921 zu einem der Mitbegründer der Kommunistischen Partei Frankreichs (PCF). In den 1920er Jahren lebte er meist in Moskau. Da er sich mehrfach für Trotzki aussprach, wurde er 1924 aus der Dritten Internationalen und gegen Ende der 1920er Jahre aus der KP ausgeschlossen. Er brach dann allerdings auch mit Trotzki und entwickelte sich, so Wippermann, »zu einem scharfen Kritiker des Kommunismus im allgemeinen, Stalins im besonderen, dessen Verbrechen er in einer 1935 veröffentlichten und 1940 erweiterten Biographie mit scharfen Worten anprangerte«17. Das ist allerdings eine sehr selektive und irreführende Inhaltsangabe. Denn Souvarines Buch ist nicht nur eine Verurteilung von Stalins Verbrechen, sondern eine Generalabrechnung mit dem Bolschewismus, der in Stalin lediglich seine konsequente und allerdings monströse Verkörperung gefunden hat. Souvarines Kritik ist umfassend und gilt allen Prinzipien, Verfahrensweisen und Akteuren des Bolschewismus. Die Fehlhaltungen zeigen sich schon bei Lenin, werden aber bei Stalin dominant und vollends in großem Maßstab mörderisch. Stalin hat kein eigentliches Verständnis für den Marxismus; er begnügt sich mit einigen »äußerlichen Anleihen, ohne mit lebendigem Geist in ihn einzudringen«, und versteift sich auf die Vorstellung vom »Kriegskommunismus«, in 12 Courtois, Stéphane / Werth, Nicolas / Panné, Jean-Louis / Paczkowski, Andrzej u. a.: Schwarzbuch des Kommunismus. Unterdrückung, Verbrechen und Terror. München und Zürich: Piper 1998. 13 Rohrwasser, Michael: Der Stalinismus und die Renegaten: die Literatur der Exkommunisten Stuttgart: Metzler 1991. 14 Wippermann, Wolfgang: Totalitarismustheorien: die Entwicklung der Disskussion von den Anfängen bis heute. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1997, S. 71f. 15 Sauerland, Karol: Das Phänomen Stalin oder die Blindheit der Dichter. In: »Acta Universitatis Nicolai Copernici« Nr. 312, 1996,S. 17f. 16 Vgl. Panné, Jean Louis: Boris Souvarine, le premier désenchanté du communisme. Paris: Laffont 1993. 17 Wippermann, Wolfgang: Totalitarismustheorien, S. 72.
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dem die russische Gesellschaft von der Kommunistischen Partei mit »eiserner Faust« in eine neue, kollektivistische und dauermobilisierte Lebensform gezwungen werden soll.18 Stalin errichtet mit Hilfe einer negativen Auswahl von Gefolgsleuten ein Regime des Terrors und begründet in Russland ein neues Zeitalter der Barbarei.19 Unter »Hammer und Sichel, dem Emblem der primitiven Handarbeit und einer wenig produktiven Wirtschaft«20, lebt der weitaus größte Teil der Bevölkerung in Schrecken und Armut. Stalin führt Krieg gegen die Bauern, löst 1931 eine Hungersnot aus und treibt Millionen von Menschen in den Tod.21 Fünfjahresplan und Industrialisierung, die mit Ausbeutung und Unterdrückung in großem Maßstab einhergehen, erweisen sich als gigantische Fehlschläge, die für Russland eine »Substanzschwächung« bedeuten, »die in einem modernen Staat mehreren verlorenen Kriegen gleichkommt.«22 Die »Säuberungen« von 1936 bis 1938, die vom Scheitern der großen Pläne durch Beschuldigung von angeblichen Konterrevolutionären und Saboteuren ablenken sollen, sind das Verbrechen einer von Stalin angeführten Mörderbande.23 Der »knutosowjetische Staat«24 ist ein System, in welchem eine dünne Schicht von Privilegierten auf Kosten der brutal unterdrückten und schamlos ausgebeuteten Bevölkerung lebt.25 Öffentlich geredet werden kann darüber nicht. Es herrscht »finsteres Schweigen«, das allerdings durch die »monolithische Einstimmigkeit« der gleichgeschalteten Nachrichten- und Propagandaorgane überlagert wird.26 Von ihnen und von opportunistischen Literaten wird Stalin mit maßlosen Huldigungen bedacht,27 als »geliebter Führer« und »genialer Denker« apostrophiert,28 mit seiner Einwilligung als »der größte Mann unseres Planeten«29 bezeichnet und geradezu »vergöttlicht«30. Seine geistige Kapazität und seine charakterliche Veranlagung stehen aber im krassen Gegensatz zu diesen byzantinischen Lobpreisungen. Schon Lenin hat – Trotzki zufolge – an Stalin eine Kombination von intellektueller Begrenztheit, taktischer Schläue und moralischer Skrupellosigkeit festgestellt.31 Hervorstechend an ihm ist sein unbändiger »Wille zur Macht«32, 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32
Vgl. Souvarine, Boris: Stalin. Anmerkungen zur Geschichte des Bolschewismus, S. 279ff. Vgl. ebd., S. 349f. und 454. Vgl. ebd., S. 455. Vgl. ebd., 449ff., 475ff. und 488ff. Vgl. ebd., S. 600. Vgl. ebd., S. 563ff. Ebd., S. 456. Vgl. ebd., S. 603. Vgl. ebd., S. 485. Vgl. ebd., S. 465. Vgl. ebd., S. 523. Vgl. ebd., S. 540. Vgl. ebd., S. 591. Vgl. ebd., S. 271. Ebd., S. 282 und öfter.
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dem er mit elementarer »Verschlagenheit«33, mit großer Wendigkeit und findigem Intrigantentum frönt. Jeder »sozialistische Humanismus« ist ihm fremd.34 Sucht man in der Geschichte vergleichbare Gestalten, so kommt man auf Iwan den Schrecklichen35 und Dschingis Khan.36 Hitler wird mehrfach erwähnt, aber nicht als vergleichbare Gestalt oder gar als Anreger betrachtet; im Gegenteil, Souvarine stellt fest: »Hitler hat viel von Stalin kopiert, vor allem in Bezug auf die Konzentrationslager.«37 Souvarines Bild von Stalin und seiner Schreckensherrschaft wurde grosso modo durch die oben schon erwähnten jüngeren Darstellungen von Koenen und Baberowski sowie das Schwarzbuch des Kommunismus bestätigt (woran auch kritische Einwände38 nichts ändern) und durch jüngere Publikationen wie die abscheulichen Karikaturen aus dem Politbüro der KPdSU (N. P. Brjuchanow, auf Befehl Stalins »an seinen Eiern« aufgehängt) um erschreckende Einzelheiten ergänzt.39 Die Ausmaße und Modalitäten der Unmenschlichkeit, der Verfolgung und Ausrottung, der Tortur und Demütigung, sind erschütternd, weil sie das basale Vertrauen auf das Vorwalten von Humanität und Rechtlichkeit in der Geschichte in Frage stellen. Man kann Souvarines Buch nicht lesen, ohne erschüttert zu sein. Auch Brecht scheint zunächst einmal stark betroffen gewesen zu sein. Am 19. Juli 1943 notierte er in seinem Journal: 19.7.43 / Souvarines niederdrückendes Buch über Stalin gelesen. Die Umwandlung des Berufsrevolutionärs in den Bürokraten, einer ganzen revolutionären Partei in einen Beamtenkörper gewinnt durch das Auftreten des Faschismus tatsächlich eine neue Beleuchtung. Das deutsche Kleinbürgertum borgt sich für seinen Versuch, einen Staatskapitalismus zu schaffen, gewisse Institutionen (samt ideologischem Material) vom russischen Proletariat, das versucht, einen Staatssozialismus zu schaffen. Im Faschismus erblickt der Sozialismus sein verzerrtes Spiegelbild. Mit keiner seiner Tugenden, aber allen seinen Lastern. (GBA 27, 158)
Wie es scheint, hat Brecht Souvarines vernichtend negatives Bild Stalins und der KPdSU-Führung akzeptiert. Zwei Hauptvorwürfe (bürokratische »Umwandlung« eines Berufsrevolutionärs und einer revolutionären Partei) gibt er in Kurzform wieder; Zweifel an Souvarines erschreckenden Enthüllungen meldet er 33 34 35 36 37 38
Ebd., S. 325 und 377. Vgl. ebd., S. 459. Vgl. ebd., S. 577. Vgl. ebd., S. 443. Ebd., S. 576. Vgl. Mecklenburg, Jens / Wippermann, Wolfgang (Hg.): »Roter Holocaust«? Kritik des Schwarzbuchs des Kommunismus. Hamburg: Konkret Literatur Verlag 1998. 39 Vgl. Jurévic, Aleksandr / Malaschenko, Larissa (Hg.): Schweinefuchs und das Schwert der Revolution: die bolschewistische Führung karikiert sich selbst. München: Kunstmann 2007; die genannte Karikatur dort S. 174; siehe auch https://www.welt.de/kultur/article3899520/Stalin -liess-die-Genossen-an-den-Eiern-aufhaengen.html.
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nicht an; auf Einsprüche verzichtet er. Stattdessen relativiert und neutralisiert er die »niederdrückende« Wirkung von Souvarines Buch durch einen vergleichenden Blick auf den »Faschismus« und erweist sich damit, wie eingangs schon gesagt, als ein früher Vertreter der vergleichenden Totalitarismusbeobachtung oder eben Totalitarismustheorie, die bei Brecht aber – anders als bei wissenschaftlichen Vertretern – nicht dem nüchternen Vergleich der Methoden und Opferzahlen dient, sondern der Unterscheidung zwischen einem nur negativ zu bewertenden Faschismus und einem letztlich doch positiv zu bewertenden Sowjetkommunismus. In unverhohlen apologetischer Absicht geht Brecht damit weit über Souvarine hinaus. Dieser nahm zwar gelegentlich Bezug auf Mussolini und Hitler und sprach ausdrücklich einmal von den »Methodenähnlichkeiten von Parteien, die mit starker Faust regierten«40; aber auf genauere Ausführungen verzichtete er; sein Ziel war die »Entzauberung« Stalins und der bolschewistischen Herrschaft, nicht die vergleichende Betrachtung und Bewertung von Faschismus, Nationalsozialismus und Bolschewismus. Diese begann allerdings schon in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre mit ersten komparatistischen Artikeln und fand in den 1930er Jahren eine Fortsetzung in größeren Studien, zwei wissenschaftlichen Konferenzen in Minneapolis (1935) und Philadelphia (1939), zudem in den literarischen Werken und sonstigen Schriften von literarischen Autoren.41 Wippermann spricht in seinem Überblick über die Entfaltung der Totalitarismustheorie ausdrücklich von »literarischen Totalitarismustheorien«, die in den Schriften von »Renegaten« wie Arthur Koestler, Theodor Plievier, Gustav Regler zu finden sind, und widmet ihnen ein ganzes Kapitel.42 Es waren aber nicht nur »Renegaten«, die Ähnlichkeiten zwischen Kommunismus und Faschismus sowie Nationalsozialismus feststellten, sondern auch andere Autoren mit historisch-politischer Aufmerk40 Vgl. Souvarine, Stalin, S. 553. 41 Zur Entfaltung der vergleichenden Totalitarismusbeobachtung vgl. außer Wippermanns Totalitarismustheorien (wie oben) die einschlägigen Beiträge folgender Sammelbände: Maier, Hans (Hg.): Totalitarismus und Politische Religionen: Konzepte des Diktaturvergleichs. Paderborn usw.: Schöningh 1996; Jesse, Eckhard (Hg.): Totalitarismus im 20. Jahrhundert: eine Bilanz der internationalen Forschung. Baden-Baden: Nomos 1996; Söllner, Alfons (Hg.): Totalitarismus: eine Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts. Berlin: Akademie 1997. Zur Rezeption der Totalitarismustheorie vgl. auch Kraushaar, Wolfgang: Sich aufs Eis wagen: Plädoyer für eine Reaktualisierung der Totalitarismustheorie. In: Kraushaar, Wolfgang: Linke Geisterfahrer: Denkanstöße für eine antitotalitäre Linke. Frankfurt/Main: Verlag Neue Kritik 2001, S. 59–86. 42 Vgl. Wippermann, Totalitarismustheorien, S. 5 und 58–70; vgl. zu diesem Thema auch den sehr bemerkenswerten Aufsatz von Günter Scholdt: Feindliche Nähe und Angst vor dem Gulag? Der »Historikerstreit« im Spiegel von Schriftsteller-Äußerungen zwischen 1917 und 1945. In: Fleischer, Helmut / Azzaro, Pierlucca (Hg.): Das 20. Jahrhundert: Zeitalter der tragischen Verkehrungen. Forum zum 80. Geburtstag von Ernst Nolte. München: Herbig 2003, S. 156–206.
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samkeit und Urteilskraft. So hielt Thomas Mann am 24. November 1933 unter dem Eindruck des Reichstagsbrandprozesses in seinem Tagebuch fest: Groteske Meldungen der gestrigen u. heutigen Blätter über das rednerische Erwachen v. d. Lubbe’s, seine Proteste gegen die Verschleppung und den »Symbolismus« des Prozesses und seine Äußerungen über das »Drum und Dran«, das ihm offenbar nicht durchsichtig [ist]. Dimitroffs Vermutung, gegen die der Rechtsanwalt protestierte, dass L. unbewußt von Feinden des Kommunismus als Werkzeug gebraucht worden sei, ist natürlich einleuchtend. Mir scheint darüber hinaus, daß ganz zuletzt die Urheberschaft selbst so fluktuierend u. schwankend sein mag wie die geistige und personale Grenze zwischen Nationalsozialismus und Kommunismus überhaupt. Ich bin geneigt, den unbewußten Sinn des Prozesses in der Fühlbarmachung der Nähe, Verwandtschaft ja Identität von Nat. Sozialismus und Kommunismus [zu sehen]. Sein »Ergebnis« wird den Haß u. die idiotische Vernichtungswut des einen gegen den anderen ad absurdum führen, wohin sie eigentlich nicht geführt zu werden braucht. Sie sind brüderlichverschiedene Ausdrücke einer u. derselben historischen Sache, derselben politischen Welt […].43
In dieser Ansicht sah sich Mann durch die weitere Entwicklung bestätigt. In zwei Essays aus den Jahren 1938 und 1939 – Vom zukünftigen Sieg der Demokratie und Das Problem der Freiheit – bezeichnete er Nationalsozialismus und Bolschewismus als »feindliche Brüder«, und fügte hinzu, dass »der jüngere von dem ältern, russischen, so gut wie alles gelernt« habe, »nur nicht das Moralische«, »denn sein Sozialismus [sei] moralisch unecht, verlogen und menschenverächterisch«; allerdings laufe er »im wirtschaftlichen Effekt auf dasselbe hinaus wie der Bolschewismus«44. Dies erläuterte Mann mit Ausführungen, die Brechts Anmerkungen zu Souvarines Buch nahekommen, aber zu einer fundamental anderen Einschätzung führen: Was in Deutschland zu beobachten sei, könne »Staatssozialismus« ebenso gut wie »Staatskapitalismus« genannt werden, wobei freilich einzuräumen sei, dass es sich dabei um eine »Verhunzung«45 des Sozialismus wie der privatkapitalistischen Wirtschaftsform handle. Wie sichtbar geworden sein dürfte, bewegte sich auch Brechts Reaktion auf Souvarines Stalin- und Bolschewismus-Darstellung im Fahrwasser der zeitgenössischen vergleichenden Totalitarismusbeobachtung. Er geht dabei soweit, dem Bolschewismus hinsichtlich der Methoden ein »Prius« einzuräumen, wie man mit dem vielgeschmähten Ernst Nolte fast einmal sagen möchte.46 Dann
43 Mann, Thomas: Tagebücher 1933–1934. Herausgegeben von Peter de Mendelssohn. Frankfurt am Main: Fischer 1977, S. 255. 44 Vgl. Mann, Thomas: Essays [in 6 Bänden]. Herausgegeben von Hermann Kurzke und Stephan Stachorski. Frankfurt am Main: Fischer 1995, Bd. 4, S. 229, und Bd. 5, S. 68. 45 Ebd. 46 Vgl. Nolte, Ernst: Marxismus und Nationalsozialismus. In: »Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte« Nr. 31, 1983, S. 389–417 und Nolte, Ernst: Der europäische Bürgerkrieg 1917–1945:
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aber nutzt er den Vergleich, zu dem Souvarine, wie gesagt, kaum Anlass bot, um den »niederdrückenden« Effekt der Souvarine-Lektüre zu neutralisieren, wofür er wie im Brief an Korsch eine vermeintlich entscheidende Differenz in Anschlag bringt. So groß nämlich die Ähnlichkeiten zwischen Faschismus und Bolschewismus sein mögen – : in Deutschland will sich das »Kleinbürgertum« seinen »Staatskapitalismus« schaffen, während in Russland das »Proletariat« versucht, einen »Staatssozialismus« zu schaffen. Mit dieser simplen Antithese, deren soziologische Voraussetzungen und Zurechnungen (Rolle des deutschen Kleinbürgertums beziehungsweise des russischen Proletariats, das von der KPdSU entmündigt und unterworfen worden war) nicht geprüft werden, wird die Systemähnlichkeit zwar eingeräumt, zugleich aber relativiert, indem behauptet wird, der Faschismus zeige zwar ein »Spiegelbild« des Sozialismus, aber ein »verzerrtes«, auf welchem alle »Laster« des Sozialismus zu sehen seien, nicht aber dessen »Tugenden«. Vor dem Hintergrund von Souvarines Buch ist der nicht weiter substantiierte, vielmehr unspezifisch apologetisch bleibende Verweis auf die Tugenden des Sozialismus in seiner bolschewistischen Form allerdings grotesk. Gleichviel, für Brecht bedeutete diese Volte offensichtlich eine weltbildkonforme oder genauer: weltbildstabilisierende Befreiung vom deprimierenden Effekt der Souvarine-Lektüre. Der Journal-Eintrag des folgenden Tages, des 20. Juli 1943, gilt dem geplanten Gedicht-Zyklus Lieder des Glücksgotts, »ein ganz und gar materialistisches Werk, preisend das ›gute Leben‹ (in doppelter Bedeutung). Essen, Trinken, Wohnen, Schlafen, Lieben, Arbeiten, Denken, die großen Genüsse.« (GBA 27, 159) Eine weitere explizite Auseinandersetzung mit Souvarine gibt es nicht, weder in den Journalen noch in den Schriften; das Register der Großen Berliner und Frankfurter Ausgabe verzeichnet den Namen Souvarine denn auch nur einmal im gesamten Werk. In den Kommentaren wird Souvarines Buch immerhin noch zweimal als Quelle für bestimmte Wendungen erwähnt, die Brecht von Souvarine übernommen haben könnte, so die für Stalins Vornamen verwendete Koseform »Soso« (GBA 8, 480) und die dichterische Rühmung Stalins als »Sonne der Völker« (GBA 15, 498). Das Brecht-Handbuch verweist zwei Mal auf Souvarine: das eine Mal im Zusammenhang mit Brechts Kritik an rigiden politischen Ordnungen, wie sie im Schweyk (1943–56) artikuliert wird47; das andere Mal im Zusammenhang mit der Ordnungs- und Aufbaukritik, die sich im Buch der Wendungen (1934/35–1955) findet. Hier wird Souvarines Buch als eine der Anregungen für Brechts teilweise kritische Erörterung der Stalinschen
Nationalsozialismus und Bolschewismus. Berlin: Propyläen 1987; zur Kontroverse um Nolte: Wippermann, Totalitarismustheorien, S. 95ff. 47 Vgl. Knopf, Jan (Hg.): Brecht-Handbuch in fünf Bänden. Band 1: Stücke. Stuttgart und Weimar: Metzler 2001, S. 496.
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Ordnungs- und Aufbauleistung angeführt.48 Zugleich wird aber deutlich, dass Brechts Kritik an Stalin und seinem Personenkult von der Radikalität der Souvarineschen Stalin- und Bolschewismuskritik meilenweit entfernt blieb. Während Souvarine ein einziges großes Verbrechen und Scheitern konstatiert, sind – so das Handbuch – Brechts »Ausführungen zur Entwicklung in der Sowjetunion von der grundsätzlichen Zustimmung zum Experiment ›Große Ordnung‹ getragen, insbesondere durch das Wissen um die zunehmende Bedrohung durch den deutschen Faschismus, die dann fast zur Vernichtung der Sowjetunion geführt hätte.«49 Dazu wäre manche Frage zu stellen, beispielsweise die, warum Stalin angesichts dieser Bedrohung die sowjetische Armee 1937/38 ihrer Führung und eines Teils ihres erfahrenen Offizierskorps beraubte50; oder die, warum er im August 1939 Hitler mit dem geheimen Zusatzprotokoll zu dem weltweit Empörung auslösenden deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt erlaubte, mit seiner Armee weit in den Osten vorzurücken und den großen westlichen Teil Polens als Aufmarschgebiet für einen Angriff auf das »Vaterland der Werktätigen« zu gewinnen.51 Aber dergleichen Fragen stellte weder Brecht noch die dem Autor ergebenen Teile der Brecht-Forschung. Damit werden zwei Versäumnisse sichtbar: Brecht vermied es entschieden, Souvarines Kritik wirklich ernst zu nehmen und auf ihrer Basis eine illusionslose und nicht durch taktische Rücksichten diktierte Stellungnahme zu Stalin und zum Stalinismus zu formulieren. Den möglicherweise von Souvarine angeregten Vergleich von »Faschismus«, wie Brecht sagt, und Bolschewismus nutzte er nicht, um die Fehlleistungen und Verbrechen der Bolschewisten schärfer ins Auge zu fassen, sondern nur, um pauschal abwiegelnd auf »Tugenden« zu verweisen, die den Bolschewismus gegenüber dem Faschismus auszeichnen sollten. Die BrechtForschung wiederum versäumte es, Brechts »milde«52 oder jedenfalls zurückhaltende Stalin- und Bolschewismuskritik nach dem Maßstab von Souvarines Kritik einzuschätzen und als politisch wie ethisch defizitär zu kennzeichnen, wie dies Karol Sauerland und Michael Rohrwasser ansatzweise vorgeführt haben.53 Stattdessen werden die teilweise schwer nachvollziehbaren und in Ambiguitäten verharrenden Ausführungen des Buches der Wendungen mit affirmativen, aber sachlich weder sonderlich erhellenden noch überzeugenden Kommentaren 48 Vgl. Knopf, Jan (Hg.): Brecht-Handbuch in fünf Bänden. Band 3: Prosa, Filme, Drehbücher. Stuttgart und Weimar: Metzler 2002, S. 256f. 49 Vgl. ebd., S. 258. 50 Vgl. Baberowski, Jörg: Verbrannte Erde, S. 294ff. 51 Vgl. Weber, Claudia: Der Pakt: Stalin, Hitler und die Geschichte einer mörderischen Allianz 1939–1941. München: Beck,2019, S. 69ff. 52 Vgl. ebd., S. 257. 53 Vgl. Sauerland, Karol: das Phänomen Stalin, S. 17f.; Rohrwasser, Michael: Der Stalinismus und die Renegaten, S. 160ff.
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verteidigt. Kurzum: Brecht war ein bedeutender Dichter54; ein realitätsbewusster politischer Analytiker war er nicht. Sein Eintreten für sozialistische Vorstellungen, das angesichts der ökonomischen und sozialen Verhältnisse und Verwerfungen seiner Zeit verständlich und seinen Motiven nach ehrenwert war, hat seinen Blick auf die Konstruktionsmängel und konkreten Verfehlungen des bolschewistischen Überwindungsversuchs getrübt. Die sowjetische Propaganda und die schönfärberischen Russlandberichte einiger von der KPdSU eingeladenen Fellowtravellers55 mögen dazu beigetragen haben, ebenso der unerschütterliche Glaube an die Richtigkeit nicht nur der sozialistischen Zielsetzung, sondern auch des in der Sowjetunion eingeschlagenen Wegs. Die Brecht-Forschung sollte sich davon nicht in naiver Paraphrastik leiten lassen, auch sollte sie die lange gepflegte Perhorreszierung der Totalitarismustheorie als angeblicher Erfindung des Kalten Kriegs nicht prolongieren, sie vielmehr – trotz der oft beschriebenen Begrenztheit ihrer Erklärungskraft56 – als Beschreibungs-, Analyse- und Beurteilungsinstrument nutzen, wie dies beispielsweise von Gerd Koenen57, Timothy Snyder58 und Ian Kershaw59 vorgeführt und erläutert wurde. Sie sollte in diesem Zusammenhang auch davon absehen, die Übeltaten der Bolschewiken durch Verweise auf die universalen humanistischen Ziele des idealistischen Sozialismus zu exkulpieren oder gegenüber den NS-Verbrechen zu verharmlosen, wie dies lange Zeit üblich war und immer wieder einmal geschieht.
54 Meine Wertschätzung für den Lyriker und Dramatiker Brecht ist dokumentiert in: Kiesel, Helmuth: Geschichte der literarischen Moderne: Sprache, Ästhetik, Dichtung im zwanzigsten Jahrhundert. München: Beck 2004, S. 356ff., sowie Kiesel, Helmuth: Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1918 bis 1933. München: Beck 2017, 1032ff. und 1130ff. 55 Vgl. dazu die neuere Sichtung bei Haarmann, Hermann / Hartmann, Anne (Hg.): »Auf nach Moskau!« Reiseberichte aus dem Exil. Ein internationales Symposion. Baden-Baden: Tectum, 2018. 56 Wippermanns 1997 geäußerte Kritik an den »alten Totalitarismustheorien«, die nicht in der Lage gewesen seien, die Wandlungsfähigkeit totalitärer Diktaturen zu erkennen (Wippermann: Totalitarismustheorien), war schon zu dieser Zeit durch Theorie, die die Prozesshaftigkeit des Totalitarismus konstatieren, überholt (vgl. dazu Reichardt, Sven: Was mit dem Faschismus passiert ist: ein Literaturbericht zur internationalen Faschismusforschung seit 1990. In: »Neue politische Literatur« Nr. 1, 2004, S. 385–406. Auch Wippermanns Hinweis darauf, dass die Totalitarismustheorien nicht in der Lage seien, den Holocaust zu erklären und in seiner Singularität zu erfassen (Wippermann, Wolfgang: Totalitarismus als »Analyserahmen«?. In: Mecklenburg, Jens / Wippermann, Wolfgang (Hg.): »Roter Holocaust«? S. 73– 89), ist hinfällig. Keine Theorie muss alles erklären, schon gar nicht etwas, was immer wieder von Experten als unerklärbar bezeichnet wird. 57 Vgl. Koenen, Gerd: Utopie der Säuberung. S. 271ff. 58 Vgl. Snyders, Timothy: Bloodlands:. bes. S. 381ff. 59 Vgl. Kershaw, Ian: Höllensturz: Europa 1914 bis 1949. München: Pantheon 2016, S. 367ff. und S. 401ff.
Brechts Lektüre von Souvarines Stalin-Buch: ein doppeltes Versäumnis
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Helmuth Kiesel
Panné, Jean Louis: Boris Souvarine, le premier désenchanté du communisme. Paris: Laffont 1993. Reichardt, Sven: Was mit dem Faschismus passiert ist: ein Literaturbericht zur internationalen Faschismusforschung seit 1990. In: »Neue politische Literatur« Nr. 1, 2004, S. 385–406. Rohrwasser, Michael: Der Stalinismus und die Renegaten. Die Literatur der Exkommunisten. Stuttgart: Matzler 1991. Rohrwasser, Michael: Der Stalinismus und die Renegaten: die Literatur der Exkommunisten Stuttgart: Metzler 1991. Sauerland, Karol: Das Phänomen Stalin oder die Blindheit der Dichter. In: »Acta Universitatis Nicolai Copernici« Nr. 312, 1996, S. 3–16. Schivelbusch, Wolfgang: Entfernte Verwandtschaft: Faschismus, Nationalsozialismus, New Deal 1933–1939. München und Wien: Hanser, 2005. Scholdt, Günter: Feindliche Nähe und Angst vor dem Gulag? Der »Historikerstreit« im Spiegel von Schriftsteller-Äußerungen zwischen 1917 und 1945. In: Fleischer, Helmut / Azzaro, Pierlucca (Hg.): Das 20. Jahrhundert: Zeitalter der tragischen Verkehrungen. Forum zum 80. Geburtstag von Ernst Nolte. München: Herbig 2003, S. 156–206. Snyders, Timothy: Bloodlands: Europa zwischen Hitler und Stalin München: Beck 2011. Söllner, Alfons (Hg.): Totalitarismus: eine Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts. Berlin: Akademie 1997. Souvarine, Boris: Stalin. A critical survey of Bolshevism. London: Secker and Warburg 1940. Souvarine, Boris: Stalin. Anmerkungen zur Geschichte des Bolschewismus. München: Bernard & Graefe 1980. Souvarine, Boris: Stalin. Aperçu historique du bolchévisme. Paris: Plon 1935. Weber, Claudia: Der Pakt: Stalin, Hitler und die Geschichte einer mörderischen Allianz 1939–1941. München: Beck,2019, S. 69ff. Wippermann, Wolfgang: Totalitarismus als »Analyserahmen«? In: Mecklenburg, Jens / Wippermann, Wolfgang (Hg.): »Roter Holocaust«? Hamburg: Konkret Literatur Verlag 1998, S. 73–89.
Wolfgang Beutin (Köthel)
Politisches Tagesgeschehen und Geschichtsbild in Brechts Arbeitsjournal
Brechts Arbeitsjournal ist eine tagebuchähnliche Quelle von außerordentlichem Reichtum der Eintragungen aus den Jahren 1938–1955.1 In ihm begleitete er den Prozess der Entstehung seiner eigenen Schriften, der poetischen sowie der erörternden, während des Jahres vor dem 2. Weltkrieg, in diesem sowie im ersten Nachkriegsjahrzehnt, und gab oftmals Auskunft über die Inszenierung seiner Stücke, auch der Bühnenwerke anderer Dramatiker, angefangen bei Sophokles. Es bildet zugleich ein Zeugnis der Selbstverständigung des Autors hinsichtlich seiner literarischen Schaffensmethodik oder seiner Literaturtheorie. Außerdem ist es ein Mittel der Auseinandersetzung mit dem Œuvre einer Anzahl von deutschsprachigen Schreibenden ebenso wie ihrer Poetik. Es kommt hinzu die Auseinandersetzung mit Dichtungen ausländischer Zeitgenossen sowie mit Beispielen aus der Literaturgeschichte bis hin zur Antike, vor allem auch mit der deutschen Klassik. Diese gesamte Materie ist eingebettet in einen Strom von Betrachtungen über das politische Tagesgeschehen. Ihnen liegt ein spezifisches Geschichtsbild zugrunde.2 Er täuschte sich nicht über den Wesenszug der Ära, worin er lebte und sich als Schriftsteller einen Namen machte, konstatierend: »gerade in dieser zeit, einer der furchtbarsten der geschichte […]« (A 382) Ängste, die in ihm in vergangenen Jahrzehnten entstanden, suchten ihn bis in seine letzten Jahre heim. Sie verflüchtigten sich nicht, als er nach Europa zurückgekehrt war, selbst nicht während seines Daseins in der Deutschen Demokratischen Republik. Am 7. 7. 1954 heißt es: das land ist immer noch unheimlich. neulich, als ich mit jungen leuten aus der dramaturgie nach buckow fuhr, saß ich abends im pavillon, während sie in ihren zimmern 1 Brecht, Bertolt: Arbeitsjournal. 1938–1955, herausgegeben. von Werner Hecht. Berlin: Aufbau 1977.– Im laufenden Text: (A Seitenzahl). 2 Vgl. die Zwischenbemerkung der Herausgeberin. In: Brecht, Bertolt: Tagebücher 1920–1922, herausgegeben von Herta Ramthun. Berlin, Weimar: Aufbau 1976, S. 221: »Während sich Brecht im ›Arbeitsjournal‹ der Jahre 1938–1955 fast ausschließlich mit seiner Arbeit, mit literarischen Problemen und dem politischen Zeitgeschehen auseinandersetzt, überwiegt in den frühen Aufzeichnungen das Private.«
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arbeiteten oder sich unterhielten. vor zehn jahren, fiel mir plötzlich ein, hätten alle drei, was immer sie von mir gelesen hätten, mich, wäre ich unter sie gefallen, schnurstracks der gestapo übergeben […] (A 518f.)
Brechts Arbeitsjournal ist nicht das einzige eines Autors seiner Epoche, ein Faktum, wovon er wusste. Unter dem Datum des 27.11.44 notierte er im nordamerikanischen Exil in Santa Monica (Kalifornien): »es ist gegen elf uhr nachts. ich sitze mit einem whisky (wie nicht oft) und lese GIDES JOURNAL 1940.« (A 388)3 Gelegentlich sinnierte er über die Brauchbarkeit seiner eigenen Aufzeichnungen. So am 21. 1. 1942; er schrieb: dieser tage habe ich das ganze journal oberflächlich überflogen. natürlich ist es recht distortiert [verzerrt-Anm. WB], unerwünschter leser wegen, und ich werde mühe haben, diese anhaltspunkte wirklich einmal zu benutzen. da werden gewisse grenzen eingehalten, weil eben grenzen zu überschreiten sind. (A, 220)
Was besagt der Terminus Anhaltspunkte? Vermutlich meinte der Verfasser: kurz gehaltene Vermerke, dass ein Gedanke oder eine gedankliche Kombination künftig einmal in poetischen oder erörternden Texten zur Verwendung kommen könnte. Ganz anderer Art sind dagegen Eintragungen, worin er den Ablauf eines Tages, nicht zuletzt Details seines »privaten« Lebens,4 darunter seine Lektüre festhält. Ein Beispiel vom 18.12.48: ich pflege um 5 uhr 30 aufzustehen. dann mache ich mir kaffee oder tee auf dem hartspirituskocher [hartspiritus/Metaldehyd=Trockenspiritus – Anm. WB], lese etwas lukács oder goethe (den SAMMLER5). wenn ich aufsehe, sehe ich einen großen druck des breughelschen bauerntanzes6 an der wand. gehe etwas herum auf dem roten teppich und setze mich an die tische zur arbeit. erst gegen acht wird es hell draußen, die ruinen tauchen auf (die ss hat einen tag nach hitlers tod im bunker das adlonhotel noch in brand gesteckt, nur ein flügel im hof ist renoviert). (A 467)
Bertolt Brecht war ein deutscher Autor, dem es nicht erspart blieb, in einem jener »furchtbarsten« Abschnitte »der geschichte« zwei Weltkriege zu durchleben. Dazu sah er zwei Revolutionen in zwei wichtigen Staaten, eine ereignisreiche Zwischenkriegszeit sowie seit 1945 noch einen Nachkriegsabschnitt von elf Jahren. Vom Beginn der faschistischen Regierung in Deutschland 1933 waren ihm nicht weniger als vierzehn Jahre Exil auferlegt, bis 1947. Wie sehr sich in 3 André Gide (1869–1951) verfasste sein Journal [es handelt sich um eine Abfolge von Tagebüchern] bis kurz vor seinem Tode. Er veröffentlichte es in Teildrucken. Die ersten zwei enthalten Aufzeichnungen der Jahre 1889–1939 (erschienen 1939) sowie 1939–1942 (erschienen 1946). Der Herausgeber des Arbeitsjournals, Hecht, merkt an, dass Brecht im Journal 1939–1942 las, wovon Gide einzelne Abschnitte vor der Erstausgabe von 1946 publizierte. (A 639) 4 Vgl. die Zwischenbemerkung der Herausgeberin. In: Brecht, Bertolt: Tagebücher 1920–1922 5 Aufsatz Goethes in Brief- und Gesprächsform: –, begonnen im November 1798, vollendet am 12. Mai 1799. (Fortsetzung entworfen, doch nicht verwirklicht.) 6 Pieter Breughel (auch: Bruegel) d. Ä. (etwa 1525/30–1569): »Bauerntanz« (um 1568).
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seinem Arbeitsjournal Mitteilungen zum politischen Tagesgeschehen, Hinweise auf sein Geschichtsbild, jedoch auch seine Berichterstattung über Lektüreerlebnisse und über eigenes dichterisches Schaffen verflechten, kann gleich bereits aus den ersten drei Eintragungen abgelesen werden. Am Anfang steht diejenige vom 20. 7. 1938, und sie hebt sofort mit einem anrüchigen Namen aus der römischen Geschichte an: Catilina. (A 7) Dies war der Urheber der catilinarischen Verschwörung.7 Mehrere Motive konnten Brecht zu dieser Notiz bewogen haben: 1. eine partielle Vergleichbarkeit Catilinas mit Hitler, wie Brecht denn für das Vorhaben des Römers festhielt: »die ganze ›caesarische konzeption‹ war ja da schon drinnen, … mit dem italischen programm« (caesarisch: antirepublikanische Konzeption der Monarchie bzw. Diktatur; italisch: ließ anklingen an »italienisch«, dies Adjektiv wiederum den italienischen Faschismus assoziieren); 2. zum Zeitpunkt, als Brecht mit der Abfassung des Journals begann, arbeitete er an seinem Roman (1938f.; Fragment geblieben): Die Geschäfte des Herrn Julius Caesar8; darin sind die Gestalt und der Name Catilinas häufig erwähnt, und es wird gesagt: »Catilina … das ist die Arbeitslosenfrage, und die Arbeitslosenfrage, das ist die Bodenfrage« (GW 14, 1223); für Brecht ist gewiss, dass Hitlers Aufstieg in Deutschland zumindest mit der ersten Frage zusammenhing; 3. unter dem Gesichtspunkt der Form besteht eine auffällige Gemeinsamkeit zwischen dem Roman und dem Arbeitsjournal: der Roman ist überwiegend in derselben Form abgefasst wie das Journal, tagebuchähnlich sind die Bücher 2– 4 gehalten (GW 14,1209–1379), wobei angegeben ist: »Aufzeichnungen des Rarus«. Die nächste Notiz ist vom 22.7.38. Selbstkritisch äußert Brecht: sein Gedicht »AN DIE GLEICHGESCHALTETEN verursacht schwierigkeiten.« Welche sind das? Man stelle »hier im ausland [Dänemark, Skandinavien – Anm. WB] die ideologischen dienste, die dem regime [des NS in Deutschland. – Anm. WB] geleistet werden, als schlimmer hin als alle andern.« (A 7f.) Und entsprechend er selbst in dem genannten Gedicht: Das jedoch sei falsch, denn anzuprangern wären am ehesten »die realen schädigungen des proletariats. die verbrechen des regimes bestehen in seinen verbrechen gegen das proletarische arbeitertum … das gedicht wendet sich aber nur gegen ideologische beihilfe, sie so als die schlimmste 7 Mit dem Höhepunkt und Ende im Jahre 62 v. Chr., dargestellt von dem römischen Geschichtsschreiber Sallustius (86 v. Chr. -35) in seiner Schrift Bellum Catilinae (42 v. Chr.; »Die Verschwörung des Catilina«). 8 Brecht, Bertolt: Gesammelte Werke in 20 Bänden, herausgegeben von Suhrkamp Verlag in Zusammenarbeit mit Elisabeth Hauptmann. Bd. 14. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1967, S. 1165– 1379. – Im laufenden Text (GW Band, Seitenzahl).
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verwerfend.« Die Gleichgeschalteten – z. B. »die Kenner der Wahrheit«, nämlich gewisse Autoren – werden nun »die wildesten Lügner«, heißt es in dem Gedicht. Dem Lügner aber ist geboten, »daß er den Unterdrückern / Mehr Lob herbeischleppen muß als jeder andere, denn er / Steht unter dem Verdacht, früher einmal / Die Unterdrückung beleidigt zu haben.« (GW 9, 679) Notiz vom 23.7.38: »den CAESAR schreibend, das entdecke ich jetzt, darf ich keinen augenblick glauben, daß es so kommen mußte, wie es kam. daß etwa die sklaverei, welche eine Politik der plebs so unmöglich machte, nicht aufzuheben war.« (A 8) Das Geschichtsgesetz, wie Brecht es bei der Arbeit an einem Beispiel aus der römischen Geschichte »entdeckt«, – wie hätte er sich nicht vorstellen sollen, dass es auf historische Vorgänge seiner Lebenszeit, insbesondere auf das Emporkommen des Faschismus in Deutschland, anwendbar war? Allein schon der Titel eines seiner Dramen: Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui (geschrieben 1941) verweist auf seine Überzeugung, dass in der Geschichte die Vorgänge nicht so hätten eintreffen müssen, wie sie dann tatsächlich eingetroffen waren. So ist der Fortbestand der Sklaverei in der Antike nicht historischer Zwang – freilich wäre sie nicht innerhalb der Sklavenhalterordnung aufzuheben gewesen, sondern nur als Konsequenz von deren Sturz. Ein Schluss, den Brecht daraus gezogen haben wollte: es sei in neuer Zeit auch die Ausbeutung und Unterdrückung der Lohnarbeiter zwar im Kapitalismus nicht zu beendigen – doch allerdings mit dessen Beseitigung. Ein hauptsächliches politisches Ereignis auf dem Wege zum 2. Weltkrieg war 1938 das »Münchner Abkommen«9. In Brechts Sicht erwies sich, dass nicht bloß antike Vorgänge zur Deutung aktueller im 20. Jahrhundert dienlich sein konnten, sondern umgekehrt auch aktuelle zur Deutung antiker, soweit man über diese der Aufklärung bedurfte. So notierte er am 25.9.38, d. h. noch vor der Unterzeichnung des Abkommens: »sehr bemerkenswert für den CAESAR[-Roman] der umfall der herrschenden klasse frankreichs vor hitlers kriegsdrohung, der vertragsbruch, der die tschechoslowakei von der landkarte wischt und frankreichs großmachtstellung erledigt.« (A 21) Später, am 20.4.48, interpretierte er die Geschichte des Zeitraums wie folgt: München – »(überlassung des osteuropäischen raums an die deutsche bourgeoisie) durch die westlichen demokratien«; dennoch: die deutsche bourgeoisie führte zunächst den krieg gegen den westen, um den gegen den osten führen zu können, jedoch brauchte sie dann, um den im westen führen zu können, doch den im osten sofort. als er begann, fielen die westlichen bourgeoisien (unter churchill in england, laval in frankreich) auf den münchenplan zurück […] (A 447)
9 Amtliche Bezeichnung: Abkommen zwischen Deutschland, dem Vereinigten Königreich, Frankreich und Italien, getroffen in München, am 29. September 1938.
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Ein knappes Jahr später bot ein von den meisten Zeitgenossen, auch von Brecht nicht erwartetes Geschehen ihm Stoff zu allerlei kritischen Reflexionen. Notiz vom 9.9.39: »große verwirrung richtete natürlich der deutsch-russische pakt10 an bei allen proletariern.« (A 37) Zu ergänzen: und nicht bei den Proletariern nur! Brecht registriert, der »westen« kämpfe nicht, und daher wäre es möglich, »daß polen dann niemals sich zur wehr gesetzt hätte. die chamberlain-konzeption (hitler soll gegen die union geleitet werden) hätte dann triumphiert.« Nun werde Polen vielleicht »ohne großem krieg unterworfen, und polen ist im osten, nicht im westen. und die union trägt vor dem weltproletariat das fürchterliche stigma einer hilfeleistung an den faschismus, den wildesten und arbeiterfeindlichsten teil des kapitalismus.« Sehr resignativ schließt Brecht diese Überlegung, er glaube nicht, »daß mehr gesagt werden kann, als daß die union sich eben rettete, um den preis, das weltproletariat ohne losungen, hoffnungen und beistand zu lassen.« (A 38) Am 18.9.39 führte er seine Überlegung fort: Ein Krieg [Deutschlands] »mit der USSR wäre schrecklich gewesen«, so unverzagt man von Stockholm aus auch spekuliere, »›die USSR muß durch krieg gegen deutschland die deutschen von hitler befreien‹«. Trotz allem, es sei sehr schwer, sich an die nackte realität zu gewöhnen, das zerfetzen aller ideologischen verhüllungen. da ist die vierte teilung polens11, die aufgabe der parole, die USSR braucht keinen fußbreit ›fremden bodens‹, die aneignung der faschistischen heuchlereien von ›blutsverwandtschaft‹, befreiung der ›brüder‹ (slawischer abstammung), der ganzen nationalistischen terminologie. das wird zu den deutschen faschisten hingesprochen, aber zugleich zu den sowjettruppen. (A 39)
Fortsetzung der Reflexion am 24.12.39, jetzt mit Verschärfung des Tons gegenüber der Sowjetunion: oder spielt sie wirklich mit dem gedanken, die welt an der seite hitlers zu erobern? genügt ein land doch nicht für den aufbau des sozialismus? das wäre wahnsinn. an der seite hitlers gibt es für jedes regime der welt nur den untergang, nichts sonst. war es aber die angst vor dem friedensschluß der kapitalistischen mächte auf ihre kosten, dann wäre zu fragen, ob der verlust der sympathien der weltarbeiterschaft die militärischen sicherungen aufwögen. (A 46f.)12
Im Folgemonat (26.1.40) sinnierte Brecht über die Vorzüge und Defizite des Sozialismus in der Sowjetunion: in wirklichkeit gibt es dort sehr beträchtliche sozialistische elemente materieller art und die betreffenden überbauten. gewisse erleichterungen für die menschen sind wohl
10 Amtliche Bezeichnung: Nichtangriffspakt zwischen Deutschland und der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (23. 8. 1939). 11 Nach den früheren drei im 18. Jahrhundert: 1772, 1793 und 1795. 12 Druckfehler? Müßte heißen »den Verlust«.
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eingetreten, andere, die man sich von der befreiung der produktivkräfte erwarten kann, sind noch ausgeblieben […] (A 50)
Am 29.6.40, eine Woche nach dem Waffenstillstand im Krieg gegen Frankreich schreibt er: »ein weltreich ist zusammengestürzt, und ein zweites wankt in seinen grundfesten […]« (Das zweite wäre Großbritannien.) Er befürchtet eine Hungersnot, sieht aber während dieses Zeitabschnitts Deutschland mit seinen kriegerischen Erfolgen dem Gipfel zustreben: »alles und jedes zeigt die wachsende macht des dritten reiches.« (A 80f.) Und er konstatiert am 6.7.40: »viele sehen nun einen sieg des deutschen faschismus bevor [müsste korrekt heißen: voraus – Anm. WB] und damit einen sieg des faschismus überhaupt in europa (zumindest13).« (A 87) Am Anfang des nächsten Jahres (20.1.41) heißt es bei ihm: die lage ist nach wie vor sehr schwierig zu beurteilen. deutschland hat eine gewaltige ausgangsbasis für blockade [Englands] und invasion geschaffen, seine ernährungslage durch die okkupationen verbessert, seine armee verstärkt; jedoch ist es zweifelhaft, ob seine brennstoffvorräte ausreichen für größere operationen […] die kommunikationslinien haben sich ungeheuer verlängert. (A 146f.)
Am 22. Juni 1941 begann das Deutsche Reich seinen Angriffs- und Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion, den die Faschisten als »Unternehmen Barbarossa« bezeichneten. Dazu verfasste Brecht unmittelbar keine Eintragung im Journal, Ursache dafür wohl: da er im Juni/Juli damit beschäftigt war, seine und seiner Familie Überfahrt von Wladiwostok in die USA zu arrangieren. Am 13. Juni Abreise mit der »Annie Johnson«, am 21. Juli Ankunft in San Pedro, dem Hafen von Los Angeles. (A 174) Von d[ymschik] überlieferte er Jahre später noch (25.10.48) die Aussage, »eine besondere tragik« der Sowjetunion sei darin zu erblicken: »es war für die sowjets schwierig, ihre heere zur offensive zu bringen. die sozialistischen losungen und der aufbau der neuen wirtschaft ohne konkurrenzkampf hatte[n] die massen friedlich gemacht.« (A 456) Fast auf den Tag genau (23.12.41) ein halbes Jahr nach Beginn des Kriegs gegen die Sowjetunion schrieb Brecht im Journal einen Satz nieder, der »eine Art triumphaler Siegesmeldung« darstellt, obschon sich erst viereinhalb Jahre danach deren Wahrheit unwiderleglich erwies: »die russen haben hitlers ›größte armee der welt‹ zerbrochen […]« (A 209) Die aktuelle Forschung beurteilt die geglückte Verteidigung Moskaus durch die Rote Armee (Dezember 1941) meist ähnlich als einen entscheidenden Wendepunkt des Kriegs. Weitere Stationen vom Scheitern der deutschen Invasoren waren danach die Kapitulation der 6. Armee unter Generalfeldmarschall Paulus (Stalingrad, 31.1./2.2.43) und der Misserfolg der Wehrmacht in der Materialschlacht im Kursker Bogen (Juli 1943). Hiernach lag die 13 Der Ausdruck »zumindest« besagt: »wenn nicht zudem in anderen Erdteilen, in Afrika und Asien«.
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militärische Initiative in den Kämpfen zweier Jahre an der Ostfront endgültig bei den Russen. Währenddessen versuchte Brecht beharrlich, sich über den Faschismus in Deutschland klarzuwerden, unter anderem einmal, indem er ihn mit der Französischen Revolution verglich, die Gemeinsamkeiten und Unterschiede abwägend (22.3.42): in gewissem sinn haben die nazis ein recht, ihre leistungen eine revolution zu nennen. das deutsche bürgertum vollzieht da seine revolution in form eines versuchs der welteroberung. es emanzipierte sich sofort als sklaventreiber und meldete sich zur stelle – als räuber. im grund konnte es allerdings auch jetzt noch seinen adel nicht erledigen, und so begann es sogleich seinen raubkrieg; übersprang seinen robespierre, unterwarf sich sogleich seinem napoleon […] (A 243)
Zu den Gemeinsamkeiten im Zeitalter Napoleons (1812) und im Zweiten Weltkrieg (1941ff.) gehörte außerdem noch – wäre hinzuzufügen –, dass beide Diktatoren, Napoleon und Hitler, einen Angriffskrieg gegen Russland inszenierten, wodurch sie ihren eigenen Untergang bewirkten. Inmitten des Jahres 1943 wurde in der Sowjetunion das »Nationalkomitee ›Freies Deutschland‹« gegründet (NKFD; am 12./13.7.43 in Krasnogorsk), worin sich auf Anregung des ZK der KPD kriegsgefangene deutsche Soldaten und Wehrmachtsoffiziere, Reichstagsabgeordnete der Arbeiterparteien, Gewerkschafter, Künstler und Gläubige der Konfessionen zusammenfanden.14 Von besonderer Wichtigkeit war, dass die Teilnehmer eine absolute Trennung zwischen dem NS-Regime und seinen Trägerschichten auf der einen Seite sowie dem deutschen Volk auf der anderen gegeben sahen. Unter dem Datum 1.8.43 trug Brecht im Journal ein, dass an diesem Tage Kollegen und er selber im USamerikanischen Exil eine Erklärung beschlossen hätten, worin sie »die Kundgebung der deutschen Kriegsgefangenen und Emigranten in der Sowjetunion« begrüßten. In ihrem Text betonen die Exilanten: »Auch wir halten es für notwendig, scharf zu unterscheiden zwischen dem Hitlerregime und den ihm verbundenen Schichten einerseits und dem deutschen Volke andrerseits.« ( A 335) Am 1.3.48 schrieb er: »es war richtig, während des kriegs den krieg dem deutschen volk als den krieg hitlers zu bezeichnen. jetzt muß der krieg als der krieg der deutschen bourgeoisie bezeichnet werden, von hitler im auftrag geführt.« (A 442) Die Auslöschung von Menschenleben in Höhe mehrerer Millionen durch Gas schrieb er ebenfalls dem Bürgertum zu (13.4.48): »die vergasungslager der IG-farben-trusts sind monumente der bürgerlichen kultur dieser jahrzehnte.« (A 445) Sollte Brecht gemeint haben, die Industriebetriebe, die in der »Interessengemeinschaft« (I.G.) »Farben« zusammengeschlossen waren, trügen für die Vernichtung so vieler Menschen die alleinige Verantwortung, so 14 Vgl. Nationalkomitee ›Freies Deutschland‹. In: Böhme, Waltraud u. a. (Hg.): Kleines Politisches Wörterbuch, Berlin: Dietz Verlag 1973, S. 586.
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wäre dies nicht korrekt. Bemerkenswert aber, dass er die einmalig grauenhaften Verbrechen wiederum der Bourgeoisie zuschreibt, vielmehr – mit höhnischem Akzent – »der bürgerlichen kultur«! Am 11.11.43 knüpfte er, wie er angab, an einen »bericht über die ausrottung der juden in polen« an, indem er allerdings fatal ungenau formulierte, hätte es exakt doch heißen sollen: »[…] die ausrottung – meist jüdischer – polinnen und polen auf polnischem territorium durch kräfte der deutschen besatzungsmacht.« Brecht drang darauf: ich wünschte wirklich, daß nie mehr gesprochen oder geschrieben werde vom ›deutschen menschen‹ […], daß wir nicht diese eigenschaften jedem von uns zuzuschreiben haben! alle diese redensarten einer pfiffigen salesmanship von ›deutscher wissenschaft‹, ›deutschem gemüt‹, ›deutscher kultur‹ führen unhinderbar dann zu diesen ›deutschen schandtaten‹. […] deutschland muß sich nicht als nation emanzipieren, sondern als volk, genauer als arbeiterschaft. Es war nicht ›nie eine nation‹, sondern es war eine nation, dh, es spielte das spiel der nationen um weltmachtstellung und entwickelte einen stinkenden nationalismus. (A 357)
Mithin bestand er darauf, das Trugbild eines verantwortlichen Kollektivs aufzulösen, in dessen Namen die »deutschen schandtaten«, schon im Ersten Weltkrieg, gesteigert im Zweiten Weltkrieg, auf Veranlassung der kaiserlichen, später der faschistischen Regierung begangen worden sind. Hiermit wandte er sich auch gegen die propagandistische Unterstellung des NS-Ministers Goebbels: »hitler und deutschland sei eins.« (A 337) Gemäß Brechts Auffassung sollte gelten: bei der Sprachverwendung die Bezeichnungen für nicht faktisch existente Phänomene (»deutsche Menschen«, »deutsche Wissenschaft« usw.) zu verabschieden, vor allem jedoch darauf hinzuwirken, dass in der geschichtlichen Realität das Volk, zusammengefasst als Arbeiterschaft, aus der unberechtigt unifizierten »Nation« ausgegliedert gedacht werde, um es fortan apart für sich tätig sein zu lassen. Eine Konsequenz der Vorschläge Brechts, für welche er in seinem Freundeskreis warb, musste sein, die Vorstellung einer deutschen Kollektivschuld, die Aussage: dass sämtliche Deutschen an den »deutschen schandtaten« mitschuldig geworden wären, zu widerlegen. Die Kollektivschuld-Behauptung kursierte in einem Ausschnitt der deutschen Emigration, sie wurde z. B. von Thomas Mann unterstützt. Brecht wusste, dass das Ehepaar Mann in der Emigration »verdächtigungen« gegen ihn ausstreute, er gehorche Befehlen Moskaus, indem er Thomas Mann zu veranlassen suche, »einen unterschied zwischen hitler und deutschland« zu machen. (A 346) Brechts litt mit dem deutschen Volke, litt mit der Arbeiterschaft. Sein Mitgefühl für die Bevölkerung deutscher Städte im Luftkrieg äußert sich in Eintragungen wie diesen am 26.7.43: »hamburg geht unter« (A 334) und am 29.8.43:
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»das herz bleibt einem stehen, wenn man von den luftbombardements berlins liest.« (A 342) Doch eine sehr anfechtbare Position bezog Brecht am 21.7.44 bei der Nachricht über den 20. Juli 1944 (Stauffenberg-Attentat auf Hitler): »als etwas über die blutigen vorgänge zwischen hitler und den junkergenerälen durchsickerte, hielt ich für den augenblick hitler den daumen; denn wer, wenn nicht er, wird uns schon diese verbrecherbande austilgen?« (A 373) Zu dieser Beurteilung gelangte er vermutlich aufgrund der Beteiligung von Offizieren aus dem Adel, auch wegen des Umstands, dass das deutsche Offizierskorps sich hergab, für den NS den Krieg zu führen. So schrieb er am 14.8.44: »die generäle desertieren, ihren krieg preisgebend, mit lautem geschrei, daß der gefreite ihn verpfuscht habe. welch ein gesindel! einfachste aller tatsachen: sie haben ihn mit allen mitteln verloren.« (A 377) Man sollte allerdings, um Brechts Position zu bewerten, die adverbiale Wendung »für den augenblick« nicht überhören. Er besann sich also. Im Übrigen müsste der 20. Juli differenziert betrachtet werden, weil sich unter den Verschworenen immerhin ein verdienter Gewerkschaftsführer befand (Wilhelm Leuschner, 1890–1944), und es existierten Verbindungen Stauffenbergs zur kommunistischen Widerstandsbewegung. Desertierten in Brechts Sicht »die generäle« – die Bevölkerung desertierte nicht; im Gegenteil, sie hielt im Kriege aus. Notiz vom 15.8.44: da sind immerzu die fragen, warum die deutschen noch kämpfen. nun, die bevölkerung hat die ss auf dem genick, außerdem hat sie keine politische willensrichtung, der paar parlamentarischen institutionen zweifelhafter art beraubt und ökonomisch unter dem stiefel der besitzenden, wie immer. die soldaten wehren sich, in den formen der strategischen und taktischen operationen, ihres lebens und liefern arbeit an der zerstörungsmaschinerie […] mit einem satz: die deutschen kämpfen noch, weil die herrschende klasse noch herrscht. (A 377)
Der Journalverfasser musste in einer Darlegung am 20.4.48 davon ausgehen, daß in den Westzonen an dem zuletzt benannten Tatbestand keine grundlegende Änderung eingetreten war – die Dominanz der herrschenden Klasse dauerte an, dies unbeschadet der von ihr verlorenen zwei Kriege. Die »westlichen demokratien«, die während des deutschen Angriffs auf die Sowjetunion drei Jahre lang (Juni 41–Juni 1944) in Wartestellung verblieben waren, ehe sie die zweite Front eröffneten – abgesehen von der vorangehenden Errichtung eines Kriegsschauplatzes in Süditalien –, eröffneten sie schließlich an der französischen Küste, meinte Brecht, als die siege der USSR die gefahr heraufbeschworen, daß deutschland von den russen besetzt werden könnte. der einmarsch der westlichen armeen rettete die deutsche bourgeoisie zumindest des westlichen deutschland. ihr anspruch auf demokratisches mitspracherecht wurde sofort anerkannt. (A 447)
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Die von den Westmächten zu verantwortende »verzögerung der zweiten front«, so Brecht weiter, erlaubte es der deutschen Staatsführung, »westrußland gründlich zu zerstören und das deutsche proletariat tiefer zur ader zu lassen als thiers 1871 das pariser15« (A 447). In einer Notiz am 25.10.48 kam Brecht auf die Vorgänge vom Frühjahr 1945 nach der Eroberung Berlins durch die Rote Armee zu sprechen. Der Text zerfällt in zwei vollkommen konträre Passagen. Anfangs schreibt er von der Panik, die drei Jahre später »unter den arbeitern« noch zittere, »verursacht durch die plünderungen und vergewaltigungen.« In den Arbeitervierteln habe man »die befreier mit verzweifelter freude erwartet«, jedoch »nach dem kampf durchzogen betrunkene horden die wohnungen, holten die frauen, schossen die widerstand leistenden männer und frauen nieder, vergewaltigten vor den augen von kindern […]« Und im Kontrast dazu: ein Zeugnis, »wie ein kommissar zwei soldaten niederschoß, die geplündert hatten und ihn angriffen […]« Und »es wird berichtet, daß die russischen soldaten noch während der kämpfe von haus zu haus, blutend, erschöpft, verbittert, ihr feuer einstellten, damit frauen wasser holen konnten, die hungrigen aus den kellern in die bäckereien geleiteten, die unter trümmern begrabenen ausgraben halfen […]« (A 455f.) Wenn alsbald in dem von den Sowjets besetzten Teil Deutschland die Einführung des Sozialismus auf die Tagesordnung gesetzt wurde, gleichzeitig indes dem Proletariat die Übergabe von Wirtschaftsgütern als Reparationen abverlangt wurde, zweifelte Brecht an der Vereinbarkeit der beiden Maßnahmen. So in einer Betrachtung vom 9.12.48: die übernahme der produktion durch das proletariat erfolgt in dem zeitpunkt (und scheint vielen also zu erfolgen zu dem zweck) der auslieferung der produkte an den sieger. volkseigenen betrieben, die aus maschinentrümmern heterogenster art sich wieder produktionsstätten zusammengebastelt hatten, wurden mehrere male die maschinen wieder als reparationen weggenommen. und die arbeiter bedenken nicht eben, daß der zerstörungskrieg gegen die sowjetunion zwar ohne ihre billigung, aber nicht ohne ihre mithilfe gemacht wurde; und die arbeit gebende vorbereitung des kriegs unter dem beifall eines sehr großen teils von ihnen. (A 460)
Wie Brecht sich die Vorkommnisse zurechtlegt, möchte er in den Reparationen auch eine Revanche sehen dafür, dass die Bourgeoisie das Problem der Arbeitslosigkeit durch die beschleunigte Aufrüstung gelöst hatte, ohne dass die Arbeiterschaft es verhinderte. Darüber hinaus dafür, dass diese ihre Mithilfe an dem von Deutschland herbeigeführten Krieg nicht verweigerte und an die Front zog, wie es der Staat ihr befahl. Immerhin erblickt er am Kriegsende ein begrü15 Das deutsche Proletariat: insoweit die Wehrmacht aus Arbeitern bestand, die in den Kampfhandlungen fielen. – Die Tötungen, die Thiers nach dem Ende der Kommune (Mai 1871) vornehmen ließ, sind gemäß unterschiedlichen Quellen und Untersuchungen auf mehrere zehntausend zu beziffern, nach einigen aber auch wesentlich geringer.
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ßenswertes Resultat, nicht ohne Ironie: »im großen und ganzen mußte die europäische bourgeoisie ihre einzige neue creation, eben den faschismus, schnell wieder einziehen und damit die hoffnungen auf einen weiterbestand um einige 30 000 jahre.« (A 418) Einer Notiz zufolge, die er in der Schweiz niederschrieb (24.12.47), fürchtete er allerdings, dass in Deutschland dem Faschismus ausschließlich angelastet werde, er habe den Krieg verloren; was unterbliebe, sei jedoch seine generelle Verurteilung. Man lasse es »an einer wirklichen kritik des nationalsozialismus fehlen, indem man ihn als ›unter der kritik stehend‹ behandelt. man verläßt sich auf die vernichtende wirkung des mißerfolgs [im Krieg]« Wenn aber dieser Mißerfolg einstmals weit zurückliege […]? (A 435) Ein Jahr später (9.12.48) wittert er »die neue deutsche misere«. Er schreibt: »die deutschen rebellieren gegen den befehl, gegen den nazismus zu rebellieren; nur wenige stehen auf dem standpunkt, daß ein befohlener sozialismus besser ist als gar keiner.« (A 460) Der Kriegsausgang ermöglichte auch die Agrarreform: »die russen tun, was die europäischen bourgeoisien versäumt haben, sie bringen die agrarreform.« (A 418) Beim Rückblick auf einige militärische Aktionen der Westmächte während des Krieges urteilt er (6.3.50), dass sie bereits gegen den russischen Alliierten gerichtet waren: »so erfolgte die zerstörung dresdens nur gegen die anmarschierenden verbündeten, die russen.« Später habe Präsident Truman die Atombomben auf Japan abwerfen lassen »als gegenzug gegen den eintritt der USSR in den krieg gegen japan.« (A 483)16 Aufmerksamkeit schenkte Brecht besonders einem weltpolitischen Ereignis der Nachkriegszeit: dem Ausgang des chinesischen Bürgerkriegs. Eintrag am 18.1.49: »durch alle diese wochen hindurch halte ich im hinterkopf den sieg der chinesischen kommunisten, der das gesicht der welt vollständig ändert. dies ist mir ständig gegenwärtig und beschäftigt mich alle paar stunden.« (A 473) Zwei Tage später (20.1.49) hielt er fest: »[ich] übersetze MAO TSE-TUNGS ›gedanken beim überfliegen der großen mauer‹.« (A 474)17 Von einem anderen politischen Ereignis meinte er am 20.8.53: »der 17. juni hat die ganze existenz verfremdet.« Aber er, Brecht, habe »den schrecklichen 17. juni als nicht einfach negativ« empfunden. »in aller ihrer richtungslosigkeit und jämmerlicher hilflosigkeit zeigen die demonstrationen der arbeiterschaft immer noch, daß hier die aufsteigende klasse ist.« Deren Losungen seien »eingeschleust« worden »durch den klassenfeind«. »und doch hatten wir hier die klasse vor uns, in ihrem depraviertesten zustand, aber die klasse.« Obwohl er diese »wiederum ausgeliefert dem klassenfeind« sah, »dem 16 Brecht stützte sich auf die Forschungen des britischen Physikers Patrick Maynard Stuart Blackett (1897–1974); Nobelpreisträger 1948. 17 Nach einer englischen Vorlage; die Übersetzung in GW 10, 1070f. – Vgl. Brechts [Anmerkungen zu den ›Chinesischen Gedichten‹], in GW 19, 424f.
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wieder erstarkenden kapitalismus der faschistischen ära, sah ich die einzige kraft, die mit ihr fertig werden konnte.« (A 515) Die »ganze existenz verfremdet« ist allerdings keine schlüssige Eingebung. Sollte das heißen: die Existenz aller oder eines einzelnen, und »verfremdet«: es wären ihr die Lebensgrundlagen entzogen worden in der DDR, einem Staat, der versprach, aufzubauen auf der Macht der Arbeiter und Bauern? Unklar ist der zuletzt zitierte Satz: »mit ihr fertig werden« – mit der faschistischen Ära? (Falls gesagt sein sollte: mit »dem wieder erstarkenden kapitalismus«, müßte hier »ihm« stehen.) Des Verfassers gesamte Argumentation zielte darauf ab, sich selber zu vergewissern, dass er jener einzigen »kraft« weiterhin vertrauen dürfe, der Arbeiterklasse. Jedoch der fernere Gang der Geschichte der DDR lässt die Frage aufwerfen: War ein solches Vertrauen berechtigt? Wie aus der Perspektive nach dem Ende der DDR die Antwort nur lauten kann, wird man keinem Urteilsfähigen zu suggerieren brauchen. 1989/90 streckte »die klasse« – keine »aufsteigende klasse« doch – mitsamt »ihrem« Staat die Waffen. Wie im Journal beschrieben, räumte Brecht am 30.10.47 vor dem »Kongressausschuss zur Untersuchung unamerikanischer Tätigkeit« ein, »daß die grundlage meiner stücke marxistisch ist […]« (A 430) Unbezweifelt ist es auch diejenige eines großen Teils seiner Dichtungen neben den Bühnenwerken. Dasselbe gilt für seine erörternden Schriften, darunter das Arbeitsjournal. Zahlreiche Notizen darin, und so die hiervor ebenherangezogene vom 20.8.53 mit ihrer Lexik (Kapitalismus, Klasse18, Klassenfeind) können zur Bestätigung dafür dienen. Marxistische Begriffe gebrauchte Brecht dazu im Arbeitsjournal, wo er in den Notizen auf sein Geschichtsbild zurückgriff. Zahlreiche Eintragungen zeugen von ihm, ob es sich in längeren Gedankengängen meldet, ob in Spuren. Zu den gravierendsten Bestandteilen des Geschichtsbilds gehören Eröffnungen des Dichters über die historische Entwicklung Deutschlands, ferner über den Ersten Weltkrieg und – mehr noch – über den Zweiten Weltkrieg, welchen er intensiv beobachtete, wenn auch aus der Ferne des Exils, sowie vor allem über die unterschiedlichen Regierungsformen: Demokratie (wie in der Weimarer Republik) und Faschismus (in Deutschland an der Macht 1933–1945). Der Dreh- und Angelpunkt bei alledem bleibt für ihn das Proletariat, bleiben die Arbeiterschaft der Welt, mit besonderer Berücksichtigung der deutschen, und die proletarische Bewegung. Etwa für die Aufrüstung des Deutschen Reichs durch den Faschismus erkannte er als wesentliches Motiv die Beseitigung der Arbeitslosigkeit. Am 14.6.40 18 In der Notiz vom 8.1.42 kritisierte er den Klassenbegriff: »auch der begriff der klasse ist, vielleicht, weil er uns vorliegt in der konzeption des vorigen jahrhunderts, heute viel zu mechanisch im gebrauch.« Er unterscheidet den statistischen, politischen und ökonomischen Begriff, um zu schließen: »was allerdings noch vorhanden ist, ist die klasse selber. glücklicherweise ist sie kein begriff.« (A 214)
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heißt es: »so war die kriegsrüstung tatsächlich die lösung des arbeitslosigkeitsproblems auf dem kapitalistischen feld. sie hatte für die arbeiter etwas vernünftiges an sich, insofern eben die arbeitslosigkeit bekämpft wurde.« (A 65) Anschließend legte er dar, dass der Krieg bald darauf ebenfalls die Lösung eines Problems darstellte: »[…] nämlich der folgen des zuspätkommens deutschlands bei der imperialistischen aufteilung der weltmärkte (verursacht durch das zuspätkommen der bürgerlichen revolution und ihrer schöpfung der nationalen einheit).« (A 65) Wie Brecht es sieht (20.4.48), trat »das imperialistische deutschland« im Ersten Weltkrieg zwei Staaten gegenüber, England und Frankreich, »die nicht imperialistisch, sondern empires waren«. Er unterschied somit zwischen einem imperialistischen Staat und diversen Staaten mit dem Charakter von »empires«, d. h. »Weltreichen«. Von den Weltreichen ging keine hohe Gefahr mehr aus, weil sie – bzw. ihre herrschenden Klassen – sich saturiert wussten, wohingegen der imperialistische Staat Annexionen erstrebte und eine Quelle hitziger Aggression bildete. Während des Ersten Weltkriegs hätten nun die Weltreiche den imperialistischen Aggressor »niedergerungen«. (Brecht lässt auf Seiten der »empires« die USA unerwähnt, auf Seiten der Angreifer das österreichisch-ungarische Kaiserreich.) Zuvor hatte das Deutsche Reich »immerhin dem zaristischen rußland solche schläge versetzt, daß feudale plus bürgerliche klasse dort zusammenbrachen.« Wenn jedoch nun die »westlichen demokratien« sich mit ihren Interventionen in Rußland einmischten, gelang ihnen eines: sie konnten deutschland vor einem ähnlichen schicksal retten, indem sie das russische proletariat militärisch beschäftigten und so abhielten, dem deutschen zu hilfe zu kommen. der größere teil europas war vor dem bolschewismus gerettet. die demokratie rettete die deutsche bourgeoisie auch in deutschland selber. Mit ihren ökonomischen positionen intakt, stellten sie schnell ihre politischen wieder her. (A 446f.)
Brecht vermutete, dass sich die Bourgeoisien der unterschiedlichen Länder dem internationalen Proletariat gegenüber wie Komplizen verhielten, so dass die eine im Notfall die andere nach Kräften unterstützte. Hätten sie dabei nach Art einer »reaktionären Masse« gehandelt? Dies Stichwort stammt von einem sozialistischen deutschen Lyriker: Richard Carl Cramer (1844–1915), der unter dem Pseudonym Rudolf Lavant schrieb. Er verfasste ein Gedicht Die reaktionäre Masse. Brecht meinte, »das dialektische Denken« erfordere, »die herrschenden klassen« zugleich in »ihrer einheitlichkeit und uneinheitlichkeit« zu erkennen: sie »bilden keine ›eine reaktionäre masse‹, und doch bilden sie in bestimmter hinsicht, dem proletariat gegenüber, auch eine einheit.« Als Beispiel für die Einheitlichkeit ihrer Zielstellung kann gelten: »angestrebt werden muß eine formale demokratie, von der man schon zuvor weiß, sie werde nur politisch, nicht auch ökonomisch sein können.« Deren Gegensatz ist »die diktatur des proleta-
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riats«, die aufzufassen sei »als die erste form nicht formalistischer demokratie.« (A 52f.) Sie beseitigt das Privateigentum an Produktionsmitteln. In Brechts Sicht sind es »die reformistischen sozialisten«, die auf die Revolution verzichten, damit auch auf die Diktatur des Proletariats, und die statt auf diese auf die »Evolution« setzen. Er empfiehlt ihnen, »ein exempel von evolutionärer entwicklung einer demokratie« zu studieren: die Heraufkunft des Faschismus. Unter anderem auch, um die Sozialdemokratie der Weimarzeit (=jene »reformistischen sozialisten«) zum Schweigen zu bringen, »verwandelte sich die demokratie – unter ausnutzung ihres formalistischen charakters nahezu legal – in die nationalsozialistische volksgemeinschaft.« Was die Faschisten ins Werk setzten, »war bereits die enormste blutorgie, welche die weltgeschichte bis jetzt erfahren hat, die größte entfesselung der destruktivkräfte, kollektiver und persönlicher, auf wissenschaftlicher und jeder anderen basis.« (A 446f.) Faschismus ist im Arbeitsjournal der Gegenstand, dem der Verfasser eine außerordentliche Anzahl von Bemühungen um Aufklärung widmete. Am 28.6.42 offerierte er eine verhältnismäßig simple »formel«: »faschismus ist eine regierungsform, durch welche ein volk so unterjocht werden kann, daß es dazu zu mißbrauchen ist, andere völker zu unterjochen.« (A 280) Am 24.12.47 deklarierte er den Faschismus als eine kleinbürgerliche Ideologie, einen Scheinsozialismus, den die herrschende Klasse aufgegriffen habe, um ihn der Bevölkerung anstatt des genuinen Sozialismus zu unterschieben. Damit bleibe es dabei, die herrschende Klasse büßt ihre Macht nicht ein, sie bleibt am Ruder. Sie ist sich dessen bewusst, Gefahr drohe ihr nur aus einer einzigen Richtung: vom genuinen Sozialismus. Eben um diesen zu verdrängen, besinnt sie sich auf den Scheinsozialismus des Kleinbürgertums, eine für die Bourgeoisie ungefährliche Ideologie und Bewegung, aber eine nützliche, und beutet ihn zu ihren Zwecken aus, unter anderem, um den genuinen Sozialismus zu vernichten: der nationalsozialismus muß betrachtet werden als der sozialismus der kleinbürger, eine verkrüppelte, neurasthenische, pervertierte volksbewegung, die für das von tiefer unten [=von der marxistischen Arbeiterschaft. – Anm. WB] geforderte einen der herrschenden klasse nicht unliebsamen ersatz lieferte oder zu liefern versprach. (A 435)
Dieser Ersatz dürfe nicht mit der Demokratie verglichen werden, als sei er deren Kontradiktion, oder umgekehrt, als sei die Demokratie die Kontradiktion des Faschismus. »die scheinsozialistischen ansätze müssen also mit dem echten artikel verglichen werden, nicht mit der ›demokratie‹.« (A 435; der echte Artikel: der marxistische Sozialismus.) Deshalb schreibt er am 16.3.48: den intellektuellen verschleiert sich der diktaturcharakter der bürgerlichen demokratie auch dadurch, daß der faschismus als ein absoluter gegensatz zur demokratie dargestellt wird, nicht als ihre natürliche andere phase, in der die bürgerliche diktatur nackter auftritt. gerade der verlust der individuellen freiheiten im kapitalismus macht die in-
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tellektuellen oft zu rasenden verteidigern der puren fiktion der freiheit. die proletarische diktatur beseitigt mit der kapitalistischen anarchischen produktionsweise den darauf basierenden begriff der bürgerlichen freiheit. (A 443)
Der Scheinsozialismus, erläutert Brecht, enthalte gewisse sozialistische Elemente: »im deutschen fall wäre es lohnend, einmal ernsthaft die sozialistischen elemente aufzuspüren, die der national›sozialismus‹ pervertiert zum operieren brachte. nicht anders ist sein erfolg bei massen zu erklären.« (A 422) Die »deutsche bourgeoisie« habe es vermocht, »das klassenbewußtsein der arbeiterschaft zu betäuben«. Ein Beispiel, das Brecht nominierte, ist ihm »der einfall des deutschen volksheeres in die sowjetunion«. An Tricks und Mitteln der Betäubung zählte er auf (15.5.42): die arbeiterschaft war daran gewöhnt worden, ihre interessen durch die demokratischen institutionen der parlamente und parteien der parlamente sowie durch die gewerkschaften wahrzunehmen. die auflösung dieser institutionen usw machte die arbeiterschaft organisations- und hilflos. die arbeiterschaft, die sich zu schwach sah, ihre internationale politik zu führen, fügte sich der nationalen politik ihrer bourgeoisie. die beseitigung der arbeitslosigkeit, gewisse pseudosozialistische institutionen, vielleicht auch die erfassung der jugend in ›volksgemeinschaftlichen‹ verbänden, dazu der politische und ökonomische terror ergaben ein feld des sozialen seins, das erst durch einen zerstörenden krieg erschüttert werden muß, damit es die klassischen formationen zurückbekommt. (A 266)
Eine andere Überlegung Brechts betrifft die Frage der Entnazifizierung des Bürgertums. Sie fiele zusammen mit dessen Entbürgerung. weder seine [d. h.: des Bürgertums] elementaren daseinsbedingungen, noch die speziellen umstände erlauben dieser klasse, die barbarischen mittel abzulegen. […] nicht nur die laster, auch die gesamten tugenden der klasse haben die naziform bekommen […] [Der Bürger] wenn er aufhörte, ein nazi zu sein, könnte er kein bürger mehr sein; nur wenn er kein bürger mehr ist, ist er kein nazi mehr. (A 436)
Wie aus diesem Passus hervorgeht, meinte Brecht vom Bürgertum seiner Zeit, dass es gänzlich dem Faschismus verfallen sei, durch und durch faschisiert. Historisch urteilend, räumte er ein, dass der Klasse neben den Lastern auch eine Reihe von Tugenden geeignet hatte, wirklichen Tugenden, ehe sie mit der Gesamtheit der Klasse die »naziform« bekamen. Damit bleibt das Bürgertum, die Bourgeoisie, bleibt ihre »Kultur«, wie sie sich während der faschistischen Ära gestaltete, für Brecht im Arbeitsjournal sein Hauptangriffsobjekt; daneben äußerte er sich scharf ablehnend auch über den Adel, der in Resten nach der Novemberrevolution im Reich seinen Einfluss bewahrte, und die Wehrmachtsführung. Als »creation« des Bürgertums bezeichnete er den Faschismus. Seiner Herkunft nach kleinbürgerlich, ergriff ihn die Großbourgeoisie als Instrument, um ihn der Bevölkerung anstatt des genuinen So-
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zialismus zu unterschieben. In seiner Perspektive war der Faschismus kein Gegensatz zur Demokratie, sondern eine von deren Stufen, die gewalttätigste. Der wirkliche Gegner des Faschismus sei nicht sie gewesen, sondern das Proletariat, genau: die Diktatur des Proletariats. In einer geschichtlichen Phase, die gekennzeichnet war durch Düsterkeit und Schrecknisse, und dies nicht einzig im Deutschen Reich, sondern – um allein von der europäischen Dimension zu reden – auch in verbündeten und den von ihm angegriffenen und besetzten Ländern, vor allem im Osten und Südosten (Tschechoslowakei, Polen, Russland, Jugoslawien), setzte Brecht seine Hoffnung stets noch auf die Arbeiterschaft der Welt, das Proletariat. Mit einer Beimischung von Skepsis, ja Verzweiflung selbst sogar in einer Situation wie zum Zeitpunkt des 17. Juni 1953 in der sowjetischen Zone. Die unterlassene Kriegführung der Westmächte während des Angriffs Hitlerdeutschlands auf Polen und die Verweigerung der Eröffnung der zweiten Front 1941–1944 durch die Westmächte wertete er als schuldhafte Folge des westlichen Interesses, den Angreifer im Osten zu beschäftigen, wo er, so hoffte man, den Sozialismus in der Sowjetunion stürzen werde. Deutlich ist, wie stark Brecht mit dem Proletariat fühlte. Dessen Leid in Zeiten der Arbeitslosigkeit bewegte ihn tief. Ihn schmerzten die Luftangriffe der Alliierten auf deutsche Großstädte. Er suchte nach Argumenten, um die deutsche Bevölkerung von dem Vorwurf zu entlasten, dass sie selbst in trostloser Kriegslage den Faschisten nicht die Gefolgschaft aufsagte. Er beklagte, dass Angehörige der siegreichen Roten Armee bei der Einnahme Berlins gewalttätig gegen die Bevölkerung, auch in Arbeitervierteln, vorgegangen waren, selbst wenn andere Rotarmisten die Bevölkerung unterstützten. Seinen Unmut erregte es, dass den Proletariern der Sozialismus als erstrebenswert vorgeschlagen werden sollte und sie sich gleichzeitig bereitfinden mussten, in die Reparationen einzuwilligen. Im Arbeitsjournal erweist sich Brechts Weite des Blicks. Historisch geht er zurück bis in die Antike (Catilina, Cäsar). Er achtete darauf, dass Bestandteile der marxistischen Lehre nicht zu einengenden Betrachtungen führten. Er widersprach fälschlich aufgefassten Gesetzmäßigkeiten, zum Beispiel als er darauf beharrte, dass in der Geschichte nichts so hätte kommen müssen, wie es gekommen sei. Den »westlichen demokratien« ersparte er den Vorwurf nicht, die Tschechoslowakei mit dem Münchner Abkommen 1938 verraten zu haben, auch dies ein Verhalten als Konsequenz ihrer Politik, Hitlers Aggression nach Osten zu lenken. In der Bewertung der Politik der Sowjetunion zweifelte er am stärksten den Nichtangriffspakt zwischen Deutschland und der USSR an (August 1939). Eine Wende des Kriegs erblickte er schon in der erfolgreichen Verteidigung Moskaus (Dezember 1941). Als ein Verdienst der sowjetischen Besatzungspolitik betrachtete er die von ihr angeordnete Agrarreform. Von größter Bedeutung für die Weltpolitik erschien ihm der Sieg der Kommunisten in China 1949.
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Vor sechzig Jahren, am 24. Juli 1961, zitierte die in Hamburg erscheinende Zeitung »Die Welt« eine Polemik des Schweizer Autors Denis de Rougemont (1906–1985), die dem französischen Kollegen André Gide galt (verstorben ein Jahrzehnt zuvor, 1951), der gleich Brecht mit einem Arbeitsjournal hervorgetreten war. Er behauptete: »Gide hatte wenig religiösen Instinkt, und noch weniger Neigung zur Metaphysik. Er beschäftigte sich lieber mit dem, was er für wichtig hielt, als mit dem, was die anderen für wichtig hielten. Einen so amusischen Menschen wie ihn hat es seit Montaigne nicht mehr gegeben […] Was ihn wirklich beschäftigte und quälte, war nicht die religiöse Problematik, sondern die moralische; nicht das Heil, sondern die Gerechtigkeit; weder die reine Erkenntnis noch das Mysterium, sondern das Urteil des Lebens.« Die literarischen Œuvres Gides sowie Brechts zeigen manche Übereinstimmung, nicht zuletzt in der Distanzierung von religiösen und metaphysischen Themen. Rougemonts Aussage über den »amusischen Menschen« passt allerdings keinesfalls auf Brecht, wenn es denn richtig wäre, sie auf Gide und Montaigne anzuwenden. Aber wie Gide vertiefte sich Brecht in die moralische Problematik und in das Problem der (sozialen) Gerechtigkeit. Womit er sich darüber hinaus beschäftigte, im Grunde am meisten und mit der größten Intensität, im Arbeitsjournal wie in seinem gesamten Werk, war die Frage, wie und mit welchen Mitteln die gesellschaftliche Welt umzugestalten sei, damit künftig nicht mehr die Bourgeoisie sie dominiere und ausbeute. Wie es sein Arbeitsjournal beweist, war es dies, »was er für wichtig hielt« und was »ihn wirklich beschäftigte und quälte«. Sein Arbeitsjournal diente, wie eingangs festgehalten, nicht zuletzt auch der Selbstverständigung. Dazu gehörte, dass er sich über die Motivation klar wurde, die ihn zum literarischen Produzieren trieb. Am 18.4.41 notierte er, er habe Lust, eine Kassandra zu schreiben. Deren »schwarze voraussagen« zielten darauf, »die menschen aufzurütteln« (A 163). Des Schriftstellers Aufzeichnungen im Arbeitsjournal dokumentieren, dass auch er in seiner schriftstellerischen Praxis vehement an das Aufrütteln dachte, wie er es dann in seinen Dichtungen gekonnt vollbrachte.
Literatur Böhme, Waltraud u. a. (Hg.): Kleines Politisches Wörterbuch. Berlin, Dietz Verlag 1973. Brecht, Bertolt: Tagebücher 1920–1922. Autobiographische Aufzeichnungen 1920–1954, herausgegeben von Herta Ramthun. Berlin etc.: Aufbau Verlag 1976. Brecht, Bertolt: Gesammelte Werke in 20 Bänden. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1967. Brecht, Bertolt: Arbeitsjournal. 1938–1955, herausgegeben von Werner Hecht, Berlin etc.: Aufbau Verlag 1977.
Karoline Sprenger (Bamberg)
Subversives in Kleinform. Systemkritik in Brechts Kinderlyrik
Systemkritik ist – was literarische Texte angeht – im Erwartungshorizont des Lesers immer etwas Großes, Fundamentales, äußerst Ernsthaftes und entsprechend oft Gegenstand umfangreicher Dramen. Sie hat appellativen Charakter, erfordert einen »langen Atem«. Manchmal vollzieht sie sich auch in großen pathetischen Gedichten, man denke, bei Bertolt Brecht, nur an das berühmte An die Nachgeborenen. Aber auch im Kleinen lässt sie sich erkennen, gerade bei einem so bedeutenden Autor wie Brecht, der sie meisterhaft in der Nuance und im scheinbar Unauffälligen, verbirgt – selbst in seinen Gedichten für Kinder, die ohnehin oft ambivalent sind und über mehrere Interpretationsebenen verfügen. Oberflächlich betrachtet wirken sie harmlos. Bei genauerem Hinsehen jedoch üben sie – wenngleich in ungewohnter Form und nur für erwachsene Lesende nachvollziehbar – Systemkritik. Wie dies in subtiler Weise, unter dem Deckmantel der »Kinderliteratur«, vollzogen wird, sei anhand dreier Beispiele, zwei stammen aus den Svendborger Gedichten, vorgeführt.
Brecht als Autor von Kinderlyrik Zunächst stellt sich aber die Frage, weshalb ein bedeutender Autor wie Brecht sich überhaupt mit Kindergedichten abgibt? Auf den ersten Blick scheint die Antwort einfach zu sein: Kinderlyrik ist, im traditionellen Verständnis, eine Gattung des Lehrenden und Unterweisenden. Brecht, der sich gerne – auch in seinen Parabelstücken und in seiner Theatertheorie – als großer »Lehrmeister« und »Weiser« gerierte und dessen Texte noch immer oft so verstanden werden, dass sie einem Zuschauer des »wissenschaftlichen Zeitalters« episierend das rechte Klassenbewusstsein vermitteln, müsste die noch leicht beeinflussbaren Kinder als ideale Adressaten betrachten. Aber selbst wenn Brecht ein solch moralischer Impetus umgetrieben hätte, was nicht der Fall war, so bliebe es dennoch erstaunlich, dass er sich derart intensiv mit Kinderlyrik befasste. Immerhin gilt er neben Thomas Mann und
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Franz Kafka als einer der bedeutendsten deutschsprachigen Schriftsteller und außerdem als der größte Dramatiker des 20. Jahrhunderts. Weder Mann noch Kafka kamen als Autoren solch fulminanter Werke wie Der Zauberberg, der Joseph-Tetralogie, Doktor Faustus, Die Verwandlung, Der Prozeß und Das Schloß auf die Idee, sich auch noch in umfangreicherem Maße auf Kinder- und Jugenddichtung einzulassen. Heinrich Kaulen, der sich mit Brechts Kinderlyrik wohl am umfassendsten und ausgewogensten beschäftigt hat, erklärt die große Zahl an Kindergedichten in Brechts Werk mit einem Verweis auf dessen frühzeitig ausgeprägte Affinität für einfache, aber gleichzeitig anspruchsvolle literarische Formen. Brecht habe die »Ästhetik artifizieller Kunstlosigkeit und subtiler Simplizität« gereizt, eine »Synthese von bewußt eingesetzter Naivität und handwerklicher Raffinesse«1. Dies ist eine Sichtweise, die Steffensen bereits 1972 zumindest andeutete.2 In diesem Zusammenhang ist auch auf Detlev Schöttkers Untersuchung zu Brechts »Poetik des Naiven« zu verweisen.3 Eine andere Motivation findet sich in Brechts Streben nach Anerkennung auch im Kulturbetrieb der damaligen DDR. 1950 schrieb er eine ganze Reihe von Kinderliedern, die Auftragsarbeiten, zumindest aber eine Gefälligkeit den Kulturfunktionären der DDR gegenüber darstellen. Hinzu kommt einer der gewöhnlichsten Gründe, für Kinder zu schreiben, nämlich der eigene Nachwuchs. Brecht hatte selbst vier Kinder, und im dänischen Exil verfasste er, als Teil der Svendborger Gedichte, Kinderlyrik, die zunächst einmal für die beiden jüngsten, Stefan und Barbara gedacht war, die in den Texten gelegentlich auch explizit erwähnt werden. Bei oberflächlicher Betrachtung scheint es also so zu sein, dass Brecht, neben vielem anderen, zudem als Erzieher agierte, als sozialistischer Klassiker, der seine Kunst auch in den Dienst der Unterweisung und vielleicht auch Unterhaltung von Kindern stellte. Selbst dann allerdings müsste hervorgehoben werden, dass sich Brecht in diesen Gedichten nicht, wie man ja leicht denken könnte, nur gegen das gerade herrschende »System« in Deutschland, unter dem er selbst litt und vor dem er fliehen musste, den nationalsozialistischen Barbarismus, wendet. Dies tut er auch, aber keineswegs ausschließlich. Brecht kommt schon in diesen so einfachen Texten zu Grundsätzlichem, legt Zusammenhänge und Aspekte bloß, die allen Gesellschaftssystemen stets eigen sind. Durch den hohen Grad an Abstraktion unterweisen die Gedichte nicht, sondern regen zu selbstständigem Denken und eigener Urteilsbildung an. 1 Kaulen, Heinrich: Brecht parodiert Kinderlyrik. Frühe Gedichte für Kinder aus den zwanziger Jahren. In: »Der Deutschunterricht« Nr. 46, 1994, 6, S. 26–31, hier S. 27. 2 Vgl. Steffensen, Steffen: Bertolt Brechts Gedichte. Kopenhagen: Munksgaard 1972, S. 127f. 3 Vgl. Schöttker, Detlev: Bertolt Brechts Ästhetik des Naiven. Stuttgart: Metzler 1989, S. 299.
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Am Beispiel dreier Kindergedichte Brechts, deren subversives Potenzial bisher in ihrer tieferen Dimension nicht wahrgenommen wird, lässt sich zeigen, dass der Habitus des Erziehers ein reich oberflächlicher ist. Brecht unterweist weniger als dass er Fragen aufwirft – bezogen auf die Strukturen und Gefahren, die Gesellschaftssystemen grundsätzlich eigen sind.
Systemkritik vom Kirchturmdach? Ulm 1592 Bischof, ich kann fliegen Sagte der Schneider zum Bischof. Pass auf, wie ich’s mach! Und er stieg mit so ’nen Dingen Die aussahn wie Schwingen Auf das große, große Kirchendach. Der Bischof ging weiter. Das sind lauter so Lügen Der Mensch ist kein Vogel Es wird nie ein Mensch fliegen Sagte der Bischof vom Schneider. Der Schneider ist verschieden Sagten die Leute dem Bischof. Es war eine Hatz. Seine Flügel sind zerspellet Und er liegt zerschellet Auf dem harten, harten Kirchenplatz. Die Glocken sollen läuten Es waren nichts als Lügen Der Mensch ist kein Vogel Es wird nie ein Mensch fliegen Sagte der Bischof den Leuten.4
Bei Ulm 1592 handelt sich um das wohl bekannteste Kindergedicht Brechts. Es wurde wegen seines gleichnis- bzw. parabelartigen Charakters und seiner vermeintlichen Eindeutigkeit und Stringenz, der Komprimierung einer »Lehre« bzw. »Moral« in wenigen plakativen Versen, in zahlreiche Lesebücher aufgenommen und auch vielfach didaktisch aufbereitet.5 Brecht selbst empfahl das 4 Vgl. Brecht, Bertolt: Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Herausgegeben von Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei, Klaus-Detlef Müller. Berlin, Weimar, Frankfurt/Main: Aufbau, Suhrkamp 1988–2000, Bd. 12, S. 19f. – Im laufenden Text: (GBA Band, Seitenzahl). 5 Vgl. Kaulen, Heinrich: Ulm 1592. In: Knopf, Jan (Hg.): Brecht-Handbuch. Bd. 1–4. Stuttgart, Weimar: Metzler 2001–2003, S. 261–264, hier S. 261.
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Gedicht, das 1934 entstand, für die Lehrpläne des Literaturunterrichts. (Vgl. GBA 30, 103) Eine bekannte Anekdote, der gescheiterte Flugversuch des »Schneiders von Ulm«, bildet den Ausgangspunkt des Gedichts: Der Ulmer Schneider Albrecht Ludwig Berblinger probierte am letzten Maitag des Jahres 1811 bei einem gewagten und letztlich nicht ganz freiwilligen Sprung von der Adlerbastei in Ulm selbst entworfene und gebaute Flügel aus. Er galt als Sonderling, der sich, neben seinem eigentlichen Beruf, stets für Mechanik interessiert hatte und in seiner Freizeit verschiedene Erfindungen machte und damit experimentierte. Mit seinen selbstkonstruierten Flügeln wollte er zunächst vom Turm des Ulmer Münster aus durch die Luft fliegen, dann wenigstens von der Bastei aus das gegenüberliegende Donauufer erreichen, was ihm aber misslang: Vor den Augen der neugierigen Menge stürzte er in den Fluss, wobei er zwar körperlich unversehrt bliebt, aber aufgrund der Bruchlandung verlacht und sogar als Scharlatan gebrandmarkt wurde. In der Folge stellte Berblinger alle weiteren Flugversuche ein und erlitt bald darauf seinen sozialen Abstieg. Brecht verändert die Begebenheit, spitzt sie zu und denkt sie weiter. Seine Modifikationen sind offensichtlich: Er verlegt das Ereignis zurück ins Jahr 1592, dies ist sogar titelgebend, also von ausdrücklicher Bedeutung. Es handelt sich um das Jubiläumsjahr der Entdeckung Amerikas durch Christoph Kolumbus 1492. Brecht stellt den Schneider damit in die Reihe der großen Entdecker und Pioniere und macht ihn so »zum heimlichen Wegbereiter der Flugpioniere des 20. Jh’s«6. Eine weitere Abwandlung ist nicht weniger wichtig: Der Schneider erhält einen Gegenspieler, den Bischof, und der Flugversuch findet, wie ursprünglich von Berblinger tatsächlich beabsichtigt, auf dem Kirchplatz statt. Dementsprechend endet der Flug nicht glimpflich im Gewässer, sondern mit dem tödlichen Aufprall auf dem »harten, harten Kirchenplatz«. So also gestaltet Brecht eine völlig neue Situation: Sämtliche Änderungen verfolgen die Tendenz, die Anekdote aus dem Jahr 1811 zum Demonstrationsmodell des Konflikts zwischen dem kleinen Mann und der Kirche, dem unerschrockenen Neuerer und dem Repräsentanten des Alten, dem Streben nach Fortschritt und dem Versuch seiner Verhinderung umzufunktionieren.7
Dies ist umso prägnanter, als dass der historische Schneider eigentlich wirklich vom Turm springen wollte, was aber verhindert wurde – zwar nicht von einem Bischof, den es 1811 in Ulm nicht gab,8 jedoch von den Ulmer Ratsherrn; möglicherweise wäre ihnen das Spektakel vom Dom aus zu pietätslos gewesen, möglicherweise aber empfanden sie auch eine Art von Fürsorge für den Son6 Kaulen, Heinrich: Ulm 1592, S. 263. 7 Ebd. 8 Vgl. Kittstein, Ulrich: Das lyrische Werk Bertolt Brechts. Stuttgart, Weimar: Metzler 2012, S. 273.
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derling, der ja dann ins Wasser stürzte und eben nicht auf dem Domplatz zerschellte. Erst nach der Hälfte des Gedichts klären sich die Situation und die Personenkonstellation: Der Schneider beabsichtigt, ein Flugexperiment durchzuführen, mit dem er wohl unter anderem auch den Bischof beeindrucken möchte. Der Geistliche weist ihn aber ab, offenbar weniger aufgrund von Zweifeln an seinen Fähigkeiten als aufgrund der Provokation, die der Bischof hinter dem Vorhaben erahnt: Der Schneider könnte mit seiner Erfindung die alte Ordnung bzw. gar den ganzen Schöpfungsplan aus dem Buch Genesis des Alten Testaments durcheinander bringen, das System destabilisieren: Für die Gläubigen hat Gott die Erde mit Pflanzen, Tieren und Menschen in sieben Tagen erschaffen und nach seinem Willen gestaltet. Dazu gehört, dass der Mensch zwar die Krönung der Schöpfung bilden mag, aber nun einmal nicht fliegen kann. Als Flugpionier berührt der Schneider also Empfindlichkeiten, die zumindest indirekt im Raume stehen. Jede neue Möglichkeit und Erkenntnis birgt die Gefahr, die Botschaften der Schöpfungsgeschichte auszuhöhlen. Zunächst behält der Bischof mit seinem Verdikt Recht: Der Schneider und seine Fluggeräte, mit denen er »Gott versuchen« wollte, zerschellen am Fuße der großen Kirche. Welches Sinnbild! Für alle, die den Schneider dort liegen sehen, sind Autorität und Unfehlbarkeit der Kirche offenkundig. So unvermittelt der Leser zu Beginn in die Situation hineingestoßen wurde, so sehr wird ihm jetzt die Distanz, die er zu den historischen Vorgängen hat, als Deutungszugang des Gedichts nahe gelegt: Heinrich Kaulen beschreibt dies treffend: Aber der didaktische Kunstgriff des Gedichts besteht gerade darin, dass das Wesentliche, die alles entscheidende dritte Strophe, im Text selbst ausgespart ist und von den Lesern des 20. Jh.s eigenständig ergänzt werden muss. Die Geschichte hat die apodiktische Behauptung des Bischofs, »Es wird nie ein Mensch fliegen« inzwischen augenscheinlich widerlegt. B. vertraut hier auf das Wissen seiner jungen Adressaten; daher kann er, anders als seinerzeit der Bischof, auf apodiktische Belehrungen und Drohgebärden verzichten und stattdessen mit der viel wirkungsvolleren Methode einer unaufdringlichen und indirekten, ironisch-satirischen Didaxe operieren.9
Das trifft zweifellos alles zu. Aber so subtil auch die »Moral von der Geschicht’« sein mag, so sehr handelt es sich doch um eine recht plakative und einfache »Lehre«. Das Gedicht ist offenbar ein Hohes Lied des Pioniertums. Es präsentiert – laut Kaulen – letztlich selbst eine »dogmatische Antwort«10, die zu übernehmen sei. Kaulen löst die Problematik, dass sich eine solch schlichte Lehre nicht mit der Komplexität der anderen Werke Brechts vereinen lässt, mit dem Hinweis auf den 9 Kaulen, Heinrich: Ulm 1592, S. 263. 10 Ebd.
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voranschreitenden »Fortschritts- und Technikmythos der Moderne«11, den Brecht durch das noch folgende Kindergedicht Mein Bruder war ein Flieger, wieder relativiere. Denn dieses Gedicht zeige, dass auch Technik ein Mittel der Unterdrückung sein könne.12 Ulrich Kittstein betont, dass Brecht den Schneider »von Anfang an als Identifikationsfigur für kindliche Leser angelegt«13 habe. Nicht ohne Pathos sieht Gerhard Koch das Gedicht gar als »Parabel des neuzeitlichen Menschen, der sich den Zwängen und Beschränkungen des Mittelalters zu entziehen«14 versuche. In ähnlichem Sinne interpretiert auch Wolfgang Conrad das Gedicht als einen Blick aus einer finsteren Zeit, der des herrschenden Nationalsozialismus, in eine andere, längst vergangene, in die des Schneiders, der auch hier als Identifikationsfigur betrachtet wird. »Damit könnte das Lied auch für Kinder zum Modellfall für das Verhalten in täglich wiederkehrenden Situationen werden und ihr Selbstbewusstsein stärken.«15 So einfach ist das jedoch nicht, und der Vorwurf, dass das Gedicht dem Leser eine eindeutige Lehre verordne, wenn man es nur für sich lesen würde, stünde nach wie vor im Raum. Entsprechend nutzten es auch die Pädagogen der DDR, die zu dem Gedicht ein Unterrichtsgespräch vorstellten, das mit der Frage eröffnet, was den Menschen heute alles fehlen würde, hätte der Schneider den »Hemmnissen für menschlichen Fortschritt« nicht widerstanden. So loben die Autoren die vermeintliche erzieherische Nützlichkeit des Gedichts in etwas holprigem Deutsch: »Ein brauchbares, ein Lehr-Gedicht für die Kinder, im Lehrgang ein sehr notwendiges!«16 Durch die Zuspitzung der Personenkonstellation drängt sich allerdings eine weitere Interpretationsebene auf, die die Ambivalenz von Brechts Lyrik erweist: Bei dem geschilderten historischen Flugversuch spielte der Klerus entweder keine Rolle oder wirkte sogar ausgleichend. Doch die Heraushebung und Konfrontation der beiden Hauptfiguren sollte die anderen Menschen nicht ganz vergessen lassen, die »Leute«, die nicht über den Einfallsreichtum und solchen Wagemut verfügen. Heinrich Kaulen weist ja mit Recht auf die Aussparung einer weiteren Strophe hin: Sie sei nicht nötig, da der Lesende sie aus der Perspektive des »Nachgeborenen« selbst ergänzen kann. Er kennt den Verlauf der Geschichte 11 12 13 14
Ebd. Vgl. ebd. Kittstein, Ulrich: Das lyrische Werk Bertolt Brechts, S. 273. Koch, Gerhard: Der Schneider von Ulm – Bertolt Brechts Bearbeitung eines Sujets aus der Geschichte der Viatik. In: »German Studies in India« Nr. 5, 1981, S. 195–206, hier S. 202. 15 Conrad, Wolfgang: Gedichte nicht nur für die eigenen Kinder – Bertolt Brechts Kinderlieder in den Svendborger Gedichten. In: Conrad, Wolfgang / Pinkert, Ernst-Ullrich / Unglaub, Erich: Brechts Söhne. Topographie, Biographie, Werk. Frankfurt/Main: Lang, 2008, S. 111. 16 Bütow, Wilfried / Jonas, Hartmut / Schulz, Gudrun: Junge Leser und Brecht. Berlin: BrechtZentrum der DDR 1987, S. 53.
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und weiß, dass Menschen irgendwann einmal »das Fliegen gelernt« haben.17 Ebenso aber sollte er auch gerade wegen der Überspitzung der Figuren auch in anderer Hinsicht weiterdenken. Was ist denn mit den »Unauffälligen«, mit denjenigen, die nicht »im Lichte stehen«? Sind die Pioniere wirklich Vorbild für jeden? Muss jeder an seine Grenzen gehen, Ideen, Illusionen haben und diese erproben, koste es, was es wolle? Verpflichtet das eigene Genie dazu, es in den Dienst der Gesellschaft zu stellen? Brechts Schneider bezahlt seinen Ehrgeiz mit dem Leben, möglicherweise hat er auch Leid über andere Menschen gebracht. Ist es also verwerflich, innerhalb der Sicherheit seiner ursprünglichen Bahnen zu bleiben, selbst wenn dann der Fortschritt stagniert, weil man ihm aus Kalkül die eigene Leistung und Kreativität vorenthält oder sich taktisch verhält wie es Brecht in seinem großen Drama Leben des Galilei vorführt? Hier lässt er den berühmten Erfinder widerrufen, sich also mit der kirchlichen Autorität arrangieren. (Vgl. GBA 5, 108f, 185f) Vor diesem Hintergrund kann das Gedicht, bei aller dabei gebotenen Vorsicht, auch poetologisch bzw. autobiografisch gelesen werden. Wie verhält es sich mit dem Künstler, dem Schriftsteller, der mit seinen Werken einiges bewirken könnte, damit aber möglicherweise seine Existenz, abhängig vom jeweiligen gesellschaftlichen System, gefährdet? Wie sieht es aus mit Brecht selbst, den Schriftstellern im Exil oder gar denen, die in NS-Deutschland blieben und sich im Nachhinein mit dem Begriff der »inneren Emigration« zu rechtfertigen versuchten? Diese Fragen stehen in vielen Kindergedichten Brechts im Raum. Sie sind jedoch auch bereits Ulm 1592 eingeschrieben, sodass sich das Gedicht allzu glatter und eindeutiger Deutung entzieht. Der Schneider ist kein vorbehaltlos zu verehrender Pionier und Held; ebenso wenig wie umgekehrt diejenigen verachtungswürdig sind, die nicht den Idealismus und Mut des Schneiders haben und eher dazu tendieren, sich das Leben einfacher und sicherer zu gestalten, die sich individuelle Wünsche erfüllen wollen, ohne unter die Räder der Politik zu geraten. Brecht war kein Moralist und bietet Kindern auch mit seinem Schneider von Ulm kein uneingeschränktes Vorbild. 1931 äußerte Brecht sich in einem Kurzgedicht, freilich in gänzlich anderer Diktion, abermals zu diesem Thema: Sorgfältig prüf ich Meinen Plan, er ist Groß genug, er ist Unverwirklichbar. (GBA 14, 146)
17 Vgl. Kaulen, Heinrich: Ulm 1592, S. 263.
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Der Schneider jedoch hatte sich daran gemacht, den seinen zu verwirklichen. Hat er ihn nicht sorgfältig genug geprüft, sich völlig unbedacht in sein Verhängnis begeben oder das Risiko im Vertrauen in sein Können bewusst in Kauf genommen? Wie dem auch sei: Es entspricht nicht der Bestimmung des Menschen, sich bereitwillig in dergleichen Gefahr zu begeben, und niemand, der sich enthält, ist zu schelten.
Systemkritik »im Hofe«: Der Pflaumenbaum Ebenfalls den Svendborger Gedichten zugehörig und kaum minder bekannt als Ulm 1592 ist das 1937 entstandene Gedicht Der Pflaumenbaum. Im Hofe steht ein Pflaumenbaum Der ist klein, man glaubt es kaum. Er hat ein Gitter drum So tritt ihn keiner um. Der Kleine kann nicht größer wer’n. Ja größer wer’n, das möchte er gern. ’s ist keine Red davon Er hat zu wenig Sonn. Den Pflaumenbaum glaubt man ihm kaum Weil er nie eine Pflaume hat Doch er ist ein Pflaumenbaum Man kennt es an dem Blatt. (GBA 12, 21)
Dass Kinder lustige Außergewöhnlichkeiten oder Abnormitäten sehr gerne rezipieren, ist gewiss nichts Neues. Auf dieses besonders mickrige Bäumchen wird offenbar höhnend nach Kindermanier mit dem Finger gezeigt. Darauf deutet zumindest das durch Kursivierung herausgehobene »Der« im zweiten Vers, das seine Schwäche indiskret und erbarmungslos ins Licht der Aufmerksamkeit zerrt. Das Bäumchen muss sogar mit einem Gitter vor den anderen Pflanzen, Tieren oder Menschen, die mehr Kraft haben und es deshalb verdrängen oder ihre Häme über es ergießen könnten, geschützt werden. Verweist der »verkümmerte«18 kleine Baum möglicherweise auf Brechts eigene Situation im Exil? Des gewohnten kulturellen Umfelds des Weimarer Republik und der gewohnten Arbeitsbedingungen als deutscher Schriftsteller in der Heimat beraubt, können das Werk und somit auch der Dichter selbst auch nicht mehr »gedeihen«. Mit der deutschen Sprache war ihm das »Instrument« seines 18 Vgl. Meier-Lenz, Dieter P.: Brecht und der Pflaumenbaum. Aspekte zu Brechts Baumgedichten. In: Vanoosthuyse, Michel (Hg.): Brecht 98. Poétique et Politique. Montpellier: Université Paul-Valéry 1999, S. 185–198, hier S. 196.
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Berufes genommen worden. Im Exil boten sich ihm kaum noch Entfaltungsmöglichkeiten. Der einzige Exilautor, der im Exil nicht nur gut zurecht kam, sondern als »der« große Repräsentant deutscher Kultur ein enormes Ansehen besaß, war Thomas Mann. Brecht hingegen versuchte, mit nur geringen Erfolgen, in der Filmbranche Fuß zu fassen und hatte, außer seiner Zusammenarbeit mit dem berühmten Schauspieler Charles Laughton in Zusammenhang mit seinem Stück Galilei, nur noch wenig vorzuweisen, das beim Publikum Anklang fand. Insofern erscheint es nachvollziehbar, dass Meier-Lenz das Gedicht vornehmlich autobiografisch deutet19 und den Baum als Metapher für Brecht selbst interpretiert, dessen Kunst und Erfolg auf für ihn ungutem Boden und aufgrund des Lichtmangels nicht mehr wachsen können. Betrachtet man aber nicht die Lebensumstände Brechts und sein nur mäßiges Ansehen als Schriftsteller im Exil, sondern nur das literarische Werk, so ergibt sich ein völlig anderes Bild. Er war zu dieser Zeit immerhin sehr produktiv. An den Pflaumen kann man den kleinen Baum nicht erkennen, weil er in seiner kargen Umgebung fruchtlos bleibt. Brecht hingegen war auch im Exil sehr wohl als Brecht wahrzunehmen. Abgesehen von der Dreigroschenoper entstanden seine größten und bekanntesten Stücke allesamt im Exil. Zu nennen sind da Dramen wie Herr Puntila und sein Knecht Matti, Leben des Galilei, Mutter Courage und ihre Kinder und Der gute Mensch von Sezuan; also gerade jene Dramen, die man automatisch gleich mit dem Namen Brechts in Verbindung bringt, wenn man ihn hört. Selbst wenn die persönliche Situation schwierig und deprimierend war, zumal sich ein Ende der Exilzeit lange nicht abzeichnete, so arbeitete Brecht im Exil wesentlich produktiver als die meisten seiner Leidensgenossen. Einige von ihnen gleichen dem kleinen Pflaumenbaum wesentlich deutlicher als Brecht. Eher noch könnte der ehemalige Augsburger Bürgerschreck, um zur oberflächlichen Ebene des Gedichts zurückzukehren, zu denjenigen gehören, die selbstbewusst und hämisch mit dem Finger auf denjenigen zeigen, der in seiner Fortentwicklung nicht von der Stelle kommt. Eine weitere Deutungsmöglichkeit resultiert aus einem Blick des Exilanten in die Heimat, nach Deutschland. Denn es gibt ja auch Autoren, die nicht in die Verbannung gingen, z. B. weil sie ideologie- und systemkonform, also Repräsentanten des nationalsozialistischen Deutschlands, waren oder aber sich in die sogenannte »Innere Emigration« begaben. Letztere befanden sich dann in einer ähnlichen Situation wie der kleine Baum, wie der Schriftsteller im Exil, nur unter entgegen gesetzten Vorzeichen. Wie kreativ kann der Daheimgebliebene noch sein, um den ein Gitter hochgezogen wurde, das weniger Schutz bietet, als vielmehr Begrenzung bedeutet? Kann er überhaupt noch angemessen schriftstelle-
19 Vgl. ebd.
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risch tätig sein, wenn er aus Angst, aufgrund der existenziellen Bedrohung jedes Wort abwägen muss, bevor er es auf das Papier bringt? Zwischen den offiziellen Parteidichtern wie Hanns Johst, den Brecht kannte, Richard Euringer, Will Vesper und denjenigen, die sich völlig in sich selbst zurückzogen, gibt es auch noch andere Daheimgebliebene, im Zwischenbereich von intellektueller Eigenständigkeit und Anbiederung. Sie waren gezwungen, ihre Grenzen immer neu auszutarieren, um im System zu überleben oder in ihm gut klarzukommen. Wann korrumpiert man sich, wann gibt man sich selbst auf um den Preis von Anerkennung und nicht zuletzt auch wirtschaftlichem Auskommen? Eine andere, nicht weniger politische Interpretation des Pflaumenbaums bietet Ulrich Kittstein, der in dessen Verkümmertheit auch »das Schicksal eines Kindes aus dem proletarischen Milieu oder die Lage des Proletariats in seiner Gesamtheit«20 erkennt. Doch selbst wenn diese Sichtweise mitschwingen könnte, erscheint sie dadurch, dass sie das soziale Umfeld allzu weit in den Vordergrund rückt, zu einfach. Über die Ursache der Probleme verrät das Gedicht nichts. Sie können sehr vielfältig sein. Vielleicht ist das Kind fremd, zugewandert und ähnlich wie mancher Exilant noch nicht so recht an die Licht- und Bodenverhältnisse der neuen Umgebung gewöhnt? Vielleicht ist es wirklich sozial benachteiligt, ein Proletarierkind, wie Kittstein meint? Oder es hat ein Gebrechen, über das es in Brechts Kindergedicht Der liebe Gott sieht alles kategorisch heißt, dass man nicht darüber lachen solle? Oder ist dieses Kind im Gegenteil intelligenter, sensibler, weniger robust als die anderen und für sie gerade deshalb eine derart große Provokation, dass Schutzmaßnahmen, für die das Gitter steht, notwendig werden? Dies wäre nichts anderes als eine Warnung vor Strukturen, eine systemrelevante Ebene, die brandaktuell ist. Ist es nicht so, dass, gerade in Deutschland, immer stärker Tendenzen zu beobachten sind, die etwa Toleranz und Offenheit als oberste gesellschaftliche Maximen predigen, gleichzeitig jedoch Gleichmacherei und Konformität fordern. Das sind verschiedene Ebenen, verschiedene Aspekte, über die nachzudenken der kleine Pflaumenbaum anhält, und sie widersprechen einander keineswegs. Solche vielfältigen Zugangsweisen zu Der Pflaumenbaum referiert auch Conrad.21 Er bemängelt jedoch, dass man aufgrund der Tatsache, dass das Gedicht bevorzugt in der gymnasialen Oberstufe gelesen werde, verlernt habe, es zunächst einmal schlicht und »naiv« zu lesen, was bedeuten würde, den Baum als Bild für
20 Kittstein, Ulrich: Das lyrische Werk Bertolt Brechts, S. 279. 21 Vgl. Conrad, Wolfgang: Gedichte nicht nur für die eigenen Kinder, S. 119–121.
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ein Kind zu sehen, dem die Möglichkeit zur Entfaltung genommen ist. Alles Weiterführende, Differenzierende habe sich auf dieser Basis zu ergeben.22
Systemkritik aus dem Vogelkäfig: Brechts Rabe und Kanari Brecht verfasste 1934 speziell für seinen damals zehnjährigen Sohn die Kleinen Lieder für Steff, die überwiegend keine herausragenden Qualitäten aufweisen. Brecht überträgt in der traditionellen Form der Fabel menschliche Eigenschaften und Charakterzüge auf Tiere, die dann entsprechend interagieren bzw. Konflikte austragen. Doch schon Kaulen ist der Ansicht, dass die »Ambiguität und Polyvalenz« der Texte sie auch für ältere Leser interessant machen würden.23 Auch Franz-Josef Payrhuber vertritt die Ansicht, die Tierverse wirkten »nur vordergründig arglos und unterhaltsam«, würden sich aber bei näherem Hinsehen als »ausgesprochen politisch« erweisen.24 Unter diesen Tierversen sticht jener als interessant hervor, der den Streit zwischen einem Kanarienvogel und einem Raben in den Mittelpunkt stellt. Hier regt der Text schon deshalb zum Weiterdenken an, weil der geschilderte Konflikt nicht hinreichend gelöst wird. Es war einmal ein Rabe Ein schlauer alter Knabe Dem sagte ein Kanari, der In seinem Käfig sang: schau her Von Kunst Hast Du keinen Dunst. Der Rabe sagte ärgerlich: Wenn Du nicht singen könntest Wärst Du so frei wie ich. (GBA 14, 243)
Dieser »Tiervers« führt einen kleinen Disput zwischen zwei Vögeln vor. Ähnlich wie Ulm 1592 präsentiert das Gedicht auf den ersten Blick hin eine leicht verstehund konsumierbare Lebensweisheit. Obwohl es sich um eine Fabel handelt, beginnt es mit dem traditionellen Märchenanfang »Es war einmal« und führt so beinahe explizit in den Bereich des Verallgemeinernd-Überhöhenden. Der – möglicherweise – kindliche Leser oder Hörer nimmt die Haltung dessen ein, der mit einer Belehrung rechnen darf. Dass es sich dabei um eine Weisheit 22 Vgl. ebd., S. 118f.; in diesem Sinne auch Lerchner, Gotthard: Sprachform von Dichtung. Linguistische Untersuchungen zu Funktion und Wirkung literarischer Texte. Berlin, Weimar: Aufbau 1986, S. 81f. 23 Vgl. ebd. 24 Vgl. Payrhuber, Franz-Josef: Gedichte entdecken. Wege zu Gedichten in der ersten bis sechsten Klasse. Baltmannsweiler: Schneider 2015, S. 47.
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handeln könnte, suggeriert das Bild des »alten Knaben«, der aufgrund seiner Erfahrung »schlau« ist und weiß, worauf es im Leben ankommt. Seine Replik wird sicherlich wohlüberlegt sein, im Gegensatz zu den Frechheiten des flatterhaften »Kanari«, dessen korrekte Bezeichnung »Kanarienvogel« hier auch noch verkürzt und verniedlicht ist. Brecht greift zurück auf das Bild zweier Vögel, die sich durch ihr Aussehen und ihre Stimme unterscheiden: Der eine zählt zu den leichten, schönen, filigranen Vögeln mit wohlklingender, als angenehm empfundener Stimme, der andere zu den hässlichen, die eher schwerfällig wirken und nicht singen, sondern nur krächzen. Das Bild eines Käfigvogels wird dem eines in Freiheit lebenden, wilden Vogels entgegengestellt. Doch der dadurch evozierte, gerade in westlichen Gesellschaftssystemen oft gepredigte Freiheitsbegriff wird von Brecht unterhöhlt. Nachdem der lebensweise Rabe vom gefangenen Kanarienvogel provoziert und als Kunstbanause hingestellt worden ist, setzt er der Schönheit des Gesanges die eigene Freiheit entgegen. Er behauptet, auch der Kanarienvogel wäre frei, würde er nicht so anmutig singen können, denn nur deshalb sei er gefangen und eingesperrt worden. Nun steht der so belehrte Kanarienvogel also verdutzt und düpiert da bzw. sitzt entsprechend auf seiner Stange. Doch dies ist ein recht vordergründiger Effekt, der lediglich bei einem naiven, eindimensionalen Verständnis des Begriffes »Freiheit« funktioniert. Dann allerdings ruft er Überraschung und spontane Zustimmung hervor. Payrhuber geht davon aus, dass Brecht mit diesem Gedicht »die Gewaltherrschaft des Nationalsozialismus« veranschauliche, »die ihn ins Exil getrieben hatte«25. Er habe also die Form der Fabel genutzt, um »verschlüsselt eine Botschaft weiterzugeben, die direkt auszusprechen [ihn in seiner] Existenz hätte gefährden können«26. Das trifft aber nicht zu, denn zur Zeit der Publikation dieses Verses befand sich Brecht längst in der damaligen DDR und besaß ein eigenes Theater. Kritik an der NSDAP hätte ihn gewiss nicht in Gefahr gebracht. Möglicherweise aber handelt es sich um einen kommunistischen Kanarienvogel, also um einen »kleinen Genossen« Immerhin hatte Brecht sich 1934 schon längst mit der sozialistischen Gesellschaftstheorie befasst. Dann verstünde er unter Freiheit keinen unkontrollierten Individualismus, wie er vielleicht dem Raben vorschwebt, sondern die Einsicht in historisch-materialistische Gesetzmäßigkeiten, die auch einmal dazu führen können, dass persönliche Entfaltungsmöglichkeiten eingeschränkt sind. Doch das passt eigentlich nicht zu der von Brecht gewählten Bildhaftigkeit eines Kanarienvogels in seinem Käfig. Insofern soll nun aller ideologischer 25 Payrhuber, Franz-Josef: Gedichte entdecken, S. 48. 26 Ebd.
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Ballast als heuristischer Interpretationshintergrund beiseite gelassen und Schritt für Schritt vorgegangen werden. Wer sagt denn überhaupt, dass der Kanarienvogel die Wertschätzung der Freiheit, wie sie der Rabe propagiert, teilt? Nichts deutet darauf hin, dass er sich in seinem Käfig unwohl fühlt, dass er leidet, im Gegenteil: Er ist so gut gelaunt, ausgeglichen gar, dass er die Muße hat, den Raben herauszufordern. Ein Huhn aus einer Legebatterie täte das nicht, weil es andere, reale Probleme hätte. Der schön anzusehende und hübsch tirilierende Kanarienvogel jedoch wird bewundert, gefüttert, rundum versorgt, wenn nicht gar als stolzer Mittelpunkt eines Wohnraums mit Zuwendung überschüttet. Was also soll er denn vermissen, warum sollte er den Wunsch verspüren, seinen Käfig zu verlassen und sich den Herausforderungen der »echten« Welt zu stellen? Er kennt keine Existenznöte, und Stubenvögeln dieser Art werden nicht selten sogar Partnerinnen hinzugesellt. Auch sein Selbstbewusstsein scheint gut entwickelt, da er sich nicht scheut, gerade dem bekanntermaßen klugen Raben vorzuhalten, er hätte – im Gegensatz zu ihm selbst – »keinen Dunst« von Kunst. Hinzu kommt, dass der Käfig auch Schutz bietet vor Gefahren: der kleine Vogel muss weder Sorge haben, in freier Wildbahn zu verhungern, noch selbst gefressen zu werden. Es handelt sich um ein Luxustier, das mit seinem Leben zufrieden zu sein scheint. Aus einer solchen Position heraus kann er auch den Raben ärgern, ohne befürchten zu müssen, dass dieser ihm etwas antut. Der Kanarienvogel ist in Sicherheit. Darüber kann er auch vergessen, dass er gerade das nicht kann, was einen Vogel eigentlich ausmacht, nämlich seine Flügel ausbreiten und fliegen, wohin er will. So gesehen, bleibt der Rabe bei diesem Disput der Dumme, obwohl er das selbst wohl anders sieht. Er, der hässliche, geräuschvolle »outlaw« und einsame Aasfresser, muss sehen, wie er sein Leben fristet – möglicherweise nicht immer auf legalem Wege, vielleicht muss er »klauen wie ein Rabe«. Dabei muss er sich nun auch noch vom niedlichen Luxustierchen aus dessen Saturiertheit heraus ärgern lassen. Der Rabe antwortet im Rahmen des von ihm internalisierten Wertesystems, doch seine Replik geht ins Leere, weil sich der Begriff der Freiheit nicht so leicht normieren lässt bzw. verschieden verstanden und wertgeschätzt werden kann. Vor diesem Hintergrund bildet die Antwort des schwarzen Vogels auch nicht den Abschluss und Höhepunkt des Gedichts, ist nicht dessen letztes Wort. Ähnlich wie Ulm 1592 bricht auch dieser »Tiervers« abrupt ab, hat nichts weniger als ein brechtsches »offenes Ende«. Dieses fordert dazu auf zu überlegen, wie denn der Kanarienvogel wohl antworten würde, wie das kleine Streitgespräch weitergehen könnte. Wäre es vielleicht sogar denkbar, dass am Schluss eine Art Kompromiss, eine Schnittmenge zwischen den extremen, zugespitzten Positionen stehen könnte?
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Das Gedicht verfügt allerdings noch über eine weitere Dimension: Es ruft zum Transfer auf, die Problematik der Freiheit ist zu diskutieren gerade hinsichtlich der Kunst, der Literatur, letztlich auch hinsichtlich Brechts eigenem Wirken. Ähnlich ist das in dem Gedicht An die Nachgeborenen (GBA 12, 85–86), entstanden zwischen 1934 und 1938, das eines der berühmtesten Brechts überhaupt ist. Hier wird die Frage gestellt, ob es angesichts der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft überhaupt noch legitim sei, über Bäume zu sprechen, wenn man doch dann, während man dies tut, den Barbarismus nicht benennen und anprangern kann.27 Darf man sich als Schriftsteller also, so der Transfer, in die ästhetische Dimension der Dichtung zurückziehen, wenn in der Realität das Grauenvolle auch in der Lyrik zu benennen wäre? Aber ist auf der anderen Seite solcherart Tendenzdichtung, die das Politische in den Vordergrund stellt, zu konkretem Denken oder gar Handeln überreden will, überhaupt noch Dichtung? Dass der Kanarienvogel auch als Künstler mit all seinen Möglichkeiten, aber auch Zwängen zu deuten ist, scheint nicht verwunderlich. Das lyrische Ich in An die Nachgeborenen befindet sich wegen seiner Exilsituation bereits von vornherein in der Opposition. Der Vogel hingegen ist ein angepasster Künstler, an welche Vorgaben und Normen auch immer. Eines nämlich steht als unverrückbare Realität und Skandalon im Vordergrund: Er lebt entgegen seiner Bestimmung als Vogel und fliegt nicht mehr, das heißt auf den Künstler übertragen, dass er auf kreative Höhenflüge verzichtet, nicht schreibt was er will, seiner Dichtung und den eigenen Gedanken, der eigenen Phantasie und Kritikfähigkeit nicht uneingeschränkten Raum verleiht. Dafür aber wird er ernährt und geschützt. Würde er ansonsten im Überlebenskampf möglicherweise untergehen, so erhält er in seinem Käfig die Rahmenbedingungen, um als Künstler überhaupt leben, existieren und arbeiten zu können. Außerdem wird ihm das zuteil, wonach jeder Künstler strebt, vom Maler über den Dichter bis zum Opernsänger: öffentliche Anerkennung, vielleicht sogar Ruhm; dies für den Preis »gestutzter Flügel«, für den Preis, dass er die Hand, die ihn füttert, und deren Besitzer nicht allzu sehr dem analytischen Potenzial seines Intellekts und seiner Kreativität aussetzen sollte. In dieser Situation fühlt sich der Vogel offenbar recht wohl oder doch zumindest sicher genug, um andere übermütig herauszufordern. Die Erinnerung daran, wie er überhaupt in den Käfig kam, ob er tatsächlich gefangen worden war oder er sich ihm von selbst näherte, weil das gute Futter ihn angelockt hatte, scheint ihm völlig abhandengekommen. Vielleicht ist er sogar im Käfig geboren,
27 Vgl. hierzu: Gockel, Heinz: Poésie engagée. Erich Frieds Lyrik. In: Gockel, Heinz: Literaturgeschichte als Geistesgeschichte. Vorträge und Aufsätze. Würzburg: Königshausen & Neumann 2005, S. 245–258, hier S. 255.
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als Nachwuchs eines anderen »Künstlers« in Gefangenschaft. Doch das ist für seine Gegenwart nicht von Belang. Das Gedicht stellt letztlich die äußerst provokante These in den Raum, dass es sich um ein Dilemma handelt, dem sich jeder Künstler ausgesetzt fühlt. Eine Entscheidung für die Existenz im Käfig wird jedoch nachvollziehbar, trotz des Aufschreis der vermeintlich unabhängigen Geister, die aber kaum wissen, wie sie sich ernähren sollen und die so mit ihrem subversiven Potenzial gleichfalls schnell an ihre Grenzen kommen, weil sie niemand ernst nimmt – ebenso wenig wie die hässlichen, schwerfälligen Raben, deren Krächzen man hört, ohne ihm größere Bedeutung beizumessen. Brechts ausführlich dargestelltes Lavieren zwischen allen Fronten und Zwängen, das er seit seinen ersten literarischen Versuchen durchaus erfolgreich pflegte, wird somit in Erinnerung gerufen. Es führte, trotz steter Herausforderungen, auch immer wieder zu halbwegs soliden, wenn auch mitunter schalen Kompromissen – und eben zur spannenden Doppelbödigkeit vieler seiner Gedichte.
Das Kleine wird zum Großen Dass Brecht tatsächlich in der Kleinform dieser Kindergedichte Systemkritik betrieb, verdeutlicht die Tatsache, dass deren Grundfragen bzw. -problematiken in anderen seiner Werke wiederkehren – weitergedacht, vor anderen Horizont gestellt, doch sehr ähnlich. Das sei anhand der ausgewählten drei Gedichte noch kurz vorgeführt. Mit gutem Grund könnten sich Lesende von Brechts großem Drama Leben des Galilei daran erinnern, dass sie bereits einmal über eine solche Forscherfigur wie den Universalgelehrten Galileo Galilei nachgedacht haben, nämlich über den Schneider von Ulm. Die Implikationen sind nun andere, und Brecht bearbeitete sein Stück ja auch mehrmals, nicht zuletzt vor dem Hintergrund des Abwurfs der Atombomben und dessen Folgen. Aber auch in diesem Drama treffen »kirchliche Autorität« und »Forscherdrang« aufeinander. Dahinter stehen bis heute viel diskutierte ethische Fragen: Dürfen Forschung und Wissenschaft alles umsetzen, was sie vermögen? Wo sind die Grenzen? Wer zieht sie? Wann wird der einzelne im System unterdrückt, seine Freiheit eingeschränkt? In Leben das Galilei wird diese starre Grundkonstellation zum Teil aufgelöst, indem der schlaue Galilei seine progressiven Erkenntnisse vor der kirchlichen Instanz zwar widerruft, sie aber dann in Form seiner Aufzeichnungen, den »discorsi«, heimlich wegschmuggeln lässt, damit sie so doch noch »in die Welt« kommen und gelesen werden. (Vgl. GBA 5, 108f., 185f., 287f.)
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Solche Listen liegen dem Schneider von Ulm in seiner vermeintlichen Naivität fern, dennoch ist Brechts Galilei-Figur eine Spielart von ihm, ein weitergedachter, diplomatischer gewordener Schneider. Das Gedicht vom Pflaumenbaum ist, hinsichtlich seines systemkritischen Potenzials, mit einer ganzen Reihe anderer großen Brechtgedichte vergleichbar. Beispielhaft sei hier ein sehr bekanntes, Der Blumengarten gewählt, das erste Gedicht der berühmten Buckower Elegien, jenes späten Zyklus, mit dem Brecht kaum verhohlen seinem Pessimismus der DDR gegenüber Ausdruck verleiht. Am See, tief zwischen Tann und Silberpappel Beschirmt von Mauer und Gesträuch ein Garten So weise angelegt mit monatlichen Blumen Daß er vom März bis zum Oktober blüht Hier, in der Früh, nicht allzu häufig, sitz ich Und wünsche mir, auch ich mög allezeit In den verschiedenen Wettern, guten, schlechten Dies oder jenes Angenehme zeigen. (GBA 2, 307)
Auf den ersten Blick scheint dieses Gedicht ein Idyll zu beschreiben, poetisch realisiert in geschliffenen und schönen Worten. Doch denkt man die autobiografische Dimension weiter, die dem Pflaumenbaum zweifellos eingeschrieben ist, so könnte das Bäumchen auch ein Künstler, könnte Brecht sein. Am Bäumchen exemplifiziert er seine Sicht der Kunst, seine Hoffnungen und Befürchtungen. Während Der Pflaumenbaum zur Zeit des Exils entstanden ist, ist Brecht nun in der DDR angekommen. Das lyrische Ich betrachtet von außen, aus der Ferne, jenen planwirtschaftlich angelegten Garten. Welche Rolle könnte es darin spielen? Der Dichter, der doch ebenfalls seine »Früchte«, seine Blüten hervorbringen und so »angenehm« und möglicherweise auch nützlich sein will, muss sich die Frage stellen, ob ihm das gestattet werden wird, innerhalb der sozialistischen Planwirtschaft, die den Anspruch erhebt, auch die Kunst zu reglementieren und zu normieren. Was wird unter solchen Umständen aus der Freiheit der Kunst, aus der Freiheit verstanden im aufklärerisch-individualistischen Sinne? So gesehen könnte das Gitter, das den Pflaumenbaum schützt und nun in der Form von Mauer und Gesträuch wiederkehrt, vom lyrischen Ich als bedrohlich empfunden werden, eben nicht mehr als schützend, sondern als einengend; so also wäre dieser Garten eher ein Gefängnis als ein Hort kreativen Wachstums; selbst wenn man innerhalb dieses Gefängnisses Brecht ein eigenes Theaterensemble zur Verfügung gestellt hatte. Die Silberpappel ist in der Lyrik Brechts wiederholt Metapher für Kunst im Sinne einer schönen, erhabenen und vor allem freien, Systeme buchstäblich überragenden Kunst; vor allem in den Buckower Elegien. Schaut man genauer hin, so steht die Silberpappel hier aber nicht innerhalb dieses planwirtschaftlich
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angelegten Blumengartens, sondern, ebenso wie die Tanne, außerhalb; nahe dran, aber eben außerhalb des Systems, der strengen Ideologie. Fast ist es so, als teile sie den Blickwinkel und die Haltung des lyrischen Ich, sowie auch dessen Fragen. Wäre für sie Platz in einem solchen Garten? Und: Warum hat man ihn angelegt und sie dabei bewusst ausgespart, draußen gelassen? Die Grundfrage des Gedichts, die nach dem Stellenwert der Kunst im neuen deutschen Staat, wird so in raffinierter, höchstartifizieller Weise potenziert, und stellt sich umso dringlicher. Die Ambivalenz und Mehrschichtigkeit des Tierverses könnte – auch wenn dies auf den ersten Blick überraschen mag – beispielsweise in Brechts berühmtem Lehrstück Die Maßnahme wiedererkannt werden – in extrem zugespitzter und auch politisierter Form. Aus Angst vor Repressalien verhängten Brecht selbst und der Komponist Hanns Eisler, der die Musik zur Maßnahme geschrieben hatte, darüber ein jahrzehntelang währendes Aufführungsverbot. Auch dieses Lehrstück ist ambivalent. So kann es einerseits als rigides kommunistisches Propagandamachwerk gelesen und aufgeführt werden, das dazu auffordert, die Entscheidungen, aber auch das Besonders-Sein und damit den Wert des einzelnen radikal der Doktrin unterzuordnen. Dazu zählt auch, dass das Individuum bei mangelnder Einsicht und vor allem bei Nichtbefolgung bestimmter Maximen »ausgelöscht« wird. Andererseits lässt sich die Maßnahme gleichzeitig, auf einer zweiten Interpretationsebene, gerade nicht als ein Stück der Affirmation, sondern als ein solches der Weh- und Anklage lesen; Angesichts der Vernichtung des einzelnen zeigt es einen Bruch mit den Werten, die ein aufklärerisch-individualistisches Menschenbild postuliert. Ist dieser einzelne, man vergegenwärtige sich den Kanari, nun ein Gefangener der Ideologie und soll er dies, ungeachtet der möglichen Nach-, aber auch Vorteile, bleiben? Oder sollte er besser ausbrechen und dafür sein Ende in Kauf nehmen; wie der Rabe, der wohl hungers sterben wird, wenn es ihm nicht mehr gelingt, Futter zu finden unter Umständen, die er nicht zu verantworten hat? Vor diesem Hintergrund wird die Aufmerksamkeit des Zuschauers oder Lesers auf den Marxismus gelenkt, denn er muss sich der Frage stellen: Was ist das für eine Ideologie, die bereit ist, dem Menschen rigide das Leben zu nehmen, wenn er der Doktrin entgegenzustehen scheint? In diesem Zusammenhang lässt sich auch wieder über den Begriff der »Freiheit« diskutieren. Noch immer wird dieser gänzlich unterschiedlich definiert: In traditionellem Sinne und vor dem Hintergrund eines aufklärerisch-individualistischen Menschbilds wird die persönliche Freiheit des einzelnen dort begrenzt, wo sie die des andern einschränkt. In marxistischer Definition meint »Freiheit« dagegen die Einsicht in historische Notwendigkeiten, d. h. diesem Verständnis ist etwas entschieden Teleologisches eingeschrieben. Ein Ziel soll erreicht werden:
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die »klassenlose Gesellschaft«. Individuelle Interessen und Befindlichkeiten haben dagegen zurückzustehen. Warum der Tod des »jungen Genossen« und sein »Einverständnis« dazu vor diesem Hintergrund noch zynischer erscheint, sei der Betrachtung des Zuschauers oder Lesers überlassen. Abermals geht es, wie bei Ulm 1592 und Galileo Galilei, auch um die Beziehung zwischen den einzelnen und der Gesellschaft und damit um die Pflichten und Ansprüche, die aus dieser resultieren, mithin um Grundfragen menschlicher Existenz. Es zeigt sich also, wie reich, ambivalent und mehrschichtig die Lyrik Brechts schon in Gedichten für Kinder, in scheinbar Banalem ist: Existenzielle Themen aus Gesellschaft, Politik, Kunst werden dicht gedrängt und einander ergänzend poetisch realisiert. Wenn er denn tatsächlich ein Lehrmeister gewesen sein sollte, dann ein solcher, der stets warnte vor Vereinnahmungen durch Systeme, gleich welcher Ausrichtung sie auch seien, und zu Wachsamkeit anhielt. Dies geschieht nicht nur in der Kleinform wie z. B. in den Keuner-Geschichten, sondern sogar in Gedichten, die ausdrücklich auch für Kinder gedacht sind. Eigenständiges Denken und kritisches Hinterfragen kann nach Brecht also offenbar gar nicht früh genug angeregt werden. Dass die Kerngedanken sich dann im Werk Brechts im Großen in oft beeindruckender Weise wiederfinden, spiegeln, ist ein weiterer Erweis der Qualität dieser Gedichte.
Literatur Brecht, Bertolt: Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Herausgegeben von Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei, Klaus-Detlef Müller. Berlin, Weimar, Frankfurt/Main: Aufbau, Suhrkamp 1988ff. Bütow, Wilfried / Jonas, Hartmut / Schulz, Gudrun: Junge Leser und Brecht. Berlin: BrechtZentrum der DDR 1987. Conrad, Wolfgang: Gedichte nicht nur für die eigenen Kinder – Bertolt Brechts Kinderlieder in den Svendborger Gedichten. In: Conrad, Wolfgang / Pinkert, Ernst-Ullrich / Unglaub, Erich: Brechts Söhne. Topographie, Biographie, Werk. Frankfurt/Main: Lang, 2008. Gockel, Heinz: Poésie engagée. Erich Frieds Lyrik. In: Ders.: Literaturgeschichte als Geistesgeschichte. Vorträge und Aufsätze. Würzburg: Königshausen & Neumann 2005, S. 245–258. Kaulen, Heinrich: Brecht parodiert Kinderlyrik. Frühe Gedichte für Kinder aus den zwanziger Jahren. In: »Der Deutschunterricht« Nr. 46, 1994, 6, S. 26–31. Kaulen, Heinrich: Ulm 1592. In: Knopf, Jan (Hg.): Brecht-Handbuch. Bd. 1–4. Stuttgart, Weimar: Metzler 2001–2003, S. 261–264. Kittstein, Ulrich: Das lyrische Werk Bertolt Brechts. Stuttgart, Weimar: Metzler 2012.
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Koch, Gerhard: Der Schneider von Ulm – Bertolt Brechts Bearbeitung eines Sujets aus der Geschichte der Viatik. In: »German Studies in India« Nr. 5, 1981, S. 195–206. Lerchner, Gotthard: Sprachform von Dichtung. Linguistische Untersuchungen zu Funktion und Wirkung literarischer Texte. Berlin, Weimar: Aufbau 1986. Meier-Lenz, Dieter P.: Brecht und der Pflaumenbaum. Aspekte zu Brechts Baumgedichten. In: Vanoosthuyse, Michel (Hg.): Brecht 98. Poétique et Politique. Montpellier: Université Paul-Valéry 1999, S. 185–198. Payrhuber, Franz-Josef: Gedichte entdecken. Wege zu Gedichten in der ersten bis sechsten Klasse. Baltmannsweiler: Schneider 2015. Schöttker, Detlev: Bertolt Brechts Ästhetik des Naiven. Stuttgart: Metzler 1989. Steffensen, Steffen: Bertolt Brechts Gedichte. Kopenhagen: Munksgaard 1972.
Klaus-Dieter Krabiel (Frankfurt am Main)
In unserem Lande zur Jahreswende. Politische Grüße im Wandel sozialer Funktionen
Brechts Gedicht In unserem Lande zur Jahreswende gehört zu den Texten, die in der Forschung bislang wenig Beachtung gefunden haben. Brecht selbst hat ihm offenbar eine gewisse Bedeutung beigemessen, denn er verwendete es mehrfach, und zwar jeweils in durchaus bedenkenswerter Weise. Das Gedicht existiert in mehreren Versionen, die sich durch eine nur geringfügige, aber bedeutsame Varianz unterscheiden. Im Bertolt-Brecht-Archiv (Berlin) ist ein von Brecht stammendes Typoskript überliefert (BBA 352/57), das als erste Niederschrift gelten kann oder dieser doch sehr nahesteht. Die typierte Grundschicht weicht von der aus den Werkausgaben bekannte Fassung des Gedichts nicht nur durch konsequente Kleinschreibung ab; erst handschriftliche Ergänzungen Brechts und ein Eingriff in die ursprüngliche Strophenfolge geben dem Text die spätere Gestalt.1 In der folgenden Wiedergabe des Typoskripts werden Brechts handschriftliche Nachträge durch Kursivdruck kenntlich gemacht. in unserem lande in unserem lande zur jahreswende und wenn eine arbeit fertig ist und zum tag der geburt müssen wir den guten glück wünschen denn in unserem lande der lautere braucht glück. wer niemanden schädigt kommt in unserem lande unter die räder aber die vermögen werden nur durch schurkerei erworben. um zu einem mittagessen zu kommen braucht es die tapferkeit 1 Vgl. Brecht, Bertolt: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Herausgegeben von Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei, Klaus-Detlef Müller. Berlin, Weimar, Frankfurt/Main: Aufbau, Suhrkamp 1988–2000, Bd. 12, S. 83. – Im laufenden Text: (GBA Band, Seitenzahl).
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mit der sonst reiche gegründet werden. ohne dem tod ins auge zu sehen hilft niemand[en]2 einem elenden. wer die unwahrheit sagt, wird auf händen getragen wer dagegen die wahrheit sagt der braucht eine leibwache aber er findet keine.
Im Typoskript stand die dritte Strophe ursprünglich am Gedichtende. Brecht markierte sie am linken Rand und verwies sie mit einem Pfeil auf Platz 3. Von dieser Niederschrift existieren zwei Durchschläge einer von Brecht angefertigten (nicht überlieferten) Abschrift: BBA 75/86 und BBA 352/58.3 Brecht schrieb das Gedicht für Lion Feuchtwanger, den er 1919 in München kennengelernt hatte. Feuchtwanger war beeindruckt vom Genie des jungen Brecht, Brecht zählte den um 14 Jahre älteren Feuchtwanger zu seinen Lehrern. Es entwickelte sich ein freundschaftliches, vertrauensvolles Verhältnis zwischen beiden, das auch in gemeinsamer literarischer Arbeit zum Ausdruck kam. Der für Feuchtwanger geschriebene Text ist ein politisches, zugleich ein durchaus persönliches Gedicht. Es beginnt mit der Nennung des gemeinsamen Vaterlandes. Poetisch, aber unmissverständlich beschrieben werden in den vier Strophen die katastrophalen Zustände in dem Land, das beide 1933 bei der Machtübernahme der Nazis verlassen mussten. Brecht lebte inzwischen im dänischen Svendborg im Exil, Feuchtwanger in Sanary-sur-Mer an der Côte d’Azur. Über die Entstehung des Gedichts kursieren in der Literatur Ungereimtheiten, die hier zunächst angesprochen werden müssen. »Brecht schrieb dieses Gedicht zu Feuchtwangers 50. Geburtstag«, heißt es in einer Publikation aus dem Jahr 1991, »als er in Dänemark und Feuchtwanger in Sanary lebte«4. Feuchtwangers 50. Geburtstag fiel auf den 7. Juli 1934. Zu diesem Anlass schrieb Brecht dem Jubilar nicht das Gedicht, sondern einen höchst ironisch gehaltenen Geburtstagsgruß, in dem er einen Feuchtwanger gewidmeten Text ankündigte: »Die ›Sammlung‹ hat mich mit Expreßbrief und Expreßforderung überfallen. […] Ich habe irgendwas abgeliefert, lesen Sie es mit Nachsicht! Den üblichen Salat wollte ich vermeiden, Sie verstehen.« (GBA 28, 424) Die von Klaus Mann in Amsterdam 2 Handschriftliche Streichung. 3 Der Titel ist in Majuskeln typiert, die Sätze beginnen mit Großbuchstaben, ebenso die Substantive innerhalb der Verse. In Vers 7 steht »Land« für »lande«, ein Versehen, das im folgenden Überlieferungsträger korrigiert wird. Blatt BBA 75/86 zeigt eine handschriftliche Korrektur Brechts (Vers 3: »dem Guten« aus »den Guten«), ferner unter dem Text, parallel zum rechten Blattrand, die unterstrichene Notierung »Zwei Elegien«, die keinen Bezug zum Gedicht hat. 4 Hofe, Harold von / Washburn, Sigrid (Hg.): Lion Feuchtwanger. Briefwechsel mit Freunden 1933–1958. Bd. I. Berlin: Aufbau 1991, S. 446.
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herausgegebene Exil-Zeitschrift »Die Sammlung« hatte Brecht offenbar dringend gebeten, zu Glückwünschen emigrierter Schriftsteller beizutragen, die anlässlich des 50. Geburtstags von Feuchtwanger in Vorbereitung waren. Zusammen mit Beiträgen von 13 Autoren, unter ihnen Alfred Döblin, Heinrich Mann, Ernst Toller und Arnold Zweig, erschien Brechts Text Anfang Juli 1934 in Heft 11 der »Sammlung«. Es waren launige Reflexionen über den Begriff »Asphaltliteratur«, den Kampfbegriff der NS-Literaturkritik, der sich gegen alles wandte, was unerwünscht war.5 Brechts ironischen Geburtstagsgruß erwiderte Feuchtwanger am 13. Juli 1934 mit ebenfalls ironischen Bemerkungen.6 Brechts Beitrag in der »Sammlung«, den er vermutlich zu diesem Zeitpunkt noch nicht kannte, erwähnte Feuchtwanger nicht. Andere, ebenso fragwürdige Angaben zur Entstehung des Gedichts finden sich in Werner Hechts Brecht-Chronik: »Wahrscheinlich aus Anlaß des 51. Geburtstags von Feuchtwanger schreibt B[recht] das Gedicht Und in eurem Lande? […], das er ihm mit der Widmung schickt: ›Geschrieben 1935 in Dänemark für Lion Feuchtwanger, der sich in Frankreich aufhielt.‹«7 Diese Mitteilungen sind in mehrfacher Hinsicht unzutreffend. Belegbar ist, dass Brecht Feuchtwangers 51. Geburtstag überhaupt nicht zur Kenntnis genommen hat. In einem Schreiben vom 10. August 1935 teilte Feuchtwanger Brecht mit: »ich bin gerade mit dem zweiten ›Josephus‹8 fertig, und dies ist seit Wochen der erste Privatbrief, den ich schreibe.«9 Hätte Brecht ihm das Gedicht geschickt, wie behauptet, wäre Feuchtwanger am 10. August (knapp fünf Wochen nach seinem Geburtstag) mit Sicherheit darauf eingegangen. Im Übrigen ist eine für Feuchtwanger angefertigte Niederschrift des Gedichts nicht überliefert; von einer »Widmung« kann insofern nicht die Rede sein. Die Formulierung, die Hecht präsentiert, ist auch als Widmung offensichtlich vollkommen ungeeignet. Warum sollte Brecht dem Adressaten in einer Widmung mitteilen, wo dieser sich aufhielt? Dies mit der Jahresangabe 1935, und das Ganze im Perfekt? Kommt hinzu, dass der von Hecht zitierte Titel Und in eurem Lande? 1935 noch nicht existierte; er entstand erst Jahre später in einem anderen Kontext, wie zu zeigen sein wird. Hechts Quelle für die angebliche Widmung ist das typierte Blatt BBA 43/9. Im Bestandsverzeichnis des Bertolt-Brecht-Archivs10, das Überlieferungsträger von 5 Den Begriff »Asphaltliteratur« hatte Brecht bereits Mitte/Ende Mai 1934 in einem witzigen Schreiben an George Grosz verwendet (vgl. ebd., S. 417). 6 Vgl. von Hofe, Harold / Washburn, Sigrid (Hg.): Lion Feuchtwanger. Briefwechsel mit Freunden Bd. I, S. 26. 7 Hecht, Werner: Brecht-Chronik 1898–1956. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1997, S. 452f. 8 Gemeint ist der Roman Die Söhne, 2. Teil der Josephus-Trilogie. 9 Hofe, Harold von / Washburn, Sigrid (Hg.): Lion Feuchtwanger. Briefwechsel mit Freunden, S. 31. 10 Bertolt-Brecht-Archiv (Hg.): Bestandsverzeichnis des literarischen Nachlasses. Bearbeitet von Herta Ramthun. 4 Bde. Berlin und Weimar: Aufbau 1969–1973.
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Gedichten in der Regel in chronologischer Abfolge darstellt,11 wird das Blatt an dritter Stelle beschrieben;12 es folgen acht weitere Überlieferungsträger. Für den Benutzer des Verzeichnisses ist diese Platzierung höchst irreführend, denn bei dem Blatt handelt es sich offensichtlich um die Vorlage für einen Abdruck des Gedichts aus dem Jahr 1954, von dem noch die Rede sein wird. Man sollte es also nicht auf Platz 3, sondern am Ende der kleinen Liste erwarten. Auf dem Blatt findet sich über dem Text des Gedichts (ebenfalls typiert) der (von Hecht als Widmung zitierte) Vermerk: »Geschrieben 1935 ˹in Dänemark˺13 für Lion Feuchtwanger, der sich in Frankreich aufhielt.« Obwohl das Typoskript nicht von Brecht stammt, dürfte der Vermerk auf seine Mitteilung zurückgehen. Es ist der einzige einigermaßen konkrete Hinweis auf die Entstehung des Gedichts. Aus der ersten Hälfte des Jahres 1935 ist nur eine kleine Anzahl von Briefen überliefert, die Brecht und Feuchtwanger gewechselt haben. Brecht hielt sich von Mitte März bis Mitte Mai des Jahres in Moskau auf. Feuchtwanger plante ebenfalls eine Reise in die Sowjetunion, die jedoch mehrfach verschoben wurde. Im Sommer nahmen beide am I. Internationalen Schriftstellerkongress zur Verteidigung der Kultur teil, der vom 21. bis 25. Juni 1935 in Paris stattfand. Brecht hielt am 23. Juni seine Rede Eine notwendige Feststellung zum Kampf gegen die Barbarei. (GBA 22.1, 141–146) Die Rede kreiste um die Frage nach den Ursachen der Barbarei, der Rohheit in Nazi-Deutschland. Brecht hatte sich im Jahr zuvor bereits mit dem Satz »Gemeinnutz geht vor Eigennutz« beschäftigt, einem der populärsten Sätze der nazistischen Propaganda. (GBA 22.1, 58f.)14 Darauf nahm er in seiner Rede Bezug. Ich selbst glaube nicht an die Roheit15 um der Roheit willen. Man muß die Menschheit in Schutz nehmen gegen die Beschuldigung, sie wäre auch roh, wenn dies nicht ein so gutes Geschäft wäre; es ist eine geistreiche Umbiegung meines Freundes Feuchtwanger, wenn er sagt: Gemeinheit geht vor Eigennutz, aber er hat nicht recht. Die Roheit kommt nicht von der Roheit, sondern von den Geschäften, die ohne sie nicht mehr gemacht werden können. (GBA 22.1, 144)
Brechts These lautete: »Eine große Lehre […] sagt, daß die Wurzel aller Übel unsere Eigentumsverhältnisse sind.« (GBA 22.1, 145) Seine Rede endete mit dem pathetischen Aufruf: »Kameraden, sprechen wir von den Eigentumsverhältnissen!« (GBA 22.1, 146) 11 Dies trotz der Mitteilung, die »Abfolge der zu einem Werktitel gehörigen Materialien« sei »nicht als zeitlich geordnet anzusehen«. Bertolt-Brecht-Archiv (Hg.): Bestandsverzeichnis des literarischen Nachlasses, S. VIII. 12 Ebd., Bd. 2, S. 458, lfd. Nr. 9243. 13 Über der Zeile ergänzt. 14 Vgl. dazu ebd., Bd. 22.2, S. 899–901. 15 Brechts Schreibung »Roheit« gilt heute als veraltet.
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Brecht machte kein Hehl aus seiner Kritik am Pariser Kongress insgesamt und an den Haltungen vieler Teilnehmer, die er als spießbürgerlich einschätzte. Seine sarkastischen Kommentare sind bekannt, etwa im Brief an George Grosz von Ende Juni/Anfang Juli 1935 (GBA 28, 510); bekannt ist auch, dass er auf dem Kongress »Material für seinen Tuiroman« sammelte.16 Feuchtwanger, der erst am 24. Juni nach Paris kam, hatte Brechts Rede zwar nicht gehört, aber dessen Polemik blieb ihm nicht verborgen. Ob Brecht ihm sein Redemanuskript zur Lektüre überlassen hatte oder ob Feuchtwanger vom Inhalt nur gesprächsweise erfuhr, etwa auch die Tatsache, dass sein Name der einzige war, den Brecht in seiner Rede erwähnt hatte, ist nicht bekannt. Jedenfalls notierte er am 24. Juni in sein Tagebuch: »Brecht da. Im Grunde sehr frech.«17 Dem freundschaftlichen Verhältnis beider Autoren tat diese Episode allerdings keinen Abbruch. Wenn Feuchtwanger, der Brechts Marxismus nie ganz ernstgenommen hat, in seinem Brief an Brecht vom 10. August 1935 (nicht ohne Ironie) bemerkte: »Sie wissen, Brecht, wie sehr ich daran Anteil nehme, in welcher Form sich jeweils Ihr Marxismus präsentiert«18, so war dies sicherlich auch eine Replik auf Brechts Pariser Rede. In dieser Rede gibt es eine Formulierung, die Brecht am Schluss des Gedichts, leicht modifiziert, wieder aufnahm: »Die Güte […] braucht eine Leibwache, aber sie findet keine.« (GBA 22.1, 145,8f.) Die drei letzten Verse des Gedichts lauten: »Wer […] die Wahrheit sagt / Der braucht eine Leibwache / Aber er findet keine.« Liest man das Gedicht nicht nur mit Blick auf identische oder ähnliche Formulierungen, sondern auch im Hinblick auf positive Werte oder Verhaltensweisen, die Ideale wie Güte und Hilfsbereitschaft zum Ausdruck bringen,19 deren Korrumpierung unter den Bedingungen der Nazi-Diktatur zur Regel wurde, dann wird deutlich, dass Brecht sie in seiner Rede allesamt vorformuliert hatte. Wenn es im Gedicht heißt, der Gute, »der Lautere« brauche Glück (1. Strophe), denn »Wer niemanden schädigt«, komme »unter die Räder«, während »die Vermögen […] durch Schurkerei erworben« werden (2. Strophe), und wenn der erste Vers in Strophe 4 lautet: »Wer die Unwahrheit sagt, wird auf Händen getragen«, so ist in Brechts Rede sinngemäß zu lesen: »in den meisten Ländern der Erde« herrschten gesellschaftliche Zustände, in denen die Verbrechen aller Art hoch prämiert werden und die Tugenden viel kosten. ›Der gute Mensch ist wehrlos, und der Wehrlose wird nie16 Vgl. Hecht, Werner: Brecht-Chronik 1898–1956, S. 450f. Dort weitere Belege. 17 Holdack, Nele u. a. (Hg.): Lion Feuchtwanger. Ein möglichst intensives Leben. Die Tagebücher. Berlin: Aufbau 2018, S. 372. 18 Hofe, Harold von / Washburn, Sigrid (Hg.): Lion Feuchtwanger. Briefwechsel mit Freunden. Bd. I, S. 32. 19 In der Rede nennt Brecht mit Blick auf die Geschichte »die unvergänglichen Begriffe Freiheitsliebe, Würde, Gerechtigkeit, deren Wirkung historisch verbürgt« sei (ebd., S. 143,30–32).
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dergeknüppelt, aber mit der Roheit kann man alles haben. Die Gemeinheit richtet sich ein auf 10000 Jahre Dauer. Die Güte dagegen braucht eine Leibwache, aber sie findet keine.‹ (GBA 22.1, 145,3–9)20
»Um zu einem Mittagessen zu kommen«, brauche es außergewöhnlicher »Tapferkeit« (3. Strophe des Gedichts); der Faschismus liefere »kein Essen, da muß er zur Selbstzucht erziehen«. (GBA 22.1, 144, 4f.) »Ohne dem Tod ins Auge zu sehen / Hilft niemand einem Elenden« (3. Strophe); wer sich von Untaten, von Greueln abwende, tut dies, »weil er keine Möglichkeit des Eingreifens sieht. Der Mensch verweilt nicht bei dem Schmerz eines andern, wenn er ihm nicht helfen kann.« (GBA 22.1, 142,38–143,1) Leicht zugespitzt könnte man das Gedicht In unserem Lande als poetische Transformation der Pariser Rede interpretieren; seine Tendenz jedenfalls weist in dieselbe Richtung. Selbstverständlich fehlt im Gedicht die politische These der Rede; da das Gedicht für Feuchtwanger verfasst war, konnte sie entfallen, zumal der Adressat, wie zitiert, seinen ironischen Kommentar dazu bereits abgegeben hatte. Was den Zeitpunkt der Entstehung des Gedichts anbelangt, um den es hier zunächst ging, findet sich bestätigt, dass es kaum vor dem Spätsommer 1935 entstanden sein kann. Am 7. Oktober 1935 reiste Brecht nach New York zur Inszenierung der Mutter durch die Theatre Union. Es war seine erste USA-Reise, von der er Mitte Februar 1936 zurückkehrte. Hatte er Feuchtwanger das Gedicht noch vor Antritt der Reise oder eventuell aus New York zugesandt? Im ersten Überlieferungsträger (BBA 352/57) lauten die beiden ersten Verse des Gedichts (vor der handschriftlichen Einfügung einer neuen Zeile): »in unserem lande zur jahreswende / müssen wir den guten glück wünschen.« So kann nicht völlig ausgeschlossen werden, dass es sich bei dem Gedicht tatsächlich um einen Gruß »zur Jahreswende« handelte. Für die weitere Überlieferungsgeschichte war entscheidend, dass das Gedicht seit etwa 1936/37 in Lyriksammlungen einbezogen wurde und 1939 der erste Abdruck zustande kam. Damit war ein tiefgreifender Wechsel der Perspektive verbunden: Das Gedicht verlor den ursprünglich persönlichen Charakter; Adressat war nicht mehr eine bestimmte, dem Autor vertraute Person, sondern eine anonyme Leserschaft. Der neue Kontext hatte Konsequenzen für das Gedicht, zunächst für den Titel. Hatte Brecht auf dem ersten überlieferten Blatt (BBA 352/ 57) handschriftlich den Titel »in unserem lande« nachgetragen, der sich dann auch – ebenfalls nachgetragen – auf den beiden erwähnten Durchschlägen einer von Brecht typierten (nicht überlieferten) Abschrift fand,21 so taucht auf dem von Margarete Steffin typierten Blatt (BBA 425/121), handschriftlich von ihr hinzu20 Das Zitat im Zitat ist wohl als Selbstzitat zu verstehen. 21 BBA 75/86 und 352/58.
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gefügt, zum ersten Mal der Titel Und in eurem Lande? auf.22 Es ist eine Frage, gerichtet an ein Lesepublikum, das zum Nachdenken über die Situation im eigenen Lande aufgefordert wird. Das Blatt, von dem ein Durchschlag existiert,23 gehört zu einer geplanten Sammlung Gedichte im Exil, aus der 1939 die Svendborger Gedichte hervorgingen.24 Die Svendborger Gedichte waren ursprünglich als Teil des Bandes IV der Gesammelten Werke gedacht, die Wieland Herzfelde, der in Prag im Exil lebende Verleger des Malik-Verlags, vorbereitete.25 Nach dem Münchner Abkommen vom Ende September 1938, das von der Tschechoslowakei die Abtretung des »Sudetenlandes« an Deutschland beinhaltete und dem der Einmarsch deutscher Truppen unmittelbar folgte, musste Herzfelde Prag kurzfristig verlassen, um nach London zu gelangen. So stand der »Prager Satz« des in Vorbereitung befindlichen Bandes IV nicht mehr zur Verfügung. Im April 1939 ergab sich die Möglichkeit, die Svendborger Gedichte in Kopenhagen drucken zu lassen. Brecht, der bereits seinen Umzug nach Schweden vorbereitete, hatte Margarete Steffin die Bogenkorrektur des »Prager Satzes« zurückgelassen. Für die Rekonstruktion der Textgeschichte des Gedichts ist es angesichts der Umstände ein Glücksfall zu nennen, dass sich dieser Korrekturabzug erhalten hat. Brechts Gedicht ist auf Blatt BBA 999/105 (pag. 122) überliefert. Das Blatt belegt, dass das Originaltyposkript, das zu Herzfelde nach Prag gegangen war, eine erneute Abschrift des Blattes BBA 425/121 (bzw. des Durchschlags BBA 354/74) gewesen sein muss. Von dieser Abschrift sind zwei Durchschläge überliefert: BBA 1971/131 und BBA 1971/263.26 Auf beiden Blättern wurde der Titel Und in eurem Lande? nachgetragen: auf BBA 1971/131 typiert, auf BBA 1971/263 handschriftlich. 22 Textgrundlage war BBA 75/86, ohne den ursprünglichen Titel. Eine zunächst vorgenommene Streichung in den beiden ersten Versen des Gedichts (»zur Jahreswende […] Tag der Geburt«) wurde wieder rückgängig gemacht. 23 BBA 354/74, ohne Titel und die auf BBA 425/121 vorgenommenen handschriftlichen Eingriffe. 24 Am 30. Juni 1937 hatte Feuchtwanger in seinem Brief an Brecht mitgeteilt: »Die Gedichte sind gestern gekommen, ich habe gleich hineingeschaut, einen großen Teil kenne ich ja bereits. Sie wissen, wie sehr ich Ihre Gedichte liebe, und vieles von dem, was in dem kleinen Band steht, gehört zum Besten, was Sie gemacht haben.« (Hofe, Harold von / Washburn, Sigrid (Hg.): Lion Feuchtwanger. Briefwechsel mit Freunden, Bd. I, S. 41.) Ob es sich um das Manuskript der Svendborger Gedichte handelte, wie die Herausgeber vermuten (ebd., S. 441), oder nicht eher um ein gebundenes Typoskript der Gedichte im Exil, lässt sich nicht entscheiden. 25 Der Band, der die Gesammelten Gedichte von der Hauspostille bis zu den Svendborger Gedichten enthalten sollte, kam nicht zustande. Zur Entstehung der Svendborger Gedichte vgl. den Artikel von Jeske, Wolfgang. In: Knopf, Jan (Hg.): Brecht Handbuch. Bd. 2. Stuttgart, Weimar: Metzler 2001, S. 325–342, hier S. 325–331. 26 Es handelt sich um Kopien der Originaldurchschläge, die sich im Ruth-Berlau-Archiv befinden. In beiden Fällen wurde die Großschreibung konsequent durchgeführt.
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Für den Text des Gedichts hatte der Verlust des »Prager Satzes« also keine Konsequenzen. Auf der Grundlage des Korrekturabzugs richtete Ruth Berlau einen neuen Satz für die Universal Trykkeriet ein, den »Kopenhagener Satz«, der »in der Gestaltung mehr an den Versuche-Heften orientiert [war] als an der der Malik-Ausgabe.«27 Von Ruth Berlau vorfinanziert, konnte das 87 Textseiten umfassende Bändchen der Svendborger Gedichte im Mai 1939 gedruckt und gebunden werden; gegen Ende Juni lag es vor. Brechts Gedicht fand sich dort (S. 82f.) unter dem Titel Und in eurem Lande?28 Obwohl Herzfelde sich um diese Zeit »in London bereits auf die Schiffsreise Richtung USA vorbereitete« und keine Gelegenheit mehr fand, den Malik-Verlag in London förmlich zu etablieren,29 erschienen die Svendborger Gedichte unter dem Signet »1939 / Malik-Verlag London«. Auf der Rückseite des Titelblatts hieß es ausführlicher: »Copyright 1939 / by / Malik-Verlag / Publishing Company, London W.C. 1 / Wieland Herzfelde (German) / Mai 1939 / Vordruck aus / Brecht: Gesammelte Werke, Band IV / […] / Druck von / Universal Trykkeriet / Rigensgade 21, Köbenhavn K / Printed in Denmark.« Am 15. Juli bedankte sich Feuchtwanger bei Brecht »herzlich für die ›Svendborger Gedichte‹«; er habe sie mehrmals gelesen; einige darunter sind herrlich und werden bestimmt bleiben, ein paar sind etwas zu billig, und ich hätte sie nicht aufgenommen. Aber es werden ja bestimmt noch viele Anthologien Ihrer Gedichte erscheinen, und ich würde mich freuen, einmal mit Ihnen ausführlich über die Gesichtspunkte zu reden, nach denen solche Sammlungen zuzuordnen wären.30
Am 1. September 1939, zweieinhalb Monate nach Erscheinen der Svendborger Gedichte, begann mit dem deutschen Überfall auf Polen der Zweite Weltkrieg. Damit verschärfte sich die Situation nicht nur für deutsche Exilanten im bislang sicheren Ausland erheblich. Brecht hatte rechtzeitig vor der Besetzung Dänemarks Svendborg verlassen und sich zunächst in das »neutrale« Schweden begeben, das er unter den sich entwickelnden Kriegsereignissen keineswegs als sicheren Zufluchtsort für sich, seine Familie und für seine beiden Begleiterinnen
27 Jeske, Wolfgang: Artikel Svendborger Gedichte. In: Knopf, Jan (Hg.): Brecht Handbuch. Bd. 2, S. 330. 28 Anzumerken ist hier, dass Vers 11, der in den vorangehenden Überlieferungsträgern »Braucht es die Tapferkeit« heißt, nun »Braucht es der Tapferkeit« lautet. Auf wen diese Varianz zurückgeht, ist nicht zu klären. Die fünf folgenden Belege zitieren den Text nach dem Druck der Svendborger Gedichte. 29 Vgl. Jeske, Wolfgang: Artikel Svendborger Gedichte, S. 329. 30 Haarmann, Hermann / Hesse, Christoph (Hg.): Briefe an Bertolt Brecht im Exil (1933–1949). Berlin, Boston: de Gruyter 2014. 2. Bd., S. 971. Das Antwortschreiben Brechts ist nicht überliefert; Feuchtwanger nahm am 16. August 1939 darauf Bezug (Hofe, Harold von / Washburn, Sigrid (Hg.): Lion Feuchtwanger. Briefwechsel mit Freunden. Bd. I, S. 44).
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Margarete Steffin und Ruth Berlau betrachten konnte. Er suchte den Weg über Finnland und die Sowjetunion in die USA. Mitte Mai 1941 gelangten sie von Helsinki aus über Leningrad nach Moskau. Nach einer Zwischenstation dort begann am 30. Mai die zehntägige Reise mit dem Transsibirischen Express nach Wladiwostok, wo sie am 10. Juni eintrafen. Am 13. Juni (neun Tage vor dem Überfall der Hitler-Armee auf die Sowjetunion) konnten sie in Wladiwostok ein schwedisches Frachtschiff besteigen, das sie nach einem Zwischenaufenthalt in Manila schließlich am 21. Juli nach San Pedro, dem Hafen von Los Angeles, brachte. Die Reise in das sichere Exil war allerdings mit einem bitteren Verlust verbunden: Die schwerkranke Margarete Steffin musste in Moskau zurückbleiben. Am 4. Juni erhielt Brecht im Zug nach Wladiwostok telegraphisch die Mitteilung, dass sie verstorben sei. Unmittelbar betroffen vom Beginn des Krieges war Lion Feuchtwanger. Die französischen Behörden begannen Anfang September 1939 umgehend, Männer deutscher und österreichischer Abstammung als »unerwünschte Ausländer« (étrangers indésirables) zu internieren. Feuchtwanger wurde am 23. September zusammen mit anderen Betroffenen in das KZ-ähnliche Lager Les Milles in der Nähe von Aix-en-Provence eingeliefert, wie er Brecht am 4. Oktober 1939 mitteilte. Er hoffe immerhin, so schrieb er, »Ende des Jahres [1939] in Amerika zu sein.«31 Mit der Niederlage Frankreichs, der Besetzung weiter Teile des Landes durch deutsche Truppen und der Etablierung des Vichy-Regimes im Juni 1940 verschlechterte sich Feuchtwangers Lage noch einmal dramatisch, obwohl er sich im unbesetzten Teil Frankreichs befand. Erst im September 1940 gelang ihm auf abenteuerliche Weise mit Hilfe von Angestellten des amerikanischen Konsulats in Marseille die Flucht aus dem Internierungslager. Zusammen mit seiner Frau gelangte er über Spanien nach Lissabon und von dort per Schiff in die USA.32 Brecht hat das Gedicht In unserem Lande noch mehrfach verwendet, dem jeweiligen Zweck entsprechend in leicht variierter Gestalt. Der nächste Adressat war der österreichische Schriftsteller, Film- und Theaterregisseur und Übersetzer Berthold Viertel. Brecht hatte ihn Anfang der 1920er Jahre in Berlin kennengelernt. Als er 1922 die Regie von Arnolt Bronnens Stück Vatermord nach Konflikten mit den Schauspielern niederlegte, übernahm Viertel die Inszenierung und führte sie zum Erfolg. Viertel emigrierte 1933 nach London, später in die USA. Dort ergaben sich in den 1940er Jahren intensive Kontakte zwischen Brecht, der inzwischen in Santa Monica in Kalifornien lebte, und Viertel. Viertel brachte im Mai 1942 in New York die amerikanische Erstaufführung von Szenen aus 31 Hofe, Harold von / Washburn, Sigrid (Hg.): Lion Feuchtwanger. Briefwechsel mit Freunden. Bd. I, S. 45. 32 Eine detaillierte Darstellung dieser Monate bietet Wilhelm von Sternburg: Lion Feuchtwanger. Die Biographie. Berlin: Aufbau 2014, S. 406–417.
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Brechts Stück Furcht und Elend des III. Reiches heraus. Anlässlich des 58. Geburtstags von Viertel am 28. Juni 1943 sandte Brecht dem Jubilar das Gedicht In unserem Lande in handschriftlicher Reinschrift. Das Blatt ist im Nachlass Viertels im Deutschen Literaturarchiv in Marbach am Neckar überliefert.33 Was Brecht bot, war keine reine Abschrift der Version der Svendborger Gedichte. Er war offensichtlich bemüht, dem Gedicht eine neue, persönliche Gestalt zu verleihen. Dies war möglich, ohne dass auch nur ein einziges Wort korrigiert oder gestrichen werden musste (sieht man von der konsequenten Kleinschreibung ab, zu der Brecht hier zurückkehrte), vielmehr allein durch die Zusammenführung von Versen an drei Stellen und die Verbindung der Strophen 2 und 3 zu einer Strophe. Da der Schreibende wie der Adressat deutsche Exilanten waren, war auch der Beginn des Gedichts unmissverständlich; es bedurfte weder eines Titels noch einer Erläuterung. Brechts Textversion lautet: in unserem lande zur jahreswende und wenn eine arbeit fertig ist und zum tag der geburt müssen wir dem guten glück wünschen denn in unserem lande der lautere braucht glück. wer niemand schädigt kommt in unserem lande unter die räder aber die vermögen werden nur durch schurkerei erworben. um zu einem mittagessen zu kommen braucht es der tapferkeit, mit der sonst reiche gegründet werden. ohne dem tod ins auge zu sehen hilft niemand einem elenden. wer die unwahrheit sagt, wird auf händen getragen wer dagegen die wahrheit sagt, der braucht eine leibwache aber er findet keine. bertolt viertel zum 28.6.43 Santa Monica
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Eine nur leicht abweichende Version des Textes aus den Svendborger Gedichten schrieb Brecht, ebenfalls in handschriftlicher Reinschrift (und in konsequenter Kleinschreibung), ein Jahr später für Lion Feuchtwanger zu dessen 60. Geburts-
33 Vgl. den Faksimiledruck des Brecht-Autographs, eingelegt in ein Faltblatt mit der Transkription der Handschrift und einigen Erläuterungen: Bertolt Brecht: Geburtstagsgedicht für Berthold Viertel zum 28. Juni 1943. Schiller-Nationalmuseum Marbach am Neckar. Faksimiledruck Nr. 17, 1973. »Die Handschrift des Gedichtes wird zur Erinnerung an den 75. Geburtstag Bertolt Brechts (geb. 10. 2. 1898) und an den 20. Todestag von Berthold Viertel (gest. 24. 9. 1953) als Faksimile in Originalgröße wiedergegeben.« Eine 2. Auflage erschien 1978.
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tag.34 Feuchtwanger lebte inzwischen wie Brecht im Süden Kaliforniens, in Pacific Palisades. Freunde Feuchtwangers hatten Brechts Gedicht mit zahlreichen weiteren Geburtstagsgrüßen zu einer Broschüre zusammengebunden, die dem Jubilar überreicht wurde. Im Unterschied zu der für Viertel geschriebenen Fassung war der Text und in eurem lande? überschrieben, mit dem Titel der Version in den Svendborger Gedichten.35 Die Strophen 2 und 3 waren zu einer Strophe verbunden. Die Widmung lautete: »für lion feuchtwanger / zum 7. Juli 44 / bertolt brecht«. Warum hat Brecht wohl das Gedicht mit dem Titel überschrieben, der bislang den Svendborger Gedichten, einem publizierten Druck, vorbehalten war? Möglicherweise hat er die erwähnte Broschüre als eine Art von Publikation betrachtet, gedacht nicht nur für den Jubilar, sondern auch für ein lesendes Publikum. Brecht verließ am 31. Oktober 1947 die USA, am Tag nach seinem Verhör im Kongressausschuss für unamerikanische Umtriebe, lebte zunächst in der Schweiz und ging im Oktober 1948 nach Ost-Berlin, während Feuchtwanger in den USA blieb. Mit dem Ende des Krieges und der Nazi-Diktatur in Deutschland hatten sich die Voraussetzungen für die Rezeption von Literatur grundlegend verändert. Durch die Gründung zweier, in ihrer politischen und Sozialstruktur diametral entgegengesetzter deutscher Staaten im September bzw. Oktober 1949 wurde diese Situation, das eskalierende Konkurrenzverhältnis in der Mitte Europas als beständiges Gefahrenpotential, auf Jahrzehnte festgeschrieben. Was Brechts Gedicht im Jahre 1935 zum Ausdruck gebracht hatte, war nun Geschichte. Gleichwohl kam das Gedicht, das Feuchtwanger (soweit bekannt) nie erwähnt, zweifellos aber wahrgenommen hat, auch nach Kriegsende gelegentlich noch zur Geltung. Unter dem Titel Gedichte im Exil plante Brecht 1948 zusammen mit Wieland Herzfelde eine umfassende Sammlung seiner Gedichte aus der Zeit des Exils, zunächst für den Aurora-Verlag, New York. Als dieser die Produktion einstellte, ging das Projekt an den Berliner Aufbau-Verlag und sollte gleichzeitig bei Desch in München erscheinen.36 Herzfelde, der noch in den USA lebte, bat Brecht am 27. Mai 1948, dem Verlag, der den Band bereits angekündigt hatte, die noch fehlenden Manuskripte zur Verfügung zu stellen und eventuelle Textkorrekturen vorzunehmen, und sandte ihm das vorgesehene Inhaltsverzeichnis.37 34 Das Original der Niederschrift befindet sich in der Feuchtwanger Memorial Library, University of Southern California Libraries in Los Angeles. Im BBA existiert eine Fotografie des Blatts: BBA Z 17/18. 35 In Vers 12 gibt es die Varianz »ins auge zu schauen« für »ins Auge zu sehen« der Svendborger Fassung; sie kommt in der Textgeschichte des Gedichts sonst nicht vor. 36 Zur Entstehung des Projekts vgl. GBA 12, 456. 37 Haarmann, Hermann / Hesse, Christoph (Hg.): Briefe an Bertolt Brecht im Exil (1933–1949). 3. Bd., S. 1697–1701.
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Das Gedicht Und in eurem Lande? war für den 2. Teil der Sammlung (»1935-1939. Svendborger Gedichte«) vorgesehen.38 Das Projekt war schon weit gediehen, es existierte bereits eine auf den 16. Oktober 1948 datierte Fahnenkorrektur.39 Gegen Ende Oktober zog Brecht seine Zustimmung zur Publikation jedoch zurück. Der Aufbau-Verlag teilt Wieland Herzfelde sowie dem Kurt Desch Verlag in ähnlich lautenden Schreiben mit: »Brecht ist der Ansicht, daß die Gedichtsammlung des Aurora-Verlags speziell für New York zusammengestellt wurde, aber für Deutschland nichts taugt. Er ersucht uns deshalb, diese Ausgabe, die leider schon gesetzt ist, nicht herauszubringen. Statt dessen plant er, seine gesammelten Gedichte unter seiner Redaktion herauszugeben.«40
Der Plan wurde in dieser Form nicht realisiert. Brecht überließ Herzfelde, der 1949 nach Berlin übergesiedelt war, wenig später die Herausgabe der Sammlung Hundert Gedichte, die 1951 (ohne Nennung des Herausgebers) im Aufbau-Verlag in Berlin erschien und eine nicht zu überschätzende Bedeutung für die Rezeption der Lyrik Brechts in der DDR hatte. Die Auswahl beschränkte sich nicht auf die Zeit des Exils, sondern bezog frühe Gedichte seit der Hauspostille ein. Der Band ist im gegenwärtigen Zusammenhang nur insofern von Interesse, als Brechts Gedicht dort nicht aufgenommen war. Der Grund leuchtet unmittelbar ein: Das Gedicht war im Jahre 1935 an eine Persönlichkeit gerichtet (Feuchtwanger), die wie der Autor Brecht denselben Blick auf das Land richtete, das beide 1933 verlassen mussten. Der Beginn des Gedichts (»In unserem Lande …«) und die Frage, die im späteren Titel Und in eurem Lande? steckte, hätten beim Lesepublikum der DDR zwangsläufig zu unerwünschten Irritationen führen müssen. Die Hundert Gedichte aber sollten nur Texte bringen, die keiner ausführlichen Erläuterung bedurften, um von den Lesern richtig verstanden zu werden.41 Brechts Gedicht wurde jedoch auch nach Kriegsende – erneut im Zusammenhang mit einem Geburtstag Feuchtwangers – noch zweimal abgedruckt. Allerdings nicht zu dessen 65. Geburtstag im Jahre 1949. Für diesen Anlass lieferte Brecht – aus Berlin an den Jubilar in den USA – einen neu verfassten Text:
38 Vgl. das Inhaltsverzeichnis in GBA, Bd. 12, 335–338. Es existieren zwei typierte Abschriften des Gedichts, die vermutlich im Zusammenhang mit der Vorbereitung dieses Projekts entstanden: BBA 1533/30 (überschrieben: Brecht / Svendborger Gedichte) und BBA 119/48 (pag. 103). 39 Gegenüber der Fassung in den Svendborger Gedichten zeigt das Gedicht nur eine Varianz: Vers 11: »Staaten« an Stelle von »Reiche« (BBA 604/68). Der Grund dieser Korrektur war wohl der hypertrophe Gebrauch des Begriffs »Reich« in der NS-Propaganda. 40 Aufbau-Verlag an Herzfelde am 26. Oktober 1948: GBA 12, 456. 41 Vgl. die Gedanken »zur Herausgabe der Gedichtauswahl«, die Brecht im Mai 1950 in einem Schreiben an Herzfelde formulierte (ebd., Bd. 30, 26f.).
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den Gruß an Feuchtwanger in der Juni-Nummer der Zeitschrift »Ost und West42, die auch einen Beitrag von Heinrich Mann brachte.43 In einem Schreiben vom 15. August 1949 bedankte sich Feuchtwanger in ungewöhnlich herzlichem Ton: »Mein lieber Brecht, gerade bekomme ich ›Ost und West‹ mit dem kleinen Artikel, den Sie zu meinem Geburtstag geschrieben haben. Es hat mir sehr wohlgetan, daß Sie so gescheite und freundschaftliche Worte für mich fanden.«44 Feuchtwangers 70. Geburtstag am 7. Juli 1954 war für Brecht erneut Anlass, sich an den Jubilar zu wenden. »In alter Freundschaft / Brecht« kabelte er aus Berlin nach Pacific Palisades. (GBA 30, 262) Beim Aufbau-Verlag erschien aus diesem Anlass der kleine, 163 Seiten umfassende Band Lion Feuchtwanger zum 70. Geburtstag. Worte seiner Freunde (Berlin 1954). Er brachte Beiträge u. a. von Anna Seghers, Thomas und Heinrich Mann, Johannes R. Becher, Georg Lukács, Ernst Bloch, Hanns Eisler, Günther Weisenborn und Arnold Zweig, daneben wieder eine kleine Auswahl aus Schriften und Briefen Feuchtwangers. Es war eine Sammlung überwiegend bereits veröffentlichter Texte, keine Festschrift im herkömmlichen Sinne, in der man eher Originalbeiträge erwarten würde. Brechts Gedicht, auf S. 45 abgedruckt, war mit dem Hinweis versehen: »Geschrieben 1935 in Dänemark für Lion Feuchtwanger, der sich in Frankreich aufhielt«. (Vgl. GBA 12, 387)45 Vorlage für den Abdruck war das eingangs erwähnte Blatt BBA 43/9.46 Wie dort angemerkt, enthält das Zitat, das den Adressaten und das Jahr 1935 nennt, den einzigen verlässlichen Hinweis auf die Entstehung des Gedichts. Allerdings zementiert es auch eine Ungenauigkeit, die sich 42 Kantorowicz, Alfred (Hg.): »Ost und West. Beiträge zu kulturellen und politischen Fragen der Zeit«. 3. Jg. Nr. 6, 1949, S. 21. Die Zeitschrift erschien seit Juli 1947 in Berlin und stellte im Dezember 1949 ihr Erscheinen ein. Brechts Text auch in der GBA 23, 113. 43 Der Roman, Typ Feuchtwanger, in: »Ost und West«, 3. Jg. Nr. 6, 1949, S. 13–20. H. Mann hatte Feuchtwanger den Aufsatz am 12. Mai 1949 mit der Bitte um Durchsicht zugeschickt (Hofe, Harold von / Washburn, Sigrid (Hg.): Lion Feuchtwanger. Briefwechsel mit Freunden, Bd. I, S. 349). 44 Hofe, Harold von / Washburn, Sigrid (Hg.): Lion Feuchtwanger. Briefwechsel mit Freunden, Bd. I, S. 81f. Brechts Gruß an Feuchtwanger erschien wenig später (ohne Titel) in Kantorowicz, Alfred (Hg.): Lion Feuchtwanger: Auswahl. Rudolstadt: Greifenverlag 1949, S. 360. Der Band brachte 11 Texte Feuchtwangers, dann »Beiträge über Lion Feuchtwanger« von Alfred Kantorowicz, Heinrich Mann, Arnold Zweig, Friedrich Wolf, Bertolt Brecht und Hanns Eisler (S. 325–361). Es handelte sich überwiegend um bereits veröffentlichte Texte. Zu Brechts Text heißt es S. 473: »Brecht schreibt den Text für Lion Feuchtwanger, der am 7. Juli 1949 in den USA seinen 65. Geburtstag begeht.« 45 Andreas Rumler zitiert den Satz, ersetzt aber das Jahr »1935« ohne Kommentar durch »1934« (Exil als geistige Lebensform. Brecht + Feuchtwanger. Ein Arbeitsbündnis. Berlin: Edition A B Fischer 2016, S. 83). 46 Der dort wiedergegebene Text geht nicht auf den Druck der Svendborger Gedichte von 1939, sondern offenbar auf die Bogenkorrektur des »Prager Satzes« aus dem Jahr 1938 (BBA 999/ 105) zurück, wie die Varianz in Vers 11 (»Braucht es die Tapferkeit«) belegt. Dieser Version folgen die beiden Abdrucke des Gedichts aus dem Jahr 1954.
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seitdem in sämtlichen Brecht-Ausgaben wiederfindet. Der zitierte Hinweis steht oberhalb des Titels Und in eurem Lande? Man kann nicht nachdrücklich genug darauf aufmerksam machen, dass dies nicht der Titel des Gedichts war, das Brecht im Jahre 1935 für Feuchtwanger geschrieben hat. Das an Feuchtwanger gesandte Blatt (das wir nicht kennen!) war entweder titellos oder In unserem Lande überschrieben, wie die ersten Überlieferungsträger belegen, keinesfalls mit dem erst Jahre später im Zusammenhang mit den Svendborger Gedichten entstandenen Titel. Ein Titel Und in eurem Lande? hatte im Jahre 1935 weder für den Autor Brecht noch für den Adressaten Feuchtwanger irgendeinen Sinn. Brechts Gedicht erschien 1954 auch in dem umfänglichen (etwa 430 Seiten umfassenden) Band Der Greifenalmanach. Zum 70. Geburtstag Lion Feuchtwangers und zum 35jährigen Bestehen des Greifenverlages47, ein Band, der ebenfalls nicht als Festschrift zu verstehen war, in seiner Anlage eher einer Werbeschrift des Verlags glich. Mehr als 100 Seiten waren Feuchtwanger gewidmet: Lion Feuchtwanger siebzig Jahre: Der Dichter / Die Freunde / Das Werk. Auch hier fanden sich überwiegend bereits veröffentlichte Texte. Es folgte ein Kapitel Oskar Graf / Sechzig Jahre. Die letzten ca. 280 Seiten waren der umfänglichen Dokumentation 35 Jahre Greifenverlag vorbehalten. Im Kapitel Die Freunde in dem Feuchtwanger gewidmeten Abschnitt war auf Seite 35 Brechts Gruß an Lion Feuchtwanger abgedruckt, auf Seite 36 folgte das Gedicht Und in eurem Lande? (unterzeichnet: Bertolt Brecht). Über dem Gedicht hieß es – unmissverständlich, aber (was den Titel anbelangte) keineswegs korrekt: »Als bitteren Gruß aus einem Exil in das andere schrieb Bertolt Brecht 1935 in Dänemark diese Verse für Lion Feuchtwanger, der sich in Frankreich aufhielt.« Die Textgeschichte des Gedichts zu Lebzeiten Brechts und Feuchtwangers war damit beendet. Die Brecht-Werkausgaben brachten seit Anfang der 1960er Jahre das Gedicht ausnahmslos im Rahmen der Sammlung Svendborger Gedichte von 1939. Wenn es in den höchst sparsam kommentierten Bänden eine Erläuterung zum Gedicht gab, dann war es der von Elisabeth Hauptmann stammende Hinweis: »1935 als Gruß an Lion Feuchtwanger geschickt.«48 Wie sämtlichen Werkausgaben ist auch der GBA, die sich als wissenschaftliche Edition versteht, der ursprüngliche Titel des Gedichts aus dem Jahre 1935 nicht bekannt. Im Spätsommer 1954 äußerte Brecht in einem Schreiben an Feuchtwanger: »Das Gedicht in dem Gedenkbüchlein zu Ihrem Geburtstag habe ich drucken lassen, um Sie an die Zeit zu erinnern, als wir Sie immer nach Skandinavien einluden.« (GBA 30, 277) Ein bemerkenswerter Satz! Man muss ihn zweimal 47 Herausgegeben von Karl Dietz, Greifenverlag zu Rudolstadt 1954. 48 Brecht, Bertolt: Gesammelte Werke in acht Bänden. Frankfurt/Main: Suhrkamp Verlag 1967, Bd. IV, S. 15*. Dieselbe Information in den textidentischen Gesammelten Werken, der Werkausgabe Edition Suhrkamp (Bd. 10: Gedichte 3, S. 18*).
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lesen. Kein Hinweis auf den politischen Sinn oder den geschichtlichen Kontext des Gedichts. Brechts Einstellung zu dem Text hatte sich offenbar vollkommen verändert, sein Blick war jetzt ein historischer: eine ferne Erinnerung an vergleichsweise idyllische Momente ihrer Exilzeit Mitte der 1930er Jahre – verglichen mit dem, was wenig später folgte.
Literatur Bertolt-Brecht-Archiv (Hg.): Bestandsverzeichnis des literarischen Nachlasses. Bearbeitet von Herta Ramthun. 4 Bde. Berlin und Weimar: Aufbau-Verlag 1969–1973. Brecht, Bertolt: Hundert Gedichte 1918–1950. Berlin: Aufbau-Verlag 1951. (Der Herausgeber Wieland Herzfelde wird im Band nicht genannt.) Brecht, Bertolt: Gesammelte Werke in acht Bänden. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1967. Brecht, Bertolt: Gesammelte Werke, Werkausgabe Edition Suhrkamp. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1967. Brecht, Bertolt: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe (zitiert: GBA). Herausgegeben von Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei, Klaus-Detlef Müller. Berlin, Weimar, Frankfurt/Main: Aufbau, Suhrkamp 1988–2000. Bertolt Brecht: Geburtstagsgedicht für Berthold Viertel zum 28. Juni 1943. Schiller-Nationalmuseum Marbach am Neckar. Faksimiledruck Nr. 17, 1973. Brecht, Bertolt: Gruß an Feuchtwanger. In: Kantorowicz, Alfred (Hg.): »Ost und West. Beiträge zu kulturellen und politischen Fragen der Zeit«. 3. Jg. Nr. 6, 1949, S. 21. Brecht, Bertolt: »Lieber Feuchtwanger!« In: Mann, Klaus (Hg.): »Die Sammlung. Literarische Monatsschrift« (Amsterdam). 1. Jg. Nr. 11, 1934, S. 566. Dietz, Karl (Hg.): Der Greifenalmanach. Zum 70. Geburtstag Lion Feuchtwangers und zum 35jährigen Bestehen des Greifenverlages. Greifenverlag zu Rudolstadt 1954. Haarmann, Hermann / Hesse, Christoph (Hg.): Briefe an Bertolt Brecht im Exil (1933– 1949). 3 Bde. Berlin/Boston: Walter de Gruyter 2014. Hecht, Werner: Brecht-Chronik 1898–1956. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1997. Hofe, Harold von / Washburn, Sigrid (Hg.): Lion Feuchtwanger. Briefwechsel mit Freunden 1933–1958. 2 Bde. Berlin: Aufbau 1991. Holdack, Nele u. a. (Hg.): Lion Feuchtwanger. Ein möglichst intensives Leben. Die Tagebücher. Berlin: Aufbau 2018. Jeske, Wolfgang: Svendborger Gedichte. In: Knopf, Jan (Hg.): Brecht Handbuch, Bd. 2. Stuttgart, Weimar: Metzler 2001. Kantorowicz, Alfred (Hg.): Lion Feuchtwanger: Auswahl. Rudolstadt: Greifenverlag 1949. Lion Feuchtwanger zum 70. Geburtstag. Worte seiner Freunde (Berlin: Aufbau 1954). (Ein Herausgeber wird im Band nicht genannt.) Rumler, Andreas: Exil als geistige Lebensform. Brecht + Feuchtwanger. Ein Arbeitsbündnis. Berlin: Edition A B Fischer 2016.
Bertolt Brechts (Streit)Gespräche mit Zeitgenoss:innen. Politische und ästhetische Divergenzen und Konvergenzen
Ralf Schnell (Siegen / Berlin)
Montage: Brecht vs. Eisenstein
I »Was für ein Auge dieser Mann hat!« notierte Bertolt Brecht am 27. März 1947 in seinem Journal Amerika, nachdem er Que viva Mexico! gesehen hatte, einen in den Jahren 1930 und 1931 von Sergej Eisenstein in Mexiko konzipierten Film, der, so Brecht, »ohne Eisenstein, aus einem ungeheuren Material zusammengestellt« worden war.1 (GBA 27, 243) Brechts zuvor eher distanziertes Interesse für den russischen Regisseur reichte zu diesem Zeitpunkt bereits mehr als zwei Jahrzehnte zurück – es war von Anfang an durch allerlei Hemmnisse, Einwände und Ablehnungsgesten beeinträchtigt. So konnte der Film-Enthusiast Brecht den am 29. April 1925 in Moskau uraufgeführten Klassiker Panzerkreuzer Potemkin in Berlin zunächst nur in einer zwölf Monate später erstaufgeführten zensierten Fassung sehen. Zudem fand eine persönliche Begegnung des Dramatikers mit dem Regisseur Mitte Mai 1932 in Moskau – Eisenstein war soeben von den Dreharbeiten in Mexiko zurückgekehrt – unter nicht eben glücklichen Umständen statt. Brecht hielt deren symbolischen Gehalt in seinen autobiographischen Notizen mit dem Hinweis fest: »Der Spruch über der Grenze: vorn die Begrüßung der ausländischen Genossen. Hinten: ›Die Revolution bricht alle Grenzen.‹ Literarisierung.« (GBA 26, 297) Wenige Zeilen später folgt der Vermerk: »Am Bahnhof [Sergej] Tretjakow, [Bernhard] Reich, [Asja] Lacis, [Erwin] Piscator […], Fotografen. Wir sind mit Eisenstein gefahren, der krank ist.« (GBA 26, 297) Gemeinsam waren Brecht und Eisenstein zu Gast bei Tretjakow – ein Foto zeigt sie in fast freundschaftlicher Umarmung.2 Doch Eisensteins Bio1 Brechts Werke werden zitiert nach der Ausgabe Brecht, Bertolt: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Herausgegeben von Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei, Klaus-Detlef Müller. Berlin-Weimar: Aufbau, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1988– 2000. – Im laufenden Text: (GBA Band-, Seitenzahl). 2 Vgl. Eisenstein und Deutschland. Texte Briefe Dokumente. Herausgegeben von der Akademie der Künste. Konzeption und Zusammenstellung von Oksana Bulgakowa. Berlin: Akademie der Künste 1988, S. 161.
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graphin Oksana Bulgakowa weiß über diese Begegnung Gegenteiliges zu berichten: »Sie trafen sich zum ersten Mal und verstanden einander nicht.«3 Brecht habe, so Bulgakowa, die »starke emotionale Erschütterung, in die Eisenstein die Zuschauer stürzte […] bedenklich« gefunden: »So würde dem Menschen die Distanz und die analytische Fähigkeit in bezug auf das Dargestellte genommen, der Film vereinnahme ihn total und mache ihn somit manipulierbar – empfänglich für jede Ideologie.« Und last but not least bezeugte Brecht im Entwurf einer Vorrede für eine Lesung im Mai 1935, während seines zweiten Aufenthalts in Moskau, ganz unverhohlen seine Skepsis gegenüber dem Werk des russischen Regisseurs: »Nicht einmal die großen Filme Eisensteins, die eine ungeheure Wirkung ausübten« – das waren zu diesem Zeitpunkt außer Panzerkreuzer Potemkin die Filme Streik (1925), Oktober (1928) und Die Generallinie (1929) –, »veranlaßten mich zum Studium des Marxismus.« (GBA 22.1, 138) Die Frage stellt sich, was Brechts Interesse an Eisenstein über Jahre hinweg wachgehalten, was ihn am Ende zu seiner bewundernden Äußerung veranlasst haben könnte. Dieser Frage soll im Folgenden unter dem besonderen Aspekt der Montage nachgegangen werden – ein Thema, dem Eisenstein einige seiner bedeutendsten Aufsätze widmete4, ein Problem, dem sich Brecht mit Bezug auf Eisenstein immer wieder stellte. Im Vordergrund steht dabei die Frage, welches Licht die scheinbar beiläufige Bemerkung »Was für ein Auge dieser Mann hat!« auf jene Notizen wirft, die Brecht in den 1930er und 1940er Jahren anlässlich von Eisensteins filmischem Œuvre verfasst hat. Sie beziehen sich ausnahmslos auf den Welterfolg Panzerkreuzer Potemkin. Ihr gemeinsamer Ausgangspunkt ist ein zweifacher Fokus: die Schlüsselszene des Films, welche die Meuterei der Matrosen an Bord des Panzerkreuzers gegen das Regime der Schiffsoffiziere zeigt, und die Rezeption dieser Sequenz durch das Filmpublikum. Brecht hat sich mit dessen Reaktion mehrfach auseinandergesetzt, jeweils mit unterschiedlichem Akzent und zunehmend kritischer Wertung.
3 Bulgakowa, Oksana: Sergej Eisenstein. Eine Biographie. Berlin: PotemkinPress 1997, S. 176. 4 Zu Eisensteins filmischer Ästhetik vgl. Aumont, Jaques: Montage Eisenstein. Paris: Albatros 1979. – Zum Montageverfahren generell Möbius, Hanno: Montage und Collage: Literatur, bildende Künste, Film, Fotografie, Musik, Theater bis 1933. München: Fink 2000. – Zu Brechts Verhältnis zum Film vgl. exemplarisch Gersch, Wolfgang: Film bei Brecht. München: Hanser 1975. – Vgl. auch Schnell, Ralf: Medienästhetik. Zu Geschichte und Theorie audiovisueller Wahrnehmungsformen. Stuttgart: J.B. Metzler 2000, S. 51–102.
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II Zur Veranschaulichung hier zunächst ein im Jahr 1932 verfasstes, als Typoskript überliefertes Gedicht mit der Titelzeile Keinen Gedanken verschwendet an. Seine dritte Strophe lautet: [zeilengetreu] Jenes Gefühl der Zustimmung und des Triumphes Das uns bewegt vor den Bildern des Aufruhrs auf dem Panzerkreuzer Potemkin Im Augenblick, wo die Matrosen ihre Peiniger ins Wasser stürzen Ist das gleiche Bild der Zustimmung und des Triumphes wie Vor den Bildern, welche das Überfliegen des Südpols berichten Ich habe erlebt, wie neben mir Selbst die Ausbeuter ergriffen wurden von jener Bewegung der Zustimmung Angesichts der Tat der revolutionären Matrosen: auf solche Weise Beteiligte sich sogar der Abschaum an der unwiderstehlichen Verführung des Möglichen und den strengen Freuden der Logik. So wie die guten Techniker den mit so viel Mühe gebauten und immer verbesserten Wagen Auszufahren wünschen am Ende auf seine höchste Geschwindigkeit Damit herausgeholt werde, was in ihm steckt, und der Bauer den Acker Mit dem verbesserten Pflug zu befahren wünscht, so wie die Brückenbauer Die gigantischen Bagger loslassen wollen auf das Gerölle des Flußbetts Wünschen auch wir auszufahren und zu Ende zu bringen das Werk der Verbesserung Dieses Planeten für die gesamte lebende Menschheit. (GBA 14, 155)
Unverkennbar soll die persönlich formulierte Wahrnehmungsperspektive (»Ich habe erlebt, wie neben mir«) die unerwartete Reaktion des Publikums beglaubigen (»Selbst die Ausbeuter [wurden] ergriffen von jener Bewegung der Zustimmung«). Dem Kinobesucher B. B. erscheint der berichtete Vorgang unerhört (»Beteiligte sich sogar der Abschaum an der unwiderstehlichen Verführung des Möglichen«). Eine Erklärung muss her, die diesen kaum glaublichen Vorgang rational zu fassen vermag. Das autobiographische Ich des Gedichts nutzt Vergleiche, die mit den technischen Fortschritten der Aeronautik – hier: einem Flug des Amerikaners Richard Byrd während einer Antarktis-Expedition im Jahr 1928 – zu tun haben (»Bilder, welche das Überfliegen des Südpols berichten«). Brecht greift intertextuell zurück auf das metaphorische Arsenal futuristischer Manifeste in der Tradition Marinettis (»So wie die guten Techniker den mit so viel Mühe gebauten und immer verbesserten Wagen / Auszufahren wünschen am Ende auf seine höchste Geschwindigkeit«). Kurz: Das Ich dieses Gedichts wappnet sich poetisch gegen die Unwahrscheinlichkeit des Wahrgenommenen, das gleichwohl Wirklichkeit geworden ist. Die »Ausbeuter« reagieren begeistert auf eine filmische Sequenz, die ihren Klasseninteressen entgegensteht, der »Abschaum« der Gesellschaft sieht sich auf der Höhe des Fortschritts – beide Rezeptionsphänomene deutet Brecht als einen quasi objektiven Vorgang, als
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Ausdruck einer sublimen Gesetzmäßigkeit, die der Bearbeitung der Natur durch den Menschen entspricht (»das Werk der Verbesserung / Dieses Planeten für die gesamte lebende Menschheit«). 1935 kommt Brecht auf Eisensteins Film zurück. In Über die Versuche zu einem epischen Theater setzt er sich abermals mit den Reaktionen des bürgerlichen Publikums auseinander. Im Hinblick auf seine eigenen Arbeiten für die Bühne heißt es: »In unseren Stücken hatten die Szenen, in denen das Kollektiv über das Individuum triumphierte, den größten Erfolg.« (GBA 22.1, 122) Der parallele Befund zu Panzerkreuzer Potemkin lautet, en passant formuliert und diskret in Klammern gesetzt: (Ein Teil dieses bürgerlichen Publikums stand auch noch selber im Kampf mit anderen Teilen. Der feudale Grundbesitz stand noch und hatte seine Machtposition in der geheimnisvollen Reichswehr. Kein Wunder, wenn die Bourgeoisie angesichts der Masse der Matrosen, die ihre Offiziere im ›Potemkin‹ über Bord fegte, in Beifall ausbrach! Handels- und Industriekapital konnten sich über die nationale Politik nicht einigen. Die Internationale kennt keine Grenzen.) (BFA 22.1, 123)
Dem Befund von 1932 folgt nun, drei Jahre später, die Analyse. Brecht begnügt sich in der Aufarbeitung der filmischen Sequenz jedoch nicht mehr mit einem metaphorischen Urteil, sondern benutzt jetzt das Vokabular der politischen Ökonomie, um zu seinem Fazit zu kommen: »Die Wahrheit war: das Bürgertum lernte. Es lernte überall, auch bei uns. Es lernte, während das Proletariat lernte.« (GBA 22.1, 123) Vor diesem Hintergrund schlägt er den Bogen zur Aufführung seiner eigenen Werke, mit dem inhaltlichen Akzent auf der »Emanzipation des Individuums im ›Soldaten Schwejk‹ und in anderen Stücken«, mit dem politischen Schwerpunkt auf dem »Aufbau einer echten Masse in der ›Mutter‹« (GBA 22.1, 123). Doch angesichts der Regiearbeit des Filmgenies Eisenstein in der Sowjetunion gesteht der deutsche Dramatiker unumwunden: »Die große entscheidende Wandlung der Masse aus dem Objekt der Politik in das Subjekt konnten wir noch nicht zeigen. Ja, unsere Lage war schwierig.« (GBA 22.1, 123) Am ausführlichsten setzt sich Brecht mit Eisensteins Panzerkreuzer Potemkin vier Jahre später in seinem Fragment gebliebenen Messingkauf auseinander, einem theatertheoretischen Text, an dem er seit 1939 arbeitete. Es ist ›Der Philosoph‹, der hier seine Überlegungen zur Publikationsreaktion auf den Film mitteilt: Vor dem Sowjetfilm ›Panzerkreuzer Potemkin‹ beteiligten sich selbst gewisse Bourgeois an dem Beifall des Proletariats, als die Matrosen ihre Schinder, die Offiziere, über Bord warfen. Dieses Bürgertum hatte, obwohl es von seiner Offizierskaste vor der sozialen Revolution geschützt worden war, doch diese Kaste nicht unter sich gebracht. Es befürchtete und erlitt dauernd ›Übergriffe‹ – gegen sich selber. Gegen den Feudalismus stimmten eben die Bourgeois mit den Proletariern gelegentlich. Und dabei, in solchen Momenten, gerieten diese Bourgeois in einen echten und lustvollen Kontakt mit den
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vorwärtstreibenden Elementen der menschlichen Gesellschaft, den proletarischen Elementen; sie fühlten sich als ein Teil der Menschheit im ganzen, die da gewisse Fragen groß und gewaltig löste. So kann die Kunst doch eine gewisse Einheit ihres Publikums herstellen, das in unserer Zeit in Klassen gespalten ist. (GBA 22.2, 762f.)
Abermals, doch ungleich differenzierter als zuvor konzentriert sich die Analyse jetzt auf den Bereich der politischen Ökonomie und des Klassenkampfes, deutlich wird hier das Interesse an Denken und Handeln, Ideologie und Lernfähigkeit des Bürgertums betont, unmissverständlich die antizipatorische Kraft der Kunst in der politischen Auseinandersetzung hervorgehoben. Brecht hebt ab auf die Widersprüche innerhalb des Bürgertums, darauf, dass die gemeinsamen Interessen von Bourgeoisie und Proletariat sich als Menschheitsinteressen erweisen, und darauf, dass die Kunst diese Gemeinsamkeit »herstellen« könne. »Die Kunst« heißt in diesem konkreten Zusammenhang: die Kunst des Films. Eisensteins Meisterwerk ist das Maß der Dinge. Doch von seiner künstlerischen Energie geht eine Kraft aus, die sich aus Brechts Sicht verallgemeinern lässt. Sie hängt mit den Erkenntnissen zusammen, die sich aus den Reaktionen der Zuschauer ablesen lassen, mit den Einsichten in die Struktur des Publikums, in das Verhältnis von Individuum und Masse, kurz: in die Klassenverhältnisse, die Überschneidungsbereiche aufweisen, über die unterschiedlichen Interessen der jeweiligen gesellschaftlichen Gruppen hinweg: Die Gegner des Proletariats sind keine einheitliche, reaktionäre Masse. Auch der Einzelmensch, der den gegnerischen Klassen angehört, ist kein einheitlicher, ganz und gar feindlich abgestimmter und ausgerechneter Korpus. Der Klassenkampf erstreckt sich in ihn hinein. Seine Interessen zerreißen ihn. In der Masse lebend, ist er, wenn auch noch so isoliert, doch auch Teilhaber am Masseninteresse. (GBA 22.2, 762)
Man sieht: Brechts Äußerungen werden über einen Zeitraum von sieben Jahre hinweg inhaltlich konstant durch die Beobachtung der Publikumsreaktion auf den Film bestimmt, bei einem gleichzeitig anwachsenden Grad an politischen Differenzierungen. Aufschlussreich, gerade in diesem Zusammenhang, ist freilich eine Einschränkung, die sich in den 1937/38 verfassten Zwei Thesen zur Dramatik (GBA 22.1, 321f.) findet. Dort heißt es, abermals mit Blick auf Eisensteins Panzerkreuzer Potemkin: Das Miterleben revolutionärer Stimmungen kann einen großen Fortschritt der Zuschauermassen bedeuten, und doch kann in der Art des Miterlebens immer noch eine gewisse Rückständigkeit zum Ausdruck kommen. Ein Arbeiter kann, die Revolte der Potemkinmannschaft miterlebend, einen großen Fortschritt machen, und doch kann in der dumpfen und flüchtigen Art des Miterlebens immer noch eine gewisse Rückständigkeit zum Ausdruck kommen. (GBA 22.1, 321)
Der Vorbehalt, der hier formuliert wird, erscheint – denkt man an die bislang zitierten Überlegungen – überraschend. War bislang vor allem vom bürgerlichen
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Publikum die Rede und davon, dass dessen Reaktionen auf Eisensteins Film differenziert zu sehen seien, so geht es hier und jetzt um die Rezeptionsweisen des Proletariats. Erstmals weist Brecht dabei auf die Widersprüche hin, die zwischen einer »fortschrittlichen« und einer »dumpfen und flüchtigen Art des Miterlebens« bestehen, Begrifflichkeiten, die an den zuvor verwendeten Ausdruck »Abschaum« erinnern und auch daran, dass der Faschismus sich im Zusammenhang mit der proletarischen Filmrezeption »eine gewisse Rückständigkeit« politisch zunutze machen konnte. Hinter solchen Hinweisen auf die dumpfe, flüchtige, rückständige Form »miterlebender« Filmrezeption verbirgt sich als strategischer Impuls, wie der unmittelbar folgende Absatz verdeutlicht, die selbstbewusste Behauptung einer eigenständigen dramatischen Ästhetik: Eine Zeitlang versuchte die Dramatik, der es auf die Lösung sozialer Fragen ankam, durch die einfache Hinzufügung belehrender Reden ihre Wirkung zu vertiefen. Als die Reden ihren emotionalisierenden Charakter verloren, nahm man diese Hinzufügung von Sinn als fremdkörperhaft wieder weg. Der Sinn sollte, so lautete die ästhetische Forderung (die aber von den Politikern mit Recht als politische Forderung erklärt wurde), restlos in die Gestaltung eingehen. Jedoch gab es lange Zeit kein Kunstmittel, das dies ermöglichte. Die Lösung war eine völlige Änderung der Gestaltung. (GBA 22.1, 321)
Die »Lösung der Dramatik«, auf die Brecht hier hinweist, abermals vor dem Hintergrund jener »Revolte der Potemkinmannschaft«, war nichts Geringeres als sein Konzept des epischen Theaters und mit diesem die Erfindung des Verfremdungseffekts. Brecht setzt gegen das »Miterleben revolutionärer Stimmungen« die epochemachende, ja: revolutionäre Entwicklung eines Theaters, das gerade nicht auf »Miterleben« setzte, sondern darauf, dem Publikum die Welt als eine veränderbare zu zeigen. Das Fazit des Dramatikers lautet: »ich revolutionierte die Schauspielkunst« (GBA 22.1, 123).
III Dass der Regisseur des Films Panzerkreuzer Potemkin über ein einzigartiges »Auge« nicht erst bei der Konzeption von Que viva Mexico! verfügte, versteht sich von selbst. Doch welche Entwicklungsschritte hatte Eisenstein hinter sich zu bringen, um Mitte der 1920er Jahre ein solches Werk realisieren zu können? Zuallererst zählte hierzu das Studium der Japanologie. In einem Aufsatz mit dem Titel Das Prinzip einer Filmkunst jenseits der Einstellung, der 1929 als Nachwort zu dem Buch Japonskoe kino (Der japanische Film) erschienen ist, hat Eisenstein hierüber Auskunft gegeben. Er hatte sich nach der Oktoberrevolution aus Interesse an der Entwicklung des Nachbarlandes für ein Studium der Japanologie entschieden, »to understand the nature of the Japanese language and to learn
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three hundred characters«, und zwar, wie seine Biographin Marie Seton zu berichten weiß, mit erstaunlichen Folgen: »He became intoxicated with the hieroglyphics, and traced them back to their Chinese origin.«5 300 Schriftzeichen sind nicht eben viel, wenn man bedenkt, dass auch zu jener Zeit schon Kinder während der Grundschuljahre nicht weniger als 900 kanji lernen mussten. Ein durchschnittlich gebildeter Japaner beherrscht heute, nach mehreren Reformen des Schriftzeichensystems, rund 3000 von ihnen, bei einer Gesamtzahl von etwa 10000 Zeichen. Eisenstein gab sein Studium der Japanologie und damit auch sein Ziel, Professor für Japanisch zu werden, seinerzeit rasch wieder auf, da kurz nach seiner Ankunft im Herbst 1920 das Theater des Proletkult in Moskau sein Interesse zu wecken begann. Doch er blieb »intoxicated«, wie seine Biographin schreibt: »berauscht« von der Semiotik jener 300 kanji, die ihn noch zehn Jahre später zu Ausarbeitung seiner Montagetheorie anregen sollten. Die »Kombinierung von zwei Hieroglyphen der einfachsten Reihe«, so liest man in Das Prinzip einer Filmkunst jenseits der Einstellung, sei »nicht als deren Summe zu betrachten«, sondern als deren Produkt, das heißt als Größe einer anderen Dimension, einer anderen Potenz. Entspricht jede einzelne Hieroglyphe einem Gegenstand, einem Faktum, so erweist sich ihre Zusammenfügung als einem Begriff entsprechend. Durch Kombinieren von zwei ›Darstellbaren‹ wird die Zeichnung von graphisch Undarstellbarem erreicht.6
Zur Veranschaulichung seiner These zitiert Eisenstein aus dem Lexikon der japanischen Schriftzeichen: [zeilengetreu] Darstellung von Wasser und Auge bedeutet: »weinen«, Darstellung eines Ohres neben der Zeichnung einer Tür – »lauschen«, Hund und Mund – »bellen«, Mund und Kind – »schreien«, Mund und Vogel – »singen«, Messer und Herz – »Kummer« usw.7
Dem triumphalen Fazit »Aber das ist ja – Montage!!« folgt die apodiktische Bekräftigung: »Ja. Genau das gleiche, was wir im Film machen, wenn wir kurze darstellerische Bildeinstellungen, möglichst einschichtige, bedeutungsneutrale, zu bedeutungsgeladenen Kontexten und Reihen zusammenfügen.«8 Worauf 5 Seton, Marie: Sergei M. Eisenstein. A biography. London: The Bodley Head 1952, S. 37. – Seton spricht fälschlicherweise von ›hieroglyphics‹, und auch Eisenstein selbst, ebenso sein Biographin Oksana Bulgakowa nennen die japanischen Schriftzeichen kanji ›Hieroglyphen‹. 6 Eisenstein, Sergej M.: Das Prinzip einer Filmkunst jenseits der Einstellung. In: Schriften 3: Oktober. Mit den Notaten zur Verfilmung von Marx’ ›Kapital‹. Heraugegeben von HansJoachim Schlegel. München: Carl Hanser Verlag 1975, S. 226f. 7 Ebd., S. 227. 8 Ebd.
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Eisenstein hier anspielt, ist die Bedeutungsvielfalt der einzelnen kanji, die in der japanischen Sprache aus dem Nebeneinander unterschiedlicher Lesarten der chinesischen (on-Lesung) und japanischen (kun-Lesung) Wortschriftzeichen hervorgeht. Entscheidend für die »richtige« Lesart jedes einzelnen der für eine, zwei oder mehr Bedeutungsnuancen offenen Schriftzeichen ist daher der Kontext, den das benachbarte kanji bereitstellt. Eisenstein kommt es in diesem Zusammenhang darauf an, dass aus der Kombination zweier Zeichen etwas Drittes, Neues hervorgeht. Dieses »Produkt« könne nur dadurch entstehen, dass den einzelnen Schriftzeichen jeweils eine Bedeutungstendenz eingeschrieben ist, die durch die Kombination mit einem anderen Zeichen ein »Konflikt«-Potenzial entbinde. Bei den kanji der japanischen Schrift handele es sich mithin um Zeichen, die der einzelnen Einstellung im Film entsprechen. Sie – die Einstellung – ist nach Eisenstein der »Embryo« der Montage, ihre »Zelle«, aus der heraus sich ihr jeweils neues Potenzial entwickelt. Der »Konflikt innerhalb der Einstellung« sei daher zu verstehen als »eine potentielle Montage, die mit zunehmender Intensität ihr viereckiges Gehäuse zerbricht und ihren Konflikt hinausschleudert in die Montagestöße zwischen den Montage-Abschnitten«9. Seine Kenntnis der Funktionsweise japanischer Schriftzeichen verbindet Eisenstein im Panzerkreuzer Potemkin mit der Betonung der mise en scène als einer gesetzmäßigen Struktur des Theaters und der Schauspielregie als eines organisierten und kalkulierten, analytisch nachvollziehbaren Prozesses. Seine Erfahrungen sammelte er nicht allein in der Schule Wsewolod Meyerholds, der er sich zu Beginn der 1920er Jahre angeschlossen hatte. Vielmehr zeigt sich in der Meuterei-Sequenz, Einstellung für Einstellung, auch die Schrittfolge der Ablösung Eisensteins von der Theaterkonzeption seines Lehrers, seine Hinwendung zu einem »Agitationstheater der Attraktionen« und dessen Fortentwicklung in Gestalt neuartiger »Konstruktionsprinzipien« für den Film. Eisenstein nannte dieses Verfahren in einem 1923 in der linken Avantgardezeitschrift »LEF« veröffentlichten Aufsatz Montage der Attraktionen. Eine »Attraktion«, so hatte er hier noch im Hinblick auf das Theater geäußert, sei jedes aggressive Moment des Theaters, d. h. jedes seiner Elemente, das den Zuschauer einer Einwirkung auf die Sinne oder Psyche aussetzt, die experimentell überprüft und mathematisch berechnet ist auf bestimmte emotionelle Erschütterungen des Aufnehmenden. Diese stellen in ihrer Gesamtheit ihrerseits einzig und allein die Bedingungen dafür dar, daß die ideelle Seite des Gezeigten, die eigentliche ideologische Schlußfolgerung aufgenommen wird.10
9 Ebd., S. 234f. 10 Eisenstein, Sergej M.: Montage der Attraktionen. In: Schriften 1: Streik. Herausgegeben von Hans-Joachim Schlegel. München: Carl Hanser Verlag 1974, S. 217f.
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Diese Absicht bleibt, in unterschiedlichen Modifikationen, bestimmend für seine ganze weitere Arbeit, in einem besonderen Maße für die am Film Panzerkreuzer Potemkin. Es geht Eisenstein bei seiner Ablösung vom Theater, im Übergang zum Film, um »die freie Montage bewußt ausgewählter, selbständiger, (auch außerhalb der vorliegenden Komposition und Sujet-Szene wirksamen) Einwirkungen (Attraktionen), jedoch mit einer exakten Intention auf einen bestimmten thematischen Endeffekt«.11 Dieser kalkulierte Effekt wird in der klar strukturierten Meuterei-Sequenz nach klassischem dramatischem Muster in fünf Schritten erzielt, die unterschiedlich gewichtet sind. Er besitzt seine Vorgeschichte in der Schilderung jener unwürdigen Lebens- und Arbeitsbedingungen, unter denen die Matrosen an Bord zu leiden haben, zumal jenem von Maden durchseuchten unzumutbaren Essen, das im Zwischentitel als »Stinkfutter« bezeichnet wird (1). Die Weigerung, die verdorbene, gleichwohl vom Schiffsarzt für genießbar erklärte Nahrung (»Das Fleisch ist gut! Und damit punktum!«) zu essen, führt zur Konfrontation von Mannschaft und Offizieren und zur Verweigerung der aufgetischten Nahrung (2). Daraufhin wird die Mannschaft auf Deck befohlen, ein Teil der meuternden Seeleute wird auf Geheiß des Kommandanten Golikoff mit einem Segeltuch zugedeckt, die bewaffnete Wache erhält den Schießbefehl, bis schließlich der Aufschrei des Matrosen Wakulintschuk (»Brüder!! Auf wen schießt ihr?«) den Aufstand auslöst (3). Was folgt, ist eine Vielzahl von Einstellungen, in denen das »Auge« des Regisseurs Triumphe feiert. Sie setzen bereits vor Beginn des Kampfgetümmels ein, mit einer imposanten Großaufnahme des orthodoxen Priesters. In rascher Schnittfolge werden Kampfszenen aneinandergereiht, körperliche Auseinandersetzungen und Prügeleien von Matrosen mit Offizieren, die Bewaffnung der Mannschaft mit Bajonetten aus dem Depot. In intermittierendem Rhythmus wechseln totale mit halbtotalen Einstellungen auf die Kämpfe an Bord, auf dem Deck, unter dem Deck, im Maschinenraum und im Offizierssalon, Szenen von Flucht und Verfolgung, die nur von einem jämmerlichen Auftritt des offizierstreuen Priesters mit seinem Kruzifix (»Fürchtest du dich denn nicht vor Gott?«) unterbrochen werden, bevor zuerst der Schiffsarzt – im Gegenschnitt auf Bilder vom verdorbenen Fleisch – und nach ihm andere Offiziere über Bord geworfen werden (4). Die Sequenz endet, noch bevor die aufständischen Matrosen ihren Sieg bejubeln können, mit der Verfolgung und Erschießung Wakulintschuks durch einen der Offiziere und der abschließenden Überführung des Leichnams nach Odessa (5). Man muss sich den Regisseur am Schneidetisch vorstellen, in buchstäblich physischer Präsenz, den Filmstreifen mit dem auszuwählenden Bildmaterial vor den Augen, das durchdachte Montagekonzept im Kopf – die entsprechenden 11 Ebd., S. 219.
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Fotografien finden sich im Internet12 –, um ein anschauliches Bild von dem zu erhalten, was Eisenstein in seinem Kommentar zum Panzerkreuzer Potemkin »Psychologismus« nennt, gar einen »Psychologismus in seiner ganzen Bandbreite« – »also mit Zaudern, Tränen, Sentimentalität, Lyrik […], Muttergefühl usw.«.13 Eisenstein begibt sich körperlich in den Prozess der Montage. Er hat sein Konzept im Kopf, er hält das Bildmaterial in Händen, gezielt wählt er aus, um eben die genannten psychologischen Effekte zu erzielen. Hierfür allerdings bedarf es einer Neubestimmung der filmischen Dingwelt: »Das Ding wird nicht bloß demonstriert, sondern wird als Ding […] ein Handlungsfaktor. Sowohl auf dem Weg seiner Vorführung als auch in seiner Darbietung selbst ist das Ding psychologisiert.«14 Ausdrücklich verweist der Regisseur auf die berühmte Szene mit den drei »aufbrüllenden Löwen«. Doch nicht allein in seinen Kommentaren, sondern zumal in der Ästhetik des Films ist die finale Funktionalisierung der Dinge unschwer wahrnehmbar, beispielhaft während der Meuterei-Szene durch die symbolische Aufladung des Kruzifixes in der Hand des Priesters, das im Schnitt-Gegenschnitt-Verfahren auf den Kosakendolch eines Offiziers bezogen wird: Der Vertreter Gottes entlarvt sich als Unterstützer der Unterdrücker. So wie die materiellen »Dinge«, so werden in der gesamten Sequenz die Köpfe und Gesichter der handelnden Figuren, der Offiziere wie der Matrosen, denen das auswählende »Auge« des Regisseurs Bedeutung zuweist, »verdinglicht«. Sie werden zu Handlungsfaktoren durch jene Konnotation von Macht, Schrecken, Angst, Heimtücke, Brutalität und Trauer, die ihrem Gesichtsausdruck eingeschrieben ist, in Form von Großaufnahmen, die ihrerseits in einen sie definierenden Kontext eingebettet sind. In den Parallelmontagen der Bewaffnung der Matrosen und ihren Kämpfen gegen die Offiziersclique, die bisweilen zu brutalen Zweikämpfen verdichtet sind, und im Wechselspiel mit den Massenszenen an Bord entsteht, was Eisenstein im Blick auf die berühmte Hafentreppen-Szene den »Rhythmus der Montage«15 genannt hat: »Der Rhythmus ist sowohl die äußerst verallgemeinernde Darstellung des innerhalb eines Themas ablaufenden Prozesses, wie auch die Graphik eines Phasenwechsels von Widersprüchen innerhalb dieser thematischen Einheit.«16 Die wirkungsästhetische Absicht, die sich mit diesem Rhythmus zur Geltung bringt, verdankt sich der strategischen Überlegung des Regisseurs, dass die Zuschauer im post-revolutionären Russland (»nach der Schlacht«) für »eine gewisse Zeitspanne etwas fürs Gefühl brauchen. Ja, ich gehe sogar davon aus, daß man sie nur übers Gefühl auf den gebührenden, 12 URL: http://www.russianarchives.com / letzter Zugriff 19. 01. 2022. 13 Eisenstein, Sergej M.: Schriften 2: Panzerkreuzer Potemkin. Herausgegeben von Hans-Joachim Schlegel. München: Carl Hanser Verlag 1973, S. 130. 14 Ebd., S. 130f. 15 Ebd., S. 194. 16 Ebd., S. 195.
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richtigen linken und aktiven ›Trab‹ bringen kann«.17 Und mit dem Stolz der erfolgreich realisierten Intention kann Eisenstein die Überzeugung äußern: »›Potemkin‹ ist ein Hymnus.«18 Das Ziel ist die Erzeugung einer bestimmten und bestimmbaren Rezeptionshaltung. Der Film-Revolutionär erweist sich als Wirkungsästhetiker.19
Exkurs »Die epische Szene bei Brecht, die Einstellung bei Eisenstein sind Tableaus«, konstatiert Roland Barthes 1973 in seinem Essay Diderot, Brecht, Eisenstein: »nichts trennt die epische Szene von der Einstellung bei Eisenstein (abgesehen davon, daß bei Brecht das Tableau der Kritik des Zuschauers dargeboten wird, nicht seiner Zustimmung).«20 Es lohnt die Mühe, diesen Argumenten in Form eines Exkurses nachzugehen, denn der Semiologe steht mit seiner These von der weitgehenden Übereinstimmung zwischen Brecht und Eisenstein durchaus nicht isoliert. So resümiert etwa Käthe Rülicke-Weiler ihre Analyse der Meuterei-Sequenz mit dem Hinweis auf den »Gesichtswinkel der proletarischen Parteilichkeit« (»Sie wird zum Montageprinzip, das Auswahl, Großaufnahmen, Details bestimmt«) und schlägt von hier aus den Bogen zu Brecht. Zwar räumt sie ein, dass dieser »die Formen Eisensteins [keineswegs] nur zu übernehmen brauchte«. Doch das entscheidende Kriterium ist für sie der von Eisenstein vorgeführte »Weg zu Lösung des Widerspruchs – im Falle des ›Potemkin‹ durch den organisierten Kampf des Proletariats unter Führung der Partei«. Das Fazit im Hinblick auf Brecht lautet: »Er konnte bei Eisenstein die praktische Anwendung der Prinzipien finden, um deren Erkenntnis er sich bemühte […].«21 Mehrere Jahre später noch berief sich auch Werner Mittenzwei auf dieses Fazit Rülicke-Weilers, um im Blick auf Brechts Verhältnis zur Tradition zu betonen, dass der Dramatiker »die technischen Elemente und gesellschaftlichen Voraussetzungen der Montage17 Ebd., S. 130. 18 Ebd., S. 132. 19 Vgl. hierzu ausführlich Schnell, Ralf: Der produktive Widerspruch. Sergej Eisenstein und die Grenzen des revolutionären Films. In: Kunsthistorische Nachforschungen über Max Raphael, Raoul Hausmann, Sergej Eisenstein, Viktor Schklowskij (= Spurensicherung 1), herausgegeben und eingeleitet von Alfred Paffenholz. Hamburg: Junius 1988, S. 55–109. 20 Barthes, Roland: Diderot, Brecht, Eisenstein. In: »Filmkritik« Nr. 215, November 1974, S. 496– 501, hier S. 497. Der Essay erschien zuerst in Revue d’Esthétique (1973). – Vgl. auch Brecht/ Eisenstein. Gegen die Metaphysik des Sichtbaren. In: »Alternative: Zeitschrift für Literatur und Diskussion«. 20. Jahrgang (1977). H. 117. 21 Rülicke-Weiler, Käthe: Die Dramaturgie Brechts. Theater als Mittel der Veränderung. Berlin: Henschelverlag Kunst und Gesellschaft 1968, S. 113.
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technik Eisensteins studiert« habe, und um ausdrücklich auf die »Anregungen« hinzuweisen, »die Brecht durch das künstlerische Werk Eisensteins empfing«.22 Roland Barthes urteilt nicht auf der Grundlage einer materialistisch-dialektisch sich verstehenden Gesellschaftsanalyse, sondern argumentiert, ungleich anregender, im Horizont einer ästhetischen Theorie. Doch auch er behandelt die entscheidende Differenz zwischen Brecht und Eisenstein, die zwischen »Kritik« und »Zustimmung« des Zuschauers, als quantité négligeable, indem er sie in Klammern setzt, und verwischt damit die entscheidenden Differenzen.23 Barthes gewinnt seinen erkenntnisleitenden Begriff des Tableaus im Rückgriff auf die Ästhetik Diderots und auf Arbeiten des Malers Jean-Baptiste Greuze (1725– 1805). »Das Tableau (in Malerei, Theater, Handlung)«, so der Semiologe, »ist ein reiner Ausschnitt, mit klaren Rändern, unumstößlich, unbestechlich, der sein ganzes namenloses Drumherum ins Nichts stößt und alles, was es in seinen Bereich einbezieht, dem Wesen, dem Licht dem Blick anheimgibt«. Ein solches Tableau ist, folgt man Barthes, »intellektuell, es will etwas (moralisches, soziales) sagen, aber es sagt auch, dass es weiß, wie es dies sagen muß«.24 Barthes weiter: Brecht hat genau angegeben, daß im epischen Theater (das in aufeinanderfolgenden Tableaus prozessiert) die ganze Last, bedeutsam und gefällig zu sein, jeder Szene aufgetragen ist und nicht dem Ganzen; auf der Ebene des Stücks gibt es keine Entwicklung, kein Heranreifen, sicherlich einen ideellen Sinn (selbst für jedes Tableau), aber keinen finalen Sinn, nichts als Abschnitte, deren jeder eine ausreichende demonstrative Kraft besitzt. Dasselbe bei Eisenstein: der Film ist das Auseinander von Episoden, deren jede absolut signifikant und ästhetisch perfekt ist […]. Die zentrale Kraft Eisensteins hat damit zu tun: kein Bild ist ermüdend, man ist nicht gezwungen, aufs nächste zu warten, um zu verstehen oder seine Freude zu haben: keinerlei Dialektik (diese Zeiten der notwendigen Geduld für bestimmte Freuden), sondern andauernder Jubel, der durch eine Reihung vollendeter Augenblicke gemacht ist.25
Dass der Begriff des Tableaus sich für das epische Theater Brechts wie für die filmische Ästhetik Eisensteins mit guten Gründen in Anspruch nehmen lässt – beispielsweise, wie Barthes zeigt, für Mutter Courage und ihre Kinder (1938/ 22 Mittenzwei, Werner: Brechts Verhältnis zur Tradition. Berlin: Akademie-Verlag, 2. Aufl. 1973, S. 146. 23 Von gemeinsamen Ausgangspunkten, einem psychophysiologischen und einem biomechanischen, spricht im Hinblick auf »Brechts und Eisensteins ästhetische Arsenale« auch HansChristian von Herrmann. Schauspieltheoretisch setzten beide, Brecht wie Eisenstein, »zunächst in gleicher Weise der psychologisch motivierten Handlung die biomechanische Funktion entgegen«. Doch ebenso deutlich weist von Herrmann auf die rezeptionsästhetische Differenz hin, die zwischen dem Mann des Theaters und dem Filmregisseur besteht. Vgl. Herrmann, Hans-Christian von: Eine Anordnung von Schlagbolzen. Brechts und Eisensteins ästhetische Arsenale. In: Eisenstein und Deutschland, S.157–164, hier S. 161. 24 Barthes, Roland: Diderot, Brecht, Eisenstein, S. 497. 25 Ebd., S. 498.
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1941), ebenso für Die Generallinie (1929) –, steht außer Frage. Die These aber, es gebe darin »keine Entwicklung, kein Heranreifen«, erscheint in dieser generalisierenden Form fragwürdig. Barthes geht es im Blick auf die Tradition des Tableaus um einen besonderen ästhetischen Kulminationspunkt der Kunst, jenen nämlich, den er in Anlehnung an Lessings Abhandlung Laokoon oder über die Grenzen der Mahlerey und Poesie (1766) den »prägnanten Augenblick« nennt, um diese Einsicht mit dem Resümee zu pointieren: »Brecht-Theater, EisensteinFilm: das sind Abfolgen prägnanter Augenblicke.«26 Doch Barthes verkennt den entschiedenen Stilisierungswillen, der der Montagestrategie des Filmregisseurs zugrunde liegt. Dieser plädiert – beispielhaft in seinem Aufsatz Das Organische und das Pathos aus dem Jahr 1939 und hier mit explizitem Bezug auf Panzerkreuzer Potemkin – ausdrücklich für das »organische Kunstwerk«: Eine einzige, einheitliche Gesetzmäßigkeit durchdringt nicht nur das allgemeine Ganze, sondern auch jedes Gebiet, das an der Schaffung des Ganzen teilzunehmen hat. Ein und dieselben Prinzipien speisen jedes Gebiet, dergestalt, daß sie in jedem von ihnen in ihren eigenen qualitativen Unterschieden in Erscheinung treten. Und nur wenn diese Voraussetzungen erfüllt sind, kann man vom Organischen eines Kunstwerks reden. (2, 135)
Und auch der Erneuerungsimpuls, der Brechts Theaterarbeit, seinen politischen Konzepten wie seiner Medienästhetik27, zugrunde liegt, besitzt einen Kompass, an dem sie sich orientiert. Dessen Magnetfeld lässt sich über einen Kernsatz im umstrittensten der Lehrstücke, an denen Brecht zu dieser Zeit arbeitet, Die Maßnahme (1930), bestimmen. Er lautet: »Ändere die Welt: sie braucht es!« (GBA 3, 116)
IV Im Dienst dieser Änderung steht das medienstrategische Konzept, das Brecht entwirft. Zur selben Zeit, da Eisenstein in Mittelamerika sein Material für den unvollendet gebliebenen Film Que viva Mexico! zusammenträgt, sammelt Brecht in Berlin Material für ein »soziologisches Experiment«, das er anhand eines unvollendet gebliebenen Filmprojekts durchführt – es wird wenig später unter dem Titel Der Dreigroschenprozeß veröffentlicht. Brecht entfaltet in dieser essayistisch angelegten Abhandlung jene Argumente, die seit 1930 seine Position in der gerichtlichen Auseinandersetzung mit der Filmgesellschaft Nero-Film AG um die Verfilmung der Dreigroschenoper bestimmt haben. Es geht um vertragsrechtliche Fragen und Verwertungsinteressen, um Eigentumsansprüche 26 Ebd. 27 Vgl. hierzu Herrmann, Hans-Christian von: Sang der Maschinen. Brechts Medienästhetik. München: Wilhelm Fink 1996.
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und Investitionen, um öffentliche Meinung und bürgerliche Rechtsordnung, um materiellen Gewinn und finanzielle Entschädigung. Nicht zuletzt aber diskutiert Brecht in seinem Essay das Verhältnis der Künste zueinander, auf eine Weise, die ein erhellendes Licht auch auf sein Verhältnis zu Eisensteins Montagekonzept werfen, beispielhaft unter dem Aspekt der Akteure im Film: Für die Dramatik ist die Stellung des Films etwa zur handelnden Person interessant. Er verwendet zur Verlebendigung seiner Personen, die nur nach Funktionen eingesetzt sind, einfach bereitstehende Typen, die in bestimmte Situationen kommen und in ihnen bestimmte Haltungen einnehmen können. Jede Motivierung aus dem Charakter unterbleibt, das Innenleben der Personen gibt niemals die Hauptursache und ist selten das hauptsächliche Resultat der Handlung, die Person wird von außen gesehen. (GBA 21, 465)
Brechts Skepsis gegenüber dem Phänomen des »Miterlebens« erhält vor dem Hintergrund dieses Arguments einen Akzent, der noch einmal auf ein grundsätzliches Problem seines Verhältnisses zur Filmkunst Eisensteins hinweist. Denn die Konsequenzen, die der Dramatiker Brecht aus diesem Befund zur Praxis des Films für seine eigene, die Theaterkunst zieht, ist gerade nicht die Nutzung »bereitstehender Typen« oder deren Einsatz »nur nach Funktionen«. Zwar unterbleibt auch in den um 1930 entstandenen Stücken Brechts »jede Motivierung aus dem Charakter«, zwar bildet auch hier das Innenleben einer Figur »niemals die Hauptursache«, sondern sie wird, wie im Film, ebenfalls »von außen gesehen«. Doch Brechts Lektionen bei der Wahrnehmung filmischer Kunst sind zu dieser Zeit geprägt vom Gedanken an eine »Umfunktionierung der Kunst in eine pädagogische Disziplin« (GBA 21, 466), von Darstellungsformen, deren Antriebsaggregate durchaus nicht dem Reservoir der bereits vielfältig entwickelten Montageformen entstammen. Brecht weiß, dass die »Technifizierung der literarischen Produktion nicht mehr rückgängig zu machen« (GBA 21, 464) ist, wenn es um die »Verbreiterung« der gesellschaftlichen Aufgaben der Kunst geht. Daher verlangt auch er, dass »die Mittel der Darstellung vervielfacht oder häufig gewechselt werden« (GBA 21, 466) müssen. Vorbereitet wird diese Forderung bereits 1930, in den Anmerkungen zur Oper »Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny«. (GBA 24, 74–86) Brecht stellt hier die »Dramatische Form des Theaters« der »Epische[n] Form des Theaters« gegenüber und bestimmt dabei den Begriff »Montage« (=»epische« Form) als Gegenbegriff zu dem des »Wachstums« (=»dramatische« Form). In der überarbeiteten Fassung von 1938 (GBA 24, 85) fehlt die Entgegensetzung »Montage« und »Wachstum«. Man hat vermutet, dass diese Korrektur mit Andrei Shdanows doktrinären Proklamation des Sozialistischen Realismus auf dem Ersten Unionskongress der Sowjetschriftsteller 1934 und seiner Forderung nach »Gestal-
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tung« in Verbindung steht.28 Nicht auszuschließen ist aber vor allem, dass sie im Zusammenhang mit der »Expressionismusdebatte« der 1930er Jahre steht, insbesondere mit Georg Lukács’ Verdikt über »die bei politisch linksstehenden Surrealisten sehr beliebte ›Einmontierung‹ von Thesen in Wirklichkeitsfetzen, die mit ihnen innerlich nichts zu tun haben«29: »Die Einzelheiten«, so Lukács, »mögen in den buntesten Farben erglänzen, das Ganze ergibt ein trostloses Grau in Grau, so wie die Pfütze schmutziges Wasser bleibt, auch wenn ihre Bestandteile die verschiedenartigsten Farben aufweisen.«30 Immerhin hat Brecht selbst sich in seinen – seinerzeit nicht veröffentlichten – Antworten auf Lukács, in Aufsätzen wie Über den formalistischen Charakter der Realismustheorie oder Volkstümlichkeit und Realismus, nicht nur theoretisch zu den strittigen Fragen geäußert, sondern sich als Romanautor – nicht als Dramatiker – ausdrücklich zur Montage bekannt, so etwa im Hinblick auf sein unvollendet gebliebenes Werk Die Geschäfte des Herrn Julius Cäsar (1938/39). Für den Dramatiker Brecht aber stehen zu Beginn der 1930er Jahre »Neuerungen« auf dem Programm, Neuerungen, für die ein anderes ästhetisches Verfahren von Bedeutung ist, wie er in seinem Kommentar zur Oper Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny hervorhebt. Die Oper, so betont Brecht, »war auf den technischen Stand des modernen Theaters zu bringen. Das moderne Theater ist das epische Theater« (GBA 24, 78). Und das neue ästhetische Verfahren hebt Brecht drucktechnisch unmissverständlich durch Kursivierung und Sperrung hervor: »Der Einbruch der Methoden des epischen Theaters in die Oper führt hauptsächlich zu einer radikalen Trennung der Elemente« (GBA 24, 79). Man kann diese »Neuerung«, die hier als »Methode des epischen Theaters« für die Kunstform Oper produktiv gemacht wird, auch mit dem Begriff »Unterbrechung« umschreiben. Brecht bietet die radikale »Trennung der Elemente« gegen Wagner auf, gegen das, was er den »Schmelzprozeß« des Wagnerschen ›Gesamtkunstwerks‹ nennt: Der Schmelzprozeß erfaßt den Zuschauer, der ebenfalls eingeschmolzen wird und einen passiven (leidenden) Teil des Gesamtkunstwerks darstellt. Solche Magie ist natürlich zu bekämpfen. Alles, was Hypnotisierversuche darstellen soll, unwürdige Räusche erzeugen muß, benebelt, muß aufgegeben werden. (GBA 24, 79)
28 Vgl. Möbius, Hanno: Montage und Collage, S. 343. – Möbius weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass Walter Benjamin in seinem Vortrag Der Autor als Produzent (1934) noch von Brechts Montage spricht, während er in der zweiten Fassung des Aufsatzes Was ist das epische Theater? auf den Begriff verzichtet und stattdessen den »Ersatzbegriff« (Möbius) Verfremdung aufgreift. 29 Lukács, Georg: Es geht um den Realismus (1934). In: Raddatz, Fritz J. (Hg.): Marxismus und Literatur. Band II. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1969, S. 65. 30 Ebd., S. 74.
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Diese Forderung widerspricht allen künstlerischen Formen, die sich auf eine Rezeption des »Miterlebens« kaprizieren. Ausdrücklich bekräftigt Brecht die Bedeutung technischer Apparaturen als Maßstab für eine Kunst auf der Höhe ihrer Zeit: »Diese Apparate können wie sonst kaum etwas zur Überwindung der alten untechnischen, antitechnischen, mit dem Religiösen verknüpften, ›ausstrahlenden‹ ›Kunst‹ verwendet werden.« (GBA 21, 466) Und nicht zufällig fällt in diesem Zusammenhang – wenngleich behutsam in Klammern gefügt – jener Begriff, der zum elementaren Baustein seiner ›großen Pädagogik‹ wird: »(Wobei noch gar nicht die Rede sein soll vom eigentlichen Lehrstück, das sogar die Auslieferung der Filmapparate an die einzelnen Übenden verlangt!).« (GBA 21, 466)
V Trotz solcher Vorbehalte gegenüber jeder Form einer »hypnotisierenden« Kunst sah der Dramatiker Brecht im März 1937, zu dieser Zeit bereits im Svendborger Exil, den Filmregisseur Eisenstein neben einer Reihe anderer prominenter Persönlichkeiten, darunter Tretjakow und Piscator, als potenzielles Mitglied einer noch zu begründenden Diderot-Gesellschaft31, ein Projekt, das – auch wenn es sich unter den Bedingungen des Exils nicht hat realisieren lassen – von Brechts klaren Vorstellungen über Substanz und Struktur einer zeitgemäßen Kunst und eines »neuen Auftrags« für die Künstler zeugt. Gedacht war an »Berichte von mit Theater und Film experimentierenden Künstlern über ihre Arbeiten« (GBA 22.1, 276), deren Austausch die Diderot-Gesellschaft hätte organisieren sollen. Die Künstler der Gegenwart, wie Brecht sie hier nach seinem Maß entwirft, fühlten sich »nunmehr beauftragt, die Welt als veränderlich und unbekannt aufzufassen«. Sie sähen sich daher gezwungen, »für den geänderten Zweck ihre Technik zu ändern« (GBA 22,1, 275). Ein solcher Künstler müsse bei der Übermittlung seiner Absichten verzichten auf die Mittel der Hypnose, unter Umständen sogar der gewöhnlichen Einfühlung, die dem Künstler früherer Epochen zur Verfügung standen. Dafür wird für den Künstler des neuen Auftrags die Übermittlung wie die Herstellung seiner Abbildungen zu einer (außerindividuellen) Technik; d. h. er beteiligt sich an dem Aufbau einer allen Künstlern zur Verfügung stehenden Technik, er bietet und benutzt neue Erfahrungen. (GBA 22.1, 276)
Brecht konnte auch deswegen hoffen, Eisenstein für ein solches Projekt zu gewinnen, weil dieser seine Montagekonzeption in einer Reihe von Vorträgen und 31 Zu Namengebung und Programm vgl. Schmieden, Susanne: Brechts Diderot-Gesellschaft oder Von der Möglichkeit einer anderen ›theatralischen‹ Wissenschaft. In: Abbt, Christine / Schnyder, Peter (Hg.): Formen des Politischen. Diderots Virtuosität und ihre Rezeption im deutschsprachigen Raum (1750–2000). Freiburg: Rombach 2019, S.183–198.
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Essays weiterentwickelt hatte. So erhob er sie in dem 1929 entstandenen Aufsatz Dramaturgie der Film-Form in den Rang einer verallgemeinerbaren Kunsttheorie, die sich ausdrücklich auf eine »dynamische Auffassung der Dinge« berief, wenngleich im Rückgriff auf eine vergleichsweise mechanische Vorstellung von Dialektik (»Synthese, die im Widerspruch von These und Antithese entsteht«): »Kunst ist immer Konflikt: 1. ihrer sozialen Mission nach, 2. ihrem Wesen nach, 3. ihrer Methodik nach.«32 Zugleich weist Eisenstein in diesem Essay auf eine mögliche Öffnung seiner filmischen Arbeit durch ein methodisches Verfahren hin, das er »Raisonnement« nennt: »Wenn im üblichen Film der Film die Gefühle lenkt und fördert, so ist hier eine Möglichkeit angedeutet, ebenso [auch] den ganzen Denkprozeß zu fördern und zu leiten.«33 Und nur ein Jahr später, im Mai 1930, konnte man nach einem Vortrag Eisensteins in der Harvard Business School einem Bericht des Bostoner Globe entnehmen: the object of the new films is […] to present abstract ideas. In this way the art of our time will have a new function and historical mission. The culture film, which makes people think, can bring a renaissance into the artistry of motion pictures. The new films provoke a new thinking in the audience and create new ideas.34
Dass Brecht diese Äußerungen kannte, als er Eisenstein 1932 in Moskau traf, lässt sich nicht mit Gewissheit sagen. Ohne Zweifel aber entsprach diese Vorstellung von »new films« durchaus seinen Ansprüchen, sehr viel mehr zumindest als die 1925 in Panzerkreuzer Potemkin realisierte filmische Ästhetik. Dies gilt ebenso für das von Eisenstein in Angriff genommene Projekt Que viva Mexico!, ein Film, den Brecht erst 1947 hat sehen können. Im November 1930 hatte er seine Arbeit begonnen – die Vollendung des Films durch den Regisseur verhinderte eine Vielzahl von Widrigkeiten. Die alte mexikanische Kultur und die eindrucksvollen architektonischen Monumente, die Spuren des Kampfes gegen die spanischen Eroberer und die aktuellen politischen und sozialen Konflikte, die Gesichter der Menschen, die volkstümlichen Traditionen, die Vielfalt und der Reichtum der Landschaft – all diese unverwechselbaren Merkmale und Signale des mittelamerikanischen Landes hatten Eisenstein zu vertiefenden Studien, 32 Eisenstein, Sergej M.: Dramaturgie der Film-Form. In: Schriften 3: Oktober. Mit den Notaten zur Verfilmung von Marx’ ›Kapital‹. Herausgegeben von Hans-Joachim Schlegel. München: Carl Hanser Verlag 1975, 201–225, hier S. 201. 33 Ebd., S. 224. 34 Eisenstein Predicts New Type of Film. In: »Globe«, Boston, May 27, 1930. Zitiert nach Seton, Marie: Sergej M. Eisenstein. A biography. London: The Bodley Head 1952, S. 163. (»Das Ziel der neuen Filme ist es […], abstrakte Ideen zu präsentieren. Auf diese Weise bekommt die Kunst unserer Zeit eine neue Funktion und eine neue historische Mission. Der kulturelle Film, der die Leute zum Denken bringt, kann eine Renaissance der künstlerischen Qualität des Films bringen. Die neuen Filme rufen beim Publikum eine neue Denkweise hervor und erzeugen neue Ideen.«)
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Reisen und Gesprächen angeregt, die der Realisierung seines filmischen Epos dienen sollten. Doch schon im November 1930, zu Beginn der Vorbereitungen, als sich der weltberühmte russische Regisseur mit Hilfe des mexikanischen Malers Diego Rivera und des amerikanischen Schriftstellers Upton Sinclair daran machte, dem Facettenreichtum Mexikos ein filmisches Denkmal zu setzen, stand die Finanzierung auf tönernen Füßen. Weder gab es seinerzeit ein terminlich durchdachtes Konzept noch gelang es in den Jahren 1931/32, Fragen der Budgetierung einvernehmlich zu regeln.35 Was dann am Ende einer vierzehnmonatigen Dreh- und Arbeitszeit in Mexiko entstanden war, blieb ein Torso, bestehend aus 70000 Metern ungeschnittenem Film. Stalin hatte den Regisseur in einem Brief an Upton Sinclair bereits 1931 zum »Deserteur« erklärt, die Bewilligung seines Auslandsaufenthalts endete im Januar 1932.36 Das Filmmaterial wurde nach dem Scheitern abschließender vertraglicher Vereinbarungen von verschiedenen Geldgebern beschlagnahmt, in von Eisenstein nicht autorisierten Hollywood-Fassungen vermarktet – darunter Thunder over Mexico (1932) von Sol Lesser (vgl. GBA 27, 516)37 – und schließlich über Jahre hinweg im New Yorker Museum of Modern Art eingelagert. Eine vom Regisseur verantwortete Version existiert nicht, eine restaurierte Fassung wurde erst 1979 in Moskau hergestellt. Sie weist Sergej Eisenstein als Regisseur und Grigoriy Aleksandrov als Regisseur und Drehbuchautor aus. Aleksandrov war es, der das Material unter Verwendung des Manuskripts sowie der Notizen und Zeichnungen Eisensteins bearbeitet hat. Der Film in seiner heute zugänglichen Fassung – bestehend aus einem Prolog, vier narrativen Episoden und einem Epilog – ist insoweit ein work without progress, das filmische Dokument eines nie zu vollendenden Meisterwerks. Brechts unverhohlenes Lob zollt diesem Opus höchsten Respekt – mit Recht. Es ist ein filmisches Reservoir imagologischer Impressionen, die eine einzigartige Ausdrucksintensität repräsentieren. Doch sollte man die Doppelbödigkeit des Lobs nicht übersehen. Brechts Bemerkung: »Was für ein Auge dieser Mann hat!« voraufgehender Hinweis: »ohne Eisenstein, aus einem ungeheuren Material zusammengestellt« – deutet unter der Hand an, dass der Mangel (»ohne Eisenstein«) in Wahrheit als künstlerischer Gewinn für das unvollendet gebliebene Resultat anzusehen sei. Wie eine vorweggenommene Replik auf Brechts lobendes Urteil: »Was für ein Auge dieser Mann hat!« lässt sich vor diesem Hintergrund ein Aufsatz Eisen35 Vgl. hierzu Toeplitz, Jerzy: Geschichte des Films. Fünfter Teil 1928–1933. München: Rogner & Bernhard 1977, S. 345–353. 36 Vgl. Seton, Marie: Sergej M. Eisenstein, S. 513f. 37 Zur Entstehungsgeschichte und zu den Gründen des Scheiterns siehe ausführlich auch Eisenstein, Sergei and Sinclair, Upton: The Making and Unmaking of Que Viva Mexico!. Ed. By Harry M. Geduld and Ronald Gottesman. London: Thames and Hudson 1970.
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steins aus dem Jahr 1938 lesen, in dem unter dem sprechenden Titel Es genügt nicht zu sehen abermals das Problem »Montage« thematisiert wird: Es gab in unserer Filmkunst eine Periode, in der die Montage »alles« galt. Jetzt geht eine Periode ihrem Ende zu, in der die Montage »nichts« gilt. Wir hängen keinem der beiden Extreme an und halten es für erforderlich, jetzt daran zu erinnern, daß die Montage ein ebenso notwendiger Bestandteil eines Filmwerkes ist wie alle anderen Elemente der filmischen Einwirkung.38
Der Aufsatz entstand im Zusammenhang mit der Arbeit an Alexander Newski (1938), unter den Produktionsbedingungen des Stalinismus also, und deutet voraus auf den späteren Iwan Grosny (1944). Zu den Beeinträchtigungen zählten zu dieser Zeit nicht allein ideologische Vorgaben, sondern ebenso die Beschneidung von Produktionsmitteln sowie Eingriffe der Zensurbehörden, am 25. Februar 1947 gar ein Gespräch auf höchster Ebene mit Stalin, Shdanow und Molotow, das offenbar den Charakter eines Verhörs annahm. Trotz dieser Eingriffe in seine Arbeit, trotz der Fundamentalkritik, die im September 1946 aufgrund eines ZK-Beschlusses der kommunistischen Partei zum Verbot des zweiten Teils von Iwan Grosny geführt hatte, erhielt Eisenstein – nach der Veröffentlichung einer Selbstkritik im Oktober 1946 – einen Monat später die Medaille »Für ausgezeichnete Leistungen im Großen Vaterländischen Krieg«39. Zuckerbrot und Peitsche also – dies waren die Produktionsbedingungen, unter denen er zu arbeiten hatte, unter denen er litt und denen er sich, auch in seinen filmtheoretischen Schriften, fügen musste, bis hin zu seinem bereits erwähnten Aufsatz Das Organische und das Pathos (1939). Darin heißt es höchst unBrechtisch: »Das Organische wie auch das vom Kunstwerk vermittelte Gefühl des Organischen muß entstehen, sobald das Konstruktionsprinzip dieses Kunstwerks den Strukturgesetzen der organischen Erscheinungen in der Natur entspricht.«40 Die medienästhetischen Differenzen zwischen dem Mann des Theaters und dem Meister des Films mochten sich gelegentlich angenähert haben – im Grunde blieben sie unverändert und waren unvereinbar.
38 Eisenstein, Sergej: Es genügt nicht zu sehen (1938). In: »alternative: Zeitschrift für Literatur und Diskussion«. 20. Jahrgang (1977), H. 117: Brecht/Eisenstein. Gegen die Metaphysik des Sichtbaren, S. 252–258, hier S. 252. 39 Vgl. Bulgakowa, Oksana: Sergej Eisenstein, S. 274f. 40 Eisenstein, Sergej: Schriften 2, S. 152.
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Literatur Aumont, Jaques: Montage Eisenstein. Paris: Albatros 1979. Barthes, Roland: Diderot, Brecht, Eisenstein. In: »Filmkritik« Nr. 215, November 1974, S. 496–501. Brecht, Bertolt: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Herausgegeben von Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei, Klaus-Detlef Müller. BerlinWeimar: Aufbau, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1988–2000. Brecht/Eisenstein. Gegen die Metaphysik des Sichtbaren. In: »alternative: Zeitschrift für Literatur und Diskussion«. 20. Jahrgang (1977). H. 117. Bulgakowa, Oksana: Sergej Eisenstein. Eine Biographie. Berlin: PotemkinPress 1997. Eisenstein und Deutschland. Texte Briefe Dokumente. Herausgegeben von der Akademie der Künste. Konzeption und Zusammenstellung von Oksana Bulgakowa. Berlin: Akademie der Künste 1988. Eisenstein, Sergei and Sinclair, Upton: The Making and Unmaking of Que Viva Mexico!. Ed. By Harry M. Geduld and Ronald Gottesman. London: Thames and Hudson 1970. Eisenstein, Sergej M.: Das Prinzip einer Filmkunst jenseits der Einstellung. In: Schriften 3: Oktober. Mit den Notaten zur Verfilmung von Marx’ ›Kapital‹. Heraugegeben von HansJoachim Schlegel. München: Carl Hanser Verlag 1975. Eisenstein, Sergej M.: Dramaturgie der Film-Form. In: Schriften 3: Oktober. Mit den Notaten zur Verfilmung von Marx’ ›Kapital‹. Herausgegeben von Hans-Joachim Schlegel. München: Carl Hanser Verlag 1975, 201–225. Eisenstein, Sergej M.: Montage der Attraktionen. In: Schriften 1: Streik. Herausgegeben von Hans-Joachim Schlegel. München: Carl Hanser Verlag 1974. Eisenstein, Sergej M.: Schriften 2: Panzerkreuzer Potemkin. Herausgegeben von HansJoachim Schlegel. München: Carl Hanser Verlag 1973. Eisenstein, Sergej: Es genügt nicht zu sehen (1938). In: »alternative: Zeitschrift für Literatur und Diskussion«. 20. Jahrgang (1977). H. 117: Brecht/Eisenstein. Gegen die Metaphysik des Sichtbaren, S. 252–258. Gersch, Wolfgang: Film bei Brecht. München: Hanser 1975. Herrmann, Hans-Christian von: Eine Anordnung von Schlagbolzen. Brechts und Eisensteins ästhetische Arsenale. In: Eisenstein und Deutschland, S.157–164. Herrmann, Hans-Christian von: Sang der Maschinen. Brechts Medienästhetik. München: Wilhelm Fink 1996. Lukács, Georg: Es geht um den Realismus (1934). In: Raddatz, Fritz J. (Hg.): Marxismus und Literatur. Band II. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1969. Mittenzwei, Werner: Brechts Verhältnis zur Tradition. Berlin: Akademie-Verlag 2. Aufl. 1973. Möbius, Hanno: Montage und Collage: Literatur, bildende Künste, Film, Fotografie, Musik, Theater bis 1933. München: Fink 2000. Rülicke-Weiler, Käthe: Die Dramaturgie Brechts. Theater als Mittel der Veränderung. Berlin: Henschelverlag Kunst und Gesellschaft 1968. Schmieden, Susanne: Brechts Diderot-Gesellschaft oder Von der Möglichkeit einer anderen ›theatralischen‹ Wissenschaft. In: Abbt, Christine / Schnyder, Peter (Hg.): Formen des
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Politischen. Diderots Virtuosität und ihre Rezeption im deutschsprachigen Raum (1750– 2000). Freiburg: Rombach 2019, S.183–198. Schnell, Ralf: Der produktive Widerspruch. Sergej Eisenstein und die Grenzen des revolutionären Films. In: Kunsthistorische Nachforschungen über Max Raphael, Raoul Hausmann, Sergej Eisenstein, Viktor Schklowskij (= Spurensicherung 1), herausgegeben und eingeleitet von Alfred Paffenholz. Hamburg: Junius 1988, S. 55–109. Toeplitz, Jerzy: Geschichte des Films. Fünfter Teil 1928–1933. München: Rogner & Bernhard 1977.
Tanja Kinkel (München)
Zwei, die in kein System passen: Die Freundschaft zwischen Bertolt Brecht und Lion Feuchtwanger
Am 2. April 1919 dürfte es für die meisten Menschen in München nicht gerade rosig ausgesehen haben: der Erste Weltkrieg war erst ein paar Monate vorbei, der erste Ministerpräsident Bayerns, Kurt Eisner, war von Rechtsradikalen ermordet worden, mit der danach ausgerufenen Räterepublik ging es ebenfalls bergab; in wenigen Wochen sollte sie blutig beendet werden. In dieser äußerst angespannten Situation fand jedoch eine Begegnung statt, die für beide Beteiligten zu einer der wichtigsten in ihrer beider Leben werden sollte. Der Schriftsteller Lion Feuchtwanger notierte für den 2. April in sein Tagebuch: »Ein junger Mensch bringt ein ausgezeichnetes Stück. Bert Brecht.«1 Am 3. April 1919 heißt es: »Den jungen Menschen wieder gesprochen.«2 Brecht scheint in der Feuchtwangerschen Wohnung Dauergast geworden zu sein, denn gleich am 4. April 1919 geht es weiter: »Ein anderes, noch besseres Stück von dem jungen Menschen gelesen: Baal.«3 Indessen schrieb der »junge Mensch« an seine Freundin Paula, genannt Bi: »Ein Dr. in München, der sehr viel gilt und selbst gute Stücke schreibt, findet den ›Spartakus‹ genial. Er wird was dafür tun, und dann bekommen wir Geld.«4 »Doktor«, so sollte Brecht Feuchtwanger sein Leben lang anreden. Die halb ehrerbietige, halb neckende Formalität dieser Anrede sagt etwas über die Beziehung selbst aus, die im Leben beider Männer in kein Schema hineinpasste, und auch nicht die von ihnen selbst geschaffenen Muster. Sie war für beide subversiv und stabilisierend gleichermaßen. Wenn man 1919 in München an Lion Feuchtwanger dachte, dann kamen einem nicht in erster Linie wie heute Romane in den Sinn. Der einzige, den Feuchtwanger zu diesem Zeitpunkt bereits veröffentlicht hatte, als er selbst erst Anfang 20 gewesen war, war sang- und 1 Feuchtwanger, Lion: Ein möglichst intensives Leben. Die Tagebücher. Berlin: Aufbau Taschenbuch Verlag 2020, S. 215. 2 Ebd. 3 Ebd. 4 zitiert in: Parker, Stephen: Bertolt Brecht. Eine Biographie. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2018, Kindle-Ausgabe, Position 3502.
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klanglos in der Versenkung verschwunden. Nein, 1919 war Lion Feuchtwanger in erster Linie dafür bekannt, sich vom scharfzüngigen Theaterkritiker zum Dramatiker entwickelt zu haben. Während des Ersten Weltkriegs war er sogar zum meistgespieltesten Autor der Münchner Kammerspiele avanciert, und das nicht etwa mit Durchhaltestücken oder Eskapismus. Nein, Feuchtwanger, der selbst vom Kriegsausbruch in Afrika überrascht worden und nach seiner Rückkehr in seine Heimatstadt München von der aufgepeitschten Kriegsstimmung entsetzt war, brachte unter anderem eine Fassung der Perser von Aischylos auf die Bühne, in der er mit dem antiken Schriftsteller die Mutter und die Angehörigen des »Feindes« in den Mittelpunkt stellt. In der Zeitschrift »Die Schaubühne«, wo er früher Parsifal-Inszenierungen bespöttelt und Max Reinhardt kritisch bewundert hatte, veröffentlichte Feuchtwanger 1915, also bereits im zweiten Kriegsjahr, das Gedicht Lied der Gefallenen. Es dorrt die Haut von unsrer Stirn, Es nagt der Wurm in unserm Hirn. Das Fleisch verwest zu Ackergrund. Stein stopft und Erde unsern Mund. Wir warten. Das Fleisch verwest, es dorrt das Bein. Doch eine Frage schläft nicht ein. Und wird nicht satt. Warum? Warum? Wir warten. Staub stopft und Erde uns den Mund. Doch unsre Frage sprengt den Grund Und sprengt die Scholle, die uns deckt, Und ruht nicht, bis sie Antwort weckt. Wir warten.5
Zu diesem Zeitpunkt war auch der Augsburger Gymnasiast Eugen Bertolt Brecht, der bei Kriegsausbruch 1914 noch vom allgemeinen Kriegstaumel erfasst worden war, bereits dabei, zu ernüchtern. Wahrscheinlich 1917 und unter dem Eindruck der Erzählungen seines Freundes Caspar Neher, der im Gegensatz zu Brecht selbst Frontsoldat geworden war, verfasste er die Legende vom toten Soldaten, später eines von Brechts berühmtesten Gedichten, das wie Feuchtwangers Gedicht das Motiv des unter der Erde verwesenden Soldaten aufgreift und dann in eine noch radikalere Richtung lenkt – der Soldat wird wieder ausgegraben, für tauglich erklärt und in einem grotesken Maskenzug erneut an die Front geschickt.
5 Feuchtwanger, Lion: Lied der Gefallenen. In: Feuchtwanger, Lion: Ein Buch nur für meine Freunde. Frankfurt/Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1984, S. 564.
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Nach einem Notabitur war Brecht 1918 Militärkrankenwärter geworden. Medizin in München zu studieren, war gleichzeitig auch der Versuch, der Einberufung an die Front zu entgehen. Nach dem Ende des Krieges musste er noch bis Anfang Januar 1919 als Sanitäter Dienst leisten; dann war er frei, und hatte natürlich nicht die geringste Absicht, weiter auf der medizinischen Laufbahn zu bleiben. Er wusste längst, dass er Dichter war. Die Frage war nur, wie er die Welt jenseits seines Augsburger Freundeskreises auch davon überzeugen konnte. Den Tipp, sich doch an Lion Feuchtwanger zu wenden, hatte ihm der Schauspieler Arnold Marlé gegeben. Zehn Jahre später, 1928, in seinem Artikel Bertolt Brecht dargestellt für Engländer, erinnert sich Lion Feuchtwanger an diese erste Begegnung so: Um die Jahreswende 1918/19, bald nach dem Ausbruch der sogenannten deutschen Revolution, kam in meine Münchner Wohnung ein sehr junger Mensch, schmächtig, schlecht rasiert, verwahrlost in der Kleidung. Er drückte sich an den Wänden herum, sprach schwäbischen Dialekt, hatte ein Stück geschrieben, hieß Bertolt Brecht. Das Stück hieß: »Spartakus«. Im Gegensatz zu der Mehrzahl der jungen Autoren, die, wenn sie Manuskripte überreichen, auf das blutende Herz hinzuweisen pflegen, aus dem sie ihr Werk herausgerissen hätten, betonte dieser junge Mensch, er habe sein Stück »Spartakus« ausschließlich des Geldverdienstes wegen verfasst. Um jene Zeit war im deutschen Drama der Expressionismus die Mode, unsre jungen Dramatiker rissen sich die Brust auf und holten lang hin hallende pathetische Deklamationen hervor, beteuernd, die sozialen Einrichtungen seien minderwertig, der Mensch hingegen gut. In dem Manuskript des neunzehnjährigen Bertolt Brecht stand nichts davon. […] Die Menschen des Manuskripts sprachen eine außermodische, wilde, kräftige Sprache, nicht aus Büchern zusammengelesen, sondern dem Mund des Volkes abgeschaut. Ich las also dieses balladenhafte Stück, und ich telephonierte dem Verwahrlosten, warum er mich denn angelogen habe; er habe doch dieses Stück niemals nur aus äußerer Not geschrieben. Da begehrte aber dieser junge Autor sehr auf, er wurde heftig, und fast bis zur Unverständlichkeit dialektisch und erklärte: gewiss habe er dieses Stück nur des Geldes wegen geschrieben; er habe aber noch ein andres Stück, das sei wirklich gut, und das werde er mir bringen. Er brachte es mir auch, es hieß »Baal«, hatte aber nichts mit dem Gotte gleichen Namens zu tun, sondern erwies sich als eine noch viel wildere, wüstere und sehr herrliche Sache.6
Was Feuchtwanger also sofort an dem jungen Brecht auffiel, war nicht nur das enorme Talent, sondern auch das Herausfallen aus dem zeittypischen Verhaltensmuster junger Autoren, wie das offene Bekenntnis zum Kommerz. Wenig könnte der öffentlichen Persona des späteren Brecht mehr widersprechen. Nun mochte Brecht verwahrlost aussehen, aber genau wie Feuchtwanger selbst war er durch und durch bürgerlicher Herkunft und der Sohn eines vermögenden Va6 Feuchtwanger, Lion: Bertolt Brecht. Dargestellt für Engländer. In: Feuchtwanger, Lion: Ein Buch nur für meine Freunde. Fischer Taschenbuch Verlag, 1984, S. 541.
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ters. Der junge Lion hatte seinen Vater Siegmund, einen Münchner Margarinefabrikanten, seinerzeit alles andere als glücklich gemacht, als er sich für eine schriftstellerische Laufbahn entschied, zumal der Erfolg dann erst einmal auf sich warten ließ. Daher muss Feuchtwanger so etwas wie ein Déjà-vu-Erlebnis gehabt haben, als sich Brechts Vater, der Papierfabrikant war, bei ihm in München vorstellte. Marta Feuchtwanger beschreibt, was folgte: Brechts Vater kam aus Augsburg zu Lion, um ihn um Rat zu bitten. Sein Sohn habe jetzt vor, das Medizinstudium aufzugeben, um Schriftsteller zu werden. Und da wollte er Lion fragen, der doch schließlich schon ein bekannter Autor sei, ob er glaube, dass sein Sohn genügend Talent habe, um es zu etwas zu bringen. Feuchtwanger antwortete: »Ich bin sonst nicht der Ansicht, dass man einem jungen Menschen anraten soll, Schriftsteller zu werden. Aber wenn Brecht nicht schreibt – der ist nämlich ein Genie -, wäre es eine Sünde.« Da hat der Vater gesagt: »Schön, ich werde Ihren Rat befolgen und ihm auch weiter einen Scheck schicken.« Als er an der Tür war, drehte er sich noch einmal um und sagte: »Sehen Sie, ich bin Fabrikant, ich fabriziere wunderbares weißes Papier, und dann bedrucken Sie es.«7
Die neue Bekanntschaft mit Brecht hätte für beide Feuchtwangers allerdings im »Blutmai« 1919, als die Räterepublik von Regierungstruppen und Freischärlern brutal niedergeschlagen wurde, sehr leicht ein gefährliches oder gar tödliches Ende nehmen können. Zu den Wohnungen, die von den »weißen« Soldaten nach ihrem Einrücken in München untersucht wurden, gehörte nämlich auch die der Feuchtwangers. Hören wir wieder Marta : Eine Reihe Soldaten stand vor der Türe. […] Sie stöberten alles durch, sahen in die Kachelöfen, in den Herd, unter die Betten, aber sie fanden nichts. Ärgerlich geworden, gingen sie daran, Lions Schreibtisch zu durchsuchen. Das erste, was sie entdeckten, war Brechts Stück »Spartakus«. Spartakus war aber auch der Name einer kommunistischen Gruppe, die terroristischer Akte in Berlin beschuldigt wurde. Bis dahin schien uns alles eher komisch, aber nun hatten wir Angst. Einer der Soldaten trat vor und blätterte im Manuskript. »Ist das ein Stück?« fragte er. Lion bejahte. Da rief der Soldat aus: »Ja, natürlich, Feuchtwanger. Jetzt weiß ich. Sie haben ›Warren Hastings‹ geschrieben. Ich habe das Stück in Düsseldorf gesehen. Großartig! Wird dieses Stück auch bald aufgeführt?« Lion antwortete: »Ich hoffe.« »Na dann wollen wir Ihnen viel Glück wünschen.« Und die Soldaten verließen die Wohnung. Das war nun der »Spartakus«, und Lion hat es auf sich genommen, das Stück als seines auszugeben, um Brecht zu schützen. Wenn Lion gesagt hätte, nein, das ist von Brecht, dann wären sie zu ihm gegangen und hätten ihn womöglich verhaftet. Das Werk wurde auf Lions Anraten aber erst später, nämlich am 29. September 1922, von den Kammerspielen mit gutem Erfolg uraufgeführt. Doch war der Titel zu ge-
7 Feuchtwanger, Marta: Nur eine Frau. München: Langen Müller Verlag 1983, S. 123.
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fährlich. Ich war ungemein stolz, als Brecht meinen Vorschlag annahm, das Stück »Trommeln in der Nacht« zu nennen.8
Nachdem diese unmittelbare Gefahr vorbei war, vermittelte Feuchtwanger seinem neuen Protegé neben dem Kontakt zu den Kammerspielen auch Verleger und Presseverbindungen. Gleichzeitig setzte auch ein Austausch von Ideen ein, die sich auch in den Werken des jeweils anderen niederschlugen. Die sprachlichen Überarbeitungen und Straffungen von Brechts beiden Stücken – also Trommeln in der Nacht und Baal – waren die eine Seite, doch auch Feuchtwanger arbeitete bereits seit Ende November 1918 an einem Stück, das er einen »dramatischen Roman« nannte, und in dem sich bald auch seine Bekanntschaft mit dem jungen Brecht auswirkte. Feuchtwanger befand sich in vieler Hinsicht in einer Übergangsphase: er hatte lange genug darum gerungen, sich als Kritiker und Dramatiker zu etablieren, doch nun, da er in beiden Kapazitäten einigermaßen sicher im Sattel saß, machte er sich daran, noch einmal das Genre zu wechseln, vom Theater zum Roman, und sich die Gegenwart und unmittelbare Vergangenheit der Nachkriegsmonate vorzunehmen. Dabei wirkte die Auseinandersetzung mit dem »jungen Menschen« und seinen Stücken Trommeln in der Nacht und Baal wie ein Katalysator. Da in der Brecht-Literatur jedoch gelegentlich behauptet wird, das fragliche Werk, das letztendlich den Titel Thomas Wendt trug, wäre »ausschließlich« von Brecht inspiriert – was auch daran liegt, dass die Titelfigur zwischendurch den Namen »Thomas Brecht« trug – , muss ich hier etwas ausholen, denn das entspricht so nicht der Faktenlage. Dank Feuchtwangers mittlerweile veröffentlichter Tagebücher von 1918 und 1919 lässt sich die Entstehung von Thomas Wendt unter dem unmittelbaren Eindruck der Münchner Revolution und der an ihr beteiligten Schriftsteller, allen voran Kurt Eisners, nämlich sehr gut datieren. 17. November 1918: »Rede Kurt Eisner. Sehr eindrucksvoll.«9 22. November 1918: »Eine Erzählung ›Der Tribun‹ begonnen.«10 Im den nächsten zwei Monaten wurde aus »Der Tribun« »Der Volkstribun«. Am 25. April 1919 heißt das Werk gerade in der Rohfassung beendete Werk Thomas Sturm11, und am 23. Mai, also zu einem Zeitpunkt, als er Brecht knapp zwei Monate kennt, notiert sich Feuchtwanger in Bezug auf das Werk erstmals: »Theorie des dramatischen Romans«12. Es heißt dann weiter am 28. Mai: »Ein ganz klein wenig an ›Thomas Brecht‹ gearbeitet«13, und am 11. Juni: »Etwas an 8 Ebd., S.126. 9 Feuchtwanger, Lion: Ein möglichst intensives Leben. In: Feuchtwanger, Lion: Ein Buch nur für meine Freunde, S. 210. 10 Ebd., S. 211. 11 Ebd., S. 216. 12 Ebd., S. 217. 13 Ebd.
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›Thomas Brecht‹ gearbeitet«14. Das geht so weiter bis zum 21. Juni. An dem Tag notiert Feuchtwanger: »Brecht will seinen Namen nicht für mein Stück verwendet wissen.«15 Von Brechts Missfallen daran, Namenspate zu stehen, haben wir auch das Zeugnis seines Freundes Caspar Neher. In Stephen Parkers Brecht-Biographie heißt es: Als sie sich an einem schönen Junitag in Ungerers Freibad trafen, teilte Brecht Neher die Neuigkeit mit, Lion Feuchtwanger habe ein fürchterliches Stück geschrieben, »Thomas Brecht«, und er sei die Vorlage für den Titelhelden. […] Nicht viel später trafen sie sich mit Feuchtwanger im Café Orlando. Neher notiert: »Man merkt, er hat Baal nicht verstanden und man fühlt er weiß nicht was wir wollen resp. was Bert will«.16
Was war da geschehen, und worum geht es in dem Stück eigentlich? Thomas Wendt, wie das Werk dann letztlich heißen sollte, ist in drei Bücher aufgeteilt: Buch 1 und 2 bestehen aus jeweils 15 Szenen, Buch 3 aus 16 Szenen. Buch 1 ist in der Vorkriegszeit angesiedelt, Buch 2 während des ersten Weltkriegs, Buch 3 in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Der Titelheld, welchen Nachnamen er auch immer trägt, hat zwar bereits in Buch 1 und 2 revolutionäre Ansichten, und außerdem einen ihn anhimmelnden Freundeskreis um sich, schreitet jedoch erst im dritten Teil, also in den unmittelbar nach Kriegsende angesiedelten Szenen, zur Tat, und scheitert letztendlich als Revolutionsführer an der Wirklichkeit. Sein unheroischer Rückzug ins Schriftstellerleben geht einher mit kommerziellem Erfolg; das Stück, das er in Teil 1 zugunsten der Wirklichkeit abgebrochen hat, wird verfilmt. Es trägt den Titel Spartakus. Von all den Dichtern, die während der Räterepublik tätig waren, erinnert dieser Lebenslauf, nebenbei bemerkt, vor allem an B. Traven, dem Autor u. a. des Schatzes der Sierra Madre, der sich in der Bayerischen Revolution noch Ret Marut beziehungsweise Otto Feige nannte und einer der führenden Köpfe der Räterepublik war. Aber dass der junge Brecht auf gar keinen Fall öffentlich mit einem fiktiven Dichter in Verbindung gebracht werden wollte, der an der Revolution sowie den meisten seiner persönlichen Beziehungen scheitert, und dem der zu späte wirtschaftliche Erfolg eher wie eine Demütigung erscheint, ist schon bezeichnend, wie auch der Verdacht nahe liegt, dass bei Caspar Nehers Äußerung »er weiß nicht was wir wollen respektive was Bert will« eher so etwas wie Beleidigtsein über die Darstellung der anhimmelnden Dichterfreunde sowie eine Portion Eifersucht spricht.
14 Ebd. 15 Ebd., S. 218. 16 Parker, Stephen: Bertolt Brecht. Eine Biographie, Position 4032ff.
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In seinen eigenen, privaten Notizen fühlte sich nämlich Brecht mitnichten von Feuchtwanger missverstanden. Am 6. Juli 1920 schrieb er über einen Besuch: »Feuchtwanger hat sich seine Brille ins Aug gestoßen und hockt im Kimono mit verquollenem Kindergesicht in verdunkelten Zimmern. Der schmerzhafte Makabäer. […] Er ist ein guter und starker Mensch, sehr klug und vornehm.«17 Er hörte auch auf Feuchtwangers Ratschläge hinsichtlich just des Stückes, von dem Neher meinte, dass Feuchtwanger es nicht verstünde, nämlich Baal. Am 24. August1920 notiert Brecht: »Feuchtwanger meint, ich soll die letzte Szene lassen, aber das Ganze (›Baal‹) habe sich halt im Manuskript viel besser gelesen. Das ist richtig, es stinket mir.«18 Dass nun Thomas Wendt in seinem Versuch, die Stilmittel des Romans mit denen des Dramas zu verschmelzen, eine der Inspirationen für Brechts Theorie des epischen Theaters abgegeben hat, wie er sie in dem von ihm und Feuchtwanger gemeinsam verfassten Stück Edward II nach Christopher Marlowe erstmals anwandte, ist daher alles andere als unwahrscheinlich. Feuchtwanger wiederum war, auch wenn er den Geniekult um den jungen Brecht mit etwas Ironie beschrieb, von Anfang an durchaus überzeugt, dass es sich bei dem jüngeren Mann tatsächlich um ein Genie handelte, und wich auch nie von dieser Überzeugung ab. Hören wir noch einmal aus seinem Essay Bertolt Brecht, dargestellt für Engländer: Der Dichter Bertolt Brecht, geboren 1898 in der kleinen Stadt Augsburg, sieht alles eher aus als deutsch. Er hat einen langen, schmalen Schädel mit stark hervortretenden Jochbogen, tiefliegenden Augen, in die Stirn hineinwachsendes schwarzes Haar. Auch gibt er sich betont internationalistisch […]. Dennoch ist dieser Nachkömmling deutscher evangelischer Bauern, der von den Deutschnationalen wüst angefeindet wird, in seiner Dichtung so deutsch, dass es verflucht schwer fällt, ihn jenseits von Deutschland verständlich zu machen. Es liegt ihm mehr an der Arbeit als an dem vollendeten Werk, mehr am Problem als an der Lösung, mehr am Wege als am Ziel. Er pflegt seine Dichtungen unendlich oft umzuarbeiten, zwanzig, dreißig Mal und für jede unbedeutende Provinzaufführung von neuem. Es liegt ihm durchaus nichts daran, dass ein Werk fertig ist, immer wieder, auch wenn sie zehnmal gedruckt ist, erweist sich die letzte Fassung als die vorletzte, er ist die Verzweiflung der Verleger und Theaterdirektoren. Wird er auf irgendeine innere Unwahrhaftigkeit aufmerksam gemacht, so scheut er sich nicht, die Arbeit eines Jahres rücksichtslos umzustoßen; aber er wendet keine Minute an die Korrektur eines groben Fehlers in der äußeren Wahrscheinlichkeit. Das überlässt er dem Regisseur oder seiner Sekretärin oder einem Herren X. Denn es liegt ihm mehr an der inneren Kurve seiner Menschen als an der äußern Kurve der Handlung. So finden sich in der Handlung seiner Stücke die krassesten Unwahrscheinlichkeiten. Die äußern Dinge sind so salopp hingeworfen, dass ihr Mangel an Zusammenhang und Logik viele 17 Brecht, Bertolt: Tagebücher 1920–1922. Autobiographische Aufzeichnungen 1920–1954. Frankfurt/Main Suhrkamp Verlag 1975, S. 16. 18 Ebd., S. 32.
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Hörer abstößt. Bertolt Brecht strebt Klassizität an, das heißt, strengste Sachlichkeit. Aber durch den Mangel an äußerer Glaubwürdigkeit wirkt er romantisch, und es haftet an allen seinen Dichtungen etwas Fragmentarisches. Er schreckt vor keiner Derbheit zurück und nicht vor letztem Realismus. Er ist ein wunderliches Gemisch von Zartheit und Rücksichtslosigkeit. Von Plumpheit und Eleganz, von Verbohrtheit und Logik, von wüstem Geschrei und empfindlicher Musikalität. Er wirkt auf viele abstoßend; aber wer einmal seinen Ton begriffen hat, kommt schwer los von ihm. Er ist widerwärtig und reizvoll, ein sehr schlechter Schriftsteller und ein großer Dichter und unter den jüngeren Deutschen ohne Zweifel der, der die meisten geniehaften Züge trägt. Bertolt Brecht hat eine Erfindung gemacht, er nennt sie das epische Drama. Er wird sehr böse, wenn man diese Erfindung aus seinem eignen Mangel an konstruktivem Sinn erklärt. […] Wahrscheinlich ist das Zentrum, von dem Brecht ausgeht, die Ballade. […] Wahrscheinlich ist es nicht leicht, die Musik dieser Verse in eine fremde Sprache zu übertragen; aber ich glaube, dass das Wesen dieser Dichtungen auch dem Nichtdeutschen zugänglich ist, und ich mache kein Hehl aus meiner Überzeugung, daß ich neben Kipling Brecht für den ersten Balladendichter unter den Zeitgenossen halte.19
Zu dem Zeitpunkt, als Feuchtwanger dieses Porträt seines Protegés verfasste, hatte er selbst bereits seinen großen internationalen Durchbruch geschafft, nicht als Theater-, sondern als Romanautor. Nach der geradezu hymnischen Besprechung seines Romans Jud Süß im »Observer« durch Arnold Bennett gehörte er zu den wenigen deutschen Autoren, die sich sowohl in Großbritannien als auch den USA einen festen Leserkreis eroberten, was ihm später während des Exils sehr helfen sollte. Das Porträt für Engländer ist daher durchaus wörtlich zu verstehen. Brecht war inzwischen zwar längst von der deutschen Kritik als das größte dramatische Talent der Gegenwart entdeckt worden, aber mit dem internationalen Durchbruch sollte es noch viele Jahre dauern. Doch noch einmal zurück zu den frühen 20er Jahren. Nachdem Feuchtwanger für die Aufführung von Baal und Trommeln in der Nacht in München gesorgt hatte, hörte Brecht nämlich zunächst durchaus nicht auf, seine alten Augsburger und neuen Münchner Freunde gegeneinander auszuspielen. Schließlich schien gerade der vierzehn Jahre ältere Feuchtwanger mit seiner bürgerlichen (und nunmehr erfolgreichen) Existenz just für das »System« zu stehen, gegen das die Jugend rebellierte, während umgekehrt Feuchtwangers Freundeskreis oft mit Entsetzen auf den jungen Mann aus Augsburg blickte. Marta Feuchtwanger schildert das, was folgte, so: Die gute Freundschaft zwischen Lion und Bruno Frank wurde nach einiger Zeit auf eine harte Probe gestellt. Der junge Brecht, der dem Manuskript seines »Baal« die Worte »Gegen Wedekind, gegen Georg Kaiser und gegen Hanns Johst« voranstellte, hatte 19 Feuchtwanger, Lion: Bertolt Brecht. Dargestellt für Engländer, S. 543f.
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zahlreiche Freunde in Augsburg, die rebellisch eingestellt waren wie er, und er hatte auch unter den jungen Schauspielern der Kammerspiele viele gefunden, die ihm staunend und gebannt zuhörten. Es konnte nicht ausbleiben, daß er, der Attacken gegen alles Hergebrachte ritt, glaubte, sich verteidigen zu müssen gegen manche, die sich wunderten über seine Freundschaft mit dem soviel älteren und schon arrivierten Lion Feuchtwanger. Erfolg machte sie misstrauisch. So kam eines Tages unser Freund Joachim Friedenthal, damals Korrespondent des ›Berliner Tageblatts‹ und der wichtigste Kritiker in München, mit einem feierlichen Gesicht zu uns. Er erzählte, da gehe ein junger Mensch herum, sein Name sei Brecht, und in vorgerückter Stunde habe er erklärt, er betrachte seine Freundschaft zu Feuchtwanger nur als ein Sprungbrett. Er nütze ihn einfach aus, sein Werk sei ihm völlig gleichgültig. Lion glaubte es nicht. Er wollte es nicht glauben. Er sagte, das sei wohl ein Missverständnis. Und der geschäftige, aber gutmütige Friedenthal zuckte die Achseln. Da kam Bruno Frank. Er erklärte Lion kurz und bündig: »Nach allem, was ich von diesem Brecht gehört habe – ich kann übrigens seinen Sachen keinen Geschmack abgewinnen, mir scheinen sie hilfloses Gestammel –, will ich dir eines sagen: Du musst wählen zwischen Brecht und mir.« Das war nun ganz verkehrt. Obwohl Lion allmählich glaubte, dass an dem Gerede etwas dran war, hatte er auch seinen Eigensinn. Vorschreiben ließ er sich nichts, auch nicht von seinem besten Freund. Er stellte Brecht zur Rede. Dieser leugnete nicht. Bald jedoch waren beide wieder vertieft in ihre Debatten und Pläne. Am Schluss des Nachmittags hatten sie vergessen, was sie zusammengebracht hatte. Und dabei blieb es. Es gab noch viel ironisches Gerede in den literarischen Kreisen, bis auch dieses verebbte. Lion hat die Freundschaft mit Frank nicht verloren.20
»Ich will ihn nur wegen seiner Verbindungen« musste spätestens dann etwas hohl klingen, als Brecht anfing, mit Feuchtwanger gemeinsam Stücke zu verfassen, etwas, das sich bis in das gemeinsame Exil fortsetzte, als Brecht längst der legendäre Autor der Dreigroschenoper war, der Altersabstand zwischen ihm und Feuchtwanger schon lange keine Rolle mehr spielte und so mancher gemeinsame Freund und Feind die Seiten gewechselt hatte. Noch beim letzten gemeinsamen Werk, den Gesichten der Simone Marchard, schrieb Brecht in sein Arbeitsjournal: »f [feuchtwanger] ist erfrischend klug und erträgt meine beschimpfungen – wenn er einen plot vorschlägt – mit philosophischer geduld und freundlichkeit.«21 Neben Simone Marchard und der Überarbeitung von Feuchtwangers Stück Warren Hastings in das gemeinsame Stück Kalkutta, 4. Mai ist das wichtigste gemeinsame Drama Das Leben Eduards II nach Christopher Marlowe. Hier lässt sich besonders gut erkennen, warum Feuchtwanger für Brecht auch schriftstellerisch so wichtig war. Zunächst einmal in der Wahl der Vorlage: Brecht, dessen Englischkenntnisse nie besonders gut und Anfang der 20er Jahre kaum existent waren, wurde erst durch den anglophilen Feuchtwanger auf die Werke des 20 Feuchtwanger, Marta: Nur eine Frau, S. 141f. 21 Brecht, Bertolt: Arbeitsjournal. Zweiter Band 1942 bis 1955. Frankfurt/Main: Suhrkamp Verlag 1973, S. 669.
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Shakespeare-Zeitgenossen Marlowe aufmerksam gemacht. Nun möchte man meinen, ein obskurer englischer König, den schon im England der 20er wenige Zuschauer im Gedächtnis gehabt haben dürften, um vom Deutschland der 20er ganz zu schweigen, sei nicht der vielversprechendste Stoff für einen jungen Dramatiker, der die deutsche Bühne umkrempeln möchte. Doch Brecht wollte ja eben ein Gegenwerk zu Shakespeares Historien schreiben, ein antiheroisches Stück, das nach dem ersten Weltkrieg Geschichte nicht als Inspiration, sondern als Weckruf nimmt. Dabei wirft die Brecht/Feuchtwanger-Fassung nicht nur eine Menge von Marlowes Nebenfiguren hinaus, sondern strafft im Vergleich zur Vorlage die Ereignisse ganz enorm. Die Soldaten mit ihren weißgemalten Gesichtern bei der Uraufführung erinnern an den gerade vergangenen Krieg. Radikal anders – verglichen nicht nur zu Marlowes Original, sondern auch zu Brechts sonstigen Stücken – sind vor allem die Figuren des Mortimer und der Königin, die bei Marlowe und in der Historie Isabelle, bei Feuchtwanger und Brecht hingegen Anna heißt. Mortimer ist bei Marlowe ein ehrgeiziger Baron, der den König absetzt, zum Liebhaber der Königin wird, und letztendlich von ihrem Sohn, dem zukünftigen Edward III., gestürzt wird. Im Brecht/Feuchtwanger Drama dagegen ist Mortimer ein Intellektueller und Nihilist, der auf dem Zenit der Macht erkennt, wie sinnlos alles ist, und seinen Untergang bereitwillig mit betreibt – mit anderen Worten, er nimmt die gleiche Entwicklung, wie es Feuchtwangers Joseph Süß Oppenheimer in dem Roman Jud Süß und seine Margarete Maultasch in Die häßliche Herzogin tun, in den Werken, an denen Feuchtwanger parallel arbeitete. Marlowes Königin Isabelle ist vor allem ein Beispiel für das Prinzip der verschmähten Frau, die sich rächt; sie liebt erst Edward, der sie zugunsten seines Liebhabers Gaveston abweist, dann Mortimer von Herzen, ohne einen nennenswerten Übergang zwischen diesen beiden Gefühlszuständen. Die Königin Anna der Feuchtwanger/Brecht-Fassung dagegen erhält eine eigene psychologische Entwicklung. Ihre Beziehung zu Mortimer ist keine Liebesaffäre, sondern an sich bereits ein nihilistischer Akt, verbunden mit wechselseitiger sexueller Abhängigkeit ohne Zuneigung. Sie ist gleichzeitig grausamer und hellsichtiger als Isabelle, und auf eine Weise selbstständig, die im Frühwerk Brechts, wo die weiblichen Figuren sonst nie eine Innenperspektive erhalten, sonst keine Parallelen hat, aber sehr wohl in den Romanen Feuchtwangers, so etwa in dem zeitgleich entstandenen Roman Die häßliche Herzogin. Um es noch einmal zusammenzufassen: einig waren sich die beiden Autoren in der Zurückweisung des Krieges als heroisch. Brecht lieferte das Subversive, die anti-historische Erzählung, das Wachrütteln der Zuschauer, wie durch das berühmte »Glotzt nicht so romantisch!«-Spruchband, und die moderne Sprache. Feuchtwanger dagegen ließ es sich nicht nehmen, bei aller Moderne trotzdem Psychologie und eine emotionale Entwicklung einzubauen, und einige seiner
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Lieblingsfigurentypen – den sich vom ehrgeizigen Streben zum meditativen Untergang entwickelten zerrissenen Ehrgeizling, die energische Frau, deren Sexualität mit einem intellektuellen Innenleben einhergeht. Zusammenarbeit, so sollte sich in Brechts weiterem Leben zeigen, war für ihn ein natürlicher Modus, anders als bei Feuchtwanger, der es abgesehen von seinen Kooperationen mit Brecht vorzog, alleine zu schreiben. So blieb es auch Brecht, der auf weiteres gemeinsames Schaffen drängte, selbst, als man nicht mehr in der gleichen Stadt, sondern in verschiedenen Ländern im Exil lebte, und Brecht längst kein mentorbedürftiges Jungtalent, sondern ein etablierter Dramatiker war. Als er mit der Recherche für sein Julius-Cäsar-Romanfragment begann, schrieb er an Feuchtwanger: »Schade, dass wir so weit auseinander wohnen. Das wäre ein Stoff für Zusammenarbeit wie am ›Edward‹. Den las ich neulich wieder. Wie gefällt er Ihnen heute?«22 Wie haben wir uns die Zusammenarbeit im Alltag vorzustellen? Zunächst ohne feste Arbeitsstunden, und dafür mit kompletter Verfügbarkeit, wie das mit den meisten Kooperationen in Brechts Leben verlief. In Feuchtwangers Tagebuchnotizen bleibt Brecht, wenn er einmal da ist, in der Regel den ganzen Tag oder die ganze Nacht lang. In seinem Nachruf auf Brecht von 1956 schildert Feuchtwanger den jüngeren Mann bei der Arbeit: Brecht schuf vor allem aus der Gebärde heraus. Er stellte sich zuerst die Gesten seiner Menschen in der jeweiligen Situation vor und suchte dann das entsprechende Wort. […] Einmal, während der Arbeit am »Leben Eduards des Zweiten«, als wir den ganzen Tag vergeblich nach dem rechten Wort gesucht hatten, lief er mitten in der Nacht zu mir, pfiff unter meinem Fenster, rief triumphierend: »Ich hab’s!«23
Dabei übernahm Feuchtwanger auch jenseits der Arbeit weiter so etwas wie eine Mentor- und Mittlerfunktion für Brecht, zum Beispiel, als es zum Eifersuchtsdrama zwischen den beiden Brechtfreunden Caspar Neher und Arnold Bronnen kam, während gleichzeitig die Weimarer Republik in München bereits sehr öffentlich von ihren Feinden zersetzt wurde, etwas, das für Feuchtwanger nicht abstrakt schriftstellerisch, sondern auch persönlich eine Bedrohung war. Ich zitiere aus Parkers Biographie: Die Eifersucht zwischen dem Tiger Cas und dem Schwarzen Panther Bronnen hatte sich so aufgeschaukelt, daß sie eines Abends bei den Feuchtwangers explodierte und der Gastgeber eingreifen mußte, damit ein betrunkener Neher nicht mit einer Champagnerflasche Bronnens Kopf einschlug. Das Dreigespann mußte sich von dem jüdischen Feuchtwanger eine ernsthafte Standpauke anhören. Er erklärte ihnen, hätte er Nehers Attacke nicht verhindert, wäre er, Feuchtwanger, sicher bald verhaftet worden. Seit einiger Zeit sammelten sich jeden Abend junge Leute vor seinem Haus, schrien anti22 Zitiert in: Feuchtwanger, Lion: Briefwechsel mit Freunden. Berlin: Aufbau Verlag 1991, S. 44. 23 Feuchtwanger, Lion: Bertolt Brecht. In: »Freundschaft« Nr. 29, 1968, S. 5.
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semitische Parolen und bewarfen das Haus mit Sand und Steinen. Er fürchte, er werde mit seiner Frau München bald verlassen müssen.24
Auch nach dem Umzug nach Berlin galt Feuchtwanger vor allem den Theaterleuten als »Brechtflüsterer«, den man im Notfall zur Hilfe holte, um mit dem ungebärdigen Genie fertig zu werden. Und sei aus dem Urlaub. Marta Feuchtwanger schreibt: (Am Gardasee) erreichte uns ein Telegramm von Leopold Jessner. Der Generalintendant des Berliner Staatstheaters bat Lion sofort zu kommen. Sie steckten mitten in den Proben zu »Eduard II«, und es sei absolut keine Möglichkeit, sich mit Brecht zu einigen. Brecht teile nicht die Auffassung des Regisseurs, und Lion sei die einzige Hoffnung. Wir fuhren schnell zurück. Ich blieb in München, und Lion reiste weiter nach Berlin. Als er zum Theater kam, hörte er schon von außen großen Lärm. Ein sehr alter, ganz in Schwarz gekleideter Hofschauspieler, der Jessner vertrat, kam auf Lion zu und sagte: »Dieser Herr Brecht, der tanzt einem auf dem Kopf herum. Vielleicht können Sie mit ihm fertig werden.« Lion hörte das Wort Scheiße, das war ihm sehr vertraut. Als er hineinkam, standen die Schauspieler verstört auf der Bühne, und Brecht saß unten mit dem Regisseur Jürgen Fehling. »Das ist ganz unmöglich«, erklärte Brecht gerade, »So kann es nicht weitergehen.« Fehling bat Lion zu vermitteln. Brecht: »Ja also, das ist vollkommen anders als unsere Auffassung.« Lion wandte sich an Brecht: »Müssen Sie denn immer Scheiße sagen? Können Sie nicht vielleicht sagen: Das ist zu sehr stilisiert.« Darauf Brecht: »Schön, lassen wir’s dabei, wenn Sie das für so wichtig halten.« Die Probe ging weiter, aber plötzlich schrie Brecht: »Das ist schon wieder stilisiert!« Natürlich brach ein großes Gelächter aus. Jürgen Fehling ging totenbleich an die Rampe und sagte: »Meine Herren Brecht und Feuchtwanger, so schwer es mir fällt, wenn ich zwei große deutsche Schriftsteller aus dem Haus weisen muß – aber es bleibt mir nichts anderes übrig. Bitte verlassen Sie das Theater.«25
Dabei brauchen wir uns Feuchtwanger durchaus nicht als endlos geduldig Brecht gegenüber zu denken. Die Figur des Kaspar Pröckl in Feuchtwangers großem satirischem Roman Erfolg von 1930 ist ein Brecht-Porträt, das zwar mit sehr viel Zuneigung verfasst ist, aber eben auch sehr komisch ist. Die Art, wie sich die Darstellung Pröckls zwischen Homage und Satire bewegt, lässt sich am besten an zwei Stellen demonstrieren. Pröckl, im Roman ein Dichter, der sich seinen Lebensunterhalt gleichzeitig als Ingenieur verdient, trägt seine Balladen vor, und der Auftritt ist sehr erkennbar der des jungen Bertolt Brecht: Als das Seiteninstrument da war, ging Pröckl an die Tür und schaltete alles Licht ein. Dann stellte er sich mitten in den Raum, und hell, frech, mit schriller Stimme, häßlich, unverkennbar mundartlich, überlaut begann er zu dem Geklapper des Banjos seine Balladen aufzusagen. Es enthielt aber diese Balladen Geschehnisse des Alltags und des 24 Parker, Stephen: Bertolt Brecht. Eine Biographie, Position 5976. 25 Feuchtwanger, Marta: Nur eine Frau, S. 161ff.
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kleinen Mannes, gesehen mit der Volkstümlichkeit der großen Stadt, nie so gesehen bisher, dünn und böse, frech duftend, unbekümmert stimmungsvoll, nie so gehört bisher.26
Kaspar Pröckl freundet sich im Laufe des Romans mit dem Schweizer Schriftsteller Jaques Tüverlin an, der ebenso erkennbar Lion Feuchtwangers Alter Ego in diesem Buch ist. Bei ihrer Diskussion über die Verantwortung des Schriftstellers in der Jetztzeit zieht Pröckl jedoch den kürzeren: Der Ingenieur Pröckl verlangte von Tüverlin gebieterisch, daß er aktivistische, politische, revolutionäre Literatur mache oder gar keine. Hatte es Sinn, während der gewaltigsten Umstellung der Welt läppische, kleine Gefühlchen einer sterbenden Gesellschaft festzuhalten? Sanatoriums-, Winterkurortspoesie zu machen, während der Planet zerrissen wurde vom Klassenkampf ? […] Schriftstellerei, wenn sie bleiben soll, muß den Wind der Zeit im Rücken haben. Oder eben sie wird nicht bleiben. Dokumente der Zeit machen müsse der Schriftsteller. Das sei seine Funktion. Sonst sei seine Existenz ohne Sinn. Diese Thesen stellte der Ingenieur Kaspar Pröckl auf, während er in seiner verschwitzten, unzweckmäßigen Lederjacke mit dem Schriftsteller Tüverlin spazieren ging. […] Er wurde sehr aggressiv, schrie Herrn Tüverlin seine Forderungen ins Gesicht […]. Tüverlin hörte ihm aufmerksam zu, ließ ihn ausreden, ließ sogar zweimal eine kleine Pause vorbeigehen, ohne sie zu einer Erwiderung zu benützen. Dann erst, vorsichtig, setzte er an. Der Herr sehe also die Funktion des Schriftstellers darin, Dokumente der Zeit aufzuzeichnen, zu konservieren, was in der Zeit historisch, Geschichte wirkend, wesentlich sei. Aber woher nehme der Herr seine Maßstäbe? Er für seinen Teil zum Beispiel sei nicht so unbescheiden, seine Wertung dessen, was Geschichte wirkend sei, für normativ zu halten. […] Dies brachte er vor mit seiner gequetschten, etwas komischen Stimme, doch nicht ohne Entschiedenheit. Er wollte hinzufügen, so gewiß sich der Herr diese Zumutung entschieden verbitten werde, so entschieden müsse er sich verbitten, daß man ihm die Grundanschauung vorschreibe, aus der er seine Visionen beziehe. Seine Weltanschauung sei für niemanden verbindlich, nur für ihn. Aber für ihn sei sie es. Es sei Anmaßung, ihm das bestreiten zu wollen. […] Pröckl [konnte sich] unmöglich länger bezähmen, er konnte den offenbaren Schmarren des anderen nicht zu Ende hören, sondern mußte den frechen Unsinn auf der Stelle widerlegen. Er käme kaum viel weiter, sagte er also höhnisch, wenn er die freundliche Aufforderung des Herren befolgte, nur von dessen relativistisch ästhetisierenden Sehwinkl aus zu arbeiten. […] Die Menschen um sie herum seien gespalten in zwei Klassen, die sich bekriegen. Dieser Bürgerkrieg sei Herrn Tüverlins naturgegebener Gegenstand, vor dem er sich nicht feig drücken könne. Er könne sich nicht in die Betrachtung chinesischen Porzellans vertiefen, während rings um ihn die Maschinengewehre tickten. »Hier ist Rhodus, hier springen Sie!« forderte er. Und während ein Fuhrmann kopf-
26 Feuchtwanger, Lion: Erfolg. Berlin: Aufbau1994, S. 246.
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schüttelnd ihn betrachtete, vor sich hinsagend: »So ein Hammel, so ein damischer«, wiederholte er mehrfach mit gellender Stimme: »Hier ist Rhodus, hier springen Sie!«27
Portrait eines Junggenies als genialische Nervensäge, könnte man zusammenfassen. Es fällt auf, dass Pröckl einerseits als Fanatiker gezeichnet wird, zum anderen aber auch im gewissen Sinn von dem Roman, in dem er sich befindet, Recht bekommt, denn Erfolg, ein Buch, das unter anderem den Hitler-Putsch und das bayerische Justizunwesen schildert, ist ja eben Feuchtwangers Versuch, sich nach einem Jahrzehnt voller historischer Romane wieder, wie in Thomas Wendt, ganz konkret mit der Gegenwart und der jüngsten Vergangenheit auseinanderzusetzen. Dennoch ist die Erzählung mehr auf Tüverlins Seite, denn von all den Schriftstellern, die im Roman Erfolg vorkommen, ist Tüverlin derjenige, dem es am Ende immer noch gelingt, die erlebte Realität in Literatur zu verwandeln. Pröckl hingegen, der den Roman hindurch immer wieder erlebt, dass der Dichter in ihm seinem inneren Ideologen im Weg steht, entscheidet sich schließlich, die Dichtkunst aufzugeben und in die Sowjetunion auszuwandern. Er tut das auch, weil er entdeckt hat, dass der Maler Brendel, der von Temperament und Talent her sein älterer Bruder hätte sein können, an der Enge des Lebens in Bayern zerbrochen und im Irrenhaus gelandet ist, etwas, das Pröckl schockiert und als Mahnung an sich selbst empfindet. Aber er tut es; er gibt die Kunst um der Ideologie willen auf. Meiner Vermutung nach könnte es dieser Umstand noch mehr als die mit einem Augenzwinkern gezeichneten Manierismen sein, die Brecht an der Figur Kaspar Pröckl so aufregten; er war alles andere als glücklich über dieses Alter Ego, dessen Rebellion ihren Träger letztlich nicht mehr subversiv sein lässt, sondern ihn zu einem zukünftigen Rad im (sowjetischen) Getriebe macht. Brecht reiste den Feuchtwangers in den Urlaub nach, um Feuchtwanger dazu zu bewegen, den Roman noch einmal umzuschreiben, und Kaspar Pröckl daraus zu entfernen. Im Gegensatz zu der Umbenennung von Thomas Brecht in Thomas Wendt ließ Feuchtwanger sich jedoch diesmal nicht erweichen, und wählte als seine Zermürbungs- und Besänftigungstaktik lange gemeinsame Spaziergänge. Zu Marta Feuchtwanger sagte Brecht: »Wissen Sie, wir machen so große Märsche. Ihr Mann will doch immer spazieren gehen, und das tut er nur, um mich zu ermüden, damit meine Argumente abgeschwächt werden.«28 Das »Sie« in der Anrede verloren die beiden nie; »Lieber Brecht« und »lieber Doktor«, heißt es in den Briefen. Dabei stellte sich menschliche Nähe durchaus ein; die emotionale und die Arbeitsbeziehung waren ineinander verwoben. In einem selbstkritischen Tagebucheintrag Feuchtwangers zum 1. Januar 1931 heißt es beispielsweise: 27 Feuchtwanger, Lion: Erfolg, S. 256ff. 28 Ebd., S. 202.
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Silvester bei Rowohlt. Schrecklich viel Leute. Mich mittelmäßig aufgeführt. Nicht so großspurig wie manchmal früher, aber doch zu beflissen, mich ins Licht zu setzen. […] Gegen Morgen leicht angetrunken schmeißt Rowohlt den Bronnen hinaus; ich suche mit etwas falschem Schwung zu vermitteln. Mich gefreut über Brechts Telefonanruf […]. Sehr spät nach Hause gekommen, sehr wenig geschlafen. Des Morgens im »Tageblatt« etwas blöde neckische »conference« über mich, über meine Eitelkeit, eine Sache, die mich ärgert, weil sie mich trifft. Brecht da. Unterredung mit ihm über dialektische Methode und Sinn der Kunst.29
Als sich im Exil in Sanary eine Krisensituation ergibt, weil Marta Feuchtwanger einen Unfall hat, zeigt sich Brecht von seiner besten Seite. Zunächst Marta: Als wir ausgestiegen waren, bot sich uns ein außergewöhnliches Naturereignis, ein ungeheuerlicher Sternschnuppenregen: die Meteore schossen kreuz und quer über den Himmel; riesig groß sahen sie aus, man glaubte, sie fielen direkt auf uns herab. Brecht sagte: »Wir wollen an den Strand gehen, da hat man einen freieren Blick ohne Bäume. Sagen Sie doch dem Doktor, er soll nachkommen.« Ich lief ins Haus und rief Lion. Er schloss sich den beiden an. Als die drei Männer unten waren, wendete ich den Renault in die Abfahrtsrichtung und wollte nachfolgen. Da sah ich plötzlich, dass der Wagen sich neben mir in Bewegung setzte. Ich lief hinterher und sprang außen auf das Trittbrett, um durchs Fenster die Bremsen fester anzuziehen; aber alles, was ich tun konnte, war, das Steuerrad schnell nach links zu reißen, so dass der Wagen nicht in die Richtung der drei Männer fuhr. Die merkten nichts von alldem, es war Nacht. Das Auto geriet, als ich es von außen lenkte, mit dem Vorderrad in eine Furche. Ich sprang ab, aber der Wagen kippte um und rollte über mich hinweg; auf der anderen Seite richtete er sich wieder auf. Da lag ich nun und tastete mich ab. Erst glaubte ich, ich hätte die Hüfte gebrochen, aber auf einmal habe ich am linken Bein eine Wunde gespürt. Es war ein offener Bein- und Knöchelbruch, und ich verlor viel Blut. Ich rief laut nach Brecht, von dem ich ja wusste, dass er etwas Medizin studiert hatte. Er rannte herauf und gab mir seinen Gürtel, damit ich sofort das Bein abbinden konnte, um nicht zu verbluten. Dann schickte ich ihn und Zweig mit der Taschenlampe, die sie im Wagen fanden, zu Huxleys. Sie brauchten nur durch den Wald und dann die Küste entlang zu gehen, das erste Haus rechts war das der Huxleys, die ein Telephon hatten.30
Feuchtwanger, der in praktischen Dingen völlig von seiner Frau abhängig war, versetzte das Ereignis in Panik, wie sich den Tagebucheinträgen entnehmen lässt: 9. Oktober: Marta, wie sie Zweig und Brecht holt, bricht sich das Bein. Liegt über 2 Stunden hilflos auf der Straße. Huxleys kommen, noch mehr Leute. Schließlich schafft man sie nach Toulon in die Klinik. Der Arzt sieht den Fall ziemlich ernst, die Möglichkeit einer Infektion und der Amputation besteht. Schreckliche Nacht in der Klinik verbracht.31 29 Feuchtwanger, Lion: Ein möglichst intensives Leben, S. 257. 30 Feuchtwanger, Marta: Nur eine Frau, S. 246ff. 31 Feuchtwanger, Lion: Ein möglichst intensives Leben, S. 335.
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11. Oktober: Nachmittag zu Marta gefahren. Brecht und Zweig, die ich für sehr egoistisch gehalten hatte, benehmen sich sehr anständig.32 12. Oktober: Marta besucht. Sie ist ganz gut aufgelegt. Man wird erst in 3/4 Tagen etwas Endgültiges sagen können. Die letzten Kapitel, die ich geschrieben habe, gefallen ihr nicht besonders. Dann bei Brecht und Zweig gegessen. Heftige Ablehnung meines Romanschlusses.33 (Der Roman: Die Geschwister Oppermann.) 15. Oktober: Angst wegen Marta. Abends kommen Zweig, Brecht, die Steffin. Bringen befriedigende Nachricht. Ich sehr müde und kaputt. 16. Oktober. Nachmittag mit Brecht, Zweig, Lola usw. nach Toulon zu Marta. Marta geht es wieder gut. Die Gefahr ist vorbei. Abends mit den anderen in Sanary. Ich ziemlich dumm, Zweig unleidlich […] Brecht […] vernünftig.34
Brecht als derjenige, der beruhigt, beschwichtigt, vernünftig ist, statt derjenige, der von seinen Mitarbeitern beider Geschlechter betreut und umsorgt wird: in dieser Rolle denkt man sich ihn kaum, und er hat sie wohl auch nicht allzu oft gespielt, doch für Feuchtwanger tat er es in dieser Situation. Während der Exiljahre war Feuchtwanger einer von eigentlich nur drei deutschen emigrierten Autoren – Thomas Mann und Franz Werfel waren die anderen beiden – die bereits vor der Ankunft in den USA über einen amerikanischen Leserkreis verfügten, und so ein einigermaßen gesichertes Einkommen hatten, statt auf Hollywood oder die finanzielle Unterstützung dritter angewiesen zu sein. Für Brecht galt das nicht. Sein Durchbruch im amerikanischen Theater oder im amerikanischen Film fand während seiner Jahre in den USA nie statt, obwohl in dieser Zeit immerhin die englischsprachige Fassung von Galileo Galilei mit Charles Laughton erarbeitet und zur Aufführung gebracht wurde. Dabei war Feuchtwanger auch weiterhin hilfsbereit, wenn nötig, auch finanziell – etwa, als Brecht sich von Feuchtwangers russischem Verlag dessen Tantiemen auszahlen ließ, um die Sowjetunion überhaupt verlassen und die Überfahrt nach Amerika bewerkstelligen zu können, oder, bei ihrer letzten gemeinsamen Arbeit, dem Simone-Marchard-Projekt, bei dem Feuchtwanger eine Romanfassung erstellte, Brecht eine Theaterfassung, und es Feuchtwanger gelang, die Filmrechte an MGM zu verkaufen. Die Verfilmung kam nie zustande, aber das Geld half Brecht eine ganze Weile weiter. An der Art, wie die beiden Männer an den Stoff herangingen – den Versuch, Jeanne d’Arc in die Gegenwart des besetzten Frankreichs zu versetzen –, zeigt sich allerdings auch wieder ihr unterschiedlicher Ansatz, und damit meine ich nicht die Romanform im Vergleich zum Drama. Identisch ist in beiden Fällen die Verbindung, die sich schnell zwischen der französischen Großindustrie und den 32 Ebd., S. 336. 33 Ebd. 34 Ebd.
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deutschen Besatzern herstellt, die Korruption durch Macht und Geld, aber auch die Hoffnung auf Widerstand aus der Bevölkerung – in beiden Fassungen hat Simones Tat am Ende inspirierend gewirkt. Doch während Brechts Simone ein Kind ist, das naiv und gutgläubig beginnt und endet, nur lernt, wo es seinen Idealismus richtig einsetzen kann, ist Feuchtwangers Simone eine Jugendliche in der Pubertät, die auch mit ihrer erwachenden Sexualität kämpft und im Laufe des Romans erwachsen wird. Sie lernt nicht nur wie bei Brecht, gesellschaftliche Zusammenhänge, sondern auch, Menschen zu durchschauen. Diese unterschiedliche Charakterisierung der Hauptfigur ist übrigens auch der Grund, warum das Stück auch nach Brechts Tod sehr selten gespielt wurde; Brecht und seine Erben bestanden darauf, dass Simone ausschließlich von einer kindlichen Darstellerin verkörpert werden dürfe. Sowohl Brecht als auch Feuchtwanger waren sich sehr bewusst, dass sie vom FBI überwacht wurden; Marta Feuchtwanger und Helene Weigel machten sich gelegentlich einen Spaß daraus, sich am Telefon Kochrezepte auf Polnisch vorzulesen, obwohl keine von beiden die Sprache beherrschte. Doch als Brecht schließlich vor dem Ausschuss für unamerikanische Umtriebe geladen wurde, bedeutete das auch letztendlich die Trennung der beiden Freunde. Nach Brechts letztem Besuch bei Feuchtwanger am Tag vor seiner Aussage sollten sie sich nie wieder sehen. Feuchtwanger wäre gerne zu einem Besuch nach Europa gekommen, doch er blieb bis zu seinem Tod 1958 staatenlos, trotz laufender Versuche, die amerikanischen Staatsbürgerschaft zu erhalten, und ohne eine Staatsbürgerschaft wagte er es nicht, die USA verlassen; zu groß war die Furcht, danach nicht mehr einreisen zu dürfen und so Haus und Heim ein drittes Mal zu verlieren. Dabei bleiben er und Brecht in brieflicher Verbindung. Beide Schriftsteller lebten nun in den gegensätzlichsten »Fronten« des Kalten Krieges, die sich denken ließen; Brecht in Ostberlin, als der am stärksten gefeierte Autor der DDR, ohne jedoch je deren Staatsbürgerschaft anzunehmen, Feuchtwanger in Los Angeles, wo sein ihm nach wie vor treubleibender Erfolg als Romanautor nichts daran änderte, dass ihm weder die amerikanischen Behörden eine neue, noch die westdeutschen Behörden seine alte Staatsbürgerschaft wiedergeben wollten. »Meine Situation hier ist nicht gerade gemütlich, eine unbehagliche, wohlhäbige Ruhe, und am Rand winken ein paar Herren mit Atombomben«35, schrieb er an Brecht. Das Alter hatte sie beide eingeholt, doch nichts an der gegenseitigen Zuneigung, der Tendenz, einander zu necken, und dem grundsätzlichen Skeptizismus gegenüber Vereinnahmungen geändert. Brecht versuchte, Feuchtwanger zu dem Risiko einer letzten Reise nach Europa zu überreden:
35 Zitiert in: Feuchtwanger, Lion: Briefwechsel mit Freunden. Berlin: Aufbau Verlag, 1991, S. 82f.
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Ich hätte gern wieder einigermaßen regelmäßige Gespräche mit Ihnen. Frau Marta könnte Ihnen hier bestimmt die gewohnten Speisen bereiten, und in den Antiquariaten findet man immer noch die Reste der Junkerbibliotheken, viel Französisches. Das Gedicht in dem Gedenkbüchlein zu Ihrem Geburtstag habe ich drucken lassen, um Sie an die Zeit zu erinnern, als wir Sie immer nach Skandinavien einluden. Im großen und ganzen lebt man in Hinsicht auf ein vorgestelltes Publikum und einige wenige Leute, die man dann schmerzlich vermisst. Bitte, grüßen Sie Ihre Frau, und seien Sie selbst herzlichst gegrüßt von Ihrem b36
Feuchtwangers Antwort war charakteristisch für die Mischung aus Zuneigung und Ironie, die den Ton ihrer Korrespondenz ausmachte: Ich lese mit Vergnügen in Zeitungen der verschiedensten Länder, wie sich Ihr Werk durchsetzt. »Selbst der Chinese malt mit zitternder Hand Mutter Courage aufs Glas«. Ich habe mir hier von einer netten Chinesin, die freilich zwischen Formosa und »Mainland« hin und zurück schwankt, sagen lassen, wie ungefähr »Mutter Courage« chinesisch lautet. Aber im Ernst: Es ist ein starkes Zeugnis für Ihren inneren und äußeren Erfolg, dass man ihn auch hier im Feindesland zur Kenntnis nimmt. Ich brauche Ihnen wohl nicht umständlich zu schildern, wie es mir hier geht. Die Arbeit macht mir Spaß, wiewohl angesichts der Zeit, die mir noch bleibt, die Auswahl unter dem Vielen, was ich noch schreiben möchte, immer schwieriger wird. Es ist mir oft leid, dass ich darüber nicht mit Ihnen reden kann. Wie ich überhaupt ein beredtes Streitgespräch mit Ihnen, geführt im Münchner Humanisten- und Augsburger RenaissanceDeutsch sehr vermisse.37
Angesichts des Altersabstands zwischen beiden rechnete Feuchtwanger nie damit, dass Brecht vor ihm sterben würde. Die Nachricht, die ihm Helene Weigel per Telegramm übermittelte, traf ihn aus heiterem Himmel. Er schrieb ihr am 24. August 1956 in Worten, die noch einmal versuchen, diese kreative Freundschaft zusammen zu fassen, die im München der Räterepublik begonnen und mehrere Staatsformen überlebte, sowie teilweise höchst unterschiedliche schriftstellerische Ansätze und Persönlichkeiten, um von der räumlichen Trennung durch Kontinente ganz zu schweigen: Liebe Helli, es fällt mir schwer, mich zurechtzufinden in einer Welt ohne Brecht. Wenn ich an Rückkehr nach Europa dachte, dachte ich immer zuerst an Brecht. Als er sich hier auf der Terrasse des Hauses von mir verabschiedete und darauf drängte, dass doch auch ich bald käme, war ich sicher, dass wir uns nicht auf lange trennten. Brecht war mir trotz aller Gegensätzlichkeiten sehr nahe, und wiewohl er in privaten Dingen scheu war, so war er doch, glaube ich, mir gegenüber in allem Wichtigen offen.38
36 Ebd., S. 87f. 37 Ebd., S. 88f. 38 Ebd. S. 99.
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Literatur Brecht, Bertolt: Arbeitsjournal. Zweiter Band 1942 bis 1955. Frankfurt/Main: Suhrkamp Verlag 1973. Brecht, Bertolt: Tagebücher 1920–1922. Autobiographische Aufzeichnungen 1920–1954. Frankfurt/Main Suhrkamp Verlag 1975. Feuchtwanger, Lion: Bertolt Brecht. Dargestellt für Engländer. In: Feuchtwanger, Lion: Ein Buch nur für meine Freunde. Frankfurt/Main: Fischer Taschenbuch Verlag, 1984. Feuchtwanger, Lion: Bertolt Brecht. In: »Freundschaft« Nr. 29, 1968. Feuchtwanger, Lion: Briefwechsel mit Freunden. Berlin: Aufbau Verlag 1991. Feuchtwanger, Lion: Briefwechsel mit Freunden. Berlin: Aufbau Verlag, 1991. Feuchtwanger, Lion: Ein möglichst intensives Leben. Die Tagebücher. Berlin: Aufbau Taschenbuch Verlag 2020. Feuchtwanger, Lion: Ein möglichst intensives Leben. In: Feuchtwanger, Lion: Ein Buch nur für meine Freunde. Frankfurt/Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1984. Feuchtwanger, Lion: Erfolg. Berlin: Aufbau Verlag 1994. Feuchtwanger, Lion: Lied der Gefallenen. In: Feuchtwanger, Lion: Ein Buch nur für meine Freunde. Frankfurt/Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1984. Feuchtwanger, Marta: Nur eine Frau. München: Langen Müller Verlag 1983. Parker, Stephen: Bertolt Brecht. Eine Biographie. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2018.
Zbigniew Feliszewski (Katowice)
»… Manches mal fragt man sich welchen tieferen Sinn es hat hier zu bleiben…« Caspar Neher und Bertolt Brecht
Caspar Neher gehörte zum engsten Freundeskreis Bertolt Brechts. Eine bis dato unbekannte Korrespondenz zwischen Neher und Rolf Badenhausen legt nahe, dass Brecht und Neher lange Zeit nicht nur die geographische Distanz trennte, die mit Brechts Exil begann und – abgesehen von wenigen Ausnahmen – bis zu seiner Rückkehr nach Ostberlin 1948 dauerte, sondern vor allem politische Meinungsverschiedenheiten, die die jugendlich-schwärmerische Freundschaftsnähe zunehmend überschatteten, ohne jedoch die weitere Zusammenarbeit im Wesentlichen zu beeinträchtigen. Diese im Frühling 2020 von der Stadt Augsburg erworbene Korrespondenz besteht aus 16 Briefen und Postkarten aus den Jahren 1952–1960.1 Die meisten betreffen Terminvereinbarungen angehender oder bereits laufender Theaterproben und Kooperationsvorschläge. Einige von ihnen geben Auskunft über die ausgetauschten Skizzen, geplanten Inszenierungen und Ausstellungen, enthalten Kommentare zu den Aufführungen, die ein starkes Presseecho fanden, Informationen über den Wechsel in den Theaterleitungen verschiedener Bühnen, Glückwünsche zu erhaltenen Preisen, aber auch Kritik an den Missständen an Theatern, etwa an den Münchner Kammerspielen oder dem Berliner Ensemble. Nur in zwei Briefen weist Neher auf Brecht direkt hin, jedes Mal jedoch mit einem kritischen Unterton. In den ersten zwei Jahren (1952–1954) schrieben sich Neher und Badenhausen regelmäßig, zumeist in Abständen von nur wenigen Wochen, mitunter sogar nur Tagen. Mit der Zeit wurde der Briefwechsel immer sporadischer. Zwischen dem letzten Brief von 1954 und dem nächsten – datiert auf den 26. Februar 1956 – waren beinahe anderthalb Jahre vergangen. Darauf folgten weitere Briefkontakte, zwar mit einer wesentlich geringeren Häufigkeit als zuvor, aber dennoch regelmäßig. Hingegen stammen nur vier Briefe bzw. Postkarten aus dem Jahr 1957; die zwei letzten wurden jeweils im Herbst 1959 und 1960 verfasst. Dass Neher und 1 Korrespondenz zwischen Caspar Neher und Rolf Badenhausen. Brecht Forschungsstätte Augsburg.
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Badenhausen sich auch telefonisch kontaktiert und gelegentlich einander besucht hatten, kann den Rückgang an Intensität des Briefwechsels nur teilweise erklären. Die Korrespondenz macht deutlich, dass persönliche Treffen entweder während der Theaterfestspiele oder Proben zu gemeinsamen Projekten stattfanden und zumeist von kurzer Dauer waren. Oft mussten sie allen Bemühungen und gutem Willen zum Trotz von der Agenda gestrichen werden. Dennoch ist der Schriftverkehr eine interessante Quelle über relevante Aspekte des Theaterlebens im gesamten Deutschland der 50er Jahre. Er gewährt Einblick hinter die Kulissen der Theaterarbeit oder macht – wenn auch indirekt und nur andeutungsweise – die Hierarchien im damaligen Kulturbetrieb sichtbar. Nicht ohne Bedeutung ist die Tatsache, dass Caspar Neher im genannten Zeitraum nicht nur vielerorts tätig war – etwa in London, Wien, Zürich, Berlin, München, Stuttgart – und seine Arbeiten im Ausland zu popularisieren versuchte, sondern bereits zwischen Ostund Westberlin pendelte. Im Januar 1957 feierte das Berliner Ensemble die Premiere von Brechts Leben des Galilei im Theater am Schiffbauerdamm, das Bühnenbild gestaltete Caspar Neher. Ähnlich wie Brecht wirkte er überdies in verschiedenen politischen und wirtschaftlichen Systemen: dem der Weimarer Republik, des Dritten Reiches, der Bundesrepublik Deutschland und zeitweise in dem der Deutschen Demokratischen Republik. Das Schwanken »zwischen den Systemen« stellt eine wesentliche Grundlage zur Erforschung des Kulturtransfers dar, der ja – das wissen wir spätestens seit Michel Espagne – grundsätzlich auf den Vermittlungsinstanzen gründet. Der Kulturtransfer eröffnet die Perspektive, die das Individuum in einer Sozial- und Systemtopologie in den Vordergrund stellt. Der Künstler handelt immer in einem Raum, der sich »aus sozialen Feldern und Positionen [konstituiert], die Wahrnehmung, Interpretationen von Realität, Spielregeln, Währungen und Handlungschancen von Akteuren prägen und gleichfalls von ihnen geprägt werden«2. Die Existenz des Kulturbetriebs ohne andere soziale Felder – der Ökonomie wie auch der Politik – erweist sich dabei als unmöglich.3 Dies führt zur leitenden Fragestellung nach den konzeptionellen Vermittlungen »zwischen Handlungschancen von Individuen begrenzenden Strukturen und deren Wandel durch soziales Handeln«4 und zwar in einer zeitlich viel breiter angelegten Perspektive, als es Pierre Bourdieu in seiner Studie zu den Kunstfeldern im Kulturbetrieb ausführt.5
2 Schnell, Christiane: Der Kulturbetrieb bei Pierre Bourdieu. In: »Jahrbuch Kulturmanagement« Nr. 1, 2010, S. 43–53, hier S. 44. 3 Vgl. ebd. 4 Ebd. 5 Vgl. Bourdieu, Pierre: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Übers. von Bernd Schwibs und Achim Russer. 1. Aufl. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2001.
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Eine solche historische Perspektive der Freundschaftsbeziehung zwischen Brecht und Neher schildert Jürgen Hillesheim in einer der wenigen Besprechungen des Brieffundes in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung«6. Nehers Briefe seien ein Zeugnis eines endgültigen Zerbrechens dieser Freundschaft, die bereits schon früher tiefe Einschnitte erlitten hätte und auf die Brecht aber nicht zuletzt durch seine unbändige Geschäftstüchtigkeit immer wieder Hoffnung setzte. Neher blieb jedoch distanziert und wollte lieber seine Kontakte zu Gustaf Gründgens oder Hans Schweikart pflegen: »Ihre Persönlichkeiten waren völlig gegensätzlich, was 1952/53, als beide schon weit mehr als fünfzig Jahre alt und mehr als vierzig Jahre lang befreundet waren, zum Bruch dieser Freundschaft führte.«7 Beide kannten sich seit 1911, als Neher, Sohn eines Hauptschullehrers, an das Augsburger Königlich Bayerische Realgymnasium an der Blauen Kappe wechselte, das später den Namen Peutinger-Gymnasium erhielt, da er in einer anderen Schule sitzengeblieben war.8 In dieser Zeit bildete sich um Brecht, der sich mit den bürgerlich-konservativen Stimmungen Augsburgs schonungslos auseinandersetzte, was ihm schnell den Beinamen »Bürgerschreck« einbrachte, eine Gruppe junger Menschen, die der angehende Schriftsteller in seinen Bann zog. In dieser »Brecht-Clique« hatte Neher als brillanter Zeichner eine Sonderstellung: »Er illustrierte Brechts frühe dichterische Versuche, mit seinen Entwürfen schmückte Brecht seine Mansarde.«9 Max Hohenestern, ebenfalls Schüler des Gymnasiums, der auch zu der »Clique« gehörte, beschreibt sie folgendermaßen: »In Bert Brechts Zimmer im väterlichen Hause waren alle Wände mit Nehers 6 Auf diesen Bericht vom 12. April 2021 folgten einige weitere Pressemeldungen, die sich jedoch weniger mit dem Gehalt der Briefe beschäftigen und eher die von Hillesheim gestellte These noch präzisieren oder das Skandalpotenzial, das sich dabei abzeichnete, in den Fokus nehmen. Vgl. dazu den Blogeintrag von Arno Loeb in der »Neuen Augsburger Rundschau« Wirbel um Brecht-Experten Hillesheim – Nur Diskussion oder schon Streit?, in dem er den Brieffund mit dem Verriss des Hillesheim-Buches über das Motiv des Baumes in der Brechtschen Lyrik in Verbindung setzt. URL: https://neue-augsburger-rundschau.blogspot.com/2021/04/wirbel-u m-brecht-experten-hillesheim.html / letzter Zugriff am 10. 12. 2021. 7 Vgl. Hillesheim, Jürgen: Als der Bühnenbauer die Nase voll hatte. Bislang unbekannte Briefe zeigen, wie Caspar Nehers Freundschaft mit Brecht endete. In: »Frankfurter Allgemeine Zeitung« Nr. 84, 2021, S. 12. 8 Vgl. Schumacher, Ernst / Schumacher, Renate: Leben Brechts in Wort und Bild. Berlin: Henschelverlag 1979, S. 14, Vgl. hierzu auch Fuegi, John: Brecht & Co. Sex, Politics, and the Making of Modern Drama. New York: Grove Press 1994, S. 17. Fuegi legt nahe, dass der junge Cas, wie man ihn zu nennen pflegte, in den meisten Fächern schwächer war als sein ein Jahr jüngerer Schulkamerad Bert: »Cas […] was slower in most school subjects than his younger friend, though he did show from very early childhood on great gifts in drawing. Neher’s father, a stern and rigid gymnasium teacher, made no bones about his dissapointment at his son’s slowness. Though Herr Neher recognized his son’s talent as an artist, he reacted strongly against it as a way of making a living.« 9 Hillesheim, Jürgen: Als der Bühnenbauer die Nase voll hatte, S. 12.
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Zeichnungen bedeckt und […] an der Decke prangte der große Baal, […], gezeichnet von Neher.«10 Im konservativen Augsburg verstand sich die Gruppe als Vorläufer einer Revolution gegen die reaktionären Tendenzen im provinziellen Stadttheater und als Bilderstürmer gegen die bürgerliche Mentalität und Moral. Diese »Frühaufführungen«, wie Siegfried Melchinger das Wirken der Clique bezeichnete, hatten etwas von der »Gipsmonumentalität«, die Brecht noch 30 Jahre später erschaudern ließ.11 Wenn Neher auch bisweilen seinen Freund um dessen »ungeheure Anziehungskraft«12 beneidete, blieb er auch nach dem Verlassen des Gymnasiums im Kreise der »Clique«. Brecht vermittelte ihm kunstgeschichtliche Kenntnisse und Neher setzte Brechts eigene Menschenbilder plastisch um. Eines der Resultate jener fruchtbaren Zusammenarbeit ist das Bildnis des »Wasserfeuermenschen«. Ernst Schuhmacher, der in Bayern geborene und nach Ostberlin umgesiedelte Biograph Brechts, behauptet dazu: Wenn es je ein Porträt gab, das ihn gleichzeitig als Prototyp des abgehärteten […] illusionslosen, aus der Vereinzelung einen Kult machenden »Städtebewohners« erscheinen ließ, dann sollte es Neher Bildnis vom »Wasserfeuermensch« sein, das Brecht in die »Hauspostille« aufnahm und dessen Vernichtung im Kriege er nach den zweiten »großen Zeiten« ein kurzes Gedicht widmen sollte.13
Es handelt sich um eine Zeichnung, die sich in leicht abgewandelter Form in Nehers Szenenskizzen zu Mahagonny-Uraufführung in Leipzig (1930) wiederfindet. Sie zeigt einen kräftigen Mann im Schneidersitz, gekleidet in Hemd und Anzug, mit einem Hut auf dem Kopf. An seinen gefalteten Händen hängt eine Art Perlenkette. Neben ihm ein Vogelkäfig und eine Kugel, hinten die tobende Kulisse. Mit seinem gelassenen, aber unerschütterlichen Gesicht und durchdringenden, ruhigen Blick verkörpert er die Unzerstörbarkeit einer neuen Spezies Mensch, jener standhaften Elementarwesen, die ausdauernder sind als die Gewalt, die »im Asphaltdschungel« über sie hereinbricht. Später wird Brecht diese »sinnenfrohen Meister des Überlebens«14 in seine Stücke aufnehmen: Die Figuren des Schweyk, Keuner, Azdak und selbst Me-ti besitzen eine außergewöhnliche, quasi instinktive Anpassungsfähigkeit und eine durchtriebene Schläue, die
10 Gier, Helmut / Elsen, Thomas: Einleitende Bemerkungen. In: Tretow, Christine / Gier, Helmut (Hg.): Caspar Neher – Der größte Bühnenbauer unserer Zeit. *11. 4. 1897 Augsburg – † 30. 6. 1962 Wien. Opladen, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 1997, S. 7. 11 Vgl. Melchinger, Siegfried: Neher and Brecht. In: »TDR (1967–1968)« Vol. 12, Nr. 2, 1968, S. 134–145, hier S. 135. 12 Hillesheim, Jürgen: Als der Bühnenbauer die Nase voll hatte, S. 12. 13 Schumacher, Ernst / Schumacher, Renate: Leben Brechts in Wort und Bild, S. 14. 14 Grimm, Reinhold: Bertolt Brecht. In: Steinecke, Hartmut (Hg.): Deutsche Dichter des 20. Jahrhunderts. Berlin: Erich Schmidt Verlag 1994, S. 417–438, hier S. 422.
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sie zu jenen Wesen machen, die alle schlimmsten Umstände überdauern können.15 Knapp ein Jahr nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs meldete sich Neher freiwillig zum Fronteinsatz. Brecht blieb in Augsburg. Dass er sich vor dem Kampfeinsatz drückte, ist einerseits auf seine nicht objektivierbaren Herzprobleme zurückzuführen, von denen er in seinen Tagebüchern berichtete, er habe sie bereits schon in seinem dreizehnten Lebensjahr »erzielt«16, andererseits auf den Beistand seines Vaters. 1917 bestanden Brecht und die verbliebenen Schüler eine eigens zu Kriegszeiten eingerichtete und erleichterte Version des Notabiturs. Eigentlich hätte Brecht sofort eingezogen werden müssen. Mit Hilfe seines Vaters wurde ihm jedoch eine Stelle als »Kriegshelfer« im Augsburger Rathaus zugewiesen.17 Kurz darauf eröffnete der enorme Bedarf an medizinischem Personal dem gerade immatrikulierten Medizinstudenten an der Ludwig-MaximiliansUniversität in München die Möglichkeit, den Militärdienst als Sanitäter in einem Augsburger Reservelazarett abzuleisten, wo ihn der Umgang mit verwundeten Soldaten in seiner Kriegsgegnerschaft noch bestärkte. Brecht wurde Sanitäter, Neher – Kanonier. Sein Dienst an der Front in verschiedenen Kampfeinheiten umfasste zweiunddreißig verschiedene Schlachten, darunter zwischen 1917 und 1918 Einsätze an der berüchtigten Front vor Verdun und den folgenden Stellungs- und Rückzugskämpfen. In der Doppelschlacht bei Aisne-Champagne am 14. April 1917 wurde Neher sogar verschüttet. Während Brecht seiner jugendlichen Maxime, »es sei nicht heldenhaft, für das Vaterland zu sterben«, die ihm fast den Verweis von der Schule eingebracht hatte, grundsätzlich verpflichtet blieb – auch wenn er noch zu Kriegsbeginn, um Geld zu verdienen, schwärmerischaufmunternde Kriegsberichte für die »Augsburger Neueste Nachrichten« verfasste – folgte Neher der allgemeinen Kriegsbegeisterung. Zu Kriegsbeginn waren die Überzeugung von dessen reinigender Kraft und euphorische Aufrufe zum Handeln im Deutschen Reich keine Seltenheit, auch in künstlerischen und intellektuellen Kreisen. Symbolische Akte der Unterstützung der Politik des Kaisers Wilhelms II., aber auch konkrete Taten, wie die freiwillige Meldung zum Kriegsdienst oder – schon später – die Hilfe für Kriegsgefangene bildeten da keine Ausnahme. Auch während der Zeit des Krieges standen Brecht und Neher trotz ihrer Meinungsverschiedenheiten in regem Briefwechsel. Vergebens versuchte Brecht, seinen Freund zum Verzicht auf den Fronteinsatz zu überreden. Für Neher hätte dies Fahnenflucht und ein in seinen Konsequenzen unkalku15 Vgl. ebd. 16 Brief an Arnolt Bronnen vom 12. Januar 1923. In: Brecht, Bertolt: Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Herausgegeben von Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei, Klaus-Detlef Müller. Berlin, Weimar, Frankfurt/Main: Aufbau, Suhrkamp 1988– 2000, Bd. 28, S. 188. 17 Vgl. Fuegi, John: Brecht & Co., S. 26.
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lierbares Risiko bedeutet. Das Militärstrafgesetzbuch für das Deutsche Reich von 1872 sah die Todesstrafe für Fahnenflucht vor, die im Felde begangen war und eine Strafe von einem bis zu fünf Jahren Militärgefängnis und die Versetzung in die zweite Klasse des Soldatenstandes, wenn die Fahnenflucht nicht »im Felde« (d. h. im Einsatz) begangen wurde. Auch Brecht riskierte einiges mit seinen Briefen an Neher. Rädelsführern und Anstiftern konnte unter Umständen auch die Todesstrafe drohen. Dass Brecht nahezu regelmäßig, in mehr als 20 Briefen, seinen Freund zum Desertieren aufrief,18 zeugt gleichermaßen von seiner Unerschrockenheit wie von der Sorge um das Schicksal des Freundes. Neher blieb aber an der Front und wurde 1918 Offizier. Brecht reichten drei Monate Sanitätsdienst aus, um seine sowieso rudimentären Kriegsillusionen loszuwerden und kriegskritische Texte, darunter die berühmte Legende vom toten Soldaten (1918), zu verfassen. Die Groteske, die den Krieg nicht als fröhliches Ereignis, sondern als einen absurden Leidenszug vor Augen führt,19 wird einige Jahre später für ihn schwerwiegende Folgen haben: 1923 solle sein Name an fünfter Stelle einer Liste der nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten zu verhaftenden Menschen gestanden haben.20 Offensichtlich blieben beide Künstler zum Zeitpunkt des Kriegsendes ihren politischen Gesinnungen treu, wobei unter der Bezeichnung »politisch« mehr die Intuition als das Ergebnis eingehender Studien und vertieften Analysen zu verstehen ist. Das Hauptinteresse beider lag im Kunstbereich. Auch die Ereignisse 1918/19 haben sie verschieden betrachtet und bewertet. Nach der Ausrufung der Räterepubliken in München und Augsburg im April 1918, als die weißen Freikorps der Reichswehr aus Württemberg nach München vorstoßen wollten, hielt sich Brecht konsequent aus dem politischen und militärischen Engagement heraus. Auch wenn er aus Interesse an neuen gesellschaftlichen Modellen linke Versammlungen besuchte oder etwa an der Trauerfeier für Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht und Franz Mehring teilnahm, ja sogar die Spartakisten Georg Prem in seinem Dachzimmer zu verstecken wagte,21 kann kaum von einer klaren politischen Positionierung die Rede sein. Jan Knopf behauptet sogar, Brecht habe von den politischen Ereignissen 1918/19 nichts verstanden, seine »Kenntnisse waren nicht politisch, und gesellschaftlich waren sie begrenzt auf die Widersprüche der eigenen Klasse […].«22 Neher, der mit ihm öfters über die prekäre politische Lage im Lande sprach und auch im Trauerzug für den ermordeten Ministerpräsidenten Kurt Eisner mitging, blieb in seiner Sympathie für die 18 Vgl. Hillesheim, Jürgen: Als der Bühnenbauer die Nase voll hatte, S. 12. 19 Vgl. Knopf, Jan: Brecht Handbuch. Lyrik, Prosa, Schriften. Eine Ästhetik der Widersprüche. Stuttgart, Weimar: Metzler 1984, S. 21. 20 Vgl. ebd. 21 Schumacher, Ernst / Schumacher Renate: Leben Brechts in Wort und Bild, S. 20. 22 Knopf, Jan: Brecht Handbuch. Lyrik, Prosa, Schriften, S. 15f.
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Weißen ungebrochen. Die Besetzung Augsburgs am Ostersonntag 1919 durch Freikorps soll er sogar mit einer Zeichnung gefeiert haben. Zur Zeit der Spartakus-Aufstände bedeutete dies jedoch keinen großen Einschnitt in ihre Freundschaft. Viel wichtiger schien ihnen die Tatsache, dass sie im beiderseitigen Zusammenwirken großartige Kunst, neue Dramatik und neuen Regiestil schaffen und damit auch ihre finanzielle Misere überwinden würden. So entwarf Neher Bühnenprojektskizzen für Trommeln in der Nacht, die jedoch nicht umgesetzt wurden. Otto Falkenberg, der Regie führte, entschied sich für das expressionistisch anmutende Bühnenbild von Otto Reigbert – ein Stilbruch, da Brecht (wie auch Neher) bekanntlich vom Expressionismus wenig hielten.23 Darauf folgten zahlreiche Skizzen zu Baal, das in Berlin nur als Matinee aufgeführt wurde, da es bei weitem dem Publikumsgeschmack nicht entsprach. Als Neher endlich 1922 einen ersten Vertrag als Bühnenbildner an den Münchner Kammerspielen erhielt, konnte er seine erste große Arbeit entwerfen: Kleists Käthchen von Heilbronn. Kurz danach gestaltete er Dekorationen und Kostüme für die Aufführung von Brechts Im Dickicht der Städte im Münchner Residenztheater unter der Regie von Erich Engel. Zum eigentlichen Durchbruch kam es für Neher jedoch erst nach der Uraufführung von Das Leben Eduards II. unter der Regie von Brecht an den Münchner Kammerspielen. Darauf folgten die Arbeiten zu Mann ist Mann, Die Dreigroschenoper, Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny und Die Mutter. In den sogenannten »Goldenen Zwanzigern« der Weimarer Republik begann Nehers Zusammenarbeit auch mit anderen bedeutenden Theaterregisseuren: Max Reinhardt, Leopold Jessner und Walter Felsenstein, die ihn jedes Mal mit anderen stilistischen Ansätzen konfrontierten und seinen eigenen Stil finden ließen. Dennoch stand seine Vorliebe für die Dramaturgie Brechts stets im Vordergrund. Dessen Wünschen hatte er sich, wie Kurt Pintus mit Recht behauptet, immer dienend gefügt, »wiewohl sie manchmal nicht seiner Natur entsprachen«24. Jedoch nicht auf seine »Natur« kam es in erster Linie an, sondern darauf, ein Theater zu schaffen, das wesentlich mehr als eine öffentliche allgemeine Angelegenheit bedeuten und »die Benutzung von Umwelt und Dingen in ihrer Funktion zeigen«25 würde. Um mit der Schein-Realität der Bühne zugunsten eines Bedeutungsraums zu brechen, erarbeiteten sie eine zweigeteilte Bühne, aber auch eine neue Art, mit Projektionen umzugehen und schufen darüber hinaus einen neuen Typ des Vorhangs: Den schweren geschlossenen Vorhang ersetzten sie durch eine leichte, flatternde, halbhohe Gardine, die in die 23 Vgl. Melchinger, Siegfried: Neher and Brecht, S. 137. 24 Pintus, Kurt: Die goldenen zwanziger Jahre. In: Caspar Neher. Zeugnisse seiner Zeitgenossen. Herausgegeben von den Freunden des Wallraf-Richartz-Museums. Köln 1960, Seiten werden nicht angegeben. 25 Knopf, Jan: Brecht-Handbuch: Theater. Eine Ästhetik der Widersprüche. Stuttgart, Weimar: Metzler 1996, S. 399.
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Theatergeschichte als »Brechts Gardine« eingegangen ist, obwohl Brecht sie selbst »kleinen Nehervorhang« zu nennen pflegte.26 Die Gardine hatte eine widersprüchliche Funktion: »…wie sie einerseits Bühne und Zuschauerraum verbindet, eine Beziehung zwischen beiden herstellt, so trennt sie andererseits doch auch Bühne und Zuschauerraum ab und macht bewußt, daß auf der Bühne ein eingeübtes Spiel agiert wird.«27 Die Zusammenarbeit trug Früchte. Für Brecht war Neher mehr als nur ein begabter Bühnenbildner. Um die Bedeutung seiner Arbeiten zu würdigen, bezeichnete er ihn als »Bühnenbauer«. Im Gegensatz zum Bühnenbildner schaffe der Bühnenbauer keine Illusion, sondern eine Welt, in der sich die Betrachtenden zurechtfinden können. Der Bühnenbauer habe »seine Abbilder […] für kritische Augen aufzubauen, und sind die Augen nicht kritisch, sie kritisch zu machen.«28 Es geht um eine Darstellung der Welt, die weniger die Art und Weise, wie sie aussieht und vielmehr die Gesetze, nach denen sie sich bewegt, zum Vorschein kommen lässt. Primär ist dabei die effiziente Zusammenarbeit mit allen an der Aufführung Beteiligten, ohne dass ihre jeweiligen Leistungen in einem Gesamtkunstwerk aufgehen würden: dem Spielleiter, dem Stückschreiber, dem Musiker und dem Schauspieler, dem aufgrund seiner szenischen Präsenz selbstverständlich die wichtigste Bedeutung zukommt.29 So pflegte Neher in seinem Bühnenbild viel Spielraum für die Darsteller zu lassen. »Unser Freund geht bei seinen Entwürfen immer von »den Leuten« aus und von dem, was mit ihnen und durch sie passiert»30, heißt es in Brechts Rede des Stückeschreibers über das Theater des Bühnenbauers Caspar Neher. Diese Diagnose bestätigte Carl Niessen: bei Neher sei der Mensch nie eine »niedliche Staffage im Bild« gewesen, sondern immer »der Ausgang und das Ziel«31. Das entsprach voll und ganz dem Theater Brechts: »Der Bühnenbauer vermag den Sinn von Sätzen der Schauspieler grundlegend zu verändern und neue Gesten zu ermöglichen.«32 Ein gelungenes Stück setze ein wirkungsvolles Zusammenspiel der Künste voraus, ohne den Widerspruch der einzelnen Elemente auszulöschen. Dabei plädiert Brecht für die Einfachheit, die der Grundaussage des Dramas dienen sollte. Bildhaft hat er dieses Prinzip in einer metaphorischen Beschreibung dargelegt:
26 Vgl. Tretow, Christine: Caspar Neher, S. 11. 27 Ebd. 28 Brecht, Bertolt: Über den Bühnenbau der nicht aristotelischen Dramatik. In: Brecht, Bertolt: Schriften 1920–1956. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1997, S. 247–248. 29 Ebd., S. 248. 30 Brecht, Bertolt: Rede des Stückeschreibers über das Theater des Bühnenbauers Caspar Neher. In: Caspar Neher. Zeugnisse seiner Zeitgenossen. 31 Niessen, Carl: Neher und Brecht. In: Caspar Neher. Zeugnisse seiner Zeitgenossen. 32 Brecht, Bertolt: Über den Bühnenbau der nicht aristotelischen Dramatik, S. 250.
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Die meisten Bühnenbauer haben das, was man bei Malern eine unsaubere Palette nennt. Das heißt, schon auf dem Brett, von dem sie die Farbei nehmen, sind sie ineinander verschmiert. Solche Leute wissen nicht mehr, was ein normales Licht ist und was die Grundfarben sind. So decken sie alle Kontraste der Farben zu, statt sie zu verwerten, und färben die Luft. Die Meister wissen, wieviel es schon ist, wenn neben einer Gruppe von Menschen an einer Wäscheleine eine blaue Tischdecke hängt, d. h. wie wenig noch hinzukommen darf.33
Neher wusste genau um die Macht des Verzichts. Unwesentliche Details und unnötige Verzierungen dürfen den Zuschauer von der Grundaussage der Inszenierung nicht ablenken. Und Brecht wusste genau, dass Nehers Besonderheit darin bestand, ideale Proportionen zwischen Text und Bühnenraum herzustellen: »Seine Dekorationen sind bedeutende Aussagen über die Wirklichkeit. Er verfährt dabei grob, ohne durch unwesentliches Detail oder Zierrat von der Aussage abzulenken, die eine künstlerische und denkerische Aussage ist. Dabei ist alles schön und das wesentliche Detail mit großer Liebe gemacht.«34 Immer von dem Menschen ausgehend schaffe er seine eigene Erzählung, die dem Zuschauer Dinge zu sehen vermittelt, die anders sind als außerhalb des Theaters.35 Wie exakt das mit den Voraussetzungen des epischen Theaters korrespondiert, ist evident. Die Stimmung sowie der ganze Bühnenraum treten zurück hinter der grundsätzlichen Aufgabe: dem »Zeigen und Dartun.«36 Es verwundert nicht, das Nehers Arbeiten ihm bald den lobenden Beinamen eines »latenten Regisseurs«37 eingebracht haben. Neher machte seine ersten Bühnenentwürfe in einer Zeit, in der das Theater bemüht war, sich von dem Bühnenbild als reine Dekoration zu verabschieden. Tapezierte Arrangements und kunstvolle Draperien wichen zusehends der Bühnenarchitektur. Mit der sich durchsetzenden Sachlichkeit suchte man nach Szenenbildern, die den Dramenvorgang veranschaulichen und dessen Substanz potenzieren würden, statt sich in der Funktion einer »gefälligen[n] Einkleidung« zu erschöpfen. Die Folge dieser Tendenz waren meist konstruktive Szenenbauten mit Gerüsten und Installationen verschiedener Art. Apparatur verdrängte Dekoration.38 Diese Tendenz, die damals im sowjetischen Theater besonders stark vertreten war, wurde auf deutschen Bühnen etwa von Traugott Müller oder Erwin Piscator realisiert.39 Neher ging einen anderen Weg. Beide Elemente: das 33 34 35 36 37 38 39
Ebd., S. 251. Brecht, Bertolt: Rede des Stückeschreibers über das Theater des Bühnenbauers Caspar Neher. Vgl. ebd. Niessen, Carl: Neher und Brecht. Ebd. Vgl. Wolfradt, Willi: Caspar Neher 1927. In: Caspar Neher. Zeugnisse seiner Zeitgenossen. Piscators episches Theater benutzte mächtige Stahlgerüste, laufende Bände mit Zuhilfenahme von Filmprojektionen und Erläuterungen.
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Räumliche der Bühne und die Fläche des Bildes trennte er voneinander und brachte sie in Wechselwirkung. Erst dadurch kam »das ursprünglich etwas verschwommene Wort »Bühnenbild« zu seiner eigentlichen Bedeutung.«40 Seiner Bühne geht immer deren malerische Version voran, aus der sie ihr Leben empfängt. Kennzeichnend dabei ist, wie Willi Wolfradt ausführt: Das Luftige, die offene Höhe, der lichte Farbklang. Es setzt sich gegebenenfalls um in flackernde, fahle, verlorene Stimmungen. Massive Formen, dickwandige Bauten kommen kaum vor; dagegen stellen sich helle, großflächige Vertikalpläne oft frei gleich Wandschirmen in lose und schräg über die Bühne geführtem Grundriß zueinander, deren silbrige Tönung oder durchsichtige Beschaffenheit sie fast unkörperlich wirken läßt. Nehers Bühne hat nichts Kompaktes, das sich den menschlichen Magnetismen und dem fluktuieren des Wortes plump in den Weg drängte. Sie gibt dem Spirituellen Resonanz.41
Nehers Bühnenbilder zu Brechts Stücken aus der Vorkriegszeit stehen in korrespondierendem Verhältnis zu dessen Forderung, erkenntnisförderndes Theater zu betreiben, in dem sich Schauspieler und Zuschauer voneinander entfernen, um Raum für Schrecken und Unterbrechung – als unabdingbare Voraussetzungen jeder Erkenntnis – zu schaffen.42 So bezeichnet Siegfried Melchinger das Bühnenbild in Im Dickicht der Städte metaphorisch als »Wildheit nach Regeln« und »Algebra mit dem Hexendoktor«.43 Mann ist Mann kreiert die Bühne mit ganz konkreten Requisiten: eine Kinderpagode und eine Kinderkanone – aussagekräftig und so deutlich wie möglich, dass sie keinen Platz für Anspielungen, Geheimnisse, Zweideutigkeiten oder Halbtöne einräumt.44 In der Inszenierung der Dreigroschenoper, an der eigentlich die ganze Augsburger »Clique« beteiligt war, errichtete Neher eine gigantische Zirkus-Dampforgel. Die Szenentitel wurden auf Löschpapier im Kindergekritzel-Stil projiziert. Teile der Kulissen wurden auf die Bühne gerollt, von unten angehoben oder von oben herabgelassen.45 Auf Mann ist Mann folgte die Premiere zu Mahagonny 1930 in Leipzig, in der Neher die Kunstwelt und die Arbeiterwelt auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen versuchte, indem er die Kulissen gegenüber dem Geschehen auf der Bühne positionierte, so dass sich der echte Vielfraß dem gemalten Vielfraß gegenübersehen konnte.46 1932 entwarf er das Bühnenbild zu Die Mutter. Doch schon zu dieser Zeit schienen Neher und Brecht verschiedene künstlerische Wege gegangen zu sein. 40 41 42 43 44 45 46
Neher, Caspar: Unbetitelte Notiz. In: Caspar Neher. Zeugnisse seiner Zeitgenossen. Wolfradt, Willi: Caspar Neher 1927. Vgl. Brecht, Bert: Dialog über Schauspielkunst. Bertolt-Brecht-Archiv Berlin, Sign. 1150/22. Vgl. Melchinger, Siegfried: Neher and Brecht, S. 138. Vgl. ebd., S. 139. Vgl. ebd., S. 140–141. Vgl. ebd., S. 141.
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Die Machtergreifung durch die Nationalsozialisten zwang Brecht zur Flucht aus Deutschland. Hatte er noch im Januar 1933 die Hoffnung, dass Hitlers Herrschaft durch Widerstand überwunden werden könne, so kam kurz darauf die Ernüchterung. Im Februar verhinderten die Nazis die Aufführung von Die Maßnahme und initiierten gegen die Veranstalter ein Verfahren wegen Hochverrats. Im Mai wurden Brechts Bücher wegen mutmaßlicher Volksverhetzung verbrannt und seine Werke ausnahmslos verboten. Doch zu dieser Zeit befand sich Brecht bereits auf der Flucht über Prag, Wien, Zürich und Paris nach Dänemark, um dann über Schweden, Finnland und die Sowjetunion in den USA anzukommen. Das Exil schnitt Brecht von Tag zu Tag weiter von seinem angestammten Publikum ab. Die laufenden Verträge in Deutschland konnten nicht eingehalten werden. Neue kamen zwar immer wieder dazu, doch die Veröffentlichung seiner Arbeiten erwies sich als extrem schwierig. Bei den Publikationen wie Inszenierungen galt die Warnung, »die Leute in politischer Beziehung nicht allzusehr auf den Kopf [zu] hauen und sich bestimmte Beschränkungen auf[zu]erlegen.«47 Da konnte auch der internationale Ruhm der Dreigroschenoper nicht helfen. Die finanziellen Sorgen waren dennoch nicht so groß, dass sie sein künstlerisches Schaffen beeinträchtigt hätten. Brecht arbeitete weiter: an seinen Svendborger Gedichten, am Dreigroschenroman und an Arturo Ui. Es entstanden u. a. Die Horatier und die Kuriatier, Furcht und Elend des Dritten Reiches, Die Gewehre der Frau Carrar, Die Rundköpfe und die Spitzköpfe sowie die erste Fassung des Leben des Galilei, Der gute Mensch von Sezuan, Mutter Courage und ihre Kinder, Die Geschäfte des Herrn Julius Caesar, Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui. Dennoch hatte er in dieser Zeit keinen nennenswerten Erfolg gehabt. Zwar kam es zu einigen Uraufführungen: der Mutter in New York 1935, der Rundköpfe und die Spitzköpfe in Kopenhagen 1936, der Dreigroschenoper in Paris 1937, oder einiger Szenen aus Furcht und Elend des Dritten Reiches in Paris 1938 – doch allesamt waren sie den ambitionierten Vorstellungen Brechts nicht angemessen, von deren finanziellem Nutzen ganz zu schweigen. Als größte Schwierigkeit erwiesen sich der Mangel an guten Übersetzungen, das geringe Produktionskapital (insbesondere in den USA), unterschiedliche Theatertraditionen bestimmter Länder und die häufige ideologische Zurückhaltung im Aufzeigen bestimmter politischer und gesellschaftlicher Prozesse. Eine Ausnahme schien das Zürcher Schauspielhaus zu sein, wo sich engagierte Künstler:innen zusammenfanden, u. a. Therese Giehse, Heinrich Greif, Leopold Lindberg, Theo Otto, die relativ schnell Zürich zu Brechts wichtigster Exilbühne machten, wo bedeutende Uraufführungen stattfanden. Doch selbst in der libe47 Haarmann, Hermann: »Dear Bertie!« Briefe an Bertolt Brecht im Exil 1933–1949. Einleitung. In: Haarmann, Hermann / Hesse, Christoph (Hg.): Briefe an Bertolt Brecht im Exil (1933– 1949). Bd. 1. Berlin, Boston: De Gruyter 2014, S. XII.
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ralen Schweiz wurden starke politische Aussagen seiner Stücke blockiert. Die gesamte Exilzeit hatte Brecht Schwierigkeiten, das richtige Personal zu finden, das das Konzept des epischen Theaters verstand und sich darauf vorbehaltslos einlassen wollte. Peinlichkeiten und Verdrehungen waren keine Seltenheit. 1938 berichtete Slatan Dudow in einem Brief an Brecht, Furcht und Elend des Dritten Reiches sei für das Pariser Publikum zu politisch gewesen. Man empfahl, das Wort »Deutschland« zu vermeiden und das Hakenkreuz von dem Bühnenbild zu entfernen.48 Meistens wurde jedoch das inhaltliche und ästhetische Konzept der Stücke verfehlt, auch wenn Brecht immer wieder Reisen unternahm, um auf die dramaturgische Form der jeweiligen Inszenierung Einfluss zu nehmen. Meistens erfolglos: »Man kann auch nicht ganz einfach die Berliner Schauspielart auf die französische übertragen, weil diese ja nicht lange in unserem Stil vorgebildet sind und der Mischmasch zwischen ihrem Stil und einigen abgelernten Bewegungen ist grauenhaft.«49 Doch die schlimmste Erfahrung für Brecht war zweifelsohne die New Yorker Aufführung der Mutter. In dem Brief an Piscator vom 1937 bringt er unverhohlen seinen Ärger zum Ausdruck: Die ›Mutter‹ ist uns hier sehr verhunzt worden (dumme Verstümmelungen, politische Ahnungslosigkeit, Rückständigkeit aller Art usw.). Der Verein hat sich ganz auf unsere Seite gestellt, konnte aber nicht durchdringen. Das schwierigste hier für mich ist, anständige Übersetzungen zu bekommen.50
Die Aufführung hatte Brecht in den USA für lange Zeit stigmatisiert. Eine misslungene Inszenierung betrachtete man dort oft als eine Art Präzedenzfall, was von weiteren Angeboten einer Bühnenbearbeitung Abstand nehmen ließ. Auch Kontakte zu namenhaften Persönlichkeiten verhalfen ihm nicht, in der Kulturlandschaft der USA Fuß zu fassen. Er war und blieb dort ein »enemy alien«51. Anders gestaltete sich die Karriere Caspar Nehers im Dritten Reich. Anfänglich u. a. wegen Zusammenarbeit mit Brecht mit Berufsverbot belegt durfte er bald dank der Fürsprache Walter Felsensteins im Nazideutschland inszenieren. Neher entschied sich, in Deutschland zu bleiben, weil er keine Berufschancen im Ausland sah. Die Bühnengestaltung zu Brechts und Weills Sieben Todsünden in Paris war hierbei so etwas wie eine Generalprobe. Ihr Misserfolg bekräftige ihn in seiner Überzeugung. Bald änderte sich seine Situation jedoch grundlegend. 48 Vgl. Dudow, Slatan: Brief an Brecht, 17. 4. 1938. In: Haarmann, Hermann / Hesse, Christoph (Hg.): Briefe an Bertolt Brecht im Exil, S. 785. 49 Piscator, Erwin: Brief an Brecht, 26. 10. 1937. In: Haarmann, Hermann / Hesse, Christoph (Hg.): Briefe an Bertolt Brecht im Exil, S. 707. 50 Brecht, Bertolt: Brief an Erwin Piscator, 8. 12. 1935. (GBA 28, 535) 51 Kuhla, Karoline: Brecht in Hollywood. In »Der Spiegel« URL: https://www.spiegel.de/geschich te/bertolt-brecht-im-exil-der-zweifler-in-hollywood-a-951057.html / letzter Zugriff am 10. 12. 2021.
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Entscheidend dafür war die Bekanntschaft mit Hans Meissner, dem Generalintendanten der Frankfurter Bühnen, der Kontakte zu hochrangigen deutschen Beamten pflegte. Auch Heinz Hilpert und Oskar Fritz Schuh, die in der neuen Realität beruflich gut zurechtkamen, hatten ihm Hilfe gegeben. Ab 1937 inszenierte Hilpert am Deutschen Theater. 1939 wurde er zum Direktor des Theaters in der Josefstadt in Wien ernannt. In Zusammenarbeit mit dem Regisseur und Intendanten Carl Ebert engagierte sich Neher zunehmend für das Musiktheater. Die Kooperation mit Schuh führte zu einer Reihe von Inszenierungen an der Wiener Staatsoper, aus denen der legendäre Mozartstil hervorging. Neher wurde zum Stammgast bei den großen Festspielen in Glyndbourne (1938, 1947), an der Mailänder Scala (1942) und in Salzburg. Zweifellos verdankte er dies einer Art Koinzidenz und Unterstützung einflussreicher Personen. Als wichtigster Faktor erwies sich dabei jedoch sein herausragendes Talent. Die Schattenseiten in seiner Biografie sind zweifellos die Arbeiten für Inszenierungen von Autoren und Regisseuren, deren Stücke keineswegs als »neutral« bezeichnet werden können: Eberhard Wolfgang Möller und Gerhard Schumann. Der Erste machte eine steile Karriere in der NS-Zeit. 1933 wurde er Chefdramaturg am Königsberger Theater, ein Jahr später übernahm er die Funktion des Theaterreferenten im Propagandaministerium, 1935 avancierte er zum Reichskultursenator. Zwar war er seit seiner Jugend von der höheren, bürgerlichen Kunst und geistigen nationalen Gemeinschaft tief überzeugt, dennoch, wie Stefan Busch in seiner 1998 erschienenen Monographie zu NSAutoren in der Bundesrepublik behauptet, »[e]r hätte bei sich anders entwickelnden politischen Mehrheitsverhältnissen wohl auch einer linken Regierung, die seine Dienste honoriert hätte, zur Verfügung gestanden.«52 Jay W. Baird folgert hingegen: Ob in seinen dramatischen Werken, seiner Lyrik oder seinen Hörspielen, Möller betonte stets die Leitmotive des Heldentums, des Antisemitismus und des Antikapitalismus. Vor allem bewegte ihn eine alles verzehrende Liebe zum germanischen Volk, eine Liebe, die durch seine Hingabe an die arische Mystik genährt wurde […] Möller hasste die Moderne, die er im Weltjudentum, in der kapitalistischen Gier und in den wimmelnden, fauligen Städten symbolisiert sah.53
In den meisten Stücken Möllers, auch in jenen der Vorkriegszeit, geht es im Grunde genommen um ein und dasselbe Motiv: ein leidendes Volk sehnt sich
52 Busch, Stefan: »Und gestern, da hörte uns Deutschland«. NS-Autoren in der Bundesrepublik. Kontinuität und Diskontinuität bei Friedrich Griese, Werner Beumelburg, Eberhard Wolfgang Möller und Kurt Ziesel. Würzburg: Königshausen & Neumann 1998, S. 148. 53 Baird, Jay W.: Hitler’s Muse. The Political Aesthetics of the Poet and Playwright Eberhard Wolfgang Möller. In: »German Studies Review« Vol. 17, No. 2, 1994, S. 269–285, hier: S. 270. Deutsch: ZF.
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nach dem Ende der erlittenen Ungerechtigkeiten. Das zu erreichen, braucht es umgehend einen starken militärischen Führer, mit dessen Hilfe es den bösen Fremden bekämpfen kann. Dabei ist der Fremde entweder ein Jude, ein gieriger Kapitalist oder ein verräterischer Politiker. Eine gewisse Herausforderung war, die eingefahrene These immer wieder neu zu verpacken. Indem er jedes Mal den Schauplatz und die Zeit variierte, konnte Möller die Phantasie des Publikums abermals anregen und sich dabei doch nur wiederholen.54 In Panamaskandal (1930) greift Möller einen Bestechungsskandal aus der Zeit der Dritten Französischen Republik am Ende des 19. Jahrhunderts auf, der in der Öffentlichkeit durch die Publikation in der antisemitischen Zeitung »La Libre Parole« ein starkes Echo fand. Die Zeitung hob die Rolle einiger jüdischer Finanziers hervor, die sich an dem Korruptionsskandal beteiligt haben sollen und leistete dem Antisemitismus in Frankreich Vorschub. Das Drama war eine bissige Attacke gegen die Korruption von Ferdinand de Lesseps, dessen Charakter als Schwindler und Erpresser für Möller zum Inbegriff der Dritten Französischen Republik wurde. Seine Exzesse beim Bau des Panamakanals kosteten Tausende von unschuldigen Arbeitern das Leben und raubten die Ersparnisse von ca. 800.000 französischen Aktionären.55 Die Handlung des Dramas läuft auf eine eindeutige Aussage hinaus: das Finanzjudentum gilt es zu »demaskieren« und »mit einem eisernen Besen auszukehren.«56 Das Volk muss sich gehorsam hinter einen Führer stellen, bevor die Gemeinschaft von fremden Kräften zu Grunde gerichtet wird. Panamaskandal hatte 1930 Uraufführung. Das Bühnenbild gestaltete Neher. Die Inszenierung am Düsseldorfer Schauspielhaus im Jahre 1936, zu der Neher erneut das Bühnenbild schuf, übernahm Hannes Küpper, mit dem auch Brecht in den Jahren 1926–1928 zusammenarbeitete. Sechs Jahre später gestaltete Neher das Bühnenbild zu der Inszenierung von Gerhard Schumanns im nationalsozialistischen Ton gehaltenen Stück Gudruns Tod unter der Regie von Ernst Karchow. Schumann war Schriftsteller, einflussreicher und zelebrierter Propagandist der NS-Zeit. Ab 1942 bekleidete er das Amt des Chefdramaturgen am Württembergischen Staatstheater mit Gustav Deharde als Intendanten. Gudrunds Tod, eine Tragödie, die einen gewaltigen Erfolg an vielen Bühnen des Dritten Reiches verbuchen konnte, greift ein für die NS-Zeit funktionalisiertes Thema des nordisch-wikingischen Kudrun-Epos auf,57 das eine
54 Vgl. Theater in the Third Reich. The Prewar Years. Essays on Theatre in Nazi Germany. Edited by Glen W. Gadberry. London: Greenwood Press 1995, S. 74. 55 Vgl. Baird, Jay W.: Hitler’s Muse, S. 275. 56 Hillesheim, Jürgen: Als der Bühnenbauer die Nase voll hatte, S. 12. 57 Vgl. Bautz, Simone: Gerhard Schumann – Biographie. Werk. Wirkung eines prominenten nationalsozialistischen Autors. URL: http://geb.uni-giessen.de/geb/volltexte/2008/5999/pdf/ BautzSimone-2006-11-20.pdf, S. 537–538 / letzter Zugriff am 10. 12. 2021.
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»ideologisch geprägte, aggressive und expansive Außenpolitik unterstützte,«58 indem es die Vergangenheit heroisiert. Simone Bautz legt in ihrer Dissertation zu Schumann nahe: Bei der Tragödie Gudruns Tod handelt es sich um eine »Schicksalstragödie der Treue bis in den Tod«, wie es die nationalsozialistische Ideologie forderte […] Das Stück lief bald nach der Schlacht von Stalingrad. Die Nachricht für Deutschland war deutlich: Hingabe zur Pflicht, [die] als Loyalität bis zum Tod benötigt wurde, war als heilige Moral obligatorisch.59
Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass das Stück zu einer Zeit verfasst und inszeniert wurde, als das vermeintlich solide Gebäude des Dritten Reiches bereits zu bröckeln begann. Die Tatsache, dass Neher sich bereit erklärte, an einer derart propagandistischen, antipazifistischen und höchst ideologisierten Produktion mitzuwirken, kann entweder ein Beweis für seine Unkenntnis, seine durch die Beschäftigung mit der künstlerischen Arbeit bedingte Obskurität oder – was weniger wahrscheinlich ist – für seine Sympathie für die Nazis sein. Es muss bei der Beurteilung von Nehers Rolle im Dritten Reich berücksichtigt werden, dass Neher seinen Sohn an der deutschen Ostfront verlor und 1944 selber zur Wehrmacht einberufen wurde. Während also Brecht im Exil mit diversen künstlerischen Schwierigkeiten meist interkultureller Art zu kämpfen hatte und sich vehement gegen das Regime des Dritten Reiches stark machte, schien die künstlerische Laufbahn Nehers von einer gewissen Kontinuität geprägt zu sein. Hin und wieder unterstützte er mit seinen Arbeiten die Propaganda des Regimes. Nicht zuletzt seit Pierre Bourdieu ist bekannt, dass jedes Kunstfeld seine eigene soziale Wirklichkeit erzeugt, in die sich dessen Akteure einbringen müssen.60 Dabei kann sich das Feld als Inversion herrschender Ordnung oder als deren Affirmation formieren. Zwar war die Autonomie der Kunst im Dritten Reich weitgehend ausgeschaltet, jedoch im Bereich von Theater und Musik wurde sie trotz aller personellen Säuberungen und Autozensur vergleichsweise am stärksten bewahrt.61 Jedenfalls viel stärker als in den Massenmedien. Dass Neher sich auf ein – zumindest aus der heutigen Perspektive – riskantes Spiel einließ, resultiert weniger aus seinem Mangel an Sensibilität, sondern mehr aus der Notwendigkeit, sich in der konkreten Realität behaupten zu wollen. Direkt nach dem Krieg suchte Brecht nach seinen Augsburger und Berliner Jugendfreunden. Auch nach Neher, der damals am Zürcher Schauspielhaus tätig 58 59 60 61
Vgl. ebd., S. 545. Ebd., S. 549. Schnell, Christiane: Der Kulturbetrieb bei Pierre Bourdieu, S. 45. Vgl.: Thamer, Hans-Ulrich: Ausbau des Führerstaates. Bundeszentrale für politische Bildung. URL: https://www.bpb.de/geschichte/nationalsozialismus/dossier-nationalsozialismus/3955 0/ausbau-des-fuehrerstaates / letzter Zugriff am 10. 12. 2021.
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war. Brecht und Weigel arbeiteten am Aufbau des neuen Theaters. Dazu sollten namhafte Schauspieler:innen gewonnen und neue aufgebaut werden. Dass Brecht dabei einige von ihnen unter Druck setzte, sich in Ostberlin niederzulassen, schreckte diejenigen ab, die sich mit der politischen Entwicklung in der Ostzone und später der DDR nicht identifizieren wollten. Andere wählten bessere materielle Bedingungen, die vom Westen ausgingen. So verließen Leonard Steckel das Berliner Ensemble 1951, Therese Giehse 1952 und Egon Monk 1954. Im Jahre 1952 reiste Neher aus Italien nach Ostberlin, um von Hainer Hill zu erfahren, dass Brecht diejenigen Mitglieder des Ensembles beschimpft hatte, die sich weigerten, in Ost-Berlin zu leben.62 Kurz darauf erklärte er Brecht in einem Brief, dass er vom österreichischen Bildungsministerium den Rat erhalten habe, seine Arbeit in Ost-Berlin ganz einzustellen, da diese nun als politische Tätigkeit angesehen werde.63 In dem Brief Nehers an Rolf Badenhausen vom Dezember 1952 bezeichnet er die Situation am Berliner Ensemble als weitestgehend unbefriedigend: »Über Manches liesse sich hier mit vollem Recht herziehen, das meiste ist zu verurteilen. Und Manches mal fragt man sich welchen tieferen Sinn es hat hier zu bleiben.«64 Dabei handelte es sich nicht lediglich um die künstlerischen Ausgestaltungen im Theater. Offensichtlich war sich Neher über Brechts konsequente Verweigerung des Kapitalismus nicht im Klaren. Im Gegensatz zu einer weit verbreiteten Ansicht verstand Brecht den Nationalsozialismus nicht als Auswuchs, sondern als Ergebnis eines ungehemmten Kapitalismus: »Es ist ja nicht so, daß da lediglich ein Nazikrebs zu entfernen ist, damit das Gesunde, Wertvolle, ›Eigentliche‹ wieder auflebt (ein Mensch ist auch nicht ›gesund, außer, daß er einen Krebs hat‹.)« [GBA 29, 345] Diese Fortsetzungslinie vom Kapitalismus zur nationalsozialistischen Ideologie, die es laut Brecht abzubrechen galt, wollte Neher nicht sehen und nicht akzeptieren. Nicht ohne Einfluss auf seine Einstellung könnte Brechts Blindheit und vielleicht ja sogar Ignoranz gegenüber stalinistischen Verbrechen gewesen sein. Denn: als er in einem offenen Brief nach dem Schicksal der Schauspielerin Carola Neher gefragt wurde, die vermutlich im Auftrag ihres Mannes in Prag trotzkistische Geschäfte abgewickelt haben soll, verhaftet und in sowjetische Haft genommen wurde, verweigerte er eine öffentliche Stellungnahme, obwohl er selber Lion Feuchtwanger, der in Moskau sogar von Stalin in einer Privataudienz empfangen wurde, in mehreren Briefen aufgefordert hatte, sich nach Carola Neher zu erkundigen und ihr möglicherweise zu helfen. In der Öffentlichkeit schwieg er jedoch. Carola Neher starb 1942 in einem sowjetischen Lager in der Nähe von Orjil.
62 Vgl. Nehers Briefe an Rolf Badenhausen, Sign. E 54738. 63 Zit. in: Kommentar zu Nehers Briefen an Rolf Badenhausen, Sign. E 54738. 64 Nehers Briefe an Rolf Badenhausen, Sign. E 54738.
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Neher distanzierte sich zunehmend von Brecht und den politischen Aktivitäten im Berliner Ensemble, wenngleich er sporadisch weiter mit Brecht zusammenarbeitete. 1946 schrieb er an Brecht: »Ich las Mutter C. und Der gute Mensch v. S. beides grossartige Stücke über die man reden müsste, da die Aufführungsformen nicht leicht gefunden werden können, leider bekam ich Galilei nicht in die Hand.«65 1947 trafen sie sich wieder in der Schweiz, um die Antigone in Chur zu inszenieren. Neher erprobte den großen Stil auf kleinstem Raum, diesmal ohne den halblangen Vorhang und die stilisierten schiefen Wände. Er stellte Bänke im Halbkreis auf der Bühne auf, um den imaginären Halbkreis des Publikums auf der anderen Seite in einem einheitlichen Raum zu umschließen. In der Bühnenhälfte des Kreises stellten sie den zum Stück gehörenden Chor auf, der das Volk repräsentierte. Tierschädel wurden auf lange Stangen gesteckt, und die Barbarei pirschte sich unter sie.66 Im Berliner Ensemble führten sie gemeinsam Puntila auf, dann Die Mutter, entscheidend verändert gegenüber der ersten Fassung. Die Projektionen waren nicht mehr fotografisch, sondern bestanden aus Gemälden. Die Arrangements zu Puntila wurden bildhaft eingesetzt, »die Neherschen Projektionen weiteten den künstlerischen wie ideellen Hintergrund.«67 In der Aufführung der Mutter gestaltete Neher den Vordergrund detailgetreu, »während der Hintergrund nicht nur durch Projektionen, sondern zum Schluß durch einen Filmstreifen aufgerissen wurde […]«68 Danach kamen noch die Oper Das Verhör des Lukullus mit Musik von Paul Dessau und dem Bühnenbild von Neher, der Höhepunkt ihrer Zusammenarbeit, und die Vorarbeiten zu Leben des Galilei am Berliner Ensemble. Dass Erich Engel zusagte, bei der Regie mitzuarbeiten und Neher, die Bühne zu gestalten, war eine zusätzliche Motivation für den schon schwer kranken Brecht, da »ihre Beziehungen sehr lose geworden waren.«69 Während der Proben starb Brecht. Wenige Monate vor seinem Tod besuchte ihn Neher. Von den Gesprächen ist wenig bekannt. Zur Beerdigung Brechts erschien Neher nicht. Die Briefe an Badenhausen zeigen jedoch, dass Neher zu dieser Zeit eher an seiner schon damals fundierten Karriere als Bühnenbildner an den Theatern in München, Stuttgart, Düsseldorf oder Westberlin interessiert war. Rolf Badenhausen konnte in der Sache einiges vermitteln. Anfang der 50er Jahre bekleidete er den Posten des Chefdramaturgen und stellvertretenden Generalintendanten am Düsseldorfer Schauspielhaus. Zusätzlich war er Schauspieldirektor und leitete die dortige Schauspielschule. 1956 wechselte er zu dem Württembergischen 65 Neher, Caspar: Brief an Brecht, 25. 3. 1946. In: Haarmann, Hermann / Hesse, Christoph (Hg.): Briefe an Bertolt Brecht im Exil, Bd. III, S. 1246. 66 Vgl. Melchinger, Siegfried: Neher and Brecht, S. 142. 67 Schumacher, Ernst / Schumacher, Renate: Leben Brechts in Wort und Bild, S. 247. 68 Ebd., S. 252. 69 Ebd., S. 305.
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Staatstheater Stuttgart. Gleichzeitig lehrte er an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Stuttgart. Als Chefdramaturg arbeitete Badenhausen unter dem Intendanten Gustaf Gründgens. Dem Generalintendanten hat Neher zu verdanken, dass er das Bühnenbild zu Herrenhaus und Wallensteins Tod (beide Premieren 1953) in der Regie Egon Monks an den Städtischen Bühnen Düsseldorf gestalten konnte. Kurz vor der Premiere beider Inszenierungen hatte Monk sich endgültig vom Berliner Ensemble verabschiedet, dessen Aufbau er als Brechts Meisterschüler hautnah miterleben konnte. 1950, ein Jahr nach der Premiere des Puntila hat ihm Brecht sein Vertrauen geschenkt, das Stück in Rostock zu inszenieren. In Berlin trug Monk zur Mitgestaltung von Lenz’ Hofmeister bei, in München assistierte er Brecht bei der Einrichtung der Mutter Courage. Er wirkte auch bei der Bühnenfassung der Mutter von Maxim Gorki und an der Neuinszenierung der Mutter Courage am Berliner Ensemble mit. Einen gewissen Ruhm brachten ihm jedoch zwei Inszenierungen: eine Collage von Gerhard Hauptmanns Der Biberpelz und Der Rote Hahn in den Kammerspielen des Deutschen Theaters und des Urfaust (Potsdam und Berlin), wobei die Letzte für Monk einen Wendepunkt bedeutete. Brecht, der an der Inszenierung aktiv mitwirkte, war bemüht um die kritische Aneignung des kulturellen Erbes.70 Das überraschende, produktive Potential des Stücks, das im Laufe der Zeit etwas Staub angesetzt hatte oder gänzlich in Vergessenheit geraten war, galt es erneut zu finden und hervorzuheben. Die ersten enthusiastischen Rezensionen wurden schnell nach dem Eingriff der SED-Funktionäre durch eine Flut von verreißenden Kritikerstimmen überdeckt. Vorgeworfen wurde Monk Willkür, Entstellung des Textes und der Figuren, Entleerung des Werkes von seinem humanistischen Inhalt, Verhöhnung des deutschen Volkslieds Der Mai ist gekommen, und vieles andere mehr.71 Die Kritik stand im vollkommenen Einklang mit der Entschließung des 5. Plenums des ZK der SED vom März 1951, laut der der Formalismus in der Kunst »zur Entwurzelung der nationalen Kultur, zur Zerstörung des Nationalbewußtseins«72 führe und durch Förderung des Kosmopolitismus »eine direkte Unterstützung der Kriegspolitik des amerikanischen Imperialismus«73 fördere. Brecht beschloss, durch vorgespieltes Nachgeben die Krise zu überstehen, weil er genau wusste, dass die Vorwürfe unberechtigt waren und letzten Endes überwunden werden konnten. Er konnte es sich leisten. Seine Position, wenn er auch immer wieder auf beißenden Hohn traf, war ziemlich fest. Monk begann gerade mit seiner Karriere als Theaterregisseur und konnte nicht ein70 Vgl. Schoenberner, Gerhard: Frühe Theaterarbeit. In: Felix, Jürgen / Giesenfeld, Günther u. a. (Hg.): Deutsche Geschichten. Egon Monk – Autor, Dramaturg, Regisseur. Marburg: Schüren 1995, S. 10. 71 Vgl. ebd., S. 12. 72 Ebd. 73 Ebd.
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schätzen, wieviel künstlerische Freiheit ihm in Ostberlin zugestanden werden konnte, wenn er schon jetzt Gegenstand ständiger SED-Untersuchungen war. Er inszenierte noch Die Gewehre der Frau Carrar, weil er sich dazu verpflichtet hatte und ging dann nach Westberlin und später nach Hamburg, wo er sich jedoch weniger im Theater als vielmehr im Rundfunk und im Fernsehen betätigte. Die schillerndste Figur jedoch, die in der Korrespondenz zwischen Neher und Badenhausen immer wieder auftaucht, ist Gustaf Gründgens, der damalige Geschäftsführer der Deutschen Schauspiel GmbH in Düsseldorf. Neher fragt nach den Kritiken der Inszenierungen von Thomas Wolfes Herrenhaus und Friedrich Schillers Wallenstein, zu denen er das Bühnenbild gestaltete. Durch die Vermittlung Badenhausens, seines langjährigen persönlichen Assistenten und ehemaligen Chefdramaturgen und Generalintendanten am Düsseldorfer Schauspielhaus, beabsichtigte Gründgens, Neher für die Bühnengestaltung der geplanten Faust-Inszenierungen zu gewinnen. Dieser bereitete sich darauf gründlich vor. Im August 1954 schrieb er an Badenhausen: Nun sitze ich hier und schweife mich etwas aus, lese den Fausten ab und zu und […] befürchte, dass ich auf eine harte Nuss stossen werde, denn ich sehe die Dinge nicht ganz so wie Sie. Auf gar keinen Fall darf daraus eine Revue â la Per Gynt werden. Ob diese Probleme alle noch zu schaffen sein werden bis dahin weiss ich nicht. Es gehört von vorneherein eine ganz neue Konzeption her und die Grundrisse, die mir angesagt wurden sind ja eigentlich die von R. Gliesse der wie ich mich erinnere den Faust damals machte. Es sind auf gar keinen Fall meine Grundrisse. Es sind Drehscheibe, Podestbau etc also ein stilistisches Kongklomerat das man heute kaum mehr erträgt. Ich habe wenig Lust auf dieser Basis, die keine Ansicht vertritt einen Faust II zu machen.74
Trotz dieser Unstimmigkeiten war Neher bereit, an der Faust-Aufführung weiter mitzuwirken. Zu seiner großen Enttäuschung blieb jedoch diese Zusammenarbeit aus. Davon erfuhr Neher allerdings nur inoffiziell, da Badenhausen, wie er in einem Brief an Neher vom 3.9.54 einräumt, für Nehers Benachrichtigung kein grünes Licht erhalten hatte, obwohl dies bereits in einer Pressekonferenz angekündigt wurde. Neher verhehlte seine Meinung zu dieser Sache nicht, auch wenn sie nicht an die Öffentlichkeit gelangen sollte: Erstaunt bin ich allerdings jetzt, da ich zur Reise nach Düsseldorf vorbereitet und den Fausten etwas vorgearbeitet, zu erfahren daß er nun nicht kommen soll. Meine Dispositionen leiden sehr darunter. Ich weiss nicht, wie das noch ein zu renken ist. […] Ich finde es nicht sonderlich elegant, mich diese Weise zu stoppen. Natürlich ist er, der Faust II, wahrscheinlich in der kurzen Zeit eher nicht zu lösen – wäre es aber nicht besser gewesen dies vorher zu bedenken. Bis jetzt habe ich von Herrn Gründgens keine
74 E 54757 – Originalschreibweise.
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Nachricht erhalten. Ich hoffe aber, daß ich noch auf irgend eine Weise etwas davon erfahre.75
Faust I wurde 1957, Faust II 1958 am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg aufgeführt. Das Bühnenbild übernahm Teo Otto. Obwohl Gründgens wegen seiner Karriere in der NS-Zeit zu den umstrittensten Persönlichkeiten des deutschen Theaterlebens gehörte, nahm Brecht nach seiner Rückkehr aus dem amerikanischen Exil mit ihm Kontakt auf. In einem Brief vom 18. 1. 1949 schreibt er lakonisch: »Sie fragten mich 1932 um die Erlaubnis »Die heilige Johanna der Schlachthöfe« aufführen zu dürfen. Meine Antwort ist ja.« (GBA 29, 487) Es handelt sich um eine an Brecht gerichtete Frage noch aus der Vorexilzeit, als Gründgens am Preußischen Theater in Berlin tätig war. Siebzehn Jahre später konnte er – schon als Generalintendant der Städtischen Bühnen Düsseldorf seine Begeisterung ausdrücken: »Über Brief zu Tode erschrocken – freue mich aber sehr, daß Sie sich noch daran erinnern, und bitte mir Buch umgehend zukommen zu lassen.« (GBA 29, 749) Trotz sofortiger Vorbereitungen kam es zur Aufführung erst zehn Jahre später am 30. 4. 1959 im Hamburger Schauspielhaus. Die Titelrolle übernahm Brechts Tochter Hanne Hiob, das Bühnenbild gestaltete Caspar Neher. Es liegt nahe, dass Brecht trotz des großen Publikumserfolgs an der Inszenierung wohl einiges auszusetzen hätte. Die zeitgenössischen Kritiken, insbesondere die von der linken Seite, bemängelten Gründgens Verzicht auf die »positive Apostrophierung der Kommunisten.«76 Von der rechten Seite war hörbar, dass die Größe der Inszenierung im Verzicht auf die Bezüge zu der politischen Situation der Bundesrepublik lag. Brechts Theater der Nachkriegszeit wirkte auf die Beseitigung des Faschismus hin, nicht nur in den Städten, sondern in den Köpfen, um für den Humanismus Platz zu schaffen. Es war ein Theater der Vielfalt, Widersprüchlichkeit, des Historisierens und der Mündigmachung. Gründgens plädierte mehr für das klassisch-konservative Konzept, in dem die politische Botschaft der ästhetischen Perfektion weichen musste. Sein stillvolles Theater zielte auf eine überhöhte Wiedergabe der Wirklichkeit. Einige Briefe berichten über eine geplante Ausstellung von Nehers Bühnenentwürfen und Seidenbildern in Leverkusen, die Neher gerne auch in London und New York zeigen wollte. Zur Eröffnungsfeier sollten Rudolf Wagner-Regny und Lotte Lenya eingeladen werden. Die Ausstellung hat jedoch erst 1960 im Kölner Wallraf-Richartz-Museum stattgefunden. Organisiert wurde sie von Rolf Badenhausen. Zur Bestattung Brechts am 17. August 56, die übrigens auch für manche Kontroversen sorgte, war Caspar Neher, wie bereits erwähnt, nicht erschienen. 75 E 54758. 76 Kugli, Ana / Opitz, Michael (Hg.): Brecht Lexikon. Stuttgart, Weimar: Metzler 2006, S. 135.
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Die genauen Gründe sind unbekannt. Von der hier analysierten Korrespondenz abgesehen, sind nur wenige Äußerungen Nehers über den reifen Brecht dokumentiert. Eine der Letzten entstand kurz nach dem Treffen mit Brecht in Zürich 1947: »Er war dicker geworden, männlicher, zurückhaltender und seine Zartheit war mehr nach außen gekehrt als früher. Seine Fassade der Härte war vollkommen von ihm abgefallen. Seine angeborene Güte kam zum Vorschein.«77 Für Brecht gehörte Neher zum Stamm der alten Mitarbeiter, mit denen er ein neues Theater ins Leben rufen wollte. Doch damals waren ihre Interessen schon lange nicht mehr konform. Die langjährige geographische Entfernung und die erschwerte Kommunikation hatte dabei gewiss eine wesentliche Rolle gespielt. Jedoch allem Anschein nach führten nicht die Veränderungen in der vornehmlich politischen Weltanschauung beider Männer innerhalb dieser Trennungsjahre zum Bruch ihrer Freundschaft, sondern es war geradezu das Gegenteil: beide verstärkten sich in ihren politischen und ästhetischen Gesinnungen, sie entwickelten sie und versuchten (dies trifft besonders auf Brecht zu), diese in die Praxis umzusetzen. Denn: bereits nach dem Ersten Weltkrieg, als ihre politischen Anschauungen immer weiter auseinanderklafften, verband sie ein gemeinsames Ziel, von dem sie schwärmten: ein modernes Theater zu machen. Dass Brecht dabei seiner eigenen Person wie dem Theater Vorrang gab, störte Neher nicht. Als er aber nun konkret politisch wurde, von den Mitarbeitern des Berliner Ensembles verlangte, in Ostberlin zu leben, als er politische Schriften verfasste, in denen er u. a. die Moskauer Prozesse nicht verdammte, ja diese indirekt verteidigte, war dies Neher offensichtlich zu viel. Auch Neher sollte, nach Brechts Wunsch, den Regierungsvertretern gegenüber Solidarität bekunden, was er aber strikt verweigerte. Den Staat der DDR empfand er zunehmend als repressiv, die dort herrschenden Zustände als bedrückend. Schlimmer noch aber war, dass Neher, war er nun stur, unflexibel oder nur geradlinig, mit Brechts Persönlichkeit immer weniger zurechtkam: mit dessen Lippenbekenntnissen zur DDR bei gleichzeitiger innerer Distanz und der Inanspruchnahme der künstlerischen Entfaltungsmöglichkeiten, die der ostdeutsche Staat ihm bot. Eine Amalgamierung von Politik und Kunst lehnte Neher vehement ab. Dass er selbst im »Dritten Reich« diese Bereiche gelegentlich nicht auseinandergehalten hatte, spielte da keine Rolle mehr.78
Der Kreis der führenden Regisseure des deutschsprachigen Theaters, mit denen Neher zeitlebens zusammengearbeitet hatte, umfasste – politisch gesehen – weit entlegene Positionen. Neben Gustaf Gründgens, Hans Schweikart oder Carl Off (der zwar der Politik der Nationalsozialisten distanziert gegenüberstand, jedoch versuchte er sich der beruflichen Stabilität wegen damit zu arrangieren), waren es Max Reinhard, Erwin Piscator, Leopold Jessner, Heinz Hilpert, Fritz Kortner, 77 Zit. in: Schumacher, Ernst / Schumacher, Renate: Leben Brechts in Wort und Bild, S. 179. 78 Hillesheim, Jürgen: Als der Bühnenbauer die Nase voll hatte, S. 12.
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Walter Felsenstein u.v.a. Jene Distanzierung zu Brecht resultierte offensichtlich weniger aus der Abneigung gegenüber der Ästhetik seiner Dramaturgie und seines Theaters als vielmehr aus deren ideologischem Gehalt. Für das DDRRegime hatte Neher keinerlei Sympathie. Es mag ein Paradox sein, dass ihm 1956 gerade wegen seiner Verbindung mit dem Berliner Ensemble die Verleihung einer Professur an der Akademie der Bildenden Künste in Berlin West verweigert wurde.79
Literatur Baird, Jay W.: Hitler’s Muse. The Political Aesthetics of the Poet and Playwright Eberhard Wolfgang Möller. In: »German Studies Review« Vol. 17, No. 2, 1994, S. 269–285. Bautz, Simone: Gerhard Schumann – Biographie. Werk. Wirkung eines prominenten nationalsozialistischen Autors. URL: http://geb.uni-giessen.de/geb/volltexte/2008/5999/p df/BautzSimone-2006-11-20.pdf. Bourdieu, Pierre: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Übers. von Bernd Schwibs und Achim Russer. 1. Aufl. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2001. Brecht, Bertolt: Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Herausgegeben von Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei, Klaus-Detlef Müller. Berlin, Weimar, Frankfurt/Main: Aufbau, Suhrkamp 1988–2000. Brecht, Bertolt: Über den Bühnenbau der nicht aristotelischen Dramatik. In: Brecht, Bertolt: Schriften 1920–1956. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1997, S. 247–248. Busch, Stefan: »Und gestern, da hörte uns Deutschland«. NS-Autoren in der Bundesrepublik. Kontinuität und Diskontinuität bei Friedrich Griese, Werner Beumelburg, Eberhard Wolfgang Möller und Kurt Ziesel. Würzburg: Königshausen&Neumann 1998. Caspar Neher. Zeugnisse seiner Zeitgenossen. Herausgegeben von den Freunden des Wallraf-Richartz-Museums. Köln 1960. Caspar Nehers Briefe an Rolf Badenhausen. Brecht Forschungsstätte Augsburg. Fuegi, John: Brecht & Co. Sex, Politics, and the Making of Modern Drama. New York: Grove Press 1994. Grimm, Reinhold: Bertolt Brecht. In: Steinecke, Hartmut (Hg.): Deutsche Dichter des 20. Jahrhunderts. Berlin: Erich Schmidt Verlag 1994, S. 417–438. Haarmann, Hermann / Hesse, Christoph (Hg.): Briefe an Bertolt Brecht im Exil (1933– 1949). Bd. 1. Berlin, Boston: De Gruyter 2014. Hillesheim, Jürgen: Als der Bühnenbauer die Nase voll hatte. Bislang unbekannte Briefe zeigen, wie Caspar Nehers Freundschaft mit Brecht endete. In: »Frankfurter Allgemeine Zeitung« Nr. 84, 2021, S. 12. Knopf, Jan: Brecht Handbuch. Lyrik, Prosa, Schriften. Eine Ästhetik der Widersprüche. Stuttgart, Weimar: Metzler 1984. Knopf, Jan: Brecht-Handbuch: Theater. Eine Ästhetik der Widersprüche. Stuttgart, Weimar: Metzler 1996. 79 Vgl. Tretow, Christine: Caspar Neher, S. 16.
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Kugli, Ana / Opitz, Michael (Hg.): Brecht Lexikon. Stuttgart, Weimar: Metzler 2006. Kuhla, Karoline: Brecht in Hollywood. In »Der Spiegel« URL: https://www.spiegel.de/ge schichte/bertolt-brecht-im-exil-der-zweifler-in-hollywood-a-951057.html. Melchinger, Siegfried: Neher and Brecht. In: »TDR (1967–1968)« Vol. 12, Nr. 2, 1968, S. 134– 145. Schnell, Christiane: Der Kulturbetrieb bei Pierre Bourdieu. In: »Jahrbuch Kulturmanagement« Nr. 1, 2010, S. 43–53. Schoenberner, Gerhard: Frühe Theaterarbeit. In: Felix, Jürgen / Giesenfeld, Günther u. a. (Hg.): Deutsche Geschichten. Egon Monk – Autor, Dramaturg, Regisseur. Marburger Hefte zur Medienwissenschaft. Bd. 21. Marburg: Schüren 1995. Schumacher, Ernst / Schumacher, Renate: Leben Brechts in Wort und Bild. Berlin: Henschelverlag 1979. Thamer, Hans-Ulrich: Ausbau des Führerstaates. Bundeszentrale für politische Bildung. URL: https://www.bpb.de/geschichte/nationalsozialismus/dossier-nationalsozialismu s/39550/ausbau-des-fuehrerstaates. Theater in the Third Reich. The Prewar Years. Essays on Theatre in Nazi Germany. Edited by Glen W. Gadberry. London: Greenwood Press 1995. Tretow, Christine / Gier, Helmut: Caspar Neher – Der größte Bühnenbauer unserer Zeit. *11. 4. 1897 Augsburg – † 30. 6. 1962 Wien. Opladen, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 1997.
Frank D. Wagner (Oldenburg)
Nationalismus. Zu Brechts radikaler Kritik
Ich sage hier wie zu Hause: Ein guter Deutscher kann kein Nationalist sein. Ein guter Deutscher weiß, daß er sich einer europäischen Bestimmung nicht versagen kann. Durch Europa kehrt Deutschland heim zu sich selbst und den aufbauenden Kräften seiner Geschichte. Unser Europa, aus der Erfahrung von Leiden und Scheitern geboren, ist der bindende Auftrag der Vernunft.
So spricht Willy Brandt zum Thema Friedenspolitik in unserer Zeit in der Universität Oslo am 11. Dezember 1971 anlässlich der Verleihung des Friedensnobelpreises, durch die er in die Tradition der Preisträger von Ludwig Quidde über Gustav Stresemann bis Carl von Ossietzky gestellt wird.1 An der internationalen Kampagne zur Verleihung des Friedensnobelpreises 1937 für Ossietzky war Brandt selbst beteiligt gewesen und konnte also aus persönlicher Erfahrung heraus an dessen Kampf gegen Militarismus und Nationalismus erinnern. Brandt zitiert Ossietzkys Satz von 1921, viele Nationen hätten im Weltkrieg miteinander gekämpft, aber es sei nur einerlei Blut geflossen, das Blut der Bürger Europas. Was Anfang der zwanziger Jahre für Ossietzky Erinnerung sein durfte, ist Ende der zwanziger Jahre für ihn schon wieder Gegenwart. Die destruktiven Kräfte Deutschlands kehren wieder, die anderen Nationen werden wieder Feinde, Nationalist zu sein macht erneut den guten Deutschen aus. Carl von Ossietzky schärft seine Feder gegen einen Protagonisten solcher Wiederkehr, gegen Arnolt Bronnen, einen langjährigen Mitstreiter Bertolt Brechts.
Tragische Blutspur Ossietzky fürchtet Ende der zwanziger Jahre die Zukunft einer militaristischen und nationalistischen Denkweise, weil er die Spuren ihrer Vergangenheit deutlich vor Augen hat. Auf exaltierte Weise feiere Arnolt Bronnen die Taten der 1 Bundeskanzler Brandt. Reden und Interviews (II). Herausgegeben von Presse u. Informationsamt d. Bundesregierung. Bayreuth 1973, S. 90.
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Frank D. Wagner
Wehrorganisationen und Freikorpsformationen aus früheren Jahren und mache damit ihre Gewalttaten und Morde erneut salonfähig. In Bronnens Biografie-Roman Roßbach von 1930 aus dem Rowohlt-Verlag stellt der Autor unter der Überschrift Politische Rechenschaft eine Übersicht der militaristischen Verbände und Tarnorganisationen vor, die in Deutschland auf eine nicht näher ausgeführte Entscheidung drängen. Sturmtrupp, Freikorps, Selbstschutz, Sabotagetrupp, Landarbeiter-Gemeinschaft, schwarze Reichswehr, politische Kampf Organisation, Bund, Spielschar: Truppen desselben Geistes, derselben Führung. Vorne stehen wir Kampf Truppen Kommandeure und suchen die Entscheidung: dort wo sie fallen muß: wissend, daß sie fallen wird.2
Ihnen wird an gleicher Stelle die »Ungeheuerlichkeit der Bewegung« sowie die »Reinheit der Richtung« attestiert, mit Quellenverweis auf »Akten des Freikorps Roßbach«, allerdings ohne nachprüfbare Angaben, ganz im Stil einer kühlen Sachlichkeit. Ossietzky moniert, Bronnen erhebe Guerilleros zu Repräsentanten der Deutschen, wo in Wahrheit doch nur das »in Schlesien Gelernte« in eine tragische Blutspur in die Geschichte der Deutschen übertragen werde. Gemeint sind die zahlreichen politischen Morde in den zwanziger Jahren sowie die Freikorpseinsätze in den Unruheherden des fragilen Reiches nach dem ersten Weltkrieg. Dass diese Blutlinie selbst nach zwölf Jahren in neuen Formen, den antijüdischen Krawallen in Berlin oder den Hauszerstörungen der des Separatismus Verdächtigten am Rhein, weiter gezogen und dies von Wissenschaft und Kultur auch noch sanktioniert wird, macht Ossietzkys Kritik, auch gegen Bronnen, völlig unversöhnlich. Ossietzky wird in Die Blutlinie deutlich wie selten. »Diese Offiziercamorra ist die wirkliche Nährerin des Bürgerkriegs gewesen. Sie hat die Schützengraben in die innere Politik eingeführt.«3 Das Personal hat sich für Ossietzky nicht verflüchtigt. Es wirkt, in neuen Kostümen und anderen Organisationen zwar, doch kaum weniger blutig immer weiter.
Der nationale Roman. O.S. Der Roman O.S., das heißt Oberschlesien, von Arnolt Bronnen 1929 bei Ernst Rowohlt herausgebracht, hat wie kaum je ein deutscher Roman polarisierend gewirkt. Denkbar weit auseinander und völlig unversöhnbar stehen sich die Urteile gegenüber. Im »Angriff« veröffentlicht Joseph Goebbels eine enthusiastische Besprechung. 2 Bronnen, Arnolt: Roßbach. Berlin: Rowohlt 1930, S. 6. 3 Ossietzky, Carl von: Die Blutlinie. In: »Die Weltbühne« 1930 II, 21. Okt. 1930, S. 603–604.
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Es ist die erste ganz große und gekonnte künstlerische Offenbarung eines aufbrechenden deutschen Nationalismus. Nüchtern in aller Leidenschaftlichkeit, phrasenlos in aller Glut, kalt sachlich in allem Aufruhr der Gefühle. Es ist geschrieben aus einer Hingabe heraus, die im Blute entstand und zur Nation durchbricht.
Überwundene Irrungen und Wirrungen Bronnens, die Goebbels erwähnt, aber nicht weiter zu beachten für nötig befindet, sind die erfolgreichen Theaterproduktionen aus der Epoche der Zusammenarbeit mit Bertolt Brecht. Der neue Roman, so scheint es Goebbels, macht alles vergessen. Wenn einer wissen will, was Nationalismus und Patriotismus bedeutet, warum die deutsche Jugend in allen Lagern das politische Bürgertum verabscheut, wieso sie die Republik und ihre feigen, feisten Bediensteten haßt und flieht, wie eine ansteckende Krankheit; sie muß dieses Buch lesen. – Es ist der erste nationalistische Roman großen Stils.4
Den Gegenpart übernimmt Thomas Mann, nicht minder resolut und eindeutig. Bronnen sei ein reaktionärer Autor, allerdings gänzlich ohne Talent, nicht einmal für die kleinbürgerliche militaristische Presse interessant, Exponent allenfalls einer neuen Gesinnung. Dass dies nicht wirklich neu, nicht originell, nicht geistreich sei, das versucht Thomas Mann nachzuweisen mit der Rückerinnerung an bessere französische Vorbilder, später in der Deutschen Ansprache mit dem Vergleich einer ganz anderen Tradition des Nationalgedankens. Doch zunächst zum Roman selbst. Bronnen lässt in dem Roman O.S. den Helden ein Bild von Deutschland artikulieren, das die intentio operis stimmig zusammenfasst. Burschen wie wir, alles Wissens, aller Möglichkeiten voll, fliegend auf Siegen und geduckt durch Niederlagen, in Wüsten kämpfend und in volkreichen Städten, gefeit vor Gas, Gestein, Stahl, Maschinen und Irrsinn, bereit zum stündlichen Sterben und zum nacktesten Leben, ungebrochen und sicher in der Gewalt unseres Daseins, werden nie wiederkommen.5
Das ist die Beschwörung der Generation, die Deutschland erst noch schaffen soll. Wodurch sollte sie dazu berechtigt sein? »Die Front Generation, die der Krieg nicht zerbrach, kennt alle Elemente der Nation.« (O.S. 354) Der Schützengraben, so lautet eine häufig verwendete rhetorische Floskel, war eine große Läute4 Goebbels, Joseph: Arnold Bronnen ›O.S.‹. In: »Der Angriff«, 30. 9. 1929. Der vorliegende Beitrag enthält Resultate der Forschungsprojekte Occasionaler Nationalismus. Fallstudie Arnolt Bronnen und Carl von Ossietzky. Republikanischer Antifaschismus der Stiftung Volkswagenwerk. Sie liegen in: Wagner, Frank D.: Mythos der Nation. Bronnen und Brecht. Würzburg: Königshausen & Neumann 2015 dokumentiert vor und werden hier nicht ständig erneut belegt. Der Forschungsrahmen der Stiftung war: Diktaturen im Europa des 20. Jahrhunderts. Strukturen, Erfahrungen, Überwindung und Vergleich. 5 Bronnen, Arnolt: O.S. Berlin: Rowohlt 1929, S. 354. – Im laufenden Text: (O.S. Seite).
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rungsanstalt. Bronnen verleiht dieser These eine schrille Stimme. Was Londoner Ultimaten und Pariser Verträge angerichtet hätten mit Deutschland, der Frontsoldat werde es wieder richten. Die alten Träume von einem deutschen Imperium könnten erneuert werden. Die Grenzen nach Polen ließen sich verschieben. Brecht setzt dem zur gleichen Zeit ein anderes Bild von Deutschland entgegen. Er begegnet der Feier des Aufbruchs mit der Lakonie der Not. Der emphatische Titel Das schöne Deutschland weckt höchste Erwartung. Das epigrammatische Fragment darunter führt in schockartige Düsternis. Aber was soll auf der rötlichen Halde Jetzt der Mann mit den irrenden Blicken Der noch kein Obdach hat für die Nacht6
Das ist der ganz andere, nämlich soziale Blick auf deutsche Zustände: kein Gedanke an Grenzverschiebungen, keine Beschwörung ehemaliger oder zukünftiger imperialer Größe Deutschlands, keine Heroik von Kriegserfahrungen, statt dessen Einsamkeit, Hunger und Unbehaustheit des Menschen. Der Frontsoldat soll alle Elemente der Nation kennen, wie Bronnen schreibt. Im Kriegsroman Aufbruch der Nation von Franz Schauwecker findet sich eine ernüchternde Auflistung, die den Typus Frontsoldat wohl viel genauer trifft und der sozialen Abstraktion von Brecht in der militärischen Abstraktion kaum nachsteht. Ich gehe nie ins Theater, nie ins Kino, nie in einen Park, nie an einen Strand, nie in ein Kaffeehaus, nie in ein Konzert, nie zu einem Freund. Ich spiele nie Tennis, Fußball, ich schwimme nie, ich reite nie, gehe nie spazieren, rudere nie, segle nie, besuche niemanden. Unentwegt trage ich ein und denselben Anzug, ein und dieselbe Wäsche, ein und dieselben Stiefel. Niemals sehe ich ein junges Mädchen, und ich habe keine Freundin. Nur Männer sind um mich, und sie haben alle ein und dieselbe Uniform an, sie drücken sich ungefähr gleichmäßig über ein und dieselben Dinge aus. Sonst wird nur befohlen.7
Die Mängelliste des Protagonisten wird gerundet durch eine Beschreibung des Ohnmachtsgefühls, das den Frontsoldaten beherrscht hätte. Der Tod als eine absolute Macht, eine Beobachtung Bronnens im Freundeskreis um Ernst Jünger, wird vorstellbar. Brecht zeigt sich von der Todes-Mystik und der Kälte-Pathetik im Gegensatz zu Bronnen völlig unbeeindruckt. »Nur wer im Wohlstand lebt, lebt angenehm.« Dieser Refrain aus der Ballade vom angenehmen Leben ist zwar von Brecht zuvörderst auf die sogenannten Hitlersatrapen gemünzt, entzaubert aber 6 Brecht, Bertolt: Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Herausgegeben von Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei, Klaus-Detlef Müller. Berlin, Weimar, Frankfurt/ Main: Aufbau, Suhrkamp 1988–2000, , Bd. 14, S. 103. – Im laufenden Text: (GBA Band, Seitenzahl). 7 Schauwecker, Franz: Aufbruch der Nation. Berlin: Frundsberg 1929, S. 92.
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auch jenes Mitleids-Pathos des Frontheimkehrers im bürgerlichen Zuhause, das schamlos ausgebeutet, politisch umfunktioniert und vor allem neu entfacht wird. Der Frontsoldat steht so gesehen voll im Widerspruch: Mal kennt er alle Elemente zur Bildung einer Nation; dann wieder kennt er kein Element einer bürgerlichen Gesellschaft. Er ist ein Alles, zugleich ein Nichts, je nach Blickwinkel. Er taugt als plastische Projektionsfläche für futuristische Bewegungen wie für anarchische Befindlichkeiten. Er ist um 1930 herum immer noch eine höchst reale gesellschaftliche Figur, hat aber auch schon in ungefährer Analogie Anteil an einer Art magischem Realismus wie bei Jorge Luis Borges, an einer Gestalt wie dem Aleph, das in der gleichnamigen Erzählung als ein »unfassbares Universum« vorgestellt wird, »unendliche Verehrung« wie »unendliches Bedauern« auslöst und wie ein Kristall wirkt, in dem sich das »gesamte Universum« spiegelt. Nach der Begegnung mit ihm scheinen alle Gesichter gleich bekannt zu sein, der Eindruck einer ewigen Wiederkehr droht sich zu verfestigen. Der Frontsoldat: ein kosmisches Universum der schlichtesten Art. In ihm erscheint alles simultan, doch die Zeit kann den Widerspruch sukzessiv entzerren. Dass solcher magische Realismus sich dann doch in militärische Realität verwandelt, verwundert nicht mehr. Für Aufbruchsstimmung wird gesorgt mit der Parole: Deutschland wird’s mal geben! Mitte der zwanziger Jahre ist es Ernst Jünger, der den Fronsoldaten zum Sturmblock formiert, in das Zentrum der inneren Politik rückt und zum Sturm auf das Parlament aufruft. Wir haben uns in jenem großen, ruhmvollen Kriege am schärfsten für die Rechte der Nation eingesetzt, wir fühlen uns auch jetzt zum Kampf für sie berufen. Jeder Mitkämpfer soll uns willkommen sein. Wir bilden eine Einheit durch Blut, Gesinnung und Erinnerung, den »Staat im Staate«, den Sturmblock, um den sich die Masse schließen soll. Wir schätzen keine langen Reden, eine neue Hundertschaft ist uns wichtiger als ein Sieg im Parlament. Zuweilen feiern wir Feste, um die Macht geschlossen paradieren zu lassen und um nicht zu verlernen, wie man Massen bewegt. Schon erscheinen zu diesen Festen Hunderttausende. Der Tag, an dem der parlamentarische Staat unter unserem Zugriff zusammenstürzt, und an dem wir die nationale Diktatur ausrufen, wird unser höchster Festtag sein.8
Das ist der Tonfall eines Manifestes, das den Krieg mit anderen Mitteln fortsetzen möchte. Die erstrebte nationale Diktatur wäre keine Monarchie mehr, eher ein absolut-autoritärer Staat mit cäsaristischer Massenbasis. Würde aber jener Soldat aus Brechts Legende vom toten Soldaten mitmarschieren und den Sturmblock festigen gegen das Parlament?
8 Jünger, Ernst: Der Frontsoldat und die innere Politik. In: Jünger, Ernst: Politische Publizistik 1919–1933. Stuttgart: Klett-Cotta 2001, S. 146–152, hier S. 151f.
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So zogen sie mit Tschindrara Hinab die dunkle Chaussee Und der Soldat zog taumelnd mit Wie im Sturm die Flocke Schnee. (GBA 11, 114)
Brechts Typologisierung des Frontsoldaten, studierbar in der Kalendergeschichte Der Soldat von La Ciotat, ist schon im Ansatz aller Nationalität entkleidet. Der Erzähler hat in der französischen Hafenstadt La Ciotat einen Soldaten des ersten Weltkrieges vor sich, aber Ort und Zeit verlieren sofort jegliche Bestimmtheit. Auf dem Jahrmarkt steht ein »Soldat vieler Jahrtausende« vor ihm und ein »Geschrei in allen Sprachen der Welt« hat ihn schon immer angefeuert. Ob Franzose, Deutscher, Pole – für Brecht spielt das keine Rolle, ihn verwundern andere Charakteristika. Jener Soldat verdient auf dem Jahrmarkt sein Geld mit der Fähigkeit, vollkommen unbeweglich zu verharren, Folge einer Verschüttung vor Verdun, und nach Kriegsende fortgebildet zur Fähigkeit, wie eine Statue sich auszustellen. Auf der Werbetafel ist die Rede von einer unerklärlichen Krankheit, einer Behauptung, die Brecht zu Widerspruch gereizt haben mag. Die Krankheit der Unempfindlichkeit sollte tatsächlich unerklärbar sein? Eine Verschüttung vor Verdun mag es für diesen Frontsoldaten tatsächlich gegeben haben, für Brecht ist etwas anderes wichtiger. In Anlehnung an Kants Klage über eine »selbstverschuldete Unmündigkeit« von Untertanen spricht er von einem Befehlsgehorsam der Untergebenen, kommandiert in vielen Sprachen, aber »immer unwissend, warum und wofür«. In der Erzählung wird die Unwissenheit nicht ausgefüllt durch so etwas wie einen Geist der Nation und es winkt auch keine Aussicht auf eine nationale Diktatur. Ob oder wie sehr die Unmündigkeit des Soldaten von La Ciotat selbstverschuldet war, lässt Brecht offen. Ihn stört die Rückverwandlung einer kalkulierten Kriegsverletzung in eine unheilbare Krankheit, sogar ironisch verstärkt, in eine ansteckende Krankheit. Ein Krankheitsbild soll den Kriegsgrund vernebeln, wie anders der Nationalgedanke das Kriegspathos erst anfeuern soll. Bei Bronnen ist im Roman O.S. studierbar, was die Anrufung eines Geistes der Nation alles anzurichten in der Lage sich zeigt. Dort gleicht der Aufbruch zur Nation eher dem Ausbruch eines Vulkans, Feuer speiend, Gase bildend, Lava wälzend, als wäre alles naturverschuldet und nur zu ertragen mit einem »Aussatz der Geduld«.
Oberschlesien 1921 Bronnen gibt in O.S. ein Panorama der Auseinandersetzungen um Oberschlesien aus dem März und dem April 1921. Franzosen, Engländer und Italiener bewachen das zwischen Deutschland und Polen umstrittene bedeutsame Industrie-
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gebiet. Es soll eine Volksabstimmung ermöglicht werden. Deutsche und polnische Kampfverbände versuchen, an der Diplomatie vorbei auf militärische Weise Fakten zu schaffen. Es geht um den Grenzverlauf und die Zugehörigkeit von Städten und Industrien zu einem der beiden Staaten. Der Versailler Vertrag hatte im Jahr 1919 große Teile Polen zugeschlagen (Memel, Danzig, Korridor), aber für den 20. März 1921 in der Provinz Schlesien eine weitere Abstimmung anberaumt. Die Auseinandersetzungen der zwei entscheidenden Jahre werden von ausufernder Propaganda von beiden Seiten aus befeuert. Tucholsky gibt, veranlasst durch den Roman von Bronnen, eine knappe Zusammenfassung. »Auf beiden Seiten ist gemordet und spioniert worden, verraten und gekauft und verkauft; bestialische Untaten sind verübt worden und ungesühnt geblieben… und schließlich hat es alles nichts genutzt.«9 Ein später Nutzen, so scheint es Bronnen, ist doch noch zu gewinnen. Die Wunden des Krieges und des Nachkrieges sollen sich nicht schließen. Die Nichtversöhnung soll erneut ihren düsteren Glanz entfalten. Bronnen schafft den nationalen Roman. Die nationale Gesinnung in O.S. ist ein Amalgam aus mindestens sechs Elementen, die abgrenzbar sind und sich auszeichnen durch die Möglichkeit scharfer Frontstellungen. 1. Nation – eine mythische Substanz. Ob Reich oder Nation oder Deutschland, die Bezeichnungen sind bei Bronnen austauschbar, immer signalisiert der Tonfall eine Wesensebene, verborgen unter einer Oberfläche. Die Charakteristika sind Tiefe und Alter, vor allem aber Dauer. Die Nation erscheint als unzerstörbare Substanz, als das Unwandelbare im Wandel der Zeiten. Sie wird zum Mythos, zu einer Erzählung aus der Vorzeit, mit Anrufung der Gegenwart. Das hohe, strahlende Reich, Konstruktion jener ersten, lebendigen Stämme, die ihre Nachbarn nicht fürchteten noch achteten, die in verschwenderischer Fruchtbarkeit ein Gewölbe nach außen bauten, das nach innen nichts zusammenhielt als der Geist ihrer Sprache und der Glaube einer herrscherhaften Mission, verlor die fassende, strömende Kraft. (O.S. 386)
Gemeint ist hier der Osten Deutschlands, der Sieg Polens. Die Sätze Bronnens auf logische Stimmigkeit oder auf historische Plausibilität zu untersuchen, wäre müßig. Ein Gestus soll wirken: Die Nation als mythische Substanz hat gerufen und die Deutschen haben nicht gehört. Beschwören statt begreifen – so lässt sich derartiges Reden über die Substanz einer Nation zusammenfassen. Das ist die vollständige Vernichtung jenes »einzigen Gedankens«, der nach Hegel bei Betrachtung der Weltgeschichte mitzubringen sei, der Gedanke der Vernunft. Bronnen missachtet mit Formeln wie
9 Tucholsky, Kurt: Ein besserer Herr. In: »Die Weltbühne« Nr. I, 1929, S. 953–960, hier S. 953.
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dem Gefühl einer Mission willentlich selbst den Boden der historischen Analogie, den etwa Brecht so sorgfältig pflegt. 2. Nation – ein magisches Subjekt. Der Mythos von der jahrtausendealten Substanz der deutschen Nation wird bei Bronnen verlebendigt durch die Magie eines tätigen Subjekts. Die Nation hat Energie, sie handelt, sie kämpft, sie fordert. Sie wird zu einem magischen Zentrum von Kraft und Führung, das Einordnung verlangt und in ihr Richtung und Stärke jedem Einzelnen verspricht. An der Oberfläche schwimmt in der Gegenwart angeblich eine papierene Republik. »In der Tiefe aber vibrierte, wie in ungeheuren Dampfkesseln, die zum Platzen gespannte, von der Oberfläche verbannte Energie der Nation: lauernd auf den Ruf der verborgenen Männer, die des Reiches Schicksal in sich fühlten.« (O.S. 103) Die Subjektsetzung von Reich oder Nation gestattet es Bronnen, mit expressionistischem Pathos deutsche Zustände zu schildern, ohne dass sie sozial genauer zu lokalisieren wären. Das Subjekt Nation hungert, fühlt sich verlassen, kämpft und speist sich aus Quellen einer Deutschen Vitalität. Die Einheitsvisionen »Ein Volk und Ein Reich« werden so einhämmernd in der Literatur verankert. Bronnen hat mit solchen Ausführungen über die Energie der Nation den größtmöglichen Gegensatz zu Brecht erreicht. Dieser sieht nur Verkehrungen und Verschleierungen, ein Verschieben in die Vertikale, wo doch eine andere Auseinandersetzung im Horizontalen die Nation ganz anders durchrüttelt. Wenn die gigantischen internationalen Wirtschaftskämpfe ausgekämpft sein werden, in nationaler Form, als Kampf zwischen Nationen, günstigenfalls glücklich für die deutsche »Nation« (arische Rasse, Sektion Deutschland), dann wird alles, was gebraucht wurde und gebraucht wird, in durchaus kapitalistischer Weise vorhanden sein, das heißt, für den allergrößten Teil der »Nation« nicht vorhanden. (GBA 22.1, 535)
Das ist von Brecht 1939 im Exil formuliert, hätte aber auch schon zehn Jahre früher Bronnen entgegengehalten werden können. 3. Nation – ein Körper mit Grenzen. Den Kampf um Oberschlesien beschreibt Bronnen als das Ringen um eine stabile Grenzziehung zwischen Deutschland und Polen. Grenze ist dabei ein anderer Ausdruck für Front. Deutschland ist für Bronnen ein Körper mit vielen offenen Wunden. Das Reich lag »sichtbar, doch unaussprechbar das Land, nie geformt, nie bestimmt, mit den fließenden, umkämpften Grenzen, Deutschland, ein Gefühl, mehr als das alles, ein Gefühl des Geistes.« (O.S. 324) Im Terminus Gefühl des Geistes, einer Abart der intellektuellen Anschauung des deutschen Idealismus, will Bronnen die weiblichen und männlichen Anteile im Körper der deutschen Nation vereint wissen. Die Formulierung »Deutschland, ein Gefühl« geht – wahrscheinlich unwissend – weit in die deutsche Romantik zurück und spekuliert frech und forsch mit dem Pathos des Ungefähren. Wer sollte es wagen, sich über ein Gefühl zu erheben?
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4. Nation – ein Gefäß der Reinheit. Es sind die ganz einfachen Vorstellungen von Gesundheit und Reinheit der körperlichen Sphäre, die Bronnen auf die Nationen überträgt. Deutsche und sonst niemand in Deutschem Gebiet, das wäre Reinheit. Aber schon wuchern fremde Zellen, bis für Bronnen die richtigen Gestalten kommen, etwa gewisse Freischärler. »Hingegen verschmolzen sich bei ihm Italiener und Polen zu einer nebelhaften Rasse, die man ausrotten mußte wie die sizilianischen Mosquitos.« (O.S. 310) Wie dieser Freischärler dann zur Reinigung schreitet, zählt zu den berüchtigten Seiten des Romans von Bronnen. 5. Nation – eine leitende Idee. Der idealistische Gestus, dass Deutschland vorerst nur eine Idee sei, die der Verwirklichung harre, zieht sich durch den ganzen Roman. Es ist ein exklusiver Status, den Bronnen der Idee Deutschland durchgängig verleiht. Er rechtfertigt überall jede Handlung, schneidet jede kritische Nachfrage ab und grundiert durchgängig das jugendliche Todespathos. Die Offiziere geben Befehle, Offiziere und Soldaten folgen sich selbst; aber unabhängig von dem allen treibt, lenkt der Geist; der Geist der Nation; keiner von ihnen stünde hier, sich selbst unbegreiflich, sich selbst unbegreiflich hinein-, hinabstürzend in die tausendfachen Grauen des Todes, der Vernichtung, der Verstümmelung, ohne den Geist der Nation. (O.S. 306)
Der gleiche Tonfall findet sich in dem Roman Aufbruch der Nation von Franz Schauwecker, mit dem Bronnen im Jahr 1929 zu konkurrieren scheint. Dort findet sich der unmittelbare Übergang vom Schrecken des Krieges zur Vision der Nation. Krieg war dort zunächst Pflicht und Befehl, dann für den Frontsoldaten reiner Selbstzweck, schließlich veredelt sich die Kriegsniederlage zur deutschen Legende der Nation. Es gibt keine Reflexionen über Kriegsursachen, über Kriegsziele, über Kriegsgegner, über Friedensgestaltung, über Kaiserflucht oder Republikausrufung. Es gibt nur den Sprung in die Überhöhung der Nation. Es ist ein einziger Schritt von der Front in Auflösung zur Nation im Aufbruch. Blieben die Frontsoldaten an der Front, weil sie dumm waren? Nein. Sondern sie blieben, weil sie nicht mehr einem bloßen Befehl gehorchten, sondern etwas Höherem, Größerem, nämlich der Nation! Und da haben wir sie, die große deutsche Legende von heut, die deutsche Mystik im einfachen Soldaten. Sie mußten wissend etwas tun, das praktisch vollkommen zwecklos war! Und sie taten es. Da hast du die Größe und Tragödie des deutschen Frontsoldaten.10
Es ist der idealistische Gestus, den Brecht in seinem Tuiroman zur selben Zeit aufgreift und als Satire ausstellt. Er führt dort die Rhetorik bis auf Johann Gottlieb Fichte zurück. Dessen idealistisches Pathos für die Nation der Deutschen wiederhole sich. Es träten erneut Männer auf, die dem armen Volk wieder eine Idee zu bringen gedächten. Im Jahr 1935 sieht Brecht diesen Prozess schon 10 Schauwecker, Franz: Aufbruch der Nation, S. 378.
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an seinem Ende angelangt. Im Fragment Gesichtswinkel aus dem Tuiroman findet sich dieser Abschluss: »Das Ende: Das Volk ist unter die allerverlumptesten, korruptesten Tuis gefallen. Die Idee triumphiert, das Volk verreckt.« (GBA 17, 153) Brecht entwirft das Gemälde eines Zuges von 70000 Tuis, die ein neues Reich errichten wollen. Die Bezeichnung Tui bedeute Kopfarbeiter, Einseher, Unterscheider, auch Formulierer. In genau diesem Sinn kann Bronnen als Formulierer der Idee Nation begriffen werden. 6. Nation – ein Stück Natur. Die Scharmützel in den schlesischen Städten und Feldern geraten in dem Roman zu jugendlichen Abenteuerzügen, irgendwo zwischen Indianerspiel und Stadtguerilla. Die Archaik, die Bronnen evoziert, ist selbst in den Manifesten der Futuristen so nicht intendiert. Das Pathos der Unmittelbarkeit, der Einfachheit und der Natürlichkeit, verwoben in Feuer, Kohle und Eisen, alles in beschleunigter Bewegung durch Raum und Zeit, diese Akzente einer technischen Moderne hält der nationale Roman in der Machart von Bronnen oder Schauwecker nicht durch. Die Eisenbahn wird durch den Eichenwald ersetzt. Die Großstadt wird als soziales Zukunftsmodell ausgemustert. Der Blick auf Land und Leute wird eingeübt. Der Ruf des Waldes soll mehr gelten als der Telefonanruf. Die Nation als mythische Substanz, als magisches Subjekt, als Körper mit Grenzen, als Gefäß der Reinheit, als leitende Idee oder als natürliche Natur: In jeder dieser Fassungen wird sie als Einheit für sich gefasst, isoliert von anderen Gebilden, als wiese die Grenze nicht immer schon über sich hinaus. Internationalität ist als Begriff verpönt und als Perspektive ausgespart. Es ist dies der Typ des exklusiven Nationalismus. Die eigene Nation wird übersteigert bis hin zum Chauvinismus, die anderen Nationen werden abgewertet und ausgegrenzt, meist aggressiv bis hin zu Säuberungen, die Austreibungen gleichen, also Reinigungen wie unter religiösen Vorzeichen. In die Paulskirchendebatte von 1848 zur Polenfrage wurde diese Position als Volksegoismus in die Auseinandersetzung eingeführt und als gesunder Standpunkt auch durchgesetzt. Die Abgeordneten des Vorparlaments hatten noch mit Mehrheit sich Polen als Staat vorstellen können, die Wiederherstellung eines Staates in Freiheit und Gleichberechtigung. Doch der exklusive Nationalismus setzte sich durch, der Volksegoismus wurde geweckt und mit dem Recht des Stärkeren legiert. Gottfried Benn, im Jahr 1933 um die Aussöhnung der Intellektuellen mit dem neuen Staat bemüht, versucht zu belegen, dass der Übergang eines fascismo movimento zu einem fascismo regime logisch und notwendig sei. Die frühen Parolen hätten sich nicht geändert. Wir sehen, daß der Sinn und die Propaganda für das Internationale, und zwar sowohl für die sozialistische wie industrielle Internationale, keine Vorstellung in uns erwecken,
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kein Gefühl in uns wachrufen konnte, das auf irgendeiner breiten Basis den Begriff des Staates hätte verdrängen können, und Staat ist Machtstaat, ist nationaler Staat.11
Die Parole müsse lauten: intranationale Sammlung. Brecht kommentiert die Werke O.S. und Roßbach seines langjährigen Mitstreiters Bronnen nicht.12 Noch Anfang 1929 eröffnet Brecht die Glosse Die produktiven Hindernisse mit dem Bekenntnis: »Was ich von Arnolt Bronnen halte, ist bekannt: nämlich viel.« (GBA 21, 254) Es ist die Antwort auf eine Rundfrage, die an junge Dramatiker gerichtet war, ausdrücklich an Brecht und Bronnen, und nur Theaterstücke betreffen sollte. Brecht verschweigt Unterschiede nicht, aber von so etwas wie einer Idee der Nation ist hier noch nirgendwo die Rede. Die gebührende Antwort im Geist eines kämpferischen Republikanismus auf die nationalistische Prosa Bronnens erteilen Kurt Tucholsky und Carl von Ossietzky, aufgeteilt auf den deutschen und auf den polnischen Leserkreis, in der Polemik sehr unterschiedlich, doch in der Intention auf gleicher Linie. Brecht liegt zu dieser Zeit auf ebendieser Linie der Kritik. Wenn Bronnens Nationalismus als occasional und militant umrissen werden kann, dann hebt sich davon Brecht deutlich mit einem irenischen Internationalismus ab.
Occasionaler Nationalismus Zunächst also: Was ist unter einem occasionalen Nationalismus zu verstehen? Bronnen bewegt sich gleichzeitig in suggestiven Kraftfeldern, die aufgebaut werden von Persönlichkeiten, die gegensätzlicher kaum sein könnten. Mal Hitler, mal Brecht, mal Goebbels, mal Jünger – die Begegnungen werden zu schockartigen Erlebnissen und Bronnen läuft mit. Carl Schmitt beschließt seine Studie Politische Romantik mit der bedenklichen Figur einer opportunen Umkehr. Die Überlegenheit über die bloß »occasionell« genommene Gegenwart verwandle sich in ihr Gegenteil, das Romantische ordne sich unromantischen Energien unter und die Erhabenheit über Definition und Entscheidung verwandle sich in ein »dienstbares Begleiten« fremder Kraft und fremder Entscheidung. Solches dienstbare Begleiten war für Bronnen im Umkreis von Brecht und Goebbels besonders auffallend, wie auch die Verwandlungsfähigkeit Bronnens in dieser Art des Mitlaufens, denn gegensätzlicher können die genannten Kraftfelder kaum sein. Diese Wandlungsfähigkeit ist für 11 Benn, Gottfried: Gesammelte Werke II. Herausgegeben von Dieter Wellershoff. Frankfurt/ Main: Zweitausendeins 2003, S. 1005 (Der neue Staat und die Intellektuellen). 12 Über die frühe Zusammenarbeit von Brecht und Bronnen siehe: Abschied von Brecht. Bronnens nationaler Weg durch Weimar. In: Wagner, Frank D.: Brecht als Philosoph. Würzburg: Königshausen & Neumann 2021, S. 181–202.
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Schmitt ein Charakteristikum romantischen Politisierens, das keine verbindliche moralische Substanz kennt und folglich auch moralischen Konsequenzen aus dem Weg geht, wenn solche drohen. Immer drängt die Frage: Könnte es subjektiv gefährlich werden? Romantische Politik zeichnet sich durch eine agile Beliebigkeit aus, folgert Schmitt. Occasionalismus droht so gesehen in Opportunismus umzuschlagen. Die Romantik ist für Schmitt mal für die französischen Revolutionen, mal dagegen, dann wieder für die deutschen Freiheitsbewegungen, dann wieder dagegen. Bewunderung für das Monarchische wechselt ab mit Kritik an den Königen usw., alles ohne belastbares Kriterium. »Diese Wandelbarkeit des politischen Inhalts ist nicht zufällig, sondern eine Folge der occasionellen Haltung und tief im Wesen des Romantischen begründet, dessen Kern Passivität ist.«13 Sollte Bronnen über diesen Leisten geschlagen werden können? Die Arbeiten mit Brecht und die Projekte mit Goebbels zeigen ein differenzierteres Bild. Bronnen erweist sich, wo auch immer er mitmischt, als höchst aktiv, phantasievoll und unerschrocken. Das Phänomen der Wandelbarkeit bleibt, der occasionale Wirklichkeitszugriff ändert sich nicht, doch Opportunismus im Sinn einer korrumpierten Unterordnung wird daraus nicht. Das Occasionelle hat für Schmitt die Seite auch des Phantastischen. Rausch, Traum, Abenteuer, Märchen, Spiel – alles wird möglich. Abenteuer und Spiel sind Haltungen, die sich Bronnen in seiner Biographie selbst immer wieder bescheinigt. Zudem gibt es eine Art exklusiver Revolte bei aller Anpassung an objektive politische Verhältnisse, eine Fronde, ein subjektives Aufbegehren bei allem Mitlaufen im Kollektiv. Bronnen bewahrt auch im Dritten Reich rebellische Reste und baut diese gegen Ende des Weltkrieges zu wirksamen Widerstandshandlungen aus.
Brechts Kritik des nationalen Willens Im Jahr des Erscheinens von O.S. gibt es die satirische Glosse Nationale Schundliteratur von Brecht mit dem Schlusssatz, keine Schundliteratur sei so widerlich wie die nationale. Bronnen findet keine Erwähnung. Doch dieser Typus von Literatur ist gemeint. Brecht bedauert ironisch, die deutsche Geschichte sei nicht sehr geradlinig verlaufen, doch mit etwas mehr »nationalem Willen« sei doch allerhand zurechtzubiegen. Mit gutem oder nationalem Willen sei der Krieg von 1870 doch wohl zu verschweigen. Oder die Befreiungskriege mit den beiden Deutschen Kleber und Ney seien zu streichen. Die absurden Beispiele haben den einzigen Zweck, die Instanz von so etwas wie einem nationalen Willen zu per13 Schmitt, Carl: Politische Romantik. 6. Aufl., Berlin: Duncker und Humbolt 1998, S. 119.
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siflieren, der zwar eine effektive Propaganda hervorzubringen in der Lage sei, aber kaum der Wahrheitsfindung diene. Brecht nennt nicht Namen noch Werke der nationalen Schundliteratur, doch dass Produkte wie O.S. oder Roßbach darunter fallen, scheint nicht zweifelhaft. Die Anrufung eines nationalen Willens als einer regulativen Instanz für Geschichtsschreibung oder Gesellschaftskritik ist für Brecht die Aufforderung zu Geschichtsklitterung und sozialer Lüge. Hannah Arendt hat in den Konstruktionen solcher Geschichtsbilder eines der Elemente totaler Herrschaft diagnostiziert. Die Elite habe immer eine große Abneigung gegen offizielle Geschichtsschreibung gehabt. Sie habe hier ein Feld von Fälschungen gesehen, einen Spielplatz für Scharlatane, und sei fasziniert gewesen von der Möglichkeit, Fälschungen und Lügen, wenn sie nur groß und kühn genug seien, als unbezweifelbare Tatsachen zu etablieren. Arendt legt eine Spur zu Nietzsche, der die Wahrheitsfrage durch die Machtfrage ersetzt wissen wollte, wenn sie der Elite solche Abwägungen unterstellt: »Könnte der Unterschied zwischen wahr und falsch nicht einfach eine Sache der Macht sein und der Schlauheit, jederzeit korrigierbar durch Terror und Propaganda?«14 Brecht diagnostiziert in der Instanz des nationalen Willens eine ähnliche Instanz der Verdrehungen und Verfälschungen und befürchtet schon, was Arendt post festum noch klarer erkennen sollte, den praktischen Sinn jener Geschichtsfälschungen. Das Konstrukt der historischen Lüge wird durch die Konstruktion der Zukunft zur nachgeholten Wahrheit. Lügen werden, spitzt Arendt paradoxal zu, Wirklichkeit. Den Totalitätsaspekt hatte Brecht auch schon geahnt. »Unsichtbar macht sich die Dummheit, indem sie sehr große Ausmaße annimmt.« (GBA 17, 95)15 Wenn bei des Kaisers neuen Kleidern nicht einmal ein Kind den Mund aufmachte, dann wäre die neue Kleiderordnung die geltende Wirklichkeit. Nacktheit wäre dann Festbekleidung.
Der nationale Wille in Aktion Die Störung der Ansprache Appell an die Vernunft von Thomas Mann durch ein Rollkommando unter Anleitung von Arnolt Bronnen in Berlin 1930 wirkt nicht nur aus heutiger Sicht wie eine Zeitenwende. In seiner Autobiographie schildert Bronnen den Skandal mit allen Details, die im Laufe der Jahre legendäres Gewicht erhielten: Wie Bronnen den »nervösen Redner« Thomas Mann nicht zur Entfaltung kommen lässt; wie durch Zwischenrufe die Erregung im Saal erzeugt 14 Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft. 17. Aufl., München, Zürich: Piper 2014, S. 714. 15 Vgl. dazu das Denkbild Die totale Verblendung. In: Wagner, Frank D.: Minima Hegeliana. Brechts Denkbilder. Würzburg: Königshausen & Neumann 2017, S. 13ff.
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wird; wie ein allgemeiner Tumult entsteht und die Polizei eingreifen muss; wie Bronnen und die anderen Störer aus dem Saal geführt werden. Die wünschbare politische Konsequenz, die Thomas Mann kurz nach dem Wahlerfolg der NSDAP im September 1930 in der Rede vorträgt, das Bündnis von Sozialdemokratie und Bürgertum zwecks Bewahrung des parlamentarisch-demokratischen Systems in Deutschland, ist von heute aus einleuchtend und unspektakulär, war als öffentliche Demonstration nüchterner Vernunft zu diesem kritischen Zeitpunkt in Berlin aber mutig und riskant. Mitten in der Weltwirtschaftskrise sich als Bürger und Citoyen zu bekennen, musste provokant wirken. Bronnen bestätigt den Umbruch später mit deutlichen Worten. »Durch den Thomas-Mann-Skandal hatte Goebbels Blut geleckt. Er sah, daß man auch durch ›Kultur-Kampf‹ Propaganda machen konnte.«16 Lässt sich über Arnolt Bronnen, seine Worte und Taten zusammengefasst, das Urteil fällen, er habe dem Dritten Reich einen erheblichen Vorschub geleistet? Die Fügung »erheblicher Vorschub« hat es in der Geschichtswissenschaft zur markanten Kategorie geschafft. Gemeint ist damit: mehr als Mitläufer, aber weniger als Mittäter. Die Kategorie scheint notwendig zum Verständnis einer populistischen Strömung, die in faschistischer Regierungsgewalt ihre Form finden sollte. Der Sachverhalt »erheblicher Vorschub« hat juristische Konsequenzen zumindest dort, wo in Gesetzen niedergelegt worden ist, Entschädigungsansprüche von Opfern des Nationalsozialismus zurückzuweisen, wo diesen nachzuweisen ist, sie hätten selbst ebendiesem Regime bei der Machteroberung oder bei der Machtausübung einen erheblichen Vorschub geleistet. Der Kronprinz Wilhelm von Preußen aus dem Haus Hohenzollern ist in eine solche Diskussion verwickelt. Wie ist zu bewerten, dass dieser Sohn des Kaisers 1923 aus dem Exil aus Holland nach Deutschland zurückkehrte und seitdem unablässig am Aufstieg Hitlers mitwirkte, nicht unbedingt zugunsten einer Restitution des alten Kaiserreiches, aber doch zumindest zugunsten einer Reorganisation der Weimarer Republik nach italienischem Vorbild? Wilhelm von Preußen beglückwünschte Benito Mussolini zur Ausrottung von Kommunismus, Sozialismus, Demokratie und hatte dabei ein anschauliches Bild vor Augen, wie in Europa dieser Zeit in einem großen Land ein König noch Ministerpräsidenten einsetzen und abberufen konnte. Dass Goebbels oder Hitler solche monarchistischen Visionen nicht teilten, ist unbestritten. Indes haben sie selbst royalistische Unterstützung nicht zurückgewiesen, solange eine solche zur Machteroberung und zur Machtsicherung beitragen konnte. Die Parole »Italia docet!« konnte sehr weit ausgelegt werden. Im Unterschied zu Arnolt Bronnen war bei einem Kronprinzen aller16 Bronnen, Arnolt: Arnolt Bronnen gibt zu Protokoll. Beiträge zur Geschichte des modernen Schriftstellers. Kronberg / Ts.: Athenäum 1978, S. 237 – Im laufenden Text: Protokoll im Text.
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dings strukturell zu unterscheiden zwischen der empirischen Person Wilhelm von Preußen und der monarchischen Figur einer Königsdynastie. Deren demokratieresistente Aura konnte wirken, unbeschadet davon, wie sich die reale Verkörperung einer solchen Dynastie in der Gesellschaft gebärden mochte. Nicht verwunderlich, dass Republikfeindschaft einem Kronprinzen in die Wiege gelegt war. Die Agitation für eine Diktatur aus dem Geist einer ins Mythische erhobenen Nation konnte einigen Gewinn aus dem Gottesgnadentum einer Monarchie ziehen, um so die sichtbare Gewaltherrschaft durch gewohnte Unhinterfragbarkeit abzusichern. Für einen Schriftsteller wie Bronnen bleibt nur die inkriminierende Kategorie eines Kollaborateurs, also der so wichtige Normalfall, oder des Komplizen, einer kaum weniger unsympathischen Figur. In der Zeit von Thomas Manns Deutscher Ansprache im Berliner BeethovenSaal bescheinigt sich Bronnen selbst ein Doppelgesicht. »Ich war Faschist, mehr noch war ich Anarchist.« (Protokoll, 229) Der Italofaschismus hatte nicht anders mehrere Gesichter gezeigt, pauschal zusammengefasst als fascismo movimento und als fascismo regime, im ersten Fall eine politische Bewegung mit viel Gewalt jenseits aller Doktrin, im zweiten Fall ein geordneter Staat mit klaren Gesetzen und wirkmächtiger Polizei. Bronnen lebt die Phase der Bewegung mit anarchistischen Elementen voll aus, geht dann aber in der Phase der Herrschaftssicherung allmählich auf Distanz zum Regime und blickt zurück mit Schrecken. Brecht und Bronnen hatten sich als junge Schriftsteller auf der Basis eines unspezifischen kosmischen Nihilismus füreinander interessiert und gemeinsame Projekte realisiert. Nach 1923 begann die allmähliche Entfremdung. Bronnen neigte zu Goebbels und Jünger, Brecht verkehrte mit Ihering und Benjamin, also in einer anderen Bewegung mit anderen Zielen, aber immer in Diskussionen über alle Abgründe hinweg. Der nationale Wille erfasste ihn nicht, die internationale Utopie sehr wohl, die anarchistische Lust, auch eine Seite Brechts, wurde im Spiel mit dem Gesellschaftlich-Grotesken befriedigt.
Brechts Gesellschaft für Dialektik »Weil ich selber ein von Affekten nationaler Natur freier Mensch bin […]« – so begründet Albert Einstein in seinem Brief an Sigmund Freud seine Vision einer Instanz planetarischer Friedenssicherung und nennt es eine einfache Antwort auf die drängende Frage: Warum Krieg?, die in ihrer äußeren und organisatorischen Gestalt so aussehen könnte: Die »Staaten schaffen eine legislative und gerichtliche Behörde zur Schlichtung aller zwischen ihnen entstehenden Konflikte.«17 Schon Kant sprach in diesem Sinn von einem Völkerbund, der nicht 17 Einstein, Albert u. Freud, Sigmund: Warum Krieg? Internationales Institut für geistige Zu-
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unbedingt sofort ein Staatenbund sein müsse. Er nannte ihn Friedensbund (foedus pacificum) und hielt seine Ausführbarkeit im Sinn einer Föderalität für darstellbar. Die Idee einer Weltrepublik war Kant zu kühn. Aber ein sich immer weiter ausbreitender Bund zur Abwehr von Kriegen, das war für Kant denkbar und auch notwendig. Es ist dies bei Einstein die gleiche Vision eines irenischen Internationalismus. Die Gegenposition war zwischen den Weltkriegen immer noch vorherrschend, schuf die Brücke vom Ersten zum Zweiten Weltkrieg und war in seiner ontologischen Begründung so populär wie simpel. Warum Krieg? »Der Krieg ist ebenso wenig eine menschliche Einrichtung wie der Geschlechtstrieb; er ist ein Naturgesetz, deshalb werden wir uns niemals seinem Banne entwinden.«18 So spricht Ernst Jünger über Pazifismus, wenig originell, aber in der Anrufung einer Naturgesetzlichkeit den Spielraum menschlicher Handlungsmöglichkeit in einem Maße einschränkend, dass Friedenspolitik geradezu als gefährlich empfunden werden muss. Nicht einmal einer Instanz wie einem nationalen Willen wird so Entscheidungshoheit eingeräumt. Es sind in den Jahren 1931/1932 Einstein und Freud mit ihrer Diskussion über das Wesen des Krieges im Rahmen des Völkerbundes, die Brecht zu größerer Klarheit des Zusammenhangs von Nation und Frieden veranlassen. Beide Gelehrte hatten einen Briefwechsel geführt, der im März 1933 unter dem Titel Warum Krieg? in Paris in mehreren Sprachen und in hoher Auflage publiziert worden war. Brecht hat in der Glosse Einstein – Freud die Position Einsteins kritisch kommentiert und ist dort zum düsteren Ergebnis eines »auffallenden Nihilismus« bei vielen Intellektuellen gelangt. Sollte die Masse eines Volkes tatsächlich durch dunkle Triebe in einen Krieg getrieben werden? Sei nicht doch eher eine ökonomische Bedrückung als reale materielle Ursache für Kriege anzunehmen, eine Bedrückung, die angeblich vom Ausland komme und dem Volk leicht einzureden sei? Da Brecht sich ebenso als ein von Affekten nationaler Natur freier Mensch empfinden durfte, mussten ihn die Fragen Einsteins an Freud besonders interessieren. Einstein war Mitglied der 1922 gegründeten Kommission für internationale geistige Zusammenarbeit, die sich zur Abhilfe der eigenen Wirkungslosigkeit ein Exekutivorgan schuf. Es trug den Namen Internationales Institut für geistige Zusammenarbeit. Von ihm gingen zwischen 1926 und 1946 wichtige Impulse aus. Es schuf die Grundlagen für den Aufbau der Vereinten Nationen. Friedenssicherung war die Hauptaufgabe. Einsteins Institut war erfolgreich in öffentlisammenarbeit. Völkerbund. Paris 1933 (Einstein, Albert u. Freud, Sigmund.: Warum Krieg? Ein Briefwechsel. Mit einem Essay v. Isaac Asimov. Zürich: Diogenes 2014, S. 16). 18 Jünger, Ernst: Werke. Bd. 5, Essays I, Betrachtungen zur Zeit. Stuttgart: Klett 1965, S. 43 (Der Kampf als inneres Erlebnis).
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chen Diskussionen und international beachteten Publikationen, aber erfolglos wie der Völkerbund selbst in der Sicherung des Friedens. Einstein schlägt in dem Brief an Freud vom 30. Juli 1932 eine Art Organisation intellektueller Führer vor. Goethe und Kant seien solche Führer gewesen, mit ähnlichen Idealen, freilich mit wenig Einfluss auf die politische Entwicklung. Brechts Grundsätze für eine eigene Gesellschaft für Dialektik – vielleicht sogar durch Einstein und Freud angeregt – variieren von Entwurf zu Entwurf. Die Experimentierhaltung ist unverkennbar. Realisierungschancen gewinnen keine Kontur. Einsteins Institut ist dagegen ein Garant für Sichtbarkeit. Brecht handhabt die Satzung einer wissenschaftlichen Gesellschaft wie die Form einer literarischen Gattung. Ein artistisches Element ist nicht zu übersehen. Kant hatte vorgezeichnet, wie sich ein philosophischer Entwurf über eine Weltfriedensordnung in der Form eines Weltfriedensvertrages publikumswirksam formulieren lässt. Kant wählte für seinen Weltfriedens-Entwurf den satirischen Titel Zum ewigen Frieden, einem holländischen Gastwirt folgend, der auf ein solches Schild einen Friedhof gemalt hatte. Brecht ist einer solchen Weltfriedens-Ordnung näher als dem engen kriegerischen Nationalismus seiner Epoche. Wo Kant indes die friedensstiftende Kraft des internationalen Handels betont, sieht Brecht zunächst den Weizen-Weltmarkt, dessen ökonomische Dialektik kaum den Frieden befördere. Kant hatte sich zu einer kühnen Hoffnung aufgeschwungen. »Es ist der Handelsgeist, der mit dem Kriege nicht zusammen bestehen kann, und der früher oder später sich jedes Volks bemächtigt.«19 So optimistisch urteilt Kant. Für Brecht streift dieser Handelsgeist immer noch wie ein Raubtier um die Welt. Gleichwohl fügt Brecht die Perspektive Welt und die Perspektive Frieden zu orientierenden Größen zusammen, die einen Gegenentwurf zu jeder Spielart eines deutschen militanten Nationalismus bilden. In die Tradition von Kant bis Brecht gehört nicht zuletzt der Entwurf eines »sittlichen Weltbundes« von Goethe. Er sei an dieser Stelle erwähnt, weil er den Weltfrieden Kants und den Weltmarkt Brechts durch die Utopie eines Weltbundes sittlicher und geistiger Abkunft abrundet, im vorliegenden Fall als Polemik gegen »die Mathematiker« als gefährliche »Universalmonarchen«, die mit dem teuflischen Instrument des Kalküls die Welt zu beherrschen sich anmaßen würden. Dystopisch gedacht lässt sich hier der homo algorithmicus erahnen, der durch Weltkonzerne zu neuen Formen der Weltbeherrschung findet. Goethe bringt »die Menschen« mit »allen ihren Kräften«, als da wären »Herz und Geist«
19 Kant, Immanuel: Werke in zehn Bänden. Herausgegeben von Wilhelm Weischedel. Darmstadt: WBG 1956, Bd. 9, S. 226 (Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf).
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wie »Verstand und Liebe«, dagegen in Stellung und sprengt damit jede nationale Engführung auf.20
Reform des nationalen Willens Die Kritik des nationalen Willens ist für Brecht 1943 dieselbe wie die von 1929. Mitten im Weltkrieg kommt ihm der Aufruf Deutsche Lehre von Johannes R. Becher zu Gesicht, in der dieser eine eindringliche Warnung ausspricht. Die in Deutschland verbrannte und aus Deutschland verbannte Literatur dürfe nicht glauben, sie könne – wohl nach Kriegsende – einfach wieder zurückkehren nach Deutschland und weitermachen wie bisher. Das sei der große Aberglaube der deutschen Emigration. Brecht muss sich direkt angesprochen fühlen, zumal bei einer Begründung, die ihm zuwider ist wie jener früh kritisierte nationale Wille. Die verbannte Literatur des Exils, so Becher, lebe in allen Ehren, aber zu einem künftigen Nationalgut könne sie nur dann werden, wenn sie dazu beitrage, den Typus einer neuen deutschen Nationalliteratur zu schaffen. Literatur werde in diesem Sinne eine nationale sein, oder sie werde nicht sein.21 Ist Bertolt Brecht damit gemeint? Oder Thomas Mann? Oder Alfred Döblin? Spricht etwa Becher von sich selbst? Brecht jedenfalls reagiert allergisch wie schon in den Krisenjahren vor dem Ende Weimars. Er empfindet den gleichen nationalen Willen am Werk wie in der Epoche des Faschismus vor der Macht (fascismo movimento), nur die Inhalte scheinen ausgetauscht. So echauffiert sich Brecht am 10. November 1943 in seinem Journal Amerika und wütet: »Ein entsetzlich opportunistischer Quark, Reformismus des Nationalismus.« (GBA 27, S. 181). Brecht hat Becher-Gedichte vor sich, die Strophe für Strophe diesen Tonfall entfalten: Deutschland! Deutschland! Du mein Heimatland! Unter deinem Himmel, deinem lauen, Stand ich einst auf einem Felsvorsprung.22
Es ist die gleiche Pathetik, mit der Marinetti einst in Italien auf die Adria schaute und Österreich verwünschte. Italianità! hieß sein Schlachtruf, von einem Felsen geschmettert, um die Herzen der Landsleute zu gewinnen. In Bechers Versen ist nicht einmal ein Revisionismus des Nationalismus zu erkennen. Sollte 20 Vgl. Kap. 28 Goethes Universalmonarchen. In: Wagner, Frank D.: Goethe und Hegel. Wesen der Dialektik – Grenze des Digitalen. Würzburg: Königshausen & Neumann 2020, S. 377ff. 21 Vgl. Becher, Johannes R.: Deutsche Lehre. In: »Internationale Literatur. Deutsche Blätter«. Moskau 1943, Heft 4, S. 13–43. 22 Becher, Johannes R.: Gedichte 1942–1948. Berlin, Weimar: Aufbau 1947, S. 252.
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Deutschland nicht ausreichen, dann geht es auch wie in Volk, Reich, Nation im letzten Vers so: »Volk, Reich, Nation, Deutschland, das Vaterland! / In euerem Namen führen wir das Schwert!«23 Noch schlimmer wird es, wird der nationale Tonfall mit religiösen Anspielungen durchtränkt. Es ergeben sich dann Strophen unter der Überschrift Deutschland, dein Wille geschehe! Brecht hatte schon früh in seinen Hitler-Chorälen diesen Tonfall persifliert, der fester Bestandteil der nationalsozialistischen Partei-Rhetorik geworden war, die religiöse Empfindung ausbeutend, um selbst Religion zu werden. Brecht akzeptiert allenfalls so etwas wie eine »nationale Friedens- und Freiheitsfront« gegen Hitler, insofern inmitten der globalen Katastrophe mit solcher Terminologie eine verlässliche Orientierung herzustellen sei. Der Aufruf zum Nationalen sei tauglich dort, wo Zerstückelung drohe, insbesondere der Wirtschaft. Doch dann artikuliert Brecht gegenüber Becher das, was er gegenüber Bronnen aus einstiger Freundschaft so vornehm verschwiegen hatte. Der nationale Wille wirke wie eine Käseglocke, wie ein gigantischer Spießerüberbau. »Das Nationalistische ist bei Schiller, Goethe, Hölderlin für uns schon unerträglich. Wie spießig dieses »Urdeutsche« im »Götz«!« (GBA 27, 181) Brecht hier zu folgen, fällt schwer. Die genannten Dichter hatten allesamt einen nationalen Tonfall ganz eigener Färbung mit ganz eigener Intention, ohne Spießigkeit, stattdessen mit polemischer Wucht gegen herrschende Zustände, und nur diese waren unerträglich. Eine nationalistische Linie von Schiller zu Bronnen gibt es nicht. Das National-Weihevolle, auf das Brecht offenkundig so empfindlich reagiert, wie das Wolkig-Selbstgefällige in ihm, das gibt es kaum bei Goethe und ist ihm selbst wesensfremd. Brecht contra Becher – der Zorn legt sich nicht. Er mündet in der berüchtigten Formel vom Land Nummer 11. Alle diese Redensarten einer pfiffigen salesmanship von »deutscher Wissenschaft«, »deutschem Gemüt«, »deutscher Kultur« führen unhinderbar dann zu diesen »deutschen Schandtaten«. Gerade wir sind die Rasse, die den Anfang damit machen sollten, unser Land das Land Nummer 11 zu nennen und basta. (GBA 27, 181)
1943 sind die deutschen Schandtaten schon weltweit bekannt und auch das Spiel der Nationen um eine Weltmachtstellung geht im Weltkrieg allmählich dem Ende entgegen. Zeitlich etwas früher liegen die beiden Glossen Appell an den Nationalismus und Der Nationalismus der Armen, beide in das Buch der Wendungen aufgenommen. Im ersten Fall könnte wiederum Becher gemeint sein. Ein Flüchtling beklagt im Ausland, in Deutschland sei der Nationalismus nicht ordentlich im Kampf gegen Hitler verwertet worden. Brecht hält dagegen. Keines der vielen 23 Ebd., S. 198.
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Probleme sei auf nationale Art zu lösen gewesen. Im zweiten Fall steht die Frage zur Diskussion: Könnte nicht doch den Armen der Nationalismus genützt haben? Brecht bleibt sich treu. »Der Nationalismus der großen Herrn nützt den großen Herrn. Der Nationalismus der armen Leute nützt ebenfalls den großen Herrn.« (GBA 18, 93) Nationalismus bleibt für Brecht ein ideologisches Herrschaftsinstrument, nichts sonst. Es gibt keinen angeborenen Nationalismus. Es gibt keinen ökonomischen Nationalismus. Es gibt nur einen strategischen Nationalismus. Der wird gehandhabt wie ein Instrument. Die Schwäche dieser vereinfachten Sichtweise könnte sein, dass es allerdings einen Unterschied macht, in wessen Händen ein solches Instrument liegt. Brecht hat angesichts der elementaren Wucht der vorherrschenden Nationalismen zu dieser Zeit dafür keinen Sinn. Brecht und Nationalismus gehen nicht zusammen. Es ist die gleiche Zeit, in der er in den Flüchtlingsgesprächen gegen alles Nationale anschreibt. Das Exil ist in Fragen der Vaterlandsliebe gleichsam die Höhere Schule der Dialektik im Versuch, die Kategorie Nationalität und Internationalität in ein wechselseitig produktives Verhältnis zu bringen. »Frankreich oder der Patriotismus« heißt eines der Länderporträts in den Flüchtlingsgesprächen und selbst das wird kein Lobgesang. Napoleon hatte als erster die Formel von der Grande Nation geprägt und auch das hält Brecht vom Spott über die patriotischen Tugenden nicht ab. Er gibt zu bedenken, die Vaterlandsliebe werde schon dadurch beeinträchtigt, dass man überhaupt keine richtige Auswahl habe. Könnte man wählen zwischen den Schweizer Bergen, dem französischen Käse oder den norwegischen Fjorden, könnten Vorlieben begründet sein. Doch ins Vaterland wird man hineingeboren, hineingestoßen wie in eine Zwangsheirat, wohingegen zu einer Liebesheirat die Möglichkeit der Auswahl die notwendige Voraussetzung wäre. Brecht zitiert sein eigenes Gedicht Über Deutschland, um auf einen weiteren Aspekt von Patriotismus hinzuweisen. Die Landschaft ist im Regelfall immer schön und liebenswert. Das Deutschland-Lied beginnt mit den Zeilen: Ihr freundlichen bayrischen Wälder, ihr Mainstädte Fichtenbestandene Rhön, du, schattiger Schwarzwald Ihr sollt bleiben.
Doch die Gesellschaft in dieser schönen Landschaft ist nicht immer schön oder liebenswert. So endet das Deutschland-Lied mit den Zeilen: Himmel und Erde und Winde und das von den Menschen Geschaffene Kann bleiben, aber Das Geschmeiß der Ausbeuter, das Kann nicht bleiben. (GBA 14, 453)
Das ist in einem echten patriotischen Vaterlandsgesang ein kräftiger Missklang. Soziale Verwerfungen haben in nationalen Höhenflügen nichts verloren. Brecht
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begegnet dem Lobgesang auf das Nationale mit Spott und Ironie, selten mit Humor. In Brechts Deutschland-Gedicht ist das Geschmeiß der Ausbeuter eine nationale Größe, es könnte aber auch ein internationales Gewicht haben. Dann wäre eine Nation Deutschland als Bollwerk sogar denkbar. Dieser ganz andere Sinn von Nation sollte nicht übersehen werden, denn gegenwärtig verknüpfen viele Staaten Hoffnungen an eine solche Abgrenzung und sprechen von einer Nation als von einer befreienden Vision. Die Nation ist eine der wunderbarsten Errungenschaften der menschlichen Zivilisation. Die Soziologie kann einen wichtigen Beitrag leisten, um sektiererische Verirrungen, Fundmentalismen und rassistische Tendenzen zu bekämpfen. Sie spielt auch eine entscheidende Rolle beim Kampf gegen den »äußeren Faschismus«, den so viele westliche Länder gegenüber den Völkern der südlichen Hemisphäre ausüben.24
Zum Geschmeiß der Ausbeuter zählen für Jean Ziegler internationale Großkonzerne, die insbesondere in der Dritten Welt natürliche Bodenschätze ausbeuten mit wenig Rücksicht auf Umwelt oder Bevölkerung. Brecht hatte dafür die Formulierung des internationalen Rauschgifthandels geprägt. Ziegler definiert gegenüber jedweder Zumutung eines Faschismus von außen, der immer mehr umfasst als nur Geschäftsinteressen und eher in die Epoche der Kolonialzeit passt, die Nation als eine in sich einige Bastion der Abwehr, versteht also darunter die Souveränität eines Staates auch in ökonomischer Hinsicht, die dann mit Nationalismus nichts gemein hat. Von krakenhaften Ölkonzernen bis hin zu globalen Computerfirmen gibt es zahlreiche Beispiele für die Missachtung nationaler Rechte. Hier ist die Vorstufe einer dialektischen Denkweise des Nationalen und Internationalen erreicht, das Ende einer Philosophie mit dem Hammer, der Ausblick auf einen irenischen Internationalismus gewonnen, der ohne den Begriff einer positiven Größe wie Nation gar nicht präsentabel erscheint. Hat Brecht das ganz übersehen? Brechts geographische Größe namens Deutschland lässt die natürlichen Flüsse und die menschlichen Werke gelten. Der Terminus Nation dafür scheint ihm aber zunächst verbraucht zu sein. Die Bildung von Nationen als Pharmaka gegen den internationalen Rauschgifthandel? Ziegler denkt in diese Richtung. Brecht verharrt ganz im Modus der Entlarvung. Die Nationalismen mit ihren Nationalstaaten sind für ihn keine Bollwerke gegen international agierende Konzerne. Für Ziegler könnte eine Nation sehr wohl eine Art Oase in einer ansonsten wüstenähnlichen Landschaft darstellen. Für ihn gibt es eine Dialektik des Nationalen und Internationalen, die nicht automatisch immer zugunsten der
24 Ziegler, Jean: Ändere die Welt! Warum wir die kannibalische Weltordnung stürzen müssen. 2. Aufl. München: Bertelsmann 2015, S. 209.
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übergeordneten Größe ausschlägt. Brecht scheint solche Erfahrungen nicht gemacht zu haben. Dabei waren doch die Nation Schweiz oder die Nation Schweden Bollwerke gegen das, was Ziegler den äußeren Faschismus nennt. Brecht kann 1939 eine solche Dialektik mit einer Idee der Nation nicht in Verbindung bringen. Ziegler spricht drastisch und verzweifelter noch als Brecht von einer »kannibalischen Weltordnung«. Seine Idee der Nation ist an der Geschichte der Schweiz orientiert. Solche Hoffnung mochte Brecht nicht teilen.
Die anderen Nationen Brechts Kinderhymne, schon im Namen eher ein Kuriosum oder ein Experiment, ist eine ganz untypische Nationalhymne. Sie betont in jeder ihrer vier Strophen ihre eigentliche Internationalität. Deutschland solle blühen wie ein »andres gutes Land«; ihm sollen die Völker die Hände reichen wie »anderen Völkern« auch; es soll nicht über oder unter »Andern Völkern« stehen; es mag als Land sich »das liebste« scheinen, so wie »andern Völkern ihrs«. Noch deutlicher ist eine Sonderstellung des eigenen Vaterlandes nicht zu schleifen. Das Nationalpathos eines Hoffmann von Fallersleben ist völlig getilgt. Deutschland soll sich neben den anderen Ländern sehen, nicht mehr über allen anderen. Nachdem er Anmut und Mühe als Tugenden eines guten Deutschland beschworen hat – vielleicht als Korrektur eines ersten Einfalls wie Arbeit und Sühne –, erinnert Brecht an das Deutschland der finsteren Zeiten und den überstandenen Raubzug in Form eines Weltkrieges. Daß die Völker nicht erbleichen Wie vor einer Räuberin Sondern ihre Hände reichen Uns wie anderen Völkern hin. (GBA 12, 294)
Die imperialen Träume sind ausgeträumt. Ein Imperium Teutonicum soll es nicht mehr geben. Brechts Hymne, in der Deutschland genannt wird in ungefähren Grenzen wie »der See bis zu den Alpen« und »der Oder bis zum Rhein«, entfaltet eine irenische Kraft. Die Idee der Nation ist in einem Friedensprojekt internationalen Zuschnitts aufgehoben, dort bewahrt, aber aller Heroik und nationalen Engführung entkleidet. Brecht mag gereizt haben, auch noch die Form einer Nationalhymne beherrschen zu können. Dass es eine Kinderhymne wurde, hat für eine poetische Dauer gesorgt. Das Verfassen einer offiziellen Nationalhymne hat er einem Dichter überlassen, der eine Auferstehung aus Ruinen ohne Skrupel mit einer ganz anderen Auferstehung konnotieren konnte. Willy Brandt hätte Worte aus der Kinderhymne eines Bertolt Brecht wie etwa:
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»Daß ein gutes Deutschland blühe / Wie ein anderes gute Land.« in seiner Rede zur Verleihung des Friedensnobelpreises zwanglos zitieren können.
Literatur Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft. 17. Aufl., München, Zürich: Piper 2014. Becher, Johannes R.: Deutsche Lehre, In: »Internationale Literatur. Deutsche Blätter«. Moskau 1943, Heft 4, S. 13–43. Becher, Johannes R.: Gedichte 1942–1948. Berlin, Weimar: Aufbau 1947. Benn, Gottfried: Gesammelte Werke II. Herausgegeben von Dieter Wellershoff. Frankfurt/ Main: Zweitausendeins 2003. Brecht, Bertolt: Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Herausgegeben von Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei, Klaus-Detlef Müller. Berlin, Weimar, Frankfurt/Main: Aufbau, Suhrkamp 1988–2000, , Bd. 14. Bronnen, Arnolt: Arnolt Bronnen gibt zu Protokoll. Beiträge zur Geschichte des modernen Schriftstellers. Kronberg / Ts.: Athenäum 1978. Bronnen, Arnolt: O.S. Berlin: Rowohlt 1929. Bronnen, Arnolt: Roßbach. Berlin: Rowohlt 1930. Bundeskanzler Brandt. Reden und Interviews (II). Herausgegeben von Presse u. Informationsamt d. Bundesregierung. Bayreuth 1973. Einstein, Albert / Freud, Sigmund: Warum Krieg? Internationales Institut für geistige Zusammenarbeit. Völkerbund. Paris 1933 (Einstein, Albert u. Freud, Sigmund.: Warum Krieg? Ein Briefwechsel. Mit einem Essay v. Isaac Asimov. Zürich: Diogenes 2014.) Goebbels, Joseph: Arnold Bronnen ›O.S.‹. In: »Der Angriff«, 30. 9. 1929. Jünger, Ernst: Der Frontsoldat und die innere Politik. In: Jünger, Ernst: Politische Publizistik 1919–1933. Stuttgart: Klett-Cotta 2001, S. 146–152. Jünger, Ernst: Werke. Bd. 5, Essays I, Betrachtungen zur Zeit, Stuttgart: Klett 1965. (Der Kampf als inneres Erlebnis). Kant, Immanuel: Werke in zehn Bänden. Herausgegeben von Wilhelm Weischedel. Darmstadt: WBG 1956, Bd. 9 (Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf). Ossietzky, Carl von: Die Blutlinie. In: »Die Weltbühne« 1930 II, 21. Okt. 1930, S. 603–604. Schauwecker, Franz: Aufbruch der Nation. Berlin: Frundsberg 1929, S. 92. Schmitt, Carl: Politische Romantik. 6. Aufl., Berlin: Duncker und Humbolt 1998. Tucholsky, Kurt: Ein besserer Herr. In: »Die Weltbühne« Nr. I, 1929, S. 953–960. Wagner, Frank D.: Brecht als Philosoph. Würzburg: Königshausen & Neumann 2021. Wagner, Frank D.: Goethe und Hegel. Wesen der Dialektik – Grenze des Digitalen. Würzburg: Königshausen & Neumann 2020. Wagner, Frank D.: Minima Hegeliana. Brechts Denkbilder. Würzburg: Königshausen & Neumann 2017. Wagner, Frank D.: Mythos der Nation. Bronnen und Brecht. Würzburg: Königshausen & Neumann 2015. Ziegler, Jean: Ändere die Welt! Warum wir die kannibalische Weltordnung stürzen müssen. 2. Aufl., München: Bertelsmann 2015.
Hannelore Scholz-Lübbering (Berlin)
»In mir habt ihr einen, auf den könnt ihr nicht bauen«. Brecht und die Frauen
Am 26. 04. 1922 im Zug von Berlin nach Wien schrieb Brecht sein Selbstporträt Vom armen B.B. Die vierte Strophe lautet: In meine leeren Schaukelstühle vormittags Setze ich mir mitunter ein paar Frauen Und ich betrachte sie sorglos und sage ihnen: In mir habt ihr einen, auf den könnt ihr nicht bauen.1
Über Brecht und die Frauen sind viele Bücher und Aufsätze geschrieben worden. Ohne das Team von Frauen und Männern an seiner Seite, die ihm zuarbeiteten, konnten seine Texte nicht entstehen. Die kollektive Arbeitsweise ist der Grund, dass verschiedene weibliche Anteile schwer auszumachen sind. Brechts Umgang mit Frauen war nicht selten grob und egoistisch, führte bei einigen Frauen in den Selbstmord und zerstörte Leben. Seine Biographie ist voll von Selbstmorden, Schwangerschaftsunterbrechungen, unehelichen Kindern der Frauen, die Brecht liebte. Brecht der Macho geriet auch deshalb in die feministische Kritik. Den Höhepunkt bildete die von John Fuegi aufgestellte These, dass Brechts Werk im Austausch von »Sex for Text«2 teilweise Schöpfungen der Mitarbeiterinnen seien. Sabine Kebir hat in ihrem Buch Ich fragte nicht nach meinem Anteil. Elisabeth Hauptmanns Arbeit mit Bertolt Brecht3 im Anfangskapitel die kontroverse Diskussion um Brecht und den Anteil der Frauen an seinem Werk erarbeitet. Auch Hiltrud Häntzschel diskutiert im Kapitel Etwas Glanz fällt auf jede4 das weibliche Liebes- und Arbeitsteam um Brecht und kommt zu dem Schluss, dass die Frauen 1 Brecht, Bertolt: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Herausgegeben von Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei, Klaus Detlef Müller. 30 Bände und Registerband. Berlin, Weimar, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1989–2000, Bd.2, S. 120. – Im laufenden Text: (GBA Band, Seitenzahl). 2 Fuegi, John: The Life and Lies of Bertolt Brecht. London: Harper Collins 1994. 3 Kebir, Sabine: Ich fragte nicht nach meinem Anteil. Elisabeth Hauptmanns Arbeit mit Bertolt Brecht. Berlin: Aufbau 2000. 4 Häntzschel, Hiltrud: Brechts Frauen. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 2003, S. 9–106.
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in Abhängigkeitsverhältnisse gerieten und sie dadurch nicht auf gleicher Augenhöhe, sondern eine Stufe tiefer unter Brecht standen. Dass betraf auch Helene Weigel in den Anfangsjahren. Herangezogen werden soll auch die zweibändige Biographie über Brecht von Werner Mittenzwei,5 in der er im Zusammenhang mit der deutschen und internationalen Theaterentwicklung den Umgang Brechts mit Frauen skizziert. Inzwischen liegt auch eine weitere umfangreiche Biographie Bertolt Brecht6 von Stephen Parker vor, die ebenfalls Aufschlüsse über die Frauen im Umkreis von Brecht gibt. Warum verharrten die Frauen freiwillig in dieser Situation? Was fesselte sie an das Dichtergenie Brecht? Ich möchte aus Sicht der Frauen ihre bereitwillige Mitarbeit an den Texten und ihr Leben im Umkreis von Brecht erhellen. Das setzt voraus, die Genesis dieser Frauen zu betrachten, um das kollektive Werk von Brecht und seinen Mitarbeiterinnen differenziert darzustellen. Die Privat- und Arbeitsbeziehungen sind anhand von Selbstaussagen und Briefen der Frauen zu rekonstruieren. Die Konzentration auf seine Geliebten Paula Banholzer, Elisabeth Hauptmann und auf seine Ehefrauen Marianne Zoff und Helene Weigel ermöglicht, ihre Bedeutung für Brechts Leben und sein Werk in bestimmten Phasen genauer zu erfassen. Alle weiteren Geliebten und Mitarbeiterinnen in den späteren Jahren wurden punktuell im Text genannt.
Die Zuhörerin: Paula Banholzer Für Paula Banholzer erfand Brecht viele Namen: Bi, Bittersweet, Paul. Sie war seine große, frühe Liebe in Augsburg. Er hatte zunächst wenig Erfolg mit seinen Werbungen. Seine Hartnäckigkeit führte letztendlich zum Ziel, sie erhörte ihn. Diese Frau blieb für Brecht in lebenslanger Erinnerung. Helene Weigel wusste mehr als alle anderen über Brechts Liebesverhältnisse. Sie sagte: »Brecht hat viele Frauen gehabt, geliebt hat er aber nur die Bi«.7 Noch Jahrzehnte später dichtete er: Bidi in Peking Im Allgäu Bi Guten sagt er Morgen sagt sie.8 5 Mittenzwei, Werner: Das Leben des Bertolt Brecht oder Der Umgang mit den Welträtseln. 2 Bde. Berlin und Weimar: Aufbau 1986. Zitiert als »Mittenzwei« nach der 4. Auflage 1989. 6 Parker, Stephen: Bertolt Brecht. Eine Biographie. Aus dem Englischen von Ulrich Fries und Irmgard Müller, Berlin: Suhrkamp 2018. 7 Steffin, Margarete: Briefe an berühmte Männer. Walter Benjamin, Bertolt Brecht, Arnold Zweig. Herausgegeben und Vorwort von Stefan Hauk. Hamburg: Suhrkamp 1999, S. 66. 8 Zitiert nach Parker, Stephen: Bertolt Brecht. Eine Biographie, S. 129.
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Bidi hatte Brecht für sich als Kosenamen erfunden. Er konnte seine Beziehungen zu Frauen nie beenden. Wie viele andere Frauen war Paula Banholzer bereit, eine Menge hinzunehmen, auch weil Brecht ihr die Ehe versprochen hatte. Sie war attraktiv und sportlich, seine Eroberungsstrategien zogen sich über achtzehn Monate hin. Paula hatte keine intellektuellen Ambitionen, verkörperte aber Sinnlichkeit, Schönheit und Lebensfreude, nach der sich der junge kränkliche Brecht verzehrte. Nach Paulas Erinnerung hielten seine Werbungsattacken während des ganzen Jahres 1916 an. Da war sie gerade erst vierzehn Jahre alt. Aber Brecht umwarb in dieser Zeit auch, Lilly Krause, Ernestine Müller, Maria Rosa Amann9 und Therese Ostheimer. In seinen Tagebüchern und Briefen gibt Brecht sich Rechenschaft über die nachlassenden Leidenschaften, über Enttäuschungen, über die anstrengende Choreographie seiner Treffen mit mehreren Geliebten. In seinen Aufzeichnungen hat Paula keine Stimme. Wir wissen nicht, wie sie Brecht wahrgenommen hat, was sie an ihm geliebt, was sie gestört hat. Die endliche Inbesitznahme von Paula durch Brecht ist eine Geschichte vom Verführen und Entziehen an der Schwelle zum Erwachsenwerden. Die Erotik wurde gesteigert durch das Verbot der Eltern und die Angst vor Geschlechtskrankheiten und Schwangerschaften. Im Frühjahr 1918 reduziert sich Brechts Interesse auf zwei Frauen: Rosemarie (Rosa Maria Amann) und Paula, immer abwechselnd, auch mal beide gleichzeitig. Darüber hinaus gibt es in München die Kommilitonin Hedda Kuhn. Sie geht zum weiteren Studium nach Berlin und heiratet einen Arzt. In dieser Zeit hatte Brecht Paul Claudels Drama Der Tausch gelesen. Hier fand er sein Vorbild und die Namen für Paula: Bittersüße, Bittersweet. Der Partnertausch im freizügigen Liebesspiel bei Claudel war ganz nach Brechts Geschmack. Mit diesem Drama hat er für all seine schwangeren und verlassenen Geliebten die literarische Vorlage gefunden. Er schenkte nicht nur Paula und Hedda Kühn ein Exemplar, sondern auch Marianne Zoff. Die Verzauberung durch Brechts Zärtlichkeiten muss nicht nur bei Paula alle Widerstände gebrochen haben, alle seine Frauen berichten davon. Drei Wochen später nach der Inbesitznahme von Paula schildert er seine Angst vor einer Schwangerschaft in einem Brief an Neher: »Weißt Du: ich habe nur so Angst für Bittersweet. Ich habe sie ganz tapfer gemacht, ihr gar nichts vorgelogen […] Obwohl sie »es« nicht wollte und sich sehr wehrte. Aber es war so schön! Nichts davon war gemein und danach hatte ich sie viel lieber als vorher.«10 Vergewaltigung und Männerphantasien, Brecht konnte nicht auf Paula verzichten. Sie war ihm eine gute Zuhörerin, andere Frauen schenkten ihm Texte, sie ihre Geduld beim Zuhören und sie wurde ihm hörig, gab ihren eigenen Willen auf und teilte seine Ansichten. 9 Für Maria Rosa Amann schrieb Brecht das bekannte Gedicht An Marie A. 10 Häntzschel, Hiltrud: Brechts Frauen, S. 27.
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Im Winter ereilte beide das Unvermeidbare: Bi war schwanger. Sie war gerade siebzehn Jahre alt. Brecht nahm alle Schuld auf sich und hielt angesichts der Tatsachen bei ihrem Vater um die Hand von Paula an, der war außer sich. Er war ein angesehener Arzt und stadtbekannt. Brecht ein mittelloser Bummelstudent passte ihm nicht als Schwiegersohn. Wir haben keine Äußerung von Paula zu den Vorgängen. Dieser Skandal führte letztlich dazu, dass ihre Eltern sie nach Kimratshofen im Allgäu verbannten. Sie verbrachte hier die Schwangerschaft. Wie sie das Leben weg von ihren Eltern empfunden haben muss, wissen wir nicht. Täglich schrieb sie an Brecht und erzählte noch im Alter, wie besorgt er um sie war. Am 30. Juli kam der Sohn Frank Otto Walter zur Welt und wurde am 2. August katholisch getauft. Mit der Kommilitonin Hedda Kuhn hatte Brecht verabredet, den Namen des Vorbildes Frank Wedekind an die Kinder weiterzugeben. Auch Hedda Kuhns erster Sohn heißt Frank. Brechts Jungen ging es nicht gut. Paula gab ihn im Allgäu in Pflege, da er in Augsburg weder bei ihren Eltern, noch bei Brechts Vater willkommen war. Nach dem Tod ihres Vaters wechselte Paula nach Augsburg über und arbeitete als Kontoristin. Hoffte sie noch auf die Einlösung von Brechts Versprechen? Obwohl er am 3. November Marianne Zoff heiratete, weil auch sie ein Kind erwartete, hielt er auch an sein Heiratsversprechen mit Bi fest. Sie aber ließ sich nicht länger täuschen und heiratete den Kaufmann Hermann Groß. Der Kontakt zu Brecht blieb nur wegen der Unterhaltszahlungen für Frank bestehen. Paula war mit sich selbst im Reinen. Sie war unauffällig und leise aus Brechts Leben verschwunden. Und Brecht? Paula stand für ihn über allen anderen intellektuellen Frauen: »Daß ich diese Frauen wie Hedda [Kuhn] und Edith [Neher] nicht erzählen hören kann! Es ist alles falsch und geschminkt und stillos […] Bi dagegen höre ich gern: Ich weiß, wie sie ist, und sie tut nichts zu den Dingen hinzu.«11 Die Mittel der frühen Lyrik von Brecht weisen ähnliche Doppelbödigkeiten auf wie bei Wedekind. Die Verwendung von Traditionselementen, die für beide als verächtlich galten, so die Moritat, die durch die Schilderung des Grausigen, des Lasters und Verbrechens gehören ebenso dazu wie die Gestörtheit der zwischenmenschlichen Beziehungen. Sie werden reduziert auf individuellen erotischen Genuss in einer als unmoralisch empfundenen Umwelt, ohne Verantwortung. Die Sexualität ohne Liebe ist als Verlust bürgerlich-humanistischer Menschheitsideale in der Gesellschaft zu sehen.
11 Ebd. S. 35.
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Die Sängerin: Marianne Zoff Brecht hat die Liebesgeschichte mit Marianne Zoff doppelt überliefert. Einerseits in den Briefen an Ma oder Mar, an seine Maorifrau (GBA 26, 218), wie er Marianne Zoff nannte, und andererseits in seinen Tagebüchern. Wir lesen über seine Liebe, seine Irritationen, seine vielen Lügen und Wutausbrüche. Marianne Zoff kam im September 1919 aus München nach Augsburg, wo sie als Sängerin eine Anstellung an der Augsburger Oper erhielt. Die früheste exakt überlieferte Bekanntschaft mit Brecht ist datiert auf den 13. 01. 1921. Brecht verfasste das Gedicht an sie: An M In jener Nacht, als du nicht kamst Schlief ich nicht ein, sondern ging oftmals vor die Türe Und es regnete und ich ging wieder hinein. (GBA 13, S. 205)
Brecht sah in ihr die ideale Partnerin eines jungen Bohemiens und Dramatikers. Er bewunderte ihre »schöne, zarte Stimme« und stellte sie sich in Rollen vor in den Stücken, an denen er gerade schrieb (GBA 13, 256). Brecht war liebeskrank. Er war auf eine andere Art gefangen als in seinen bisherigen Liebesbeziehungen. Diese Zeit der Liebeskrankheit hielt eine ganze Weile an. Marianne Zoff war fünf Jahre älter als er, sie hatte Charme und eine Faszination nicht nur für Brecht. Wie hat Marianne Zoff die Annäherung beider erlebt? Ihre sämtlichen Briefe an Brecht sind verloren gegangen. Als fast Neunzigjährige erzählte sie das, was sie gern überliefert haben möchte: Brecht kam eines Tages einfach in ihre Garderobe und machte ihr in seinem breiten schwäbischen Dialekt Komplimente.12 Sein Äußeres schockierte sie. »Er war nicht groß, dünn, äußerst ungepflegt, er hielt eine schäbige Mütze in der Hand, trug eine abgeschabte Lederjacke und eine zerbeulte alte Cordhose.«13 So hatte sie Brecht in einem der wenigen erhaltenen Texte charakterisiert: »Bert Brecht wäscht sich nicht. Er wäscht sich nicht. Alles hat man versucht. Aber er ist dann immer so witzig, und zum Schluß lacht man nur, und er ist wieder einmal fein heraus.«14 Brecht hatte die schöne begehrte Marianne nach vielen Kämpfen erobert. Im März 1921 war sie schwanger: »Sonntag, 13. Nun kriege ich ein Kind von der schwarzhaarigen Marianne Zoff, der braunhäutigen, welche in der Oper singt. Ich
12 Parker, Stephen: Bertolt Brecht. Eine Biographie, S. 252. 13 Ebd. 14 Brecht, Bertolt: Briefe an Marianne Zoff und Hanne Hiob. Herausgegeben von Hanne Hiob. Frankfurt/Main Suhrkamp 1900, S. 15f.
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knie mich auf die Erde, weine, schlage mir an die Brust, bekreuzige mich zu vielen malen. […] Mir wird ein Sohn geboren werden.« (GBA 26, 189) Wie mag sich Marianne Zoff gefühlt haben? Sie hatte gerade einen Schwangerschaftsabbruch hinter sich, die Vaterschaft war umstritten, aber nun war das Kind von Brecht. Heiraten wollte Brecht dennoch nicht. »Aber jetzt reißen sich die Ungeborenen um mich.« (GBA 26, S. 192) Anfang der zweiten Maiwoche verlor Marianne das Kind. War es eine Fehlgeburt oder eine Abtreibung? Brecht erfuhr diese Tatsache von seinem Nebenbuhler Oskar Camillus Recht und war außer sich. Seit vier Jahren war Marianne Zoff mit dem Geschäftsmann Recht verlobt, der eine Spielkartenfabrik in Bad Reichenhall besaß. Im Bericht der älteren Marianne wird die Dreiecksbeziehung mit keinem Wort erwähnt. Es ist nicht nachvollziehbar, was Marianne an Recht festhalten ließ, es sei denn das Geld, das ihr eine gewisse Sicherheit bot, aber dennoch ging der mittellose Brecht als Sieger hervor. Werner Mittenzwei hat die wechselvolle Geschichte von BrechtMarianne Zoff aufgearbeitet.15 Als Brecht im Januar 1922 schwer an Nierenentzündung erkrankte, er wurde in der Charité in Berlin behandelt, fand Marianne in Brechts Wohnung in Berlin die Briefe von Paula Banholzer. Sie war geschockt und reiste zu ihren Eltern nach Pilching bei Linz. Das Drama ist aber keineswegs beendet. Recht, der Verlobte von Marianne Zoff, erschien in Paulas Arbeitsstelle und eröffnete der völlig Ahnungslosen, dass Marianne ein Kind von Brecht erwarte. Sie entgegnete irritiert, dass sie mit Brecht verlobt sei. Klärung tat not. Sie fuhren gemeinsam nach München, wo am Hauptbahnhof Marianne die beiden empfing. Sie erwarteten Brecht in einem Café und konfrontierten ihn mit der Frage, wen er denn nun zu heiraten gedenke. Er entgegnete »etwas zynisch und durchaus belustigt ›alle beide‹«16. Nach dieser offensichtlichen Demütigung verließen sie den Verdutzten. Aber auf Paulas Fahrt zurück nach München schwur Brecht ihr wieder Liebe und verabredete einen Hochzeitstermin. Die Schwangerschaft von Marianne stellte er als bedauerliches Missgeschick hin. Auch die Heirat mit Marianne konnte er nicht mehr verbergen, bezeichnete sie aber als pro forma und versprach nach der Geburt des Kindes eine sofortige Scheidung. Diese Geschichte zeigt einmal mehr, zu welch aberwitzigen Aussagen und Aktivitäten Brecht fähig war, wenn der Verlust einer Geliebten drohte. Dieses Modell wird er ein Leben lang wiederholen. Nachdem Brecht am 3. November Marianne Zoff geheiratet hatte, bezogen sie eine Zweizimmerwohnung in München. Der Ehealltag war charakterisiert von 15 Mittenzwei, Werner: Das Leben des Bertolt Brecht oder Der Umgang mit den Welträtseln, S. 140–153. 16 Banholzer, Paula: So viel wie eine Liebe. Der unbekannte Brecht. Erinnerungen und Gespräche. Herausgegeben von Axel Poldner und Willibald Eser. München: Universitätsverlag 1981, S. 83f.
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Eifersucht, Misstrauen, Lügen und Untreue. Brecht erhielt den Kleistpreis von 10 000 Mark und lebte bis zur Premiere von Trommeln in der Nacht in Berlin. Immer wieder erkundigte er sich zärtlich nach dem Wohlergehen von Marianne und dem Ungeborenen. Wenige Tage nach der Geburt entwarf Marianne einen Brief an Paula und schrieb: »[…] Ich bitte Sie aber, Bert zu sagen, daß er frei ist, vollkommen frei- ich muß sagen, daß mich sein Brief an Sie gerührt hat – so viel Liebe und Zärtlichkeit hätte ich ihm eigentlich nicht zugetraut.«17 Es ist nicht nachweisbar, ob sie den Brief abgeschickt hat. Der ferne Vater Brecht spricht in seinen Briefen von zärtlicher Liebe zu dem ungeborenen Kind, die ein Leben lang anhalten wird. Er war aber ausschließlich mit Arbeit beschäftigt. Durch die Aufführung seiner Stücke war Brecht einem größeren Theaterpublikum bekannt geworden. Jedoch verbesserte sich seine finanzielle Situation dadurch keinesfalls. Er wohnte mit Marianne zunächst in einem Zimmer, dann kam ein weiteres hinzu. Die Möbel waren gemietet. Da sie ein Kind erwartete, war an ein Engagement als Sängerin nicht zu denken. Noch bedrückender wurden die Verhältnisse nach der Geburt der Tochter Hanne am 12. März 1923. Brecht war sehr besorgt um das Kind, das hielt ihn aber nicht davon ab, die enge Wohnung als Treffpunkt mit Freunden zu nutzen. Sie tranken, rauchten und diskutierten lautstark. So kam es zu verständlichen Auseinandersetzungen. Nach einer Italienreise gingen die Eheleute mehr und mehr eigene Wege. Die Ehe bestand nur noch auf dem Papier, allerdings dauerte dieser Zustand noch bis 1928 an. Inzwischen hatte er Helene Weigel und sie Theo Lingen kennengelernt. Marianne drängte auf Scheidung, Brecht lehnte ab: »Laß dich bitte nicht scheiden, wir können doch weiter getrennt leben, ich habe meine Arbeit, du hast den Theo Lingen. Ich laß euch in Ruhe, meine Einkünfte steigen, ich kann für dich und Hanne sorgen.«18 Auch mit Theo Lingen sprach der verzweifelte Brecht, es änderte an dem Vorhaben nichts. Dem Scheidungsprotokoll des Landgerichts III in BerlinCharlottenburg ist zu entnehmen, dass es zu einem späteren Zeitpunkt Brecht war, der die Scheidung einreichte. Die Eheleute warfen sich gegenseitig Untreue vor. Helene Weigel und Theo Lingen wurden als Zeugen geladen. Sie nahmen das Zeugnisverweigerungsrecht in Anspruch. Der Prozess zog sich von 1926 bis 1928 hin. 1928 entschied das Gericht: »Die Ehe der Parteien wird auf Klage und Wiederklage geschieden. Beide Parteien tragen die Schuld an der Scheidung. Die Kosten des Rechtsstreits werden gegeneinander aufgehoben.«19
17 Ebd. S. 86. 18 Marianne Zoff-Brecht-Lingen erzählt. In: Banholzer, Paula: So viel wie eine Liebe, S. 188. 19 Ehescheidungssache des Schriftstellers Bertold Brecht, Landgericht III, Abt. 10, BerlinCharlottenburg. In: Bertolt-Brecht-Archiv in der Stiftung der Akademie der Künste. Nr. 2179, Blatt 13. – Im laufenden Text: (BBA Nummer, Blatt).
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Für Brecht trat eine wichtige Veränderung ein. Max Reinhardt hatte Erich Engel 1923 als künstlerischen Leiter des Deutschen Theaters und der Kammerspiele nach Berlin geholt. Eine seiner ersten Amtshandlungen bestand darin, Brecht und Zuckmayer Verträge als Dramaturgen anzubieten. Damit war der Weg nach Berlin geebnet.
Das Chiefgirl: Elisabeth Hauptmann Von 1924 bis 1933 war Elisabeth Hauptmann die verlässliche, stets verfügbare Sekretärin und Mitarbeiterin- ein Chiefgirl (wie sie sich bezeichnete) auf An- und Abruf. 1926 erschien unter dem Pseudonym Catherine Ux im Magazin »Das Leben« die Geschichte Julia ohne Romeo. 1928 publizierte Elisabeth Hauptmann ihre erste Geschichte unter ihrem Namen seit ihrer Zusammenarbeit mit Brecht. Sie erschien im Aprilheft des »Uhus« unter dem Titel Bessie soundso. Eine Geschichte von der Heilsarmee. Brecht nannte Elisabeth Hauptmann Bess. Mit 25 Jahren kam sie aus einem kleinen Dorf nach Berlin. Sie musste zunächst ihren Lebensunterhalt als Privatlehrerin, Übersetzerin und Sekretärin verdienen. Da Englisch ihre zweite Muttersprache war, bot es Vorteile für die Arbeit in einer Literaturagentur. Nach Häntzschel hatte sie Brecht auf einem Kostümfest 1920 gemeinsam mit Dora Mannheim, einer Kollegin aus dem Architekturbüro, kennengelernt.20 Aber erst 1924, da ist Brecht schon ein prominenter Dramatiker, lädt Dora Mannheim beide ein. Hauptmann war erkältet und sprach wenig. 1972 berichtete Elisabeth Hauptmann von einem folgenschweren Anruf Brechts: »Hier Brecht. Ich bin noch nie so unfreundlich verabschiedet worden! Ja, dann habe ich versucht, etwas freundlicher zu sein und daraus ergab sich dann diese lange Mitarbeiterschaft.«21 Die Mitarbeit begann umgehend, bereits am 1. Januar 1924 hatte sie einen festen Vertrag für ein Jahr mit dem Kiepenheuer-Verlag über die redaktionelle Betreuung der Brechtschen Stücke Mann ist Mann, Im Dickicht der Städte und der Hauspostille. Sie wurde sein Mädchen für alles. Sie besorgte die Korrespondenz mit den Verlagen, die Steuererklärungen, versuchte ein Auto für Brecht zu Werbezwecken zu erlangen und hatte darüber hinaus auch seine physischen und sexuellen Bedürfnisse zu befriedigen. Es ist kaum etwas über ihr privates Verhältnis zu Brecht bekannt. Sie war sehr diskret, trat zurück, wenn es um Brechts Erfolg ging, auch in einer Skizze über ihr Leben, wurde die Episode 1929, als Brecht Helene Weigel heiratete, ausgespart. Es war ein schmerzhafter
20 Häntzschel, Hiltrud: Brechts Frauen, S. 150f. 21 Ebd. S. 151.
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Schock für sie, der ihren Lebenswillen angriff. Sie versuchte sich das Leben zu nehmen und dennoch blieb sie Brechts »Chief Girl«. Ihr Name ist eng mit einem Großteil von Brechts Werken verbunden. Als progressive Frau entsprach sie wie Helene Weigel nicht nur dem Programm »der neuen Frau«, sondern auch den Vorstellungen von Brecht, ebenso wie später die Geliebten Margarete Steffin und Ruth Berlau. Die Anerkennung, die Helene Weigel erringen konnte, blieb Elisabeth Hauptmann versagt. Brecht schätzte Hauptmanns ausgezeichneten Kenntnisse der englischen und amerikanischen Literatur und ihre Fähigkeit, diese in ein literarisches Deutsch zu übertragen. Durch das Zusammentreffen mit Brecht wurde ihr emotional schier Unerträgliches abgefordert. Sie entdeckte sehr schnell, dass die Arbeit mit Brecht für sie keinerlei Sicherheit bot. Er bestellte sie zur Arbeit, wer nicht kam, war er. Er verletzte sie, wenn er gleichgültig und unhöflich andere Frauen mit in die Wohnung brachte, in der sie arbeiteten. Als Revanche nahm sie sich Liebhaber aus seinem Umkreis, z. B. den Schriftsteller und Boxer Emil Hesse-Burri, sie brachten kein anhaltendes Glück für sie. Brecht forderte immer wieder Verständnis für sein Verhalten, indem er seine sexuellen Bedürfnisse herunterspielte. Das hatte zur Folge, dass er sein polygames Leben ständig mit permanenten Lügen und Ausreden zu erklären versuchte. Brecht der Macho, der Angeber, der Vieldeutige, das zeigt sich nicht nur im Privaten, sondern auch im Politischen. Er trat nie der KPD bei, gab aber auch nie die öffentliche Unterstützung für die revolutionäre kommunistische Bewegung auf. Erstaunlicherweise unterschätzte er anfangs den Faschismus. Elisabeth Hauptmann führte 1926 ein Tagebuch. Sie berichtet über Brechts Pläne und Ideen, über ihre Gefühle und Eindrücke. Brechts Wohnung in der Spichernstraße diente als Büro, wo Verleger, Theatermanager und Schauspieler kamen und gingen, während Elisabeth Hauptmann, Emil Hesse-Burri und andere dort arbeiteten. Sie fühlte sich auch für seine Garderobe verantwortlich. Er bevorzugte einen Manchester Arbeiteranzug oder den Blaumann. Dieser war Brechts Uniform für die neue Zeit. Brecht entwickelte seine Ideen über das epische Theater meistens im Gespräch mit Elisabeth Hauptmann. Den Begriff verwendete Brecht nachweislich zum ersten Mal im Sommer 1926 in einem Interview: »Ich bin für das epische Theater.«22 Brecht nennt Hauptmann als Co-Autorin von Mann ist Mann, Die Dreigroschenoper, Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny, Der Flug der Lindberghs, Das Badener Lehrstück vom Einverständnis, Der Jasager und der Neinsager, Die heilige Johanna der Schlachthöfe, Die Rundköpfe und die Spitzköpfe.
22 Parker, Stephen: Bertolt Brecht. Eine Biographie, S. 353.
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Den größten Erfolg konnten beide mit der Dreigroschenoper feiern. »Nein, die Dreigroschenoper wäre sicher nicht gekommen ohne mich«23, bekannte Elisabeth Hauptmann 1972 im Interview. Sie hatte den Text The Beggar’s Opera von John Gay übersetzt und versuchte Brecht für das Stück zu begeistern. Er war zunächst nicht Feuer und Flamme, da er wie üblich an mehreren Stücken arbeitete. Dass er sich dennoch an das Werk machte, ist der anregenden Vorarbeit von Elisabeth Hauptmann zu verdanken. Sehr verschiedene Faktoren führten zu einem überwältigenden Erfolg, die Managerin war Hauptmann. Es wurde das Eröffnungsstück für das Theater am Schiffbauerdamm. Die Umstände für die Fertigstellung des Textes sind bei Mittenzwei ausführlich beschrieben.24 Mit der Dreigroschenoper platzierte sich Brecht über Nacht in der Verbraucher- und Vergnügungsindustrie. Schon im April 1928 war die Tantiemen-Verteilung von dem Bühnenvertrieb Bloch und Erben festgelegt: 62 % für Brecht, 25 % für Weill, 12,5 % für Hauptmann. Es brach ein regelrechtes Erfolgsfiber aus. Brecht, Weill und auch Elisabeth Hauptmann hatten keine Geldsorgen mehr. Die letzte gemeinsame Arbeit im Team um Brecht war das Lehrstück Die Ausnahme und die Regel, eine französische Vorlage lieferte wiederum Hauptmann. Das Stück konnte nicht mehr in Deutschland publiziert werden. Eine Zeitlang lebte Elisabeth Hauptmann mit der Journalsitin Bianca Minotti zusammen. Sie gingen aber getrennt ins Exil. Das Arbeitsteam hatte sich entscheidend verändert, als Margarete Steffin im Winter 1931/32 dazu kam. Hauptmann war in der KPD und deshalb bei Machtantritt der Faschisten hoch gefährdet. Nach dem Zerwürfnis mit Brecht, der sie für den Verlust seiner Sachen verantwortlich gemacht hatte, geriet sie in eine tiefe Krise. Bei der spontan notwendigen Flucht Brechts nach dem Reichstagsbrand hatte er sie gebeten, sämtliche Materialien zu sichern. Die vielen Hausdurchsuchungen durch die Gestapo verhinderten das. Sie geriet selbst in die Hände der Gestapo, wurde aber nach einigen Tagen wieder frei gelassen und setzte sich umgehend nach Paris ab. In den Exilwochen in Paris hatte sie Kontakt zu Benjamin, reiste Mitte Januar 1934 weiter in die USA. Es gelang ihr nur schwer, dort Fuß zu fassen, auch der Kontakt zu Brecht in Dänemark war abgebrochen. Die letzten Kriegsjahre lebte sie in New York mit Horst Baerensprung zusammen. Er war vor dem Exil sozialdemokratischer Polizeipräsident von Magdeburg gewesen. Als sie Brecht 1943 in New York traf, übertrug Brecht ihr die Betreuung letzter Hand in der in Angriff genommenen englischen Ausgabe seiner Werke. Aber ihre Tragik bestand darin, dass ihre unermüdliche Arbeit weder honoriert noch anerkannt wurde. Resü23 Häntzschel, Hiltrud: Brechts Frauen, S. 162. 24 Mittenzwei, Werner: Das Leben des Bertolt Brecht oder Der Umgang mit den Welträtseln I, S. 278f.
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mierend notiert sie 1952: »Vielleicht kann ich es doch wieder erreichen zu arbeiten, was ich möchte. […] Leider werde ich von niemandem ausgehalten, bekomme keine Alimente, wurde nicht prämiert, ausgezeichnet, überhaupt nicht gelobt, was auf Dauer schwer zu ertragen ist, denn ich bin auch nur ein Mensch.« (BBA 972, 75f.) Nach Brechts Tod verwaltete sie gemeinsam mit Helene Weigel das Erbe Brechts. Doch die beiden Frauen haben im Umgang miteinander Schwierigkeiten. Immer wieder muss Hauptmann Honorare einfordern. Peter Suhrkamp regelte schließlich, dass auf jedem Band der Gesamtausgabe auf der Titelrückseite ihre Herausgeberschaft angezeigt wurde. 1961 kam sie doch noch zu einigen Ehren. Sie erhielt den Lessing-Preis, war privilegiert, konnte freizügig reisen, hatte es zu Wohlstand gebracht, den sie großzügig zum Verschenken nutzte. 1972 drehte das Fernsehen ihre Lebensgeschichte Die Mit-Arbeiterin. Sie ist mit sich zufrieden, erzählt weniger von den Verletzungen und Enttäuschungen als von den Gewinnen der Arbeit im Kollektiv um Brecht.
Die Schauspielerin: Helene Weigel Die Begegnung von Brecht und Weigel kam durch Brechts Freund Arnolt Bronnen zustande. Brecht suchte eine Schauspielerin.25 Er erschien bei ihr mit einer Decke und sagte ihr, dass er keine Bleibe habe. Alles Weitere ist Legende. Sie gestattete ihm, auf dem Sofa zu schlafen. Sie war bereits in ihrem Schlafzimmer als Brecht mit der Begründung klopfte, dass es im Wohnzimmer zu kalt sei. Sie gab ihm eine Ohrfeige und eine zweite Decke. Von nun an besuchte er sie immer wieder und es kam zu einer lebenslangen Beziehung. Sie war anders als alle Frauen, die Brecht bislang kennengelernt hatte. Weigel kam aus einer wohlhabenden, assimilierten jüdischen Familie in Wien. Sie hatte eine progressive Schule der Reformpädagogin Eugenie Schwarzwald besucht. Erzogen im Sinne der »neuen Frau«, verkörperte sie Selbstbewusstsein, schauspielerische Brillanz und sexuelle Attraktivität. Ihre politische Einstellung war entschieden links und das äußerte sich in Solidarität und praktischer Hilfe, wenn es nötig war. Beruflich wollte sie unabhängig sein und eine offene Beziehung ohne Besitzansprüche führen. Diese Absicht brachte aber Schwierigkeiten mit sich, denn Brechts Verhalten führte dazu, dass sie mehrmals den Kontakt zu ihm abbrach. Weigels künstlerische Karriere hatte sich kontinuierlich entwickelt. Sie hatte einen guten Ruf am Deutschen Theater, spielte Hauptrollen in unterschiedlichen 25 Parker, Stephen: Bertolt Brecht. Eine Biographie, S. 320f.
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Stücken und zuletzt in Brechts Bearbeitung von Gorkis Die Mutter. In den Berliner Jahren unterhielten sie getrennte Wohnungen. Auch Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir lebten in getrennten Wohnungen, um die Arbeit an den unterschiedlichen Projekten des Anderen nicht zu behindern. Brecht brauchte eine starke Persönlichkeit wie die Weigel. Wegen seiner physischen und psychischen Schwächen war er auf ihre Kraft angewiesen. Sie half, wenn er in Schwierigkeiten geriet, selbst bei seinen vielen Frauengeschichten. Ihre Ehe mit Brecht überlebte viele Prüfungen und enorme Belastungen. Zum größten Teil waren die Schwierigkeiten seinen Frauengeschichten geschuldet. Im Interview wird sie gestehen: »Und das hat alles sehr, sehr, weh getan!«26 Ganz offensichtlich konnte sie sich doch nicht mit einer offenen Beziehung abfinden. Das betraf nicht nur sie. Brecht war immer wieder vielseitig in sein Beziehungsgewirr verstrickt. Das begann schon früh. Paula Banholzer wartete auf die Einlösung des Eheversprechens, seine Frau Marianne hatte im März 1922 die gemeinsame Tochter Hanne geboren und ganz wichtig war auch die Beziehung zu Bronnen. Im Exil bekräftigte Helene Weigel noch einmal das Prinzip einer offenen Beziehung: »Du kannst nicht und willst nicht eine deklarierte mit Stempel versehene Ehe führen, das war sie auch nie und ich hab sie auch nie verlangt.«27 Von Beginn an demonstrierte sie ihre Unabhängigkeit. Auffällig ist, dass Brecht an sie keine Liebesgedichte wie an seine anderen Geliebten schrieb. Seine Verse galten immer der Schauspielerin Helene Weigel. Als Frau war sie sie eher herb, streng, spröde, sparsam, im herkömmlichen Sinn nicht schön. Brecht hat ein respektvolles Porträt seiner Schauspielerin mit großen Qualitäten und kleinen Mängeln gezeichnet. Für ein Verliebt-Sein finden sich keine Indizien. Ihre besondere Begabung als Schauspielerin lag zunächst im Charakterfach. Erst durch die Zusammenarbeit mit Brecht wechselte sie ins Mutterfach. Die Darstellungen der Mütter wurden ihr Markenzeichen. 1929 hatte Brecht eine leidenschaftliche Liaison mit Carola Neher, der zweiten und berühmt gewordenen Polly seiner Dreigroschenoper begonnen. Sie war durch den Tod von Klabund soeben Witwe geworden. In seiner Mansarde arbeitete Brecht eng mit Elisabeth Hauptmann zusammen. Es wurde eine Lebensform gemeinsamer Arbeit und sexuellen Genusses ohne Besitzansprüche praktiziert. Von Untreue oder gar Verrat kann also nicht die Rede sein. Am 3. November 1924 wird Stefan Weigel geboren. Von ihrem Privatleben mit dem unehelichen Kind Brechts ist wenig 26 Zitiert nach Häntzschel, Hiltrud: Brechts Frauen, S. 103. 27 Brecht, Bertolt/Weigel, Helene: »ich lerne gläser + tassen spülen«. Briefe 1923–1956. Herausgegeben von Erdmut Wizisla. Berlin: Suhrkamp 2012, S. 195. Es ist nicht nachweisbar, dass Weigel den Brief abgeschickt hat.
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bekannt. Wir wissen auch nicht, wer auf eine Legalisierung der Beziehung drängte. 1927 wird die Ehe von Brecht und Marianne Zoff geschieden. Von diesem Zeitpunkt an ist die Beziehung zwischen Weigel und Brecht eine, die auf Gemeinsamkeit gegründet ist. Am 10. April 1929 heiraten Brecht und Weigel, sechs Monate später, am 28. Oktober, kommt Tochter Barbara zur Welt. In einer Anekdote wird berichtet, dass Brecht am Tage der Eheschließung mit einem Blumenstrauß Carola Neher am Bahnhof erwartete. Empört warf sie den Strauß auf die Erde. Auf Brechts Frage, warum sie das täte, antwortete sie: »Immerhin hast Du heute geheiratet«. Der erstaunte Brecht entgegnete: »Na und?«28 Mit einem Regievertrag bei Reinhardt war Brechts Ansehen in der Berliner Theaterwelt gestiegen, aber er blieb der Provokateur. Wo immer er erschien, gab es Ärger, Kontroversen, Auseinandersetzungen. Selten ist es wohl einem Paar gelungen, dass erotische Verhältnis so im Hintergrund zu halten. Helene Weigel war sehr diskret, gab selten Interviews, Briefe von ihr sind rar. Anders als Elisabeth Hauptmann, Margarete Steffin oder auch Ruth Berlau arbeitete sie nicht mit an seinen Texten und mischte sich auch nicht in die Regiearbeit ein. Ihr Beitrag bestand darin, mit ihm die Rollen der Stücke auszuarbeiten. Auch wenn sie im Hintergrund blieb, war sie für Brecht eine große Stütze. Die tolerante, menschliche Solidarität hat Weigel im Zusammenleben mit Brecht auch im Exil durchgehalten. Sie hatten sich beide etwas zu geben: Achtung, Respekt und das Festhalten an der Arbeit für »die dritte Sache«. Die »dritte Sache« war der Sozialismus. Helene Weigel konnte nicht immer seine offene polygame Lebensweise tolerieren. Sie hatte mehrmals die Absicht, sich scheiden zu lassen. So wollte sie Brecht zunächst nicht in das Exil folgen und reiste in die Schweiz. Sie hat von Beginn an gewusst, dass sie Brecht nicht für sich allein haben kann. Zunächst hielt er auch nicht viel von ihr als Schauspielerin.29 Sie hatte den entscheidenden Sprung vom Charakterfach in das Mutterfach nach zehn Jahren Zusammenarbeit mit Brecht vollzogen. Von nun an konzentrierte sie ihre Arbeit mehr und mehr auf die proletarisch-revolutionäre Bühne. Hanns Eisler erinnert sich, dass sie nicht nur in großen Theatern, sondern auch in Arbeiterkneipen auftrat.30 Die Folge waren Verhöre und ständige Überwachung durch die Polizei. Die große Originalität ihrer Darstellungskraft basierte auf der parteilichen, politischen Haltung in Bezug auf die historisch-materialistischen und allgemeinmenschlichen Elemente. Sie avancierte zu einem von Brecht angestrebten neuen Schauspielertypus. Gemeint war die Praxis des Verfremdungseffektes.
28 Müller, Andrè / Semmer, Gerd: Geschichten von Herrn B. Leipzig: Reclam 1975, S. 13. 29 Vgl. Kebir, Sabine: Ich fragte nicht nach meinem Anteil, S. 110. 30 Eisler, Hanns: Gespräche mit Hans Bunge. Fragen Sie mehr über Brecht. Leipzig: Reclam 1975.
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Die junge Margarete Steffin wurde nicht nur seine Geliebte, sondern verdrängte auch Elisabeth Hauptmann als Mitarbeiterin in die zweite Reihe. Hauptmann fiel diese Rolle zunehmend schwer. Brecht gefiel sich als Lehrer der talentierten Steffin. Sie litt an Tuberkulose und Brechts Fürsorge brachte Helene Weigel in Nöte. Da Brecht sie in seine Wohnung aufgenommen hatte, befürchtete sie, dass die Kinder sich anstecken könnten. 1932 beschloss sie, Brecht zu verlassen. Sie zog mit den Kindern nach Zehlendorf und überließ Steffin ihre alte Wohnung. Steffins Zustand verschlechterte sich rasant. Hinzu kam, dass sie von Brecht ein Kind erwartete. Eine Operation war nicht aufzuschieben und dadurch verlor sie das Kind. Die Nacht als der Reichstag brannte, verbrachten Weigel und Brecht in einem Versteck des Freundes Peter Suhrkamp. Den folgenden Tag flohen sie über Prag nach Dänemark ins Exil. Das offizielle Aufenthaltsrecht der Flüchtlingsfamilie wird in Dänemark mit der rassistischen Verfolgung Weigels begründet. Sie war aber bereits früher mit dem Sohn Stefan aus der jüdischen Gemeinde ausgetreten. Das judenfeindliche Klima ist auch in Dänemark spürbar. 1933 zieht die Familie für fünfeinhalb Jahre in das Haus mit Strohdach in Svendborg. Die Situation in Svendborg mit Margarete Steffin und Ruth Berlau war auch für die tolerante Weigel immer weniger akzeptabel. Sie machte einen Fluchtversuch, musste aber einsehen, dass sie keine Chance hatte zu überleben und kehrte nach Dänemark zurück. Im April 1940 marschierte die deutsche Armee in Dänemark ein. Die gesamte »Großfamilie« um Brecht floh unter dem Schutz von Hella Wuolijoki nach Finnland. Während Brecht und seine Mitarbeiterinnen an Der gute Mensch von Sezuan arbeiteten, bemühte sich die Weigel um die Einreisevisa für die USA. Mitte Mai 1941 konnte die Gruppe endlich Finnland in Richtung Moskau verlassen. Margarete Steffin musste in Moskau wegen erneuter schwerer Erkrankung zurückgelassen werden. Sie starb am 9. Juni 1941 in der Klinik in Moskau. Santa Monika wird für die Brechts bis 1947 eine Ersatzheimat. Um Helene Weigel war es einsam geworden. Ihr Sohn Stefan wurde 1944 Soldat in der USArmee, sein Halbbruder Frank ist im selben Krieg 1943 ums Leben gekommen. Das FBI hatte die Brechts seit 1943 im Visier. Nur mit gut gespielter Naivität konnte sich Brecht aus der Schlinge ziehen, als er 1947 zum Verhör vor den Kongressausschuss für Unamerikanische Umtriebe geladen wurde. Einen Tag später flog er nach Paris und reiste mit dem Zug weiter nach Zürich. Helene Weigel und Barbara trafen am 19. November ebenfalls in Zürich ein. Der Sohn Stefan war inzwischen US-Bürger und blieb in den Staaten. Weigel ist inzwischen achtundvierzig Jahre und in Sorge wegen einer zweiten Karriere. Umsonst, wie sich bald herausstellen sollte. Mit der Figur der Mutter tritt sie ihren Siegeszug an. 405-mal spielte sie die Mutter Anna Fierl Zuing in Mutter Courage und ihre Kinder, 248-mal die Wlassowa in Gorki/Brechts Die
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Mutter, 175-mal die Gouverneursfrau Natalja Abaschwili im Kaukasischen Kreidekreis, 156-mal die jüdische Frau Keith und eine weitere Rolle in Furcht und Elend des Dritten Reiches. 1949 finden die ersten Gründungsgespräche für das Theater Berliner Ensemble (BE) statt. Brecht überträgt Helene Weigel die Leitung. Damit ist die lang ersehnte Anerkennung für sie in vollem Gange. Weigel, die »Allerweltskümmerin« (Brecht) versorgt alle mit Essen, Wohnungen, Möbel, auch wieder die neuen Frauen Brechts. Die jungen Schauspielerinnen, Dramaturginnen verdrängen die früheren Geliebten aus der Arbeitswelt um Brecht. Hinter den Kulissen des BE hat die Partei das Theater im Visier. Das SEDPolitbüro fordert im Zusammenhang mit der Formalismusdebatte Änderungen an der Inszenierung der Mutter. Weigel hat sich aber nicht in ihre Rollenauffassung reinreden lassen. Das Verbot der Oper Das Verhör des Lucullus hat sie aber auch nicht verhindern können. Sie war der DDR gegenüber nicht so kritisch wie Brecht. Das zeigte sich im Zusammenhang mit dem 17. Juni 1953, dem Arbeiteraufstand in Berlin. Zu dieser Zeit war sie nicht in Berlin. Sie nahm an der Weltfriedenskonferenz in Budapest teil. Sie hat sich oft über die Maßnahmen der Parteibürokratie in der DDR geärgert, vor allem über die Einmischung der Politik in ihre Theaterarbeit. Dennoch nahm sie die vielen staatlichen Auszeichnungen mit Freude an.31 Die privaten Beziehungen zu Brecht wurden durch Brechts ungestillten Frauenbedarf geprägt. Sie war die Hauptfrau, Elisabeth Hauptmann und Ruth Berlau, die früheren Liebespartnerinnen, lebten und arbeiteten freiwillig an seinem Werk. Er wechselte häufig die Freundinnen. Nun waren es junge Schauspielerinnen und Assistentinnen: Isot Kilian, Käthe Reichel, Käthe Rülicke u. a. Im Mai 1953 verließ Weigel das gemeinsame Haus in Weißensee, er war zu weit gegangen und aus der Ehe war nun endgültig eine Arbeitsgemeinschaft geworden. Was blieb an Gemeinsamkeiten? Einige Sommerwochen in Buckow am Schermützelsee und 1954 der Umzug ins Schiffbauerdammtheater. Die Premiere des Kaukasischen Kreidekreises am 7. Oktober 1954 war Brechts letzte Inszenierung. 1955/56 erkrankte Brecht an einer Herzklappenentzündung, von der er sich nicht mehr erholte. In seinem Testament verfügte er, dass Helene Weigel Alleinerbin ist und die Verfügungsgewalt in der Durchführung seiner Wünsche erhielt. »Sie soll das BE weiterführen und zwar so lange sie glaubt, den Stil halten zu können.«32 Als Fritz Cremer die Totenmasken von Brecht nahm, soll Helene Weigel befreit gesagt haben: »Jetzt ist es mein Brecht.«33
31 Vgl. Häntzschel, Hiltrud: Brechts Frauen, S. 139. 32 Zitiert nach Häntzschel, Hiltrud: Brechts Frauen, S. 141. 33 Ebd. S. 142.
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Die Erfüllung von Brechts Vermächtnis wird zur Lebensaufgabe von Helene Weigel. Sie richtete in Brechts Wohnung ein Archiv ein und überwachte streng gemeinsam mit Elisabeth Hauptmann die Editionen Brechts, indem sie das alleinige Verlagsrecht an Suhrkamp in Frankfurt am Main übertrug. Werner Hecht gibt Auskunft über ihre letzte Aufführung der Mutter, sie war bereits todkrank, gezeichnet vom Lungenkrebs.34 Am 6. Mai 1971 starb sie und wurde an ihrem 71. Geburtstag in Anwesenheit einer überwältigen Menge auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof nicht zu Brechts Füßen (wie sie gewünscht hatte), sondern an seiner Seite beigesetzt. Der Anteil von Brechts Frauen und Geliebten an seinem Werk in allen Stadien seines Schaffens kann wohl nicht hoch genug veranschlagt werden.
Literatur Banholzer, Paula: So viel wie eine Liebe. Der unbekannte Brecht. Erinnerungen und Gespräche. Herausgegeben von Axel Poldner und Willibald Eser. München: Universitätsverlag 1981. Berlau, Ruth: Brechts Lai-tu. Erinnerungen und Notate. Herausgegeben und mit einem Vorwort von Hans Bunge. Darmstadt: Luchterhand 1985. Brecht, Bertolt: Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Herausgegeben von Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei, Klaus-Detlef Müller. Berlin, Weimar, Frankfurt/Main: Aufbau, Suhrkamp 1988–2000. Brecht, Bertolt: Briefe an Marianne Zoff und Hanne Hiob. Herausgegeben von Hanne Hiob. Frankfurt/Main: Rowohlt 1990. Brecht, Walter: Unser Leben in Augsburg, damals. Frankfurt/Main: Insel 1985. Bronnen, Arnolt: Tage mit Bertolt Brecht. Die Geschichte einer unvollendeten Freundschaft. München: Desch 1960. Feuchtwanger, Lion: Briefwechsel mit Freunden 1933–1958. Herausgegeben von Harold von Hofè, Sigrid Washburn. 2 Bde. Berlin: Aufbau 1991. Frisch, Max: Gesammelte Werke in zeitlicher Folge. Herausgegeben von Hans Mayer, Walter Schmitz. 12 Bde. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1976. Fuegi, John: The Life and Lies of Bertolt Brecht. London: Harper Collins 1994. Häntzschel, Hiltrud: Brechts Frauen. Reinbek: Rowohlt 2002. Hauptmann, Elisabeth: Julia ohne Romeo, Geschichten, Stücke, Aufsätze, Erinnerungen. Herausgegeben von Rosemarie Eggert und Rosemarie Hill. Berlin und Weimar: Aufbau 1977. Hecht, Werner: Helene Weigel. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2000. Kebir, Sabine: Ein akzeptabler Mann? Brecht und die Frauen. Berlin: Aufbau Taschenbuchverlag 1998.
34 Hecht, Werner: Helene Weigel. Eine große Frau des 20. Jahrhunderts. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 2000, S. 131.
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Kebir, Sabine: »Ich fragte nicht nach meinem Anteil«: Elisabeth Hauptmanns Arbeit mit Brecht. Berlin: Aufbau 2006. Kebir, Sabine: Helene Weigel: Abstieg in den Ruhm. Berlin: Aufbau 2002. Mittenzwei, Werner: Das Leben des Bertolt Brecht. 2 Bde. Berlin, Weimar: Aufbau 1988. Steffin, Margarete: Briefe an berühmte Männer. Herausgegeben von Stefan Hauk. Hamburg: Europäische Verlagsanstalt 1999. Steffin, Margarete: Konfutse versteht nichts von Frauen. Nachgelassene Texte. Herausgegeben von Inge Gellert. Mit einem Nachwort von Simone Barck und einem dokumentarischen Anhang. Berlin: Aufbau 1991.
Bertolt Brecht in »fremden« Kontexten. Literarische, theatrale und filmische Rezeption
Markus Wessendorf (Honolulu)
Die Auseinandersetzung mit Brecht im afroamerikanischen Kontext – am Beispiel von Nina Simones Pirate Jenny und Branden Jacobs-Jenkins’ An Octoroon
Einleitung Die öffentliche Hinrichtung des Afroamerikaners George Floyd durch den weißen Polizisten Derek Chauvin am 25. Mai 2020 in Minneapolis war nur einer von vielen Vorfällen in den vergangenen Jahren, in denen unbewaffnete Schwarze in den Vereinigten Staaten durch weiße Polizeibeamte, häufig vor Zeugen und auf Video dokumentiert, getötet wurden. Anders als die vielen voraufgegangenen Fälle, in denen Schwarze zu Opfern weißer Polizeigewalt geworden waren (Tamir Rice, Michael Brown, Eric Garner u.v.a.), führte die Ermordung von Floyd zu anhaltenden »Black Lives Matter« Massenprotesten und -demonstrationen nicht nur in Minneapolis und anderen amerikanischen Städten, sondern auch im Ausland. In den Vereinigten Staaten hatte dieser Polizeimord zudem Auswirkungen auf den von Weißen dominierten Theaterbetrieb, und zwar sowohl im professionellen als auch akademischen Bereich. Eine von nicht-weißen Theatermacher:innen ins Leben gerufene Bewegung mit dem Titel »We See You, White American Theater« veröffentlichte bereits Anfang Juni 2020 eine von dreihundert sich als BIPOC (»Black, Indigenous, and People of Color«) identifizierenden Dramatiker:innen, Regisseur:innen, Schauspieler:innen, Dramaturg:innen, Produzent:innen und Theatermanager:innen unterzeichnete Erklärung, in der mit der Vormachtstellung von Weißen auf allen Ebenen des amerikanischen Theaters abgerechnet und eine ernsthafte und über Lippenbekenntnisse hinausgehende antirassistische Haltung der weißen Kolleg:innen eingefordert wurde. We have watched you […] asking us to do your emotional labor by writing your Equity, Diversity, and Inclusion statements. […] We have watched you discredit the contributions of BIPOC theatres, only to co-opt and annex our work, our scholars, our talent, and our funding. […] We have watched you hustle for local, federal, foundation and private funding on our backs, only to redirect the funds into general opening
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Markus Wessendorf
accounts to cover your deficits from years of fiscal mismanagement. […] We have always seen you. And now you will see us.1
»We See You, White American Theater« veröffentlichte zudem einen 31-seitigen Forderungskatalog, der einen neuen, antirassistischen Gesellschaftsvertrag für die Arbeitswelt des amerikanischen Theaters begründen sollte, und zwar im Hinblick auf kulturelle Kompetenz, Arbeitsbedingungen und Einstellungsverfahren, künstlerische und kuratorische Praktiken, Transparenz im Hinblick auf Entlohnung, die Rechenschaftspflicht von Gremien, usw.2 Viele amerikanische Theaterorganisationen im professionellen sowie akademischen Bereich veröffentlichten nach der Ermordung Floyds antirassistische Erklärungen und bemühten sich, die Forderungen von »We See You, White American Theater« umzusetzen. Theaterprofessor:innen tauschten Informationen darüber aus, welche Stücke weißer Dramatiker:innen sich am besten durch vergleichbare Stücke von BIPOC-Dramatiker:innen ersetzen ließen. Bei Theaterfestivals und -konferenzen, aber auch von individuellen Fachbereichen selbst, wurden Schulungsworkshops in Antirassismus angeboten. Im Hinblick auf die politische Forderung nach einer antirassistischen Erneuerung des amerikanischen Theaters stellt sich die Frage, wie sich Bertolt Brechts Stücke und Theatertheorien in diesem Zusammenhang verorten und nutzbar machen lassen, und welche Stellung ihnen insbesondere im afroamerikanischen Theater (und nicht erst seit der Ermordung George Floyds) zukommt. Dabei geht es weniger darum, den Einfluss und die Relevanz eines weißen kanonisierten Dramatikers und Theoretikers für nicht-weiße Theaterkünstler: innen bestätigt zu sehen als darum, zu untersuchen, inwieweit dessen Vorschläge und Ansätze von diesen reflektiert, kritisiert, umgesetzt und weiterentwickelt worden sind. Tatsächlich ist Brecht im Schwarzen3 amerikanischen Gegenwartstheater präsenter als man vielleicht annehmen würde, von der Inszenierung von Mutter Courage und ihre Kinder am Classical Theater of Harlem (2004) zu Lynn Nottages zunächst als Adaption desselben Stückes intendierten aber dann eigenständig entwickelten Ruined (Pulitzerpreis 2009), von Anna Deavere Smiths Rekonstruktion des sozialen Gestus ihrer Interviewpartner in ihrem Doku1 We See You WAT: Dear White American Theater. Vom Juni 2020. URL: https://www.weseeyo uwat.com/statement / letzter Zugriff am 12. 12. 2021. 2 Siehe We See You WAT: BIPOC Demands for White American Theater. Vom Juni 2020. URL: https://www.weseeyouwat.com/demands / letzter Zugriff am 12. 12. 2021. 3 Dieser Essay übernimmt die Praxis »von Menschen afrikanischer und afrodiasporischer Herkunft, schwarzen Menschen, Menschen dunkler Hautfarbe und people of colo(u)r,« den Begriff »Schwarz« zur Selbstbezeichnung mit einem großen »S« zu schreiben, um so eine »sozio-politische Positionierung in einer mehrheitlich weiß dominierten Gesellschaftsordnung zu markieren.« URL: https://diversity-arts-culture.berlin/woerterbuch/schwarz / letzter Zugriff am 12. 12. 2021.
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mentartheater (z. B. Fires in the Mirror, 1992) bis zur häufig als Brechtisch charakterisierten Dramaturgie der Stücke Suzan-Lori Parks’ (z. B. Venus, 19964; Fucking A, 20005), von den Stücken We Are Proud to Present a Presentation About the Herero of Namibia, Formerly Known as Southwest Africa, From the German Sudwestafrika, Between the Years 1884–1915 (2012) und Fairview (2018) der Dramatikerin Jackie Sibblies Drury, die der Schwarze Theaterkritiker Hilton Als als »ein wahres Kind Brechts«6 bezeichnet hat, bis zu Jeremy O. Harris’ Ankündigung im November 2020, dass er an einer Adaption von Furcht und Elend des Dritten Reiches mit dem Titel Fear and Misery of the Master Race (of the Brecht) arbeite.7 Die Studie des gegenwärtigen afroamerikanischen Theaters im Hinblick auf die Auseinandersetzung mit Brecht würde vom Umfang her eine Monografie erfordern, weshalb sich dieser Essay auf die Analyse eines Stücks beschränken wird, nämlich Branden Jacobs-Jenkins’ An Octoroon von 2014, in dem eine Szenenanweisung lautet: »But I guess I worry about the whole thing becoming too Brechtian.«8 Vorher soll jedoch Brechts Verhältnis zum anti-Schwarzen Rassismus erläutert sowie ein früheres Beispiel für den afroamerikanischen Umgang mit Brechts Werk diskutiert werden.
4 Matek, Ljubika: Epic Theatre and the Culture of Spectacle – Aesthetic Configuration of Body and Race in Suzan-Lori Parks’ Venus. In: Gjerden, Jorunn S. / Jegerstedt, Kari / Sˇvrljuga, Zˇeljka (Hg.): Exploring the Black Venus Figure in Aesthetic Practices. Leiden und Boston: Brill Rodopi 2019, S. 129–148. 5 Schafer, Carol: Staging a New Literary History: Suzan-Lori Parks’ Venus, In the Blood, and Fucking A. In: »Comparative Drama« Nr. 42. 2, 2008, S. 181–203. 6 »A true child of Brecht, she is militant about pleasure.« In: Als, Hilton: With »Fairview«, Jackie Sibblies Drury Breaks the Fourth Wall. In: »The New Yorker« vom 25. Juni 2018. URL: https:// www.newyorker.com/magazine/2018/07/02/with-fairview-jackie-sibblies-drury-breaks-the-fo urth-wall / letzter Zugriff am 12. 12. 2021. 7 Cox, Gordon: Jeremy O. Harris Talks Tony Awards, New Plays and the Movie He Might Direct. In: »Variety« vom 13. November 2020. URL: https://variety.com/2020/film/news/jeremy-o-har ris-slave-play-movie-1234831349 / letzter Zugriff am 12. 12. 2021. Der von Brecht vorgesehene englische Titel für Furcht und Elend des Dritten Reiches war Scenes from the Master Race. Harris führt in dem Interview aus, dass die 23 Szenen seiner Adaption in weißen amerikanischen Familien spielen, und zwar vom Juni 2015 – d. h. dem Monat, in dem Donald Trump seine Kandidatur erklärte – bis zur Präsidentschaftswahl im November 2016. 8 Jacobs-Jenkins, Branden: An Octoroon. In: Jacobs-Jenkins, Branden: Appropriate / An Octoroon: Plays. New York: Theatre Communications Group 2019, S. 193.
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»Schon als Sozialist habe ich überhaupt keinen Sinn für das Rassenproblem selber…« Obwohl sich Brecht, vor allem während seines Exils in Los Angeles von 1941 bis 1948, sehr für amerikanische Folk- und Blues-Music interessierte9 und z. B. einen Song des Musikers Lead Belly übersetzte,10 hat er sich insgesamt eher wenig für die gesellschaftliche Situation der Schwarzen in den Vereinigten Staaten interessiert. Einer der Gründe dafür war seine traditionell marxistische Unterordnung des Rassismus unter die Klassenfrage im Kapitalismus. Brecht entwickelt seine Überlegungen zum Rassismus überwiegend im Hinblick auf den Antisemitismus der Nazis, und dabei fließen dann auch Kommentare zur Situation der Afroamerikaner ein. Brecht schreibt 1934 in einem Brief, in dem es um sein Stück Die Rundköpfe und die Spitzköpfe oder Reich und reich gesellt sich gern: Ein Greuelmärchen geht: »Schon als Sozialist habe ich überhaupt keinen Sinn für das Rassenproblem selber […].« (GBA 28, 414) Brecht zufolge stammt Rassismus nicht aus dem Volk und ist weder in der jeweiligen Gesellschaft noch Kultur verwurzelt, sondern ist von reaktionären Regierungen – in jeweils unterschiedlichen nationalen Zusammenhängen auf unterschiedliche Weise – von oben oktroyiert, und zwar als Instrumentalisierung sichtbarer physischer Unterschiede zwischen ethnischen Gruppen zu politischen Zwecken. So führt er 1937 in einem Brief, in dem es ebenfalls um Die Rundköpfe und die Spitzköpfe geht, aus: »Der Rassismus wird […] nicht nur vom deutschen Faschismus (der übrigens darin anders ist als der italienische) zum Zweck, das Volk zu betrügen, installiert, sondern auch seit jeher von andern reaktionären Regierungen (seinerzeit in Polen, Armenien, in Amerika usw.).«(GBA 29, 19) Die Vorstellung, dass rassistische Einordnungen oder Unterteilungen bestimmter Bevölkerungsgruppen willkürlich sind und beliebig von der herrschenden Klasse verfügt werden können, um so von der Klassenfrage im Kapitalismus abzulenken, zieht sich durch dieses sowie andere Dramen Brechts. In der Szene »Die jüdische Frau« in Furcht und Elend des III. Reiches probt Judith Keith in einem Monolog das bevorstehende Gespräch mit ihrem nicht-
9 Siehe z. B. Brechts Journaleintrag vom 4. August 1942: »Steff führt mir einen alten St. Louis Blues vor, auf der [sic] ein Klarinettensolo vorkommt.« In: Brecht, Bertolt: Werke: Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Herausgegeben von Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei, Klaus-Detlef Müller. 30 Bände und Register. Berlin, Frankfurt am Main: Aufbau, Suhrkamp 1988–2000, Bd. 27, S. 118. – Im laufenden Text: (GBA Band, Seitenzahl). 10 Siehe hierzu Neureuter, Hans Peter: The Grey Goose – Die haltbare Graugans: Eine Übersetzung Bertolt Brechts. In: »Dreigroschenheft,« 28. Jahrgang, Heft 2/2020, S. 5–10.
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jüdischen Ehemann, dessen Stelle als Oberarzt aufgrund ihrer jüdischen Herkunft gefährdet ist. Dabei kommentiert sie die Rassenpolitik der Nazis wie folgt: In der letzten Zeit habe ich oft daran gedacht, wie du mir vor Jahren sagtest, es gäbe wertvolle Menschen und weniger wertvolle, und die einen bekämen Insulin, wenn sie Zucker haben, und die andern bekämen keins. Und das habe ich eingesehen, ich Dummkopf! Jetzt haben sie eine neue Einteilung dieser Art gemacht und jetzt gehöre ich zu den Wertloseren. (GBA 4, 388)
Frau Keith impliziert hier, dass die von ihrem Mann befürworteten Klassenunterschiede (zwischen denen, die sich Medikamente leisten, und denen, die sie sich nicht leisten können) dem Antisemitismus als einer willkürlichen »neue[n] Einteilung« gewichen seien, als würde diesem keinerlei geschichtliche oder kulturelle Prädisposition innerhalb der Gesellschaft selbst entsprechen. Der Direktor des Theaters im Vorspiel zu Die Rundköpfe und die Spitzköpfe spricht davon, dass der Verfasser des Stücks auf seinen Reisen von einem »Schädelverteiler« gehört habe, Der hat allerhand Nasen in seiner Tasche und verschiedenfarbige Haut Damit trennt er den Freund vom Freund und den Bräutigam von der Braut. Denn er schreit aus auf dem Land und in der Stadt: Es kommt an auf den Schädel, den ein Mensch hat. Darum, wo der große Schädelverteiler war Schaut man dem Menschen auf Haut, Nase und Haar Und jeder wird geschlagen krumm und lahm Der den falschen Schädel von ihm bekam. (GBA 4, 149–150)
Dem Direktor des Theaters zufolge entgegnet der Stückeschreiber auf die Frage, »ob ihn der Unterschied der Schädel nicht auch stör[e]«: »ich seh einen Unterschied. […] Es ist der Unterschied zwischen arm und reich. […] Es kommt nur auf diesen Unterschied an.« (GBA 4, 150) Brecht reduziert die »allerhand Nasen […] und verschiedenfarbige Haut« auf beliebig austauschbare Theaterrequisiten und behandelt sie zugleich als unabhängig von der Klassenfrage, als sei die Beziehung zwischen äußerlichen körperlichen Merkmalen und wirtschaftlichem (aber auch sozialem, kulturellem und politischem) Kapital arbiträr, als ließe sich dieses Verhältnis als losgelöst von Geschichte, Religion, Kultur, Imperialismus, Kolonialismus und Sklaverei denken, und als seien die Träger:innen dieser Merkmale nicht auf zutiefst psychologischer und phänomenologischer Ebene von diesem Verhältnis geprägt. So werden im Vorspiel zu Die Rundköpfe und die Spitzköpfe gleiche Kräfteverhältnisse zwischen den verschiedenen, miteinander im Kampf befindlichen Ethnien suggeriert: »Er sah den weißen Mann mit dem schwarzen ringen. / Einen kleinen Gelben sah er einen großen Gelben niederzwingen. / Ein Finne schmiß nach
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einem Schweden einen Stein / Und ein Mann mit einer Stupsnase schlug auf einen Mann mit einer Hakennase ein.« (GBA 4, 149) Die Vorstellung der Austauschbarkeit von Hautfarben zieht sich auch durch Brechts in China angesiedelte Stücke. Die Verbindung zwischen Hautfarbe und Maske wird explizit zum Beispiel in Die Maßnahme (1930) hergestellt, wenn der Leiter des Hauses der kommunistischen Partei in der chinesischen Stadt Mukden den aus Berlin, Kasan und Moskau stammenden Agitator:innen – »vier Männer und eine Frau« (GBA 3, 77) – einschärft, dass sie bei ihren Propaganda-Aktionen in China nicht gesehen werden dürfen: DER LEITER DES PARTEIHAUSES gibt ihnen Masken, sie setzen sie auf: Dann seid ihr von dieser Stunde nicht mehr Niemand, sondern von dieser Stunde an und wahrscheinlich bis zu eurem Verschwinden unbekannte Arbeiter, Kämpfer, Chinesen, geboren von chinesischen Müttern, gelber Haut, sprechend in Schlaf und Fieber chinesisch. (GBA 3, 78)
Auch wenn diese Szene nicht bühnenrealistisch angelegt ist, die Spieler:innen in diesem Stück ständig die Rollen wechseln (die zuvor einen Agitator oder eine Agitatorin spielende Person übernimmt in dieser Szene auch die Rolle des Leiters des Parteihauses) und die Distanz zwischen den Akteur:innen und den von ihnen vorgeführten bzw. angedeuteten Figuren stets sichtbar bleibt, so ist die behauptete Analogie zwischen der Übernahme einer anderen ethnischen Identität und dem Aufsetzen einer Maske hier dennoch problematisch, weil suggeriert wird, dass das erstere so leicht zu bewerkstelligen sei wie das letztere. (Die Unglaubwürdigkeit der Analogie wird klar, wenn man sich eine Umkehrung dieser Situation vorstellt, in der die Agitator:innen aus China, Japan oder Korea kommen und durch das Aufsetzen einer Maske als Deutsche durchgehen, »geboren von deutschen Müttern, weißer Haut, sprechend in Schlaf und Fieber deutsch.«) In der Vorbemerkung zu Der gute Mensch von Sezuan wird die »Provinz Sezuan« als chinesische Szenerie des Stücks dadurch gerechtfertigt, dass sie als »Parabel […] für alle Orte stand, an denen Menschen von Menschen ausgebeutet werden […].« (GBA 6, 176) Der Kunstgriff der Verfremdung der eigenen Kultur entweder durch ihre Transposition in die exotische Ferne (Gotthold Ephraim Lessings Nathan der Weise, Denis Diderots Nachtrag zu Bougainvilles Reise) oder ihre Darstellung aus der Sicht exotischer Fremder (Voltaires Naturkind, Montesquieus Persische Briefe) war vor Brecht vor allem in der europäischen Literatur der Aufklärung etabliert, basiert aber auf der Annahme, dass die fremde Referenzkultur noch kein integraler Bestandteil der eigenen ist. Den Guten Menschen an einem multikulturellen Ort mit einem signifikanten Bevölkerungsanteil chinesischer Herkunft (z. B. in einer heutigen amerikanischen Metropole) zu inszenieren unterläuft den intendierten Parabelcharakter des Stücks. Die Behauptung, das Stück spiele ja »nicht wirklich« in China, wirkt in einem solchen
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Zusammenhang nicht verfremdend, sondern befremdlich, denn warum sollte in einer solchen Inszenierung der Ort der Handlung nicht direkt auf die entsprechende geografische Region Chinas verweisen? Die Verfremdung der eigenen Kultur durch Verlegung in eine andere macht nur dann Sinn, wenn die fremde, als Kontrastfolie dienende Gruppe in die eigene Gesellschaft noch nicht integriert ist. Sonst könnten die Figuren aus Sezuan, Mukden, usw., auch wenn sie nicht in chinesischen Kostümen und Masken auftreten, von den Zuschauer:innen eher als Falschdarstellung der entsprechenden Ethnie interpretiert werden denn als parabelhafte Figuren, die die Auswüchse des Kapitalismus in der eigenen Gesellschaft durch einen verfremdeten Kontext deutlich machen sollen. In seinen Anmerkungen zu Furcht und Elend verweigert Brecht die Interpretation der »bürgerlichen Welt,« der zufolge es sich bei der Judenverfolgung der Nazis um eine dem Kapitalismus äußerliche, »für die Eroberung von Märkten und Rohstofflagern nicht nötig[e]« und deshalb »›überflüssige‹ Ausschreitung« (GBA 22.1, 474) handele und suggeriert, dass sich »die Barbarei in Deutschland« durchaus »als die Folge von Klassenkämpfen« (GBA 22.1, 474) erklären lasse, nämlich als Umsetzung der »Parole des Faschismus, daß die Klassenkämpfe in Rassenkämpfe verwandelt werden müssen« (GBA 22.1, 474) – um eben nicht länger als Klassenkämpfe zu erscheinen. Auch in dieser Argumentation fungieren die Rassenkämpfe nur als Maske bzw. Verkleidung der Klassenkämpfe, ohne dass ihnen eine eigenständige Realität zuerkannt wird. Was diese Gleichsetzung allerdings ausblendet, ist die irrationale und phantasmatische Dimension des Rassismus, die keineswegs ausschließlich durch Klassenkämpfe motiviert ist bzw. sich nicht auf diese reduzieren lässt. Es gibt Rassismus als gesellschaftliches Phänomen (und verschiedene, miteinander im Widerstreit liegende Theorien dieses Phänomens), aber dem Begriff »Rasse,« auf den er sich bezieht, entspricht keinerlei Realität. Es handelt sich um eine Kategorie, die überkommenen bzw. unlauter operierenden Denksystemen entstammt. Sie ist zudem eine imaginäre Größe, eine phobische Konstruktion und – wie alle Konstruktionen – daher mit einer Realität »aus zweiter Hand« ausgestattet. »Rasse« ist das Produkt von Rassismus, nicht umgekehrt. […] Rassismus ist eine spezifische Form der Diskriminierung, die die Gesellschaft, in der sie zum Tragen kommt, entscheidend prägt und daher nicht übersehen werden darf.11
Die Begriffe »Rasse« und Klasse sind miteinander verwoben, aber der erste Begriff geht nicht im zweiten auf bzw. kann nicht vollständig durch ihn erklärt werden. Reaktionäre Regime reaktivieren ein rassistisches Potenzial, das bereits in ihren jeweiligen Gesellschaften angelegt ist, aber sie erfinden ihn nicht.
11 Kimmich, Dorothee: Einleitung. In: Kimmich, Dorothee / Lavorano, Stephanie / Bergmann, Franziska (Hg.): Was ist Rassismus? Kritische Texte. Stuttgart: Reclam 2016, S. 9–10.
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Während Brecht die Forderung, Klassenkämpfe in Rassenkämpfe zu verwandeln, als faschistische Parole begreift, ist es aus Sicht des Schwarzen Philosophen Charles W. Mills ein Versagen weißer Marxist:innen, den Schritt von der Klasse zur »Rasse« nicht vollzogen zu haben. So verlangt Mills, der Sohn jamaikanischer Eltern, in From Class to Race: Essays in White Marxism and Black Radicalism (2003) die Entwicklung eines modifizierten Marxismus, der sich intensiver mit dem Begriff der »Rasse« auseinandersetzt.12 Die Herausforderung für die traditionelle weiße Linke bestehe darin, die Ausrichtung auf »Rasse« nicht länger als »falsches Bewusstsein« zu verstehen, das die Kapitalist:innen lediglich benutzten, um die Arbeiterklasse zu spalten, und das nur entmystifiziert werden müsse, damit man sich wieder auf das Wesentliche, nämlich den Klassenkampf, konzentrieren könne. Stattdessen sei die phänomenologische Dimension einer durch »Rasse« definierten Existenz und Identität sowie das Ausmaß, in dem sie das Leben Einzelner strukturiere und bis in die tiefsten Schichten des Seins durchdringe, zu begreifen.13 Obwohl Mills einräumt, dass »Rasse« ein Konstrukt sei, sei dieses nicht willkürlich und nicht ausschließlich diskursiv zu denken – »it is motivated, materially enabled, and objectively rationally intelligible, contra postmodernism, precisely by the facts of a particular ›metanarrative‹, the expansion of colonial capitalism, or (as otherwise described) the European conquest of the world.«14 Und man müsse gerade aufgrund des europäischen Kolonialismus in der sogenannten »neuen Welt« von vorneherein von einem »white-supremacist capitalism, the capitalism of white-ruled colonies and white settler states«15 sprechen, in dem Schwarze Sklav:innen oder Zwangsarbeiter:innen nicht als gleichgestellte Rechtsinhaber:innen gegolten hätten16 und im Gegensatz zu den implizit weißen Arbeiter:innen, deren freier Lohnarbeit ein Mehrwert extrahiert worden sei, nicht einmal die Möglichkeit gehabt hätten, ihre Arbeitskraft zu verkaufen.17 Für die U.S.-amerikanische Gesellschaft insbesondere gelte, dass in der »Rasse,« nicht der Klasse, ihr Primärwiderspruch liege.18 Mills argumentiert, dass in der amerikanischen Geschichte stets »Rasse« das zentrale Kriterium für Identitätsstiftung gewesen sei: Es habe zwar geschlechts- und klassenübergreifende Zusammenschlüsse der gleichen »Rassen« gegeben, es sei aber umgekehrt nie zu rassenübergreifenden Zusammenschlüssen der gleichen Geschlechter und
12 Siehe Mills, Charles W.: From Class to Race: Essays in White Marxism and Black Radicalism. Oxford, UK: Rowman & Littlefield 2003, S. 122. 13 Siehe ebd., S. 128. 14 Ebd. 15 Ebd., S. 129. 16 Siehe ebd., S. 130. 17 Siehe ebd., S. 154. 18 Siehe ebd., S. 156f.
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Klassen in der amerikanischen Gesellschaft gekommen.19 Da Weißsein die Arbeitsteilung und Verteilung von Ressourcen unterstütze und garantiere, sei es Teil der Produktionsverhältnisse und gehöre deshalb zur materiellen Basis im klassischen marxistischen Sinn: Weißsein ist Eigentum.20 In dem bereits erwähnten Brief von 1937 zu Die Rundköpfe und die Spitzköpfe insistiert Brecht darauf, dass die bloße Feststellung anatomischer Unterschiede der verschiedenen »Rassen« nicht bereits faschistisch sei und behauptet, dass sich die Diskriminierung von Afroamerikaner:innen nicht dadurch aufheben lasse, indem man ihre Hautfarbe leugne. »Es nützt den unterdrückten Negern21 in den USA wenig, wenn man ihre Gleichberechtigung mit dem Argument verlangt, sie seien weiß.« (GBA 29, 19) Brecht konstatiert zwar die Unterdrückung von Afroamerikaner:innen in der amerikanischen Gesellschaft, aber seine gleichwertige Anerkennung der auch körperlichen Unterschiede diverser Ethnien ignoriert dennoch, dass Weiße in (post-) kolonialen und (neo-) imperialistischen Kontexten bereits aufgrund ihrer Hautfarbe wirtschaftlich bevorteilt sind. Weil er den Zusammenhang zwischen »Rasse« und ihrem je sozio-ökonomischen Wert entkoppelt und enthistorisiert, kann Brecht den stets je bereits inhärenten, historisch akkumulierten Mehrwert des Weißseins nicht in Rechnung stellen. Zugleich verstrickt sich Brecht im Hinblick auf diese gleichwertige Anerkennung in Widersprüche. So kommentiert er in dem Brief von 1934: »Das Publikum wird keineswegs sagen: Die Spitzköpfe sind gut oder sie sind schlecht, es geschieht ihnen recht oder es geschieht ihnen unrecht, sondern: es gibt gar keine wirklichen Unterschiede.« (GBA 28, 414) Gleichzeitig aber behauptet er, dass in diesem Stück »[a]lles spezifisch Jüdische […] sowieso vermieden« (GBA 28, 414) worden sei, womit er zugibt, dass es spezifisch jüdische Unterscheidungsmerkmale gibt, die eben nicht beliebig durch andere Merkmale ersetzbar sind. Zum einen behauptet Brecht die Gleichheit aller ethnischen Gruppen ungeachtet ihrer jeweiligen körperlichen Erscheinungsmerkmale, zum anderen insistiert er (in einem Journaleintrag nach einem Gespräch mit jüdischen Linken in Los Angeles) auf der Ungleichheit von Sprachen und Kulturen im Hinblick auf ihre jeweiligen Entwicklungsstufen. Vergebens suche ich einzuwenden, daß Hebräisch und sogar Jiddisch nicht so voll entwickelte moderne Sprachen sind wie Englisch, Russisch, Französisch, Deutsch, Spanisch und gewisse asiatische Sprachen. Daß Schönberg, Einstein, Freud, Eisenstein, Meyerhold, Döblin, Eisler, Weigel nicht jüdische, sondern andere Kulturen verkörpern usw.
19 Siehe ebd., S. 157. 20 Siehe ebd., S. 167. Mills bezieht sich hier auf Cheryl I. Harris’ Aufsatz Whiteness as Property. In: »Harvard Law Review« Bd. 106, Juni 1993, Nr. 8, S. 1709–1791. 21 Dieser Begriff ist nach heutigem Verständnis problematisch, entspricht aber dem seinerzeitigen Sprachgebrauch.
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usw. Zeugnisse »jüdischer« Kultur gibt es meines Wissens nicht im gleichen Format wie etwa der Jazz oder die Negerplastik22 oder die irische Dramatik. (GBA 27, 208)
Am bürgerlichen Theater kritisiert Brecht dessen »geschichtslose Auffassung«, die darin bestehe, dass »der Mensch schlechthin, der Mensch aller Zeiten und jeder Hautfarbe«, nicht durch dessen jeweiliges Milieu beeinflusst sei: »Es ändern sich einige Umstände, es verwandeln sich die Milieus, aber der Mensch ändert sich nicht.« (GBA 22.1, 208) Als Beispiel für diese Auffassung führt Brecht an: »Der Mensch schwarzer Haut liebt wie der weiße Mensch, und erst wenn ihm von der Fabel der gleiche Ausdruck erpreßt ist, wie ihn der weiße liefert (sie können die Formel theoretisch angeblich umkehren), ist die Sphäre der Kunst geschaffen.« (GBA 22.1, 208) Unterschiedliche Umgangsformen der Menschen aus verschiedenen Milieus werden so unter das »sogenannte Ewig-Menschliche« (GBA 22.1, 208) subsumiert und, so lässt sich daraus folgern, die Lebensweisen weißer Menschen als Muster jeglichen menschlichen Verhaltens verallgemeinert. Einerseits kritisiert Brecht (mit seinem Einschub: »sie können die Formel theoretisch angeblich umkehren«) den vereinheitlichenden Universalismus des bürgerlichen Theaters im Hinblick auf dessen implizites »Weißwaschen« nichtweißer Milieus. Andererseits funktionieren seine eigenen Stücke auf dieselbe Weise, da sie nie zeigen, wie Menschen schwarzer (oder gelber, brauner, roter) Haut durch ihre jeweiligen ethnischen Milieus und deren gesellschaftliche Rangstellung beeinflusst sind – unabhängig von Klassenzugehörigkeit und im Kontrast zu weißen Milieus. Das weiße Milieu als ethnischer Hauptbezugspunkt Brechts bestimmt auch seine Diskussion des Jazz in seinen Anmerkungen zum Lehrstück Die Maßnahme, für das Hanns Eisler diesen Musikstil imitierte, um die Grundhaltung des in der fünften Szene auftretenden Händlers widerzuspiegeln. Obwohl Brecht einräumt, dass »eine Ablehnung des Jazz, welche nicht von einer Ablehnung seiner gesellschaftlichen Funktion herkommt, ein Rückschritt« wäre, da man »zwischen dem Jazz als Technikum und der widerlichen Ware, welche die Vergnügungsindustrie aus ihm machte,« unterscheiden müsse, behauptet er, dass die »Brutalität, Dummheit, Souveränität und Selbstverachtung dieses Typus [d. h., des Händlers – M.W.] […] in keiner anderen musikalischen Form ›gestaltet‹ werden« konnte. Hier findet sich kein Hinweis darauf, dass der Jazz als Musikstil von versklavten und nach Nordamerika verschleppten Afrikaner:innen und deren Nachfahren entwickelt wurde und statt aus der »Grundhaltung des Händlers« vielmehr aus deren Gegensatz, nämlich der Erfahrung, Ware im Sklavenhandel zu sein, resultierte; stattdessen die Reduktion des Jazz (außerhalb seiner Verwertung durch die Kulturindustrie) auf ein »Technikum« und die ihn 22 Siehe Fußnote 21. Siehe auch z. B. Einstein, Carl: Negerplastik. Leipzig: Verlag der weißen Bücher 1915.
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re-kolonialisierende Kritik, dass die »bürgerliche Musik […] nicht imstande [war], das Fortschrittliche im Jazz weiterzuentwickeln, nämlich das montagemäßige, das den Musiker zum technischen Spezialisten machte.« (GBA 4, 99) Da Brecht kapitalistische Ausbeutung ausschließlich als Klassenfrage behandelt und Rassismus als ein sekundäres Phänomen, und da er in seinem Werk die systemische wirtschaftliche Bevorteilung des Weißseins über andere »Rassen« als integralen Teil der Produktionsverhältnisse vor allem in kolonialistischen Zusammenhängen ignoriert, sind die in seinem Werk dargestellten Klassen und Milieus letztlich weiß, auch wenn sie durch einen nicht-weißen Kontext verfremdet sind. Brechts häufige Transformation weißer Milieus in nicht-weiße lässt sich, mit Katrin Sieg, als »ethnic drag« beschreiben, d. h. als die Maskierung eigener gesellschaftlicher Kontinuitäten, Vertauschungen und Widersprüche durch die szenische Darstellung einer anderen »Rasse.«23
Nina Simones Pirate Jenny Ein relativ frühes Beispiel für eine afroamerikanische Künstlerin, die in ihrer Brecht-Interpretation den Schwerpunkt von Klasse auf »Rasse« verlagerte, war die klassisch ausgebildete, aber diverse Musikgenres (Jazz, Blues, Gospel, Klassik) verbindende Sängerin, Pianistin, Songschreiberin und Bürgerrechtlerin Nina Simone. Bei einem Konzert in der New Yorker Carnegie Hall 1964 trug sie ihre Version von Brechts und Kurt Weills Seeräuber-Jenny vor. Die dieses Konzert dokumentierende Schallplatte Nina Simone in Concert enthielt auch die Songs Old Jim Crow und Mississippi Goddamn – beides Abrechnungen mit dem gegen Schwarze gerichteten Rassismus in den Vereinigten Staaten. Die Bürgerrechtsbewegung war zu diesem Zeitpunkt in vollem Schwung, und der Jazzkritiker und Plattenproduzent Nat Shapiro interpretierte im Klappentext zu diesem LiveAlbum Simones Interpretation der Seeräuber-Jenny als eine Warnung (nämlich davor, was eintreten würde, wenn Afroamerikaner:innen ihre Bürgerrechte nicht erhalten würden): To this prejudiced observer, Pirate Jenny is the outstanding track in this album. This terrifying aria [sic] from The Threepenny Opera has never been given a more striking or 23 Siehe Sieg, Katrin: Ethnic Drag: Performing Race, Nation, Sexuality in West Germany. Ann Arbor: University of Michigan Press 2002, S. 2. Obwohl sich Sieg in ihrem Buch ausführlich mit Brecht auseinandersetzt, bezieht sie ihren Begriff des »ethnic drag« nicht direkt auf sein Werk. Ihr Hauptaugenmerk gilt Brechts rhetorischer Strategie in »Verfremdungseffekte in der chinesischen Schauspielkunst«, den chinesischen Ursprung der in Mei Lanfangs Vorführung 1935 in Moskau beobachteten Verfremdungseffekte, ihren möglichen Einfluss auf das deutsche Theater und ihre Nützlichkeit für das chinesische Publikum zu leugnen (S. 64), um sich so selbst als Vertreter eines neuen deutschen Theaters in Szene zu setzen (S. 62).
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original performance. The awesome hatred and suppressed violence of Brecht’s and Weill’s beaten-down slavery are given new and terrible meaning as this long, hot decade of struggle for equal rights presses forward. Perhaps it is a masterpiece; certainly it is a warning.24
Die Seeräuber-Jenny ist seit den frühen 1960er Jahren von vielen amerikanischen Künstlerinnen interpretiert worden (Judy Collins, Amanda Palmer, Bea Arthur u. a.). Der Song hatte auch enormen Einfluss auf den jungen Bob Dylan, der ihn erstmals in der von George Tabori zusammengestellten Revue Brecht on Brecht hörte und so begeistert war, dass er ihn akribisch auf Aufbau, Text und Melodie hin analysierte.25 Simones Version ist die erste Fassung des Brecht/Weill-Songs, die ihn aus einer explizit afroamerikanischen Perspektive aneignet und umfunktioniert. Simones Seeräuber-Jenny basiert auf Marc Blitzsteins Übertragung, die der deutschen Originalfassung einige Details hinzufügte und zuerst 1954 von Lotte Lenya gesungen wurde. Ist bei Brecht/Weill von einem »Schiff mit acht Segeln / Und mit fünfzig Kanonen« (GBA 2, 248) die Rede, wird dieses von Blitzstein deutlicher als Piratenschiff charakterisiert, nämlich als schwarzes Frachtschiff mit einem Totenkopf auf dem Masttopp (»And a ship, a black freighter / With a skull on its masthead«26). Die Verbindung der Worte »black« und »freighter« erlaubt es, damit zusammenhängende Assoziationen ins Spiel zu bringen, u. a. die Klangähnlichkeit von »freight« (Fracht) und »fright« (Entsetzen) und die Vorstellung eines Schiffes, das schwarz ist, weil es für den atlantischen Sklavenhandel (die sogenannte »Middle Passage«) von der afrikanischen Westküste in die Vereinigten Staaten verwendet worden ist. In Simones Interpretation des Songs ist der schwarze Frachter ein Schiff, mit dem die Geister der Opfer des Sklavenhandels dessen ehemalige amerikanische Umschlaghäfen heimsuchen, um an den in den Handel verstrickten Bewohner:innen nachträglich Rache für ihre Versklavung zu nehmen. Simone macht diesen Bezug deutlich, indem sie eine Ortsangabe hinzufügt, die weder im Original noch in Blitzsteins Version enthalten ist. Während es bei Brecht/Weill heißt »Und Sie geben mir einen Penny, und ich bedanke mich schnell / Und Sie sehen meine Lumpen und dies lumpige Hotel«, (GBA 2, 248) verlegt Simones Version die Handlung des Songs konkret in die amerikanischen Südstaaten: »Maybe once ya tip me and it makes ya feel swell / In this crummy Southern town / In this crummy old hotel«27 24 Shapiro, Nat: Klappentext zur LP Nina Simone in Concert. Philips, PHS 600–135, 1964. 25 Siehe Zinoman, Jason: When Bobby Met Bertolt, Times Changed. In: »The New York Times« vom 8. Oktober 2006. URL: https://www.nytimes.com/2006/10/08/theater/08zino.html / letzter Zugriff am 12. 12. 2021. 26 Brecht, Bertolt: Pirate Jenny. In: The Threepenny Opera. Original Off-Broadway Cast 1954. URL: https://genius.com/Lotte-lenya-pirate-jenny-lyrics / letzter Zugriff am 12. 12. 2021. 27 Siehe Jonathan Shaws Blog Why Brecht Now? Vol. II: Nina Simone Sings ›Pirate Jenny‹ mit einem YouTube-Link zu Simones Aufnahme von 1964, dem Songtext auf Englisch und
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(statt, wie es in Blitzsteins Übertragung heißt, »On a ratty waterfront in a ratty old hotel«28). In der Dreigroschenoper von 1928 ist der Vortrag des Songs über verschiedene Ebenen vermittelt und verfremdet. Polly singt den Song während der Feier nach ihrer Vermählung mit Macheath. Sie bereitet ihren Auftritt dadurch vor, dass sie die Umstände rekonstruiert, unter denen sie zum ersten Mal auf das Material für diesen Song gestoßen ist, nämlich in einer Kneipe in Soho, in der ein Abwaschmädchen auf die Demütigungen der Gäste, die über sie lachten, damit reagierte, dass sie »ihnen dann solche Dinge sagte, wie ich sie ihnen gleich vorsingen werde.« (GBA 2, 248) Polly evoziert die genaue Szenerie dieser Situation (»Das ist der Spüleimer und das ist der Lappen, mit dem sie die Gläser abwusch« [GBA 2, 248]) und fordert dann zwei von Macheaths Kumpanen auf, in die Rollen der ursprünglichen Gäste in Soho zu schlüpfen (»Jetzt sagt zum Beispiel einer von Ihnen auf Walter deutend, Sie: Na, wann kommt denn dein Schiff, Jenny?« [GBA 2, 248]), bevor der Beginn des Songs dann durch weitere theatralische Effekte (»Songbeleuchtung: goldenes Licht« [GBA 2, 248] usw.) angekündigt und so eine weitere Umrahmung geschaffen wird. Auf der Darstellungsebene gibt es mehrere Vermittlungsinstanzen: die sich im Brechtischen Sinne möglichst nicht in Polly einfühlende, sondern diese Figur mit einem distanziert-kritischen Gestus vorführende Schauspielerin; die das Abwaschmädchen rekonstruierende Polly; und das sich als Seeräuber-Jenny imaginierende Abwaschmädchen. Sowohl die Theatralität und Künstlichkeit des Songvortrags als auch der Abstand zwischen der lumpenproletarischen Rachefantasie des Abwaschmädchens und der Hochzeitsfeier Macheaths einerseits, und die Distanz des Theaterpublikums zu diesen beiden Welten andererseits, sind deutlich hervorgehoben. Aber gerade die extreme Vermitteltheit des Vortrags trägt dazu bei, dass die im Songtext artikulierte Drohung eine besondere Nachdrücklichkeit erhält. Davon abgesehen, dass Simone die Seeräuber-Jenny nie in einer Dreigroschenopern-Inszenierung, sondern stets als Bestandteil ihres Konzertrepertoires aufgeführt hat, liegt ein wesentlicher Unterschied zwischen ihrer Interpretation und der Positionierung und Rahmung des Songs in der Dreigroschenoper darin, dass Simone die verschiedenen Brechtischen Vermittlungsebenen nicht nur durchbricht, sondern umkehrt. Während weder Polly, noch das Publikum ihres Vortrags im Stück, noch das Publikum der Dreigroschenoper darüber hinaus sich in die Seeräuber-Jenny einfühlen sollen, macht Simone klar, dass sie sich mit der Seeräuber-Jenny identifiziert. Dies ist bereits in der Aufnahme von 1964 deutlich, Deutsch, sowie einem Kommentar Shaws. URL: https://dustedmagazine.tumblr.com/pos t/183632765267/why-brecht-now-vol-ii-nina-simone-sings-pirate / letzter Zugriff am 12. 12. 2021. 28 Brecht, Bertolt: Pirate Jenny.
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wird aber noch klarer in der Aufzeichnung ihres Auftritts während des internationalen Jazzfestivals in Montreal 1992, wenn sie auf die Frage der »Piraten«, »Welchen sollen wir töten?« (GBA 2, 249) (in Blitzsteins Übertragung: »Kill them now or later?«29), mit einer selbstbezüglich-ironischen Bemerkung reagiert, so als müsse sie selbst jetzt diese Entscheidung treffen: »Was willst Du, Nina?« (»What do you want, Nina«?30). Das von Brecht anvisierte Publikum ist das Bürgertum, dessen kapitalistische Lebenswelt ihm im Zerrspiegel als organisiertes Verbrechen vorgeführt wird. Dieses Publikum soll sich und seine Klasse in den Bettlern, Ganoven und der korrupten Polizei des Stücks wiedererkennen, nicht aber im Küchenmädchen, dessen fiebernder Vergeltungstraum als zwar theatralisch wirkungsvolle, diesem Publikum aber weit entrückte Drohung ausgestellt ist. Das Zielpublikum Simones hingegen sind die überwiegend weißen Zuhörer:innen, die über ihre Karriere hinweg regelmäßig in ihre Konzerte geströmt sind. In einem Interview mit dem BBC-Programm HARDtalk von 1999 erklärte Simone ihre Motivation als Sängerin damit, dass sie »die weißen Leute weltweit« (»the white people around the world«31) wissen lassen will, »dass ich weiß, wer sie sind und was sie meinen Leuten weltweit angetan haben« (»that I know who they are and what they have done to my people around the world«).32 Ihr Gestus ist der einer desillusionierten Anklägerin, die ihr Publikum ermahnt, dass es nicht ausreicht, ihr als Sängerin zuzuhören, wenn dieser Kunstkonsum nicht auch zu einem engagierten Einsatz für die Bürgerrechte von Schwarzen führt, und zwar nicht nur als Lippenbekenntnis, sondern als aktiver Antirassismus. Durch die Aufhebung der Distanz zwischen Sängerin und Kunstfigur wird die von Brecht beabsichtigte Verfremdung selbst verfremdet: Als aus dem amerikanischen Süden (d. h. North Carolina) stammende Schwarze, deren Vorfahren Sklav:innen waren, gibt Simone die Rachefantasie des Abwaschmädchens als ihre eigene aus, fühlt sich – gegen die Intention und Struktur der Vorlage – in diese Figur ein und lässt das überwiegend weiße Publikum deutlich ihre Verbitterung über die nach wie vor bestehende Rassendiskriminierung spüren. Gilt der mit Brechts und Weills Songs assoziierte Vortragsmodus des Sprechgesangs als Mittel der Verfremdung (u. a. der Gesangstechnik und Ästhetik des Belcanto), so übersteigert 29 Brecht, Bertolt: Pirate Jenny. 30 Simone, Nina: Pirate Jenny. Aufgenommen am 2. Juli 1992 während des internationalen Jazzfestivals in Montreal, 00:04:27–00:04:29. URL: https://www.youtube.com/watch?v=BB__ mz4KGC8 / letzter Zugriff am 12. Dezember 2021. Siehe auch »Nina Simone Live in Warsaw, Poland« von 1997, wo es stattdessen heißt: »What’d you want, Queen Nina?« 00:30:10– 00:30:12. URL: https://www.youtube.com/watch?v=hgYTy1dIeAs / letzter Zugriff am 12. 12. 2021. 31 Siehe das Interview mit Nina Simone in der BBC-Sendung HardTalk von 1999, 00:03:42– 00:03:46. URL: https://www.youtube.com/watch?v=8olEruTT_io / letzter Zugriff am 12. 12. 2021. 32 Ebd., 00:03:14–00:03:21.
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wiederum Simone diesen Modus, indem sie auf Gesang und Melodik verzichtet und den Text fast monologisch rezitiert, während ihre Klavierbegleitung ihn zugleich aggressiv-rhythmisch akzentuiert. Die emotionale Anspannung ihres Vortrags, ihr Insistieren auf der von Weißen bislang nicht beglichenen historischen Schuld Afroamerikaner:innen gegenüber, ist weit entfernt von einem nüchtern-unpathetischen Gestus. Simone geht es um den Kampf gegen die Ausbeutung und Unterdrückung der von versklavten Afrikaner:innen abstammenden Schwarzen in der amerikanischen Gesellschaft, nicht einer generellen und abstrakten Arbeiterklasse. Ihre Interpretation der Seeräuber-Jenny ist ein frühes Beispiel für die Weiterentwicklung Brechtischer Konzepte von der Klassen- hin zur »Rassen«-Frage durch eine afroamerikanische Künstlerin.
Branden Jacobs-Jenkins’ An Octoroon Innerhalb der afroamerikanischen Gegenwartsdramatik gibt es ebenfalls Beispiele für einen Umgang mit Brecht, der dessen Konzepte und Verfahren über die Klassenfrage hinaus auf die »Rassen«-Problematik hin erweitert. Ein solches Beispiel ist das 2014 am Soho Rep in New York uraufgeführte Stück An Octoroon (Ein Achtelblut) von Branden Jacobs-Jenkins, bei dem es sich um eine Bearbeitung des Melodramas The Octoroon des irischen Dramatikers Dion Boucicault handelt, dessen amerikanische Erstaufführung 1859 am Winter Garden Theatre in New York stattfand und das dann zwei Jahre später am Adelphi Theatre in London zu sehen war. Die fünf Akte der amerikanischen Fassung von Boucicaults Stück spielen auf einer Plantage in Louisiana mit dem Namen Terrebonne. Zoe, die Titelfigur, ist zu einem Achtel afrikanischer Abstammung und gilt deshalb als Schwarze. (Der Stücktitel setzt folgendes Verständnis voraus: Eine Urgroßmutter Zoes war eine versklavte Afrikanerin und Zoes Mutter war als Viertelblut ebenfalls eine Sklavin.) Zoes Vater, der Richter Peyton, war der weiße Besitzer von Terrebonne. Obwohl sie Schwarz ist, stand Zoe bislang unter dem Schutz ihres Vaters und dessen Frau, Mrs. Peyton (die nicht ihre Mutter ist). Der Vater hatte Zoe versprochen, sie rechtskräftig freizugeben, ist aber vor kurzem verstorben. Sein Neffe George Peyton ist soeben aus Frankreich zurückgekehrt, um mit Terrebonne sein Erbe anzutreten, muss allerdings erfahren, dass die Plantage hochverschuldet ist. Der Sklavenaufseher Jacob McClosky, der den finanziellen Ruin der Plantage mitverschuldet hat, teilt George und dessen Tante mit, dass der Grundbesitz verkauft und die Sklaven versteigert werden müssen, um so für die Schulden aufzukommen. Ein zweiter Aufseher und Geschäftspartner des Richters, der Nordstaatler Salem Scudder, würde gerne für die Schuldenlast aufkommen, ist aber mittellos. Die reiche Erbin Dora Sunnyside wirbt um George,
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dieser aber verliebt sich in Zoe. McClosky, ein Rivale um die Gunst Zoes, ist von dieser zurückgewiesen worden und sieht in der bevorstehenden Versteigerung eine Gelegenheit, Zoe käuflich zu erwerben, da er weiß, dass sie von ihrem Vater nicht rechtzeitig freigesetzt worden ist. Er fängt den Brief eines ehemaligen Schuldners des Richters ab, der den Verkauf der Plantage noch verhindern könnte, und ermordet den Überträger des Briefes, den Sklavenjungen Paul. Ein Freund des Jungen, der Indianer Wahnotee, ist tief erschüttert, als er die Leiche entdeckt, und trägt sie fort. Zoe weist einen Heiratsantrag Georges mit dem Verweis auf ein Gesetz zurück, das Mischehen verbietet. Dora, obwohl sie von George abgewiesen worden ist, hat ihre eigene Plantage verkauft, um Terrebonne zu retten, und versucht während der Auktion, nachdem andere Sklaven Terrebonnes bereits verkauft worden sind, Zoe zu ersteigern, wird aber von McClosky überboten. Während im Hintergrund ein Dampfschiff mit den ersteigerten Sklaven und Gegenständen beladen wird, taucht Wahnotee in betrunkenem Zustand auf und deutet in radebrechendem Französisch an, dass er Paul in der Nähe begraben hat. McClosky beschuldigt Wahnotee des Mordes an Paul und fordert die Umherstehenden auf, ihn zu lynchen, wird aber von Scudder gestoppt, der auf einem regulären Gerichtsverfahren besteht. Pete, der älteste Sklave der Plantage, händigt eine Fotoplatte aus, die die Ermordung Pauls durch McClosky dokumentiert – festgehalten durch die am Tatort aufgestellte Fotoapparatur Scudders, die Wahnotee aus Versehen ausgelöst hatte. McClosky kann entkommen und setzt das Dampfschiff in Brand, worauf Wahnotee ihn aufspürt und in der darauffolgenden Auseinandersetzung tötet. Zoe, die von diesen Entwicklungen nichts mitbekommen hat und sich im Besitz McCloskys glaubt, hat bereits aus Verzweiflung Gift getrunken, als Scudder mit der Nachricht auftritt, dass McClosky des Mordes an Paul überführt worden ist und Terrebonne jetzt George gehört. Zoe stirbt, während George neben ihr kniet. Für die zwei Jahre später entstandene britische Version des Stücks strich Boucicault Akt vier und fünf auf einen Akt zusammen und ersetzte Zoes Selbstmord durch einen glücklichen Ausgang, nämlich ein Schlusstableau, in dem George Zoe als Braut auf seinen Armen trägt. Im Gegensatz zu den Vereinigten Staaten hatte England die Sklaverei bereits abgeschafft. Die untragische, affirmative Darstellung eines gemischtrassigen Paars war deshalb auf englischen Bühnen möglich, wäre aber beim Publikum in New York auf Ablehnung gestoßen und dort wahrscheinlich erst gar nicht zur Aufführung gelangt.33 Jacobs-Jenkins reduziert die Charaktere in Boucicaults amerikanischer Stückfassung von zwanzig auf zwölf, fügt diesen dann aber weitere vier hinzu. Zwei der männlichen Hauptfiguren in The Octoroon (Sudder und der Planta33 Siehe die Einführung zu Dion Boucicaults The Octoroon. In: Richards, Jeffrey H. (Hg.): Early American Drama. New York: Penguin 1997, S. 447.
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genbesitzer Mr. Sunnyside, Doras Vater) sowie mehrere Nebenfiguren (der Versteigerer Pointdexter, die Kaufinteressenten Thibodeaux und Jackson, der Richter Caillou, und der Sklave Solon) tauchen in Jacobs-Jenkins’ Version nicht mehr auf. Dafür gibt es nun einen Dramatiker (»Dion Boucicault«), einen Assistenten, eine Figur namens BJJ (»Branden Jacobs-Jenkins«) und die aus der afroamerikanischen Volkskultur des amerikanischen Südens stammende Tricksterfigur des Br’er Rabbit (»Bruder Kaninchen«). Wie die Theaterwissenschaftlerin Rosa Schneider hervorgehoben hat, kommt den Sklavinnen Grace, Dido und Minnie, die in Boucicaults Stück kaum Text haben, in Jacobs-Jenkins’ Stück eine größere Rolle zu34: Der erste Akt beginnt und der fünfte endet mit einem Dialog zwischen Dido und Minnie. Jacobs-Jenkins’ Adaption der Boucicaultschen Vorlage durch Konsolidierung der Charaktere, Übernahme vieler, sprachlich aktualisierter Textpassagen und Hinzufügung neuen Materials erinnert an Brechts Bearbeitungen bereits vorliegender Stücke (z. B. John Gays The Beggars’ Opera für Die Dreigroschenoper und Yuzo Yamamotos Nyonin Aishi, Tojin Okichi monogatari für Die Judith von Shimoda). Die Auflistung der Dramatis Personae zu Beginn des Stücktextes enthält klare Vorgaben im Hinblick auf die jeweilige ethnische Zugehörigkeit bzw. Hautfarbe der sie Spielenden. Dabei gibt es einen Unterschied zwischen den weiblichen und männlichen Figuren der Handlung. Die weiblichen Figuren sollen von Schauspielerinnen verkörpert werden, die ihnen weitestgehend ähneln: Zoe von einer Darstellerin, die entweder selbst ein »Achtelblut« ist oder (»[as] a white actress, a quadroon actress, a biracial actress, a multiracial actress, or an actress of color«35) als solches durchgeht; Dora von einer Darstellerin, die selbst weiß ist oder als weiß durchgeht36; und die drei Sklavinnen von Schauspielerinnen, die entweder afroamerikanisch, Schwarz oder »people of color« sind.37 Im Kontrast hierzu sollen drei Schauspieler jeweils drei verschiedene und ihnen auch von der Hautfarbe her nicht entsprechende Männerfiguren verkörpern. Den Anweisungen Jacobs-Jenkins’ zufolge38 spielt ein weißer Darsteller (oder ein Schauspieler, der als weiß durchgeht) den Dramatiker, den Indianer Wahnotee und den Auktionator Lafouche. Der Darsteller des BJJ, der selbst Dramatiker (oder 34 »His reconstruction of melodrama’s gaze through his elevation of the three female slaves, Dido, Grace, and Minnie, to the center of the play, is Jacobs-Jenkins’s most extensive and provocative alteration to Boucicault’s original.« Schneider, Rosa: »Anyway, the Whole Point of This Was to Make You Feel Something«: Branden Jacobs-Jenkins and the Reconstruction of Melodrama. In: »The Journal of American Drama and Theatre« Nr. 31.1, Herbst 2018. URL: https://jadtjournal.org/2018/11/07/reconstruction-of-melodrama / letzter Zugriff am 12. 12. 2021. 35 Jacobs-Jenkins, Branden: An Octoroon, S. 133. 36 Siehe ebd. 37 Siehe ebd. 38 Siehe ebd.
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afroamerikanisch oder Schwarz) sein sollte, spielt zwei weiße Figuren: George, den (»guten«) Erben der Plantage und Jacob M’Closky, den (»bösen«) Sklavenaufseher.39 Der Assistent sollte möglichst von einem Schauspieler indianischer Abstammung (oder einem gemischtrassigen, südasiatischen, oder einem als Indianer durchgehenden Schauspieler) verkörpert werden. Dieser Darsteller spielt aber auch zwei Schwarze Figuren: den alten Sklaven Pete sowie den Jungen Paul.40 (Hinzu kommen die Nebenfiguren Br’er Rabbit und Captain Ratts, die im Falle der Besetzung BJJs mit einem Dramatiker ebenfalls von diesem gespielt werden sollen, oder aber von einem anderen an der Inszenierung beteiligten Künstler.41) Im Prolog zum Stück schminkt sich BJJ weiß (»whiteface«) und setzt sich zudem eine blonde Perücke auf. Der Dramatiker schminkt sein Gesicht rot (»redface«) und ziert sich mit indianischem Federschmuck, während der Assistent den beiden anderen beim Schminken hilft und dabei sein eigenes Gesicht schwärzt (»blackface«). Von vorneherein ist somit klar, dass rassistische Klischees als performative Konstrukte entlarvt werden sollen. Diese extrem komödiantische Dekonstruktion ist aber auf die Männerrollen beschränkt, wodurch die Performativität von Männlichkeit – im Gegensatz zur Weiblichkeit – ebenfalls stärker hervorgehoben wird. Eines der Hauptprobleme der amerikanischen Fassung von Boucicaults Stück ist die relative Sympathie den südstaatlichen Sklavenaufsehern und Plantagenbesitzer:innen gegenüber: Sowohl Sudder als auch M’Closky sind aus New England stammende Yankees. Sudder ist in Jacobs-Jenkins’ Version gestrichen (und seine für den Verlauf und dramatischen Höhepunkt des Stücks zentrale Kamera nun George zugeschrieben) und M’Closkys Herkunft aus Connecticut wird nicht länger erwähnt. Wann immer weiße Personen zugegen sind, unterhalten sich die Schwarzen Charaktere in einem kindlich-primitiven »Sklavenjargon« (direkt aus der Vorlage entnommen); wann immer sie unter sich sind, sprechen sie modernes afroamerikanisches Englisch (»Ebonics«).42 Im Gegensatz zur Vorlage ist Zoe eine der am wenigsten entwickelten Figuren in An Octoroon. Minnies und Didos Reaktionen auf die Handlung des Stückes kommt eine wesentlich größere Bedeutung zu, auch weil es mit einem Dialog zwischen ihnen endet, in dem sie die verzweifelte Situation Zoes, die wahrscheinlich zu ihrem 39 Auch wenn Jacobs-Jenkins’ Anweisungen die Möglichkeit zulassen, BJJ mit einem nichtSchwarzen Dramatiker zu besetzen, so ist diese Figur in bisherigen Inszenierungen doch zumeist von afroamerikanischen Schauspielern gespielt worden. 40 Siehe Jacobs-Jenkins, Branden: An Octoroon, S. 133. 41 Siehe ebd., S. 134. 42 Der Beginn des ersten Aktes ist im Stücktext mit folgender Anmerkung überschrieben: »[I’IM JUST GOING TO SAY IT RIGHT NOW SO WE CAN GET IT OVER WITH: I DON’T KNOW WHAT A REAL SLAVE SOUNDED LIKE. AND NEITHER DO YOU.]« Jacobs-Jenkins, Branden: An Octoroon, S. 153.
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Selbstmord führen wird (sie hat zu Beginn der letzten Szene Dido ein Gift abgeluchst), als mehr oder weniger belanglos abtun. Minnie und Dido haben sich im Sklavensystem »häuslich« eingerichtet und gar kein Interesse daran, ihm zu entfliehen. Stattdessen bereiten sie sich am Ende des Stücks auf ein Leben auf dem Dampfschiff ihres neuen Besitzers, Captain Ratts, vor. Das Stück endet nicht, wie im Original, mit dem Tod Zoes in Gegenwart Georges und einem darauffolgenden Schlussbild, dass den triumphierenden Wahnotee über dem toten M’Closky auf dem Grab Pauls zeigt,43 sondern mit einem Dialog der beiden Sklavinnen, gefolgt von einem allegorischen Schlusstableau, in dem der mit Tomahawk und Hammer (»gavel«) bestückte B’rer Rabbit direkt in das Publikum blickt, während sich die Bühne allmählich verdunkelt.44 Wahnotee benutzt den Tomahawk in einer früheren Szene als Waffe,45 und der Auktionator LaFouche bittet während der Versteigerung durch das Klopfen des Hammers um Ruhe.46 In diesem Schlussbild steht der Tomahawk für die Verbindung des afroamerikanischen B’rer Rabbit zur indianischen Kultur, in der dieser ebenfalls als folkloristische Figur vorkommt. »Bruder Kaninchen« versinnbildlicht den Widerstand der Ureinwohner:innen Nordamerikas und der aus Afrika dorthin verschleppten Sklav:innen gegen den sie unterdrückenden europäischen Siedlerkolonialismus. Sowohl Hammer als auch Tomahawk sind in diesem Tableau lediglich statische, symbolische Objekte, die u. a. auf die noch ausstehende Gerechtigkeit für beide ethnischen Gruppen verweisen. An Octoroon ist voll von Brechtischen Bezügen und Anleihen. Die Sklav:innenauktion im dritten Akt z. B. dreht sich um ein zentrales Thema Brechts, »Die Ware Liebe« (so der intendiert homophone Titel des ursprünglichen Stückkonzeptes für Der gute Mensch von Sezuan), nur dass Rassismus und Sklaverei die dem Kapitalismus bereits inhärente Kommodifizierung von Liebe noch verschärfen: Zoe ist bereits als Frau, aber erst recht als Schwarze Sklavin, Handelsobjekt für die zwei um sie konkurrierenden und sich überbietenden Rivalen. Direkt vor Beginn der Versteigerungsszene deutet Jacobs-Jenkins in seinen Regieanweisungen verschiedene Möglichkeiten an, wie das Auktionspublikum dargestellt werden könnte: »There is either one or ninety-nine people playing various bidders. Or maybe there’s some clever way to force the audience into doing this. Really all we need is one person to play Ratts. But I guess I worry about the whole thing becoming too Brechtian. Though, does it matter? Also, can I help it?«47 Jacobs-Jenkins deutet damit an, dass er sich über die Brechtischen Elemente dieser Szene – und darüber hinaus des ganzen Stücks (»the whole thing«) – sehr 43 44 45 46 47
Boucicault, Dion: The Octoroon, S. 494. Siehe Jacobs-Jenkins, Branden: An Octoroon, S. 218. Ebd., S. 210. Ebd., S. 195. Ebd., S. 193.
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wohl im Klaren ist, aber zugleich nicht die Absicht hat, ein explizit Brechtisches Theater zu machen, obwohl das Material selbst die Dramaturgie des Stückes in diese Richtung treibt. So ist der veröffentlichten Fassung des Stücktextes ein Zitat aus Boucicaults The Art of Dramatic Composition vorangestellt, demzufolge die Kunst des Dramas darin bestehe, die theatralische Illusion herzustellen und gänzlich auf das Erreichen dieses Ziels ausgerichtet sei.48 Jeglicher Bühnenillusionismus wird allerdings bereits im schon erwähnten, darauf folgenden Prolog durchbrochen, der selbst den Titel The Art of Dramatic Composition: A Prologue trägt, aber statt der Boucicaultschen Kunst der dramatischen Komposition eine eher Brechtische Dramaturgie vorführt. Dem Zwischenspiel vor dem Vorhang in Der gute Mensch von Sezuan vergleichbar, in dem sich Shen Te, während sie das Lied von der Wehrlosigkeit der Götter und Guten singt, allmählich als Shui Ta verkleidet und dabei zuerst dessen Gang und dann dessen Stimme nachahmt, (GBA 6, 220) schminken sich im Prolog zu An Octoroon BJJ, der Dramatiker und der Assistent für ihre späteren Auftritte als George/M’Closky, Wahnotee und Pete/Paul. Beide Szenen verweisen durch den Übergangscharakter des Rollenwechsels selbst-referentiell auf das Spiel der Darsteller selbst. Jacobs-Jenkins’ Prolog fungiert zudem als dramatisiertes Werkstattgespräch, in dem mit dem Rassismus im amerikanischen Theaterbetrieb abgerechnet wird. BJJ monologisiert über eine Sitzung mit seiner weißen Therapeutin, während der er ihr von den Schwierigkeiten berichtete, The Octoroon zu adaptieren: Seine weißen Schauspieler hatten sich – unter dem Vorwand, das Stück sei zu »melodramatisch« – geweigert, die rassistischen Sklavenbesitzer zu spielen, obwohl umgekehrt von jedem Schwarzen Schauspieler erwartet werde, dass er kein Angebot ausschlage, einen »anstößigen Drecksack« fernab seines eigenen Lebens zu spielen.49 Die Therapeutin schlug daraufhin vor, es mit »›Color-blind‹ casting« zu versuchen, nicht wissend, dass diese Art der Rollenbesetzung bereits seit längerer Zeit als kontrovers gilt.50 BJJ wehrt sich in seinem Monolog auch dagegen, dass seine Stücke grundsätzlich auf die Dekonstruktion des Rassenproblems in den Vereinigten Staaten reduziert werden, als könnte es für Schwarze Dramatiker:innen keine anderen Themen 48 Siehe ebd., S. 137. 49 Siehe ebd., 141–143. 50 »Color-blind casting« bedeutet die Besetzung von Rollen ohne Berücksichtigung der ethnischen Zugehörigkeit bzw. Hautfarbe der jeweiligen Schauspieler. Der afroamerikanische Dramatiker August Wilson protestierte bereits 1996 gegen diese Praxis mit dem Argument, dass sie Bestandteil einer rassistischen Politik sei, Schwarze dadurch in die von Weißen dominierte Gesellschaft zu assimilieren, indem man ihre ethnischen und kulturellen Besonderheiten leugne und sie als unbestimmbare und abstrakte »people of color« behandele. Siehe Wilson, August: The Ground on Which I Stand. In: »American Theatre« vom Juli/August 2016. URL: https://www.americantheatre.org/2016/06/20/the-ground-on-which-i-stand / letzter Zugriff am 12. 12. 2021.
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geben.51 Der Dramatiker (i. e. »Boucicault«) wiederum hält einen betrunkenen und rassistischen Monolog, in dem er an der Zukunft, in der er angekommen ist, lobt, dass man nun endlich Stücke mit »Negern« besetzen kann, wodurch man Schminke spare. Nur kann er es kaum fassen, dass man Schwarze Schauspieler: innen jetzt auch bezahlen muss.52 Der den Konzerten Nina Simones zugrundeliegenden Intention vergleichbar geht es auch in diesem Prolog darum, ein überwiegend weißes Publikum mit der Ungleichbehandlung von Schwarzen in der amerikanischen Gesellschaft, und hier insbesondere im Theaterbetrieb, zu konfrontieren. Wie bereits angedeutet, erinnert die Vielschichtigkeit der Darstellungsebenen – der Schauspieler:innen als Personen, der von ihnen verkörperten Bühnenfiguren und der wiederum von diesen dargestellten Rolle(n) – in An Octoroon deutlich an Brechts Figurenkonzeption in Der gute Menschen von Sezuan. Was die Repräsentation von Klasse, »Rasse« und Geschlecht in Brechts Stück betrifft, spielt die Hautfarbe der Figuren im Hinblick auf ihre gesellschaftliche Stellung keine Rolle (da ihr »Chinesischsein« austauschbar ist), ihre Klassen- und Geschlechtszugehörigkeit hingegen aber sehr wohl. In Der gute Mensch von Sezuan kann eine weibliche Figur in die Rolle einer männlichen Figur schlüpfen und dadurch von der überlegenen Machtposition von Männern in einer patriarchalischen Gesellschaft profitieren. Die Rolle des kapitalistischen Unternehmers in dieser Gesellschaft ist nur dann akzeptiert, wenn sie mit einem Mann besetzt ist – ein »männlicheres« Auftreten als Frau würde Shen Te im Zusammenhang des Stückes nicht helfen. Da Altruismus mit dem kapitalistischen System »Sezuans« unvereinbar ist, ist auch das gemeinsame Auftreten von Shen Te und Shui Ta unmöglich. Durch die gender-Kodierung des Altruismus als weiblich und des erfolgreichen Unternehmertums als männlich charakterisiert das Stück den Kapitalismus zugleich als heteronormativ und patriarchalisch. Die gleichzeitige Darstellung von Shen Te und Shui Ta durch die beide verkörpernde Schauspielerin würde den Rahmen der Brechtischen Fabel sprengen – die Unmöglichkeit eines solchen Zusammentreffens und die dialektische Erkenntnis des Publikums, dass nur eine sozialistische Gesellschaft diesen Konflikt lösen kann, ist hier der ausschlaggebende Punkt. In Jacobs-Jenkins’ Stück hingegen spielt ein Schauspieler den abwechselnd George und M’Closky darstellenden BJJ, um dann in der dramatischen Szene der Versteigerung Zoes gegen Ende des dritten Aktes in einem grotesken Kampf gegen sich selbst (»the actor literally wrestling with himself«53) beide Figuren gleichzeitig zu spielen – den um Zoe mitbietenden M’Closky und den ihn davon 51 Siehe ebd., S. 144. 52 Siehe ebd., S. 151. 53 Ebd., S. 198.
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abhaltenden George. Shen Te und Shui Ta vergleichbar sind diese Figuren bis zu diesem Zeitpunkt als unversöhnliche Gegensätze konzipiert, aber ihre gleichzeitige Darstellung auf der Bühne in diesem Moment stellt diese Gegensätzlichkeit auch in Frage. Im Unterschied zu Brechts Stück signalisiert diese Szene, dass die beiden Kontrahenten vielleicht nicht so unterschiedlich sind, wie Boucicaults Vorlage es suggeriert: Egal mit welchem der beiden Männer Zoe am Schluss auch zusammen wäre, im Hinblick auf ihren gesellschaftlichen Status wäre sie letztlich wieder nur das Eigentum eines weißen Mannes. Während in Der gute Mensch von Sezuan der chinesische Kontext primär als verfremdende, aber austauschbare ethnische Kontrastfolie eingesetzt wird und nur verschiedenen Klassen und Geschlechtern auch verschiedene Machtstellungen zukommen, insistiert Jacobs-Jenkins mit seinem Stück auf dem Machtgefälle zwischen weißen und Schwarzen Menschen gerade auch im Hinblick auf die real auf der Bühne agierenden Darsteller:innen. In An Octoroon führt die Diskrepanz zwischen der Hautfarbe der Schauspieler:innen und der von ihnen dargestellten Figuren häufig zu dramatischen Szenen, die widersprüchlich interpretiert werden können, je nachdem, ob die Zuschauer:innen sich auf die Bühnenfiguren oder die sie darstellenden Schauspieler:innen konzentrieren. Wenn z. B. der Indianer Wahnotee am Ende des vierten Aktes nach einem blutigen, mit Tomahawk und Messer bestrittenen Kampf (Regieanweisung: »It seems incredibly real«54) ein Seil um den Hals des weißen Sklavenaufsehers M’Closky legt und diesen von der Bühne zieht, sieht das Publikum zugleich einen weißen Schauspieler einen Schwarzen Schauspieler von der Bühne zerren. Sehr Brechtisch ist zudem der im Stil einer dramaturgischen Einführung von den drei männlichen Darstellern präsentierte vierte Akt der Boucicaultschen Vorlage. BJJ, der Dramatiker und der Assistent diskutieren die generelle Funktion des vierten Aktes als sensationellen Höhepunkt (»Sensation Scene«55) des Melodramas (»because the idea is to overwhelm your audience’s senses to the end of building the truest illusion of reality«56), fassen die Handlung wie Szenenanweisungen zusammen (»it’s later that night, and we’re at the wharf, where we find Captain Ratts and his people like loading up the ship«57), kommentieren die jeweilige Handlung aus ihrer Gegenwartsperspektive (»it actually would have been really exciting one hundred and fifty years ago – having someone caught by a photograph«58) und tragen Passagen im raschen Wechsel von Narration, dem Zitieren von Dialogzeilen und der Verkörperung der jeweiligen Charaktere vor, wie z. B. in der Szene, die auf den Aufruf M’Closkys folgt, Wahnotee zu lynchen: 54 55 56 57 58
Ebd., S. 210. Ebd., S. 202. Ebd. Ebd. Ebd., S. 205.
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BJJ: And then someone’s like: PLAYWRIGHT: »Well we think he [Wahnotee] did kill him [Paul], so let’s give him a trial like right now, since we’ve all got like fifteen minutes before we have to go.« BJJ: And someone’s like: ASSISTANT: »Who will be the accuser?« BJJ: And everyone’s like: ASSISTANT: »M’Closky!« M’CLOSKY: Wait, why me? ASSISTANT: And they’re like: PLAYWRIGHT: »Because you were the one who was just shouting to lynch him –«59
Jacobs-Jenkins folgt hier Brechts Ratschlag, den Verfremdungseffekt durch »1. Die Überführung in die dritte Person. 2. Die Überführung in die Vergangenheit. 3. Das Mitsprechen von Spielanweisungen und Kommentaren« (GBA 22.2, 644) zu erzeugen. Der solchermaßen verfremdete Auftritt Petes mit der fotografischen Platte, die beweist, dass M’Closky Paul ermordet hat, wird durch einen Dialog zwischen BJJ und dem Dramatiker unterbrochen, in dem es um die Rolle der Fotografie als Beweismedium im neunzehnten Jahrhundert im Vergleich zur digitalen Manipulation von Bildmaterial in der heutigen Zeit geht, aber auch um den Tod als die Möglichkeiten des Theaters übersteigende unmittelbare Erfahrung von Finalität.60 Der Assistent rollt einen Overhead-Projektor auf die Bühne und projiziert das Foto eines Lynchmords auf die rückwärtige Wand, während die Schauspieler zu der Passage vor Petes Auftritt zurückspringen, in der George (in Boucicaults Original: Scudder) erklärt, dass es gegen seine Natur sei, Wahnotee für schuldig zu halten, und er deshalb gegen das Lynchgesetz als wilden und gesetzlosen Vorgang protestiere (»this lynch law is a wild and lawless proceeding. […] It is such scenes as these that bring disgrace upon our Western life«61). Die Projektion endet, nachdem Pete George die Fotoplatte überreicht hat und bevor dieser realisiert, dass die Platte M’Closky des Mordes an Paul überführt. Jacobs-Jenkins stellt in dieser Szene eine Verbindung zwischen der gesetzlosen Behandlung der nordamerikanischen Ureinwohner:innen und dem Lynchen von Afroamerikaner:innen her. Zugleich dient die Projektion des Fotos, das einen Lynchmord von Weißen an Schwarzen dokumentiert, auch der Historisierung, indem sie die Nachfahren dieser Kolonialist:innen im Publikum mit der rassistischen Vergangenheit ihrer Vorfahren konfrontiert. Brechts Badener Lehrstück vom Einverständnis sieht ebenfalls die Projektion der Fotos von Toten vor: »Es werden sehr groß zehn Photographien von Toten gezeigt, dann sagt der Sprecher: ›Zweite Betrachtung der Toten‹, und die Photographien werden noch einmal gezeigt.« 59 Ebd., S. 204. 60 Siehe Jacobs-Jenkins, Branden: An Octoroon, S. 205–206. 61 Ebd., 206; Boucicault, Dion: The Octoroon, S. 485.
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(GBA 3, 37) Obwohl es auch hier darum geht, die gestürzten Flieger im Stück bzw. die Teilnehmer:innen oder Zuschauer:innen des Lehrstücks mit einer Geschichte der Gewalt zu konfrontieren, für die sie und ihre Klasse mitverantwortlich sind, ist das primäre Ziel jedoch, diesen Gewaltzusammenhang durch das Einverständnis mit dem »Tod des bürgerlichen Individuums« als Voraussetzung für eine veränderte Menschheit ohne Klassenunterschiede und Ausbeutung hinter sich zu lassen. Ein weiteres Brechtisches Element in An Octoroon ist der Gestus von Dido und Minnie. Beide haben die Sklaverei akzeptiert und tauschen in idiomatischem afroamerikanischem Englisch Klatsch und Tratsch aus: »MINNIE: Oh, you know, Chris was messin’ with Trisha over in the sugar mill for a l’il bit an’ I met him and Darnell through her at a slave mixer over by the river before she dumped him because, you know, she couldn’t deal with the long distance.«62 Durch die Verwendung urbaner Redewendungen der Gegenwart (»mixer«: Kennenlernparty) im Zusammenhang einer Sklavenhalter:innengesellschaft werden sowohl die Gegenwart als auch diese Gesellschaft historisiert. Die Alltäglichkeit eines versklavten Lebens wird deutlich, aber zugleich wird auch angedeutet, dass die Gegenwart vielleicht die Fortsetzung bzw. eine modernere Form der Sklaverei ist: »MINNIE: […] I know we slaves and evurthang, but you are not your job. You gotta take time out of your day to live life for you.«63 Obwohl Jacobs-Jenkins den Schluss der Vorlage nicht direkt übernimmt, wird auf ihn doch als Handlungsausgang auch seiner Adaption angespielt. Am Ende des Stücks, während sich Dido und Minnie über ihren bevorstehenden und freudig erwarteten Umzug auf das Dampfschiff ihres neuen Besitzers, Captain Ratts, unterhalten, kommt Dido plötzlich der Gedanke, dass die einzige Entwicklung, die diesen Umzug noch aufhalten könnte, die Entdeckung wäre, dass M’Closky Paul umgebracht habe, um den Brief aufzufangen, der Terrebonne noch retten könnte. Sie erzählt Minnie, dass sie ein entsprechendes Frühstücksgespräch zwischen Zoe und Mrs. Peyton belauscht habe.64 Da das Stück hier endet, ist der Ausgang offen, aber sollte der Brief (wie in The Octoroon) entdeckt werden, wären die »bemitleidenswerten« Figuren am Ende Dido und Minnie, nicht Zoe, da man ihnen das »Glück« der Sklaverei unter einem neuen Besitzer vorenthalten würde. Die Affirmation der Sklaverei als vertraute Normalität durch die zwei Sklavinnen hat viele Entsprechungen in Brechts Stücken, z. B. in den Behauptungen des Feldwebels und des Feldpredigers in Mutter Courage und ihre Kinder, dass der Krieg, und nicht der Frieden, der Normalzustand sei (der Feldwebel: »Man merkts, hier ist zu lang kein Krieg gewesen. Wo soll da Moral herkommen, frag ich? Frieden, 62 Jacobs-Jenkins, Branden: An Octoroon, S. 154. 63 Ebd., S. 217. 64 Siehe ebd., S. 218.
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das ist nur Schlamperei, erst der Krieg schafft Ordnung« [GBA 6, 9]; der Feldprediger: »Der Krieg befriedigt nämlich alle Bedürfniss, auch die friedlichen darunter, dafür ist gesorgt, sonst möchte er sich nicht halten können« [GBA 6, 56]). Der Gestus der jeweiligen Charaktere, einen durch Gewöhnung vertrauten und alternativlos scheinenden, aber die eigenen Rechte und Lebensmöglichkeiten drastisch beschneidenden Gewalt- und Unterdrückungszustand nicht nur hinzunehmen, sondern aktiv zu bejahen, wird sowohl bei Brecht als auch bei Jacobs-Jenkins durch eine Überzeichnung ins Komische und Groteske verfremdet, um das Publikum zu einer Hinterfragung der eigenen Selbstverständlichkeiten anzuregen. Jacobs-Jenkins verwendet verschiedene Brechtische Techniken, um die vordergründig sentimentalisch-kritische Haltung von Dion Boucicaults The Octoroon zur Sklavenhalter:innengesellschaft vor dem amerikanischen Bürgerkrieg als diese indirekt affirmierend zu entlarven und dekonstruiert dabei dramaturgisch vor allem folgende Aspekte der Vorlage: einen in einer sensationellen Szene gipfelnden Bühnenillusionismus; eine afroamerikanische Protagonistin, die, obgleich als Sympathieträgerin angelegt, am Ende sterben muss, weil die Vorstellung einer gemischtrassigen Ehe dem weißen nordamerikanischen Publikum nicht zumutbar ist; die Unterschlagung der Sicht der anderen Schwarzen Bühnenfiguren, dass Zoe weniger zu ihnen als zur Sklavenhalter:innenklasse gehört; eine Verlagerung der Schuld für die Aufrechterhaltung der Sklavenhalter:innengesellschaft von den südstaatlichen Plantagenbesitzer:innen zu den angeheuerten Sklavenaufsehern aus dem Nordosten; und eine Reduzierung sämtlicher Schwarzen Charaktere auf rassistische Klischees, einen pittoresken Sklavenjargon und nur wenige Dialogzeilen. Jacobs-Jenkins’s Adaption unterminiert zudem eine Grundprämisse des Melodramas, dass nämlich das Publikum in erster Linie unterhalten und nicht zum Nachdenken über die dargestellten Sachverhalte angeregt werden soll. Was die Dekonstruktion des Melodramas und seiner binären Struktur (gutböse, weiß-Schwarz usw.) betrifft, bleibt in An Octoroon allerdings ein nicht aufgelöster Rest im Hinblick auf die Repräsentation der Geschlechter. Während BJJ, der Dramatiker und der Assistent in Jacobs-Jenkins’ Adaption Figuren einer Rahmenhandlung sind, von der aus sie metadiskursiv und metatheatral Boucicaults Dramaturgie analysieren und kommentieren können, bleiben die weiblichen Charaktere der Welt des Stücks inhärent und können sich nur immanent auf dessen Handlung sowie andere Charaktere beziehen. Dadurch wird eine binäre Opposition von Männlichkeit/epischem Theater/Intellekt und Weiblichkeit/Realismus/Emotion suggeriert bzw. aufrechterhalten. Insgesamt übernimmt Branden Jacobs-Jenkins diverse Brechtische Konzepte und Techniken (Verfremdung, Gestus, Historisierung, Aufspaltung der Rollenidentität, usw.) und erweitert sie von »Rassen«- auf Klassenkonflikte. Sowohl das
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Markus Wessendorf
weiße (durch explizite Kritik an den Arbeitsbedingungen im »White American Theater«) als auch das Schwarze Publikum (durch implizite Kritik an der Selbstzufriedenheit und Gleichgültigkeit Didos und Minnies ihrer Versklavung gegenüber) werden mit unangenehmen Wahrheiten konfrontiert. Der Schluss von An Octoroon entspricht zudem Brechts dialektischer Dramaturgie z. B. am Ende von Mutter Courage und ihre Kinder: Durch die Realisation, dass die Bühnenfiguren aus ihrer Geschichte nichts gelernt und selbst keine glaubwürdigen Lösungsversuche für die dargestellten Konflikte anzubieten haben, kann das Publikum vielleicht dazu ermutigt werden, selbst nach Lösungen für diese Konflikte im Alltagsleben außerhalb des Theaters zu suchen – Konflikte, die im Gegenwartskontext der Vereinigten Staaten aus der nie gesamtgesellschaftlich aufgearbeiteten Geschichte der Sklaverei und des Rassismus resultieren.
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Graz˙yna Barbara Szewczyk (Katowice)
Der Fall Brecht und die zeitgenössische schwedische Literatur
In der schwedischen Brecht-Forschung widmet man heute der Rezeption des deutschen Dramatikers wenig Interesse. Die wichtigsten literaturwissenschaftlichen Studien stammen aus der Feder des schwedischen Germanisten Helmut Müssener, der die Geschichte der deutschsprachigen Emigranten in Skandinavien untersucht und den Forschern Informationen und Impulse für weitere Erkundungen des Themas gegeben hat. In seinem Buch Exil in Schweden (1974) erscheint Bertolt Brecht nicht nur als ein Flüchtling, der neben Nelly Sachs und Peters Weiss zu den bekanntesten deutschen Emigranten zählt, sondern auch als ein interessanter Stückeschreiber und mutiger Intellektueller, der die Haltung der schwedischen Regierung zum faschistischen Deutschland scharf kritisierte.1 Im Jahre 1978 erscheint die Dissertation Brecht i Sverige (Brecht in Schweden) des schwedischen Theaterwissenschaftlers Willmar Sauter, wo Brechts Relationen zu Schweden aus der sozialgeschichtlichen Perspektive reflektiert und seine Kontakte zu den schwedischen Schauspielern, Übersetzern und Schriftstellern erforscht und kommentiert werden. Das Buch gibt eine Einsicht in die soziale und psychische Lage sowie in die künstlerische Tätigkeit des deutschen Emigranten in Stockholm und trägt zur Erweiterung des Wissens über die Rezeption seiner Dramen in Schweden bei.2 Die bisherigen Untersuchungen zu diesem Thema sind, mit wenigen Ausnahmen, über 40 Jahre alt. Inzwischen hat sich die Quellenlage verbessert, die Sperrfristen wurden zum Teil aufgehoben und das quantitativ und qualitativ 1 Helmut Müssener: Von Bert Brecht bis Peter Weiss: Die kulturelle deutschsprachige Emigration nach Schweden 1933–1945. München: Hanser 1974. Siehe auch H. Müsseners Aufsatz über die kulturelle deutschsprachige Emigration nach Schweden in den Jahren 1933–1945: Von Bert Brecht bis Peter Weiss, der 1956 in der schwedischen Zeitschrift »Moderna språk« erschien. Danach wurde der Text in erweiterten Fassungen 1971 und 1972 veröffentlicht. Der Autor ging darin auf die komplizierte Lage der deutschen Flüchtlinge, ihre Entfremdung und Sprachlosigkeit ein, nannte auch ihre im Exil entstandenen Werke. 2 W. Sauter fügt seinem Buch das Verzeichnis der Brechtschen Stücke bei, die in den Jahren 1929–1977 auf den schwedischen Bühnen aufgeführt wurden. Sauter, Willmar: Brecht i Sverige. Stockholm: Akademilitt 1978.
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ergiebige Material, z. B. Dokumente über die schwedische Flüchtlingspolitik während des Zweiten Weltkrieges, stehen den Forschern zur Verfügung. Im Archiv der Königlichen Bibliothek in Stockholm befinden sich nicht nur Briefe, Bilder und Zeitungsausschnitte, die Brechts Jahre in Schweden gut dokumentieren, sondern auch seine Notizen (z. B. Betrachtung der Kunst und Kunst der Betrachtung. Notizen zu einer Plastik der Nina Santesson3), Textentwürfe (z. B. Legende von der Entstehung des Buches Taoteking auf dem Wege des Laotse in die Emigration), vollendete Manuskripte (z. B. Mutter Courage und ihre Kinder. Eine Chronik aus dem dreißigjährigen Krieg), die den Einblick in seine literarische Werkstatt gewähren. Dennoch bleibt das Interesse an einer umfassenden, systematischen Studie über Brechts schwedische Exiljahre aus. Einer der neueren Beiträge, der auf die schwedischen Bezüge im Werk des Dramatikers und seine Beschäftigung mit Selma Lagerlöf-Stoff aufmerksam macht, ist der in »Lagerlöfstudier« erschienene Aufsatz der amerikanischen Forscherin Jenifer Watson Bertolt Brechts Gösta Berling, ett Gegenentwurf (2002). Zwei Jahre später gibt Rainer Noltelius das Buch Bertolt Brecht und Hans Tombrock. Eine Künstlerfreundschaft im skandinavischen Exil heraus, das die Geschichte der Freundschaft zwischen Brecht und dem deutschen Maler4 dokumentiert und ein weitgehend unbekanntes Stück literarischer Tätigkeit Brechts nahe bringt. Zu Brechts Dramentheorie, seinem politischen Engagement und dem schwedischen Exil haben sich in letzten Jahrzehnten vorwiegend die schwedischen Schriftsteller:innen, Dichter:innen, Publizist:innen und Übersetzer:innen geäußert. Sie gehören verschiedenen Generationen an, interpretieren Brechts Gedichte und Theaterstücke unter aktuellen Gesichtspunkten, stellen sein Konzept des Realismus zur Diskussion und experimentieren mit Brechtschen künstlerischen Mitteln. Der älteste von ihnen, der Schriftsteller Ivar Lo-Johansson,5 hebt 3 Gertrud Paulina Ninnan Santesson (1891–1969), schwedische Bildhauerin und Kunstmalerin. In ihrem Haus auf der Insel Lidingö – Die Insel ist Teil des Stockholmer Schärengarten – verbrachte B. Brecht mit seiner Familie mehrere Monate. Seine Studie über die Plastik N. Santesson entstand im Sommer 1939. Brecht durfte die Künstlerin in ihrem Atelier besuchen, als sie an der Statue von Helene Weigel gearbeitet hatte. Die Plastik hat die Nachkriegsjahre nicht überlebt. 4 Hans Tombrock (1895–1966) wurde von den Nationalsozialisten ausgebürgert; seine Werke wurden im Rahmen der Aktion Entartete Kunst aus deutschen Museen verbannt. 1933 floh er mit seiner Familie aus Deutschland nach Schweden und ließ sich 1937 in der Nähe von Stockholm nieder. 1939 lernte er auf einer antifaschistischen Veranstaltung Bertolt Brecht kennen. Zwischen zwei Künstlern entwickelte sich eine fruchtbare Zusammenarbeit. Tombrock hat u. a. Radierungen zu Brechts Gedichten, Balladen und Stücken Dreigroschenoper und Leben des Galilei gemacht. 5 Ivar Lo-Johansson (1901–1990) debütierte in den 20. Jahren des 20. Jahrhunderts. Er gilt als führender Autor der sog. Landarbeiterschule, einer Gruppe schwedischer Schriftsteller aus dem Landarbeitermilieu, die die Problematik ihrer von Armut geprägten Kindheit und des Existenzkampfes der Jugendjahre kritisch reflektieren. In Romanen, Novellen und theoreti-
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das politische Engagement des Dramatikers hervor und schreibt von dem Einfluss, den Brechts Werke auf die Entwicklung der schwedischen Arbeiterliteratur in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts ausgeübt haben. In den letzten zwei Jahrzehnten steigt das Interesse für den Dichter Brecht, dies in einem solchen Maße, dass er nun als Lyriker mehr als Dramatiker rezipiert wird. Die jungen schwedischen Autor:innen greifen Brechts Konzept von der Poesie auf, nach dem ein Gedicht »Gebrauchswert« haben müsse, und stellen es zur Diskussion.
Brechts Porträt im Essay von Ivar Lo-Johansson Der Bürger und der Proletarier – ein Wunschtraum In der 1988 erschienenen Sammlung von Essays Till en författare. Borgaren och proletären som önskedröm (An den Schriftsteller. Der Bürger und Proletarier – ein Wunschtraum) zeichnet Ivar Lo-Johansson das literarische Porträt des Dramatikers Bertolt Brecht auf und erwägt dabei die Frage nach dem Realismus in der europäischen Literatur. In seiner Charakterisierung tritt Brecht als ein revolutionärer Dichter auf, der sein Land, das faschistische Deutschland im Jahre 1933 verlassen muss und seit April 1939 im schwedischen Exil lebt. In Schweden wurde er zuerst als Autor des Dramas Dreigroschenoper6, später des Stückes Der gute Mensch von Sezuan7 und als aktiver Teilnehmer des Streitgesprächs um den Realismus mit dem ungarischen Literaturkritiker Georg Lukács bekannt. Der schwedische Schriftsteller verweist in seinem Text auf die bürgerliche Herkunft des Dramatikers und seinen Übergang in die »revolutionären und neuen ästhetischen Positionen«, zeigt dabei die Anfänge von dessen literarischer Arbeit auf und erinnert an die Aufsätze, in denen sich Brecht über die Einstellung der bürgerlichen Autoren zur Arbeiterklasse äußert. Mehrmals gebraucht der schweschen Schriften schildert er das Schicksal einzelner Landarbeiter sowie die soziale Lage der Dorfbewohner am Anfang des 20. Jahrhunderts. 6 1929 fand die Uraufführung des Stückes in Stockholm (Komediteatern) statt, 1938 wurde es in zwei Theatern (Gävle und Stockholm) aufgeführt. Nach dem Zweiten Weltkrieg spielte man das Drama im Radiotheater (1949), und danach führte man sie auf mehreren schwedischen Bühnen, z. B. in Göteborg (1955, 1969), Helsingborg, Malmö, Lund, Norrköping, Linköping, Stockholm, Uppsala u. a. 7 Ivar Lo-Johansson deutet in seinem Text über Brecht an, dass die Hauptfigur im Theaterstück (es entstand in den Jahren 1938–1940) auf die Person des einfachen Tischlers »Farbror Karlsson« zurückzuführen sei. »Brecht wohnte damals in dem kleinen Haus in der Bastugatan 22 in Stockholm […]. Im Haus nebenan lebte ein Tischler, von den Kindern Oheim Karlsson genannt […]. Er war aller Menschen Freund, obwohl niemand kannte ihn gut. Die Kinder haben ihn geliebt. Sie störten ihn oft in seiner Arbeit. Er zeigte jedoch keine Ungeduld«. LoJohansson, Ivar: Till en författare. Stockholm: Albert Bönniers Förlag 2015, S. 97. Der gute Mann von Sezuan wurde 1945 von einem Studententheater uraufgeführt.
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dische Essayist das Wort »proletarisch« und bezieht es auf die Weltanschauung des Dramatikers. Das Wort deutete nicht nur den ökonomischen Status. Die deutschen Sozialisten deuteten es zudem als Lebensanschauung. Es drückte auch ein Gefühl des Stolzes und der Würde aus, und hinzu noch, hieß es, die Verpflichtungen einzugehen […]. Dies war für Brecht lebenswichtig. Darum geht es im Grunde in allen seinen Texten […]. Minderwertigkeitskomplexe ließ er in den Überwertigkeitskomplex verwandeln. Die Theorie wurde in der Praxis zur Anpassungsfrage. Die anderen gaben auf, aber nicht Bertolt Brecht.8
In weiteren Ausführungen des Essays erwähnt Lo-Johansson einige im skandinavischen Exil verfassten Schriften Brechts, z. B. die Notizen über realistische Schreibweise (1940), und geht auf das Konzept realistischer Kunst und ihre »neue gesellschaftliche Funktion« ein. Brecht, betont er, habe über seine bürgerliche Lebensauffassung offen geschrieben und habe erklärt, wie er den proletarischen Kampf verstand. Als bürgerlicher Schriftsteller, dem das Mitleid als etwas Demütigendes und Fremdes erschien, reagierte er auf die Armut der hungernden Massen und ihr Schreien nach Hilfe nicht; erst später hat er seine Anschauung geändert. Als er hörte, dass es Menschen gab, die die Maßnahmen ergriffen, um den Hunger abzuschaffen, schloss er sich »kalten Blutes« dem Sozialismus an. Der Sozialismus war nun ein Werkzeug und nicht die Gefühlssache.9
Für Lo-Johansson sind sowohl die Äußerungen Brechts über die Teilnahme der deutschen bürgerlichen Intellektuellen am Klassenkampf, als auch seine Bemerkungen über die realistische Schreibweise, die er in Anlehnung an dessen Schreibpraxis interpretiert und in neue Zusammenhänge stellt, bedeutsam und interessant. Manchmal, gesteht er, sind Brechts Romanpoetik und seine Realitätskonzepte schwer zu begreifen. Seiner Meinung nach war der deutsche Dramatiker, der sich im Gegensatz zu Lukács für die Theorie wenig interessierte, im Grunde ein »Anti-Ästhet«. »Realistisch schreiben ist keine Formsache, wiederholte er. Georg Lukács war formalistisch und zugleich reaktionär. Seine Forderung nach einer neuen Ästhetik hielt Brecht für eine Teigware. Lukács Rede über die Schönheit der Maschinen war nur Quatsch.«10 Zudem meint Lo-Johansson, dass Brecht, der die agierenden Personen verfremden ließ, sie weder realistisch noch wirklich darstellte. Er setzte sich mit dem Gesellschaftsroman Balzacschen Typs auseinander und stellte ihm den Mo-
8 Lo- Johansson, Ivan: Till en författare, S. 90–91. Alle Zitate werden aus dem Schwedischen ins Deutsche von Graz˙yna Barbara Szewczyk übertragen. 9 Ebd., S. 91. 10 Ebd., S. 93.
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dellcharakter eines Gesellschaftsromans gegenüber, der sich durch dessen Überprüfbarkeit an der Realität und Transparenz auszeichnet. Für den von Balzac geschaffenen Bürgertyp, der das Kassenbuch führt, ist der Tod wie ein Konkurs zu Lebzeiten. Es sind Veränderungen, die nichts verändern, Veränderungen, die sich auf das Äußere einschränken und keiner Bewertung bedürfen, es geht um das Handeln nur um der Form willen, um Papierschöpfungen, um formgerechtes Verfahren und Augenwischerei – es ist alles Formalismus11
– paraphrasiert der schwedische Autor Brechts Worte. Laut Lo-Johansson war Brecht kein Realist. Er war eher Anti-Realist und Marxist. Deshalb scheint seine kritische Äußerung über Georg Lukács interessant und anregend. Er war, wie er ursprünglich beabsichtigte, ein Arzt mit grässlichen sterilisierten Instrumenten, die in einem Glasschrank zur Schau gestellt waren. Seine Instrumente waren Ironie, Spott und Witz. Es war auch der Jargon, scharf wie die Messerschneide.12
Beweise für die Richtigkeit seiner Meinung findet Lo-Johansson im Brechtschen »Meisterstück«, in der Dreigroschenoper: »In einer engen Nische des Volkstümlichen versucht der Dramatiker eine poetische Welt zu schaffen, die, auch wenn nur in Umrissen, weiter leben wird.«13 In Überlegungen über das dramatische Werk Brechts bezieht Lo-Johansson eigene Erinnerungen ein. Als er Brecht begegnete, war er 38 Jahre alt und gehörte einer Gruppe schwedischer Schriftsteller aus dem Landarbeitermilieu an. Mit dem Roman Mona ist tot (1932) und den theoretischen Schriften wurde er zum führenden Autor der »Landarbeiterschule«. In Streiflichtern schildert er die kurze Begegnung mit Brecht im Mai des Jahres 1939, nachdem der Dramatiker im Stockholmer Stadtteil Mariaberget, im alten Haus an der Bastugatan einquartiert wurde. Es war im östlichen Flügel von zwei kleinen Häusern mit der Nummer 22. Von dort aus erstreckte sich Mariaberg und es war nur knapp hundert Meter von der Pforte entfernt, wo ich wohnte. Wir begegneten uns einige Male auf der Straße. Ich wusste, dass er ein deutscher Flüchtling war, ich wusste aber nicht viel über sein Werk. Ich besuchte selten das Theater, Die Dreigroschenoper habe ich jedoch gesehen. Er war kurz und dünn und sah asketisch aus. Er trug einen alten Regenmantel von der Sorte, die man als Ghandis-Mantel bezeichnete. Er trug eine Brille, hatte einen stechenden Blick und eine lustige spitze Nase. Bastugatan war damals eine Straße mit Baracken und zerfetzten roten Bretterzäunen, eine Straße, wo Arbeiter und Künstler
11 Ebd., S. 94 12 Ebd., S. 94. 13 Ebd., S. 95.
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eine Bleibe fanden. Es war eine arme Straße und die simplen Kleider gehörten zum Alltag.14
In die Charakteristik der Person von Brecht wird ein interessantes Motiv eingeflochten, das der Fantasie des schwedischen Schriftstellers freien Lauf lässt. Er erzählt eine Geschichte, nennt einige Fakten und schließt sie mit einer witzigen Pointe zusammen. Die Geschichte dient der Bestätigung seiner Annahme, dass die ersten Entwürfe des Stückes Der gute Mensch von Sezuan aus dieser Zeit stammen. In unmittelbarer Nähe des Hauses, wo Brecht und Helene Weigel untergebracht wurden, wohnte damals ein Tischler, von den Kindern als der Onkel Karlsson genannt. In seiner kleinen Werkstatt, erinnert sich Lo-Johansson, reparierte der Mann alte Möbel, Bildrahmen und jeden Gegenstand aus Holz, den ihm die Menschen zur Reparatur gaben. Von allen war er sehr geliebt und es störte ihn nie, dass die Kinder reinkamen und zuschauten. Ich will glauben, dass die Figur des alten Tischlers für den Dramatiker Brecht eine Anregung war, das Stück Der gute Mann aus Sezuan zu verfassen. […] Eines Tages war der Onkel Karlsson weg. Da habe ich mich an ihn im Ernst erinnert und ihn vermisst. Eines schönen Tages war auch Bertolt Brecht weg und ich habe bedauert, dass ich nicht versucht habe ihn näher kennenzulernen. Von den Theaterbesuchern habe ich erfahren, dass der gute Mensch von Sezuan ein Chinese und nicht ein Mann, sondern eine Frau gewesen sei und dass Brecht die Anregung dazu von Sergei Tretjakov bekam.15
Auch wenn sich die Annahme Lo-Johanssons als trügerisch erwies, setzt sein Essay neue Akzente in der schwedischen Rezeption von Bertolt Brecht. Der schwedische Autor war einer der ersten unter skandinavischen Brechtkritikern, der auf die Realismuskonzeption des deutschen Dramatikers aufmerksam gemacht hat, die weder mit Lukács’ Theorie noch mit der sowjetischen Philosophie kompatibel war.
14 Ebd., S. 96. 15 Ebd., S. 98. Sergei Tretjakow (1892–1937) war ein sowjetischer Schriftsteller und Vertreter des russischen Futurismus. Zu seinen wichtigsten Werken zählen die Porträts deutscher Avantgarde-Künstler Menschen eines Scheiterhaufens, die Lebensgeschichte des chinesischen Studenten Den Schi-Chua und das Theaterstück Brülle China!
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Der Dichter und die Politik. Stimmen der schwedischen Schriftsteller:innen über Bertolt Brecht Die Dichterin und Gründerin der schwedischen Literaturzeitschrift »10TAL«16 Madeleine Grive, hat im Mai 2014 zur Teilnahme an der Debatte über die politisch engagierte Lyrik von Brecht und ihre Auswirkung auf die moderne schwedische Poesie eine Gruppe von schwedischen und ausländischen Intellektuellen, Dichtern, Übersetzern und Kritikern eingeladen. Ihre Aussagen und Kommentare wurden in der Zeitschrift publiziert. Die Fragen, die Grive am Anfang des Gesprächs stellt, betreffen die Bedeutung der Kunst und die Rolle des Künstlers in der Gesellschaft im neuen Jahrhundert und geben den Anstoß, die gegenwärtige politisch engagierte Lyrik in Schweden aus der Perspektive Brechts zu lesen und zu kommentieren. Die Debatte hat man mit einem wenig bekannten Gedicht Brechts An die Gleichgeschalteten17 eröffnet, das zum ersten Mal in schwedischer Übersetzung erschienen ist. Das Gedicht präsentiert eine ungewöhnliche Form der Brechtschen Lyrik, es ist lang, seine Sprache ist verschlüsselt und es nimmt das Thema auf, das die heutigen schwedischen Intellektuellen auffordert, Stellung zum Text zu nehmen. Es geht darin um einen Menschen, der, um sein Brot »in den Zeiten zunehmender Unterdrückung« nicht zu verlieren, zum Lügner wird. Anfangs sagt er nichts und verschweigt die »Verbrechen des Regimes«. »Er bezeichnet«, schreibt Brecht, »die furchtbare Untat als etwas Unauffälliges wie Regen«; mit seinem Schweigen unterstützt er die Verbrecher. Aus dem Nichtssagenden wird bald ein Lügner werden. Weil er sein Brot nicht verlieren will, ist er bereit weiter zu lügen. Nun wird er von Machthabern ausgenutzt, merkt jedoch nicht, dass die einfache Lüge ihm nicht mehr lange hilft, sein Brot nicht zu verlieren: »Es genügt nicht mehr der Wille zu lügen – das Können ist nötig und die Leidenschaft wird verlangt.« Er übt sich im Lügen, konkurriert mit andern Lügnern, belügt auch die Unterdrückten, mit denen er früher befreundet war. Schließlich wird man ihm »frühere Ehrlichkeit«18, »früheren Anstand« nachweisen können und der Mann verliert sein Brot.
16 Der Titel der in den 80-er Jahren gegründeten, unabhängigen Kulturzeitschrift »10TAL« wurde oft geändert. Zu den Mitarbeitern gehören heute schwedische Schriftsteller, Künstler, Journalisten und Studenten. Die Nummer aus dem Jahre 2015 ist dem Werk von Bertolt Brecht gewidmet. 17 Das Gedicht entstand 1935 und wurde von Brecht im sowjetischen Rundfunk vorgelesen und an die deutschen Zuhörer gerichtet. Es wurde von Lars Kleberg ins Schwedisch übertragen. 18 Die Zitate entstammen dem Text des Gedichtes Brechts: An die Gleichgeschalteten. URL: https://lyricstranslate.com/de/bertolt-brecht-die-gleichgeschalteten-lyrics.html / letzter Zugriff am 14. 6. 2022.
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Das Gedicht – schreibt Grive – gewinnt an Aktualität in unserer Zeit, die in gewisser Hinsicht an die dreißiger Jahre erinnert, die Zeit, die durch die diskriminierende Globalisierung, Verfolgung der Volksgruppen, eine zynische und egoistische gesellschaftliche Atmosphäre und die unakzeptable Ungerechtigkeit geprägt ist. Millionen Menschen leben ohne Rechte. Sollen die Poeten in unserer Zeit nur zusehen? Brechts Gedicht ist ein Beispiel für die engagierte Lyrik, die auch heute die Intellektuellen anspricht. Um das Brot nicht zu verlieren, schweigt man über verbrecherische Ausbeutung der Menschen durch die Regime und man wird in den Sog der »schweigenden Lügner« hineingezogen. Das Schweigen bestraft sich retroaktiv.19
Zu Grives Interpretation des Gedichtes Brechts An die Gleichgeschalteten und der Frage nach dem politischen Engagement der gegenwärtigen Künstler haben sich zwölf schwedische Dichter:innen und Publizist:innen geäußert. Leif Zorn, Schriftsteller, Theaterkritiker und Publizist verweist auf die Zeilen im Gedicht, die seiner Meinung nach eine wichtige Botschaft vermitteln und dem gegenwärtigen Dichter zu denken geben. Wer mit keiner Wimper beim Anblick blutiger Verbrechen zuckt, verleiht er ihnen den Anschein des Natürlichen. Er bezeichnet die furchtbare Untat als etwas Unauffälliges […]. Brecht nennt zwar die Untat nicht bei dem Namen, das macht er nie und ich glaube auch nicht, dass er die heutigen Poeten belehren kann, wie man gegen die Unterdrückung kämpft […]. Es gibt die engagierte schwedische Literatur und sie will, wie die Lyrik von Brecht, Ärgernis sein. Sie sucht nach Anregungen in seiner politischen Kunst und ist Bestandteil unserer Kultur.20
Zorn vermerkt zwar, dass das schwedische Theater der Postmoderne, das ein Metatheater mit keinen radikalen Gesten ist, die Funktion des Volkstribuns verloren hat, Brecht jedoch – betont er – lehrt uns denken und vor allem historisch denken. Untaten haben eine lange Geschichte. Wenn Brecht die aristotelische Ästhetik kritisiert, tut er das deshalb, weil sie jedem Ereignis und jedem Erlebnis, wie es im Gedicht heißt den Anschein des Natürlichen verleiht. Wir müssen den Blick wenden um zu begreifen, dass man die Welt verändern kann.21
Zorn hält nicht viel von dem Schlagwort »politisches Engagement«, hebt aber in seiner Aussage die Bedeutung des Begriffes »Verfremdung« hervor und glaubt, dass er erlaubt, Distanz zur Gegenwart und zu eigenen blinden Flecken zu halten. Die Kommentare zum Brechtschen Gedicht verflechten sich in anderen Kommentaren mit den Bemerkungen über das »gefährliche politische Theater«22 und 19 Grive, Madeleine: Poeten och politiken. In: Fallet Brecht. Konst och samhällsengagemang, »10 TAL«, 19, 2015, S. 5. 20 Zorn, Leif: Att vända på blicken. In: Fallet Brecht. Konst och samhällsengagemang, S. 33. 21 Ebd. 22 Der kurze Text u. d. T. Den verkliga maktens teater (Das wirkliche Theater der Macht) wurde von der Dramatikerin und Publizistin Stina Oscarsson geschrieben.
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das Problem der »wirklichen Macht«, der die Menschen unbewusst unterstellt werden und die heute in der aggressiven Reklame der Lebensmittelgeschäfte, im Fußballspiel oder im Tanzwettbewerb in großen Stadien erkennbar ist. Die in der Lyrik von Brecht handelnde Figur des Zweiflers wird von dem Literaturkritiker und Schriftsteller Dan Jönsson aus der Perspektive der zeitgenössischen politischen Handlungen reflektiert. Es geht um das chinesische Rollbild mit der Figur eines sitzenden Mannes, das Brecht in sein Exil mitgenommen hat und das ihn inspirierte, 1937 im dänischen Svendborg das Gedicht Der Zweifler zu verfassen. Dan Jönsson beschäftigen vor allem die Fragen, die die Figur an die Zuhörer stellt und die unbeantwortet bleiben. Zu wem Sprecht ihr? Wem nützt es, was ihr da sagt? Und, nebenbei: Lässt es auch nüchtern? Ist es am Morgen zu lesen? Ist es auch angeknüpft an Vorhandenes? Sind die Sätze, die Vor euch gesagt sind, benutzt, wenigstens widerlegt? Ist alles belegbar? Durch Erfahrung? Durch welche? Aber vor allem Immer wieder vor allem andern: wie handelt man Wenn man euch glaubt, was ihr sagt? Vor allem: wie handelt man?23 Die Frage wie man handelt, hallt im ganzen Werk von Bertolt Brecht wider. Auch heute, fast sechzig Jahre nach seinem Tod kann man sie in seinen Gedichten hören […]. Ich höre sie, sie ist wie ein Echo, das immer widerhallt […].Worte führen zum Handeln: überall auf dem Kontinent wachsen Proteste gegen die Gewalt. Solidarität, Zorn. Aber auch leider: Hass. Frustration. Ich weiß nicht, ob es hilft, ich bilde mir jedoch ein, dass wir heute die Dichter brauchen, die sich fragen, wie man handeln soll. Ich glaube einfach, dass die Welt, in der Kunst und Literatur keine Grundlage für unsere Handlungen sind, eine schlechtere, ärmere und gefährlichere Welt ist.24
In seinem Beitrag wendet sich der schwedische Schriftsteller einem anderen Text Brechts zu, dem 1930 veröffentlichten Gedicht Die Nachtlager, das er im Hinblick auf die politische Lage in der Welt für aktuell hält. Brecht, schreibt er, stellt die Frage nach dem Preis des menschlichen Handelns und des Egoismus, der Hilfsbereitschaft und der Moral. »In der ungerechten Welt ist das menschliche Handeln ein moralischer Gewinn, wenn wir nur und immer wieder an der großen Veränderung festhalten. Die radikale gesellschaftliche Kritik bringt ihrerseits den politischen Gewinn, solange die Menschen imstande sind nur und immer wieder
23 Brecht, Bertolt: Der Zweifler. URL: https://www.deutschelyrik.de/der-zweifler.html / letzter Zugriff am 14. 6. 2022. 24 Jönsson, Dan: Hur handlar man. Bertolt Brechts und tvivlets politik. In: Fallet Brecht. Konst och samhällsengagemang, S. 63.
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das Notwendige in der Haltung des Nächsten zu sehen«25 interpretiert der Autor die Schlussworte des Gedichtes und hebt den doppelten Blick und die dialektische Wendung im Verhalten des Zweiflers heraus. In der Zeitschrift »10 TAL« werden nicht nur Aussagen der Kritiker zitiert. Es werden auch Gedichte schwedischer Poeten publiziert, die unter dem Einfluss der Poesie von Brecht entstanden sind. In Anlehnung an das ins Schwedische übersetzte Gedicht An die Gleichgeschalteten schrieben zwei Dichterinnen, die Dänin Maja Lee Langvad und die Schwedin Helena Boberg, das Gedicht Från dem som rättat sig i ledet (Von denen, die sich an die Linie angepasst haben), in dem sie das Thema der passiven Haltung der Künstler und ihres Verzichtes auf die Kritik an den gegenwärtigen Zuständen kritisch reflektieren und zur Diskussion stellen. In mehreren Strophen klagen die Autorinnen den Status der Dichter in der Zeit der Markwirtschaft an, die die Schreibenden von den Marktgesetzen, kommerzieller Politik der Verleger und der Massenmedien abhängig macht und zum Schweigen zwingt. In der Zeitschrift werden außerdem Besprechungen der dokumentarischen Filme, deren Bildsprache viel Gemeinsames mit der Sprache Brechts hat, auch die ersten schwedischen Übersetzungen des Exilgedichtes Brechts An den Schwankenden und des Essays von Hannah Arendt Poetens Brechts mörka tider (Die dunkle Zeit des Dichters Brecht).26 In dem von John Swedenmark verfassten Essay Vårt behov av Brecht (Unser Bedürfnis nach Brecht) werden die Sprache und die Form der Brechtschen Lyrik am Beispiel des Gedichtes Schlechte Zeit für die Lyrik und im Zusammenhang mit den von Brechts inspirierten Dichtungen der schwedischen Autoren Göran Greider, Johanna Anyurus und Johan Jönson genau analysiert. Man merkt, dass die jungen Poeten die Exilgedichte Brechts nicht historisch, sondern subjektiv und aus eigener Erfahrung deuten. Die geben auch Antworten auf die in der Debatte über Brecht aufgenommenen Fragen und weisen auf das Aktuelle, Experimentelle und Avantgardistische in seiner Lyrik hin. Sie sind sich dessen bewusst, dass man heute über bestimmte Probleme nicht offen spricht und dass das politische Engagement der gegenwärtigen Künstler anders als in Zeiten Brechts verstanden wird. Für die gegenwärtige Rezeption von Gedichten Brechts in Schweden ist eine produktive Aneignung seines poetischen Vermächtnisses wichtig. Die im Jahre 2015 durchgeführte Diskussion zu diesem Thema gab den schwedischen Dichtern Gelegenheit, einen Beitrag zur Aufnahme der Lyrik des deutschen Autors im 21. Jahrhundert zu leisten, die Gedichte in den Bereich der nützlichen Kommunikation zurückzuführen und sie als Analogie zur Gegenwart zu lesen. 25 Ebd. 26 Der Essay wurde zuerst in der Zeitschrift »The New Yorker« am 5. November 1966 publiziert. Annika Ruth Persson hat den Essay aus dem Englischen ins Schwedische übersetzt.
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Bertolt Brecht im Stück Sternfall von Lars Kleberg Das von dem emeritierten schwedischen Professor für Russisch und dem Übersetzer Lars Kleberg verfasste Stück Stjärnfall (Sternfall) verdient eine besondere Aufmerksamkeit. Es ist ein Text, der die Theaterprojekte Bertolt Brechts und seine Kunstauffassung aus verschiedenen Perspektiven darstellt, und sie mit den Theater- und Kunstvisionen der russischen Film- und Theaterregisseure Sergei Michailowitsch Eisenstein und Wsewolod Emiljewitsch Meyerhold zusammenstellt und vergleicht. Es handelt sich um ein Triptychon, das in drei Bildern Begegnungen und Gespräche zwischen russischen Künstlern und Brecht vorführt, das Dokumentarische mit Fiktionen vermischt und die Frage nach der praktischen Theaterarbeit, künstlerischen Gestaltung und Kommunikation zur Diskussion stellt. Das erste Bild Die Wassermänner zeigt Brecht und Eisenstein im Gespräch und spielt im Mai 1932.27 Beide reisen im selben Nachtzug von Berlin nach Moskau und unterhalten sich über ihre künstlerischen Pläne. Brecht begibt sich nach Moskau, um an der Premiere des Filmes Kuhle Wampe oder: Wem gehört die Welt?28 teilzunehmen. Der Film wurde zensiert und in Deutschland verboten, Brecht ist aber guten Mutes und hofft auf dessen positive Aufnahme durch die sowjetischen Kritiker. Im Gespräch mit Eisenstein spricht er von einer neuen experimentellen Filmtechnik, der kontrastiven Bild-Ton-Montage, die den Zuschauer schockieren, verwirren und dadurch zum Nachdenken bringen soll. Eisenstein, der mit den neuen Materialien und Techniken schon früher als Brecht begonnen hat, begründet seine Konzeption eines proletkultischen MontageTheaters mit der Aufgabe, auf den Zuschauer ideologisch einzuwirken. Brecht, der Eisensteins berühmten, 1925 gedrehten Film Panzerkreuzer Potemkin gesehen hat, meint jedoch, dass das Pathetische am Werk dem Zuschauer nicht dazu verhilft, sich zu ändern. »Ihre Methode, unterstreicht er, versetzt ihn in die Welt der revolutionären Utopien und macht aus ihm keinen Revolutionär.«29 Damit folgt der deutsche Dramatiker seinem Aristoteles-kritischen Programm, eben nicht durch Zeigen von Mitleid und Furcht erregenden Vorgängen eine Katharsis herbeizuführen, sondern den Zuschauer durch Ungereimtheiten zum Nachdenken zu bringen. 27 Tatsächlich haben sich Brecht und Eisenstein im Nachtzug von Berlin nach Moskau vom 8. auf den 9. Mai getroffen. 28 Der Film, an dessen Erstellung B. Brecht als Drehbuchautor wirkte, gehörte zur Gattung des »proletarischen Films« und war eine Mischung aus Spiel- Dokumentar- und Propagandafilm. Die Handlung spielt anfangs der 30er Jahre in Berlin und schildert die Schicksale einer Berliner Arbeiterfamilie in der Zeit der Wirtschaftskrise. Die Uraufführung fand am 14. Mai 1932 in Moskau vor einem ausgewählten Publikum statt. Erst am 30. Mai hat man den Film in Berlin, im Filmtheater »Atrium« gezeigt. Von Bedeutung ist die Verwendung von V-Effekten im Film. 29 Kleberg, Lars: Stjärnfall: en tryptyk. Stockholm: Brutus Östlings bok Symposion 2011, S. 11.
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Im Verlauf der Reise erzählt Eisenstein von seinem kurzen Aufenthalt in Mexiko und in den USA, dem Kontakt mit Upton Sinclair, und den bedauerlicherweise eingestellten Dreharbeiten. Sinclair gelingt zwar Gelder für die Produktion eines teilweise dramatisierten Dokumentarfilmes über Mexiko – es handelt sich um den Film Que Viva Mexico – zu sammeln, die Arbeit wird jedoch unterbrochen, weil Stalin verlangt, dass Eisenstein in die Sowjetunion zurückkehrt. Im Gespräch zwischen Brecht und Eisenstein wird nun das Problem der künstlerischen Freiheit, der Zensur und der Emigration aufgegriffen und diskutiert. Eisenstein führt dabei erkennbare oder verdeckte, bewusst verzerrte Zitate aus dem Roman von Ulysses, aus den amerikanischen Musicals und anderen, wenig bekannten Texten an. Einige Passagen im Triptychon sind parodistisch und ironisch konzipiert, z. B. Fragmente, wo Eisenstein die Herkunft seines und Brechts Namens erklärt30 und sich über die Architektur der russischen Avantgarde, Lenins Mausoleum und Tatlins Turmprojekt31 spöttisch äußert, auch dort, wo er das Interesse der Filmemacher für die Magie und Alchemie lobt und die Schriften des französischen Autors, Regisseurs und Schauspielers Antonin Artaud kommentiert. Anfangs scheint Eisenstein eine führende Rolle im Gespräch mit Brecht zu spielen. Er stellt sich auch als derjenige vor, der genauso wie Brecht und der Regisseur Meyerhold im Sternzeichen Wassermann geboren ist und an bestimmte Charaktereigenschaften dieser Menschen glaubt. »Unsere Wege – sagt er zu Brecht – kreuzen sich gerade jetzt, wir sind im Jesus Alter, in der ›Hälfte des Lebens‹[…] und die größte Gefahr, die uns droht, wenn wir etwas erreichen wollen, ist, über die unvollständige Brücke zu gehen.«32 Im Verlauf der Handlung wird hauptsächlich über die Rolle der Kunst und die wissenschaftliche und ideologisch-politische Strömung im Marxismus gesprochen. Eisenstein greift das Thema der Prozesse auf, die die römisch-katholische Kirche gegen die Wissenschaftler im 16. Jahrhundert führte. Es ist die Rede von dem Philosophen und Astronomen Giordano Bruno, der sich als eine Schlüsselfigur im Stück erweist und die beiden Regisseure in einem Projekt vereint. Eisenstein schlägt Brecht vor, eine Oper über das Leben und Werk Brunos zu schreiben, sie gemeinsam zu inszenieren und im Moskauer Planetarium aufzuführen. Brecht hält den Vorschlag für interessant und sieht im Projekt die Möglichkeit die neuen künstlerischen Mittel und Techniken zu erproben. 30 Mein Name, sagt Eisenstein ist alchemistisch, Sie tragen einen mechanischen Namen; Brecht – derjenige, der bricht. Siehe: Kleberg, Lars: Stjärnfall, S. 15. 31 Das Monument der Dritten Internationale, oft nur als Tatlin-Turm bezeichnet, war ein 400 m hohes Turmprojekt des russischen Künstlers Wladimir Tatlin, von dem nur ein Modell umgesetzt wurde. Das Modell wurde zwischen März und November 1920 in Petrograd erbaut und anschließend der Öffentlichkeit präsentiert. 32 Kleberg, Lars: Stjärnfall, S. 19.
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Das Stück über Giordano Bruno soll die Grenzen dort setzen, wo sie nicht existiert haben […]. Es geht nicht um die Tautologie, sondern um die Fragen. Der Chor erzählt, die Figur demonstriert etwas, die Musik kommentiert die Ereignisse. Verschiedene Elemente der Welt werden für den Zuschauer zugänglich auf die gleiche Art und Weise, wie sie damals dank der Messarbeiten der Mathematiker und Astronomen zugänglich geworden sind.33
Die tragische Biographie Brunos und sein Werk beschäftigen die Beiden bis zum Ende der gemeinsamen Reise. Das Stück endet mit Worten, die der Astronom kurz vor der Verbrennung am Scheiterhaufen zu den Richtern sagt: »Unser Dialog tritt in die Ewigkeit hinüber.«34 Somit trennen sich die Wege der beiden Regisseure und von gemeinsamen Plänen ist nicht viel übrig geblieben. Brecht war ein großer Verehrer von Giordano Bruno, den er im Gegensatz zu Galilei, »wegen seiner mutigen Haltung gegenüber der Inquisition« als Helden der Wissenschaft ansah. Auch in Brechts Stück Leben des Galilei wird Giordano Bruno mehrfach erwähnt, zunächst aber als »der Verbrannte« in der Erzählung Der Mantel des Ketzers. Der Prosatext entstand in der gleichen Zeit wie die Erstfassung des Stückes Leben des Galilei im dänischen Exil. Brecht erscheint auch im zweiten Teil des Triptychons (Die Lehrlinge des Zauberers), tritt aber nur als Nebenfigur auf. Die Handlung spielt drei Jahre später in Moskau. Diesmal begegnet er Piscator und Gordon Craig, aber auch den russischen Regisseuren Stanislawski, Meyerhold, Tairow, Eisenstein, dem Moskauer Theaterintendanten Niemorowicz-Danczenko, dem Dramatiker und Publizisten Tretjakow und dem schwedischen Filmregisseur Alf Sjöberg. Alle versammeln sich am 14. April 1935 im Konferenzsaal des Kulturverbandes für Zusammenarbeit mit dem Ausland, um über ihre Theaterprojekte unter dem Eindruck der Kunst von Mei Lanfang, dem Star der Peking-Oper35, zu diskutieren. Brecht ergreift zweimal das Wort und wird von Eisenstein heftig kritisiert. Brechts Monolog vermittelt seine Theatervision und sein Programm, das sich mit der Kunst des chinesischen Schauspielers nicht vereinbaren lässt. Die Magie des chinesischen Theaters, die auf den Zuschauer wie eine Hypnose wirkt, belehrt ihn nicht, sondern »verzaubert« und versetzt ihn in eine andere Welt. Brecht hält das Spiel von Mei Lanfang für ein Relikt der Vergangenheit, schätzt jedoch die Attribute des chinesischen Theaters: Masken, Gesten, Dekorationen, die sich für 33 Ebd., S. 24. 34 Ebd., S. 29. 35 Mei Lanfang (1894–1961) war einer der berühmtesten Peking-Oper Darsteller. Seine Kunst – er spielte auf der Bühne nur weibliche Rollen – begeisterte in den zwanziger und dreißiger Jahren die ganze Welt. Auf Empfehlung ihres Freundes Tretjakow haben Brecht und Piscator die Aufführung Meis besucht und das Stück Die Rache des Fischers gesehen. Zum ersten Mal erlebte Brecht traditionelles chinesisches Theater auf der Bühne. Das Stück kommt ganz ohne Bühnenbild aus, es ist ein Spiel nur aus Bewegungen und Gesten und Musik.
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das epische Theater als nützlich erweisen und die Kunst des Zuschauens üben. »Das chinesische Theater schlägt nützliche Reinigung der Sinne. Es wird kein Druck auf die Bildung der Illusion gemacht, man zeigt die technische Seite des Theaters, aber nicht unanständig und nicht egozentrisch, wie es die Experimentbühnen im Westen tun.«36 Brecht fügt noch hinzu noch einen anderen Aspekt der chinesischen Schauspielkunst hervor. Der Zuschauer erfährt, wie der Schauspieler auf der Bühne eine »dreifache Rolle« spielt. Unterstützt wird diese Erkenntnis zusätzlich durch die »Stimme«, den »Wechsel der Kleidung« und das Anlegen der »Maske«, die die Veränderung unübersehbar machen. Eine Identifikation mit der Rolle ist somit nicht mehr möglich, da sie nun die Persönlichkeit in drei Personen spaltet. Die erste zeigt etwas, die zwei anderen werden gezeigt. Auf diese Art und Weise kann der Schauspieler das Handeln der gespielten Personen und seine eigene Rolle beäugen. »Das chinesische Theater kann uns etwas lehren; die Dinge, die wir für gewöhnlich halten, können wir mit Erstaunen beobachten.«37 Zuletzt werden von Brecht zwei Begriffe, die »Verfremdung« und die »Freiheit« genannt und erklärt. Der Verfremdungseffekt, dem er viel Beachtung schenkt und der im chinesischen Theater Verwendung gefunden hat, war für ihn die Anregung für seine Schauspielkunst. Das Gefühl der Freiheit und der Überraschung kann – meint er – den Zuschauer ansprechen, weil es ihm erlaubt, die soziale Unfreiheit zu erkennen. Sowohl in der durch den V-Effekt geschaffenen Distanz als auch in der Überraschung gibt es Raum für die kritische Haltung des Publikums, sie setzt jedoch voraus, dass es dialektisch denkt. Eisenstein wirft Brecht in der Polemik vor, dass sein antiaristotelisches Theater ein absurder Einfall und ein misslungenes Experiment sei, das das Wesen des chinesischen Theaters zerstöre und es in ein geistloses Ding verwandle. Für den russischen Regisseur ist die Sprache jedes Kunstwerkes mit ihren Bedeutungen und Assoziationen sehr wichtig und niemand kann sich von ihr befreien; sie ist für die Russen, Chinesen und andere Völker die Schatzkammer des kollektiven Gedächtnisses. Eisenstein kritisiert auch den V-Effekt, der eine Distanz zum Geschehen auf der Bühne schafft, und stellt ihm die »magischen« Ausdrucksmittel entgegen, die seiner Meinung nach die Wirkung des Kampfes um das Recht und den Fortschritt verstärken. Brecht lehnt die Vorwürfe ab und beteuert vor den Konferenzteilnehmern, dass sein Kollege unter dem Symptom der Synthese leidet; er sehnt sich nach dem kultischen Ursprung der Kunst, von dem das moderne Theater Abstand hält. Für Brecht zählen nur Distanz, Unterschiede und Gegensätze und nicht die übergreifende, universale Synthese.
36 Kleberg, Lars: Stjärnfall, S. 50. 37 Ebd., S. 51.
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Lars Klebergs Triptychon Stjärnefall ist ein Text, der die Merkmale mehrerer Gattungen vereint. Es enthält Elemente des dialogisierten Essays und es knüpft mit seiner Ironie und seinem Humor an die dramatische Kunst der berühmten Komödiendichter, Aristophanes oder Diderot, die die Gefühle der Menschen und ihre Leidenschaften mit Präzision und Leichtigkeit zu schildern wussten, an. Kleberg stellt in seinem Stück wirkliche und erfundene Situationen und Begegnungen dar. Das Gespräch zwischen Brecht und Eisenstein ist von dem Autor erfunden, obwohl es auf die Fakten zurückgreift. Selbst die Moskauer Konferenz, an der sich bedeutende Persönlichkeiten des russischen, deutschen, englischen und schwedischen Theaters beteiligen, ist eine fiktive Konstruktion, die Debatte jedoch und die Meinungsverschiedenheiten zwischen Repräsentanten der Avantgarde und der sowjetischen politischen Ideologie geben die geistige Atmosphäre der damaligen Zeit getreu wieder. Man streitet über die ästhetische und ideologische Funktion des Theaters und seine Verantwortung für die Gesellschaft und das Publikum. Brecht wird von Kleberg als Theoretiker des epischen Theaters, Verteidiger der diskursiven, offenen und rationalen Tradition in der dramatischen Kunst, und als Autor von politischen Dramen und Lehrstücken dargestellt. Eisenstein, der von der Alchemie, Mystik und Kabbala fasziniert ist und von der Synthese des Kunst, Wissenschaft und Politik träumt, scheint das Gegenteil von Brecht zu sein. Theorien und Weltanschauungen der beiden stellen Gegensätze heraus. Eisenstein glaubt an die Biologie, Brecht an die Geschichte, Eisenstein vertritt die Meinung, dass das Publikum und die Bühne eins sind, Brecht empfiehlt die Kritik, Vernunft und Distanz, schließlich aber streben die beiden nach Macht und Dominanz. Die Gegensätze ziehen sich an. Kleberg zeigt, dass die Grenzen zwischen Ästhetik und Politik, zwischen der Sprache auf der Bühne und Reaktionen des Publikums fließend sind. Die Debatte über das moderne Theater gibt keine Antwort auf die Frage, welche von den vorgetragenen theoretischen Projekten und Visionen die Zuschauer verändern können so dass sie als bewusste und denkende Subjekte aktiv und verantwortungsvoll handeln.
Literatur Brecht, Bertolt: An die Gleichgeschalteten. URL: https://lyricstranslate.com/de/bertolt-b recht-die-gleichgeschalteten-lyrics.html / letzter Zugriff am 14. 6. 2022. Brecht, Bertolt: Der Zweifler. URL: https://www.deutschelyrik.de/der-zweifler.html / letzter Zugriff am 14. 6. 2022. Grive, Madeleine: Poeten och politiken. In: Fallet Brecht. Konst och samhällsengagemang, »10 TAL«, 19, 2015.
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Helmut Müssener: Von Bert Brecht bis Peter Weiss: Die kulturelle deutschsprachige Emigration nach Schweden 1933–1945. München: Hanser 1974. Jönsson, Dan: Hur handlar man. Bertolt Brechts und tvivlets politik. In: Fallet Brecht. Konst och samhällsengagemang, »10 TAL«, 19, 2015. Kleberg, Lars: Stjärnfall: en tryptyk. Stockholm: Brutus Östlings bok Symposion 2011. Lo-Johansson, Ivan: Till en författare. Stockholm: Albert Bönniers Förlag 2015. Sauter, Willmar: Brecht i Sverige. Stockholm: Akademilitt 1978. Zorn, Leif: Att vända på blicken. In: Fallet Brecht. Konst och samhällsengagemang, »10 TAL«, 19, 2015.
Nina Nowara-Matusik (Katowice)
Der verfremdete Brecht. Zu Eberhard Hilschers Umgang mit dem Stückeschreiber
Die gedankliche Parallelisierung Bertolt Brechts und Eberhard Hilschers mag auf den ersten Blick verstörend, wenn nicht gerade verfremdend wirken, gehört ja der Erstgenannte zum Bildungskanon und zur Weltliteratur, während der Zweite nach wie vor eher germanistischen Insidern und regionalinteressierten Literaturforschern bekannt ist. Dieser hier anvisierte Konnex hat aber durchaus seine Begründung. Er ergibt sich nämlich erstens aus der Erkenntnis, dass es sich im Falle der beiden Autoren ganz allgemein und grob gesagt um Repräsentanten der ostdeutschen Literaturlandschaft bzw. DDR-Dichter handelt. Auch wenn sie alles andere als eine linientreue und parteikonforme Literatur lieferten, sind die beiden Schriftsteller literaturgeschichtlich unumgänglich auch mit diesem nicht mehr existenten Staat und politischen System verbunden, und daher besonders dazu prädestiniert, ihr Schaffen im Kontext eines weit aufgefassten Systemkonfliktes zu erforschen. Zweitens sind hierbei auch genuin literaturwissenschaftliche Aspekte ausschlaggebend: Der im heutigen polnischen S´wiebodzin (Schwiebus) 1927 geborene und 2005 in Berlin verstorbene Eberhard Hilscher war nämlich nicht nur Romancier und Lyriker, sondern auch studierter Pädagoge und Germanist, der sich mit Bertolt Brechts Dramen und Theaterpraxis in einigen Rezensionen und wissenschaftlichen Abhandlungen auseinandergesetzt hat.1 Brechts Ästhetik der Verfremdung sind jedoch allen voran Hilschers modernistische Romane verpflichtet, angefangen mit dem skurrilabenteuerlichen Walther-Roman (Der Morgenstern oder vier Verwandlungen eines Mannes, Walther von der Vogelweide genannt, 1976), über den zweiteiligen Epochenroman Die Weltzeituhr (1983), bis hin zu dem postmodernen und metareflexiven Künstler-, Abenteuer-, und Liebesroman Venus bezwingt den Vulkan (1991). Eine eigenartige Hommage an Brecht stellt schließlich auch eine 1 Und auch in seinem nun nicht mehr gesperrten Tagebuch, das sicherlich interessante Einblicke in seine Brecht-Rezeption gewähren würde; aufgrund ihres Umfangs (Hilscher führte sein Tagebuch lebenslang und mit verblüffender Ausdauer) bedürfte jedoch Hilschers Chronik einer separaten Untersuchung.
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Hilschersche Romanfigur dar: Bert Möglich, die Hauptfigur von Glücksspieler und Spielverderber, dem postum erschienenen (2008), zweiten Teil der Weltzeituhr, trägt nicht nur einen in diesem Sinne sprechenden Namen, sondern bewegt sich auch in einer narrativ wie thematisch verfremdeten Welt. Von besonderem Interesse ist aber im Kontext des Rahmenthemas des Sammelbandes die Figur Bertolt Brecht selbst, die Hilscher in einem Kapitel der Weltzeituhr auftreten lässt und an deren Beispiel er die Problematik der Verstrickung des Künstlers und Intellektuellen in einen Systemkonflikt diskutiert.2 Folgt man Klaus Jürgen Gantzel und Torsten Schwinghammer, laut denen Gegenstand der Systemkonflikte das gesamtgesellschaftliche System, die Gesellschaftsordnung eines Landes oder zumindest eines so wesentlichen Teils von ihr (politisch-administratives System, Sozialund Wirtschaftssystem, ideologisches und kulturelles System) [sei], daß dessen Änderung erhebliche Auswirkungen auf die gesamte Gesellschaftsordnung hat3,
so lässt sich der so verstandene Begriff des Systemkonfliktes ebenfalls auf Eberhard Hilscher als Vertreter eines kulturellen Systems applizieren, einen Autor, dessen ideologische und politische Haltung wohl am besten unter die Formel »zwischen Anpassung und innerem Widerstand«4 subsumiert werden kann. Hilschers Die Weltzeituhr, sein Opus magnum, das ihm den Weg in einige Literaturgeschichten der DDR geebnet hat, erschien ursprünglich 1983 im Ostberliner Verlag Der Morgen, um nach der Wende als »Ausgabe letzter Hand« von dem Mitteldeutschen Verlag in Halle neu entdeckt und 2017 wieder aufgelegt zu werden. Ein nur kursorischer Vergleich der beiden Fassungen des Buches macht deutlich, wie stark die Zensur in dem Roman wütete; eine vertiefte Analyse der Zensureingriffe ist jedoch nach wie vor ein Desiderat der Forschung. Um aber die ursprünglich intendierte Wirkungsabsicht des Werkes möglichst getreu zu rekonstruieren, will ich mich in meinen nachfolgenden Ausführungen gerade auf die »Ausgabe letzter Hand« beziehen, wobei die Zensureingriffe nur signalisiert und nicht eingehender analysiert werden sollen. Die Weltzeituhr trägt den Untertitel Roman einer Epoche – als eine Epoche wird hier die Zeitspanne zwischen 1927 und 1962 verstanden. Die Eckdaten verbinden die individuelle Lebensgeschichte der Hauptfigur Guido Möglich (seine Geburt in Paradies, einer Kleinstadt im Osten Deutschlands) mit der 2 Brecht erscheint noch in einer anderen Episode des Romans, diesmal aber als eine Nebenfigur: In der Buchhandlung von Guido Möglich informiert er sich nämlich über die vorhandene Literatur zu Albert Einstein, über den er ein Theaterstück verfassen will. 3 Gantzel, Klaus Jürgen, Schwinghammer, Torsten: Die Kriege nach dem Zweiten Weltkrieg 1945 bis 1992: Daten und Tendenzen. Münster: LIT Verlag 1995, S. 44. 4 Die ich dem Titel der Monographie von Volker Österreich entnommen habe. Siehe hierzu: Österreich, Volker: Zwischen Anpassung und innerem Widerstand. Die literarischen Koordinaten des DDR-Schriftstellers Eberhard Hilscher. Heidelberg: Morio Verlag 2021.
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Weltgeschichte, deren symbolisches Ende mit dem Bau der Berliner Mauer zusammenfällt. Guidos Verstrickung in die Weltgeschichte, seine eigenartige Zeitanfälligkeit, die ihn krank macht und schlussendlich um den Verstand bringt, ist aber nur ein thematischer Teilaspekt des Romans, der kompositorisch dem Prinzip der Simultaneität und einer narrativen Polyphonie verpflichtet ist. Im Großen und Ganzen lassen sich hier drei Handlungsstränge unterscheiden, die in einem reziproken Verhältnis zueinander stehen und sich gegenseitig spiegelbildlich beleuchten: 1. Episoden aus dem Leben von Guido, 2. journalistisch zugespitzte Meldungen über Umbruchereignisse aus dem Weltgeschehen, 3. sog. Genie-Kapitel, also miniaturartige Einblicke in das private und öffentliche Leben bedeutender Persönlichkeiten, darunter Künstler, Forscher und Entdecker wie Albert Einstein, Thomas Mann und schließlich Bertolt Brecht. Das Brecht gewidmete Kapitel der Weltzeituhr trägt nun den an sich schon vielsprechenden Titel Ansichten eines Mannes von hohem Geistesflug, wobei der Stückeschreiber selbst in das Romangeschehen unter dem Decknamen Kin-jeh eingeführt wird. Hilscher lässt Brecht in einem für die DDR-Geschichte markanten Moment auftreten, der für einen im Ostdeutschland lebenden Künstler nicht ohne Bedeutung ist und eine Art Entscheidungsmoment darstellt: Es handelt sich nämlich um den Ostberliner Arbeiteraufstand vom 17. Juni 1953, dessen Zeuge Hilscher eher zufällig gewesen sein sollte.5 Bertolt Brecht reagierte bekanntlich auf den Aufstand zwiespältig: einerseits mit einer Solidaritätsdresse an Walther Ulbricht, andererseits mit dem regierungskritisch-boshaften Gedicht Die Lösung. Darüber hinaus wollte er seine Mitarbeiter im Berliner Rundfunk auftreten lassen, was allerdings ohne Echo seitens der Behörden blieb. Und von seinem Verständnis für die protestierenden Arbeiter berichtete er brieflich seinem Verleger Peter Suhrkamp.6 Es lässt sich also sagen, dass Hilscher hier am Beispiel Brecht in einer miniaturartig zugespitzten Form einen Systemkonflikt in nuce vorführt, der seine Dynamik aus dem Zusammenstoß des politischen und künstlerischen Systems schöpft, bei dem die grundsätzliche Frage der öffentlichen Verantwortung eines schöpferischen Individuums als zentral anzusehen ist, gemäß der Annahme, dass »in dem Systemgeschehen des menschlichen Verhaltens […] verschiedenartigste Einflußgrößen zusammen[wirken]: Merkmale
5 So behauptet zumindest Volker Österreich, der sich dabei auf einen Tagebucheintrag Hilschers bezieht. Vgl. Österreich, Volker: Zwischen Anpassung und innerem Widerstand, S. 31. 6 Siehe hierzu Wizisla, Erdmut: Der 17. Juni 1953, die Akademie und Brecht. URL: https:// www.adk.de/de/akademie/325/index.htm?we_objectID=62602. Letzter Zugriff am 14. 11. 2021, sowie die Webseite: http://www.17juni53.de/material/prosa_1.html / Letzter Zugriff am 14. 11. 2021.
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und Tendenzen der Individuen ebenso wie die Möglichkeiten, Anforderungen und Zwänge der Umwelt.«7 Auf der inhaltlichen Ebene des Romans porträtiert Hilscher den Stückeschreiber im Einklang mit der öffentlichen Überlieferung, indem er ihn u. a. das Folgende sagen lässt: »Ich glaube, nach der Korrektur durch führende Genossen braucht’s keine Kraftmeierei, sondern eine freimütige Aussprache, bei der auch die Künstler ein Wörtchen mitreden sollten.«8 Es handelt sich anscheinend um eine Paraphrase des folgenden Brechtschen Satzes: »Die große Aussprache mit den Massen über das Tempo des sozialistischen Aufbaus wird zu einer Sichtung und zu einer Sicherung der sozialistischen Errungenschaften führen.«9, einer Passage aus der Solidaritätsadresse an Ulbricht also, die in der Tageszeitung »Neues Deutschland«, die Brechts Bekenntnis publizierte, gerade nicht abgedruckt wurde. In einem weiteren Schritt, der den Zusammenprall des Politischen und Künstlerischen augenscheinlich zum Ausdruck bringt, lässt Hilscher die BrechtFigur folgende Ereignisse auf den Berliner Straßen beobachten: Er gewahrte da viel werktätiges Volk mit sympathischen, etwas ratlosen Gesichtern, Arbeiter und Arbeiterinnen, die in Kolonnen hinter strammen Anführern und deren verworrenen, aufwiegelnden Losungen über die Fahrbahn trotteten. Er bemerkte das Fehlen von Organisation und kollektiver Weisheit bei den marschierenden Maurern, Installateuren, Malern und Zimmermännern, unter die sich immer mehr brutale Gestalten mischten. (WZU 291–292)10
Diese Passage scheint wiederum durch Brechts Brief an Suhrkamp inspiriert zu sein, in dem u. a. das Folgende zu lesen ist: Die Straße freilich mischte die Züge der Arbeiter und Arbeiterinnen schon in den frühen Morgenstunden des 17. Juni auf groteske Art mit allerlei deklassierten Jugendlichen, die durch das Brandenburger Tor, über den Potsdamer Platz, auf der Warschauer Brücke kolonnenweise eingeschleust wurden, aber auch mit den scharfen brutalen Gestalten
7 Böcher, Wolfgang: Selbstorganisation, Verantwortung, Gesellschaft: Von subatomaren Strukturen zu politischen Zukunftsvisionen. Opladen: Springer Verlag 2013, S. 397. 8 Hilscher, Eberhard: Die Weltzeituhr. Roman einer Epoche. Halle (Saale): Mitteldeutscher Verlag 2017, S. 288. – im laufenden Text (WZU Seite). 9 Berg, Günther / Jeske, Wolfgang: Bertolt Brecht. Stuttgart, Weimar: Springer Verlag 2017, S. 62. 10 In der DDR-Fassung der Weltzeituhr endet die Passage nicht mit einem Punkt, sondern mit einer Komma, nach der noch der folgende Satzteil folgt: »die sich in der Nazizeit nicht mehr derart haufenweise hervorgewagt hatten.« Hilscher, Eberhard: Die Weltzeituhr. Roman einer Epoche. Berlin: Buchverlag Der Morgen 1983, S. 270. In dem mir zur Verfügung stehenden Exemplar des Romans, einem der wenigen Exemplare, in denen Hilscher die Eingriffe der Zensur durch eingeklebte Zetteln und Streichungen markiert hatte, wurde diese Stelle mit einem schwarzen Stift übertüncht.
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der Nazizeit, den Hiesigen, die man seit Jahren nicht mehr im Haufen hatte auftreten sehen und die doch immer dagewesen waren.11
Ähnlich wie in anderen Genie-Kapiteln der Weltzeituhr vermeidet hier aber Hilscher ein dokumentarisierendes bzw. historisierendes Erzählen, um sich mit Vorliebe einer narrativen Verfremdungsstrategie zu bedienen, die mit Brechts Verfremdungseffekt beinahe wesensverwandt ist. Brechts Definition der Verfremdung lautet bekanntlich folgendermaßen: Die neuere Dramatik benutzt, besonders wenn sie es mit großen Gegenständen zu tun hat, die vom Standpunkt des einzelnen aus nicht mehr überblickbar wären, anstelle der Einfühlung als Basis des »Kunsterlebnisses« die Verfremdung. Den Situationen, Charakteren, Äußerungen und Aktionen wird durch eine bestimmte Art der Darstellung der Anschein des Selbstverständlichen, der natürlichen Gegebenheit, des »so ist es und kann nicht anders sein« weggenommen, sie werden »auffällig«, strittig, historisch gemacht, und zwar dem Gefühl nicht weniger als dem Verstand.12
Brecht zufolge ist also die Verfremdung durch den Einsatz bestimmter Darstellungsmethoden bzw. Kunstgriffe zu erreichen, die den dargestellten Gegenstand in einem mehrfach gebrochenen Licht erscheinen lassen und so das Sich-HineinVersetzen des Lesers/Zuschauers in eben diesen Gegenstand unmöglich machen. Eine ähnliche Auslegung des Brechtschen V-Effekts findet sich in einem literaturwissenschaftlichen Beitrag Hilschers: Es ging dem Dichter darum, sein Publikum durch seine Verse und Theaterstücke aufzureizen, während des Spiels die Kritik wachzuhalten, jede gefühlsmäßige Ergriffenheit zu vermeiden. Deshalb schaltete er grelle, derb-bänkelsängerhafte Songs ein, arbeitete mit scharfen Kontrasten, bediente sich einer eigenwilligen kraftvollen, deshalb nicht unpoetischen »Tatsachensprache«, legte es darauf an, zu schockieren und bei bürgerlicher Biederkeit Anstoß zu erregen.13
Interessanterweise ist es gerade die Sprache, die als ein Werkzeug eines verfremdenden Kunstverfahrens Hilschers besonderes Interesse weckt; dies ist vor allem einer anderen Episode der Weltzeituhr zu entnehmen, in der Guido Möglich bei einem Theaterbesuch im Berliner Ensemble die Mutter seines künftigen Sohnes Bert kennenlernt und es nicht unterlassen kann, sie über die Bedeutung des gerade Dargestellten zu belehren. Gespielt wird nämlich Der gute Mensch von Sezuan, zu dem sich Guido wie folgt äußert: 11 Knopf, Jan (Hg.): Brecht-Handbuch. Band 2. Gedichte. Stuttgart, Weimar: Springer 2016, S. 44. 12 Brecht, Bertolt: Schriften 2. Schriften 1933–1942. Bearbeitet von Inge Gellert und Werner Hecht unter Mitarbeit von Marianne Conrad, Sigmar Gerund und Benno Slupianek. Zwei Teilbände. Teilband 2. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1993, S. 270. (Hervorh. i.O.) 13 Hilscher, Eberhard: Der Dichter, Journal- und Briefschreiber Bertolt Brecht. In: Hilscher, Eberhard: Dichtung und Gedanken. 30 Essays von Goethe bis Einstein. Stuttgart: Heinz 2000, S. 225–242, hier S. 225.
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»Fällt Ihnen auch auf, dass die Darsteller fast alle in Gänsefüßchen reden und die Worte gleichsam auf Händen tragen?« »Mag sein«, sagt das Mädchen. »Ich meine, die Sprechenden nehmen die Sprache gewissermaßen aus dem Mund wie ein Gebiss und zeigen Buchstäbliches vor wie Zähne. Raffiniert und appetitlich, nicht wahr?« (WZU 355).
Eine ähnliche poetische Strategie, in der die Hervorhebung der sprachlichen wie artistischen Darstellungsmittel eine nicht unbedeutende Rolle spielt, entwickelt Hilscher gerade in dem hier zur Analyse stehenden Brecht-Kapitel. Eröffnet wird die Brecht-Miniatur mit dem folgenden Satz: »Am Dienstagnachmittag chauffierte der Stückeschreiber und Weisheitsfreund Kin-jeh, dessen umsichtig-verwegene Fahrweise die Kenner bewunderten, von seinem Landhaus in der Märkischen Schweiz nach Berlin.« (WZU 285). Dass Brecht gerade im Moment einer fortdauernden Bewegung, jenseits also der Möglichkeit einer wortwörtlichen wie metaphorischen Festnagelung, dargestellt wird, ist nicht zufällig, ähnlich wie das sich bereits an dieser Textstelle abzeichnende rhetorische Dopplungsprinzip, welches zur Charakterisierung Brechts und seines Idioms immer wieder herangezogen wird. Hilscher scheint sich nämlich nicht damit zu begnügen, den Dichter einfach als »Stückeschreiber« zu bezeichnen; er apostrophiert ihn ebenfalls als »Weisheitsfreund«, der zusätzlich auch noch den zweisilbigen Decknamen »Kin-jeh« bekommt. Bereits hier deutet sich also an, dass man nicht lediglich mit »einem« Bertolt Brecht zu tun haben wird, sondern vielmehr mit einem sich auf rhetorischer wie erzählender Ebene vervielfältigenden Fiktionsabbild der realen Figur Bertolt Brecht. Als in diesem Sinne programmatisch und die verfremdende Poetik des Textes konstituierend ist ebenfalls das doppelte Epitheton »umsichtig-verwegen« zu verstehen, das nicht nur einen Kontrasteffekt herbeiführt, sondern auch den Widerspruch als obwaltendes Gestaltungsmittel ins Spiel bringt. Und mit dem Pseudonym »Kin-jeh« wird schließlich auch ein intertextuelles Verweisungsspiel eingeleitet, das den genuin textuellen bzw. fiktionalen Charakter des gerade Dargestellten nur noch stärker akzentuieren soll. Kin-jeh stellt nämlich Brechts Selbstbezeichnung aus seinem Me-Ti. Buch der Wendungen dar; es handelt sich also um einen Verweis auf eine literarische Figur bzw. ein literarisches, autoreferenzielles Konstrukt. Im nachfolgenden Verlauf der Roman-Episode wird nun durchgehend in der auf Distanzierung angelegten Er-Form von Brechts Treffen mit seinen Mitarbeitern im Berliner Ensemble berichtet, mit welchen er über das für eine Aufführung geplante Stück (Don Juan) diskutiert (übrigens wird auch Don Juan gemäß der rhetorischen Dopplungsstrategie als »Versucher« und »Sucher« (WZU 287) bezeichnet), das durch eine Radiomeldung über die gerade ausgebrochenen Unruhen auf den Ostberliner Straßen unterbrochen wird. Der von
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seinen Mitarbeitern zur Kommentierung der Gegenwartssituation herausgeforderte Brecht beschließt nun, sich selbst ein Bild von dem Tagesgeschehen zu machen. Angesichts der sich zuspitzenden Lage sagt er am nächsten Tag die Proben zu Don Juan ab, wobei das Ende der Episode den in seinen Gedanken versunkenen Stückeschreiber zeigt, der über die Verstrickung Albert Einsteins (der hier auch gemäß dem rhetorischen Dopplungsprinzip als »der ausgezeichnete Physiker und miserable Violinspieler« (WZU 293) etikettiert wird) in einen Systemkonflikt nachgrübelt: »Oh, nie drängte das Problem der öffentlichen Verantwortung des Forschers und Künstlers wie am heutigen Entscheidungstag!« (WZU 294). Brecht wird folglich in seinem quasi natürlichen Metier gezeigt, einem Lebens- und Handlungsraum, für welchen die Bühne konstitutiv ist, was die Glaubwürdigkeit der hier erzählten Geschichte sichtbar erhöht. Es ist jedoch nicht zu übersehen, dass auch die narrative Gestaltung dieser Episode sehr stark am Theatralischen orientiert ist, ja, dass sich Hilscher gar dramatischer Darstellungsverfahren bedient, sodass von einem dramenaffinen Erzählen gesprochen werden kann. Es handelt sich hier aber nicht bloß um eine szenische Darstellung, in der die Dialoge zwischen dem Stückeschreiber und seinen Mitarbeitern eine wesentliche Rolle spielen (die Darbietungsformen wechseln sich dabei kennzeichnenderweise ab, wobei direkte, indirekte und erlebte Rede die narrative Dominante darstellen und an keiner einzigen Stelle durch einen inneren Monolog bzw. eine Ich-Erzählung ersetzt werden), sondern auch um eine eigenartige Inszenierung der Figur Brecht selbst. Zunächst und einleitend wird daher von dem Erzähler wie beiläufig darauf hingewiesen, dass »für eine grundsätzliche Diskussion« »ein mehrköpfiges Publikum vonnöten« scheine (WZU 285), wodurch ein imaginärer Bühnenraum evoziert wird, wobei anschließend von Brechts Verhalten, Gesten und Aussehen, meist mit vielen Details, berichtet wird. So heißt es etwa: »Er lächelte vor sich hin und bewegte den rechten Fuß im Rhythmus gedämpfter Radiomusik« (WZU 286); »Nun kniff Kinjeh die Augen zusammen und rückte in eigentümlicher Weise mit dem Kopf.« (WZU 286), oder, im Stil einer Regieanweisung: »(Er artikulierte »kritizieren« und sprach die R-Laute hart und schnarrend aus.)« (WZU 286). Und markanterweise wird gerade dann eine Charakterisierung des Äußeren von Brecht vorgenommen, als dieser sich anschickt, ein politisches Statement abzugeben. Gerade vor dem Moment der höchsten Spannung muss also der Leser noch erfahren, dass die Mitarbeiter zu Kin-jeh hinüber[schauten], dem Gastgeber und Weisheitslehrer, dazumal fünfundfünfzig, mit untersetzter Gestalt, Vierkantschädel, Hakennase, schwarz gerahmter Brille, zwei Tage alten Bartstoppeln, Fransenhaaren wie auf antiken Büsten und grauer Uniformkleidung (WZU 287–288).
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Der Erzähler setzt somit wie in einem klassischen Drama ein retardierendes Moment ein, das die Spannung vor dem Höhepunkt des Geschehens anhalten soll; hier aber übernimmt es vielmehr die Funktion einer Unterbrechung, die im Brechtschen Sinne eine Art Störfaktor darstellt. Unterbrechungen bzw. Pausen werden im Erzählprozess mehrmals eingeschaltet; so etwa im Anschluss an eine weitere, politische Aussage Brechts, in der der Dramaturg fordert, dass man sich um einen Sozialismus bemühen solle, den man nicht verordnen, sondern attraktiver machen müsse (WZU 293), welche von dem Erzähler wie folgt pointiert wird: »So sprach der Stückeschreiber an diesem Montag. –« (WZU 293) Verfremdet wird dadurch nicht bloß die Handlung, sondern auch, oder vor allem, die Brecht-Figur selbst, die nun folglich nicht nur als ein literarisches Konstrukt, sondern auch als eine gespielte Rolle herausgestellt wird. Der Stückeschreiber wird nämlich auf der Ebene der Erzählung14 als ein die Rolle Brechts darstellender Schauspieler in Szene gesetzt, ja, als eine Rolle narrativ inszeniert, gemäß seinem eigenen poetischen Konzept, das seine Mitarbeiter kennzeichnenderweise als »unmuseale, argumentierende und verfremdende Spielweise […]« und »das heilsame Zur-Schau-Stellen widersprüchlicher Erscheinungen« (WZU 288) auslegen. Und daher erzielt auch sein BühnenAuftritt vor seinen Mitarbeitern (welche logischerweise die Rolle des Publikums zu spielen haben) genau jenen pädagogischen Effekt, die Brechts Dramen auch tatsächlich erzielen sollten: »Nachdenklich und verändert verabschiedeten sich die Mitarbeiter um Mitternacht.« (WZU 289). Brecht als Figur in einem erzählten (Schau-)Spiel spielt aber nicht nur eine Rolle, sondern treibt – im Bündnis mit dem Erzähler – auch ein sprachliches Spiel, in dem der Sprache selbst als Medium eines verfremdenden Erzählens eine wesentliche Bedeutung zukommt. Von dem sich im Text immer wieder manifestierenden Widerspruch war bereits die Rede; es sei hier nur noch darauf hingewiesen, dass die Paradoxa rhetorisch vor allem als Oxymora und Antithesen konkretisiert werden, wie in den folgenden Beispielen: »erheiternde Ernsthaftigkeit«, »siebensprachiges Schweigen« (WZU 289), »die tödlich-belebende Formel« (WZU 294), »Die Unvernunft bedauernd, mit der Lai-Tu ihre Vernunft wegsoff« (WZU 290), »dann hätte der Mann das Geschehene gern ungeschehen gemacht« (WZU 293–294), oder: »die heutigen Ungelegenheiten [scheinen] die Gelegenheit zu bieten […]« (WZU 292) Der Erzähler scheint dabei den Sprachduktus Brechts recht geschickt zu imitieren, so vor allem dann, wenn er sich mit Vorliebe aphoristisch zugespitzter Formulierungen bedient, wie etwa: »Der Tabak schafft Beschaulichkeit und Leidenschaft, ohn’ die ein Weltmann nie ein Mann von Welt sein kann.« (WZU 285–288). Den spielerischen Effekt unter14 Ich verwende hier den Begriff Erzählung im Sinne des Erzählens (der Narration bzw. Darstellung) zur Abgrenzung von der Ebene des Erzählten bzw. Dargestellten.
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streicht hier noch die Anordnung der Satzteile, die eine chiasmusähnliche Struktur aufweisen, sowie das Palindrom »nie – ein«. Nicht zu übersehen sind schließlich auch die vielen Alliterationen, welche die Narration noch um eine Klang-Dimension bereichern, wodurch sich der Text einem multimedialen Kunstwerk – einem Theaterstück – annähert. Dabei fällt allerdings auf, dass auch Brecht als Figur sich eines ostentativen Sprachspiels bedient und gerade dann mit diversen Bedeutungsmöglichkeiten der Worte jongliert, wenn es gilt, sich angesichts des gerade eingetretenen Systemkonflikts zu positionieren: »›Spezies‹, sagte er, ›verlangt jetzt keine Worte aus meinem Mund, ich verwahre nur Zähne drin‹.« (WZU 288), oder: »›Nur begreifend können wir wissend eingreifen.‹ – Danach zog er sich in sein Dienstzimmer zurück und bekundete in drei Schriftsätzen seine Verbundenheit mit der Parteiund Staatsführung der DDR.« (WZU 291) Als ein weiteres Element des spielerischen Umgangs mit der Sprache ist schließlich auch das bereits angedeutete intertextuelle Verweisungsspiel zu verstehen. Im Gespräch mit seinen Mitarbeitern rekurriert Brecht u. a. auf folgende literarische Prätexte, die von ihm paraphrasiert oder travestiert werden: die Bibel: »seid Täter des Worts und nicht Hörer allein« (WZU 288), Goethes Faust: »Das Bürokratische zieht uns hinan!«15 (WZU 288), Goethes Spruchgedicht Frisches Ei, gutes Ei: »Begeisterung ist keine Pökelware. –« (WZU 289)16 Das Verweisungsspiel scheint aber seine höchste Potenz gerade in dem Moment zu erreichen, als der Stückeschreiber seine Buckower Elegien in Spiel bringt: Was soll man beispielsweise dazu sagen, wenn gewisse Flugblätter dem Volk rüffelnd verkünden, es habe das Vertrauen der Regierung verscherzt und müsse sich zwecks Wiedergewinnung verdammt anstrengen? Wäre es da nicht einfacher, man löste das Volk auf und wählte ein anderes? – Nein, Freunde! (WZU 293).
Hilscher lässt hier Brecht das bereits erwähnte Gedicht Die Lösung in die Prosasprache übertragen, das im Original den folgenden Wortlaut hat: Nach dem Aufstand des 17. Juni Ließ der Sekretär des Schriftstellerverbands In der Stalinallee Flugblätter verteilen Auf denen zu lesen war, daß das Volk Das Vertrauen der Regierung verscherzt habe Und es nur durch verdoppelte Arbeit Zurückerobern könne. Wäre es da
15 Gerade diese Stelle wurde in der DDR-Fassung der Weltzeituhr von der Zensur gestrichen, samt der nachfolgenden Kritik der Kulturpolitik der DDR. 16 Diese Sentenz, nebst der vorangehenden rhetorischen Frage (»Wie soll eine eingeschüchterte Kunst die Massen zu großen, kühnen Taten beflügeln?«), ist in der DDR-Fassung des Buches ebenfalls nicht vorhanden.
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Nicht doch einfacher, die Regierung Löste das Volk auf und Wählte ein anderes?17
Der sich selbst paraphrasierende Dichter potenziert den rhetorischen Verfremdungseffekt dermaßen, dass es müßig zu fragen scheint, was für ein Gegenstand hier nun tatsächlich verfremdet werden soll. Vielmehr gewinnt man den Eindruck, dass – um sich hier des semiotischen Vokabulars zu bedienen – die sprachlichen Zeichen im Sinne Derridas ein weitgehend autonomes Eigenleben zu führen beginnen bzw. die Spaltung zwischen den Zeichen und dem Bezeichneten immer größer und kaum noch überbrückbar wird. Es ließe sich somit resümieren, dass Hilschers narrative Aneignung des Brechtschen Verfremdungseffektes allen voran darauf hinziele, dem Leser seines Romans vor Augen zu führen, dass hinter der Ebene der Darstellung kein wie auch immer gearteter Sinn zu suchen wäre. Der von Hilscher inszenierte Brecht soll nicht bloß als Identifikationsfigur verfremdet werden, sondern sich auch einer eindeutigen Sinnzuschreibung entziehen, sodass er beinahe zu einem subjektlosen Subjekt seiner eigenen Geschichte wird, das seine eigene Existenz nur noch mit und durch das Spiel bestätigen kann. Die Vorherrschaft der Darstellung über das Dargestellte bzw. der Erzählung über das Erzählte relativiert somit die für eine Sinnkonstituierung des Textes zentrale Frage nach der Verantwortung des Künstlers in einem Systemkonflikt. Die Ansichten eines Mannes von hohem Geistesflug lassen sich daher als durchaus artistische, wenn nicht gar artifizielle Gedanken- und Sprachspiele auslegen, die ihrem Gegenstand zwar ein mehrdeutiges Gepräge verleihen, dafür aber ihren Urheber eindeutig von der Notwendigkeit einer ideologischen Stellungnahme befreien.
Literatur Berg, Günther / Jeske, Wolfgang: Bertolt Brecht. Stuttgart, Weimar: Springer Verlag 2017. Böcher, Wolfgang: Selbstorganisation, Verantwortung, Gesellschaft: Von subatomaren Strukturen zu politischen Zukunftsvisionen. Opladen: Springer Verlag 2013. Brecht, Bertolt: Schriften 2. Schriften 1933–1942. Bearbeitet von Inge Gellert und Werner Hecht unter Mitarbeit von Marianne Conrad, Sigmar Gerund und Benno Slupianek. Zwei Teilbände. Teilband 2. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1993. Gantzel, Klaus Jürgen / Schwinghammer, Torsten: Die Kriege nach dem Zweiten Weltkrieg 1945 bis 1992: Daten und Tendenzen. Münster: LIT Verlag 1995.
17 Zit. nach: Lehmann, Hans-Thies: Brecht lesen – Gesichter und Aspekte. URL: https://www.thea terderzeit.de/buch/brecht_lesen/34026/komplett / letzter Zugriff am 16. 11. 2021.
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Hilscher, Eberhard: Der Dichter, Journal- und Briefschreiber Bertolt Brecht. In: Hilscher, Eberhard: Dichtung und Gedanken. 30 Essays von Goethe bis Einstein. Stuttgart: Heinz 2000, S. 225–242. Hilscher, Eberhard: Die Weltzeituhr. Roman einer Epoche. Berlin: Buchverlag Der Morgen 1983. Hilscher, Eberhard: Die Weltzeituhr. Roman einer Epoche. Halle (Saale): Mitteldeutscher Verlag 2017. Knopf, Jan (Hg.): Brecht-Handbuch. Band 2. Gedichte. Stuttgart, Weimar: Springer 2016. Lehmann, Hans-Thies: Brecht lesen – Gesichter und Aspekte. URL: https://www.theaterder zeit.de/buch/brecht_lesen/34026/komplett / letzter Zugriff am 07. 08. 2022. Nowara-Matusik, Nina: Oblicza artystów. W kre˛gu narracji Eberharda Hilschera. Kraków: UNIVERSITAS 2016. Österreich, Volker: Zwischen Anpassung und innerem Widerstand. Die literarischen Koordinaten des DDR-Schriftstellers Eberhard Hilscher. Heidelberg: Morio Verlag 2021. Wizisla, Erdmut: Der 17. Juni 1953, die Akademie und Brecht. URL: https://www.adk.de/de /akademie/325/index.htm?we_objectID=62602. http://www.17juni53.de/material/prosa_1.html. / letzter Zugriff am 07. 08. 2022.
Gad Kaynar-Kissinger (Tel Aviv)
Migration eines fremden Flüchtlings in eine selbstmarginalisierte Gesellschaft. Einige Betrachtungen zu Brecht im jüdischen Palästina/Israel 1933–1963
Wenn Verfremdung auf Fremdheit stößt Dieser auf Archivmaterialien gestützte Aufsatz untersucht mehrere Fallbeispiele für Bertolt Brechts Rezeption während Israels vorstaatlicher Periode beziehungsweise in der Frühzeit seiner nationalen Unabhängigkeit. In den Blick genommen wird die Zeitspanne zwischen 1933 (der Premiere der Dreigroschenoper unter der Regie des aus Deutschland stammenden Alfred Ari Wolf) und 1963 (der Erstaufführung von Die amerikanische Prinzessin [Ha-nesicha ha-amerikait] von Nissim Aloni, dem ersten stark von Brecht geprägten israelischen Dramatiker). Bertolt Brechts Dramaturgie, die auf professionellen wie auch Amateurbühnen realisiert wurde, erfuhr im vor- und frühstaatlichen Israel eine eher ambivalente Rezeption. 1996 konnte Shimon Levy dann feststellen: »Brecht ist in Israel einer der populärsten und finanziell gesehen erfolgreichsten Dramatiker.«1 Bis zu diesem Jahr hatte es 44 Inszenierungen seiner Stücke gegeben, eine enorme Zahl im Verhältnis zur geringen Bevölkerung Israels in der Gründungsphase, als sie von 600 000 Einwohnern im Jahr 1951 auf 2 397 000 im Jahr 1963 anwuchs. Warum also war Brecht, vor allem nach dem Holocaust, so populär in einer Gesellschaft, in der damals alles Deutsche als tabu galt? »Ist es angemessen, dass ein hebräischsprachiges Theater ausgerechnet das Stück eines deutschen Autors aufführt?«, fragte Asher Nahor, der Theaterkritiker der rechtsnationalen Zeitung »Herut« nach der Premiere von Mutter Courage und ihre Kinder im Juli 1951, gerade erst sechs Jahre nach der Schoah – wenngleich Nahor einräumte, Brecht sei »ein ›guter Deutscher‹«2. Darüber hinaus war das epische Theater Brechts ein Fremdkörper in einem Theatermilieu, das Osteuropa entsprungen war und sich seit den frühen 1920er Jahren fast ausschließlich an expressionistischen Ansätzen in der Anlehnung an Wachtangow oder an emotionsbetonten, pseudorealisti1 Levy, Shimon: German Plays on Hebrew Stages. In: Bayerdörfer, Hans-Peter (Hg.): Theatralia Judaica. Bd. 2. Tübingen: Niemayer 1996, S. 38. 2 Nahor, Asher: ›Mutter Courage und ihre Kinder‹ in der »Habima«. In: »Herut« vom 3. Mai 1951.
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schen Stanislawskischen Grundsätzen orientiert hatte. Marc Silberman hat festgestellt, dass Brechts »Straßenszene« darauf abzielte »zu zeigen, wie nichtmimetisches Theater eine neue oder andere Art von Schauspieler verlangt, der das konventionelle ›als ob‹, also den verkörpernden Ansatz außer Kraft setzen kann, um als Zeuge zu agieren, der über das, was er sieht sowie über die Figur berichten kann«.3 Dies überstieg offensichtlich die Fähigkeiten der in Emotionsund Sinneserinnerung geschulten Schauspieler/innen des ersten hebräischsprachigen Theaters, der 1918 gegründeten Habima, wie es zum Beispiel aus der Beurteilung des Kritikers Ezra Zussman hervorgeht; dieser stellte sich apologetisch vor den anerkannten Schauspieler Joshua Bertonov, der in Die Gesichte der Simone Machard (Habima, 1958) den Père Gustave im wahrsten Sinne des Wortes verkörperte statt zu spielen: »Es ziemt sich nicht, einen Schauspieler wie Bertonov, der sich von ganzem Herzen mit seiner Rolle identifiziert, dazu umzuerziehen, ›neben seiner Figur‹ zu spielen.«4 Trotz, aber auch gerade aufgrund seines Erfolgs geriet Brecht nach der Staatsgründung 1948 bis in die 1950er Jahre hinein noch weiter in eine Außenseiterposition, dies aufgrund der Dominanz der realistischen Konventionen des US-amerikanischen »Method Acting«. Zur damaligen Zeit strebten die impliziten Zuschauer:innen der Aufführungen als Angehörige einer im Werden und in einer unglaublichen Renaissance begriffenen Nation danach, sich mittels der ikonischen Widerspiegelung ihres Realitätsprinzips und ihres Ethos selbst zu huldigen statt mittels verfremdeter, historisierter und theaterbewusster Fabeln. Als typisches Beispiel ist die zwiespältige Einstellung gegenüber Brecht an der Rezeption der Inszenierung des Leben des Galilei (1962) durch den dänischjüdischen Regisseur Sam Beissikov abzulesen. Statt Brechts im Kontext eines militaristischen Israel agnostische Botschaft – »Unglücklich das Land, das Helden nötig hat« – zu betonen, hoben die Kritiker die theatralischen Massenszenen hervor, Arnon Adars Bühnenbild und Kostüme, die pittoresk auf barocker Ikonografie beruhten, wie auch die verhaltene, humanistische Interpretation des Galilei durch Zalman Leviush,5 seine »gelassene, gut aufgebaute Figur, die nie in pathetisches Deklamieren abgleitet«, sowie das Spiel von Gila Almagor, die in der Rolle seiner Tochter »ein eindrucksvolles Talent für den Aufbau eines komplexen Charakters unter Beweis stellte«6. Mit anderen Worten wurde die Inszenierung für ihre nicht-brechtschen (oder sogar anti-brechtschen), nicht-epischen Züge gepriesen – für die historische statt historisierte Ausstattung, den realistischen, Identifikation auslösenden Stil der Regie, des Spiels und damit der Rezeption. 3 Silberman, Marc: Brecht’s Gestus or Staging Contradictions. In: Hillesheim, Jürgen (Hg.): »The Brecht Yearbook« Nr. 31. Connecticut: University of Connecticut 2006, S. 326. 4 Zussman, Ezra. In: »Davar« vom 21. März 1958. 5 Vgl.: Kaniuk, Yoram. In: »La-merchav« vom 27. Juni 1962. 6 Yaron, Elyakim. In: »Ha-boker« vom 27. Juli 1962.
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Und doch erfreute sich Brecht in Israel einer, von Shakespeare abgesehen, konkurrenzlosen Beliebtheit und tut dies nach wie vor. Die Gründe für diese paradox anmutende Popularität sind vielfältig. Einer davon ist Brechts sozialistische Agenda, die der in den ersten Jahrzehnten der Rückkehr von Juden in das biblische Heimatland vorherrschenden Ideologie entsprach. Mithin befassten sich die Vorläufer der sozialistisch-zionistischen Berufs- und Amateurtheatermacher in den 1930er Jahren (ebenso wie die Studierenden der Tel Aviv University, die Brechts Lehrstück Die Ausnahme und die Regel unter Rina Yerushalmys Inszenierung 1973 nach dem Oktober-Krieg in der Site-Specific der Sinai-Wüste aufführten) 7 mit Brecht vor allem wegen seiner sozialistisch-humanistischen ethischen und ästhetischen Theorie (in Shimon Levys Worten: »Proletarierstolz und sozialer Gerechtigkeit«8). Die nächste Generation der Brecht-Aufführungen in den 1950er Jahren – Mutter Courage und ihre Kinder (Habima, 1951), Der gute Mensch von Sezuan (Cameri, 1955) und Die Gesichte der Simone Machard (Habima, 1958) – war von der Überladung der jeweiligen Handlung durch tragische, beziehungsweise tragikomische, und sentimentale, gewissermaßen »jüdische« Elemente motiviert. Die letzten Inszenierungen des ersten Zyklus – Herr Puntila und sein Knecht Matti (Habima, 1962), Leben des Galilei (Cameri, 1962) und Der kaukasische Kreidekreis (Haifa Theatre, 1962) – unterstrichen die einzigartige Theatersprache, den spektakulären »Production Value« und die melodramatisch-komische Story, wobei die Botschaft und der Verfremdungseffekt, der laut Ernst Bloch soziales Bewusstsein erwecken sollten, ziemlich außen vor blieben.9 Zu den weiteren Gründen von Brechts Domestizierung, Ent-fremdung und Popularität, im Gegensatz zu den zuvor zitierten kritischen Gegenstimmen, zählen: seine antifaschistische Haltung; die didaktische Absicht, die seinen Werken unterliegt und als solche mit den Bildungsbestrebungen der Zionisten mitteleuropäischer Herkunft korrespondierte; sowie die Bemühungen einer Handvoll eingewanderter deutschsprachiger Theaterleute und -zuschauer:innen, die mit der Syntax des epischen Theaters und mit Brechts professionellen Leistungen ausreichend vertraut waren, um sein Œuvre zu propagieren und damit auch ihre eigene gesellschaftliche Randstellung zu überwinden. Indes sind dies nur oberflächliche Erklärungen, die nicht die Tiefenstruktur der ambivalenten phänomenologischen Position Brechts als enger Symbiose zwischen einem ideologischen und kulturellen Helden einerseits und einem missverstandenen bilderstürmerischen Autor andererseits ausleuchten. Dessen 7 Friedlander, Nili. In: »Maariv« vom 20. February 1994. 8 Levy, Shimon: German Plays on Hebrew Stages, S. 41. 9 Vgl.: Bloch, Ernst: Entfremdung, Verfremdung. Alienation, Estrangement. In: »The Drama Review: TDR«. Bd. 15, Nr. 1, 1970, S. 123.
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Stücken – obgleich oder besonders wann immer man sie fehlinterpretierte und dem Publikum durch eine unangemessene psychologische beziehungsweise überemotional gefärbte Linse näherbringen wollte – gelang es zuweilen, im israelischen Kontext, Brecht als »fremd« (als Flüchtling, den kulturell Anderen) in den Vordergrund zu rücken: nämlich »seiner eigenen Entfremdungsstrategien entfremdet« (in dem Sinne, dass diesen Strategien eine neue Bedeutung verliehen wurde). Diese tiefe Affinität zu Brecht ergab sich in erster Linie aus der Überschneidung zwischen Brechts Verfremdungsästhetik und seiner eigenen Flüchtlingserfahrung mit der immanenten Fremdheit einer Einwanderungsgesellschaft, deren Angehörige ein sich auflösendes diasporisches Selbstverständnis verfolgter und vertriebener Juden hinter sich gelassen hatten, ohne sich in Palästina/Israel bereits eine neue Identität gebildet zu haben. Dies gilt insbesondere für die selbstmarginalisierten mitteleuropäischen Einwanderer:innen, die größtenteils nach Hitlers Machtantritt nach Palästina geflohen waren, wo sie sich als kulturelle Außenseiter:innen in Tel Aviv, Jerusalem und Haifa in selbstgewählte, abgesonderte Ghettos zurückzogen; andere hatten sich den landwirtschaftlichen Siedlungen im Land, vor allem den Kibbuzim, angeschlossen und versuchten nicht selten aus eigenem Antrieb, ihr tief verwurzeltes »Deutschtum« auszulöschen. Beide Gruppen waren entfremdet: nämlich »sich selbst entfremdet«, um Feuerbachs abwertende, von Hegel abgeleitete Definition zu gebrauchen,10 als sie sich in einer völlig anderen, feindseligen, levantinischen Umwelt wiederfanden; dabei waren sie gezwungen, sich wider Willen anzupassen oder, sofern sie von Anfang an Zionisten waren, eine gespaltene Migrantenidentität oder einen schizokulturellen Ansatz zur Übertragung und Aufführung brechtscher Dramen zu entwickeln. Dieser Ansatz ist nicht interkulturell im Sinne einer Hybridität nach Pavis,11 noch in dem von Holliday, Hyde und Kullman diesem Begriff zugeschriebenen Sinn,12 da die Neuankömmlinge sich einzuräumen weigerten, dass an ihnen selbst etwas »Fremdes« war. Ihrer Meinung nach war ihre mitteleuropäische Identität die einzig wahre und geltende. Darüber hinaus lässt sich vorsichtig vermuten, dass Brechts Konventionen des epischen Theaters, mit ihrer Struktur abrupt unterbrochener Szenen, der (dem Anschein nach) unsentimentalen »Glotzt-nicht-so-romantisch«-Rhetorik, der entfremdenden Zeichensprache, der a-psychologischen, charakterfremden Spielweise und so weiter – in ihrem ideologischen und ästhetischen Charakter für viele der randständigen mitteleuropäischen Migrant:innen eine Form der Subversion gegen die kulturelle Hegemonie der aus Osteuropa Eingewanderten beinhalte10 Ebd., S. 120–121. 11 Pavis, Patrice (Hg.): The Intercultural Performance Reader. London: Routledge 1996, S. 14. 12 Holiday, Adrian / Hyde, Martin / Kullman, John: Intercultural Communication. An Advanced Resource Book. London: »Australian review of applied linguistics« 1996, S. 109–115.
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te. Brechts Dramen und seine Ästhetik wurden zu einem Vehikel, um ihrer Fremdheit Ausdruck zu verleihen. Wie verwirrt diese Polyidentität der israelischen Gesellschaft sein kann – unter Beweis gestellt durch den nachfolgend beschriebenen Versuch, noch Jahrzehnte nach der traumatischen Frühphase der Einwanderung Teile dieser Gesellschaft zu Fremden wie Brecht zu machen –, lässt sich aus der kritischen Reaktion auf die Regiearbeit von Ilan Ronen am Kaukasischen Kreidekreis (Habima, 1999) schließen. Ronen versuchte, politische Aussagen durch den Einsatz von festtagsmäßigem »Storytelling« und karnevalesker Strategien à la Rabelais mit scheinbar ethnokulturellem Charakter zu vermitteln. Er versetzte die auf einer Ritualstätte spielende Handlung ins exotische Buchara – gemäß Ernst Blochs Feststellung, »Verfremdung […] geschieht vor allem auf dem Umweg übers Exotische«.13 Symbolisiert wurde dieses exotische Fantasieland durch eine authentisch bucharische Musik-, Gesangs- und Tanzgruppe. Paradoxerweise war diese alles andere als exotisch in dem Sinne, dass sie wirklich geografisch oder kulturell fremd gewesen wäre: es waren israelische Bürger:innen, jüdische Einwanderer:innen aus Buchara, die ihre Folklorekunst zu den Melodien des israelischen Liedermachers Ehud Banai darboten. Die »kultivierten«, aus dem vermeintlich »aufgeklärten« Europa stammenden Kritiker nahmen Anstoß am Einsatz dieser »folkloristischen«, »schrillen«, »lautstarken«, »primitiven« Elemente,14 die sie als fremd, billig, »reines Entertainment« und als solches ungeeignet für die Vermittlung der Brechtschen Lehre betrachteten. Implizit sträubten sie sich zu akzeptieren, dass die fremd anmutende bucharische Kultur Teil ihres eigenen nationalen Erbes und Selbstverständnisses war. In diesem Fall dienten die Brechtschen Verfremdungseffekte in Ronens Interpretation – zumindest potenziell – als verfremdende Taktik.
Die Selbstritualisierung des Kibbuz: Die Ausnahme und die Regel in Givat Haim Das Gros der Kritiker und der Zuschauer:innen sowie eine Handvoll professioneller urbaner Theaterleute manifestierten in den 1930er Jahren eine ambivalente Einstellung zu Brecht und seinen Werken. Im Gegensatz dazu stellte die qualitativ marginale, quantitativ jedoch zum Ideal erhobene sozialistische Kibbuzbewegung die – die Regel nicht bestätigende – Ausnahme dar: die rückhaltlose Bekräftigung von Brechts pseudomarxistischer »Lehre« als außerästhetisches, aktivistisches und ritualisiertes Instrument sozialer Intervention. Dies 13 Bloch, Ernst: Entfremdung, Verfremdung. Alienation, Estrangement, S. 124. 14 In: »Jediot Achronot« vom 17. Mai 1999.
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geht zum Beispiel aus Freddie Rokems einzigartiger Sekundärdokumentation der Welturaufführung von Die Ausnahme und die Regel im Kibbuz Givat Haim (1938) hervor. Diese »Produktion« wurde von Laiendarsteller:innen – Mitgliedern des Kibbuz – unter der Anleitung von Alfred (Ari) Wolf auf die Bühne gebracht.15 Der in Deutschland geborene Wolf, zuvor Intendant deutscher Provinzbühnen sowie Berliner Theater, hatte fünf Jahre zuvor im Ohel-Theater Die Dreigroschenoper inszeniert.16 Er kannte also seinen Brecht. Der damals winzige Kibbuz Givat Haim in der Nähe von Haifa war 1932 von Einwanderern aus Österreich gegründet worden. Die geographische Nähe zur bayerischen Heimatregion Bertolt Brechts mag, ganz abgesehen von der sozialistischen Weltsicht der Kibbuzmitglieder, ihre starke sprachliche und kulturelle Affinität zum renommierten Dramatiker erklären. Gleichzeitig begründete diese Herkunft ihre marginale Stellung und Fremdheit im britischen Mandatspalästina, wo die russischen und polnischen Einwanderer:innen das Kulturleben beherrschten. Die Aufführung war Teil einer säkular-rituellen Feier zum 1. Mai und wurde als solcher »am frühen Nachmittag zwischen 13:30 und 14:15« aufgeführt. Auch daraus lässt sich ablesen, dass die Aufführung Teil eines Festaktes von gesellschaftlicher und lebensweltlicher Bedeutung war und nicht bloß ein Abend»programm«. Wie aus der noch existierenden »Ankündigung« hervorgeht, ging der Aufführung eine »Kindermatinée« (schacharit lijeladim) voran. Ungeachtet seiner religiösen Konnotation (»Schacharit« ist das jüdische Morgengebet) wurde dieser Ausdruck gewöhnlich im sozialistischen Kontext als Bezeichnung des genauen Gegenteils verwendet: einer atheistischen, linkszionistischen performativen Lehrstunde; gewissermaßen eine kommunale Entsprechung eines brechtschen Lehrstücks, in diesem Fall abgerundet durch Grußbotschaften von Gewerkschaftsführern. Danach folgte ein klassisches Musiktrio, was erneut den außergewöhnlichen Charakter der verfeinerten Hochkultur der mitteleuropäischen Kibbuz-»Fremden« im Gegensatz zur hegemonialen osteuropäischen »Subkultur« hervorstreicht. Schließlich erfolgte die Aufführung von Die Ausnahme und die Regel selbst und im Anschluss ein Chor, als unerlässlicher Programmpunkt jeder sozialistisch-zionistischen Feier zum einen; zum anderen eine Referenz auf Brechts eigenen Kinderchor in den Radio- und Bühnenaufführungen wie Der Ozeanflug oder Lindberghflug (1930) und Der Jasager/Der Neinsager (1930). Was nun die eigentliche Theateraufführung betrifft, so wurden die elf Laiendarsteller:innen in einer Besprechung vom 4. August 1938 in der jüdischen 15 Rokem, Freddie: The Archives of ›The Exception and the Rule‹. Brecht in Kibbuz Givat Haim 1938 und 2013. In: Hahn, Daniela (Hg.): Beyond Evidence. Das Dokument in den Künsten, Paderborn: Wilhelm Fink 2016, S. 225–242. 16 Lewy, Tom: The German Jews and the Hebrew Theatre: A Clash between Western and Eastern Europe. Tel Aviv: Resling 2016, S. 124.
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»Pariser Tageszeitung« als »der Kollektivsiedlung Givat Haim« zugehörig bezeichnet, die daher »das Konzept des brechtschen Lehrstücks besonders gut zur Geltung brachten«17. Zudem waren die Darsteller:innen – diese bekennenden Zionisten und nicht weniger glühenden Sozialisten; diese Amateur-Artivisten ganz nach Brechts Vorstellungen, die den 1. Mai nicht nur als dialektische Konfrontation mit einem kapitalistischen Publikum auf die Bühne brachten, sondern eher als Gemeinschaftsritus, »der die Schauspieler und Zuschauer in einem Gefühl festlicher Erhebung einte« – wie es die Arbeiterzeitung »Davar« ausdrückte; diese nicht-thespischen Thespianer, die das Werk in uniformartiger Arbeitskleidung aufführten als Haltung und Gestus des Darstellers, der Person, versus der Persona, der durch Maske und Attribute typisierten Figur; diese Darsteller:innen, die der Besprechung in »Davar« zufolge diese zum Nachdenken anregende Lehrparabel in höchst naiver, orthodox-marxistischer Manier deuteten als Demonstration »der Unterschiede zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten«; kurz gesagt, diese »Kibbuzniks«, diese jüdischen »Kolchosniks«, die sich in der Aufführung selbst spielten, gehörten demselben Lager an wie Brecht: selbsternannte Fremde in Palästina; Fremde nicht nur als kulturell entfremdete Individuen, sondern als Verkörperung des Gestus einer provokativen, kollektiven Lebenseinstellung. Diese symbiotische Beziehung zwischen dem Dramatiker und den Darstellern wird durch den zweifachen Ausnahmezustand in den Vordergrund gerückt, auf den Freddie Rokem hinweist: der Ausnahmezustand des Kaufmanns in der Handlung; und der Ausnahmezustand Givat Haims vor dem Hintergrund des Arabischen Aufstands, der die schiere Existenz des Kibbuz gefährdete. Der »Davar«-Kritiker erwähnt, es habe vor der Aufführung viele Diskussionen gegeben, ob es »gerechtfertigt« sei, »in Zeiten wie diesen Kulturveranstaltungen abzuhalten«, um hinzuzufügen, »dass die seelische Erhebung, die die Vorstellung hervorrief, in der Tat als Rechtfertigung dafür diente« (so Rokems Paraphrase).18 Mir scheint jedoch, dass dies nicht nur eine Erhebung künstlerischer Art war, sondern vielmehr die der orthodoxen Idealist:innen, die ihr spezifisches, ontologisch-entfremdetes Selbstverständnis feierten.
Brechtsche Dialektik – Hinauswurf eines erfolgreichen Regisseurs Die Bürde soziokultureller Fremdheit, die auf den mitteleuropäischen Theaterleuten ebenso lastete wie auf ihrem Publikum, sowie die ungeachtet der thematischen Verbundenheit tief ambivalente Einstellung zu Brechts Theaterästhetik, manifestiert sich deutlich in der Chronik der Dreigroschenoper-Produk17 Rokem, Freddie: The Archives of ›The Exception and the Rule‹, S. 234. 18 Ebd., S. 235.
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tion im Tel Aviver Ohel-Theater (Ohel – hebr. Zelt). Premiere war am 6. September 1933, Regie führte derselbe Alfred Wolf, der sechs Jahre später die Aufführung von Die Ausnahme und die Regel im Kibbuz Givat Haim anleiten sollte. Die in sich widersprüchliche Haltung zur deutschen Dramaturgie- und Regiepraxis im Allgemeinen und bei Brecht im Besonderen offenbart sich am paradoxen Umstand, dass der in Russland geborene, expressionistische Regisseur Moshe Halevy, Gründer dieses Arbeitertheaters, der die aus Deutschland eingewanderten Alfred Wolf und Friedrich Lobe als Regisseure engagiert hatte, deren Arbeit in einer Weise bemängelte, die implizit auch auf Brecht zielte: Den deutschen Regisseuren sind der jüdische Geist und das hebräischsprachige Publikum fremd. Sie scheinen eher von außen als von innen an die Sache heranzugehen, sie stehen kühl abseits als Kunstphilosophen, als unbeteiligte Chirurgen, nicht wie mit Körper und Geist engagierte Beteiligte. […] Ihr Herz schlägt nicht im Einklang mit den Gefühlen der hebräischen Schauspieler und Zuschauer. Sie leben ihre separaten, individuellen Leben.19
Und dennoch war es das Theater ebendieses Halevys, das Alfred Wolfs Inszenierung der Dreigroschenoper nur fünf Jahre nach ihrer Berliner Uraufführung am 1. August 1928 auf die Bühne brachte. Deren enormer Erfolg auch in Tel Aviv erzürnte Halevy umso mehr. »Der Grund für den Erfolg der Aufführung in Tel Aviv ähnelt wohl dem Berliner Erfolg: nicht der Protest gegen soziale Missstände, sondern dessen Abwesenheit […]«, stellt Tom Loewy fest.20 Die meisten Kritiker lobten die revolutionäre Bedeutung der Aufführung, in der die grell, pompös und höchst gefühlsbetont spielenden schwerfälligen Schmierenakteure des OhelTheaters plötzlich zu anpassungsfähigen, ironischen, scharf typisierten Darstellern wurden, die zum ersten Mal »beim Singen sprechen und beim Sprechen singen«21 mussten. Am begeistertsten war der aus Deutschland stammende Manfred Geis, der Folgendes behauptete: Wenn hier gesagt wurde, daß diese Inszenierung für das palästinensische Theater von höchster Bedeutung sein könnte so deshalb, weil man hier zum erstenmal auf der dramatischen Bühne Eretz Israels den Mut hat, einen Stil anzustreben, der von der viereckigen Exzentrik eines nicht richtig verstandenen Expressionismus weit entfernt ist.22
Jedoch gab es trotz des Erfolgs der Aufführung aufgrund der Divergenz zwischen dem »Brechtschen« und dem russischen Schauspielstil, der schwachen Arbeitsdisziplin und der phänomenologischen Weltanschauung der Schauspieler:innen am Ohel extreme Spannungen zwischen dem Regisseur und dem Schauspieler19 20 21 22
Lewy, Tom: The German Jews and the Hebrew Theatre, S. 121. Ebd., S. 125. Yuris, A.S. In: »Davar« vom 11. Oktober 1933. Geis, Manfred: Die ›Dreigroschenoper‹ bei Ohel. In: »Jüdische Rundschau« vom 20. Oktober 1933, S. 673.
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kollektiv, die in die Entlassung Wolfs mündeten. Eine weitere Folge war, dass 18 Jahre lang kein Stück des antifaschistischen Flüchtlings Brecht auf einer etablierten hebräischsprachigen Bühne aufgeführt werden sollte. Der Fremde aus dem Schwarzwald und seine ebenso fremden Landsleute, Eingewanderte, die sich dagegen sträubten, im Schmelztiegel einer ihnen als minderwertig erscheinenden Pastiche-Kultur aufzugehen, ließ man in der Kälte stehen – besser gesagt in der unerträglichen Hitze. Sie waren im schlimmsten existenziellen Sinn ent- und verfremdet.
Die jüdische Niobe Courage: Hanna Rovina als jiddische Mame Die zwiespältige Einstellung gegenüber Brecht und seiner Theatertheorie spitzte sich bereits 1951, bloße sechs Jahre nach der Schoah, in der Produktion und Rezeption von Mutter Courage und ihre Kinder im Habima-Theater zu. Man muss bedenken, dass die Habima, die den Dybbuk – das ikonische Werk des zionistischen Theaters und der zionistischen Kultur – auf die Bühne gebracht hatte, viel mehr als lediglich ein künstlerisches Phänomen war. Sie war eines der Kulturgüter, das die Vormachtstellung des vom russischen Realismus und Expressionismus geprägten Schauspielstils gewährleistete, mit dem lächerlich wirkenden russischen Akzent der Schauspieler:innen sowie dem osteuropäischen, später angelsächsischen Repertoire als Teil der heiligen Metonymien für den Zionismus und das in sich widersprüchliche »diasporische Israeli-Sein«. Die Kenntnis dieses Hintergrunds ist essenziell für das Verständnis der schizophrenen Rezeption der Courage an der Habima. In der Inszenierung des jüdischen Regisseurs Leopold Lindtberg, der bei der Zürcher Uraufführung 1941 Regie geführt hatte, mit dem Original-Bühnenbild von Teo Otto und der Musik Paul Dessaus, war wohl diese Aufführung, soweit sie aus den Kritiken rekonstruiert werden kann, eine Wiederaufnahme des Zürcher Konzepts der »Niobe-Tragödie«, mit Therese Giehse in der Titelrolle, die den damals im finnischen Exil befindlichen Brecht so aufgebracht hatte. Die Betonung lag auf der vermeintlichen Antikriegsbotschaft des Dramas sowie auf der leidenden, melodramatisch-tragischen, jedoch nicht unterzukriegenden Figur der ihrer Kinder beraubten Mutter23 und schwächte das Bild der Marketenderin als »Hyäne des Schlachtfelds« (wie sie der heuchlerische Feldprediger in Szene 8 nennt) wesentlich ab. In einer öffentlichen Debatte priesen fünf herausragende Vertreter der jüngeren Generation von Schriftstellern, Dramatikern und Kritikern Israels die 23 Vgl. z. B. Thomsen, Peter: Brecht, Mother Courage and Her Children. Cambridge: Cambridge University Press 1997, S. 119.
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ungeheure Schlichtheit der Inszenierung, die »mit den Lehren der brechtschen Schule« übereinstimme, insbesondere das sterile Auf-dem-Platz-»Marschieren der Söhne und der einsamen Mutter auf der Drehbühne, das die endlose Wanderung auf den Pfaden des Krieges wie auch des Lebens zum Ausdruck bringt«24. Diese romantische, gefühldurchdrungene und insofern unabsichtlich »antibrechtsche« Interpretation schien recht angemessen in einem Land, dass erst zwei Jahre davor 10 % seiner Bevölkerung im Befreiungskrieg verloren hatte; gleichzeitig enthüllte sie sowohl das Interesse an der brechtschen Theatertechnik wie auch ihre immanente Fremdheit. Ganz ähnlich stoßen wir bei der Lektüre des Archivmaterials auf einen scharfen Widerspruch zwischen dem Umstand, dass es 44 Vorstellungen gab, was in einer Zeit der schweren Wirtschaftskrise einem enormen Kassenerfolg gleichkam, und – umgekehrt – einem seltsam anmutenden Protest gegen die Verurteilung der Kriegsgräuel in diesem Stück: »Ist es richtig und angemessen, dass die Habima ein von einem Deutschen verfasstes pazifistisches Drama auf die Bühne bringt? […] Ein Stück vom Sohn einer Nation, deren Wesensart in eklatantem Widerspruch zur Friedensliebe steht […], auch wenn er ein unvergleichlich großer, origineller Dramatiker ist. […] Was soll unser Pazifismus, solange unsere Nachbarstaaten von einem Vernichtungskrieg träumen?25; »Dieses Stück passt eher nach Berlin als nach Tel Aviv, und das deutsche Publikum – ein kriegslüsternes Volk, dessen ewiges Streben der Besatzung gilt – hat es eher nötig als das hebräische Volk […]«26 Diese Auslegung des Stückes, das aus der übereinstimmenden Realitätswahrnehmung einer kleinen, belagerten Gesellschaft entsprang, saß so tief, dass sie noch 34 Jahre später fortbestand, als das Habima-Theater im November 1975 die Absicht verkündete, Mutter Courage auf den Spielplan zu setzen. Der Protest gegen die Absicht, »ein Stück mit einer pazifistischen Botschaft in einem von Feinden umgebenen, um seine Existenz kämpfenden Land aufzuführen«, kulminierte in einer Ansprache der rechtsextremen Knesset-Abgeordneten Geula Cohen vor dem israelischen Parlament, in der sie die Kürzung der staatlichen Förderung für die Habima verlangte.27 Diese wesentlichen Missverständnisse bezüglich Mutter Courage als (unter anderem) Parabel der Kapitalismuskritik schlichen sich auch in andere Aspekte des Dramas und der Inszenierung ein. Die willige Unterordnung unter neo-aristotelische, »well-made-play«- fundierte Grundsätze, die metonymisch den engen kulturellen Horizont der Kritiker und der Leser gleichermaßen verkörperten und von Brechts »germanischen« Verfremdungsstrategien bedroht waren, zeigt sich 24 25 26 27
In: »Jediot Achronot« von Juli 1951. Nahor, Asher: ›Mutter Courage und ihre Kinder‹. Zussman, Ezra. In: »Davar« vom 7. Juli 1951. Blum, Bilha: Between Playwright and Director: A Dialogue. Jerusalem: Magnes 2015. S. 110– 111.
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deutlich in jenen Besprechungen, die sich in einer umschweifigen Argumentierung mit ihrer Gelehrsamkeit in Bezug auf Brechts Lehren brüsteten, um dann, möchte man meinen, fast absichtlich diesen Eindruck zunichte zu machen. »In dem Stück gibt es keine Einheit«, klagte der »Star«-kritiker Dr. H. Gamzu, »es fällt auseinander […], der Szenenwechsel durchtrennt jenen goldenen Faden, der für die theatralische Einheit zentral ist«28; und der im Allgemeinen gut bewanderte Ezra Zussman stritt geradewegs ab, Mutter Courage sei ein universelles Drama. »Diese Handlung schreitet nicht auf symbolischen, zeitlosen Pfaden voran; der Projektor wirft unaufhörlich historische Landschaften auf sie«, eine Behauptung, die belegt, dass der Kritiker nicht zwischen »Historie« und »Historisierung« zu unterscheiden wusste.«29 Der Höhepunkt grotesker Ignoranz findet sich in Shraga Netzers Besprechung in der Zeitung »Maariv«; Netzer räumt ein, das Stück möge wohl gutes Lesematerial bieten, »andererseits jedoch ist zu bezweifeln, ob dieses Stück aufführungsgerecht ist. Es ist lang, mit zu vielen Songs überladen, und man empfindet ein merkwürdiges Fehlen von Spannung.«30 Mutter Courage ist in allererster Linie das Vehikel für eine Theaterdiva, und die Besetzung der Rolle der Courage mit Hanna Rovina sagt etwas über Ausmaß und Art von Brechts Fremdheit in einem bestimmten soziokulturellen Kontext aus. Rovina war weitaus mehr als die Grande Dame der damaligen hebräischen Bühne: diese Schauspielerin mit der noblen Gestalt und der opernhaft-theatralischen Sprechstimme (per se schon ein Verfremdungseffekt!), berühmt für ihre Darstellung der von einem Dybbuk besessenen Braut sowie für eine Reihe jüdischer Mutterrollen, war die lebende Ikone der wiederauferstehenden hebräischen Kultur. Ihre physische Präsenz und ihre vorangehende Theaterlaufbahn hinderten sie buchstäblich daran, den, für so viele Inszenierungen der Mutter Courage typischen, unlösbaren Kampf zwischen der harten, zynischen, unsentimentalen »deutschen« Händlerin Anna Fierling – Sinnbild des Kapitalismus einerseits – und dem Wesen der Mütterlichkeit andererseits zu verkörpern. Es ist klar, welchen der Janusköpfe der Courage Hanna Rovina wählte; bestätigt wurde dies durch die Stimmen der Kritiker unter dem ghosting Eindruck der heiligen Mutterrollen, die Rovina zuvor dargestellt hatte, gemischt mit deren symbolischen Bedeutung für das kollektive Bewusstsein: »Hanna Rovina […] hat einen einzigartigen, ihren eigenen Stil und es fällt ihr schwer, die typischen folkloristischen Wesensmerkmale dieser wandernden Händlerin darzustellen. […] In den Momenten der Trauer, der verletzten Mütterlichkeit – erwächst die Schauspielerin zu ihrer wahren Größe«31; »Wieder einmal wurde Hanna Rovina eine 28 29 30 31
Gamzu, Haim. In: »Haaretz« vom 20. Juli 1951. Zussman, Ezra. In: »Davar« vom 7. Juli 1951. Netzer, Shraga. In: »Maariv« vom 16. Juli 1951. Zussman, Ezra. In: »Davar« vom 27. Juli 1951.
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große Mutterrolle anvertraut, und sie erfüllt sie mit einer Ausdruckskraft, die das Publikum in den Bann zieht«;32 »Rovina hat die vom Dramatiker auferlegten Fesseln abgeworfen – und sich selbst gespielt: eine Mutter«;33 »[…] Schade, dass die Courage keine jüdische Mutter ist. Die Rovina hätte eine jüdische Rolle zweifellos besser gepasst.«34 Die Persona der Hanna Rovina wurde so zum Schlachtfeld eines im Schatten der Schoah stehenden bedeutsamen Kulturkampfes zwischen zwei Fremden, »Anderen«: zum einen der Verfremdungsästhetik und -ideologie Brechts, fälschlicherweise wahrgenommen als der fremde Vertreter des in der künstlerischen Sprache des Werks und der Figur der Mutter Courage verkörperten »Teutonischen«; zum anderen und im Gegensatz dazu der ästhetischen Sprache und Vision eines anderen Fremden – der diasporischen Figur der jiddischen mame aus dem polnischen oder russischen Schtetl, die in der Gesellschaft des Sabres, des im Land geborenen, Nietzscheanischen »Neuen Juden«, ebenso zu einer ausgestorbenen, mythischen, fremden Spezies geworden war. Der Kritiker I. M. Neiman verriss in der Folge sowohl das Stück als auch die Aufführung mit Vokabeln, die indirekt aus dem Brechtschen Lexikon abgeleitet schienen: »Mutter Courage – ein fremdes Idol, eine seltsame Pflanze.«35
Killing Him Softly: Verfremdung durch Kulinarisierung – Der gute Mensch von Tel Aviv Es sollten weitere zwölf Jahre vergehen, während deren einige Brecht-Produktionen unter der Regie von Brecht-Experten wie Yosef Milo [ursprüglich Passovsky] den fremden Brecht zu einem vertrauten, doch selten verstandenen, allseits bekannten Namen machen sollten; dies mittels oberflächlicher Spektakel mit geringer Aussage und unter Umgehung der wie gordische Knoten unlösbaren Fragen, unter Einsatz einer Fülle von kontrastierenden epischen, realistischen, historisierten und fantastischen, fabelähnlichen Stilen. Die erste dieser Inszenierungen – Der gute Mensch von Sezuan im Tel Aviver Cameri-Theater im Juni 1955, elf Jahre nach der Gründung dieser Bühne – stellte die ambivalente Rezeption der Brecht-Dramen im jungen israelischen Theater deutlich unter Beweis. Regie führte der Gründer des Cameri, Yosef Milo, mit dem einfachen, sparsamen, jedoch beeindruckenden und theatralisch wirkungsvollen Bühnenbild von Teo Otto und der Musik von Paul Dessau, die beide für die Zürcher Welturaufführung 1943 entstanden waren. Dass Milo Ottos und Dessaus 32 33 34 35
Nahor, Asher: ›Mutter Courage und ihre Kinder‹. Neiman, I.M.. In: »Dvar ha-schavua«, o.D. B.K.. In: »Ha-boker« von Juli 1951. Neiman, I.M.. In: »Dvar ha-schavua«.
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Arbeiten verwendete, ist ein Beweis für die getreue Umsetzung von Brechts epischem Konzept und seiner Regieanweisungen, einschließlich der chinesischen Grundlagen, auf denen sie beruhten. Dies lässt sich auch aus der vorhandenen Bilddokumentation der Aufführung – Fotos wie auch Karikaturen vor allem der Hauptdarstellerin Orna Porat in der Doppelrolle der Shen Te und des Shui Ta – schließen. Der Regisseur, wie der Kritiker Ezra Zussman scharf beobachtete, »wusste mit der Distanz zwischen Bühne und Publikum zu ›spielen‹ […] und das Werk in einer Mischung von Abstraktion und Realismus zu präsentieren, mit Ironie, Nüchternheit und Poesie […]«36. Obgleich Milo sich scheinbar strikt an Brechts im Stück eingebettetes Regiebuch hielt, setzte er nichtsdestoweniger dessen Zeichensprache für rein melodramatische Zwecke ein, um das mit Brechts Methode und Ideologie nicht vertraute Publikum zufriedenzustellen. Der aus Prag gebürtige Regisseur Milo war ein versierter Brecht-Experte und verstand sich auf spektakuläre Aufführungen epischer Größenordnung. Bereits in seiner Regieführung des bahnbrechenden realistischen Stationendramas Er zog ins Feld [Hu halach ba-sadot] des israelischen Autors Moshe Shamir (Cameri-Theater, 1948) – dessen Uraufführung mit der Freiheitserklärung des Staates Israel und dem ihr folgenden israelisch-arabischen Krieg zusammenfiel und das die paradigmatische Figur des Sabre, des jungen im Land geborenen Kämpfers und heiligengleich verehrten Gefallenen Uri Kahana schuf – hatte sich Milo epischer Mittel bedient: unter anderem der Figur des Erzählers, einer ostentativen Darstellung des Kibbuzlebens sowie der Dia-Projizierung schematischer Skizzen der verschiedenen Handlungsorte statt einer mimetisch-realistischen Nachbildung auf der Bühne (Bühnenbild von Arie Navon). Damit setzte er paradoxerweise Verfremdungselemente ein, um eine starke emotionale Identifikation zu erzielen.37 Milo nutzte das zweifache Mittel der Verfremdung und der Distanzierung von der im Drama vermittelten Fabel. Der gute Mensch von Sezuan knüpft an die Theorie des chinesischen Philosophen Mengzi von der »Neigung der menschlichen Natur, Gutes zu tun« an, die in Brechts Auffassung der kapitalistischen Gesellschaft in sich zusammenbricht und zur Unmöglichkeit wird. Der gute Mensch ist der Inbegriff von Brechts kolonialistisch anmutender Begeisterung für die Zeichensprache der Peking-Oper, die ihn ergriffen hatte, 36 Zussman, Ezra. In: »Davar« vom 1. Juli 1955. 37 Lewy, Tom: The German Jews and the Hebrew Theatre, S. 331–332; Kaynar, Gad: The Cameri Theatre of Tel Aviv: The Second Book, S. 173. Eine umfassende und tiefschürfende Untersuchung von Yosef Milos Beitrag zum israelischen Theater hat Dorit Yerushalmi geliefert in: The Director’s Stage: On Directors in the Israeli Theatre. Or-Yehuda: Kinneret / Zmora-Bitan / Dvir 2013, S. 178–201. Obgleich ich mich einigen ihrer Schlussfolgerungen nicht anschließen kann, bin ich dankbar für ihre informativen und fundierten Einblicke, insbesondere in Bezug auf Milo als Inbegriff des Regietheaters in Israel – und dies, wäre hinzuzufügen: lange noch bevor das Regietheater in Deutschland zu einem führenden Trend wurde.
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nachdem er den großen chinesischen Darsteller Mei Lanfang, Star der PekingOper, 1935, in Moskau gesehen hatte.38 Obgleich das Drama und die ikonische Realisierung durch Milo ein mythisiertes »chinesisches« Milieu nach westlichen Vorstellungen mit nur spärlichen authentisch-chinesischen Konventionen beibehielten, gelang es doch, den Eindruck der Ferne dergestalt zu erwecken, dass sich bei den impliziten israelischen Zuschauerinnen, für die das China der 1950er Jahre ein Fantasieland und eine unverständliche Kultur war, ein Verfremdungseffekt einstellte.39 Andererseits war die Anwendung dieses engen phänomenologischen Horizonts tragend für die sich »eins-zu-eins« an Brecht haltende Regieführung Milos; er verzichtete auf Brechts Absicht aufgrund der stummen Erkenntnis, dass die Konventionen des epischen Theaters – nach lediglich drei professionellen Brecht-Inszenierungen vor und nach der Staatsgründung – wenig bekannt waren. Diese Konventionen stellten für das einheimische Publikum eine weitere Faszinationsquelle dar, sowohl dank ihrer Neuartigkeit als auch im Kontext des schon »verbrauchten« Repertoires an Klassikern und »wellmade« angelsächsischen Dramen. Darüber hinaus stellten diese Umstände für den jungen, extrovertierten Regisseur, der unter Außerachtlassung der Aussage gerne mittels eines unerwarteten, umwerfenden, auf unterhaltsame Weise pyrotechnischen Schauspielstils und einem fantastischen Szenenbild sein Publikum »entfremdete«, eine Herausforderung dar. »Brecht hat unmissverständlich die Berechtigung jedweder Kunstform abgelehnt, die nicht als Instrument des Protests mit didaktischen Zügen dient«, stellt Bilha Blum fest. »Eine Kunst, deren einzige Aufgabe es ist, ein ästhetisches oder emotionales Erlebnis zu vermitteln, hat Brecht recht verächtlich als kulinarisch gebrandmarkt.«40 Aus dieser Sicht kann behauptet werden, dass Milo zur »Kulinarisierung« von Brechts Dramen in Israel beigetragen hat, indem er ihre Poetik und Ästhetik von innen heraus entkräftete, indem er aus dem Effekt der Verfremdung Ent-fremdung (im ursprünglichen, antiken Wortsinn) machte: die Verwandlung des nicht Vertrauten in Vertrautes, des Rationalen in Emotionales. Erreicht wurde das durch die Umformung der fremden Zeichensprache sowie des epischen Apparats – Historisierung, Zitieren der Dramatis Personae statt deren Verkörperung, Gestus, Dialektik, Maske und so weiter – in bloße exotische Stimulierungen. Es ist daher kaum verwunderlich, 38 Brecht, Bertolt: Über das Theater der Chinesen. In: Schriften zum Theater. Bd. 4, 1933–1947. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1963, S. 56. Siehe auch ders., Verfremdungseffekte in der chinesischen Schauspielkunst. In: Schriften zum Theater. Bd. 5, 1937–1951. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1963, S. 166–182; Parker, Stephen: Bertolt Brecht: A Literary Life. London / New York: Bloomsbury 2014, S. 352. 39 Das stimmt mit Fredric Jamesons Ansicht überein, Brechts späte Stücke seien »Märchen«. Jameson, Fredric: Brecht and Method. London / New York: Verso 1998, S. 140. 40 Blum, Bilha: Between Playwright and Director. A Dialogue. Jerusalem: Magnes 2015, S. 109.
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dass die halb-bewanderten Kritiker in positiver Weise sprachlos waren in Unkenntnis dessen, dass Brecht manipuliert worden war: »kühnes Experiment«, »eine Fülle von Innovationen«, formulierte es Asher Nahor in der Zeitung »Herut«,41 ein Eindruck, dem sich Itzchak Avrahamy in »Zmanim« anschloss.42 Erstaunlich ist, dass sogar der aus Deutschland stammende Kritiker Manfred Geis, der über einen weiten Horizont verfügte, erläuterte, die epische Spielweise stelle bloß eine Methode der Probearbeit dar, um den Schauspieler zu größerer Natürlichkeit zu trainieren. Er ging sogar so weit, Folgendes zu behaupten: Eigentlich ist an all den, solches Staunen erweckenden »Innovationen« nichts Neues. Sie sind so alt wie das Theater. […] Im chinesischen und japanischen Theater wurde das Schauspiel von Anfang bis Ende mit Erläuterungen eines »Zeremonienmeisters« flankiert, der nichtsdestoweniger im Stück eine Figur spielte, und die Bühne war mit Ausnahme einer rudimentären Beleuchtung und gezählter Requisiten ungeschmückt.43
Dank der gelehrten Ignoranz der Theaterkritiker erfahren wir einige interessante Details über die Inszenierung, obgleich aus der Lektüre der Besprechungen wenig darüber zu erfahren ist, was auf der Bühne eigentlich vor sich ging. So beschreibt Avrahamy die Art, in der Brecht auf dem Wege des chinesischen Theaters und Milos Regieführung die Theaterillusion mit einem »merkwürdigen Trick« [!] aufhebe: Die Darsteller »betonen nachdrücklich, dass sie nicht echte Figuren in einem Stück sind, sondern Schauspieler, die sich an die Zuschauer wenden, mit erklärtem Pathos deklamieren und so weiter.«44 Im Anschluss bemängelt Avrahamy, der Symbolismus sei »offensichtlich und unverhüllt«; er zeigt sich schockiert über Verfremdungsmittel wie den Kostümwechsel vor dem Publikum, das Auf- und Zuziehen des Vorhangs durch die Schauspieler selbst, extreme Stimmmodulationen (Orna Porat in der Doppelrolle von Shen Te zu Shui Ta und umgekehrt); Paul Dessaus Musik wirft er vor, »das Publikum anzuspringen«, statt die Sänger zu begleiten. Diese abwertenden Reaktionen beweisen via negativa, dass Brechts Drama unter der Regie Milos eine wortwörtliche Umsetzung der Anweisungen in Brechts vorgeschriebenem Regiebuch war. Was nun die Hauptdarstellerin betrifft – in Deutschland geboren als Irene Klein, in ihrer Jugend Mitglied des Bunds Deutscher Mädel (BDM), die, zum Judentum übergetreten, als Orna Porat zur besten hebräischsprachigen Schauspielerin der israelischen Bühne und Trägerin des Israel-Preises wurde – gewinnt man den Eindruck, dass ihre Darstellung (und die ihrer Kollegen) chinesische Stilisierung, epische Distanz und naturalistische Identifikation auf gelungene
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Nahor, Asher. In: »Herut« vom 1. Juli 1955. Avrahamy, Itzchak. In: »Zmanim« vom 24. Juni 1955. Geis, Manfred: Das Gute und das Böse in einer Seele. In: »Davar« vom 14. Juli 1955. Avrahamy, Itzchak. In: »Zmanim«.
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Weise hybridisch miteinander verschmolz. Avrahamy weist darauf hin, dass sie ein typisches Beispiel »demonstrativer Spielweise« sei. In der ersten Szene war Shen Te das ›Abbild‹ einer europäischen Prostituierten mit entsprechendem Kostüm und unterschied sich damit von der Ladeninhaberin Shen Te in deren chinesischen Bekleidung. Dieser scharfe Kontrast wurde noch durch den jeweiligen Unterschied in Gestik, Gang und stimmlicher Klangfarbe hervorgehoben. Der Kontrast gipfelte in ihrer Darstellung einer männlichen Figur, in der kantige, rhythmische Bewegungen und eine mechanische Sprechweise betont wurden.45
Am hervorragendsten war Porat jedoch, wenn sie – Brecht behüte! – emotional wurde; oder, wie es der Kritiker Ezra Sussman formulierte – als sie die Maskerade nicht mehr ertragen kann, »bricht der Schrei eines erstickenden, gequälten Menschen hervor«.46 Aus diesen Zeilen lässt sich schließen, dass Porat die dialektische Paradoxie der schauspielerischen Freiheit innerhalb der vorgeschriebenen Grenzen eines Typus nachvollzog, ein für das chinesische Theater so charakteristischer Ansatz, der dem gefühlsbetonteren Stil von Mei Fanlangs KunOper, der ursprünglichen Inspiration für Brechts »chinesische« Zeichensprache, ähnelt.47 Die Ignoranz der impliziten Zuschauer:innen in Bezug auf Brechts Theatertheorie und -praxis, die das Wesen von Milos Der gute Mensch von Sezuan bestimmte, wie auch die Art der Inszenierung, die Brechts Theatersprache zwar übernahm, jedoch ohne ihre thematische Bedeutung, spiegelt sich unbewusst in Avrahamys Worten wider: Bertold48 Brecht spricht von einer neuen Spieltechnik, die vor allem auf der ›NichtIdentifikation‹ mit dem dargestellten Charakter beruht und einen ›Eindruck der Fremdheit‹ hervorrufen soll. […Indes] lassen erraten, dass die gelungene Umsetzung dieser Technik in dieser Aufführung aus der Fremdheit und Entfernung der Welt, in der das Stück angelegt ist, resultiert. […] Da die Handlung in China spielt, sind wir bereit, eine Darstellungsweise zu akzeptieren, die aus einer Mischung von Deklamieren, Maskenspiel, naturalistischer Sprechweise und melodramatischen Momenten besteht.49
Als Zusammenfassung dieser kurzen Erörterung von Yosef Milos Inszenierung von Der gute Mensch von Sezuan in dem, was Brecht betraf, naiven phänomenologischen Zustand der jungen israelischen Gesellschaft lässt sich Corina Shoefs prägnante Beobachtung zitieren:
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Ebd. Sussman, Ezra. In: »Davar« vom 1. Juli 1955. Brecht, Bertolt: Über das Theater der Chinesen, S. 55. Statt Bertolt, ein häufiger Fehler in der von Halbbildung und Schlamperei charakterisierten Manier mehrerer israelischer Kritiker zu jener Zeit. G. K. K. 49 Avrahamy, Itzchak. In: »Zmanim«.
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Yosef Milo übernahm [den epischen Stil] nicht so sehr in seinem ursprünglich, ideologisch-didaktischen Kontext, sondern als visuelles und erfahrungsmäßiges Mittel. […] Diese Herangehensweise war eine Antithese zum stanislawskischen Stil der Habima. Statt des psychologischen Verständnisses der Motive oder der Logik der Handlung brachte er die sinnliche – visuelle und auditive – Erfahrung ein. Der Fokus verschiebt sich von der Idee zur Kunst als solche.50
Dem wäre hinzuzufügen, dass Brechts Drama unter Milos Regie nicht nur von der gebräuchlichen stilistischen Norm abwich, sondern auch von Brechts Intentionalität; statt die epischen und fernöstlichen Codes im ursprünglichen Sinn des Autors zu verflechten – das heißt die Zuschauer:innen im Dienst der Aussage durch Entfremdung zum Nachdenken zu zwingen – machte er die brechtschen Konventionen vom Mittel zum Zweck der Aufführung. Indem er die Distanz schaffenden rhetorischen Reize in Identifikation erweckende verwandelte, mithin Brechts Strategie umkehrte, machte Milo den fremden und entfremdenden zu einem sich selbst ent-fremdeten. Auf welche Weise Brechts Entfremdungsinstrumentarium vor einem uneingeweihten Publikum gerade durch seine strikte Einhaltung verfremdet wurde, lässt sich treffend durch die Art veranschaulichen, in der Brechts chinesische Zeichensprache (paradigmatisch stehend für alle mythisierten ikonischen Orte und ihre stereotypen Attribute bei Brecht: Chicago, London, Urga, der Kaukasus und so weiter) in Milos Brecht-Aufführungen manipuliert wurde: indem der audiovisuelle exotische Reiz kulturell verankerter Zeichen beibehalten und gleichzeitig von innen heraus ihre tiefliegende, symbolische Bedeutung und ihre kulturelle Resonanz untergraben wurde. Denn ein solches symbolisches Kapital kann nur dann fruchtbar gemacht werden, wenn Theater und Publikum tief verwurzelte traditionelle Konventionen teilen, etwa wenn ein Darsteller der Peking-Oper einen hellblauen Banner schwenkt, der Wellenschlag symbolisiert.51 Dieses Symbol ist in einem ganzen Geflecht vertrauter, bedeutungsbefrachteter Sprache eingebettet, die zur ästhetischen und empirischen chinesischen Realitätskonvention gehört (wie Brecht einräumt: »All dies ist […] kaum übertragbar«52). Im Gegensatz dazu wäre eine, trotz und gerade wegen ihrer verfremdenden Darstellung, extrem emotionale Szene in der ersten höchst erfolgreichen israelischen Aufführung des Kaukasischen Kreidekreises im Haifa Municipal Theatre (1963) zu nennen. In dieser Szene kehrt Grusches (Zaharira Harifai) Verlobter Simon (Ilan Dar) aus dem Krieg zurück, nur um sie verheiratet und mit einem Kind vorzufinden. Wegen des rauschenden Flusses, der zwischen ihnen 50 Shoef, Corina: The Cameri Theatre and »Art for Art’s Sake«. In: Kaynar, Gad / Rozik, Eli / Rokem, Freddie (Hg.): The Cameri: A Theatre of Time and Place. Tel Aviv: The Faculty of Arts, Tel Aviv University1999, S. 55. Vgl. auch Parker, Stephen: Bertolt Brecht. 51 Vgl. z. B. Kalvodova-Sís-Vanisˇ: Chinese Theatre. London: Spring Books o. D. Tafel 42. 52 Brecht, Bertolt: Verfremdungseffekte in der chinesischen Schauspielkunst, S. 167.
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fließt, kann sich Grusche nicht rechtfertigen. Regisseur Milo platzierte das Paar – als offensichtlich chinesisch inspiriertes Verfremdungsmittel – ganz nahe zueinander, getrennt nur von einem schmalen Streifen hellblauen Tuches, wobei die beiden auf dialektische Weise praktisch auf Nulldistanz durch laute Zurufe einen intimen Dialog miteinander führen. Diese typisch chinesisch-epische, illusionszerstörende und emotionsdämpfende Taktik wurde vom Publikum als brillantes, »emotionsgeladenes« theatralisches Mittel rezipiert, dass den Effekt der Nicht-Kommunikation und inneren Qual (nämlich als psychologischer Gestus) der dramatischen Figuren steigern sollte; das war aber auch alles, da dieser Kniff bewusst aus seiner integralen semiotischen Tradition gerissen worden war, seine tief verwurzelte Bedeutung verloren hatte und einem uneingeweihten Publikum präsentiert wurde.53
Nachbemerkung Erst mit dem Dramenwerk der beiden Barden des modernen israelischen Theaters – Nissim Aloni in den frühen 1960er Jahren und Hanoch Levin Anfang der 1970er – fanden Brechts Verfremdungs- und Entfremdungsstrategien wie auch seine Haltung als anti-bourgeoiser Fremder in die Dramaturgie des israelischen Dramas und Theaters Eingang. Im vorliegenden Kontext genügt es zusammenfassend festzustellen, dass der gemeinsame Nenner von Alonis und Levins Werken in ihrer gesellschaftlichen Selbstentfremdung durch den Einsatz einer ganzen Bandbreite epischer Mittel zum Ausdruck kam; damit distanzierten sie sich von der patriotischen Solidarität und Einstimmigkeit der jungen israelischen Gesellschaft, brachen mit dem unausgesprochenen Motto »mein Land, Recht oder Unrecht« und machten sich die subversive Haltung des Fremden als kritischen Außenseiter zu eigen. Es gelang ihnen dadurch, das »natürliche«, selbstverständliche, selbstverherrlichende und separatistische kollektive zionistische Bewusstsein zu verfremden. In Nissim Alonis Die amerikanische Prinzessin historisiert der junge, zynische Prinz Freddie das Land des Dramatikers, des Schauspielers und des Publikums, indem er Israel aus seinem eigenen verfremdeten, legendenhaften Kontext definiert als: »Ein kleines Land im befreiten
53 Hans Mayer hat dazu Folgendes festgestellt: »Beim Studium der chinesischen Schauspielkunst lernte Brecht, daß auch die Gestik, daß die ganze szenische Aktion eines Schauspielers den Charakter des Zitats annehmen kann.« Mayer, Hans: Brecht und die Tradition. Pfullingen: dtv 1961, S. 94. Diese Feststellung impliziert auch eo ipso, dass der Zuschauer oder die Zuschauerin imstande ist, die zitierte Quelle zu dekodieren und mitzuerleben. Für den/die uninformierte/n Zuschauer/in bleibt sie nur ein Simulacrum, ein selbstreferenzielles Zeichen.
Migration eines fremden Flüchtlings in eine selbstmarginalisierte Gesellschaft
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Afrika. Extrem fanatisch. Eine Unmenge Folklore.«54 Dies ist nur ein kleines Bespiel, das einer gesonderten Studie würdig wäre, wie Brecht durch seine idiosynkratische Aneignung gleichzeitig ent-fremdet und ver-fremdet sein kann. Aus dem Englischen von Liliane Meilinger
Literatur Aloni, Nissim: Ha-nesicha ha-amerikait [Die amerikanische Prinzessin]. Tel Aviv: Jediot Achronot 2002. Avrahamy, Itzchak. In: »Zmanim« vom 24. Juni 1955. B.K.. »Ha-boker«, Juli 1951. Bloch, Ernst: Entfremdung, Verfremdung. Alienation, Estrangement. In: »The Drama Review: TDR«. Bd. 15, Nr. 1 vom Herbst 1970, S. 120–125. Blum, Bilha: Between Playwright and Director: A Dialogue. Jerusalem: Magnes 2015. Brecht, Bertolt: Über das Theater der Chinesen. In: Schriften zum Theater. Bd. 4, 1933–1947. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1963, S. 53–58. Brecht, B. Verfremdungseffekte in der chinesischen Schauspielkunst. In: Schriften zum Theater. Bd. 5, 1937–1951. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1963, S. 166–182. Friedlander, Nili. »Maariv« , 20. Februar 1994. Gamzu, Haim. »Haaretz«, 20. Juli 1951. Geis, Manfred: Die ›Dreigroschenoper‹ bei Ohel. In: »Jüdische Rundschau« vom 20. Oktober 1933, S. 673. Geis, M., Das Gute und das Böse in einer Seele. »Davar« vom 14. Juli 1955. Holiday, Adrian / Hyde, Martin / Kullman, John: Intercultural Communication: An Advanced Resource Book. London: »Australian review of applied linguistics« 1996, S. 109– 115. Jameson, Fredric: Brecht and Method. London & New York: Verso 1998. »Jediot Achronot« von Juli 1951. Kalvodova-Sís-Vanisˇ: Chinese Theatre. London: Spring Books o. D. Tafel 42. Kaniuk, Yoram. »La-merchav«, 27. Juni 1962. Kaynar, Gad: The Cameri Theatre of Tel Aviv: The Second Book. Tel Aviv: The Cameri Theatre, 2008. Levy, Shimon: German Plays on Hebrew Stages. In: Bayerdörfer, Hans-Peter (Hg.): Theatralia Judaica. Bd. 2. Tübingen: Niemayer 1996, S. 36–46. Lewy, Tom: The German Jews and the Hebrew Theatre: A Clash between Western and Eastern Europe. Tel Aviv: Resling 2016. Mayer, Hans: Brecht und die Tradition. Pfullingen: dtv 1961. Nahor, Asher: ›Mutter Courage und ihre Kinder‹ in der »Habima«. »Herut«, 3. Mai 1951. Nahor, Asher. »Herut«, 1. Juli 1955. Neiman, I.M. »Dvar ha-schavua«, o.D. 54 Aloni, Nissim: Ha-nesicha ha-amerikait [Die amerikanische Prinzessin]. Tel Aviv: Jediot Achronot 2002, S. 27.
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Graz˙yna Krupin´ska (Katowice)
Er wird stachelig bleiben. Brechts Rezeption in Polen in den frühen 1950ern Das Amt für Literatur Das Amt für Literatur mißt bekanntlich den Verlagen Der Republik das Papier zu, soundso viele Zentner Des seltenen Materials für willkommene Werke. Willkommen Sind Werke mit Ideen Die dem Amt für Literatur aus den Zeitungen bekannt sind. Diese Gepflogenheit Müßte bei der Art unserer Zeitungen Zu großen Ersparnissen an Papier führen, wenn Das Amt für Literatur für eine Idee unserer Zeitungen Immer nur ein Buch zuließe. Leider Läßt es so ziemlich alle Bücher in Druck gehen, die eine Idee Der Zeitungen verarzten. So daß Für die Werke manches Meisters Dann das Papier fehlt.1
Die »eine Idee«, auf die Bertolt Brecht in dem hier zitierten Spottgedicht aus dem Jahre 1953 hinweist, lässt sich unmissverständlich als die seit Ende der 1940er in allen Ländern des Ostblocks forcierte Idee des sozialistischen Realismus sowjetischer Provenienz entlarven. Der Aufstieg, die Entwicklung, Funktionsweise und vor allem das Ende dieses von allen Instanzen des parteigesteuerten Kulturbetriebs2 propagierten Modells3 der Kunst und Literatur verlief jedoch in Volksrepublik Polen und der Deutschen Demokratischen Republik unter anderen Vorzeichen. »Während in der DDR – so Katarzyna S´liwin´ska – eine Reihe kul-
1 zit. nach Klement, Andreas: Brechts neues Leben in der DDR. Die späte Lyrik. Marburg: Tectum 2012, S. 126. 2 Das Amt für Literatur- und Verlagswesen war eine der zahlreichen den Literaturbetrieb in der DDR steuernden Institutionen und Organisationen, deren Aufgabe darin bestand, die führende Rolle der SED durchzusetzen und zu sichern. Seit 1951 bis 1954 war es das oberste Kontrollorgan für die Druckprozedur. Siehe: Langenbucher, Wolfgang R. / Rytlewski, Ralf / Weyergraf, Bernd (Hg.): Kulturpolitisches Wörterbuch. Bundesrepublik Deutschland, Deutsche Demokratische Republik im Vergleich. Stuttgart: Metzler 1983, S. 480. 3 In der Fachliteratur wird der sozialistische Realismus, kurz Sozrealismus, meist als Methode, Richtung, Strömung, Tendenz, Stil oder auch Doktrin bezeichnet.
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turpolitischer ›Verordnungen‹ dem staatlichen Kunstkonzept gleichsam Gesetzeskraft, vor allem aber institutionelles und finanzielles Durchsetzungsvermögen verliehen, trug in Polen vor allem der Schriftstellerverband die Verantwortung für die Propagierung und Durchsetzung des sozialistisch-realistischen Normensystems.«4 Damit wiederholt sie die Meinung Edward Moz˙ejkos, der schon 1977 zwei Versionen des sozialistischen Realismus unterschied: die bulgarische und die polnische. Die erstere, typisch für Bulgarien, die DDR und Rumänien, sei eine von oben herab den Kulturkreisen aufgezwungene, dogmatische und dem sowjetischen Vorbild Folge leistende Doktorin autoritativen Charakters. Die zweite, die man in Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn vorfände, sei viel milderer und offener für jegliche Modifikationen, denn sie wäre kein aufgezwungenes, sondern nur ein empfohlenes Konzept.5 Fakt ist, dass in Polen schon seit 1945 der Realismus-Begriff zur Debatte gestellt wurde, was ein solides theoretisches Fundament für den späteren Sozrealismus gebildet hat. Eingeleitet wurde sie von der marxistisch orientierten Zeitschrift »Kuz´nica« (Schmiede), die gleich in ihrer ersten Nummer die Rückkehr zum vorerst weit gefassten Realismus postuliert hat. Hinweise auf die europäische Tradition des humanistischen Realismus wie auch die Vermeidung des Zusatzes sozialistisch waren mit der anfänglichen Aufgeschlossenheit gegenüber nichtdoktrinären Weltanschauungen und dem Versuch, die Andersdenkenden nicht gleich vor den Kopf stoßen zu wollen, verbunden. Die Monatsschrift »Twórczos´c´« (Literarisches Schaffen) hat die Forderung nach dem Realismus in den Kontext der im westlichen Nachkriegseuropa diagnostizierten (bürgerlichen) Kulturkrise gestellt, die schon vor dem Krieg anfangen würde und in dem Hang zum Irrationalismus sichtbar sei, der letztendlich in zwei Weltkriegen, totalitären Ideologien und Vernichtungslagern seinen schlimmsten Ausdruck finden würde. Das Postulat der Rückkehr zum Realismus war also auch ein Postulat der Rückkehr zum Rationalismus und gleichzeitig ein Versuch und eine Notwendigkeit, das Geschehene verstehen, beurteilen und bewahren zu können.6 Eine erste Engführung der Definition des Realismus ließen die Artikel Jan Kotts in »Odrodzenie« (Wiedergeburt) erahnen, in denen der Autor dem Psychologismus die soziologische Konstruktion des Menschenschicksals und die sozio4 S´liwin´ska, Katarzyna: Zu einigen Aspekten des sozialistischen Realismus in Polen und in der DDR. In: »Studia Germanica Posnaniensia« Nr. XXVII, 2001, S. 201–217, hier S. 209–210. 5 Vgl. Malkiewicz, Anna: Aufstieg und Fall des sozialistischen Realismus am Beispiel der bildenden Kunst der Volksrepublik Polen und der DDR. In: »Inter Finitimos« Nr. 1, 2003, S. 107– 114, hier S. 109–110. Moz˙ejkos Buch erschien gleichzeitig in Norwegen, Dänemark und der BRD (Der sozialistische Realismus: Theorie, Entwicklung und Versagen einer Literaturmethode. Bonn: Bouvier 1977). 6 Vgl. Czarnik, Oskar u. a. (Hg.): Literatura polska 1918–1975, Teil I, Bd. 3: 1945–75. Warszawa 1996, S. 218; Burkot, Stanisław: Literatura polska 1939–2009. Warszawa 2010, S. 59–64.
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logische Typisierung der Figuren entgegensetzte. Realismus führe zur Erkenntnis, so Kott, dass das Bild und das Schicksal des Menschen nicht nur von der Biologie und der Psychologie geprägt seien, sondern vor allem von der Geschichte.7 Im Kontext der polnischen Brecht-Rezeption in den ersten Nachkriegsjahren erscheint die Tatsache, dass »Kuz´nica« im Jahre 1948 die ersten Übersetzungen der Schriften György Lukács’ publizierte (wie z. B. »Wartos´ci realizmu« (Werte des Realismus)), nicht unwesentlich. Der bis Januar 1949 relativ frei ausgetragene Realismus-Streit endete mit dem 4. Allgemeinen Kongress des Berufsverbandes Polnischer Schriftsteller in Stettin, der eine Kampagne für den sozialistischen Realismus startete.8 Ein ähnliches Treffen – die 1. Nationale Theatertagung – wurde für die Dramatiker, Theaterleute und -kritiker im Juni 1949 organisiert. In dem einleitenden Referat forderte der Kultusminister Włodzimierz Sokorski ein neues zeitgenössisches sozialistisch-realistisches Repertoire und betonte, dass im Kampf um neue sozialistische Inhalte formale Aspekte keine Berücksichtigung finden sollten, da sich eine vom Inhalt lösende Form zu Formalismus und Ideologielosigkeit führen würde.9 Um das Ziel zu erreichen, wurden gleich zwei großangelegte Festivals geplant: für den November/Dezember 1949 das Festival der Russischen und Sowjetischen Dramaturgie und für das Jahr 1951 das Festival der Polnischen Zeitgenössischen Dramaturgie. Das erste Festival sollte den polnischen Dramatikern den richtigen Weg weisen, doch die kurze Vorbereitungszeit hat unweigerlich das künstlerische und organisatorische Niveau der ganzen Veranstaltung beeinträchtigt. Darüber hinaus erwies sich, dass nicht die von den Parteifunktionären erwartete neue sowjetische Dramatik, sondern die russischen Klassiker, allen voran Anton Tschechow, das Festival dominiert haben.10 Als verheerend für das polnische Theater dieser Zeit muss aber dessen völlige Unterordnung unter die administrativen Zwänge der staatlichen Kulturpolitik gesehen werden. Unmissverständlich drückte sich darüber der schon angeführte Minister Sokorski aus, der in den Theaterleuten »gewöhnliche Staatsbeamte« gesehen hat. Das Theater wurde zu einem Betrieb wie alle anderen erklärt, mit einem von oben herab bestimmten Finanz- (Einnahmen und Ausgaben) und Dienstleistungsplan (Zahl der Uraufführungen, Inszenierungen und Zuschauer). 7 Vgl. Jarmułowicz, Małgorzata: Sezony błe˛dów i wypaczen´. Socrealizm w dramacie i teatrze polskim. Gdan´sk: WUG 2003, S. 48–49. 8 Nach Władysław Gomułkas Sturz im Herbst 1948 wurde die Kulturpolitik immer mehr den ideologischen Grundsätzen unterworfen. Bald häuften sich vom Kultusministerium initiierte Treffen, Kongresse und Konferenzen, deren Ziel es war, allen Kunstschaffenden – bildenden Künstlern, Musikern, Architekten etc. – die Doktrin des sozialistischen Realismus als die einzig legitime künstlerische Gestaltungsart aufzuzwingen. 9 Vgl. Napiontkowa, Maria: Narada Teatralna – Obory, 1949. URL: https://encyklopediatea tru.pl/hasla/231/narada-teatralna-obory-1949 / letzter Zugriff am 20. 3. 2022. 10 Vgl. Jarmułowicz, Małgorzata: Sezony błe˛dów i wypaczen´, S. 58, 60.
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Zeitnormen für die Vorbereitung einer Aufführung und für die technischen und administrativen Arbeiten wurden festgelegt und kollektive sozialistische Produktion mit ihren Wettbewerbszielen, Produktionsverpflichtungen und Subbotniks erwartet.11 Doch die Krönung des 1949 eingeleiteten Prozesses des Aufbaus und der Festigung des sozialistischen Realismus auf dem Theater soll das Festival der Polnischen Zeitgenössischen Dramaturgie darstellen. Zu diesem Zweck wurde ein hochdotierter Wettbewerb für zeitgenössische Stücke ausgeschrieben, an dem 50 Schriftsteller teilnahmen, von denen wiederum 40 sich zum ersten Mal an der Gattung Drama versuchten. Von den 57 eingereichten Stücken hat der Wettbewerbsausschuss 24 für die Realisierung auf der Bühne qualifiziert. Die Qualität der eingesandten Stücke schien von vorne herein nicht das maßgebliche Kriterium dabei zu sein. Die neuen zeitgenössischen Stücke wurden nicht »um ihrer selbst willen« auf die Bühne gebracht, sondern um zu zeigen, dass sich das Theater aktiv an dem im Land tobenden Klassenkampf beteiligt und dass es wünscht, »Kräfte, die bei uns die sozialistische Gesellschaftsordnung und den sozialistischen Menschen bilden«12, zu stärken. Offene Kritik an den Ursachen für die evidente Misere der Stücke – dass man nämlich durch Impulse von außen das künstlerische Schaffen kaum inspirieren könne – wurde unterdrückt, da sie damit die Kernidee des Festivals in Frage zu stellen drohte.13 Nichtsdestotrotz offenbarte gerade die enorme Zahl der sich an dem vorgegebenen Modell des sozialistischen Realismus orientierten Dramenwerke dessen offensichtliche Schwäche: den starren Schematismus. So wurde der Wettbewerb von 1951 – nolens volens – zum notwendigen Katalysator der Veränderungen in der polnischen Dramatik und dem polnischen Theater. Die ersten lauten Bekundungen der Unzufriedenheit über den miserablen Zustand des polnischen Theaters und der polnischen Dramatik ließen nicht lange auf sich warten. Das Signal dazu gab der im Januar 1952 in »Z˙ycie Literackie« (Literarisches Leben) erschienene Artikel Nowy Zoil, czyli o schematyzmie (Ein neuer Zoilos oder über den Schematismus) von Ludwik Flaszen. Der Kritiker warf der sozialistischen Prosa billigen Optimismus und ideologische Vereinfachungen vor. Sie sei von Menschen geschaffen, die »keine Lehren gesucht haben, sondern eine Bestätigung dessen, was sie aus den Zeitungen und Büchern in der Abgeschiedenheit ihrer Arbeitszimmer schlussfolgerten.«14 Drei Monate später entbrannte in der Monatsschrift »Teatr« eine breite Diskussion über das zeitgenössische Drama, die während des für den Juni einberufenen Plenums des 11 Vgl. ebd., S. 53, 62. Subbotniks waren unentgeltliche am Samstag erbrachte Arbeitsleistungen. 12 Csató, Edward, zit. in: ebd., S. 127. Falls nicht anders angegeben, stammen die Übersetzungen aus dem Polnischen von mir, G. K. 13 Diese kritische Stimme erhob Leon Kruczkowski, der Präsident des Schriftstellerverbandes. Sein Referat durfte erst 1974 gedruckt werden. Vgl. ebd., S. 67. 14 Flaszen, Ludwik, zit. in: ebd., S. 68.
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Vorstands des Schriftstellerverbandes fortgesetzt wurde. Die Hauptkritikpunkte betrafen den Schwarz-Weiß-Schematismus, die irritierende Schablonenhaftigkeit in der Darstellung der Schwarzcharaktere und die Abhängigkeit der Menschentypen von deren sozialer Herkunft und Klassenzugehörigkeit.15 Die Kritik an den Texten ging mit der Kritik an der den Theatern aufgezwungenen, planwirtschaftlichen Funktionsweise einher, die zu einer allgemeinen Misere und Stagnation geführt hatte. Während des Vorstandsplenums des Verbandes Polnischer Theater- und Filmkünstler (SPATiF) im April 1952 verlangte der Schauspieler Kazimierz Rudzki: »Erlauben Sie uns, den Betriebsleitern, nicht nur für die Termine der Berichtserstattungen und das ordentliche Aufhängen eines Feuerlöschers zu haften, aber auch wenigstens ein bisschen … das Theater zu leiten und zu verwalten.«16 Małgorzata Jarmułowicz vertritt die Meinung, dass die den Sozrealismus an den Pranger Stellenden gar nicht gegen die Doktrin selbst auftraten. Im Grunde würden sie versuchen, den sozialistischen Realismus zu verteidigen, indem sie auf dessen Schwächen hinwiesen mit dem Ziel, ihn zu verbessern, ja zu veredeln. Er müsse endlich aus der Embryonalphase in die Phase der authentischen sozialistischen Kunst eintreten. Ob diese Deutungsversuche der Krise ernst gemeint oder doch vielleicht taktischer Natur waren, lässt Jarmułowicz dahinstellen, denn wichtiger scheint die Tatsache zu sein, dass sie letztendlich das Ende des beanstandeten Kunstmodells herbeiführten.17 Diese Atmosphäre wachsenden Gefühls des Pathologischen und der Leere im polnischen Theater durchbrach der Besuch des Berliner Ensembles im Dezember 1952. Brecht »rettete unser Theater vor der Sinn- und Ziellosigkeit«18, erinnerte sich der literarische Leiter an Krakauer und Warschauer Bühnen Zbigniew Krawczykowski vier Jahre später, als man den Sozrealismus in Polen gerade offiziell als verpflichtende Doktrin verabschiedet hatte.19 Krawczykowskis Worte waren keineswegs übertrieben, bedenkt man, was für eine heftige Kontroverse um das Berliner Ensemble, dessen Gründer und die Theorie des epischen Theaters gleich Anfang 1953 entbrannte. Bevor es jedoch dazu kam, mussten Bedingungen geschaffen werden, die den offiziellen Besuch des Brecht-Theaters in Polen ermöglichten. Es muss ange15 16 17 18 19
Ebd. Zit. in: ebd., S. 69. Vgl. ebd., S. 70. Zit. in: ebd., S. 73. Während des 7. Kongresses des Polnischen Schriftstellerverbandes (29. 11. 1956–2. 12. 1956) wurde eine Satzungsänderung beschlossen, die die Organisation von der »Verantwortung für die Realisierung sozialistisch-realistischer Normen in der Literatur sowie [von der] Verpflichtung zur ideologischen Bewußtseinsbildung der Schriftsteller« befreite. S´liwin´ska, Katarzyna: Zu einigen Aspekten des sozialistischen Realismus in Polen und in der DDR, S. 210.
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merkt werden, dass die kulturellen Beziehungen zwischen Polen und Ostdeutschen vor der Gründung der DDR ziemlich bescheiden ausfielen und »mehr oder weniger spontanen bzw. zufälligen Charakter [hatten]«20. So ein spontaner Akt der Kontaktaufnahme war beispielsweise der Brief des zwanzigjährigen Konrad Swinarski (1929–1975) – der später durch die Inszenierung des Marat/Sade von Peter Weiss am Westberliner Schillertheater (April 1964) wesentlich zum Weltruhm des Dramatikers und dem eigenen beitragen sollte und von 1955 bis 1957 Theater-Assistent beim Berliner Ensemble war – an Bertolt Brecht: Ich habe ganz einfach im Jahre 1949 den Dreigroschenroman21 gelesen und spontan, ohne dass ich mit irgendwelcher Reaktion des Autors gerechnet hätte, einen Brief an ihn geschrieben. Als Antwort habe ich eine Sendung erhalten: Mutter Courage [und] die Bearbeitung des Hofmeisters von Lenz mit der Bitte, zurückzuschreiben, wie mir die Stücke gefielen. So hat es begonnen. Der ständige Austausch von Büchern und Briefen dauerte dann einige Jahre.22
Die kulturellen Kontakte wurden erst seit der Gründung der DDR intensiviert und erhielten mit der Unterzeichnung des Abkommens über die kulturelle und wissenschaftliche Zusammenarbeit am 8. Januar 1952 in Warschau (vom polnischen Sejm im Februar ratifiziert) einen rechtlich-organisatorischen Rahmen. Damit war nicht nur der Verlauf der Beziehungen geregelt, aber auch – wie Marek Rajch vermerkt – »eine möglichst umfassende Aufsicht über diese« durch die »führenden Parteien und Regierungen der beiden Staaten.«23 Gerade im Fall des Falls »Besuch des Berliner Ensembles in Polen« spielt die Tatsache der politischen Aufsicht über die für den Dezember 1952 geplante Tournee eine entscheidende Rolle. »Probleme«, die den kulturpolitischen Funktionären und Wortführern der marxistischen Ästhetik und des sozialistischen Realismus in der DDR das BrechtTheater und Brecht selbst bereitete, sind bekannt. Schon die als das herausragende Theaterereignis der Nachkriegszeit in die Theatergeschichte eingegangene Premiere der Mutter Courage am 11. Januar 1949 rief die ersten Kritiker auf den Plan. Fritz Erpenbeck verdächtigte den Künstler einer »volksfremden Dekadenz« 20 Rajch, Marek: »Unsere andersartige Kulturpolitik«. Zensur und Literatur in der DDR und in der Volksrepublik Polen. Poznan´: WUAM 2015, S. 90. 21 Die polnische Übersetzung des Romans ist schon 1936 erschienen. 1949 wurde der Roman neu aufgelegt. 22 Swinarski, Konrad: Brecht z bliska. In: »Polityka« Nr. 6, 1961. Wiederabgedruckt in: Swinarski, Konrad: Wiernos´c´ wobec zmiennos´ci. Wste˛p Marta Fik, wybór i opracowanie Marta Fik i Jacek Sieradzki, przypisy Jacek Sieradzki. Warszawa: Wydawnictwo Artystyczne i Filmowe 1988, S. 58–66, hier S. 58. Mehr dazu: Feliszewski, Zbigniew: »Das Leben auf der Bühne so zu zeigen, dass der Zuschauer nicht nur einer Sache folgte …« Konrad Swinarskis und Bertolt Brechts Kunstauffassung. In: Nowara-Matusik, Nina (Hg.): Facetten des Künstler(tum)s in Literatur und Kultur. Berlin: Peter Lang 2019, S. 181–191. 23 Rajch, Marek: »Unsere andersartige Kulturpolitik«, S. 90.
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und verwendete damit einen Begriff, der »damals bereits die politisch denunzierende Färbung [hatte]«24. Dass Brecht im gleichen Jahr bei der Verleihung der Nationalpreise »nur« der Nationalpreis II. Klasse zuerkannt wurde, und dazu im Kollektiv (für die Courage-Aufführung), spricht für sich selbst. Brecht, der sich nicht vereinnahmen ließ, war ein Dörnchen in den Augen der Parteiverantwortlichen, die immer wieder versuchten, ihn auf den »richtigen« Weg zu bringen. Nachdem während des 5. Plenums des SED-Zentralkomitees im März 1951 der Kampf gegen den Formalismus in Kunst und Literatur verkündet worden war, beauftrage das Politbüro im Mai des gleichen Jahres den Redakteur der Tageszeitung »Neues Deutschland« Wilhelm Girnus mit folgender Aufgabe: »Arbeit mit Bert Brecht: Genosse W. Girnus erhält den Auftrag mit Bert Brecht eine ständige politische Arbeit durchzuführen und ihm Hilfe zu leisten.«25 Nur indirekt verweist Werner Mittenzwei darauf, welche Konsequenzen diese »Hilfeleistung« nach sich zog, wenn er schreibt, dass in den Jahren 1951 bis 1953 Brecht an Diskussionen teilnahm, die ihn durch ihre »Härten, Verengungen und notwendigen Klärungen«26 sehr stark beanspruchten. Erwähnt seien die Vorwürfe gegen die Gorki-Bearbeitung der Mutter, die Oper Das Verhör des Lukullus, zu der Brecht das Libretto schrieb oder die Inszenierung von Goethes Urfaust (Potsdam, 23. April 1952; Berlin, Mitte März 1953), die der SED-Chef Walter Ulbricht höchstpersönlich als eine »formalistische Veranstaltung«27 tadelte. Ende Februar 1952 fuhr Bertolt Brecht zusammen mit Helene Weigel und Hans Marchwitza28 auf Einladung des Komitees für kulturelle Beziehungen mit dem Ausland nach Polen. Karol Sauerland vermutet – sich auf die Erinnerungen Erwin Axers berufend –, dass »sich Brecht nach Polen begeben hatte, um zu erkunden, wie er mit seinem Theater in den sozialistischen Osten gelangen
24 Mittenzwei, Werner: Das Leben des Bertolt Brecht oder Der Umgang mit den Welträtseln. Bd. 2. Berlin: Aufbau Taschenbuch 1997, S. 329. 25 zit. in: Staadt, Jochen: »Arbeit mit Brecht« – »daß wir uns auf den Standpunkt der Gesellschaft stellen«. Brecht, Weigel und die Staatliche Kommission für Kunstangelegenheiten. In: Staadt, Jochen. (Hg.): »Die Eroberung der Kultur beginnt!« Die Staatliche Kommission für Kunstangelegenheiten der DDR (1951–1953) und die Kulturpolitik der SED. Frankfurt/Main: Peter Lang 2011, S. 351–378, hier S. 356. 26 Mittenzwei, Werner: Das Leben des Bertolt Brecht, S. 440. Ein Untertitel in Mittenzweis Buch trägt ja auch den bezeichnenden Titel »Unproduktive Kontroversen, unzureichende Theorien«. Ebd., S. 452. 27 zit. in: Brauneck, Manfred: Die Welt als Bühne. Geschichte des europäischen Theaters. Bd. 5. Stuttgart, Weimar: Metzler 2007, S. 420. 28 Marchwitza war ein in der DDR geehrter Arbeiterschriftsteller und Kulturfunktionär. In den frühen 1950er Jahren wurden gleich vier Werke von ihm ins Polnische übersetzt. Vgl. Skop, Michał: Hans Marchwitza – »Arbeiterschriftsteller« zwischen Schlesien, Ruhrgebiet und Potsdam. In: »Orbis Linguarum« Vol. 47, 2018, S. 81–87, hier: 84–85.
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könne«29. Ähnlich urteilte darüber Jerzy Kreczmar: »Eigentlich interessierte ihn [Brecht] die Situation in der Sowjetunion. Er wollte sein Theater in Moskau zeigen und den Besuch in Polen verstand er als einen Angriff auf den Brückenkopf.«30 Während des einwöchigen Besuchs kam es zu Treffen mit den Vertretern des Polnischen Schriftstellerverbandes und dem Präsidenten des Verbandes Polnischer Theater- und Filmkünstler, Leon Schiller (1887–1954), dem Regisseur der ersten ausländischen Dreigroschenoper-Aufführung (Warschau, Mai 1929). Leon Schiller setzte sich aktiv für Brecht und das Brecht-Theater ein, dem man im Nachkriegspolen, wenn überhaupt, mit Reserve begegnete.31 Am 8. April 1952 hielt er vor dem Vorstand des SPATiF ein Referat unter dem Titel Pro domo nostra, das man später als sein theatralisches Testament bezeichnet hat.32 In diesem Text ging er unter anderem auf Brecht ein, den er als den »hervorragendsten Dramatiker der DDR, glühenden Anhänger des Kommunismus, Leiter der couragiertesten und innovativsten Berliner Bühnen« bezeichnete. Mit großem Lob bedachte er auch Brechts Moritaten: »unerschöpflich in Bezug auf die Originalität der szenischen Gestaltung, didaktisch, streitlustig.«33 Somit versuchte Schiller eine fruchtbare Grundlage für den Aufenthalt des Berliner Ensembles in Polen zu schaffen. Schillers Erwähnung Brechts in seinem Beitrag könnte auch damit zu tun haben, dass gerade im April 1952 der sog. »Monat der Deutsch-Polnischen Freundschaft« begangen wurde. Die polnische Chronik des Jahres 1952 vermerkt unter anderem, dass aus diesem Anlass nach Polen der Philologe W. Kempler und der Schriftsteller Eduard Claudius zu Besuch kamen und in die DDR zwei Delegationen aus Polen reisten. Leon Schiller gehörte der zweiten Delegation
29 Sauerland, Karol: Es ging um den Raum (Der erste Besuch des Berliner Ensembles in Polen und seine Folgen). In: Sauerland, Karol: Literatur- und Kulturtransfer als Politikum am Beispiel Volkspolens. Frankfurt/Main u. a.: Peter Lang 2006, S. 13–26, hier S. 14. 30 Kreczmar, Jerzy: Brecht w Warszawie. Na marginesie ksia˛z˙ki Konrada Gajka. In: »Pamie˛tnik Teatralny« Bd. 25, Nr. 1/2 (97/98), 1976, S. 153–158, hier S. 155. 31 Den zwischen 1947 und 1950 erschienenen Berichten über Brechts Aufführungen in der Schweiz und Berlin ließ sich eine abwartende Haltung entnehmen. Vgl. Leyko, Małgorzata: Der gewollte und der ungewollte Brecht. In: Bayerdörfer, Hans-Peter / Leyko, Małgorzata / Sugiera, Małgorzata (Hg.): Polnisch-deutsche Theaterbeziehungen seit dem Zweiten Weltkrieg. Tübingen: Niemeyer 1998, S. 61–76, hier S. 62–63. 32 Der Text wurde kurz vor der Eröffnung der Sitzung um ¼ gekürzt, in dieser verunstalteten Form von Schiller vorgetragen und in »Pamie˛tnik Teatralny« (2/3, 1952) gedruckt. Die Kürzungen betrafen v. a. Schillers Angriffe gegen die Kulturpolitik des Staates und seine Verteidigung des romantischen Theaterrepertoires. Vgl. Popiel, Jacek: Los artysty w czasach zniewolenia. Teatr Rapsodyczny 1941–1967. Kraków: Wydawnictwo Uniwersytetu Jagiellon´skiego 2006, S. 87. 33 Schiller, Leon: Pro domo nostra. In: Schiller, Leon: Pro domo nostra 1951–1954. Opracowała Anna Chojnacka. Warszawa: Instytut Sztuki PAN 2004, S. 323–377, hier S. 346, 351.
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an.34 In der DDR wiederum wurde im Rahmen dieses Freundschaftsmonats in dem Dresdener Pavillon der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft eine Ausstellung von Leistungstafeln vorbereitet und am 18. April der 60. Geburtstag von Bolesław Bierut feierlich begangen.35 Für den Herbst 1952 wurden die ersten »Tage der deutschen fortschriftlichen Kultur in Polen« geplant. Laut einer Notiz zu einer Mitteilung der Polnischen Diplomatischen Pressevertretung in Berlin waren die Programmpläne der DDRKulturfunktionäre groß angelegt: öffentliche Versammlungen, Konzert eines Polizeichors, Veranstaltungen in Schulen, Beflaggung von Straßen und Gebäuden, DDR-Sondernummern in polnischen Periodika.36 Die Aufführungen des Berliner Ensembles sollten jedoch ausdrücklich außerhalb der Tage stattfinden, denn man wollte verhindern, dass das Brecht-Theater als Repräsentant der neuen deutschen Kunst erscheine. Wie man dem Beitrag Karol Sauerlands entnehmen kann, haben die DDR-Funktionäre alles Mögliche getan, um den Rang des Berliner Ensembles zu schmälern. Brecht sollte auf keinen Fall gehuldigt werden. Man erwartete, dass »man in Polen das Berliner Ensemble in objektiver Weise (d. h. vom Parteistandpunkt aus) kritisiere, um Brecht zu helfen, seine Fehler zu berichtigen.«37 Dieser radikalisierte Kurs war die Konsequenz der 2. Parteikonferenz der SED im Juli 1952, die einen planmäßigen Aufbau des Sozialismus zur grundlegenden Aufgabe des Staates erklärte, was nichts anderes bedeutete, als massive Forcierung der ideologischen Dominanz in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens. Doch es kam ganz anders, als es sich die DDR-Partei-Bonzen erträumt hatten. Das selbstverständliche Highlight der schließlich im Dezember 1952 (15.–22.12.) organisierten »Woche der fortschriftlichen deutschen Kultur in Polen« waren die Aufführungen des Berliner Ensembles, das bereits am 5. Dezember anreiste (Brecht war nicht zugegen) und bis zum 29. 12. 1952 in Polen weilte. Gezeigt wurden drei Inszenierungen: Brechts Mutter Courage, Mutter von Gorki und Kleists Zerbrochener Krug (die letzte in der Regie von Therese Giehse). »Z˙ycie Warszawy« (Das Leben Warschaus) veröffentlichte in seiner illustrierten Sonntagsbeilage vom 21. 12. 1952 ein Foto von der Aufführung der Mutter Courage mit 34 Schiller war vom 18. bis zum 20. April in Berlin und nutzte die Gelegenheit, Brecht zu treffen. Vgl. ebd., S. 19; vgl. auch Kronika z˙ycia literackiego w PRL. Oprac. Hanna Filipkowska. URL: https://rcin.org.pl/Content/61265/WA248_80191_Masz_kronika-52_o.pdf / letzter Zugriff am 27. 3. 2022. 35 Vgl. Behrends, Jan C.: Die erfundene Freundschaft: Propaganda für die Sowjetunion in Polen und in der DDR. Potsdam: Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung 2006, S. 266–267. 36 Die polnische Seite legte gegen etliche Vorschläge (u. a. die Beflaggungsaktion und die Anreise eines Polizeichors) Widerspruch ein. Es könnte damit zu tun haben, dass man die polnische Bevölkerung, in der die Erinnerung an das während des Krieges von den Deutschen erfahrene Leid immer noch wach war, nicht vor den Kopf stoßen wollte. 37 Sauerland, Karol: Es ging um den Raum, S. 15.
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der Unterschrift: »Den Hauptakzent der Woche der fortschriftlichen deutschen Kultur bildeten die Gastauftritte des Berliner Ensembles, das auf den polnischen Bühnen u. a. Brechts berühmte Mutter Courage mit Helene Weigel in der Titelrolle aufführte.«38 Einen längeren Bericht über Brecht und sein Theater und ein Foto vom Empfang des Berliner Ensembles auf dem Krakauer Bahnhof 39 brachte schon eine Woche früher (Nr. 42 vom 13. 12. 1952) die gesellschafts-kulturelle Samstagsbeilage »Słowo Tygodnia« der Parteizeitung »Słowo Ludu« (Volksstimme). Der Autor des Textes, Leon Schiller, lobte Brecht und sein Theater mit überschwänglichen Worten. Brecht sei einer der repräsentativsten Dramatiker Europas, ein unerbittlicher Feind des Faschismus und leidenschaftlicher Kämpfer für Sozialismus und Frieden. Schiller waren die heftigen Kontroversen um das Werk Brechts wohl bekannt, denn an vielen Stellen des Textes merkt man dessen sichtliche Bemühungen, die Vorwürfe gegen Brecht zu entkräften. So unterstrich er zum Beispiel, dass man Brecht »als einen volkstümlichen Schriftsteller im tiefsten Sinne dieses Wortes«40 bezeichnen müsse und zu dessen Werken bemerkte er, dass sie alle, »ungeachtet der besonderen Gewichtlegung auf die formale Seite, auf deren Qualität und Originalität, eine klassische Lesbarkeit« aufweisen würden. Sie seien für die Massen zugänglich und verständlich und von den Massen auch hochgeschätzt. Experimente mit der Form, die für Brechts Werk der Weimarer Republik typisch seien, würden – anders als bei den Expressionisten oder anderen mehr oder weniger linksorientierten Schriftstellern – nie rein ästhetischen Motiven entspringen: »Sie waren für ihn der Ansporn, um für die revolutionären Ideale zu kämpfen.«41 Und wenn Brecht zu Bänkeloder Jahrmarktsgesängen greife, dann nicht, um dem Zuschauer zu gefallen: »Das Brecht-Theater dient dem Schönen [und] kämpft darum, was für das Volk nützlich und wertvoll ist.«42 Die Tatsache, dass Schiller diesen Beitrag gleichzeitig in anderen Presseorganen der Partei – z. B. »Gazeta Poznan´ska« (Posener Zeitung) oder »Trybuna Robotnicza« (Arbeitertribüne) – veröffentlichte, lässt vermuten, dass er vor allem die polnischen Partei-Funktionäre vom Brecht-Theater überzeugen wollte. Elz˙bieta Kalemba-Kasprzak, die die Spezifik und Funktionsweisen der sozrealistischen Kritik herausgearbeitet hat, konnte feststellen, dass im Grunde alle kritischen Texte zu den Aufführungen des Berliner Ensembles im Dezember 1952 38 »Z˙ycie Warszawy« Nr. 51 (203), 21. 12. 1952. 39 Die Tournee begann in Krakau. Dann folgten die Aufführungen in Łódz´ und zum Abschluss in Warschau. 40 Schiller, Leon: Bertold Brecht i jego zespół Berlin´ski. In: Schiller, Leon: Pro domo nostra 1951– 1954, S. 393–401, hier S. 394. 41 Ebd. 42 Ebd., S. 395. Im polnischen Original sind die beiden hervorgehobenen Begriffe großgeschrieben.
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in Polen Krypto-Polemiken seien. Typisch für sie sei das »apriorische Bewusstsein um die Tadelnswertigkeit des Werks und die Unangemessenheit des Enthusiasmus, den es hervorruft und gleichzeitig […] die Überzeugung von dessen großem künstlerischen Rang«43. Zugespitzt formuliert charakterisiert KalembaKasprzak die damalige Denkweise der polnischen Rezensent:innen folgenderweise: »Das, was wir gesehen haben, entspricht nicht den Regeln des sozialistischen Realismus, doch es ist zweifellos eine große Kunst, also, trotz alledem, man muss darin den sozialistischen Realismus entdecken, damit es von uns als große Kunst akzeptiert werden könnte.«44 Die Forscherin hat genau die Strategien untersucht, die von Brechts Verteidiger:innen angewendet wurden. Das Hauptargument für Brecht lautete: er sei ein Sozialist, dem es immer um den Sozialismus, die sozialistische Gerechtigkeit oder den sozialistischen Humanismus gehen würde. Von dieser Feststellung ausgehend konnten die Rezensent:innen ihren Enthusiasmus erklären, indem sie vor allem die sensationelle und schockierende Andersartigkeit des Berliner Ensembles betonten und zu ihrem eigenen Erstaunen auch zugaben, dass man hier – trotz der berechtigten Einwände – mit einem perfekt konstruierten Kunstwerk mit enormer Wirkungskraft zu tun habe. Dabei beriefen sie sich gerne auf die Reaktionen der begeisterten Zuschauer, die für die Wahrhaftigkeit des Gesagten haften sollten. Oder bedienten sich sogar der rhetorischen Figur des »neuen Publikums« (Massen, Volk), dem Brecht eine neue Form anbiete, um es »neugierig zu machen mit dem Ziel, dem Volk das zu sagen, was das Volk begehrt«45. Auffallend war auch das Pendeln der Rezensent:innen zwischen der wir- und der unpersönlichen man-Form. Die erste signalisierte ein Kollektivdenken und wurde zur Absicherung gebraucht (»Es scheint uns gerecht zu sein, die Kraft und Schönheit wie die Schwächen von Brechts Poem zu beurteilen«46), die zweite erlaubte, sich außerhalb der Aufführung und des Publikums wie auch der eigenen Kritiker-Rolle zu positionieren (»Es scheint, dass man dem Autor des Stückes keine Vorwürfe machen sollte […]«47). Oft konzentrierten sich die Rezensent:innen auf die Beschreibung der Theaterwerkstatt, insbesondere der Schauspielkunst, die ein relativ sicheres und neutrales Terrain zu sein schien. Vor allem wurden die Rollen von Helene Weigel gerühmt, aber auch andere Schauspieler:innen ernteten viel Lob. Interessanterweise griff niemand dabei zu Vergleichen mit der Stanislawski-Methode. Am amüsantesten erscheinen aus der heutigen Perspektive diese Stellen, wo die 43 Kalemba-Kasprzak, Elz˙bieta: Socrealizm w krytyce i sprawa Brechta. In: »Dialog: miesie˛cznik Zwia˛zku Literatów Polskich« Nr. 4, 1983, S. 138–145, hier S. 141–142. 44 Ebd., S. 142. 45 Ebd., S. 143. 46 Wójcicki, Bolesław: »Matka« – Brecht wg powies´ci Gorkiego. In: »Z˙ycie Warszawy« Nr. 311, 29. 12. 1952, S. 4. 47 zit. in: Kalemba-Kasprzak, Elz˙bieta: Socrealizm w krytyce i sprawa Brechta, S. 143.
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Autoren Brecht gegen Brecht auszuspielen versuchten, d. h. glaubten beweisen zu können, dass er seine Theorie des epischen Theaters nicht wirklich oder nicht hundertprozentig in die Praxis umsetzen würde. Nach dem Motto: »Brecht irrte als Theoretiker, aber erwies sich als Künstler.«48 Ein richtiger Streit um Brecht entbrannte jedoch erst nach der eindeutig positiven Rezension von Jerzy Pomianowski in »Nowa Kultura« (Neue Kultur – Nr. 1, 1953), der dazu noch wagte, Brechts Theater dem sozialistischen Realismus zuzurechnen. Den Ablauf der darauffolgenden Ereignisse – Zurechtweisungen seitens der Parteibonzen, die sich vor den deutschen Kollegen verantworten mussten, die von oben herab verordnete Gegenpolemik mit Pomianowski aus der Feder Zygmunt Kałuz˙yn´skis und die detaillierte Wiedergabe der Diskussion, die am 3. Februar 1953 während der Parteiversammlung des Verbandes Polnischer Theater- und Filmkünstler stattfand – hat Karol Sauerland genau rekapituliert.49 Laut Leyko sind die heftigen Diskreditierungsversuche der kulturpolitischen Machthaber in Polen gegenüber dem Brechtschen Theater darauf zurückzuführen, dass es durch seine Andersartigkeit und Attraktivität »die bisherige Einheitlichkeit des sozialistisch-realistischen Modells zu sprengen drohte.«50 Unmissverständlich drückte es der Brief des Kultusministers Sokorski vom 17. März 1953 an die Redaktion der Zeitschrift »Pamie˛tnik teatralny« (Das Theater-Tagebuch) aus: Das Schaffen Brechts befruchtet und bereichert zweifelsohne das Theater des sozialistischen Realismus auf bestimmte Weise, jedoch Brecht selber, insbesondere im Theater, repräsentiert nicht die Kunst des sozialistischen Realismus […]. Die Darstellung Brechts in dieser Art, insbesondere in Volkspolen – darüber hinaus mit verschiedenen Ismen der bourgeoisen Ästhetik erfüllt – steht im Widerspruch zur Parteipolitik […].51
Der Brief war direkt gegen das von Leon Schiller verfasste Vorwort zu einem Text über Brecht aus »Neues Deutschland« gerichtet.52 Schiller erlag dem politischen Druck, was die kritischen Bemerkungen zum Brecht-Theater aus seinem in »Pamie˛tnik teatralny« (H. 3, 1953) gedruckten Essay über die »Berliner Theaterbühnen im Februar und März 1953« bezeugen. Zwar beteuerte er in dem Text, dass Brecht eine Figur ist, die man nur selten in der Geschichte des Theaters wiederfinde, doch gleichzeitig schrieb er: »Fern des Ideals eines ›Theaterkünstlers‹, wie es sich […] der große Zerstörer des modernen Theaters Edward Gordon Craig erträumt hat, erlaubt er nicht, sein Wirken mit dem Werk eines Schau48 49 50 51 52
Ebd., S. 144. Vgl. Sauerland, Karol: Es ging um den Raum, S. 16–22. Leyko, Małgorzata: Der gewollte und der ungewollte Brecht, S. 66. zit. in: Sauerland, Karol: Es ging um den Raum, S. 18. Es ging um die von Roman Karst angefertigte Übersetzung des Textes Ein Meister des deutschen Wortes. Zum 55. Geburtstag von Nationalpreisträger Bertolt Brecht.
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spieler-Shakespeare oder Schauspieler-Moliere zu vergleichen […].«53 Und an einer anderen Stelle fragte er rhetorisch, ob die neuartige Theatermethode, die Brecht verwendet und die dem Arbeiterpublikum heute gefällt, überdauern könne, »ob das Brecht-Theater in der heutigen Gesellschaftssituation weiterhin so nützliche Erziehungsaufgaben erfüllen wird, auf die er so stolz sein konnte in seiner Vergangenheit. […] wer weiß, ob die übermäßige Betonung des Epischen, […] alle diese Ornamente, die politisch reifen, in Parteisachen geschulten Arbeiter einst – vielleicht bald – nicht anöden werden?«54 Der Autor griff auch zu Verneinungen, die durch ihre Wiederholungen das Gegenteil suggerierten: »Der einfache, schliche Vorhang mit der aufgemalten Friedenstaube stört natürlich nicht […]. Die dekorativen Kürzungen […] stören nicht, ja, sie wirken belebend […].«55 Derartige Stellen sind keine Seltenheit. Einwände und Vorwürfe wurden direkt formuliert, was im krassen Unterschied zu dem im Dezember 1952 erschienenen Artikel steht. Schiller ging auch direkt auf den Besuch des Berliner Ensembles in Polen ein und die Befürchtungen »[e]iniger unserer Theaterkenner«, Brechts Theater könne – mit seinem »übermäßigen Gebrauch von antirealistischen Effekten, dem Hinzuschreiben von Prologen, Epilogen, Intermedien, den Unterbrechungen des Haupttextes des Dramas durch Songs, Ansagen etc.«56 – einen negativen Einfluss auf die polnische Bühnenkunst ausüben. Diese Befürchtungen müssten aber als fehlgeschlagen betrachtet werden, da sich das polnische Theater auf einer ganz anderen Entwicklungsetappe befände. Es würde längst die Fehler des Formalismus und Naturalismus überwunden und den Weg des sozialistischen Realismus beschritten haben, »sich darauf immer sicherer fühlend«57. Zum Schluss wurden die neueren Inszenierungen des Ensembles besprochen, von denen Die Gewehre der Frau Carrar und Der Prozeß der Jeanne d’Arc zu Rouen 1431 Lob ernteten. Im Urfaust dagegen würde sich Brecht, »nicht zu glauben, sogar naturalistische Effekte erlauben.«58 Der Text gipfelt in zweimaliger Ergebenheitsgeste gegenüber der Partei: »Brecht steht, wie viele seiner Zeitgenossen, am Schneideweg, der aber kein Irrweg ist. Den weiteren Weg kann nur die Partei weisen. […] wer wird den Rat wissen, wer wird aufklären. Darauf antwortet der erfahrene Revolutionär kurz: die Partei! Bertolt Brecht ist ihr zu treuer Diener, als dass er anders darüber denken könnte.«59
53 Vgl. Schiller, Leon: Teatry berlin´skie w lutym i marcu 1953 r. Kartki z reptularza. In: Schiller, Leon: Pro domo nostra 1951–1954, S. 478–543, hier S. 524. 54 Ebd., S. 527–528. 55 Ebd., S. 532. 56 Ebd., S. 534. 57 Ebd. 58 Ebd., S. 540. 59 Ebd., S. 543.
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Was Schillers Beweggründe waren, so einen Text zu verfassen – Angst oder Opportunismus – sei dahingestellt. Jedenfalls sollte er nach der Publikation von Gewissensbissen geplagt sein und Erwin Axer kurz vor dem Tode gebeten haben, Brecht seine Entschuldigung dafür auszurichten. Helene Weigel, mit der Axer darüber gesprochen habe, sollte völliges Verständnis für Schiller aufgebracht haben.60 Dass der Name Brecht in Polen des Jahres 1953 als unbequem galt, bezeugt auch ein kurzes Zensurgutachten vom 21. 5. 1953 zu der ersten Übersetzung des Dramas Mutter Courage und ihre Kinder, die zusammen mit zwei weiteren Dramen – Herr Puntila und sein Knecht Matti und Der kaukasische Kreidekreis – vom Verlag PIW (Staatliches Verlagsinstitut) vorbereitet wurde. Der letzte Satz des Zensors lautete: »Ich bin der Meinung, dass ein Vorwort notwendig ist.«61 Was der wohlwollende Rat des Zensors bedeutete, erklärt Marek Rajch, indem er an die nach 1945 übliche Verlagspraxis erinnert, die fremdsprachige Literatur mit Begleittexten zu versehen. Diese Begleittexte – Vor- und Nachworte – wurden seit Beginn der 1950er Jahre als »instruktive Hilfe« eingesetzt, »um allen möglichen irrtümlichen, den politisch-erzieherischen und kulturpolitischen Ansprüchen der Partei zuwiderlaufenden Interpretationsversuchen vorzubeugen und den Lesern die einzig mögliche, zulässige Deutung der betreffenden Texte zu bieten.«62 Und tatsächlich wurde dem Buch Trzy dramaty (Drei Dramen) ein »klärendes«, fast 20 Seiten umfassendes Vorwort von Jan Alfred Szczepan´ski vorangestellt. Szczepan´ski war ein geeigneter Mann für diese Aufgabe. Er war der führende Kritiker und Chef der literatur-kulturellen Abteilung der »Trybuna Ludu« (Volkstribüne), des offiziellen Organs des Zentralkomitees der PVAP, ein unermüdlicher Verfechter des sozialistischen Realismus und unerbittlicher, angriffslustiger, bissiger Feind dekadenter, reaktionärer Kunst aus dem Westen.63 Sein Vorwort besteht aus sechs Kapiteln, wobei die zwei letzten sich direkt mit den angeblichen Mängeln und Fehlern des Brecht-Theaters auseinandersetzen. Szczepan´ski beginnt seinen Text mit einem Zitat aus »Neues Deutschland« vom 10. 2. 1953, einer Lobrede auf Brecht aus dem Anlass seines 55. Geburtstages, die jedoch mit konkreten an den Dichter herangetragenen, nicht der Ironie entbehrenden Erwartungen endet: 60 61 62 63
Vgl. Kreczmar, Jerzy: Brecht w Warszawie, S. 157. Rajch, Marek: »Unsere andersartige Kulturpolitik«, S. 180. Ebd., S. 176. Zu Becketts Warten auf Godot schrieb er voller Ironie: »Ihr wolltet den Westen, na dann habt ihr den.« Doch, gestand er weiter, man müsse den Gegner kennenlernen, um ihn bekämpfen zu können. Unser Zuschauer, auch wenn er den Reiz der Form anzuerkennen wisse, sei gegen ihre giftigen Ingredienzien immun. Die verbotene Frucht zu verbieten bringe nichts, was aber nicht heißen soll, dass unter der glänzenden Schale die Frucht nicht selten bitter, ja im Inneren madig sei. In: Ewa Brzeska: Recepcja twórczos´ci Samuela Becketta w Polsce. Torun´: WNUMK 2020, S. 52–53.
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Von Brecht, dem höchst komplizierten, nicht mehr ganz jungen Schriftsteller, […] der den Auswirkungen gewisser Versuchungen bourgeoiser Ästhetik erlag und teilweise immer noch erliegt, der aber […] gleichzeitig der mutigste und kompromissloseste Suchende nach neuen, eigenen Wegen ist, der ein suchender Schriftsteller ist – bisweilen ohne Erfolg, doch hartnäckig – nach einer Annäherung an die Kunst des sozialistischen Realismus, [von ihm erwarten wir] den Anschluss an ihren großen Strom.64
Auf den folgenden Seiten beleuchtet Szczepan´ski die einzelnen Stationen im Leben und Werk Brechts, wobei er im Letzteren immer wieder »Risse und Brüche«, »verschiedene ideologische und gestalterisch-formale Splitter«65 aufzudecken glaubt. Im vorletzten Kapitel, betitelt Die Grenzen des Sehens der »Mutter Courage«, geht er – wohl den Bemerkungen des Zensors Genüge tuend – auf die Vorwürfe der polnischen Kritiker ein, um »ein für alle Mal die Frage der ideologischen Grundsätze des Stückes zu klären«66. Vor allem greift er den im Stück stark zum Ausdruck kommenden pazifistischen Gedanken »linksorientierter Intelligenz der Zwischenkriegszeit«67 an und rügt Brecht – sich dabei auf keinen geringeren als auf Stalin selbst, Brechts Kontrahenten György Lukács und den Kritiker Fritz Erpenbeck berufend – er habe vergessen, dass der Krieg einen Klassensinn und ein Klassengesicht habe, dass es neben den imperialistischen Kriegen auch gerechte antiimperialistische, revolutionäre und Befreiungskriege geben würde. Brecht würde nicht die Sprache des revolutionären Proletariats, sondern die des Lumpenproletariats gebrauchen, denn in ihm stecke »schon immer etwas von anarchistischer Aufruhrerei, vom objektiv kleinbürgerlichen, ›grenzenlosen‹ Individualismus, von Neigungen und Vorlieben des ›Untergangs des Abendlandes‹. Vielleicht ist es keine Dekadenz, aber es ist sicherlich ein Mangel an revolutionärer Disziplin.«68 Mutter Courage selbst habe, das gibt Szczepan´ski zu, eine wichtige Rolle im Nachkriegsdeutschland gespielt. Brecht würde den Krieg seiner von den Nazis kreierten Herrlichkeit berauben, was eine positive Wirkung auf das Hitler so enthusiastisch unterstützende deutsche Kleinbürgertum gezeitigt habe. Dieses Kleinbürgertum habe die Unabdingbarkeit der selbstverschuldeten Katastrophe, habe sich selbst in Mutter Courage erkannt. Die problematische Figur der Anna Fierling, der das vollständige Klassenbewusstsein fehle, wird vom Autor des Vorworts in den Kontext des Kalten Krieges eingespannt: Sollte in dem zerrissenen, halbtoten Berlin des Jahres 1949 der kleinbürgerliche Anhänger des Neohitlerismus wieder nichts dazu gelernt haben? Ringsumher verbreitete 64 Szczepan´ski, Jan Alfred: Bertolt Brecht i jego teatr. In: Brecht, Bertolt: Trzy dramaty. Warszawa: PIW 1953, S. 5–24, hier S. 6. 65 Ebd., S. 16. 66 Ebd., S. 17. 67 Ebd., S. 18. 68 Ebd., S. 18–19.
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sich ein Ruinenmeer, Wüstenstille rauschte vom Tiergarten her, Katastrophe, Urgewalt, das letzte Ding … Der deutsche Bouergois war erschüttert. Es wundert nicht, dass in der Trizone gegen Mutter Courage eine grobe, leidenschaftliche, mit wilden Argumenten um sich werfende Kampagne entfesselt wurde.69
Das letzte Vorwortkapitel, das den unweigerlich an Dante und seine neun Höllenkreise erinnernden Titel Durch die sieben Kreise des Expressionismus70 trägt, ist eine Tirade gegen den »Beelzebub«-Expressionismus, den Brecht, bei allen seinen Beteuerungen, nie abgeschüttelt habe und den Szczepan´ski daher einen »Postexpressionisten«71 nennt. Selbst die Frage, ob Brechts Theater, wenn sicherlich kein sozrealistisches, doch wenigstens ein realistisches Theater sei, ließe sich seiner Meinung nach nicht leicht beantworten, da sein Gründer stets das Realistische mit dem A-realistischen verknüpfe. Szczepan´skis Fazit lautet daher: Der Weg des Sozialistischen Realismus führe nicht über die Bühnen des Berliner Ensembles. Der unbequeme und stachelige72 Brecht war für die Kulturfunktionäre aber zu kostbar, um ihn gänzlich abzulehnen und so endet das Vorwort mit der Konstatierung, dass der Schriftsteller »auf unserer Seite der Barrikade« stehe: Weit vom kritiklosen Lob, objektiv im Abwägen der Verdienste und Mängel der Brechtischen Dramenkunst […], skeptisch in Bezug auf einige zweifelhaften Entdeckungen Brechts und harsch gegenüber seinen unstreitigen Verfehlungen, Irrtümern, Unzulänglichkeiten – begegnen wir mit voller Achtung seinen Bemühungen, voller Anerkennung seinem großen Talent, voller Zustimmung den Vorzügen seiner Feder und seiner Gedanken, die verursachen, dass Brechts Werk der kämpfenden Kunst, unserer Kunst angehört.73
Im gleichen Jahr, diesmal vom Verlag Czytelnik, wurden Brechts Kalendergeschichten in polnischer Übersetzung publiziert. Das kurze, informative, wohlwollende und ideologisches Vokabular vermeidende Vorwort hat der Dichter, Satiriker und Übersetzer Antoni Marianowicz verfasst. Im kurzen Passus zu Mutter Courage findet sich die lakonische Bemerkung, dass die Aufführung das Gefühl der ideologischen Mangelhaftigkeit nur deswegen hinterließe, weil der Autor seiner Vorliebe für Mehrdeutigkeiten frönen und die aktuelle Problematik
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Ebd., S. 19. Auch die Assoziation mit den Sieben Todsünden Brechts und Weills (1933) drängt sich auf. Szczepan´ski, Jan Alfred: Bertolt Brecht i jego teatr, S. 21. »Brecht wird für sie immer stachelig sein.« Unter »sie« versteht hier der Übersetzer Brechts Lyrik ins Polnische, Robert Stiller, Kritiker und Literaturwissenschaftler, die das Werk und das Leben des Schriftstellers auf einen konfliktlosen, braven Nenner zu bringen versuchen. Stiller, Robert: Z˙ycie i twórczos´c´ Bertolta Brechta. In: Brecht, Bertolt: Postylla domowa i inne wiersze. Wybrał i opracował oraz przełoz˙ył z niemieckiego Robert Stiller. Warszawa: PIW 1988, S. 5–38, hier S. 32. 73 Szczepan´ski, Jan Alfred: Bertolt Brecht i jego teatr, S. 24.
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nur zu gerne in ferne Vergangenheit versetzen würde.74 Brechts Lyrik wird als nicht leicht bezeichnet, da sie einen komplizierten, philosophischen und (wieder!) mehrdeutigen Charakter ausweise. Seine Prosa wiederum sei sparsam, fast roh. Mögliche Einwände gegen Brecht (z. B. fehlende Akzentuierung des Kämpferischen) werden nur am Rande erwähnt. Generell hofft der Autor, dass die Publikation die Leser veranlassen wird, sich für das Werk des Schriftstellers zu interessieren. Der Unterschied zu dem Vorwort von Szczepan´ski liegt auf der Hand und lässt sich zum einen darauf zurückzuführen, dass die nichtdramatischen Texte Brechts nicht im Fokus der Wächter der ideologischen Reinheit standen und zum anderen darauf, dass der Band vor der Herausgabe der Dramen mit Szczepan´skis Vorwort, also vor der offiziellen Brandmarkung Brechts, veröffentlicht wurde. Der Anfang 1953 von den politischen Kulturfunktionären ausgelöste Streit um Brecht und seine Theaterkonzeption dauerte nicht lange. Stalins Tod im März 1953 war der Auslöser für die als Tauwetter bezeichnete Periode der Auflockerung des politischen Drucks, die am schnellsten im Bereich der Kultur und insbesondere des Theaters wahrnehmbar wurde. Die oben erwähnte, seit 1952 geführte Diskussion über das zeitgenössische polnische Drama und Theater, erreichte ihren Gipfelpunkt in dem »kleinen Umbruch«75, den in der polnischen Theaterkritik der Besuch des Berliner Ensembles verursachte. Wichtige Veränderungen ließen sich schon während der neuen Theatersaison 1953/54 beobachten. Die Theaterleiter bekamen mehr Entscheidungsfreiheit in Bezug auf das Repertoire. Immer lauter ertönten Forderungen nach Dezentralisierung, nach romanischem Repertoire, nach der Überwindung des Schematismus des sozialistischen Realismus, nach der künstlerischen Freiheit. 1954, zum ersten Mal seit Kriegsende, gastierte ein polnisches Theater in Westeuropa.76 Es war das 1. Internationale Festival der dramatischen Kunst in Paris, an dem auch das Berliner Ensemble teilnahm und den ersten Preis für die Aufführung von Mutter Courage und ihre Kinder bekam. Der große internationale Erfolg des Brecht-Theaters in Paris und der im gleichen Jahr an den Dramatiker verliehene Stalin-Friedenspreis führten zu einer Veränderung der Wahrnehmung Brechts. Am 30. September 1954 kam es zur ersten Nachkriegsaufführung eines Brecht-Dramas auf polnischen Bühnen. Konrad Swinarski und Przemysław Zielin´ski, damals Studenten des 3. Studienjahres der Regiefakultät, inszenierten Die Gewehre der Frau Car-
74 Vgl. Marianowicz, Antoni: Wste˛p. In: Bertolt Brecht: Opowiadania z kalendarza. Warszawa: Czytelnik 1953, S. 3–6, hier S. 4. 75 Der eigentliche politische Umbruch – sog. Polnischer Oktober – folgte 1956. Vgl. KalembaKasprzak, Elz˙bieta: Socrealizm w krytyce i sprawa Brechta, S. 141. 76 Napiontkowa, Maria: Odwilz˙ w teatrze. In: URL: https://encyklopediateatru.pl/hasla/232/od wilz-w-teatrze / letzter Zugriff am 3. 4. 2022.
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rar77 und am Silvesterabend 1954, nur wenige Monate nach der Berliner Premiere (7.10.54), wurde in Krakau Der kaukasische Kreidekreis in der Regie Irena Babels aufgeführt. Andrzej Wirth schrieb aus diesem Anlass: »Die Aufführung Brechts auf den Brettern des polnischen Theaters sollte nicht nur zum Anlass genommen werden, einem der größten Namen der zeitgenössischen Dramaturgie festen Platz im Repertoire unserer Bühnen zu sichern. Die Schule neuer Form, neuen Stils, neuer Theatertheorie: das ist, was Brecht für uns werden kann.«78 Wirth soll Recht behalten. Im Februar 1955 folgte die Danziger Premiere von Herr Puntila und sein Knecht Matti und ein Jahr später kam es zu der Aufführung von Der gute Mensch von Sezuan in Warschau. Die zweite Hälfte der 1950er Jahre charakterisiert eine intensive Beschäftigung und Auseinandersetzung mit Brechts Dramen und Theorie79, die in den 1960ern abzuebben beginnt, als Brecht den Klassiker-Status erreicht. Zum Abschluss möchte ich auf ein Gemälde hinweisen, dass sich wie ein Kommentar zu der Rolle und Bedeutung Brechts für das polnische Theater und die polnische Kultur in den 1950ern liest. Es geht um das im Jahre 1955 entstandene Ölgemälde Tego pragniemy (Danach dürsten wir) des polnischen Malers, Graphikers, Bildhauers und Mitglieds der Kattowitzer Künstlergruppe St-53 Zdzisław Stanek (1925–1996): Im Vordergrund ist die rechte Blattseite eines am Fenster stehenden Tisches zu sehen, auf dem sich fünf Gegenstände befinden. Vorne rechts liegt eine gelbe Zitrone, deren Ausstülpung an den Stiel eines weißen, hölzernen Kochlöffels angelehnt ist, dessen Schale sich wiederum an einen flachen dunklen Topf mit einem kleinen Henkel stützt. Links neben dem Topf steht eine Blumenvase, die zu einem Drittel mit Wasser gefüllt ist und aus der zwei Tulpen herausragen: die eine, mit einem grünen Stängel, ist blau und steht gerade, die andere, deren Stängel braun ist, hat eine rosa-rote Blüte, die nach rechts abbiegt. Vor der Vase, links im Bild, liegt ein Buch, auf dessen ´ / za 3 Umschlag man drei Zeilen lesen kann: [BERT]OLD BRECHT / POWIES´C grosze [Brecht / Der Dreigroschenroman]. Das Werk Brechts hatte den Mitgliedern der avantgardistischen, sich der Vorherrschaft des Sozrealismus in der Kunst widersetzenden Kattowitzer Gruppe St-53 Konrad Swinarski vermittelt.
77 Als Hörspiel wurde das Stück schon am 1. 5. 1954 im polnischen Radiosender und am 8. 10. 1954 im polnischen Fernsehen ausgestrahlt. Vgl. Gajek, Konrad: Bertolt Brecht na scenach polskich (1929–1969). Wrocław: Ossolin´skich 1974, S. 103. 78 Wirth, Andrzej: Próba Kredowego Koła. In: »Teatr« Nr. 5, 1955, S. 10–12, hier S. 10. 79 Vgl. das Diagramm zu Brechts Rezeption in Polen in den Jahren 1949–1988 in: Lasowy-Pudło, Magdalena: Kontakty kultur zamknie˛tych? Transfer kulturowy pomie˛dzy NRD-PRL 1949– 1989/1990. Przypadek Bertolta Brechta. In: Zielin´ska, Mirosława / Zybura, Marek (Hg.): Monolog, dialog, transfer. Relacje kultury polskiej i niemieckiej w XIX i XX wieku. Wrocław: GAJT 2013, S. 71–92, hier S. 77.
Er wird stachelig bleiben. Brechts Rezeption in Polen in den frühen 1950ern
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Arno Gimber (Madrid)
Bertolt Brechts unaufhaltsamer Aufstieg im Franco-Spanien
Prolog: Leben in finsteren Zeiten Bertolt Brecht wurde unter den Nationalsozialisten auf deutschen Bühnen nicht aufgeführt. Seine Bücher wurden im Mai 1933 verbrannt. Zu dem Zeitpunkt hatte er das Land bereits verlassen. In Spanien begann die Diktatur sechs Jahre später, nachdem General Francisco Franco nach einem Staatsstreich den dreijährigen Bürgerkrieg gewonnen hatte. Das Unrechtssystem dauerte dann lange 36 Jahre, bis der Diktator 1975 dreiundachtzigjährig an einem Herzversagen starb. Natürlich sind beide Regimes nicht vergleichbar. Nach einer eingangs strengen Autarkie suchte Spanien schon in den fünfziger Jahren Anschluss an die Westmächte. Diese hatten in der Ära des Kalten Krieges ein strategisches Interesse an der Iberischen Halbinsel, und so konnte das Land 1955 der UNO beitreten. Die angestrebte politische Öffnung brachte auch kulturelle Konsequenzen mit sich, und insofern spielte es auch eine Rolle, ob Bertolt Brecht in Spanien gelesen und aufgeführt werden konnte. Die strenge Verbotspolitik musste zurückgeschraubt werden, wollte sich der Franquismus in der neuen Weltordnung als halbwegs modernes Land zeigen. Der Staat intervenierte zwar weiter restriktiv im literarischen Feld, um es mit Bourdieu zu sagen,1 aber die Hürden für die Akzeptanz dissidenter Literatur wurden Mitte der sechziger Jahre sichtlich niedriger. In den ersten fünfzehn Jahren der Diktatur konnte Brecht in Spanien nicht aufgeführt werden. Seine Bücher wurden aus Lateinamerika ins Land geschmuggelt und heimlich unter den Ladentischen einiger Buchhandlungen verkauft. Diese kulturelle Vernetzung mag ein Grund dafür sein, dass Bertolt 1 Ohne explizit darauf einzugehen sei hier erwähnt, dass diese Arbeit Bourdieus Feldtheorie und der Methode des Kulturtransfers, wie sie Michel Espagne konzipiert hat, den theoretischen Rahmen schuldet. Vgl.: Bourdieu, Pierre: Champ de pouvoir, champ intellectuel et habitus de clase. In »Scolies« Nr. 1, 1977, S. 7–26 und Espagne, Michel: La notion de transfert culturel. In: »Revue Sciences/Lettres« Nr. 1, 2013. URL: http://rsl.revues.org/219 / letzter Zugriff am 28. 1. 2022.
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Brechts Theater nach 1960 in Barcelona und Madrid, bedenkt man die Verhältnisse, doch überraschend präsent war. Wichtige Häuser, auch staatlich subventionierte Theater, beauftragten bedeutende Dramatiker und Regisseure mit Inszenierungen von Brechts kanonisierten Stücken. Schauspielerinnen der ersten Reihe wie Nuria Espert oder Amelia de la Torre spielten Shen Te und Anna Fierling, die Aufführungen waren ausverkauft, die Inszenierungen wurden selbst in der regimetreuen Presse positiv besprochen. Hinter diesem augenscheinlich überraschenden Tatbestand verbirgt sich ein über Jahre andauernder Prozess, den es im Folgenden zu klären gilt. Eine (absichtlich?) immer lascher arbeitende Zensurbehörde, eine Reform des zunächst sehr scharfen Pressegesetzes, eine zunehmende kulturelle Öffnung des Regimes (trotz strenger politischer Repressalien bis zum letzten Atemzug der Diktatur) und dem immer drängenderen Wunsch einer breiten Bevölkerungsschicht, die Abgrenzung von Europa südlich der Pyrenäen zu überwinden, spielten dabei eine nicht unwesentliche Rolle. Die äußerst politische Brechtrezeption in Lateinamerika, aber auch im Nachbarland Frankreich, in das die Spanier reisten, um verbotene Filme und Theaterstücke zu sehen, darf nicht unerwähnt bleiben. Kommunistische Exilspanier sahen Brechts Werke u. a. in Ostberlin und berichteten darüber ihren Kontaktpersonen im Landesinnern. Es ist der unschätzbaren Arbeit der Mittler zu verdanken, dass der Erfolg Brechts in Spanien ab einem gewissen Punkt nicht mehr aufzuhalten war. Und von Erfolg kann in der Tat gesprochen werden. In einem Land mit einer weit zurück reichenden und lebendigen Theaterszene beobachtete man sehr genau, was international zur Innovation des Dramas beigetragen wurde. Aufführungen spanischer Theaterautoren wie Federico García Lorca oder Rafael Alberti, beide dem französischen Surrealismus verpflichtet, waren undenkbar, Ausländer wie Bertolt Brecht, Samuel Beckett oder Arthur Miller hatten es leichter, obwohl die Zensur bei Brecht marxistische, pazifistische und antiklerikale Textpassagen prinzipiell streichen ließ. Die Dramatiker und Regisseure eckten zudem, bezieht man die künstlerische Ebene mit ein, immer wieder an der Frage der Katharsis an. Die Spannung zwischen Distanzierungen und Identifikation bestimmte sowohl die künstlerische als auch die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Erfinder des epischen Theaters. Sie führten zu interessanten Ergebnissen, wie hier auch gezeigt werden soll.
Furcht und Elend Schon vor 1936 war Brecht als Vertreter einer experimentellen Avantgardekunst bekannt, ewähnt wurde er etwa in Ramón J. Senders Buch El teatro de masas von 1931. Der Film Kuhle Wampe galt in der Zweiten Republik (1931–1936) als Bei-
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spiel des proletarischen Kinos. Zu dieser Zeit finden sich weitere Hinweise auf Brecht in verschiedenen Kulturzeitschriften, aber sie reichen keinesfalls aus, um von einer produktiven Rezeption sprechen zu können. Und selbst wenn es eine solche gegeben hätte, wurde mit dem Bürgerkrieg (1936–1939), dem Sieg der Faschisten und in den harten Nachkriegsjahren jeder Versuch in diese Richtung unterbunden. Man darf dabei nicht vergessen, dass die Franquisten 1939 Federico García Lorca ermordeten, und dass zahlreiche oppositionelle Künstler über Jahre in spanischen Gefängnissen saßen, manche, wie Miguel Hernández, dort sogar starben. Unzählige Künstler wurden ins Exil getrieben, die meisten kamen nicht mehr zurück. Erst 1954 wurde Brechts Name wieder in einer Zeitschrift, der renommierten »Ínsula«, erwähnt, und zwar in dem Überblicksartikel El teatro en Alemania tras la Segunda Guerra Mundial des deutschen Journalisten Karl-Gustav Gerold. Im selben Jahr wurde ein Vortrag, den der Dramatiker Alfonso Sastre (1926–2021) an der Sommeruniversität Menéndez Pelayo hielt, in der ebenso rennomierten »Revista Española« unter dem Titel El teatro actual. Notas para un panorama veröffentlicht. Darin erklärte Sastre Brecht zum wichtigsten Theaterautor der Gegenwart, der wie Toller oder Piscator ein Theater für die breite Masse schrieb und diese politisch involvieren wollte. Aber die Tatsache, dass Sastre Brecht als Vertreter des Piscatorschen Dokumentartheaters bezeichnete, zeigt, dass seine Kenntnisse zu diesem Zeitpunkt noch sehr oberflächlich waren. Er sollte sich jedoch in der Folgezeit als einer der wichtigsten Mittler des Brechtschen Werkes in Spanien erweisen. Auch über die Tourneen des Berliner Ensembles in Paris und Avignon zwischen 1954 und 1960 wurden Berichte veröffentlicht. In diesen Zusammenhang fiel der Ausdruck des epischen Theaters erstmals 1955 in der Zeitschrift »Teatro«. Der Autor, Enrique Sordo (1923–1992), zitierte zudem Fragmente aus dem Kleinen Organon. Außerdem führt er in einem anderen Artikel in der Zeitschrift »Ínsula« aus demselben Jahr das Brechtsche Konzept der Verfremdung ein. Aus argentinischen Verlagen durften seit Mitte der fünfziger Jahre theoretische Texte von und über Brecht publiziert werden. Bei Theaterstücken ging die Zensurbehörde jedoch strenger vor. Sie verbot 1958 die Aufnahme von Der gute Mensch von Sezuan in eine Anthologie des deutschsprachigen Theaters.2 Die Zensurbehörde begründete dies mit dem Verstoß gegen die Dogmen der Katholischen Kirche. Die drei Götter, die ihre eigene Schöpfung infrage stellen mussten, waren den Zensoren suspekt. Zugleich war sich die Behörde der politische Gefahr bewusst, die insbesondere von Theateraufführungen ausgehen konnte. 2 Als Grund gibt der Zensor an, dass Brecht ein prosowjetischer Autor sei (»Brecht es un autor conocido por su actitud prosoviética«). Vgl.: Archivo General de la Administración (weiter AGA), Dossier 21/12132.
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Der Fall des Lukullus Ab Ende der fünfziger Jahre finden die ersten Theateraufführungen Brechtscher Stücke in, man kann sagen, halbprivaten Kreisen statt, weil sich Literatur da noch am ehesten von politischen Weisungen lösen konnte. Von tragender Bedeutung waren dabei die Initiativen verschiedener Studentengruppen, zunächst in der Universität von Barcelona, aber auch in Industrievorstädten der katalanischen Hauptstadt. Wegen ihrer Kürze und der geringen Anzahl von Schauspielern wurden zunächst nur Brechts Lehrstücke gezeigt, darunter ab 1957 Der Jasager. Der Neinsager und Die Ausnahme und die Regel. Eine frühe, von der Zensurbehörde dokumentierte Aufführung bezieht sich auf Das Verhör des Lukullus. Die Theatergruppe Los Nocturnos. Teatro de Cámara des Madrider Elitegymnasiums Ramiro de Maeztú beantragte am 22. Januar 1959 bei der Zensurbehörde die Erlaubnis für eine dramatische Lesung des Stücks. Antragsteller war der Spanischlehrer und Schauspieler Enrique Navarro Ramos (gest. 1976). Vier Tage später wurde die Genehmigung erteilt. Einer der Zensoren, Manuel Diez Crespo, seinerseits Dichter, schien dem Projekt keine Bedeutung beigemessen zu haben. Er bezeichnete das Werk als »discreto« (unauffällig) und erkannte, dass es sich nicht wirklich um ein Theaterstück handelte, sondern eher um »una narrativa poética«, eine Art poetischer Erzählung.3 El juicio de Lúculo wurde im Ramiro de Maeztú aufgeführt (und nicht nur gelesen), aber leider befand sich unter den Zuschauern ein heute nicht weiter bekannter Journalist, Luis Sanz Martín, der gleich nach der Premiere in einem Brief an die Zensurbehörde seine Empörung ausdrückte. Im Gymnasium sei das Stück mit Begeisterung aufgenommen worden, und das, obwohl Navarro Ramos die marxistische Gesinnung des Autors offen zur Schau stellte. Der eifrige und regimetreue Journalist denunzierte kritische Anspielungen auf Mussolini und die pazifistische Grundeinstellung des Stückes. Er durchschaute außerdem, dass Enrique Navarro Ramos im Programmheft versuchte, Brechts politische Botschaft durch Zitate aus Werken des Heiligen Augustinus und des Benediktinermönchs Padre Feijóo geschickt zu kaschieren. Er bat die Zensurbehörde, die zweite, für Mai in einem kommerziellen Madrider Theater vorgesehene Aufführung zu verbieten. Und so geschah es dann; es wurden zwei neue Gutachten eingeholt, die das Stück diesmal negativ bewerteten: Brechts pazifistische Botschaft sei mit »politischem Dynamit« gleichzusetzen, El juicio de Lucullus wurde verboten. Dieses Beispiel verweist einerseits auf die bedeutende Rolle der unabhängigen Theatergruppen in der ersten Phase der Brechtrezeption. Nur unter dem Vorwand privater Lesungen vor einem ausgewählten Publikum konnten Verbote umgangen werden. So hielt es auch die 1960 in Barcelona gegründete Theatergruppe L′Escola 3 Alle Informationen zur Zensur in AGA, Dossier 73/09285.
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Dramática Adrià Gual, die mehrere Brechtstücke in Spanien bekannt machte. Der Mitbegründer Ricard Salvat (1934–2009) reiste zwischen 1956 und 1961 mehrmals nach Deutschland und kam in Berlin mit dem Berliner Ensemble in Kontakt. Deshalb wurde in der L′Escola Brecht nicht nur aufgeführt, sondern mit zum Programm gehörte eine Ausbildung im epischen Spielen. Diese und andere Gruppen initiierten die Auseinandersetzung mit Brecht in Theorie und Praxis, und deshalb kann schon recht früh von einer produktiven Rezeption gesprochen werden, etwa durch die Einarbeitung epischer Elemente in Ronda de mort a Sinera (1963/65) von Ricard Salvat. In seltenen Fällen wurden sogar Inszenierung von spanischen Klassikern verfremdungstechnisch »unterwandert«. Zu denken wäre an die unvergessliche Bearbeitung von Tirso de Molinas La dama del olivar durch Juan Antonio Hormigón (1943–2019) im Jahr 1967. Der Zensurbehörde entgingen viele dieser gelungenen Versuche, Brecht in das Kulturleben einzuschleusen. Der Fall Das Verhör des Lukullus zeigt andererseits, dass die Zensoren in manchen Fällen unachtsam arbeiteten. Die politische Brisanz des Stücks entging ihnen, und dass sie von einem Außenstehenden auf seine subversive Gefahr aufmerksam gemacht werden mussten, offenbart außerdem die Bedeutung des Denunziantentums während der Diktatur.
Neinsager und Jasager Die Zensurbehörde des Franquismus hatte zunächst einen rein politischen Charakter, doch schon ab 1945 setzte auch die Katholische Kirche ihre Interessen durch, was auf den Einfluss der Nationalkatholiken und des Opus Dei zurückzuführen ist. Nach dem 1953 mit dem Vatikan unterzeichneten Konkordat stieg ihre Macht weiter an, sodass katholische (Gebote) und moralische (anstößige Wörter, sexuelle Szenen, usw.) Kriterien bei den Zensurentscheidungen immer stärker ins Gewicht fielen. In der Zensurbehörde arbeiteten viele Geistliche, die mehr auf die dogmatischen und moralischen und weniger auf die politischen Inhalte achteten. Dies änderte sich auch nicht, nachdem das Presse- und Druckereigesetz von 1966 die Zensur (leider nur scheinbar) liberalisierte. Zwar konnte jetzt die Vorzensur literarischer Werke wegfallen, wer jedoch ein Verbot schon gedruckter Schriften und fertiggestellter Aufführungen nicht riskieren wollte, unterzog sich ihr freiwillig. Für ausländische Autoren war es leichter eine Aufführungsgenehmigung zu erhalten als für dissidente Spanier selber. Und dennoch kam es bis zum Ende der Diktatur zu einer erheblichen Verzögerung auch in der Kenntnisnahme ausländischer literarischer Strömungen, zu denen Brechts Theater unbedingt zu rechnen ist. Die Entscheidungen der Zensurbehörde waren nicht immer vorhersehbar, und der Eindruck, sie arbeite willkürlich, kann durch zahlreiche
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Beispiele bestätigt werden. Mitte der sechziger Jahre wurde die Aufführung von Mutter Courage und ihre Kinder nur erlaubt, weil der historische Kontext des Dreißigjährigen Krieges, so die Lesart eines der Zensoren, Distanz schuf und dem Stück politische Brisanz nahm. Ein weiteres Argument für die Genehmigung war, dass es sich um ein Werk für ein gebildetes Publikum handle: »el pueblo no comprende la tesis de la obra« (das Volk versteht die Grundaussage des Stückes nicht) und »los que la comprenden ya la conocen en gran parte sin necesidad de esperar al estreno teatral« (diejenigen, die es verstehen, kennen es schon und müssen nicht auf die Theaterpremiere warten), behauptete einer der namentlich bekannten Zensoren, der Dominikaner Luis González Fierro (1918–2001). Oft herrschte unter den Zensoren Uneinigkeit. Für den Schriftsteller und Cineasten Marcelo Arroitia-Jáuregui (1922–1992) war Mutter Courage ein Werk, das eine pazifistische Botschaft beinhaltete. Er verstand es als religionskritisch und rund herum marxistisch, »absolutamente pesimista«. Adolfo Prego (1913– 2000), Theaterkritiker und Autor, hingegen war vom Gegenteil überzeugt: »Madre Coraje es infinitamente más aceptable desde el punto de vista moral que otras comedias de autores conservadores.«4 Am 7. Januar 1970 beantragte der Produzent Ramón Tamayo (1921–2008) die Erlaubnis für die Aufführung einer Brecht-Revue mit dem Titel A los hombres futuros, yo, Bertolt Brecht im Madrider Teatro de Bellas Artes. Es handelte sich, und auch das bezeugt die internationale Vernetzung der Brechtrezeption, um ein Projekt, das schon Giorgio Strehler mit der Sängerin Milva in Italien sehr erfolgreich aufgeführt hatte. Lauro Olmo (1922–1994) inszenierte die Revue der Brechtlieder von Kurt Weill und Hanns Eisler. Die Premiere fand am 4. November 1970 statt, neben dem Sprecher Fernando Fernán Gómez (1921–2007) sang Massiel (*1947), die zwei Jahre zuvor den Eurovisionspreis für Spanien gewonnen hatte und im Land sehr populär war, die Lieder in Übersetzungen von Jesús López Pacheco (1930–1997) y Vicente Romano (1935–2014). Der Zensurprozess zog sich lange hin und die Veranstaltung wurde mit dem Argument genehmigt, dass die offenkundig kritischen Anspielungen auf das Nazideutschland die Texte in Spanien und in der Jetztzeit absolut harmlos machten.5 Trotzdem wurden fünf Gedichte wegen radikaler Gesinnung von der Zensur gestrichen: Verjagt mit gutem Grund, Keiner oder alle, General, dein Tank ist ein starker Wagen, Über die Bezeichnung Emigranten und Die das Fleisch wegnehmen vom Tisch. In der Tat konnten diese Gedichte als Kritik auch gegen 4 »Mutter Courage ist vom moralischen Standpunkt her eher zu akzeptieren als viele Theaterstücke konservativer Autoren.« Diese und vorhergehenden Zitate aus Madre Coraje in AGA, Dossier 73/09412. Alle Übersetzungen hier und weiter A.G. 5 Zwei Jahre vorher noch wurde Furcht und Elend des Dritten Reiches genau aus diesem Grund, wegen der Gefahr der Übertragung der Kritik am Nationalsozialismus auf den Franquismus, verboten. Cf. AGA, Dossier 73/09653.
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Francos Umgang mit den Besiegten des Bürgerkriegs und mit den Exilspaniern verstanden werden, und das auch noch in der Spätphase der Diktatur. Auch religiöse Kriterien spielten für die Zensur nach wie vor eine Rolle. Galileo Galilei, eines der wichtigsten Werke Brechts, konnte wegen der scharfen Kritik an der katholischen Kirche erst 1976 in Spanien aufgeführt werden. Interessant ist außerdem, dass auch aus ästhetischer Sicht Zensuren vorgenommen wurden. So betonten die Zensoren immer wieder, dass neben den ideologischen Gesichtspunkten auch Brechts szenische Geschicklichkeit und seine propagandistische Begabung gefährlich seien.6 Auch deshalb wurden konventionelle Inszenierungen seiner Werke eher genehmigt als episch verfremdete Aufführungen.
Mehr Ausnahmen als Regeln 1963 wurde in Barcelona im Palau de la Música mit L’Òpera de tres rals zum ersten Mal eines der großen Werke einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Auch wenn es noch keinen wirklichen Erfolg erzielen konnte, begann jetzt eine neue Rezeptionsphase, die Brecht aus der experimentellen Ecke heraus auf die kommerziellen Bühnen brachte. 1966, zehn Jahre nach Brechts Tod, wurden nicht nur zwei seiner bekanntesten Stücke, Mutter Courage und ihre Kinder in Madrid (Bellas Artes) und Der gute Mensch von Sezuan in Barcelona (Teatro Romea), in erstklassiger Besetzung aufgeführt, sondern es war auch das Jahr, in dem der Verkauf einer übersetzten Werkausgabe aus Argentinien genehmigt wurde. Vorausgegangen war nicht nur das reformierte Pressegesetz von 1966, sondern auch, dass der 1962 ernannte und für die Bühnen zuständige Staatssekretär im Kulturministerium, José María García Escudero (1916–2002), eine liberale Politik durchzusetzen versuchte. Was die Zensur anbelangt, so erklärt er in seinen Memoiren, ginge es nicht darum, sie abzuschaffen (was absolut undenkbar gewesen wäre), sondern sie mit der gesellschaftlichen Gesinnung der sechziger Jahre in Einklang zu bringen.7 Unter seiner Regie wurde eine Reihe renommierter Dramatiker aufgeführt, die dem Regime suspekt waren: moderne spanische Klassiker wie Unamuno oder ValleInclán und zeitgenössische Autoren wie Buero Vallejo und Antonio Gala. Aus dem Ausland wären Anouilh, Artaud, Beckett, Brecht, Camus, Cocteau, Dürrenmatt, Faulkner, Frisch, Giraudoux, Ionesco, Miller, O’Neill, Pinter, Pirandello, Priestley, Sartre, Peter Weiss, Thornton Wilder und Tennessee Williams zu nennen. 6 Z. B. in AGA, Dossier 73/09645 oder AGA, Dossier 73/09845. 7 Zit. nach Muñoz Cáliz, Berta: El teatro crítico español durante el Franquismo visto por sus censores. Madrid: Fundación Universitaria Española 2005, S. 133.
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Mutter Courage kam in einer Version Buero Vallejos (1916–2000) zur Aufführung. Der Dramatiker setzte sich intensiv mit Brecht auseinander und erläuterte seine Vorbehalte gegenüber dem epischen Theater in einem wichtigen Artikel von 1966. Darin stellt er die Bedeutung der antikapitalistischen Sozialkritik positiv heraus, was inmitten des Franquismus gewagt war, sprach aber auch von der Schwierigkeit, ein Theater zu konzipieren, in dem die Empathie mit dem Publikum nicht über Emotionen gesucht wird. Buero machte im Programmheft seiner Madre Coraje auf die Bedenken aufmerksam,8 betonte jedoch, dass Mutter Courage und ihre Kinder im Vergleich zu anderen Stücken Brechts ein sehr emotionales Werk sei, und gerade durch die Emotionen gelinge es, die Zuschauer mit dem Stück zu versöhnen. Diese Sicht versöhnte auch die Zensur, denn sie nimmt der Brechtschen Botschaft politische Sprengkraft: Brechts beharrt in seiner Theorie […] auf der Ablehnung des Tragischen und des individuellen Heldentums; aber in einigen seiner Stücke entwickelt er echte Tragödien […] Helden, die so authentisch sind wie die stumme Tochter der Courage […]. Wenn […] der Stein zu sprechen beginnt […], ist der Stein Catalina, die es ohne Sprache schafft, die Trommel in ihre Sprache zu verwandeln. Wenn […] die Courage das Wiegenlied für ihre tote Tochter zu Ende singt und sich allein auf den Weg macht, vereint mit dem unerbittlichen Schicksal ihres Wagens, überflutet tragisches Mitleid den Saal, überflutet Tausende von Augen, vereint die Herzen […] und [das Publikum] bricht in einhelligen Beifall aus […]. Wenn […] wir zugeben müssen, dass es in Brecht theoretisch-praktische Widersprüche gibt […], werden wir ihn nicht weniger bewundern, aber wir werden vermeiden, ihn in einen Mythos zu verwandeln.9
Auf der Bühne dieser Madre Coraje dominierte zwar ein grauer Realismus, der an den Inszenierungsstil des Berliner Ensembles erinnerte, aber der deutschstämmige Bühnenbildner Sigfrido Burman streute, wie in den meisten seiner Produktionen, expressionistische Elemente ein. Zwei Szenen wurden gekürzt und mehrere Lieder fielen den Kriterien der Zensur zum Opfer.
8 Vgl. Rodríguez Richart, José: Antonio Buero Vallejo y Bertolt Brecht. La versión española de Madre Coraje y sus hijos. In: »Don Galán. Revista de Investigación teatral« Nr. 6, 2016. URL: https://www.teatro.es/contenidos/donGalan/donGalanNum6/sumario.php / letzter Zugriff am 22. 01. 2021. 9 »Las teorías de Brecht postulan […] la repulsa de lo trágico y del heroísmo individual; pero en algunas de sus obras desarrolla tragedias verdaderas […] héroes tan auténticos como la muda hija de Coraje […]. Cuando […] la piedra rompe a hablar […] la piedra es Catalina y que, sin lengua, consiguió convertir el tambor en lengua propia. Cuando […] la Coraje termina de cantar su nana a la hija muerta y arranca sola, uncida al destino inexorable de su carreta, la piedad trágica inunda la sala, arrasa miles de ojos, une corazones […] y [el público] estalla en una ovación unánime […]. Si […] hemos de admitir que en Brecht hay contradicciones teórico-prácticas […] no le admiraremos menos, pero evitaremos transformarlo en mito.« Cf. Buero Vallejo, Antonio: Obra Completa. Herausgegeben von Luis Iglesias Feijoo / Mariano de Paco. Bd. 2. Madrid: Espasa-Calpe 1994, S. 718–721.
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Mutter Courage kann als Durchbruch der Brechtrezeption in Spanien verstanden werden, die Inszenierung konnte sich 123 Tage lang auf der Bühne des Teatro de Bellas Artes halten. Zwei Jahre später wurde sie wieder aufgenommen. Die Kritiken waren durchweg positiv, und selbst in der regimetreuen Zeitung Arriba wurde das ästhetische Gleichgewicht der Aufführung gelobt. Die politische Kritik blieb augenscheinlich ausgespart. In den staatlichen Theatern nahmen die politischen Eingriffe nicht ab. Zwar konnte José Luis Alonso (1924–1990), von 1960 bis 1975 Direktor des Nationaltheaters María Guerrero, seinen Spielplan selbst bestimmen, aber es konnte passieren, dass das Kulturministerium einschritt und Werke auch kurzfristig verbieten ließ. Grund dafür waren meistens äußere Umstände; Sean O’Caseys Red Roses for Me durfte nicht aufgeführt werden, weil die Premiere mit einem Streik der Bergarbeiter in Asturien zusammenfiel. Das Verbot von Dürrenmatts Die Ehe des Herrn Mississippi war der Tatsache geschuldet, dass der Bearbeiter, Carlos Muñiz, ein Manifest gegen das Regime mitunterzeichnet hatte.10 Am 29. März 1965 hatte Der kaukasische Kreidekreis als erstes Brechtstück im spanischen Nationaltheater María Guerrero Premiere. Mit der Inszenierung war das Teatro Nacional Universitario beauftragt, die Fassung und Regie stammte von Alberto Castilla. Das Stück wurde sofort nach der ersten Aufführung abgesetzt, denn sie fiel mit Studentenunruhen zusammen. Die Studenten kämpften Anfang 1965 in Protestaktionen in Barcelona und Madrid für Meinungs- und Pressefreiheit, für die Gründung unabhängiger Gewerkschaften, für das Streikrecht und für die Freilassung der Kommilitonen, die aufgrund der Konfrontationen festgenommen worden waren. Die Premiere des Brechtstückes war eine gute Gelegenheit, den Forderungen Nachdruck zu verleihen. Das Theater wurde von der Polizei abgesperrt, die politische Brisanz des Stückes steht hier außer Frage.
Zunehmendes Einverständnis Erst 1971, vier Jahre vor dem Tod des Diktators, wurde Der Kaukasische Kreidekreis, unter der Regie von José Luis Alonso, immer noch Direktor des Teatro Nacional María Guerrero, erneut aufgeführt. Die Premiere fand am 11. April 1971 statt, das Bühnenbild stammte von dem schon erwähnten Sifrido Burman. Die Inszenierung orientierte sich trotz der Reduzierung der V-Effekte nach Cornago Bernal11 durch die Grautöne der Kostüme, ihre Schlichtheit sowie ein nur sche10 Vgl.: Alonso, José Luis: Teatro de cada día (Escritos sobre teatro). Madrid: ADE 1991, S. 127. 11 Vgl.: Cornago Bernal, Óscar: Discurso teórico y puesta en escena en los años sesenta: La encrucijada de los »realismos«. Madrid: CSIC 2000, S. 410.
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menhaftes Bühnenbild sehr eng an der Arbeit des Berliner Ensembles. Alonso ließ auf einer offenen Bühne bei vollem Licht spielen, um, wie er selber beteuerte,12 nicht in ein Illusionstheater zurückzufallen. Die Premiere war ein großer Erfolg. Alle Vorstellungen waren ausverkauft und das Publikum setzte sich hauptsächlich aus jungen Leuten zusammen, die ihre Begeisterung durch starken Applaus da zum Ausdruck brachten, wo der Sänger sich dem Proszenium nähert und folgenden Satz deklamiert: »Las cosas deben pertenecer a aquellos que las merecen« (Dass da gehören soll, was da ist, denen, für die es gut ist.)13 Nach eineinhalb Monaten erfolgreicher Aufführungen wurde dieser Círculo de tiza caucasiano dann doch noch von der Zensur verboten, weil es ähnlich wie 1965 zu Tumulten vor dem Theater kam und weil das Stück in diesen Zusammenhang als Quelle sozialer und politischer Agitation kommunistischer Natur angesehen wurde. Im Dezember 1974 wurde die Inszenierung jedoch wieder aufgenommen. Hervorzuheben ist, dass Pedro Laín Entralgo (1908–2001), ein Ideologe des spanischen Faschismus, für die Textfassung verantwortlich war. Nach Kriegsende bekleidete er verschiedene politische Ämter, er war Mitglied im Nationalrat der Bewegung, Direktor der nationalen Verlagsanstalt, stellvertretender Direktor der Zeitschrift »Escorial«, Direktor der Residencia de Estudiantes Jiménez de Cisneros und schließlich von 1951 bis 1956 Rektor der Madrider Universität. Dort besetzte er den Lehrstuhl für Medizingeschichte. Er distanzierte sich erst nach Francos Tod vom Regime, und von 1982 bis 1987 war er noch Direktor der Königlichen Sprachakademie. Als bekennender Christ verstand er den Kaukasischen Kreidekreis nicht politisch, sondern interpretierte das Werk als eine philosophische Auseinandersetzung zwischen Gesetz und Gerechtigkeit (»derecho de sangre versus derecho de amor«). Er las Brecht als einen Klassiker, und mit der Auffassung, dass nur durch nicht entfremdende Arbeit, Gerechtigkeit, Liebe und Selbstlosigkeit ein echtes und wahrhaft menschliches Leben auf Erden möglich sei, war Pedro Laín Entralgo einverstanden, wie er im Programmheft der Inszenierung bezeugte. Dieses Bekenntnis darf nicht unterschätzt werden, es trug auch zum Erfolg des Marxisten Brecht während der Übergangszeit in die Demokratie bei. Camilo José Cela (1916–2002), 1989 Literaturnobelpreisträger und im frühen Franquismus Mitarbeiter in der Zensurbehörde, brachte 1975 seine Fassung von Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui im Madrider Teatro Lara auf die Bühne. Regie führten Peter Fitzi und José Luis Gómez (*1940), der erst 1971 aus dem Exil 12 Vgl.: Peláez, Andrés: Historia de los teatros nacionales. 1960–1985. Madrid: Centro de Documentación Teatral 1995, S. 14. 13 Cañizares Bundorf, Nathalie: Memoria de un escenario. Teatro María Guerrero 1885–2000. Madrid: Ministerio de Educación y Cultura. Instituto Nacional de las Artes Escénicas y de la Música 2000, S. 249.
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in Deutschland zurückgekehrt war. Mit dem Bühnenbild wurde die Gruppe Equipo crónica beauftragt, was allein schon auf eine vielversprechende Erstaufführung hoffen ließ. Dieses Künstlerkollektiv, das mit seinen Bildern sozialkritischen politischen Aktivismus betrieb, wählte einen von der Pop Art beeinflussten Collagestil. Der Text, der den Aufstieg Adolf Hitlers als Gangster thematisiert, wurde von Cela »spanisch« interpretiert. d. h. er rückte ihn in die Nähe der Schelmenliteratur. Die Presse war einhellig voll des Lobes, und selbst die »Frankfurter Allgemeine Zeitung« berichtete positiv über diese gelungene Version von La resistible ascensión de Arturo Ui. Als nach mehreren Aufführungen die faschistische Gruppierung Los Guerrilleros de Cristo Rey eine Vorstellung stürmte und verhindern wollte, musste das Stück vorübergehend suspendiert werden. Hier zeigt sich noch einmal, dass Brecht in den turbulenten Zeiten des späten, entkräfteten Franquismus Explosivität barg. Die Gruppen, die sich gegen die Demokratisierung des Landes wehrten, versuchten mehr denn je die Verbreitung seiner Stücke zu verhindern.
Im Dickicht der Vermittlung Obwohl die letzten Beispiele zeigen, dass auch regimenahe Intellektuelle Wege fanden, »ihren« Brecht in die spanische Kultur einzuführen, ist die Brecht-Rezeption in Spanien in erster Linie dem Wirken dissidenter Mittler zu verdanken. In Übersetzungen, Inszenierungen und kritischen Studien trugen sie entscheidend zur Verbreitung Brechts bei. Sie ergriffen die Initiativen aus verschiedenen Gründen, mehrheitlich beabsichtigten sie, mit alternativen Haltungen und Strategien die offiziellen künstlerischen und diskursiven Vorgaben zu unterwandern und soziale, kulturelle und künstlerische Defizite auszugleichen. Diese Motivationen trieben den Transferprozess über zwanzig Jahre voran. Mittler sind, wenn sie nachhaltig etwas erreichen wollen, auf Netzwerke angewiesen. Im Falle Brechts in der Francodiktatur waren diese informell und erstreckten sich seit der Frühphase der Rezeption auf ausländische Kontakte: Verlage in Argentinien, akademische Aufsätze aus Deutschland, Aufführungen in Frankreich, was beweist, dass auch beim Kulturtrasfer Brechts nach Spanien Drittländer eine wichtige Rolle spielten. Die Vermittler wählten die Texte aus, die in die spanische Kultur Eingang finden sollten. Dabei waren sie in ihren Entscheidungen nicht frei, viele Vorschläge wurden von außen an sie herangetragen, viele Anträge auf Veröffentlichungen oder Aufführungen wurden abgelehnt. Die Brecht-Revue A los hombres futuros, yo, Bertolt Brecht wurde, wie schon gesagt, als erfolgreiches Projekt aus Italien übernommen. Die Rohübersetzung der Gedichte fertigte Vicente Romano noch vor 1965 an. Er hatte nach seiner Promotion schon in den fünfziger Jahren Spanien verlassen und lebte bis zum
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Ende des Franquismus in Deutschland. Nach seiner Rückkehr galt er als einer der federführenden Sozialwissenschaftler der marxistischen Schule in Spanien. Seine Übersetzungen wurden von dem Dichter Jesús López Pacheco überarbeitet, bevor er sie in seinem eigenen Verlag Horizonte veröffentlichte. López Pacheco wurde vom Regime als Student gefördert und mit Literaturpreisen ausgezeichnet, wurde 1956 jedoch wegen rebellischer Umtriebe zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. 1968 verließ er das Land und ließ sich in Kanada nieder. Die beiden Beispiele zeigen, wie komplex allein die Biografien von Mittlern sein können. Zu den Ergebnissen von Transferaktivitäten gehört die sogenannte produktive Rezeption. Der etwas ungenaue Ausdruckt bezieht sich auf die künstlerische Verarbeitung von Rezeptionsresultaten aus einer Ausgangs- in der Zielkultur in expliziter, markierter Form (durch direktes Zitat, erkennbare Nachahmung, kontrafaktische Stile, usw.) oder unmarkiert (durch versteckte Aneignungen). Welche Wirkungen dabei beabsichtigt sind und was jede dieser Modalitäten in der Wahrnehmung durch Kritiker und Publikum erreicht, sind komplexe Fragen, die hier nur bedingt beantwortet werden können. Es eröffnet sich ein weites Feld, das abschließend an wenigen Beispielen umrissen werden soll.
Zufluchtstätte Brecht Aus der produktiven Beschäftigung mit Brecht in wissenschaftlichen Arbeiten und in Übersetzungen kann eine künstlerische Rezeption resultieren. Sie erfolgt in jeder Inszenierung seiner Stücke, vor allem aber in kritischen Weiterverarbeitungen seiner Texte in neuen Werken. Buero Vallejo, um nur einen der herausragendsten Autoren zu nennen, arbeitete trotz seiner oben erwähnten Vorbehalte mit Brechts Vorgaben. Das wichtigste Mittel, das er konsequent einsetzt, ist die Figur des epischen Erzählers. Dieser Rekurs gehörte schon zum Instrumentarium des spanischen Theaters im Goldenen Zeitalter, vor allem bei Lope de Vega, und war insofern dem Publikum nicht fremd. Buero radikalisierte ihn nach Brechts Vorbild. Während der Rede des Erzählers kommt die Handlung völlig zum Stillstand, sodass der Effekt der Distanzierung und der kritischen Reflexion aufseiten des Zuschauers schier zwingend ist. In Un soñador para un pueblo (1958) wird die Rolle des Erzählers von einem blinden Bettler gespielt, in Las Meninas (1960) ist es ebenfalls ein Bettler, der in das Stück einführt und am Ende das Bühnenbild kommentiert. In El Tragaluz (1967) treten sogar zwei Erzähler auf, die die Handlung mehrmals unterbrechen. An diesem Stück, das Gewalt und Krieg denunziert, zeigt sich deutlich, wie Buero Vallejo auf halbem Weg zwischen der europäischen Avantgarde und dem traditionellen spanischen Theater die Möglichkeiten auslotet, um in der Diktatur politisch kritisches Theater schreiben
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zu können. Dieser posibilismo erinnert an Brechts Strategien, um in schwierigen Zeiten die Wahrheit sagen zu können: Kurz gesagt: ich war ein Possibilist, nicht mehr und nicht weniger als jeder, der etwas uraufführt und die Kürzungen akzeptiert, die sich bei der Aufführung als unvermeidlich erweisen, und andererseits auch die Verstümmelungen der Zensur. Ich empfinde sie als unbedeutend, weil es keine andere Möglichkeit gab oder weil es mir gelungen war, die wirklich wichtigen Passagen zu retten. Ich habe das getan, was wir alle tun, die wir zur positiven Entwicklung unserer Bühne und unseres Publikums einen Beitrag leisten wollen, auch wenn ich im Gegensatz zu anderen das Problem erkenne und es beim Namen nenne.14
In El sueño de la razón (1970) – der Titel geht auf Goyas Radierung Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer zurück – hat der Protagonist Goya eine gewisse Ähnlichkeit mit Brechts Galileo Galilei. Beide sind zunächst respektable Persönlichkeiten der Weltgeschichte, werden in den Stücken in den Augen der Zuschauer jedoch als widersprüchliche Charaktere wahrgenommen. Goya unterliegt in seinem sechsundsiebzigsten Lebensjahr einem unbändigen sexuellen Appetit, und dieser Charakterzug erzeugt ähnlich wie bei Galileo Galilei Distanz. Brechts Galileo stand auch Alfonso Sastre in La sangre y la ceniza (1967, uraufgeführt 1976) Pate. Sastre interessierte vor allem die Stellung des Intellektuellen in Zeiten der Diktatur. Das Werk handelt von der Entscheidung des Theologen und Arztes Miguel Servet, für seine Auffassungen in den Tod zu gehen. Er ist eine Gegenfigur zu Galilei, der, um weiterarbeiten zu können, seine aus Sicht der Katholischen Kirche häretischen Ansichten widerruft. Auch für Sastre ist ein Intellektueller kein Held, sondern er muss sich seine Arbeitsbedingungen ständig neu erobern. Aber Servet nimmt seine Überzeugungen, die er als wissenschaftliche Wahrheiten betrachtet, nicht zurück. Alfonso Sastre ist wahrscheinlich derjenige, der sich in Spanien am kritischsten mit Brechts Werk auseinandergesetzt hat, ihm aber immer nahestand. In seiner 1965 erschienenen Anatomía del realismo behauptet er, dass die bedingungslose Akzeptanz von Brechts Theatertheorien […] den Tod des Dramas bedeuten würde, eine Beobachtung, die sich aus postdramatischer Sicht als anregend erweist. Als Konsequenz (und um dem Tod des Dramas, wie er sagt, vorzubeugen) entwickelt Sastre eine eigene dramatische Theorie, die er als »tragedia compleja« bezeichnet. Darin will er Brechts antiaristotelisches Theater, 14 »En fin: que he sido posibilista, ni más ni menos que lo es todo el que estrena algo y acepta, por un lado, los cortes que el montaje revela inevitables, y, por otro lado, aquellas mutilaciones de censura que encuentre leves, porque no hubo otras o porque logró rescatar las más graves. He hecho lo que hacemos todos cuantos queremos ayudar a la evolución positiva de nuestra escena y nuestro público, aunque, a diferencia de otros, yo lo reconozco y le aplico su verdadero nombre.« Buero Vallejo, Antonio: Obra Completa. Herausgegeben von Luis Iglesias Feijoo / Mariano de Paco. Bd. 2. Madrid: Espasa-Calpe 1994, S. 718.
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das ihm zu didaktisch erschient, überwinden und schlägt eine Rückkehr zu den tragischen Wurzeln des Dramas vor, spricht von einem tragischen Kern, der für den Zuschauer unmittelbar wahrnehmbar ist, durch Verfremdungseffekte jedoch distanzierend beurteilt werden kann. Dabei kommen formale Aspekte des epischen Theaters zum Einsatz. Anfang 1956 hatte Brecht die Absicht, im Berliner Ensemble das zeitgenössische spanische Theater vorzustellen, aufgrund seiner Krankheit und seines Todes im August wurde die Idee nicht verwirklicht. Der Exilspanier Rafael Alberti (1902–1999) lernte ihn in diesem Zusammenhang kennen und verfasste einen dramatischen Text, der deutlich von Brechts Konzept beeinflusst war, Noche de guerra en el Museo del Prado (1956). Das Stück konnte allerdings erst nach Francos Tod in Spanien aufgeführt werden. Es ist schwierig festzustellen, wie weit der Einfluss reicht, zumal Alberti ähnlich wie García Lorca dem französischen Surrealismus nahe steht, und gerade in diesem Stück eine kuriose Mischung verschiedener Richtungen des nichtaristotelischen Illusionstheaters fusioniert. Es könnten zahlreiche weitere Dramatiker in dieser Linie aufgezählt werden, zum Beispiel Fransico Nieva (1924–2016), der im Pariser Exil mit Brechts Theater vertraut wurde und Brecht schon 1954 persönlich kennengelernt hatte. Er erkannte, dass Brecht als Regisseur ein antibürgerliches Theater verwirklichte und machte sich dies in seinen eigenen Stücken und Inszenierungen zu eigen, insbesondere da, wo die Distanz des Schauspielers zu seiner Rolle ersichtlich wird. Der Bruch mit dem Illusionstheater wird bei Nieva hauptsächlich vom Schauspieler vollzogen. In dieser Hinsicht entwickelt er Brecht weiter.15 Der Einfluss Brechts auf das zeitgenössische Theater in Spanien, in der Diktatur in Ansätzen vorbereitet, kam in der Übergangszeit in die Demokratie zum Tragen. Nicht nur der Titel von José Sánchez Sinisterras (*1940) Terror y miseria en el primer Franquismo (2003) verweis auf Brechts Furcht und Elend des Dritten Reiches. Das Episodenstück handelt von den harten Jahren der Nachkriegszeit, in denen die Diktatur sich wie ein Krebsgeschwür in die privatesten Sphären der Familien einnistete. Ein weiteres aussagekräftiges Beispiel der produktiven Brechtrezeption ist El Cartógrafo von Juan Mayorga (*1940). In dem 2016 uraufgeführten Stück werden die zwölf Personen des Textes von nur zwei Schauspielern gespielt, die an einer Stelle sogar aufhören zu spielen und sich selber darstellen. Mayorga lotet, um die Grenzen zwischen Realität und Fiktion zu erkunden, die Metatheatralik sehr weit aus.
15 Vgl. Calvo Carilla, José Luis: Francisco Nieva. Madrid: Editorial Complutense 2005, S. 249.
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Fazit oder wir wissen wohl, das ist kein rechter Schluss In General Francisco Francos nationalkatholischer Diktatur, die von 1939 bis 1975 dauerte, hatte Bertolt Brecht, so denkt man, keinen Platz. Aber während der 36 langen Jahre ist diese Aussage differenziert zu betrachten. Sie gilt bestimmt für die erste, strenge Zeit nach dem Bürgerkrieg; nach 1965, als es zu einer relativen Liberalisierung des Zensurgesetzes kam, änderte sich die Situation jedoch in Ansätzen und die Entwicklung ging von einer subversiven Rezeption hin zur Tolerierung. Die autoritären Herrschaftsstrukturen wurden von den Intellektuellen und Künstlern immer weniger unterstützt. Und dennoch, auch wenn zuletzt einige Befürworter des Regimes Brecht für sich entdeckten, war die Aufnahme Brechts im Franco-Spanien immer von Hindernissen begleitet. Die Intervention der Politik führte dazu, dass er vor Francos Tod im November 1975 nur fragmentarisch rezepiert werden konnte. Die Brecht-Rezeption erfüllte zwei Funktionen: für das diktatoriale Regime diente sie augenscheinlich nach außen als Zeichen der Öffnung und Liberalisierung, die Dissidenten im Land verstanden sie als eine politische oder soziale Notwendigkeit für den Aufbau einer neuen Legitimität. In diesen Rahmen erfolgte sie auf zwei Ebenen, die nicht klar voneinander getrennt werden können. Zum einen setzten sich Dramatiker und Regisseure ästhetisch mit dem epischen Theater auseinander, zum anderen darf diese Beschäftigung mit dem Erfinder des epischen Theaters jedoch nicht von dem gesellschaftlichen Kontext losgelöst werden. Brecht war auch im Kampf gegen den Entzug von Freiheiten und gegen die Verfolgung Andersdenkender relevant. Dieses doppelte Erbe findet in Spanien in der postdiktatorialen Ära im zeitgenössischen Theaters bis heute seinen Niederschlag.
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Verfilmt, aber ob wirklich filmisch? Filmische Zeugnisse der Brecht-Rezeption in beiden deutschen Staaten (1949–1989)
I Das filmische Erbe Bertolt Brechts – was immer dieser Begriff auch bedeuten mag – bietet der Forschung keine einfachen oder eindeutigen Instrumente zur Typologisierung oder Systematisierung seines Werks. Im Gegenteil, es entzieht sich ständig der Klassifizierung, weil es in sich selbst heterogen ist und sich keiner historischen, generischen oder sonstigen Ordnung unterwirft. Das Problem beginnt bereits, wenn man dieses Erbe einfach benennen und klassifizieren will. Zwar kann man, wie es Wolfgang Gersch in seiner Monografie getan hat, dem biografisch-technischen Weg folgen und beispielsweise eine Gruppe von »Filmen, an denen Brecht mitarbeitete« und eine Gruppe von »Filmen nach Brecht«1 vorschlagen, doch ist diese Einteilung eine sehr mechanische und künstliche, die viele der scheinbar wichtigeren, mit dem filmischen Erbe des Autors verbundenen Fragen nicht berücksichtigt. Die erste Gruppe beginnt mit Mysterien eines Frisiersalons – dem einzigen Film, bei dem Brecht (Mit-)Regisseur (und damit Filmemacher im wahrsten Sinne des Wortes)2 war, einer stummen Burleske, die 1923 in Zusammenarbeit mit Erich Engel und Karl Valentin entstanden ist. Das während der Dreharbeiten unterbrochene Projekt einer Verfilmung von Mutter Courage und ihre Kinder (1955) durch Wolfgang Staudte schließt sie ab. Dazwischen befinden sich Slatan Dudows Kuhle Wampe oder Wem gehört die Welt? von 1932 und der amerikanische Klassiker Auch Henker sterben (Hangmen Also Die, USA 1943) von Fritz Lang. Jedoch haben alle diese Projekte, abgesehen davon, dass sie in gewissem 1 Vgl. Gersch, Wolfgang: Film bei Brecht. Bertolt Brechts praktische und theoretische Auseinandersetzung mit dem Film. Berlin: Hanser 1975, S. 380–386. 2 Es sei daran erinnert, dass dies der berühmteste Film des Kultkomikers Karl Valentin (Valentin Ludwig Fey) in seiner langen Karriere ist, und die Art des absurden Humors, die er vertritt, ist ein Markenzeichen seiner Kurzfilme, für die sich der Begriff Valentinaden eingebürgert hat – eine Mischung aus US-amerikanischem Slapstick und deutschem Volkstheater mit bayerischem Einschlag.
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Maße (unverhältnismäßig) mit Brechts Beteiligung an ihrer Vorbereitung oder Realisierung verbunden sind, wenig gemeinsam. Am wenigsten jedoch ihre Poetik, die jeweils der »Handschrift« ihrer Autoren verpflichtet ist (Dudow, Lang oder Staudte)3. Vergebens sucht man nach einem Kriterium, das erlauben würde, den Beitrag des Autors in einer kohärenten materiellen Perspektive einzuordnen. Kein einziger der genannten Filme – der Vollständigkeit halber sei auch Lied der Ströme, der Dokumentarfilm von Joris Ivens aus dem Jahr 1954, erwähnt – trägt allein die Handschrift Brechts. Im Gegenteil, selbst der »meist Brechstsche« von allen – der Film von Dudow, basiert auf einem Drehbuch von Brecht und Ernst Ottwalt; für Auch Henker sterben lieferte Brecht zusammen mit Fritz Lang das Originalmanuskript, aber der eigentliche Autor bleibt John Wexley; an der Adaption von Mutter Courage und ihre Kinder arbeiteten drei Drehbuchautoren (Emil Burri, Bertolt Brecht, Wolfgang Staudte), ebenso wie drei Autoren für das Drehbuch und die Regie von Mysterien eines Frisiersalons verantwortlich waren; schließlich hat das Lied der Ströme, das als Brechtsches Werk behandelt wird, ebenso viel mit Brecht gemeinsam wieviel Text des leitmotivischen Lied[es] der Ströme es enthält. Und es geht hier in der Regel nicht um die Idee der Überlegenheit der Kollektivarbeit gegenüber der Einzelarbeit, die in Brechts Theater konsequent propagiert und praktiziert wurde, sondern um die Unterordnung der genannten Projekte unter verschiedene Entscheidungszentren, oder, um es unverblümt zu sagen, um ihre jeweilige Verstrickung in die komplizierten Windungen der Filmkultur ihrer Zeit. Die Gruppe der »Filme nach Brecht« erweist sich als noch vielschichtiger und reicht von Georg Wilhelm Pabsts nicht autorisierter Adaption der Dreigroschenoper von 1931, die vom Autor abgelehnt wurde, über Peter Palitzschs und Manfred Wekwerths 1960 realisierte Defa-Adaption von Mutter Courage und ihre Kinder, bis zur »Filmdokumentation« der Inszenierung von Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui im Berliner Ensemble, entstanden 1974 unter der Regie von Manfred Wekwerth und Peter Palitzsch in Zusammenarbeit mit dem Fernsehen der DDR. Unklar bleibt nur, warum Gersch die Verfilmung des Dramas Herr Puntila und sein Knecht Matti (Österreich 1955) von Alberto Cavalcanti in die Zusammenstellung aufnahm, an dessen Filmadaption Brecht selbst als 3 Hervorzuheben ist, dass die Mysterien eines Frisiersalons den Auftakt zu Brechts langjähriger Zusammenarbeit mit Erich Engel bilden, die diesen an die Spitze des Berliner Ensembles führte, wo er gemeinsam mit Brecht (noch auf der Bühne des Deutschen Theaters) die Kultproduktionen Mutter Courage und ihre Kinder (1949) sowie Herr Puntila und sein Knecht Matti (1949, eine Inszenierung, deren Premiere am 12. November desselben Jahres die Tätigkeit des Berliner Ensembles einleitete) inszenierte. Nach Brechts Tod inszenierte Engel u. a. Leben des Galilei (1957) sowie Die Dreigroschenoper (1960) und fungierte in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre auch als Oberspielleiter des Berliner Ensembles. Er war auch Autor von zwei bedeutenden Defa-Filmen noch in der sowjetischen Besatzungszone: Affaire Blum (1948) und Der Biberpelz (1949).
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Drehbuchautor4 maßgeblich mitgewirkt hatte, wie aus der Autorenversion der Drehbuchüberarbeitung5 hervorgeht. Diese »Filmografie« bleibt jedoch auch ohnedies höchst fragwürdig und unvollständig, da sie (wahrscheinlich aus Zensurgründen) den westdeutschen Fernsehfilm Leben des Galilei des BrechtSchülers Egon Monk aus dem Jahr 1962 ausklammert (der Regisseur ging 1958 nach Westdeutschland, wo er die Abteilung Fernsehspiel beim Norddeutschen Rundfunk leitete)6, aber es fehlt auch der westdeutsche Fernsehfilm Die Gewehre der Frau Carrar aus dem Jahr 1975, bei dem er Regie führte und der von dem herausragenden polnischen Kameramann und Emigranten von 1968, Kurt Weber,7 gedreht wurde (wobei in diesem Fall das Zusammentreffen von Premiere und Erscheinungsdatum des Buches entscheidend gewesen sein mag). Monk hatte das Stück bereits 22 Jahre zuvor für das gerade in Betrieb gehende DDR-Fernsehen adaptiert (die öffentliche Inbetriebnahme fand im Dezember 1952 statt). Die Gewehre der Frau Carrar (mit Helene Weigel in der Titelrolle, 1937 in Paris uraufgeführt, die deutsche Erstaufführung fand erst neun Jahre später in Berlin statt), vom Deutschen Fernsehfunk der DDR in Zusammenarbeit mit dem Berliner Ensemble (dessen Logo in Form einer Picasso-Friedenstaube mit dem Datum 4. Mai 1947 den Hintergrund des Vorspanns bildet) aufgezeichnet, wurde als »Verfilmtes Studiogastspiel des Berliner Ensembles mit dem Stück von Bertolt Brecht«8 am 11. September 1953 gesendet.9 Brechts Stück, das 4 Joachim Lang betont zu Recht, dass Herr Puntila und sein Knecht Matti »somit das einzige Stück [ist], auf dessen Grundlage ein von Brecht autorisiertes Drehbuch entstand, das trotz aller Differenzen im Wesentlichen verfilmt wurde«. Lang, Joachim: Episches Theater als Film. Bühnenstücke Bertolt Brechts in den audiovisuellen Medien. Würzburg: Königshausen & Neumann 2006, S. 142). 5 Vgl. Brecht, Bertolt: [Zum Film »Herr Puntila und sein Knecht Matti«]. In: »Texte für Filme«, Bd. II: Exposés, Szenarien. Berlin, Weimar: Aufbau-Verlag 1971, S. 366–370. 6 Wahrscheinlich ging es auch darum, die Erinnerung an den Konflikt nach dem Bau der Berliner Mauer im August 1961 nicht wieder aufleben zu lassen, als die Reaktion der westdeutschen Presse auf die Entscheidung, Brecht im deutschen Fernsehen zu zeigen, in der DDR heftig kritisiert wurde (die Ausstrahlung von Leben des Galilei wurde von Oktober 1961 auf Januar 1962 verschoben (vgl. Lang, Joachim: Episches Theater als Film, S. 305–306). In der DDR wurde Brechts Drama erst 1978 durch Manfred Wekwerth und Joachim Tenschert (vgl. Fernsehen der DDR – Online Lexikon der DDR-Fernsehfilme, Fernsehspiele und TV-Inszenierungen. URL: www.fernsehen derddr.de/index.php?script=sonstiges-ddr-tv#galerie6007) als eine »Dokumentarverfilmung« von der Bühne des Berliner Ensemble ins Fernsehen übertragen. Vgl. Lang, Joachim: Episches Theater als Film, S. 282, 288). 7 Bevor er Polen verließ, hatte Kurt Weber unter anderem für Czesław Petelskis Himmelfahrtskommando (Baza ludzi umarłych, 1958), Kazimierz Kutz’ Menschen aus dem Zug (Ludzie z pocia˛gu, 1961), Tadeusz Konwickis Salto (1965) und Janusz Majewskis Der Mitbewohner (Sublokator, 1966) – alles groβe Klassik des polnischen Kinos – die Kamera geführt. 8 Online Lexikon der DDR-Fernsehfilme. Es ist erwähnenswert, dass die Anzahl der Fernsehgeräte zu dieser Zeit nur 60 betrug (und alle in Berlin platziert waren). Zu den Schwierigkeiten, die mit dieser Adaption verbunden sind, siehe Lang, Joachim: Episches Theater als Film, S. 235– 236.
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von Egon Monk für das Fernsehen inszeniert wurde (im Abspann wird Monk als »Bildregisseur« bezeichnet10), war die erste deutschsprachige Fernsehinszenierung eines Brecht-Stücks überhaupt und blieb – wie sich herausstellen sollte – die einzige vollständige Dokumentation einer Aufführung des Berliner Ensembles, die zu Lebzeiten des Autors entstand.11 In Westdeutschland hingegen kam die erste Fernsehinszenierung eines Stücks von Brecht erst 1957 auf Sendung (die Dreigroschenoper unter der Regie des Österreichers Michael Kehlmann), was sich zum großen Teil durch die Zurückhaltung erklärt, das Massenmedium einem kommunistischen Autor zur Verfügung zu stellen. Dieses »verfilmte Theater« (nicht aber seine künstlerisch »filmmäßige« Adaption) erhält seine mediale Grenzform in Form einer Aufzeichnung von »Live«Übertragungen von Fernsehaufführungen auf Filmband. In diesem Fall ist der dokumentarische (und archivarische) Charakter der Aufzeichnung der einzige Grund für seine Existenz als »Film« (als Filmband). Im DDR-Fernsehen war dies beispielsweise bei der Aufzeichnung von Mutter Courage und ihre Kinder aus den Brettern des Berliner Ensembles (Oktober 1957) unter der Fernsehregie von Peter Hagen der Fall, die auf der Musterinszenierung von Engel und Brecht aus dem Jahr 1949 (und mit dieser Besetzung)12 basierte. Auch Der kaukasische Kreidekreis wurde durch Brechts Mitarbeiter Lothar Bellag (Februar 1973) mit Ekkehard Schall und der Filmschauspielerin Jutta Wachowiak in den Hauptrollen im Studio inszeniert. In Westdeutschland war vor allem Der kaukasische Kreidekreis in der 9 Alles was Brecht ist … Fakten – Kommentare – Meinungen – Bilder. Herausgegeben von Werner Hecht. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1997, S. 267ff. Nach Gersch handelt es sich um eine »Filmdokumentation von Brechts- Inszenierung« (Gersch, Wolfgang: Film bei Brecht, S. 294), doch es muss überraschen, dass die Verfilmung von Mutter Courage und ihre Kinder von 1961 in diese Gruppe (und nicht in die Gruppe der »Filme nach Theaterstücken«) eingeordnet wurde. 10 Gersch nennt wiederum Käthe Rülicke-Weiler und Jens-Peter Proll als Regisseure der Fernsehinszenierung (vgl. Gersch, Wolfgang: Film bei Brecht, S. 383). 11 Vgl. Lang, Joachim: Episches Theater als Film, S. 236. Es ist daher unverständlich, warum Käthe Rülicke Brechts Inszenierung von Erwin Strittmatters Stück Katzgraben (1957) unter der Regie von Max Jaap und Manfred Wekwerth (Rülicke selbst war die Dramaturgin) als »erste Dokumentationsverfilmung« bezeichnet. Die Autorin analysiert auch das von Brecht selbst inszenierte und von Manfred Wekwerth verfilmte Stück Die Mutter (1958), ohne Monks Die Gewehre der Frau Carrar (1953) auch nur zu erwähnen, obwohl sie es war, die Gersch – neben Jens-Peter Proll – als Co-Regisseurin der Verfilmung vermerkte (vgl. Rülicke, Käthe: Brecht-Inszenierungen als Filmdokumentation. Arbeitsnotizen zu »Die Mutter« und »Katzgraben«. In: »Sinn und Form« Nr. 4, 1958, S. 641). Die Unklarheit dessen, womit wir es zu tun haben, wird durch die Nomenklatur des DDR-Fernsehlexikons vervollständigt, in der die Verfilmung von Strittmatters Stück (wieder) als »Fernsehaufführung« bezeichnet wird, wodurch »Film« auf ein Aufzeichnungsmedium für Archivierungszwecke reduziert wird (Die Mutter von 1958 ist nicht im Lexikon verzeichnet). 12 Online Lexikon der DDR-Fernsehfilm vermerkt nur diese eine Inszenierung von Brechts Stück und bezeichnet sie übrigens als »Fernsehaufführung« – vgl. Online Lexikon der DDR-Fernsehfilm.
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Regie von Franz Peter Wirth und der Fernsehregie von Hans Gottschalk und Wirth (Oktober 1958) bekannt, der den so genannten Stuttgarter Stil der Theateradaption vertrat, welcher die filmähnliche Illusion zugunsten einer Ästhetik der Besonderheit aufgab, die sich durch eine weitgehende Stilisierung und Reduktion der Illusion auszeichnete, ohne jedoch auf filmische Mittel (Kulissen, Schnitt etc.) zu verzichten.13 Wenn im ersten Fall die Aufzeichnung parallel zur Übertragung nicht von der Bühne aus gemacht wurde (darüber gibt es jedenfalls keine Auskunft), dann muss es sich um eine damals übliche Art der Archivierung von Fernsehsendungen im Kinescope-Verfahren gehandelt haben, d. h. um eine Aufzeichnung auf Film direkt vom Bildschirm aus, was natürlich (abgesehen vom Aufzeichnungsmaterial) eine solche Aufzeichnung nicht zu einem Film im Sinne des Genres machte (erst recht nicht im künstlerischen Sinne).14 Bei den anderen Aufführungen war dies sicherlich der Fall (wenn Gersch Bellags Inszenierung als »Film nach Brecht« einstuft15), aber es muss verwundern, dass Joachim Lang, der für alle medialen (intermedialen) Facetten von Brecht-Adaptionen so sensibel ist, in dem umfangreichen Kapitel seiner Monographie, das der Live-Fernsehübertragung von Wirths Adaption gewidmet ist, kein Wort über die Form der Aufzeichnung verliert, von der er schließlich Gebrauch machen musste.16 Für die meisten dieser Adaptionsformen (die durch ein vielfältiges Repertoire an Begriffen definiert werden – von Dokumentarverfilmung über Fernsehbearbeitung, Fernsehinszenierung bis hin zu Fernsehspiel, manchmal sogar Fernsehfilm) gilt nach wie vor die Strategie des mehr oder weniger getreuen »Kopierens« der Quelle (Drama) mit dem Ziel ihrer Bewahrung (Dokumentation) in einem anderen Medium, gemäß dem Grundsatz, dass »die Kontinuität der verbalen 13 Siehe zu diesem Thema Hickethier, Knut: Stuttgarter Stil – das Fernsehspiel des Süddeutschen Rundfunks. In: Fünfgeld, Hermann (Hg.): Von außen besehen. Markenzeichen des Süddeutschen Rundfunks. Stuttgart: Süddeutscher Rundfunk 1998, S. 381–401. 14 Erinnert sei an die filmische Dokumentation von Brecht-Inszenierungen durch Hans Jürgen Syberberg, der 1952 auf der Bühne des Berliner Ensembles den Urfaust in der Regie von Egon Monk auf 8-mm-Band aufnahm (er begnügte sich mit der Bühnenbeleuchtung und zeichnete die Aufführung ohne Ton auf) und auch andere Inszenierungen dokumentierte (u. a. die zweite Berliner Inszenierung von Herr Puntila und sein Knecht Matti unter der Regie des Autors in diesem Jahr); auf 35-mm-Band kopiert, schnitt der Regisseur sie später zu dem Film Nach meinem letzten Umzug… (BRD 1971). Brechts Mitarbeiterin Ruth Berlau hingegen nahm 1947 im Coronet Theatre in Beverly Hills 35 Minuten einer Aufführung von Galileo auf Stummfilm (16-mm-Band) unter der Regie von Joseph Losey und in Zusammenarbeit mit Brecht und dem Hauptdarsteller Charles Laughton auf (vgl. Lang, Joachim: Episches Theater als Film, S. 273). Losey ist auch der Autor von Galileo, einer Verfilmung des Dramas mit Musik von Hanns Eisler und mit Topol in der Titelrolle (Großbritannien–Kanada 1975), die sich kreativ des Arsenals des epischen Theaters bedient. Schon vor dem Krieg wurde Eislers Musik von Joris Ivens in dem Dokumentarfilm Die 400 Millionen (The 400 Million, USA 1939) verwendet, in dem Losey spielte. 15 Vgl. Gersch, Wolfgang: Film bei Brecht, S. 382–386. 16 Vgl. Lang, Joachim: Episches Theater als Film, S. 178–224.
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Ebene den Gesamtcharakter des filmischen Ausdrucks gewährleistet.«17 Eine solche Nomenklatur ist in der Regel technisch, nicht genologisch, und die Grenzen zwischen den Begriffen bleiben konventionell, fließend und kognitiv steril, so dass sie auf eine funktionierende und vernünftige Weise behandelt werden müssen. Allerdings haben die Fernsehfilmproduktionen in beiden deutschen Staaten nie ein intellektuelles Ferment ausgelöst, wie etwa in der polnischen Debatte zu diesem Thema18, die den Fernsehfilm in den Rang einer Waffe der generischen Besonderheit des künstlerischen Fernsehens erhob. Diese als »Filmdokumentationen«, »Fernsehinszenierungen« (oder manchmal, im Allgemeinen fälschlicherweise und übertrieben, als »Fernsehfilme«) bezeichneten Übertragungen bleiben paradigmatisch für alle Dokumentationen von Theateraufführungen, die mit einer Filmkamera auf Zelluloid aufgezeichnet wurden und die keine Filme im Sinne einer ästhetischen Autonomie sind, sondern nur Hybride, die sich aus den materiellen Merkmalen von Theater, Fernsehen und Film zusammensetzen (dieser Unterschied wird im Allgemeinen durch das Fehlen dieser »Filme« in Filmdatenbanken bestätigt). Und obwohl einige der Fernsehadaptionen von Brechts Dramen stärker als andere Spuren von Filmästhetik aufweisen (von den älteren z. B. Die Gesichte der Simone Machard von Manfred Karge und Matthias Langhoff, Deutscher Fernsehfunk 196819), handelt es sich in jedem dieser Fälle nicht um Film als Medium des Kinos, unabhängig davon, ob man das Werk einen »Fernsehfilm«, eine »Fernsehinszenierung« oder eine »Filminszenierung« nennt. Es handelt sich um eine mediale Hybride von Film als Aufnahmemittel (Filmband) einer Theaterinszenierung, die für die Ausstrahlung im Fernsehen oder für irgendeine Form der Archivierung angepasst wird. Diese Absicht wird von Käthe Rülicke deutlich angeprangert, die 1958 unmissverständlich erklärte: Festhalten sind Gruppierungen, Gänge, Gesten, hin und wieder charakteristische Details, kurz, alles, was die Fabel bedient. Als Grundeinstellung ergibt sich logisch die Bühnentotale. Nochmals: zu zeigen ist Theater, und wir verlangen von der spezifischen Kunstform des Films Wirkungen, die dem Theater eigentümlich sind. Zu finden sind also Mittel, die trotz der Zwischenschaltung der Kamera und trotz deren optischen 17 Alicja Helman bringt diese Art der Adaption mit dem ersten Jahrzehnt der Entwicklung des Tonfilms (d. h. den 1930er Jahren) in Verbindung. Vgl. Helman, Alicja: Twórcza zdrada. Filmowe adaptacje literatury. Poznan´: Ars Nova 2014, S. 21 (neue, veränderte und vervollständigte Ausgabe). 18 Vgl. z. B.: Film telewizyjny. Znaki zapytania i propozycje. In: »Miesie˛cznik Literacki« Nr. 4, 1966, S. 78–85; Film i telewizja i film w telewizji. Bearbeitet von L. Bajer. In: »Kino« Nr. 4, 1976, S. 25–31. 19 Die erste »Fernsehinszenierung« (nach der Nomenklatur des Lexikons) dieses Stücks, in der Regie von Lothar Bellag und der Bildregie von Ingeborg Janiczek, erschien bereits im März 1960 auf den Fernsehschirmen (von Gersch nicht vermerkt). Vgl. Online Lexikon der DDRFernsehfilme.
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Gesetzten die Theaterwirkung erhalten. Weder herkömmliche Filmrezepte noch herkömmliche Theaterrezepte können uns helfen.20
Das Fernsehen als Medium wird in Rülickes Argumentation überhaupt nicht erwähnt. Das Hauptproblem der Forschung in Bezug auf die »Filme«, denen der Status von »Brechtschen« Filmen zugeschrieben werden kann, liegt also in ihrer medialen Komplexität, in der Tatsache, dass sie an der Schnittstelle von Genremerkmalen des Kinos, des Fernsehens, der Theaterbühne, der Filmdokumentation und schließlich der Fernsehinszenierung angesiedelt sind und, wie wir gesehen haben, Medienhybride (selten Intermedien) mit einem in vielen Fällen nicht offensichtlichen, manchmal sogar mehrdeutigen Status schaffen.
II In diesem Beitrag werde ich mich auf die visuelle Kultur der beiden deutschen Staaten konzentrieren, d. h. auf den Zeitraum von vierzig Jahren zwischen 1949 und 1989, in dem Brechts Adaptionen trotz der universellen Botschaft und der schwer auszulöschenden nationalen Erfahrungsgemeinschaft zu Texten zweier antagonistischer Kulturen innerhalb desselben Sprachraums wurden (darunter natürlich auch zweier visueller Kulturen). Ein unwiderlegbarer Beweis für diese »Spaltung« Brechts in zwei deutsche Republiken (und Kulturen) sowie für die Richtigkeit der oben genannten Position bleibt die Monographie von Wolfgang Gersch mit ihren sachlich nicht nachvollziehbaren Auslassungen, Verdrehungen und Falschdarstellungen, diktiert von politischen, zensorischen oder selbstzensorischen Erwägungen. Mich interessiert jedoch nicht in erster Linie die ideologisch gefärbte Motivation dieser Brechtschen Mutationen in den beiden deutschen Republiken, da ich mich auf Fragen der Übertragung im Zusammenhang mit den Brechtschen Verfilmungen konzentrieren werde, d. h. auf die Materialität der Medien, die die Sehkulturen der Zeit prägten. Es geht mir also nicht in erster Linie um die (immanenten) Schwierigkeiten, die sich aus der Verfilmung eines Autors ergeben, dessen Theorie und Praxis der (theatralen) Sichtbarkeit die Adaptionsprobleme vervielfachen, die aus dem Gegensatz zwischen dem »konstruierten« (künstlichen) Theater und der Ideologie der Sichtbarkeit des Mainstream-Kinos21 resultieren, sondern um technokulturelle Stra-
20 Rülicke, Käthe: Brecht-Inszenierungen, S. 641. 21 Vgl. Lang, Joachim: Episches Theater als Film, S. 349. Gleichzeitig weist Lang aber (vor allem am Beispiel des Fernsehfilms Leben des Galilei Monks und der Verfilmung von Mutter Courage und ihre Kinder durch Palitzsch und Wekwerth) darauf hin, dass weder Fernsehen
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tegien, die mit dem Einsatz bestimmter technischer Apparate in den Prozessen der Übertragung von Werken und Medien verbunden sind. An erster Stelle steht also die zahlreiche Gruppe der »Filmdokumentationen von Brecht-Inszenierungen«22 des Berliner Ensembles (wobei das Ensemble erhielt erst 1954 einen eigenen Sitz im Theater am Schiffbauerdamm). »Film« – bedeutet in diesem Fall (wie angedeutet): die Aufzeichnung auf Filmband (weil es außer der fotografischen Dokumentation keine andere Möglichkeit gab23) von Theaterinszenierungen Brechts selbst (meist nach seinem Tod 1956) oder seiner Schüler (Egon Monk), die in Zusammenarbeit mit dem DDR-Fernsehen (bis 1972 Deutscher Fernsehfunk, dann, bis zur Wiedervereinigung, Fernsehen der DDR), meist von seinen Mitarbeitern (Käthe Rülicke-Weiler, Manfred Wekwerth, Peter Palitzsch), verwirklicht wurden. Die Tatsache, dass die Aufführungen in ein Fernsehstudio (oder sogar in die Defa-Ateliers) übertragen wurden, änderte daran nicht viel, denn sie behielten den Status einer Dokumentation der Aufführung. Andererseits gibt es Fälle von Original-Fernsehverfilmungen, die auf Filmband realisiert wurden und keine Dokumentation einer Theatervorstellung darstellen.24 Dies war der Fall bei Monks Leben des Galilei aus dem Jahr 1962 mit Ernst Schröder in der Titelrolle, einer Adaption, die aufgrund ihres medialen Charakters in den Bereich dessen fällt, was wir als Fernsehfilm zu bezeichnen gewohnt sind, also einen Film, der vom Fernsehen für ein Fernsehpublikum gemacht wurde, ohne die Vermittlung einer Bühnenaufführung, mit den Mitteln des Films (damals natürlich auf Filmband), von denen einige auch das Fernsehen einschließen: die Vielheit der Filmeinstellungen und Kamerabewegungen, die kurzen Einstellungen und dynamischen Schnitte, die bildinterne Montage, Bewegungen innerhalb des Bildkaders, die Parallelmontage, das (zumindest teilweise) Beibehalten des illusionistischen Charakters der Szenografie, das aus dem Kino stammende Repertoire an mimisch-gestischen Codes der Schauspieler, usw. Charakteristisch für Monks Strategie erweist sich (wie Lang zu Recht betont) das Spiel mit dem Schein des Naturalismus, um ihn im nächsten Moment als Spielkonstrukt zu denunzieren (was dem Film seine epische Qualität verleiht und den Zuschauer zu einer kritischen Betrachtung zwingt) und sich sogar der für noch Kino in dieser Hinsicht wehrlos sind, da sie dem Verlust einer Szene mit eigenen, antiillusorischen Mitteln entgegenwirken können. Vgl. ebd., S. 352. 22 Gersch, Wolfgang: Film bei Brecht, S. 294. 23 Dem Medium der Fotografie ist es zu verdanken, dass die Erinnerung an die historische Inszenierung von Mutter Courage auf der Bühne des Deutschen Theaters im Jahr 1949 erhalten geblieben ist. 24 Die erste deutsche Fernsehinszenierung, die vollständig auf Filmband realisiert wurde, war die Adaption von Friedrich Dürrenmatts Roman Der Richter und sein Henker unter der Regie von Franz Peter Wirth, die 1957 im westdeutschen Fernsehen ausgestrahlt wurde (seit 2012 auf DVD zugängig).
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Hollywood-Filme charakteristischen Techniken des Spannungsaufbaus zu bedienen.25 Diese und ähnliche Strategien führen dazu, dass Monks Leben des Galilei die Botschaft des italienischen Genies an seinen Schüler Andrea in der ersten Szene des Dramas ganz bewusst umsetzt: »Du siehst! Was siehst du? Du siehst gar nichts. Du glotzt nur. Glotzen ist nicht sehen«26, ärgert sich Galilei. Und als solche ist es eine Schule des Sehens, das die Wahrnehmung aus der Routine des Schauens herausführt, hin zum kritischen Sehen – zum Verstehen. Bezeichnend dafür erscheint die Szene, in der der Protagonist die Falschheit des ptolemäischen Verständnisses des Universums beweist, was den Zuschauer dazu zwingt, sich mit dem irritierenden Dialog zwischen Galilei und seinem Freund Sagredo vertraut zu machen, der visuell unangenehmen Achsensprüngen ausgesetzt ist. Auf diese Weise wird aus »einem konsumierenden Glotzen in herkömmlichen Formen«, schreibt Lang, »ein neues, entdeckungs- und experimentierfreudiges Sehen«27 und der ganze Film erhält (nicht zuletzt durch diese Mittel) den Status eines Diskurses über das Sehen (natürlich auch über das medial vermittelte Sehen). All dies soll nach den Intentionen der Filmemacher dazu beitragen, das Massenmedium Fernsehen auch zu einem Medium des kritischen Sehens zu machen. Eine ästhetisch aktive Schnittstelle zwischen Bühnendrama und Film ist mit voller Wucht in der westdeutschen Verfilmung von Die Gewehre der Frau Carrar aus dem Jahr 1975 mit der Kameraarbeit von Kurt Weber zu erkennen, die dem Werk die Aura eines Films verleiht (die Vorführungsdauer beträgt anderthalb Stunden, was der traditionellen Länge eines Spielfilms entspricht) und als solcher wird die Adaption auch in Filmdatenbanken aufgenommen. Dies wird besonders deutlich, wenn man die Fernsehinszenierung von Monk aus dem Jahr 1953 betrachtet (besetzt mit einer Vielzahl von Brecht-Schauspielern – Helene Weigel, Ekkehard Schall, Erwin Geschonneck, Angelika Hurwicz, die direkt vom Theater übernommen wurden, fast halb so lang wie Monks-Webers Film und ohne Musik). Im letzten Fall beobachtet der Zuschauer das Geschehen aus der Position eines Zuschauers im Theaterpublikum (es dominiert die Totale, mit einer geringen Anzahl von Halbtotalen und Nahaufnahmen), einer Position, die nur geringfügig durch Änderungen des Kamerastandpunkts und nur technisch begründete Schnitte modifiziert wird (deren Autor im Abspann nicht erwähnt wird, was auf eine mittelmäßige oder zumindest noch nicht geklärte Stellung dieses Berufs in der damaligen Fernsehpraxis hinweisen könnte oder auf die Kombination dieser Funktion mit der eines Fernsehregisseurs in einer Funktion 25 Vgl. Lang, Joachim: Episches Theater als Film, S. 290–293. Für Lang ist Monks Strategie ein Musterbeispiel dafür, wie ein audiovisueller Medienmacher mit der Herausforderung von Brechts kritischem Sehen umgeht (vgl. ebd., S. 351). 26 Siehe Brecht, Bertolt: Leben des Galilei. Leipzig: Reclam 1989, S. 8. 27 Lang, Joachim: Episches Theater als Film, S. 294.
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des Autors der Bildregie), und die spärlichen Kamerabewegungen beschränken sich darauf, die Bewegung der Figuren im Raum zu verfolgen und den Blick des Zuschauers auf ihre Bewegungsbahn zu lenken. Die Verfilmung von 1975 (im Vorspann wird Monks Rolle als Drehbuchautor und Regisseur in einer Person genannt sowie die Cutterin, der Musikautor und weiteres für den Film typisches Personal) mit Hanne Hiob (Brechts Tochter aus seiner Ehe mit Marianne Zoff) in der Titelrolle bewegt sich in einem typischen filmischen Rahmen: Eine mehrminütige fotografische Einführung, die die Ereignisse in Spanien vom Sturz der Monarchie und der Gründung der Republik im Jahr 1931 bis zum Putsch von General Franco im Jahr 1936 und dessen Folgen zeigt, und ein Epilog, der den Ereignissen nach dem Zweiten Weltkrieg gewidmet ist (der Film endet mit dem Foto eines Schuhputzers auf der Straße), begleitet von einem veristischen Kommentar aus dem Off. Dieser Schwarz-Weiß-Rahmen stellt im Verhältnis zur farbigen Handlung einen typisch filmischen Trick dar: Indem er die Erzählung in einen quasi-dokumentarischen Diskurs einführt (was wohl im Sinne des Verfremdungseffekts des Autors ist), macht er Brechts Stück von 1937 auf seine Weise aktuell oder zumindest zeitgemäß. Schließlich weiß der Erzähler des Films mehr als die Figuren des Dramas, denn aus der Perspektive des Rahmenprogramms erhält die Handlung selbst das Attribut der Retrospektion – der Vergangenheitsform, was für den Film charakteristisch sein kann, nicht aber für ein Theaterstück, das immer in der Gegenwart spielt. Es gibt viele Kompositionen des Typs Schuss-Gegenschuss, die Kamera verlässt mehrmals das Zimmer, und sogar das Fischerhaus selbst als Hauptort der Handlung. Auch das Fenster, das für die Dramaturgie der Aufführung entscheidend ist, befindet sich nicht in dem Zimmer, dem Hauptort der Handlung, sondern im benachbarten Schlafzimmer (in der Aufführung von 1953 bleibt es zusammen mit der Totale für den größten Teil der Aufführung im Blickfeld des Zuschauers). Die Szene, in der Frau Carrar die von ihr versteckten Gewehre hervorholt, ist auch für den Filmcharakter der Adaption von Bedeutung: In der Inszenierung von 1963 handelt es sich um eine beinahe symbolische Geste, die sich darauf beschränkt, die hinter einer Truhe im Zimmer versteckten Waffen hervorzuholen; in Monks-Webers Inszenierung dauert das Ausgraben der unter den Dielen im Vorzimmer eingemauerten Gewehre lange, fast in Echtzeit, und unterstreicht so die Bedeutung des Titels. In diesem Sinne verrät die Strategie der Autoren deutliche Anzeichen für eine Lesart von Brechts Drama in einer Perspektive, die durch die Schnittstelle von Drama und Kino definiert ist und die das Nachwissen des Filmerzählers berücksichtigt. Dies steht in klarem Gegensatz zu Monks Fernsehadaption von 1953, die das Zeugnis einer schlichten intersemiotischen Übertragung bleibt, die Bedeutungen von einem Medium (Theater) auf ein anderes (Fernsehen) überträgt, mit nur minimalem, technisch bedingtem »Input« der neuen Substanz, die in ihrer äs-
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thetischen Spezifität die gerade neu zu entdeckende Audiovisualität des Fernsehens darstellt.28
III Die Dynamik von Brechts filmischem Erbe war nie beeindruckend; im Gegenteil, die Zahl der Filme »von Brecht« oder »nach Brecht« bleibt in beiden deutschen Staaten (und auch außerhalb) relativ bescheiden, und künstlerisch gesehen handelt es sich in der Regel um mittelmäßige Werke (was weitgehend auf die »Schwierigkeiten, Brecht zu verfilmen«29, zurückzuführen ist). Nun, auf der einen Seite Defas Mutter Courage und ihre Kinder (1961) von Palitzsch und Wekwerth, Helmut Nitzschkes Episode Zwei Söhne aus Defas Episoden-Film Aus unserer Zeit (DDR 1970), zwei DDR-Fernsehfilme nach zwei Kalendergeschichten von Brecht (Die unwürdige Greisin von Karin Hercher, 1984, und Der Mantel des Ketzers von Peter Vogel, 1989)30 sowie der von der Defa produzierte Trickfilm Der Schneider von Ulm (1979) von Lutz Dammbeck nach dem gleichnamigen Gedicht aus demselben Band. Auf der anderen Seite des »Eisernen Vorhangs« wiederum Die Dreigroschenoper von Wolfgang Staudte aus dem Jahr 1963 (westdeutsch-französische Koproduktion), Volker Schlöndorffs Verfilmung von Baal (BRD 1970) und die westdeutsch-italienische Koproduktion Geschichtsunterricht (1972) von Jean-Marie Straub und Danièle Huillet, basierend auf dem Roman Die Geschäfte des Herrn Julius Caesar. Daran hat auch die deutsche Wiedervereinigung wenig geändert: 2004 gab es die nach Schlöndorff zweite Baal-Adaption von Uwe Janson (BRD 2004), 2018 den faszinierenden Mackie Messer. Brechts 3Groschenfilm von Joachim A. Lang, ein Beweis dafür, wie attraktiv und kreativ zugleich die künstlerische Geste des »schöpferischen Verrats«31 (oder besser: schöpferischen Muts) gegenüber Brecht sein kann, der das Werk selbst mit den Umständen seiner Entstehung verknüpft (in diesem Fall bestimmt durch Brechts Rechtsstreit mit der Produktionsfirma Nero-Film).
28 Vgl. Hopfinger, Maryla: Kultura współczesna – audiowizualnos´c´. Warszawa: Pan´stwowy Instytut Wydawniczy 1985. 29 Gersch, Wolfgang: Film bei Brecht, S. 255ff. 30 Erwähnenswert ist auch René Allios Filmadaption von Die unwürdige Greisin (La Vieille dame indigne, Frankreich 1965), deren Handlung im zeitgenössischen Umfeld italienischer Emigranten in Frankreich angesiedelt ist – wahrscheinlich der am häufigsten ausgezeichnete Brecht-Film (u. a. mit dem Grand Prix der französischen Filmakademie). 31 Vgl. Escarpit, Robert: Kreativer Verrat – ein Schlüssel zur Literatur. In: Fügen, Hans Norbert: Vergleichende Literaturwissenschaft. Düsseldorf und Wien: Econ 1973, S. 84–91.
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So oder so fällt die Bilanz überraschend bescheiden aus und beweist die Triftigkeit von Gerschs Diagnose von Mitte der 1970er Jahre, dass der Grund für die »Schwierigkeiten, Brecht zu verfilmen« sei die endliche und breite Erkenntnis von der theatralischen Spezifik des Brecht-Theaters. Der Weltruhm wurde zur Barriere, Brecht setzte sich mit seiner neuen Dramaturgie durch, bei Künstlern und Zuschauern, im internationalen Maßstab. Und kein Regisseur von Rang kann es sich mehr leisten, Brecht dem Film zu unterwerfen, wie es zuvor geschah.32
Das Lied der Ströme (1954) von Joris Ivens (der Film wurde zwischen 1951 und 1957 gedreht, als der Regisseur bei der Defa arbeitete) könnte in der Tat verschwiegen werden, denn Brechts Beitrag als Lieferant des Textes von Das Lied der Ströme ist unbedeutend, aber der Film selbst trägt eine deutliche Brechtsche Prägung. So sehr sogar, dass es in gewisser Weise die Antwort auf die Frage nach dem menschlichen Glück darstellt, die durch den Streit in der U-Bahn im Film Kuhle Wampe provoziert wurde. »Das Schicksal hat einen Namen, die Armut hat ein Gesicht«, hören wir die Stimme des Kommentators aus dem Off und gleich darauf erfahren wir, dass Truste, Kartelle und Monopole für das Elend der Arbeiter verantwortlich sind. Die Antwort auf die Frage, wie man diese Misere beheben kann, ist einfach: »Wenn es nach uns ginge, wären die Menschen glücklich. Alle!« Begleitet wird diese kommunistische Utopie in ihrer Reinform vom leitmotivischen Lied der Ströme, vorgetragen vom Brecht-Schauspieler Ernst Busch (dem denkwürdigen Straßensänger aus Pabsts Dreigroschenoper, dem Interpreten des Liedes der Solidarität aus Kuhle Wampe und dem Koch aus Palitzschs und Wekwerths Mutter Courage) zur Musik von Dmitri Schostakowitsch, dem das Lied der Werktätigen – wie wir im Vorspann erfahren – vom »größten Sänger der amerikanischen Arbeiter« (aber auch Schauspieler, Sportler und kommunistischen Aktivisten) Paul Robeson vorausgeht, der »in seiner Sprache« singt, zeigt das Elend des Lebens der Arbeiter und Bauern »am Amazonas, am Mississippi, am Nil, am Ganges, am Jangtse, an der Wolga und in vielen Ländern der Welt« (wie der Vorspann verrät) – insgesamt wurde der Film in 32 Ländern gedreht. Das ist jedoch kaum verwunderlich, denn der Film von Ivens ist ein Produkt bewusster Propaganda, ja sogar Agitation, eine Art Nachschrift zum III. Weltgewerkschaftskongress, der im Oktober 1953 in Wien stattfand (der Film feierte im September des folgenden Jahres Premiere). Gleichzeitig war er eine Waffe des Weltgewerkschaftsbundes im Kampf gegen die nicht-kommunistische Gewerkschaftskonkurrenz für die »Aktionseinheit«, was natürlich »internationale Solidarität« im Kampf gegen den Imperialismus bedeuten sollte. Es ist aber vor allem 32 Gersch, Wolfgang: Film bei Brecht, S. 294–295; auch Lang, Joachim: Episches Theater als Film, S. 349–357.
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ein Forum für die Auseinandersetzung zweier antagonistischer politischer Blöcke, darunter die beiden 1949 gegründeten deutschen Republiken, von denen es in der Bundesrepublik eine Million zweihunderttausend Arbeitslose gibt und obwohl es genug da ist »der Mensch muss kämpfen um zu leben« – auch um den Frieden, denn »hier ist der Frieden Hochverrat«. Es ist bemerkenswert, dass in Ivens’ Film der dem theatralischen Verfremdungseffekt nahe Kunstgriff des Films im Film demonstriert wird – es handelt es sich um einen Dokumentarfilm vom Wiener Arbeiterkongress (Erich Nitzschmann als Kameramann), der in einem »schwimmenden Kino« auf dem Kaspischen Meer von den Fischern gesehen in Bezug auf Lied der Ströme eine Art Verfremdung erfährt. Joris Ivens’ Lied der Ströme ist der erste Film mit Brecht im Vorspann, der nach dem Krieg überhaupt gedreht wurde – ein Film im Sinne eines autonomen künstlerischen Textes, der auf Filmband gedreht wurde und für die Aufführung in Kinos bestimmt war. Nach Wolfgang Staudtes gescheitertem Versuch einer Verfilmung von Mutter Courage und ihre Kinder im Jahr 1955 sollte es sechs Jahre dauern, bis wieder ein deutscher Film mit Brecht als Autor entstand. Im selben Jahr, in dem die Produktion von Mutter Courage aufgegeben wurde (1955), brachte die Wiener Produktionsfirma Wien Film Herr Puntila und sein Knecht Matti heraus, nach dem Drehbuch und unter der Regie von Alberto Cavalcanti, mit der Musik von Hanns Eisler (Brechts Stück wurde von Vladimir Pozner, dem Co-Drehbuchautor von Das Lied der Ströme, gemeinsam mit Ruth Wieden, eigentlich Ruth Fischer, die die Dramaturgieabteilung der Wiener Produktionsfirma leitete, für den Film adaptiert). Obwohl Cavalcanti Brechts Volksstück von einer epischen Satire zu einem Wiener Singspiel (einschließlich einer Parodie des Heimatfilms) umgestaltet hat, sind Spuren von Brecht, die während der Arbeit am Drehbuch mit den Filmemachern ausgehandelt wurden, im Film sichtbar, sei es in der Form der Rahmenkomposition des Films, in der es darum geht, die Handlung »von unten« zu kommentieren (was ja keinen Bruch in der Kontinuität der Erzählung darstellt), durch Frauen, die bei der Küchenarbeit singen, was in Sepia-Farben gehalten wird (worauf Brecht bei der Adaption von Mutter Courage und ihre Kinder so großen Wert gelegt hat). Dies konnte den Autor jedoch nicht vollends überzeugen, der in dem Film ein Übermaß an naturalistischer Illusion anstelle von Verfremdung aus dem epischen Theater wahrnahm. Im Übrigen kann man bei Cavalcantis Verfilmung schwerlich von einem intermedialen Gebilde sprechen (und wahrscheinlich könnte nur ein solches den Erwartungen Brechts entsprechen) – es handelt sich vielmehr um eine Travestie von Brechts Drama im Sinne einer freien, aus dem Geist der Parodie und des Pastiches schöpfenden Verfilmung.33 33 Siehe zu diesem Thema Lang, Joachim: Episches Theater als Film, S. 137–177.
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Einen besonderen und immer noch einzigartigen Platz nimmt in diesem Zusammenhang die Filmversion von Mutter Courage und ihre Kinder von Peter Palitzsch und Manfred Wekwerth ein – der treuen Jünger und Erben des Brechtschen Theatergedankens – die 1960 von der Defa produziert wurde (Premiere 1961). Denn zum einen dokumentiert der Film Brechts und Erich Engels berühmte Inszenierung noch auf der Bühne des Deutschen Theaters (Premiere im Januar 1949), zum anderen ist es die einzige konsequente Verfilmung von Brechts Dramaturgie überhaupt. Diese filmische Manifestation der Dramaturgie des Berliner Ensembles ist zweifellos am meisten im Brechtschen Geiste, was leicht zu erkennen ist, wenn man Palitzschs und Wekwerths Film mit der zeitlich nahen Dreigroschenoper des Koryphäen des deutschen Nachkriegskinos aller Zonen, Wolfgang Staudte (BRD 1963), vergleicht. Obwohl die Filmemacher – vielleicht überraschend – selbst betonen, dass es sich um eine »Dokumentarverfilmung nach der Aufführung des Berliner Ensembles«34 handelt, könnte man doch erwarten, dass gerade sie die unterwürfige Dokumentierung der Theateraufführung aufgeben würden. Wahrscheinlich ging es ihnen nicht so sehr darum, sich von der Bühnentradition abzuschneiden, was im Falle der Brecht-Schüler durchaus verständlich ist. Bezeichnenderweise hat sich nach dem gescheiterten Versuch der Defa am Anfang der 1960er Jahre nie wieder ein Filmemacher dem Drama Mutter Courage zugewandt, obwohl seither mehr als 60 Jahre vergangen sind; die Dreigroschenoper wartete sogar mehr als ein halbes Jahrhundert auf ihren nächsten Leinwandauftritt, und als Fernsehaufführung kam sie nie ins DDR-Fernsehen. Sicher ist jedoch, dass Palitzschs und Wekwerths Mutter Courage und ihre Kinder (Premiere im Februar 1961) den Status eines intermedialen Werks hat, in dem die Schnittstelle zwischen den beiden Medien als Ursprung der Gattungsspezifik sichtbar gemacht wurde. Schließlich haben wir es mit einem Film zu tun, dessen deutlichste Zeichen innerhalb der Materialität des Mediums angelegt sind. Beispielsweise sind es: das Breitwandformat (das den Betrachter zwingt, im Mosaik des Bildschirms nach Bedeutungen zu suchen), die Kaschierung (die die Konventionalität des Zeigens demaskiert, indem sie einen Teil des Bildes auswählt und den verbleibenden Teil schwärzt, wodurch die Aufmerksamkeit des 34 Wekwerth, Manfred / Palitzsch, Peter: Über die Verfilmung von »Mutter Courage und ihre Kinder«. In: Müller, Klaus-Detlef (Hg.): Brechts »Mutter Courage und ihre Kinder«. Frankfurt/Main: Suhrkamp Taschenbuch 1982, S. 257–258, hier S. 257. In einer ähnlichen Situation fällt es leichter, die fragwürdige Gleichsetzung von Wekwerths und Palitzschs Arbeit in einer einzigen Kategorie der »Filmdokumentationen von Brecht-Inszenierungen« mit z. B. Monks 1953 entstandener Adaption von Die Gewehre der Frau Carrar zu akzeptieren (vgl. Gersch, Wolfgang: Film bei Brecht, S. 294), zumal ein ähnliches Vokabular auch von Joachim Lang verwendet wird (was ein wenig überraschen muss).Vgl. Lang, Joachim: Episches Theater als Film, S. 267, 350 u. a.).
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Betrachters gesteuert werden kann, ohne den Blickwinkel der Kamera ändern zu müssen)35 und das Simultanbild (das auf ein konstruktives Verfahren hinweist, im Gegensatz zur Parallelmontage, die die Bilder auf sanfte, »immersive« Weise zusammenfügt). Die im Abspann sichtbare Nomenklatur der Filmproduktion (Defa-Filmproduktion, Drehbuch, Dramaturgie, Kamera, Ton, Schnitt36) ist ebenfalls nicht unbedeutend, da der Vorspann einem effektiven Verfremdungsverfahren unterzogen wird: Er wird mündlich von dem Chronisten (Hilmar Thate) aus dem Off vorgetragen. Obwohl, wie bereits erwähnt, einige der Fernsehadaptionen von Brechts Dramen auch Merkmale des Films (genauer: des Fernsehfilms) aufweisen, insbesondere, wie gemerkt, Monks Leben des Galilei von 1962 und Die Gewehre der Frau Carrar desselben Autors von 1975, geht es in all diesen Fällen doch nicht um das Kino als Verbreitungsmedium. Die aktive »Zwischen«-Schnittstelle betrifft in beiden Fällen immerhin das Bühnendrama und das »filmisierte« (für den Film adaptierte) Fernsehen, während Mutter Courage und ihre Kinder ein für das Kino bestimmtes Produkt ist – es wurde mit einem ganzen Arsenal filmischer Mittel produziert, wobei die Raffinesse der Brechtschen Ästhetik (die die Reduktion auf das Wesentliche bevorzugt) bewahrt wurde, und das mediale Berührungsfeld wird durch Spannungen zwischen Bühne und Kino definiert. Die Autoren der Verfilmung verzichteten beispielsweise auf ein typisch filmisches, naturalistisches Bühnenbild, behielten aber die Technik der Drehbühne bei, wobei sie deren Anteil an der Dramaturgie des Films leicht veränderten. Auch der Ton wurde aus der imitatorischen, den auratischen Charakter der dargestellten Welt stützenden Ordnung ausgeschlossen und auf seine semantische Funktion reduziert, so dass die Brecht-Dessau-Lieder jedes Mal durch eine Ansage aus dem Off eingeleitet und durch Kaschieren suggeriert werden. Es sollte jedoch von Anfang an kein spektakulärer Geschichtsfilm werden, was Wolfgang Staudte mit seiner gescheiterten Verfilmung anzustreben schien, sondern eine von der Atmosphäre der damaligen Zeit beeinflusste, getreue Rekonstruktion.37 Brecht lag vor allem daran, dass der Film seine filmische 35 »Je größer der Bruch zwischen beiden benützten Formaten (Cinemascope und Kasch), desto größer die Chancen, daß der Zuschauer bewußt bleibt« – schreiben die Filmemacher, getreu der Botschaft Brechts (Cinemascope, in: Materialien zur »Mutter Courage«-Verfilmung, Wekwerth-Archiv; zit. nach: Lang, Joachim: Episches Theater als Film, S. 243). 36 Dramaturg des Films (eine für das Defa-Kino äußerst wichtige Funktion) war Egon Günther, einer der bedeutendsten und nonkonformistischen Defa-Regisseure, dessen 1965 produzierter Film Wenn du groß bist, lieber Adam zu den sog. Kaninchenfilmen gehörte, d. h. zu den Filmen, die auf Beschluss des SED-Plenums von 1965 nicht auf die Leinwand kommen durften (der Film wurde erst nach der Wende 1990 freigegeben). Im Zusammenhang mit Günthers Beteiligung an der Arbeit an Brechts Verfilmung sind seine hervorragenden Bearbeitungen von Thomas Manns Roman Lotte in Weimar (DDR 1975) und Goethes Die Leiden des jungen Werther (DDR 1976) zu erwähnen. 37 Siehe die von Lang erwähnten Defa-Dokumente im Kontext des aufgegebenen Projekts von Wolfgang Staudte. Lang, Joachim: Episches Theater als Film, S. 229ff.
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Materialität nicht verbirgt, und so bemühte er sich, ihm den Stil der Daguerreotypien des 19. Jahrhunderts zu geben, was wiederum bedeutete, ihn in Sepia und in der Konvention der Erkennbarkeit des Spiels als Spiel zu halten, was auch durch den Schnitt, der als Mittel zur Störung der dramaturgischen Kontinuität eingesetzt wird, erreicht wird.38 Staudte strebte einen mit Stars besetzten Farbfilm im Cinemascope-Format an, mit Simone Signoret und Bernard Blier, obwohl die Titelrolle Helene Weigel von Anfang an zugesichert wurde. Diese Stilistik wird durch die Verwendung von Kupferstichen von Jacques Callot aus dem 17. Jahrhundert als Verbindungsstücke zwischen den Szenen unterstützt. Sie betonen den im Untertitel des Stücks und des Films angekündigten »Chronik«Charakter des Dramas, jeweils verstärkt durch den historischen Kommentar des Chronisten aus dem Off. Aber sie haben noch eine weitere Funktion in der Dramaturgie des Films – sie sind abwechselnd mit den Rädern des Wagens von Mutter Courage geschnitten und bilden ein bezeichnendes Leitmotiv des Films. Kennzeichnend ist auch, dass mit Harry Bremer ein bekannter Dokumentarfilmer (in den 1940er Jahren arbeitete er für die DDR-Wochenschau Der Augenzeuge) als Kameramann engagiert wurde, der eine starke, gleichmäßig verteilte, kontrastmindernde und stimmungsdämpfende Beleuchtung einsetzte. Die reduzierten Nahaufnahmen, vor allem von Mutter Courage, die seltenen Kamerabewegungen und -schwenks verhindern die Versuchung der Identifikation. All diese Mittel haben zur Folge, dass der Zuschauer gemäß Brechts Theorie mehr in Beziehung zur Geschichte als in die Geschichte selbst gesetzt wird. Wie Lang schreibt, zeigt die »Kamera die Vorgänge nicht aus der Sicht einzelner Personen, sondern lenkt die Aufmerksamkeit des Zuschauers auf die Zusammenhänge. Sie liefert eine Außensicht.«39 Obwohl Palitzsch und Wekwerth die Aufführung des Berliner Ensembles nicht nur dokumentieren, sondern für den Film adaptieren und sogar durch den Einsatz von »Kamera, Schnitt, Dekoration und Format«40 die Wirkung der Bühne vervielfachen wollten, bleibt ihre Leinwandadaption aus Sicht des »Inputs« der Intermedialität eher ein Theater- als ein Filmstück (oder, wenn man so will, ein Theaterfilm). Aber es ist auch das einzige Filmwerk, das man als Brechtschen Film bezeichnen kann, weil er nicht nur den Buchstaben des Dramas respektiert,
38 Siehe Brecht, Bertolt: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Herausgegeben von Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei, Klaus-Detlef Müller. Bd. 27. Journale 2 1941–1955. Journale 1941–1955. Autobiographische Notizen 1942–1955. Berlin und Weimar: Aufbau-Verlag, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1995, S. 307. 39 Vgl. Lang, Joachim: Episches Theater als Film, S. 252. 40 Wekwerth, Manfred / Palitzsch, Peter: Über die Verfilmung von »Mutter Courage und ihre Kinder«, S. 257.
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sondern auch das gesamte Arsenal Brechts Ästhetik kreativ einsetzt.41 Und das nicht unbedingt nur wegen der Meinung Friedrich Dürrenmatts, dass Palitzsch und Wekwerth hier »einen Film gemacht haben, der theatralischer ist als das Stück selbst.«42 Das kann man von Wolfgang Staudtes Dreigroschenoper von 1963 sicher nicht behaupten. Die zeitliche Nähe der beiden Filme prangert zusätzlich die Unterschiede in ihrem Umgang mit Brechts Erbe an. Staudte passte Brechts Drama an die Formel eines Musicals an, begünstigt durch die konventionelle Poetik der Kameraarbeit von Roger Fellous (der u. a. in vielen Filmen von André Cayatte mitwirkte), was seine Kritiker dazu veranlasste, z. B. von einer »enttäuschenden Showversion«43 zu sprechen und der schauspielerische Stil, gepaart mit einer Starbesetzung (Curd Jürgens als Mackie Messer, Gert Fröbe als Peachum, Hildegard Knef als Jenny, Lino Ventura als Polizeichef, um nur einige zu nennen) entfernt den Film von der Idee des Epischen.44 Tatsache bleibt, dass Staudte (wie schon Georg Wilhelm Pabst vor ihm) Brechts Drehbuch Die Beule45 ignorierte, aber es ist durchaus verständlich, dass es nicht darum ging, Brecht treu zu bleiben, sondern dem Geschmack des Filmmarktes zu schmeicheln, der einen so spektakulären Brecht (die Produktionskosten betrugen viereinhalb Millionen Mark) auf der Leinwand erwartete. Staudtes Adaptionsstrategie scheint sich in der Formel des Medienrecyclings zu erfüllen: der Nutzung von Brechts literarischer Grundlage als Quelle für den Transfer in den Bereich der Codes der Massenkultur der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, insbesondere des Musicals. Im DDR-Diskurs wurde das Scheitern des Films (wie auch anderer westlicher Brecht-Adaptionen) in der Regel mit dem Defizit der marxistischen Perspektive in Verbindung gebracht – des Mangels bzw. der fehlenden Verbindung zwischen den Handlungen der Figuren und der Dialektik der gesellschaftspolitischen Prozesse sowie einer Abkehr von der Methode des epischen Theaters, was im Grunde dasselbe war (und wozu Staudtes Film mit seiner Ästhetik des »«kuli-
41 In der Rezeption des Films wurde (neben Lob und Kritik) u. a. darauf hingewiesen, dass der Film – als Untersuchungsgegenstand – für eine kritische Erneuerung der filmischen Gestaltungsmittel dienen könnte. Vgl. Jelenski, Manfred: Nicht nur ein Filmdokument. »Mutter Courage und ihre Kinder«. In: »Deutsche Filmkunst« Nr. 4, 1961, S. 112. 42 Zit. nach Srych, Josef: Theater ist nicht Kino – oder: Der grösste [sic!]Misserfolg des Jahres, »Jedioth Chadashoth« vom 31. 08. 1961 (zit. nach Lang, Joachim: Episches Theater als Film, S. 267). 43 Gersch, Wolfgang: Film bei Brecht, S. 71. 44 Es ist daher nicht verwunderlich, dass er weder in Joachim Langs umfassender Monographie noch in vielen anderen Werken, die sich mit Brechts Verfilmungen befassen, vorkommt und bei Gersch nur am Rande als Negativbeispiel innerhalb der Ideologiekritik auftaucht. 45 Zu Brechts Drehbuch siehe Brecht, Bertolt: Die Beule. Ein Dreigroschenfilm. In: »Texte für Filme«, Bd. II: Exposés, Szenarien. Berlin, Weimar: 1971, S. 29–46.
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narischen« Spektakels« ja auch mit außergewöhnlicher Konsequenz neigte).46 Übertragen auf technische Mängel bedeutete dies, dass das »mangelnde Verständnis für die stereometrische Struktur des Stückes und für die Funktion der Musik […] im Verein mit der illusionsfördernden Kameraführung eine tiefe, in jeder Filmszene offenbar werdende Diskrepanz zwischen dem originalen Text und der filmischen Darstellung [bewirkt].«47 In der Tat wurde auf den amerikanischen Markt eine Version gebracht, in der dem Straßensänger der Ballade über das Verbrechen (Haifisch-Song) Sammy Davis jr. (die er auch in der Originalfassung des Films auf Englisch vortrug) mehr Platz eingeräumt wurde, was sein Hitpotenzial erhöhte, und das Plattenlabel Decca brachte eine Platte mit dem Soundtrack des Films heraus, was Staudtes Film in ein breites Band völlig zeitgemäßer Marktstrategien im Zusammenhang mit der Konvergenz der Medien stellt.48 Wäre da nicht Baal (BRD 1969, Fernsehausstrahlung im Januar 1970) von Volker Schlöndorff, einem der führenden Vertreter des Neuen Deutschen Films, wären Brechts Leinwand-Emanationen hauptsächlich auf den Kanon des Klassikers des (epischen) Theaters reduziert worden. Schlöndorffs Ziel war es, »eine den Mitteln des Fernsehens besser angepasste Form der theatralen Darstellung als Medium zwischen »Film« und »Fernsehspiel« zu finden (Theater in AmpexKonserve)«49 – einen Film für das Medium Fernsehen, d. h. einen Fernsehfilm, der »weder so inszeniert noch so gespielt ist, dass er wie ein gewöhnliches Fernsehspiel ebenso gut auf einer Theaterbühne stattfinden könnte, noch so gedreht ist, dass er eine Kinoleinwand und einen Kinosaal, sondern höchstens einen Raum in einer Wohnung füllen könnte.«50 Das Ergebnis ist ein 16-mmFilm, der aus der Hand in authentischen Kulissen gedreht wurde, mit natürlichem Ton (ohne illustrative Musik) und überwiegend natürlicher Beleuchtung sowie »unvollkommenem« Schnitt, was ihm die stilistischen Merkmale der Nouvelle Vague verleiht, aber auch des Direct Cinema oder des Cinéma vérité (»quasi-dokumentarische« Kameraarbeit, die sich in überstürzten Schwenken 46 Siehe den in dieser Hinsicht beispielhaften Artikel von Madina Buschkowsky. Buschkowsky, Madina: Gedanken zu einer Verfilmung der »Dreigroschenoper«. In: »Filmwissenschaftliche Mitteilungen« Nr. 3, 1964, S. 878–896. 47 Ebd., S. 890. 48 Siehe Staudte, Wolfgang / Heckroth, Hein / Raguse, Günter: Die Dreigroschenoper 63. Werkbuch zum Film. München: Laokoon 1964. 49 Baal. Bearbeitet fürs Fernsehen auf Grund der Fassungen aus den Jahren 1918, 1919, 1926 und 1954 von Volker Schlöndorff. Eine Produktion des Hessischen Rundfunks in Zusammenarbeit mit dem Bayerischen Rundfunk und Halleluja-Film. Archiv des Hessischen Rundfunks. Frankfurt am Main [o. J.], (unveröffentlichte Handschrift; zit. nach Lang, Joachim: Episches Theater als Film, S. 315). Ampex ist ein Synonym für Magnetband, benannt nach dem Unternehmen, das es auf den Markt brachte und die elektronische Fernsehaufzeichnungstechnologie ab den 1960er Jahren revolutionierte. 50 Lang, Joachim: Episches Theater als Film, S. 317–318.
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und Unschärfe manifestiert) – in beiden Fällen in ihrer Treue zu den Prinzipien »der Errettung der äußeren Wirklichkeit«51, die Brechts Vorstellung einer konstruierten Welt nicht entsprechen.52 Die Adaption des im Umfeld des Expressionismus entstandenen Dramas53 erfolgt mit der für die Poetik der Epoche typischen Amorphie der Handlungen, die im Film durch die mechanische Nummerierung in 24 Episoden beibehalten und betont wird, aber völlig ohne das expressionistische Pathos von Brechts Drama. Das befreit den Film »nach Brecht« nicht nur vom Odium des Imitatorischen und Repetativen (typisch für den Stil der Adaptionen des Klassikers), sondern verleiht ihm überdies den Rang eines intertextuellen Dialogismus54, der die Modernisierung der literarischen Vorlage zum Bestandteil der Adaptionsfreiheit macht (was besonders im Hauptdarsteller Rainer Werner Fassbinder, dem Enfant terrible des westdeutschen Kinos, zum Ausdruck kommt). Schlöndorff hat einen Film der Gegenkultur (in Bezug auf das im westdeutschen Kino immer noch dominierende Papas Kino) und einen Nischenfilm (auch wenn es sich um einen Fernsehfilm handelt) gedreht, aber auch einen grundlegend Fassbinderschen Film – und das im doppelten Sinne: der Verschmelzung der Figur des Dramas mit der Person des Schauspielers sowie des Stils des Schauspiels, der sich in dem Fassbinder eigenen vital-unbekümmerten Individualismus manifestiert, welcher direkt der (Ikonographie der) Studentenbewegung der 1960er Jahre entstammt. Es ist wohl kein Zufall, dass Schlöndorffs Baal-Verfilmung ein Film über einen anderen Rebellen vorausgeht – Michael Kohlhaas – der Rebell (BRD 1969), und ein Jahr später kommt eine Geschichte über rebellierende Bauern in die Kinos (Der plötzliche Reichtum der armen Leute von Kombach, BRD 1970). Für den 24-jährigen Fassbinder war es die Zeit seiner ersten Filme, die seine schöpferische Laufbahn bestimmen sollten: Liebe ist kälter als der Tod (BRD 1969) und Katzelmacher (BRD 1969), Götter der Pest (BRD 1970) und Warum läuft Herr R. Amok? (BRD 1970), von denen einige gerade auf die Leinwand kamen. So konnte Schlöndorff das schauspielerische Potenzial Fassbinders (und seiner gesamten Truppe, die er in den Nebenrollen besetzte) aus der Zeit des »Sturm und Drangs« mit allen Vorzügen des subversiven Inventars des 51 Kracauer, Siegfried: Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit. Schriften, Bd. 3. Herausgegeben von Karsten Witte. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1979. 52 Ausführliche Anmerkungen zu diesem Thema siehe Lang, Joachim: Episches Theater als Film S. 328–337 (der Autor weist u. a. auf die »verspäteten Schnitte« als Anzeichen dieser Poetik hin). 53 Die kanonische Fassung stammt aus dem Jahr 1918, aber Schlöndorff hat alle Fassungen miteinander vermischt und so stark gekürzt und modernisiert, dass Lang sogar von einer »Art Synopse« schreibt (Ebd., S. 318). Die Uraufführung des Stücks unter der Regie von Alwin Kronacher fand 1923 in Leipzig statt. 54 Siehe Stam, Robert: Beyond Fidelity. The Dialogics of Adaptation. In: Naremore, James u. a.: Film Adaptation. New Brunswick: Rutgers 2000, S. 64–68.
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Schauspielers ausschöpfen: Seine abstoßende Physiognomie in schmutzigen Jeans und abgewetzter Lederjacke kontrastierte mit den Rollenspielern des Bürgertums, die mit Abendfilmen und Fernsehprogrammen der besten Sendezeit assoziiert wurden. Umso mehr, als Schlöndorff von Fassbinder fasziniert war, seit er ihn 1971 auf der Bühne des Bremer Theaters in einer Inszenierung seines eigenen Dramas Bremer Freiheit (und noch am selben Abend in dem Film Liebe ist kälter als der Tod) gesehen hatte.55 »Meine geplante Verfilmung von Baal, bewusst als Theater im Film, sollte eine Annäherung sein.«56 Und er schaffte dies mit Erfolg. Sein Baal ist nicht nur ein Kind des Neuen Deutschen Films (mit einer ganzen Reihe von Schauspielern – Margarethe von Trotta, Hanna Schygulla und Carla Aulaulu sowie dem Kameramann vieler Fassbinder-Filme aus der Wende der 1960er und 1970er Jahre, Dietrich Lohmann), sondern vor allem ein Symbol der europäischen Jugendrevolte der 1960er Jahre. Die Rebellion des anarchistischen Individualisten Baal–Fassbinder ist eine Geste der Verweigerung gegenüber der saturierten Gesellschaft Westdeutschlands mit ihrer kapitalistischen Hierarchie von Zwecken und Mitteln, die jene Zwecke heiligen, welche die Unterdrückung des Helden unvermeidlich machen. Für Schlöndorff war die Wahl der Titelrolle unumstößlich und wurde in Bezug auf die Mechanismen des kulturellen Gedächtnisses bestimmt: »Dies ist der erste Auftritt von Rainer Werner Fassbinder, der für eine ganze Generation zumindest westdeutscher Filmemacher den gleichen Stellenwert hat wie Brecht für Theaterleute.«57 Die Reaktion von Helene Weigel auf Schlöndorffs Film überrascht allerdings nicht: Nach seiner Ausstrahlung im Westfernsehen verbot sie weitere Vorführungen mit der Begründung, dass die sozialen Verhältnisse, die den Grund für Baals Rebellion darstellen, nicht ausreichend herausgestellt würden und dass ihr Fassbinders wenig epische Darstellung missfalle (obwohl das Stück noch einige Jahre vom epischen Theater entfernt war.)58 Einerseits hat Schlöndorff es vermieden, Brechts Drama zu travestieren; andererseits wäre es auch schwierig, dem Film die Züge eines »kreativen Verrats«59 im Sinne Escarpits zuzuschreiben – 55 Siehe Schlöndorff, Volker: Licht, Schatten und Bewegung. Mein Leben und meine Filme. München: Hanser 2008, S. 179. 1972 wurde Fassbinders Stück mit der Kernbesetzung von Fassbinders Ensemble (das bis 1970 mit dem Münchner antiteater verbunden war) verfilmt, wobei Dietrich Lohmann, der Kameramann von Schlöndorffs Baal, die Kamera führte. 56 Ebd., S. 180. 57 Schlöndorff, Volker: Es gab für mich nur einen Gott und das war Brecht. In: Martin, Thomas/ Wizisla, Erdmut: Brecht plus minus. Filme, Bilder, Bildbetrachtungen. Berlin: Theater der Zeit 2004, S. 49. 58 In die gleiche Kerbe schlägt die kurze Notiz in den Fußnoten von Gerschs Monographie, die Schlöndorffs Film ansonsten mit Schweigen übergeht. Vgl. Gersch, Wolfgang: Film bei Brecht, S. 376. 59 Vgl. Escarpit, Robert: Kreativer Verrat – ein Schlüssel zur Literatur. In: Fügen, Hans Norbert: Vergleichende Literaturwissenschaft. Düsseldorf und Wien: Econ 1973, S. 84–91.
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seine Strategie des zentrierten Dialogs (oder der Konkretisierung) des Dramas erwies sich als die richtige Wahl, wie der Erfolg des erst nach 40 Jahren wiederentdeckten Films auf der Berlinale 2014 beweist (zeitgleich wurde eine digitalisierte Ausgabe des Films auf DVD veröffentlicht). Schlöndorff selbst hat, wahrscheinlich unter dem Eindruck von Fassbinders Bremer Freiheit (diese »war wie Film, aber auf der Bühne)«60 zugegeben, dass sein Baal eine bewusste Anwendung des Theaters im Film war. In der Tat, es war Theater, das mehr von der Anarchie des Filmteams als von Brechts eigenen Provokationen lebte; ein anarchisches westdeutsches Team übrigens, das mit dem Baal, den Helene Weigel für die DDR wollte, wenig, mit dem jungen Brecht aber sehr viel gemein hatte. Die westdeutsche Adaptionsspur bei Brecht schließt sich recht früh, bereits 1972, mit einer Travestie von Fragmenten aus dem unvollendeten Roman Die Geschäfte des Herrn Julius Caesar, der unmittelbar vor dem Krieg geschrieben und 1957 posthum veröffentlicht wurde, gleichzeitig in Westberlin und der DDR61. Das Filmemacherpaar Jean-Marie Straub und Danièle Huillet, stille Rebellen des Neuen Deutschen Films (Machorka-Muff, BRD-Italien 1963; Nicht versöhnt oder Es hilft nur Gewalt, wo Gewalt herrscht, BRD 1965; Chronik der Anna Magdalena Bach, BRD-Italien 1968), entschieden sich als die radikalsten der »Oberhausener« (wie die Erben des Oberhausener Manifests von 1962 genannt wurden) für eine radikale Autorengeste, die mit jeder traditionellen Form der Literaturverfilmung wenig gemein hat und ohne das Oberhausener Erbe nicht denkbar wäre. Erstens haben sie die Strategie der »homologen Neuschöpfung«62 angewandt, die darin besteht, die Verbindung zur literarischen Grundlage aufrechtzuerhalten, aber an den zeitgenössischen Kontext anzupassen (der Zuhörer der Monologe der Figuren »aus der Epoche« ist ein zeitgenössischer Junger Mann). Zweitens haben sie eine radikale Filmkonvention angewandt, indem sie vier Laiendarsteller (für fast alle von ihnen waren dies die einzigen Filmrollen) in Kostümen und Maske (der Bankier Mumilius Spicer, ein Bauer, ein ehemaliger Legionär Caesars, ein Anwalt und ein Dichter) in die Rolle von Zeitzeugen Texte aus dem Roman rezitieren ließen, zusammengefügt durch die Anwesenheit eines zeitgenössischen Gesprächspartners, der in drei gnadenlos langen, fast zehnminütigen Autofahrten durch die engen Straßen Roms die Begegnungen mit seinen Gesprächspartnern anvisiert und sie zu den Themen befragt, die den Inhalt ihrer Monologe bilden. Die Autoren des Films haben die 60 Schlöndorff, Volker: Licht, Schatten und Bewegung, S. 179. 61 Brecht selbst war an der Adaption seines Romans interessiert, was das filmische exposé Der Gallische Krieg oder Die Geschäfte des Herrn J. Cäsar (Film) bezeugt (siehe Brecht, Bertolt: Der Gallische Krieg oder Die Geschäfte des Herrn J. Cäsar (Film). In: »Texte für Filme«, Bd. II: »Exposés, Szenarien«. Berlin, Weimar: Aufbau-Verlag 1971, S. 70–72). 62 Siehe Testa, Carlo: Masters of two Arts. Re-creation of European Literatures in Italian Cinema. Toronto, Buffalo, London: University of Toronto Press 2002, S. 206–208.
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Aneinanderreihung der Aussagen in der filmischen narrativen Konvention der Schuss-Gegenschuss-Einstellung völlig aufgegeben, und wenn sie den Jungen Mann beim Zuhören der Monologe zeigen, dann in einer langen Einstellung, die den Sinn der auf dem Wechsel zwischen Sprecher und Zuhörer basierenden Filmdramaturgie strapaziert, ja sogar in Frage stellt. Die Autofahrt durch die Straßen Roms ( jedes Mal in einer einzigen Einstellung vom Rücksitz des Wagens aus gefilmt) wird von Straßengeräuschen begleitet – Gemurmel, Autogeräusche, Wortfetzen; es fällt aber weder innerhalb noch außerhalb des Bildes ein einziger Satz,63 obwohl die Verfolgung des Straßenverkehrs an sich schon faszinierend ist, weil sie in ihrer Zufälligkeit an die aleatorische Natur des Lebens erinnert (genau wie im Cinéma vérité), die das Kino eher zu zähmen versucht. Der Junge Mann kommt nie an einem bestimmten Ort an, der im Bild markiert, geschweige denn identifiziert werden könnte, einem Ort, der mit der historischen Topographie Roms nur schwer in Verbindung gebracht werden könnte (obwohl der Film gerade mit Karten von Rom und einem Denkmal von Julius Cäsar beginnt). Die Straßen, durch die das Auto fährt, sind gewöhnliche Straßen Roms, die nicht von Horden von Touristen durchquert werden, heruntergekommen und ohne baedekerische Schönheit. Diese Fahrt durch die Straßen scheint ziellos, denn nichts kündigt weitere Begegnungen an, und es ist erkennbar, dass er immer wieder an denselben Ort zurückkehrt und umherirrt. Der Fahrer–Respondent ist im Übrigen nicht aggressiv und kultiviert, was für Italiener mit ihrem Straßentemperament eher ungewöhnlich ist. Der Verfremdungseffekt erreicht im Film einen kritischen Punkt: Ein Zeitgenosse befragt Zeitzeugen nach ihrer Meinung zu den Ereignissen rund um die Herrschaft von Julius Cäsar, aber der Kontext verfremdet diese Monologe völlig, lässt sie auf eine kühle Art und Weise rezipieren, die eine kritische Reflexion über die Zusammenhänge von Kapital und Macht begünstigt. Die Entstehung von Straub–Huillets Film fiel in die Zeit des Booms des Neuen Deutschen Films (mit Filmen von Fassbinder, Werner Herzog, Schlöndorff und Wim Wenders’ Debüt) und stellte sicherlich eine der radikalsten und avantgardistischsten Manifestationen dieser Bewegung dar. Für Brechts Adaptionen (immerhin ist auch der drei Jahre zuvor produzierte Baal innerhalb dieser Strömung entstanden) stellte der Fall Geschichtsunterricht zweifellos ein außergewöhnliches kulturelles und künstlerisches Umfeld dar, das eine filmische Lesart seines Werkes in einem Horizont begünstigte, den es zuvor nicht hatte und auch später nicht bekommen würde. 63 Bereits in dem Kurzspielfilm Der Bräutigam, die Komödiantin und der Zuhälter (BRD 1968) der beiden Autoren taucht eine fünfminütige, teilweise stumme Autofahrt durch die Münchner Vorstadt auf – ein Vorgeschmack auf die Irritation, die der Zuschauer beim Betrachten von Geschichtsunterricht empfinden wird.
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Im Zusammenhang mit solchen Adaptionen mag daher die Frage berechtigt erscheinen, ob in der westdeutschen Kinematographie, die frei von ideologischem Servilismus gegenüber dem kommunistischen Autor ist, nicht mehr Brecht zu finden ist als in der Filmkultur der DDR,64 die sich (zumindest propagandistisch) verpflichtet fühlte, sein Erbe pflegen zu müssen. Und obwohl eine so gestellte Frage nicht zu einer glücklichen Antwort zu führen scheint, fällt es schwer, sie ganz zu ignorieren, und sei es nur im Kontext der Adaption von Helmut Nitzschkes Erzählung Zwei Söhne aus dem Episodenfilm Aus unserer Zeit (DDR 1969). Obwohl die Erzählung keine so restriktive Regeltreue erfordert wie das epische Theater (die Erzählung ist doch von Natur aus näher am Epos), scheint Nitzschke Brecht nicht besonders nahe gekommen zu sein. Interessanterweise basiert die Erzählung Die zwei verlorenen Söhne aus der Sammlung Kalendergeschichten aus dem Jahr 1949 auf Brechts Entwurf für einen Film aus einer Zeit, als er noch in Hollywood Filme für das Nachkriegsdeutschland plante.65 Diese Geschichte über den Wahnsinn einer Soldatenmutter, die zunächst die Illusion hat, dass der sowjetische Kriegsgefangene auf ihrem Hof die Reinkarnation ihres Sohnes ist (was sie mit einer Extraportion Essen belohnt), und als später ihr wahrer Sohn, der SS-Mann, auf Urlaub kommt und aus Angst, dass die Gefangenen ihn ausliefern werden, beschließt, sie zu töten, ihn dem sowjetischen Kommandanten übergibt, um ihn vor einer Verurteilung zu bewahren, hat viel von einem Lehrstück – sie ist im Grunde didaktisch und schematisch, eher illustrativ als problemorientiert. Und das ist es, was Nitzschkes Episode bleibt. Wahrscheinlich gelingt es der Gedächtnisarbeit des Zuschauers, die Anwesenheit von Brecht-Schauspielern (Ekkehard Schall, Felicitas Ritsch und in der Stimme der Kommentatorin aus dem Off die Stimme von Helene Weigel) zu erkennen, was dazu beiträgt, dem Film eine Brechtsche Aura zu verleihen und ihn in der Schauspieltradition seines Theaters zu halten. Aber gerade die Tatsache, dass der Film eine von vier unverbundenen Episoden ist, begünstigt eine Art filmischen Verfremdungseffekt66 durch die Umgebung der anderen Episode. Die Kalendergeschichten bildeten die Grundlage für zwei weitere Verfilmungen, und jedes Mal handelte es sich um Fernsehfilme, in beiden Fällen mit der gleichen Strategie, die Kontinuität der Erinnerung an Brechts Gesichter zu kul64 Dass alles unternommen wurde, um dieses Erbe den aktuellen politischen Erfordernissen unterzuordnen, zeigt (neben den bereits genannten Fällen) auch die Tatsache, dass Palitzschs und Wekwerths Mutter Courage und ihre Kinder bereits eine Woche nach der Premiere (trotz einer Auslastung von über 60 Prozent) aus den Berliner Kinos genommen wurden – vgl. Lang, Joachim: Episches Theater als Film, S. 264. Die DDR-Behörden störten sich generell an der vermeintlich pazifistischen Botschaft von Drama und Film. 65 Vgl. Gersch, Wolfgang: Film bei Brecht, S. 234. 66 Vgl. Richter, Erika: Zu Gestaltungsproblemen des Episodenfilms. Bemerkungen zum DEFA Film »Aus unserer Zeit«. In: »Filmwissenschaftliche Beiträge« Jg.11, 1970, S. 271–292.
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tivieren, und unter Bezugnahme auf das gleiche Schauspielerduo: Ekkehard Schall und Hanne Hiob (die in Monks Fernsehfilm von 1975 die Titelrolle der Frau Carrar spielte, obwohl sie in der DDR eher aus ihrer Zeit am Berliner Ensemble in Erinnerung war, da der Film nicht im DDR-Fernsehen gezeigt wurde). Die unwürdige Greisin, bei der Karin Hercher 1984 Regie führte (und die im Februar 1985 im Fernsehen uraufgeführt wurde), wirkt durch die übertriebene Darstellung von Hiob eher wie eine Parodie auf eine alte Dame, die erfolgreich versucht, ihre Lebensfreude wiederzuerlangen, als eine Betonung ihrer Würde, und die gesamte Adaption geht nicht über die Formel der Illustration der Handlung der Erzählung hinaus und ist eher in der breiten Spanne der Fernsehkonfektion angesiedelt (ein Sittenbild der damaligen Zeit) als eine künstlerische Leistung. In Herchers Film scheint die Patina des Bildes des Kaiserreichs vor dem Ersten Weltkrieg nicht so sehr aus dem Gewebe der Erzählung selbst zu strahlen, sondern aus der äußeren Dekoration zu resultieren – dem Bühnenbild und den Kostümen. Was Hercher nicht schaffte, gelang weitgehend Peter Vogel in Der Mantel des Ketzers (Fernsehpremiere im April 1989), mit Ekkehard Schall als intertextuelles »Haupt«-Bindeglied in der Hauptrolle des Giordano Bruno (es war seine letzte Filmrolle) und Marianne Hiob als Frau des Schneiders. Das Festhalten an der Methode des epischen Theaters mit der anfänglichen Geste der Verfremdung der Figur während des Schminkens des Schauspielers vor dem Spiegel, die weit von der filmischen Illusion entfernte Konventionalität des Bühnenbilds, die konsequente Verwendung von Epigrammen – all das trägt dazu bei, die Aura des Originals zu bewahren. Dies geschieht natürlich nicht ohne Beteiligung der Handlung, die die Figur des großen Entdeckers verfremdet und eine sekundäre Episode aus dem Leben des Wissenschaftlers exponiert, nämlich die Schuld, die er bei dem Schneider noch für den Mantel hat, der noch abgeholt wurde, bevor er ein Opfer der Inquisition wurde, und die die Frau des Schneiders eintreiben will, wodurch sie zur unbeabsichtigten Mitanklägerin des gehetzten Menschen wird. Vogels Film (bezeichnenderweise die Adaption einer Erzählung, nicht eines Dramas) war der letzte Akt der audiovisuellen Medien beider deutscher Staaten, sich mit Brechts Erbe auseinanderzusetzen. Es war gewissermaßen eine Verzweiflungstat, Brecht für die untergehende DDR zu retten, die das Andenken an den Autor in der Defa-Verfilmung von Mutter Courage und ihre Kinder von 1961 bewahrte, obwohl sie für die Filmkultur keine wesentliche Bedeutung hatte. In der anderen deutschen Republik erhielt Brecht – mit Volker Schlöndorffs Baal sowie Jean-Marie Straubs und Danièle Huillets Geschichtsunterricht (beide 1972) – ein zweites Leben. Zum einen in der höchst lebendigen Tradition des Neuen Deutschen Films (mit all ihren Rissen, Diskontinuitäten und Sprüngen), zum anderen – in Bezug auf die beiden Fernsehfilme von Egon Monk (Leben des
Verfilmt, aber ob wirklich filmisch? Filmische Zeugnisse der Brecht-Rezeption
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Galilei, 1962, und Die Gewehre der Frau Carrar, 1975), die Brechts Präsenz in den Bildschirmmedien der Bundesrepublik Deutschland geschickt festigten.
Literatur Alles was Brecht ist … Fakten – Kommentare – Meinungen – Bilder. Herausgegeben von Werner Hecht. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1997. Baal. Bearbeitet fürs Fernsehen auf Grund der Fassungen aus den Jahren 1918, 1919, 1926 und 1954 von Volker Schlöndorff. Eine Produktion des Hessischen Rundfunks in Zusammenarbeit mit dem Bayerischen Rundfunk und Halleluja-Film. Archiv des Hessischen Rundfunks. Frankfurt am Main [o. J.], (unveröffentlichte Handschrift). Brecht, Bertolt: [Zum Film »Herr Puntila und sein Knecht Matti«]. In: »Texte für Filme«, Bd. II: Exposés, Szenarien. Berlin, Weimar: Aufbau-Verlag 1971, S. 366–370. Brecht, Bertolt: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Herausgegeben von Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei, Klaus-Detlef Müller. Bd. 27. Journale 2 1941–1955. Journale 1941–1955, Autobiographische Notizen 1942–1955. Berlin und Weimar: Aufbau-Verlag, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1995. Brecht, Bertolt:, Die Beule. Ein Dreigroschenfilm. In: »Texte für Filme«, Bd. II: Exposés, Szenarien. Berlin, Weimar: Aufbau-Verlag 1971, S. 29–46. Buschkowsky, Madina: Gedanken zu einer Verfilmung der »Dreigroschenoper«. In: »Filmwissenschaftliche Mitteilungen« Nr. 3, 1964, S. 878–896. Escarpit, Robert: Kreativer Verrat – ein Schlüssel zur Literatur. In: Fügen, Hans Norbert: Vergleichende Literaturwissenschaft. Düsseldorf und Wien: Econ 1973, S. 84–91. Fernsehen der DDR – Online Lexikon der DDR-Fernsehfilme, Fernsehspiele und TV-Inszenierungen. URL: www.fernsehen derddr.de/index.php?script=sonstiges-ddr-tv#gale rie6007). Film i telewizja i film w telewizji, bearb. L. Bajer. In: »Kino« Nr. 4, 1976, S. 25–31. Film telewizyjny. Znaki zapytania i propozycje. In: »Miesie˛cznik Literacki« Nr. 4, 1966, S. 78–85. Gersch, Wolfgang: Film bei Brecht. Bertolt Brechts praktische und theoretische Auseinandersetzung mit dem Film. Berlin: Hanser 1975. Helman, Alicja: Twórcza zdrada. Filmowe adaptacje literatury. Poznan´: Ars Nova 2014. Hickethier, Knut: Stuttgarter Stil – das Fernsehspiel des Süddeutschen Rundfunks. In: Fünfgeld, Hermann (Hg.): Von außen besehen. Markenzeichen des Süddeutschen Rundfunks. Stuttgart: Süddeutscher Rundfunk 1998, S. 381–401. Hopfinger, Maryla: Kultura współczesna – audiowizualnos´c´. Warszawa: Pan´stwowy Instytut Wydawniczy 1985. Jelenski, Manfred: Nicht nur ein Filmdokument. »Mutter Courage und ihre Kinder«. In: »Deutsche Filmkunst« Nr. 4, 1961, S. 110–112. Kracauer, Siegfried: Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit. Schriften, Bd. 3. Herausgegeben von Karsten Witte. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1979. Lang, Joachim Episches Theater als Film. Bühnenstücke Bertolt Brechts in den audiovisuellen Medien. Würzburg: Königshausen & Neumann 2006.
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Namenregister
Abbt, Christine 262 Adar, Arnon 414 Adorno, Theodor W. 72, 121 Agamben, Giorgio 81 Aggermann, Lorenz 77 Aischylos 270 Alberti, Rafael 454, 466 Aleksandrov, Grigoriy 264 Allio, René 479 Almagor, Gila 414 Aloni, Nissim 413, 430f. Alonso, José Luis 461f. Als, Hilton 359 Amann, Maria Rosa 339 Andriessen, Louis 103 Anouilh, Jean 459 Anyurus, Johanna 394 Arendt, Hannah 11, 137, 325, 394 Aristoteles 70, 75, 80, 82, 395 Arroitia-Jáuregui, Marcelo 458 Artaud, Antonin 46f., 91f., 98f., 396, 459 Arthur, Bea 368 Asimov, Isaac 328 Augustinus 456 Aulaulu, Carla 488 Aumont, Jaques 248 Avrahamy, Itzchak 427f. Axer, Erwin 439, 446 Azzaro, Pierlucca 184 Babel, Irena 450 Baberowski, Jörg 180, 183, 187 Bach, Johann Sebastian 111, 113, 159, 161, 164f., 170–172
Badenhausen, Rolf 16, 18, 289f., 304–308 Baerensprung, Horst 346 Baird, Jay W. 301f. Bajer, Lesław 474 Balzac, Honoré de 389 Banai, Ehud 417 Banholzer, Paula (Bi, Bittersweet, Paul) 338–340, 342f., 348 Barad, Karen 55 Barthes, Roland 71, 257–259 Bautz, Simone 302f. Bayerdörfer, Hans-Peter 413, 440 Beauvoir, Simone de 348 Becher, Johannes R. 241, 330f. Becker, Peter von 91 Beckett, Samuel 446, 454, 459 Beethoven, Ludwig van 111, 169, 327 Behrends, Jan C. 441 Beissikov, Sam 414 Bellag, Lothar 472–474 Bellini, Vincenzo 169 Belly, Lead 360 Benjamin, Walter 13, 67–69, 76, 79–82, 84f., 120f., 123, 130, 261, 327, 338, 346 Benn, Gottfried 322f. Bennett, Arnold 276 Bentley, Eric 157, 171 Berblinger, Albrecht Ludwig 212 Berg, Günther 404 Bergmann, Franziska 363 Berlau, Ruth 235–237, 345, 349–351, 473 Bertonov, Joshua 414 Betz, Albrecht 113 Beutin, Wolfgang 14, 191
496 Bey, Essad 22, 31 Bierut, Bolesław 441 Bisky, Jens 99 Blackett, Patrick 201 Blier, Bernard 484 Blitzstein, Marc 368–370 Bloch, Ernst 49, 121, 138, 144, 241, 346, 415, 417 Blom, Philipp 58, 63 Blum, Bilha 422, 426 Boberg, Helena 394 Böcher, Wolfgang 404 Boettcher, Hans 104 Böhme, Waltraud 197 Bolz, Norbert 173 Bonaparte, Napoleon 109, 197, 332 Bonn, Georg 108 Borges, Jorge Luis 317 Boucicault, Dion 371–379, 381 Bourdieu, Pierre 143, 290, 303, 453 Brahms, Johannes 113 Brandt, Willy 313, 334 Brauneck, Manfred 439 Braunfels, Walter 170 Brecht, Bertolt (Brecht, Bert) passim Bredemeyer, Reiner 107 Bremer, Harry 484, 488f. Breton, André 91 Breughel, Pieter 192 Bronnen, Arnolt 16, 237, 279, 283, 293, 313–316, 318–327, 331, 347f. Brown, Michael 357 Bruno, Giordano 45, 51, 53–59, 62f., 396f., 492 Brüns, Elke 172 Brzeska, Ewa 446 Büchner, Georg 157, 166 Buero Vallejo, Antonio 459f., 464f. Bulgakowa, Oksana 247f., 253, 265 Bunge, Hans 75, 84, 349 Bürger, Achmed 17, 31, 108, 135, 205, 313, 326, 350, 387, 417 Burkot, Stanisław 434 Burman, Sifrido 460f. Burri, Emil 470 Busch, Ernst 96f., 110f., 480
Namenregister
Busch, Stefan 301 Buschkowsky, Madina 486 Busoni, Ferruccio 172 Bütow, Wilfried 214 Byrd, Richard 249 Calasso, Roberto 57f., 63 Callot, Jacques 484 Camus, Albert 459 Cañizares Bundorf, Nathalie 462 Castilla, Alberto 461 Castorf, Frank 13, 91f., 98–100 Catilina, Lucius Sergius 193, 206 Cavalcanti, Alberto 470, 481 Cayatte, André 485 Cela, Camilo José 462f. Chaplin, Charles (Chaplin, Charlie) 33, 155 Chauvin, Derek 357 Chisholm, David 170 Chojnacka, Anna 440 Chruschtschow, Nikita 96 Claudel, Paul 339 Claudius, Eduard 440 Cocteau, Jean 459 Cohen, Geula 422 Cohen, Robert 103 Collins, Judy 337, 368 Conrad, Marianne 405 Conrad, Wolfgang 214, 218 Cornago Bernal, Óscar 461 Courtois, Stéphane 181 Cox, Gordon 359 Craig, Edward Gordon 397, 444 Cramer, Richard Carl (Rudolf Lavant) 203 Cremer, Fritz 351 Crespo, Manuel Diez 456 Csató, Edward 436 Csobáldi, Peter 167 Czarnik, Oskar 434 Damaye, Henry 37 Dammbeck, Lutz 479 Danowski, Deborah 45, 55, 63 Dar, Ilan 29, 429 Davis, Sammy jr. 486
497
Namenregister
Dawes, Charles G. 23, 28 Deharde, Gustav 302 Derrida, Jacques 83, 410 Descartes, René 55 Desch, Kurt 239f. Diderot, Denis 71, 257f., 262, 362, 399 Dietz, Karl 78, 197, 242 Dimitroff, Georgi 185 Döblin, Alfred 103, 231, 330, 365 Döcker, Georg 77 Donizetti, Gaetano 169f. Dorgerloh, Annette 33 Drexel, Kurt 171 Drury, Jackie Sibblies 359 Dudow, Slatan 70, 110, 300, 469f. Dümling, Albrecht 113 Dürr, Anke 99 Dürrenmatt, Friedrich 459, 461, 476, 485 Dylan, Bob 368 Ebert, Carl 301 Ebert, Olivia 70 Einstein, Albert 50, 73, 327–329, 365f., 402f., 407 Einstein, Carl 365f. Eisenstein, Sergei 15, 71, 247f., 250–260, 262–265, 365, 395–399 Eisler, Hanns 75, 84, 91, 103–105, 108–110, 112f., 172, 225, 241, 349, 365f., 458, 473, 481 Eisner, Kurt 269, 273, 294 Elsen, Thomas 292 Elsner, Jürgen 109 Emmerich, Klaus 108 Engel, Erich 27f., 32, 37, 96, 295, 305, 344, 469f., 472, 482 Erpenbeck, Fritz 438, 447 Escarpit, Robert 479, 488 Escudero, José María García 459 Eser, Willibald 342 Espagne, Michel 290, 453 Espert, Nuria 454 Euringer, Richard 218 Falkenberg, Otto 295 Fallersleben, Hoffmann von
334
Farneth, David 160 Fassbinder, Rainer Werner 487–490 Faulkner, William 459 Fehling, Jürgen 280 Feige, Otto 274 Feijoo, Luis Iglesias 460, 465 Feijóo, Padre 456 Feliszewski, Zbigniew 16, 18, 289, 438 Felix, Jürgen 170, 306 Fellous, Roger 485 Felsenstein, Walter 295, 300, 310 Feuchtwanger, Lion 15, 230–233, 235–243, 269–286, 304 Feuchtwanger, Marta 272, 276, 280, 282f., 285 Feuerbach, Ludwig Andreas 416 Fichte, Johann Gottlieb 110, 321 Fierro, Luis González 458 Fik, Marta 438 Filipkowska, Hanna 441 Flaszen, Ludwik 436 Fleischer, Helmut 184 Floyd, George 357f. Ford, Henry 23, 29 Fortner, Wolfgang 103 Franco, Francisco 18, 21, 70f., 453, 459, 462, 466f., 478 Frank, Bruno 276f. Freud, Sigmund 327–329, 365 Friedenthal, Joachim 277 Friedlander, Nili 415 Fries, Ulrich 338 Frisch, Max 459 Fröbe, Gert 485 Fuegi, John 291, 293, 337 Fügen, Hans Norbert 479, 488 Fünfgeld, Hermann 473 Gadberry, Glen W. 302 Gaertner, Jan Felix 170 Gajek, Konrad 450 Gala, Antonio 459 Galilei, Galileo 10, 12f., 45, 47, 49–51, 53– 55, 57, 67–70, 72–79, 81–87, 91, 94–99, 123f., 215, 217, 223f., 226, 284, 290, 299,
498 305, 386, 397, 414f., 459, 465, 470f., 475– 477, 483, 493 Gamzu, Haim 423 Gantzel, Klaus Jürgen 402 Garner, Eric 357 Gay, John 21, 26f., 346, 373 Geduld, Harry M. 264 Geis, Manfred 420, 427 Gellert, Inge 110f., 113, 405 Gerold, Karl-Gustav 455 Gersch, Wolfgang 248, 469f., 472–476, 479f., 482, 485, 488, 491 Gerund, Sigmar 405 Geschonneck, Erwin 477 Gide, André 192, 207 Giehse, Therese 299, 304, 421, 441 Gier, Helmut 23, 292, 301 Giesenfeld, Günther 306 Giles, Steve 166 Gimber, Arno 18, 453 Giraudoux, Jean 459 Girnus, Wilhelm 439 Gjerden, Jorunn S. 359 Gockel, Heinz 222 Goebbels, Joseph 38, 198, 314f., 323f., 326f. Goethe, Johann Wolfgang von 107, 128, 167f., 192, 329–331, 405, 409, 439, 483 Gómez, Fernando Fernán 458 Gómez, José Luis 462 Gomułka, Władysław 435 Gorki, Maxim 306, 348, 350, 439, 441 Gottesman, Ronald 264 Gottschalk, Hans 473 Goya, Francisco 465 Graf, Oskar 242 Granach, Alexander 110 Greider, Göran 394 Greif, Heinrich 299 Greuze, Jean-Baptiste 258 Grimm, Reinhold 117f., 292 Grive, Madeleine 17, 391f. Groß, Hermann 110, 215, 340 Grosz, George 39, 231, 233 Grotowski, Jerzy 91 Gründgens, Gustaf 11, 291, 306–309
Namenregister
Guattari, Félix 13, 91–93, 97–99 Günther, Egon 483 Gustave, Père 414 Guterres, Antonio 60 Gwóz´dz´, Andrzej 18, 469 Haarmann, Hermann 188, 236, 239, 299f., 305 Haas, Willy 22 Hagen, Peter 472 Hahn, Daniela 306, 418 Hahn, Otto 94 Halevy, Moshe 420 Hamacher, Werner 70 Hammer, Carmen 76 Händel, Georg Friedrich 111, 113 Häntzschel, Hiltrud 337, 339, 344, 346, 348, 351 Haraway, Donna 55, 76 Harifai, Zaharira 429 Harris, Cheryl I. 365 Harris, Jeremy O. 359 Hartmann, Anne 188 Hartung, Günter 163, 170 Hauff, Andreas 106f. Hauk, Stefan 135, 338 Hauptmann, Elisabeth (Catherine Ux, Bess) 16, 193, 242, 337f., 344–346, 348– 352 Hauptmann, Gerhard 306 Haydn, Joseph 169 Hecht, Werner 21, 67, 69, 73, 106, 121, 136, 153, 177, 191f., 211, 229, 231–233, 247, 293, 316, 337, 352, 360, 405, 472, 484 Heckroth, Hein 486 Heeg, Günther 71, 75, 83, 93, 95, 97 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 52, 79f., 82, 138, 145, 166, 319, 330, 416 Heidegger, Martin 38f. Heinrich, Klaus 48 Held, Walter 69 Helman, Alicja 474 Hennenberg, Fritz 113, 157, 163, 170 Hercher, Karin 479, 492 Hernández, Miguel 455 Herrmann, Hans-Christian von 168, 258f.
Namenregister
Herrmann, Klaus 34 Herz, Joachim 172 Herzfelde, Wieland 235f., 239f. Hesse, Christoph 236, 239, 299f., 305 Hesse-Burri, Emil 345 Hickethier, Knut 473 Hill, Hainer 304, 473 Hillesheim, Jürgen 14, 18, 153, 164, 168, 172, 291f., 294, 302, 309, 414 Hilpert, Heinz 301, 309 Hilscher, Eberhard 17, 401–407, 409f. Hindemith, Paul 103f., 109, 114 Hindenburg, Paul von 24, 36f. Hinderer, Walter 153, 171 Hinton, Stephen 108 Hiob, Hanne 103, 308, 341, 478, 492 Hitler, Adolf 10, 60, 154, 180, 183f., 187, 193, 197, 199, 206, 237, 282, 299, 301f., 323, 326, 331, 416, 447, 463 Hofe, Harold von 230f., 233, 235–237, 241 Höffer, Paul 103 Hohenestern, Max 291 Holdack, Nele 233 Hölderlin, Friedrich 147, 331 Holiday, Adrian 416 Holling, Eva 70 Holtz, Jürgen 98f., 128 Homolka, Oskar 70 Hopfinger, Maryla 479 Hormigón, Juan Antonio 457 Hörnigk, Frank 57, 72, 125 Huillet, Danièle 479, 489f., 492 Humboldt, Alexander von 57 Hurwicz, Angelika 477 Hyde, Martin 416 Ihering, Herbert 121, 327 Ionesco, Eugène 459 Ivens, Joris 470, 473, 480f. Jaap, Max 472 Jacobs-Jenkins, Branden 357, 359, 371– 381 Jäger, Christian 63, 166 Jameson, Fredric 426 Janiczek, Ingeborg 474
499 Janson, Uwe 479 Jarmułowicz, Małgorzata 435, 437 Jegerstedt, Kari 359 Jelenski, Manfred 485 Jeske, Wolfgang 235f., 404 Jesse, Eckhard 184 Jessner, Leopold 280, 295, 309 Jhering, Herbert 34 Jöde, Fritz 104 Johst, Hanns 218, 276 Jonas, Hartmut 214 Jönson, Johan 394 Jönsson, Dan 393 José Luis, Calvo Carilla 461, 466 Jünger, Ernst 32, 46, 316f., 323, 327f., 482 Jurévic, Aleksandr 183 Jürgens, Curd 485 Kafka, Franz 81, 84, 210 Kahana, Uri 425 Kalemba-Kasprzak, Elz˙bieta 442f., 449 Kałuz˙yn´ski, Zygmunt 444 Kaniuk, Yoram 414 Kant, Immanuel 71, 166, 318, 327–329 Kantorowicz, Alfred 241 Karchow, Ernst 302 Karge, Manfred 474 Karkowsky, Stephan 99 Karst, Roman 444 Karydas, Dimitris 156, 158 Kaulen, Heinrich 210–215, 219 Kaynar-Kissinger, Gad 17, 413 Kebir, Sabine 337, 349 Kehlmann, Michael 472 Kennan, George F. 21 Kerr, Alfred 27 Kershaw, Ian 188 Khan, Dschingis 183 Kiesel, Helmuth 14, 111, 177, 188 Kilian, Isot 351 Kimmich, Dorothee 363 Kindt, Tom 158 Kinkel, Tanja 15, 269 Kittstein, Ulrich 212, 214, 218 Kleberg, Lars 17, 391, 395f., 398f. Klein, James 26
500 Kleist, Heinrich von 295, 441 Klement, Andreas 433 Kluge, Alexander 71 Kluttig, Roland 108 Knef, Hildegard 485 Knopf, Jan 12, 21, 39, 67, 93f., 106, 121, 136, 153–155, 157, 163, 169–172, 177, 186f., 211, 229, 235f., 247, 293–295, 316, 337, 360, 405, 484 Knopp, Peter 170, 172 Koch, Carl 25 Koch, Gerd (Koch, Gerhard) 13, 110f., 113, 135, 137–140, 143f., 146f., 158, 170, 214, 480 Koenen, Gerd 180, 183, 188 Koestler, Arthur 184 Kolland, Dorothea 104 Kolumbus, Christoph 212 Konwicki, Tadeusz 471 Korsch, Karl 177–180, 186 Kortner, Fritz 309 Kott, Jan 139, 434f. Kowalke, Kim H. 155 Krabiel, Klaus-Dieter 15, 103f., 106, 113, 172, 229 Kracauer, Siegfried 487 Kran, Karl 25 Krause, Lilly 339 Kraushaa, Wolfgang 184 Krawczykowski, Zbigniew 437 Kreczmar, Jerzy 440, 446 Kreisbändchen, Nin Anaïs 91 Kronacher, Alwin 487 Kruczkowski, Leon 436 Krupin´ska, Graz˙yna 17, 433 Kugli, Ana 103, 308 Kuhla, Karoline 300 Kuhn, Hedda 339f. Kühnel, Jürgen 167 Kullman, John 416 Küpper, Hannes 302 Kurzke, Hermann 185 Kutz, Kazimierz 471 Lacis, Asja 247 Lagerlöf, Selma 386
Namenregister
Laín Entralgo, Pedro 462 Lanfang, Mei 367, 397, 426 Lang, Fritz 469f. Lang, Joachim 471, 473, 482, 485 Langenbucher, Wolfgang R. 433 Langhoff, Matthias 474 Lasowy-Pudło, Magdalena 450 Latour, Bruno 12, 45, 51, 53–59, 61–63 Laughton, Charles 70, 217, 284, 473 Lavorano, Stephanie 363 Lee Langvad, Maja 394 Lehmann, Hans-Thies 11, 73, 75f., 93–97, 127, 410 Lenin, Wladimir Iljitsch 80, 181f., 396 Lenya, Lotte 155, 160, 308, 368 Lenz, Jakob Michael Reinhold 87, 306, 438 Leoncavallo, Ruggero 171 Lerchner, Gotthard 219 Lesseps, Ferdinand de 302 Lesser, Sol 264 Lessing, Gotthold Ephraim 259, 347, 362 Lettner, Oscar 163 Leuschner, Wilhelm 199 Levi, Herbert 69f. Levin, Hanoch 430 Leviush, Zalman 414 Levy, Shimon 413, 415 Lewy, Tom 418, 420, 425 Leyko, Małgorzata 440, 444 Liebknecht, Karl 294 Lifschitz, Boris 181 Lindberg, Leopold 299 Lingen, Theo 145, 343 Lo-Johansson, Ivar 17, 386–390 Lobe, Friedrich 420, 463 Loeb, Arno 291 Loewy, Tom 420 Lohmann, Dietrich 488 London, Jack 154 Lorca, Federico García 454f., 466 Losey, Joseph 473 Lovelock, James 53 Lowenhaupt, Tsing Anna 56 Lubbe, Marinus van der 185 Lübke, Anton 22, 24f. Lucchesi, Joachim 13, 103f., 107, 113
Namenregister
Lukács, Georg (Lukács, György) 40, 77, 85, 121, 241, 261, 387–389, 435, 447 Luxemburg, Rosa 294 Maier, Hans 184 Majewski, Janusz 471 Malaschenko, Larissa 183 Malevitsch, Kasimir 86 Malkiewicz, Anna 434 Mann, Heinrich 231, 241 Mann, Thomas 31, 167, 170, 185, 198, 209, 217, 284, 315, 325–327, 330, 403, 483 Mannheim, Dora 344 Marchwitza, Hans 439 Margulis, Lynn 53 Marianowicz, Antoni 448f. Marinetti, Filippo Tommaso 249, 330 Marlé, Arnold 271 Marlowe, Christopher 275, 277f. Martín, Luis Sanz 456 Martin, Thomas 39, 137, 416, 488 Marx, Karl 78–80, 137, 147, 166, 253, 263 Massiel 458 Matek, Ljubik 359 Maultasch, Margarete 278 Mayer, Hans 430 Mayorga, Juan 466 Mecklenburg, Jens 183, 188 Mehring, Franz 294 Meier-Lenz, Dieter P. 216f. Meilinger, Liliane 431 Meisel, Edmund 37 Meissner, Hans 301 Melchinger, Siegfried 292, 295, 298, 305 Mendelssohn, Peter de 185 Mengzi 425 Meyerhold, Wsewolod 254, 365, 395–397 Miller, Arthur 41, 454, 459 Mills, Charles W. 364f. Milo, Yosef 424–430 Milva 458 Minotti, Bianca 346 Mittenzwei, Werner 21, 67, 106, 121, 136, 153, 177, 211, 229, 247, 257f., 293, 316, 337f., 342, 346, 360, 439, 484 Möbius, Hanno 248, 261
501 Moliere 445 Molina, Tirso de 457 Möller, Eberhard Wolfgang 301f. Molotow, Wjatscheslaw Michailowitsch 265 Monk, Egon 124, 304, 306, 471–473, 475– 478, 482f., 492 Montaigne, Michel Eyquem de 207 Montesquieu 362 Mozart, Wolfgang Amadeus 164, 169, 171 Moz˙ejko, Edward 434 Müller, Andrè 349 Müller, Ernestine 339 Müller, Heiner 13, 57, 71, 76, 82, 91, 125– 128, 132 Müller, Irmgard 338 Müller, Klaus-Detlef 21, 67, 106, 121, 136, 153, 177, 211, 229, 247, 293, 316, 360, 484 Müller, Tim B. 179 Müller, Traugott 297 Müller-Schöll, Nikolaus 12f., 67, 70, 76f., 82, 85–87, 156 Muñiz, Carlos 461 Muñoz Cáliz, Berta 459 Müssener, Helmut 385 Mussolini, Benito 184, 326, 456 Nahor, Asher 413, 422, 424, 427 Napiontkowa, Maria 435, 449 Naremore, James 487 Navon, Arie 425 Neher, Carola 304, 348f. Neher, Caspar 16, 18, 270, 274f., 279, 289– 292, 295–298, 300, 300–310, 339 Neher, Edith 340 Neiman, I.M. 424 Netzer, Shraga 423 Neumüllers, Marie 167 Neureuter, Hans Peter 360 Ney, Michel 324 Niemorowicz-Danczenko, Wladimir 397 Niessen, Carl 296f. Nietzsche, Friedrich 14, 157f., 166, 325 Nieva, Fransico 466 Nissimov, Nissim 105 Nitzschke, Helmut 479, 491
502 Nitzschmann, Erich 481 Nolte, Ernst 184–186 Noltelius, Rainer 386 Notowicz, Nathan 109 Novalis 164 Nowara-Matusik, Nina 17, 401, 438 Nurmi, Saavo 34 O’Casey, Sean 461 O’Doherty, Brian 71 Off, Carl 309, 368, 478, 480, 483f., 491 Olmo, Lauro 458 O’Neill, Eugene 459 Opitz, Michael 103, 308 Oppenheimer, Joseph Süß 278 Oppenheimer, Robert 50 Oscarsson, Stina 392 Ossietzky, Carl von 313–315, 323 Österreich, Volker 111, 330, 402f., 418, 470 Ostheimer, Therese 339 Otto, Teo 110, 299, 308, 421, 424 Ottwalt, Ernst 470 Overesch, Manfred 38 Pabst, Georg Wilhelm 470, 480, 485 Pacheco, Jesús López 458, 464 Paco, Mariano de 460, 465 Paczkowski, Andrzej 181 Paffenholz, Alfred 257 Palitzsch, Peter 470, 475f., 479f., 482, 484f., 491 Palmer, Amanda 368 Panné, Jean Louis 181 Parker, Stephen 269, 274, 279f., 338, 341, 345, 347, 426, 429 Parks, Suzan-Lori 359 Partecke, Mira 108 Pavis, Patrice 416 Payrhuber, Franz-Josef 219f. Peiter, Anne D. 170 Peláez, Andrés 462 Persson, Annika Ruth 394 Petelski, Czesław 471 Pike, David 69 Pinkert, Ernst-Ullrich 214 Pinter, Harold 459
Namenregister
Pintus, Kurt 295 Pirandello, Luigi 459 Piscator, Erwin 32, 40, 42, 247, 262, 297, 300, 309, 397, 455 Platon 57f., 143f. Plievier, Theodor 184 Poldner, Axel 342 Pomianowski, Jerzy 444 Popiel, Jacek 440 Porat, Orna 425, 427f. Porter, Andrew 170 Pozner, Vladimir 481 Prego, Adolfo 458 Prem, Georg 294 Preußen, Wilhelm von 326f. Priestley, John Boynton 459 Proll, Jens-Peter 472 Prykowska-Michalak, Karolina 13, 91 Quidde, Ludwig
313
Rabelais, François 417 Raddatz, Frank M. 12, 45 Raddatz, Fritz J. 261 Raguse, Günter 486 Rajch, Marek 438, 446 Ramos, Enrique Navarro 456 Ramthun, Herta 78, 191, 231 Rankl, Karl 110 Recht, Oskar Camillus 342 Regler, Gustav 184 Reich, Bernhard 247 Reichardt, Sven 188 Reichel, Käthe 351 Reigbert, Otto 295 Reinhardt, Max 21, 125, 270, 295, 344, 349 Reinhold, Lenz Jakob Michael 292 Reutter, Hermann 103 Reyher, Ferdinand 69f. Rheinberger, Hans-Jörg 51 Rice, Tamir 357 Richards, Jeffrey H. 372 Richter, Erika 491 Richter, Hans 33f. Rienäcker, Gerd 113, 170 Ritsch, Felicitas 491
Namenregister
Rivera, Diego 264 Robeson, Paul 480 Rodríguez Richart, José 460 Rohrwasser, Michael 181, 187 Rokem, Freddie 418f., 429 Romano, Vicente 458, 463 Ronen, Ilan 417 Rossini, Gioachino Antonio 169f. Rougemont, Denis de 207 Rovina, Hanna 421, 423f. Rowohlt, Ernst 120, 261, 283, 314f., 337 Rozik, Eli 429 Rudzki, Kazimierz 437 Rülicke, Käthe (Rülicke-Weiler, Käthe) 257, 351, 472, 474–476 Rumler, Andreas 241 Russer, Achim 290 Rytlewski, Ralf 433 Saal, Friedrich-Wilhelm 38 Sachs, Nelly 385 Sagriotis, Giorgaos 156, 158 Sallustius, Gaius Crispus 193 Salvat, Ricard 457 Santesson, Gertrud Paulina Nina 386 Sartre, Jean-Paul 145, 157, 348, 459 Sastre, Alfonso 455, 465 Sauerland, Karol 181, 187, 439–441, 444 Sauter, Willmar 385 Schafer, Carol 359 Schall, Ekkehard 472, 477, 491f. Schauwecker, Franz 316, 321f. Schebera, Jürgen 108, 113, 172 Schiller, Friedrich 128, 307, 331 Schiller, Leon 440–442, 444–446 Schivelbusch, Wolfgang 178 Schleef, Einar 71, 128 Schlegel, Hans-Joachim 253f., 256, 263 Schlichter, Rudolf 39 Schlöndorff, Volker 479, 486–490, 492 Schmieden, Susanne 262 Schmitt, Carl 323f. Schneider, Rosa 373 Schneider, Ursula 104 Schnell, Christiane 290, 303 Schnell, Ralf 15, 247, 248, 257
503 Schnyder, Peter 262 Schoenberner, Gerhard 306 Scholdt, Günter 184 Scholz-Lübbering, Hannelore 16, 337 Schönberg, Arnold 365 Schopenhauer, Arthur 14, 157, 166f. Schostakowitsch, Dmitri 480 Schöttker, Detlev 210 Schröder, Jürgen 55, 476 Schubert, Franz 110, 169 Schuh, Oskar Fritz 301 Schulte, Götz 108 Schulte, Joachim 58 Schulte, Philipp 70 Schulz, Gudrun 135, 214 Schumacher, Ernst 291f., 294, 305, 309 Schumacher, Renate 291f., 294, 305, 309 Schumann, Gerhard 301–303 Schwaen, Kurt 103–105 Schwarzwald, Eugenie 38, 332, 347, 421 Schweikart, Hans 11, 291, 309 Schwibs, Bernd 290 Schwinghammer, Torsten 402 Schygulla, Hanna 488 Seghers, Anna 241 Seitz, Robert 45, 56, 62, 103 Semmer, Gerd 349 Sender, Ramón J. 454 Serres, Michel 51, 53, 55, 64 Seton, Marie 253, 263f. Shakespeare, William 76, 278, 415, 445 Shamir, Moshe 425 Shapiro, Nat 367f. Shaw, Jonathan 368f. Shdanow, Andrei 260, 265 Shoef, Corina 428f. Shull, Ronald K. 113 Siebert, Bernhard 70 Sieg, Katrin 367 Siegmund, Gerald 70, 77 Sieradzki, Jacek 438 Signoret, Simone 484 Silberman, Marc 414 Simone, Nina 16, 357, 367–371, 377 Sinclair, Upton 264, 396 Sinisterras, José Sánchez 466
504 Sjöberg, Alf 397 Skop, Michał 439 S´liwin´ska, Katarzyna 433f., 437 Sloterdijk, Peter 59, 64 Slupianek, Benno 405 Smith, Anna Deavere 358 Snyders, Timothy 180, 188 Sokorski, Włodzimierz 435, 444 Söllner, Alfons 184 Sophokles 47, 191 Sordo, Enrique 455 Souvarine, Boris 14, 177, 180–187 Spoto, Donald 155 Sprenger, Karoline 14, 169, 209 Srych, Josef 485 Staadt, Jochen 439 Stachorski, Stephan 185 Stalin, Josef 14, 24, 69, 108, 177, 180–187, 264f., 304, 396, 447, 449 Stam, Robert 309, 487 Stanek, Zdzisław 450 Stanislawski, Konstantin 77, 126, 397, 443 Staudte, Wolfgang 469f., 479, 481–486 Stauffenberg, Claus Philipp von 14, 199 Steckel, Leonard 304 Steffensen, Steffen 210 Steffin, Margarete 69, 234f., 237, 284, 338, 345f., 349f. Steinecke, Hartmut 292 Steinweg, Reiner 104, 106, 109, 113, 140 Stengers, Isabelle 55 Sternberg, Fritz 40 Sternburg, Wilhelm von 237 Steyerl, Hito 71 Stieß, Immanuel 76 Stiller, Robert 448 Stirner, Max 167 Straßmann, Fritz 94 Straub, Jean-Marie 479, 489f., 492 Strauß, Richard 166, 349 Strehler, Giorgio 458 Stresemann, Gustav 313 Strittmatter, Erwin 86, 472 Sugiera, Małgorzata 440 Suhrkamp, Peter 347, 404 Suschke, Stephan 94, 124f.
Namenregister
Sussman, Ezra 428 Sˇvrljuga, Zˇeljka 359 Swedenmark, John 394 Swinarski, Konrad 438, 449f. Syberberg, Hans Jürgen 473 Sykora, Katharina 33 Symonette, Lys 155 Szczepan´ski, Jan Alfred 446–449 Szewczyk, Graz˙yna Barbara 17, 385, 388 Tabori, George 368 Tairow, Alexander 397 Tamayo, Ramón 458 Tatlin, Wladimir 396 Tennessee, Williams 459 Tenschert, Joachim 471 Testa, Carlo 489 Thacker, Eugene 62 Thamer, Hans-Ulrich 303 Thate, Hilmar 483 Thomsen, Peter 421 Toch, Ernst 103 Toeplitz, Jerzy 264 Toller, Ernst 231, 455 Tolstoi, Leo 162 Tombrock, Hans 386 Topitz, Anton Maria 110 Topol, Chaim 473 Torre, Amelia de la 454 Traven, Bruno 274 Tretjakow, Sergiej 247, 262, 390, 397 Tretow, Christine 292, 296, 310 Trotta, Margarethe von 488 Trotzki, Leo 181f. Truman, Harry 201 Trump, Donald 359 Tschechow, Anton 126, 435 Tse-Tung, Mao 201 Tucholsky, Kurt 39, 319, 323 Ulbricht, Walter 403f., 439 Unglaub, Erich 214 Valentin, Karl (Valentin Ludwig Fey) 469 Vanoosthuyse, Michel 216
505
Namenregister
Vaßen, Florian 13, 104, 110f., 113, 117, 123, 127f., 137, 140, 145–147, 158, 170– 172 Vega, Lope de 154, 464 Ventura, Lino 485 Verdi, Giuseppe 169f. Vesper, Will 218 Viertel, Berthold 70, 237–239 Viveiros de Castro, Eduardo 45, 55, 63 Vogel, Peter 479, 492 Voltaire 362 Wachowiak, Jutta 472 Wachowski, Andy 47 Wachowski, Larry 47 Wagner, Frank D. 16, 313 Wagner, Richard 164f., 261 Wagner-Regny, Rudolf 308 Warstat, Matthias 92 Washburn, Sigrid 230f., 233, 235–237, 241 Watson, Jenifer 386 Weber, Carl Maria von 124, 169 Weber, Claudia 187 Weber, Kurt 471, 477 Weber, Samuel 83 Wedekind, Frank 276, 340 Wege, Carl 27, 34 Weigel, Helene 9, 16, 67, 69, 87, 110, 285f., 304, 338, 343–345, 347–352, 386, 390, 439, 442f., 446, 452, 471, 477, 484, 488f., 491 Weigel, Stefan 348 Weill, Kurt 14, 25, 103f., 106–108, 147, 153–155, 157, 159–163, 165, 168–172, 300, 346, 367f., 370, 448, 458 Weischedel, Wilhelm 329 Weisenborn, Günther 241 Weiss, Peter 385, 438, 459 Weisstein, Ulrich 153, 156, 169 Wekwerth, Manfred 110, 470–472, 475f., 479f., 482–485, 491 Wellershoff, Dieter 323 Welzer, Harald 60 Wenders, Wim 490 Wendrich, Thomas 108 Wengierek, Reinhard 99
Werfel, Franz 284 Werth, Nicolas 181, 483 Wessendorf, Markus 16, 357 Wewerka, Alexander 91 Wexley, John 470 Weyergraf, Bernd 433 Wieden, Ruth 481 Wilder, Thornton 459 Wilhelm II. 9, 293 Wilke, Judith 73 Willett, John 108 Wilson, August 376 Wippermann, Wolfgang 181, 183f., 186, 188 Wirth, Andrzej 109, 110, 450 Wirth, Franz Peter 473, 476 Witte, Karsten 487 Wittgenstein, Ludwig 40 Wizisla, Erdmut 121, 166, 348, 403, 488 Wójcicki, Bolesław 443 Wolf, Alfred Ari 413, 418 Wolf, Friedrich 241 Wolf, Michael 99 Wolf, Thomas 307 Wolfradt, Willi 297f. Wuolijoki, Hella 350 Yamamoto, Yuzo 373 Yaron, Elyakim 414 Yerushalmy, Rina 415 Yuris, A.S. 420 Zeilinger, Doris 147, 159, 170 Zeitler, Andreas 103 Ziegler, Jean 333f. Zielin´ska, Mirosława 450 Zielin´ski, Przemysław 449 Zinoman, Jason 368 Zˇizˇek, Slavoj 62 Zoff, Marianne (Ma, Mar, Maorifrau) 338–343, 349, 478 Zorn, Leif 331, 392f. Zuckmayer, Carl 344 Zussman, Ezra 414, 422f., 425 Zweig, Arnold 231, 241, 283f., 338 Zybura, Marek 450
16,