Erinnerungen eines Davongekommenen : Die Autobiographie
 9783462037722

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RALPH GIORDANO

Erinnerungen eines Davongekommenen Die Autobiographie

Kiep^nheuer & Witsch

i. Auflage 2007

© 2007 by Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Umschlaggestaltung: Linn-Design, Köln Umschlagmotiv: © Thomas Müller/Agentur Focus Gesetzt aus der Stempel Garamond Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling Druck: Druckerei C. H. Beck, Nördlingen Bindung: Ludwig Auer GmbH, Donauwörth ISBN 978-3-462-03772-2

Der Schoß oder Vorleben............................................................

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Elysium oder Das erste Leben (1923-1934) ..........................

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Hiob oder Das zweite Leben (1934-1945)

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Irrtum und zweite Schuld oder Das dritte Leben (1945-1961)

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Fasten your seatbeit oder Das vierte Leben (1961-1982) ......................... 333 Der Kreative Kreisel oder Das fünfte Leben (1982-2007)......................... 415

Davongekommen oder Ein Epigramm

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DER SCHOSS oder VORLEBEN

Bezeichnenderweise begann mein Leben mit einem Malheur, von dem es schon am Tag meiner Geburt fast beendet worden wäre ich drohte zu ersticken. Es war der späte Nachmittag des 20. März 1923, in der Heit­ mannstraße des Hamburger Stadtteils Barmbek. Retterin wurde die Großmutter mütterlicherseits, Selma Lehm­ kuhl, geborene Seligmann. Uber anderthalb Tage hin zog sie ohne Unterbrechung mit dem kleinen Finger ihrer rechten Hand aus meinem winzigen Schlund ein dickflüssiges Sekret, das die Atem­ wege blockierte und die Funktionen von Herz und Lunge außer Kraft zu setzen drohte. Arzte wurden übrigens nicht zu Rate gezogen - über die Gründe weiter unten. Die Aktion gelang dennoch - ich war das erste Mal davonge­ kommen und meinen Eltern, Lilly und Alfons Giordano, Jahr­ gänge 1897 und 1896, erhalten geblieben. Von alldem habe ich selbstverständlich nichts mitgekriegt, wohl jedoch die über Sein oder Nichtsein entscheidenden sechs­ unddreißig Stunden von meiner Großmutter später so häufig um die Ohren geschlagen bekommen, daß meine Dankbarkeit noch bis heute, über fünfzig Jahre nach ihrem Tod, ungebrochen in mir weiterlebt. Wer war nun meine Lebensretterin, und was war ihre Ge­ schichte? In welche Sippe war ich da als ihr vorläufig jüngster Sproß hineingeboren worden, welchem genealogischen Schoß ge­ rade entsprossen? Fragen, die ich damals natürlich nicht beantworten konnte. Die später gewonnenen Kenntnisse darüber jedoch der Leserschaft vorzuenthalten hieße, sie geradezu kompaßlos jene Daseinspiste betreten zu lassen, die nach so lebensbedrohender Gefährdung der ersten Stunden über eine fast unendlich lange Strecke quer durch das mörderische 20. Jahrhundert bis ins erste Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts reichen wird. Ein Mirakel, vor dem ich immer noch fassungslos stehe, oft ge­ nug unentschieden, ob ich darüber nun lachen oder weinen soll.

Selmas Eltern, meine Urgroßeltern mütterlicherseits, Helene und Adolf Seligmann, beide um die Mitte des 19. Jahrhunderts geboren, wohnhaft in.der Heitmannstraße, seitab der Hamburger 9

Straße, waren Juden. Sie eine hochgewachsene Frau, stets in den knöchellangen Kleidern aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, mit hoheitsvollen Zügen und tiefer Stimme; er um einen Kopf kleiner, ein gutmütiges Gesicht, dessen Lächeln in einem holz­ gerahmten Foto verewigt ist. Langjährig erfolgreicher und hochgeschätzter Mitarbeiter gro­ ßer Kurzwarenfabriken (Nadeln, Knöpfe, Schnallen, Nähfäden, Bänder, en gros - en detail), war Adolf Seligmann weit über die Weichsel hinaus ins damalige Zarenreich gedrungen - und dort, im Ghetto von Winniza, Zeuge eines Pogroms geworden. Das Schtetl brannte lichterloh, nicht nur die Häuser, auch Menschen. Der Fremde aus Deutschland blieb verschont, soll sich aber von dem Schrecken nie erholt haben. Stellten sich danach doch Visio­ nen und Alpträume ein, die Helene Seligmann nur mühsam be­ schwichtigen konnte. Der Grad ihrer Assimilation muß sehr hoch gewesen sein. Wohl fand sich Jüdisches in der geräumigen Wohnung an - so etwa eine mächtige Menora, der jüdische Leuchter, die schmale, am rechten Haustürpfosten bei Abschied und Ankunft zärtlich berührte Mesusa oder auch Kerzen, wie sie zu Pessach angezün­ det werden. Aber das war eher kryptisch, nach innen gewandt, undemonstrativ. Besuche einer Synagoge, gar regelmäßige, sind nicht überliefert. Aus meinen Begegnungen mit Oma Lene und Opa Adolf, über die noch zu berichten sein wird, gewann ich den Eindruck zweier sanfter Menschen, von denen nie ein lautes Wort kam. Das war kein Ausdruck von Furcht, sondern von selbstver­ ständlicher Zugehörigkeit, ein Zustand ohne Bedrohung, da sich nach Meinung der Urgroßeltern die Pogrome von Winniza in Deutschland nicht ereignen könnten.

Ein völlig anderes Temperament war ihre Tochter Selma. Klein, immer in Bewegung, stets ein wenig vornübergebeugt, als wollte sie den nächsten Gegenstand rammen, und mit ihrer ge­ meißelten Physiognomie schön wie der ganze mütterliche Zweig, war sie ein Mensch, der ständig andere berief, ein vibrierender Dauerzustand, aus dem sie offenbar die Energien für jene Richter­ pose gewann, die sie gegenüber jedermann bezog. Ihren moralischen Ausfällen nach muß sie die Inkarnation io

perfekter Tugend gewesen sein. Ein Bild, das unweigerlich kol­ lidierte mit jener folgenschweren Jugendsünde, über die, wenn überhaupt, in der Familie nur gewispert wurde, der ich aber die Mutter verdanke. Eben zwanzig Jahre geworden und ein Ausbund an fraulicher Attraktion, genas Selma Seligmann am 16. Januar 1897 in der el­ terlichen Wohnung eines weiblichen Säuglings - gesund, aber un­ ehelich. Vater war Skalla - mehr ist nicht überliefert von jenem adonishaften Polen, den Selma irgendwo in der Hamburger In­ nenstadt kennengelernt und ihren zunächst sehr zurückhaltenden Eltern vorgestellt hatte. Deren Vorbehalte allerdings zerstoben rasch, und das nicht etwa, weil der Gast aus Warschau sich als wohlhabend, ja sogar reich entpuppte, sondern auch als Jude (die Merkmale seien unverkennbar gewesen, wie Großmutter Selma mir in reiferen Jahren mit völlig ungewohnter Verschämtheit ein­ gestand). Was Wunder also, daß seinerzeit sogar von Vermählung des blendend aussehenden Paares die Rede gewesen war. Ein Vor­ satz allerdings, der sich sehr bald schon zerschlagen haben muß. Denn der prachtvoll gebaute und mit materiellen Gütern geseg­ nete Bräutigam in spe aus Warschau verschwand so rasch wie aus­ dauernd - ohne daß die Verlassene je ein Wort über die Ursache des Abgangs verloren hätte. Ohnehin war zu keinem Zeitpunkt strittig, welches Motiv den Flüchtling bewogen haben konnte, sein Heil in spurloser Abwesenheit zu suchen - nämlich eben­ jene krankhafte Streitsucht, mit der Selma dann den Mann über­ ziehen sollte, der, kein Jude und von ihrem Aussehen geblendet, sie zu Anfang des 20. Jahrhunderts geheiratet, ihr seinen Namen gegeben und für diesen Schritt ein ganzes Leben lang zu büßen hatte - Rudolph Lehmkuhl. Ein Mensch, den ich später kennengelernt habe als ein Musterbei­ spiel von Zuverlässigkeit, ein Inbegriff von Güte, Nachsicht und wortlosem Leiden. Mehr von ihm an geeigneter Stelle - wie auch von den guten, ja, herzensguten Seiten, die meine Großmutter wi­ dersprüchlicherweise in hohem Maße aufzuweisen hatte. Die uneheliche Frucht jener ebenso stürmischen wie auch rasch wieder zerbrochenen deutsch-polnisch-jüdischen Liaison wurde Ende Januar 1897 in das Hamburger Geburtsregister als Lilly Sophie Seligmann eingetragen, mit dem wahrheitsgemäßen Vermerk Mosaisch in der Rubrik Religionszugehörigkeit.

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Ihren leiblichen Vater hat sie nie kennengelernt. Einmal soll sie, so wurde geraunt, im Kindesalter auf offener Straße von einem Passanten plötzlich in die Arme gerissen worden sein, einem Mann von großer Statur, der sie herzte und küßte und dem da­ bei die Tränen aus den Augen liefen, während er heiser ihren Na­ men rief. Ob es sich dabei um jenen Skalla handelte, der Selma geschwängert hatte, blieb aber mit so manch anderem unbeant­ wortet und in jenes Dunkel gehüllt, das ohnehin über Selmas er­ ster Lebenshälfte waberte. Ich kenne meine Mutter übrigens nur unter ihrem Vornamen Lillv, der zweite - Sophie - wurde nie bemüht. Wir Kinder, nach meinem älteren Bruder und mir werden noch zwei Geschwister dazukommen, haben sie stets »Mutti« gerufen. In ihrer Jugend war sie ein schmales Geschöpf, mit schwarzer Flaarpracht, rasch erblühend nach dem Muster der weiblichen Vorfahren und auffallend unter den Mädchen ihres Alters. Fotos weisen ein alabasternes Gesicht mit erwartungsvollen Augen aus, forschend und zurückhaltend zugleich um sich schauend, die Nase vielleicht etwas zu groß für die Feinzeichnung eines Antlitzes, das aber vielleicht gerade dadurch seinen typischen Ausdruck erhielt. Es waren nicht die Fittiche der leiblichen Mutter, unter denen sie aufwuchs, sondern die ihrer Großeltern in der Heitmannstra­ ße - wahre Beschützer und Erzieher waren Helene und Adolf Seligmann. Offenbar führte Selma ein Leben, das wirkliche Mut­ terschaft nicht zuließ, wenngleich zur Erleichterung der ewig ban­ genden Eltern ohne eine zweite Schwangerschaft. In der Schule galt Lilly Seligmann als intelligent, aufmerksam und immer bereit, Mitschülerinnen zu helfen oder ihnen von ih­ ren gutbelegten Broten anzubieten. Es lag ihr sichtlich daran, mit jedermann in Frieden und Einvernehmen zu leben. Natürlich ge­ lang das nicht immer. War sie dann wieder zu Hause, konnten die Großeltern sofort an ihrer Miene ablesen, was sich an diesem Tag in der Schule zugetragen hatte. Meist jedoch ging und kam sie fröhlich, zutraulich, lachbereit - Lilly Seligmann öffnete der Welt bereitwillig ihr Herz. Teilte es auch verströmend aus an Tiere, ver­ rückt nach allem, was da kreuchte und fleuchte, besonders aber nach Katzen und Hunden, also Tieren mit Fell. Wo immer sie ih­ nen begegnete, schmolz sie nur so dahin, ob auf der Straße oder in der Wohnung der Großeltern, die die Vorliebe der Enkelin sofort 12

erkannt hatten und ihr das Glück auch häuslicher Liebkosungen mit Tieren verschafften. Dann jedoch, im fünften Schuljahr, sie war elf, geschah etwas, das nur geflüstert durch die Familiengeschichte geisterte. »Für den Aufsatz über das friedliche Zusammenleben deiner Hunde und Katzen hättest du zwar die Note i verdient, aber weil du eine Jüdsche bist, gebe ich dir eine 3.« So 1908 ihr Lehrer vor Verteilung der Hefte boshaft unter vier Augen. Wenn meine Mutter sich daran erinnerte, dann stets mit so plastischer Schilderung, als wäre es erst gestern gewesen. Am Ende die Mitteilung, daß der Lehrer rasch verschwand, als Lilly zu schluchzen begonnen hatte. Wahrscheinlich hätte sie diesen Vorfall dennoch weniger scharf bewahrt, wenn jener Ungeist nicht als Keim und Vorbote eines noch in weiter Zukunft liegenden und ungleich größeren Schrekkens in ihr, in unser Leben getreten wäre. Erst dieses Fegefeuer wird dafür sorgen, daß sich die frühe Begegnung mit einer spezi­ fischen Feindschaft im Sippengedächtnis so unversehrt erhalten hat - bis heute. Ebenfalls früh zeigte sich die musikalische Begabung meiner Mut­ ter - auf dem Klavier. Und wieder waren es ihre Großeltern, die sie förderten und pflegten, mit eigenem Instrument zu Hause und privilegiertem Platz an einem renommierten Hamburger Konser­ vatorium. Dessen Leiter - ein Herr Mußmann in meiner akusti­ schen Erinnerung - wurde nicht nur zum begeisterten Förderer ihrer Fähigkeiten, sondern soll an der inzwischen neunzehnjäh­ rigen Schönheit auch ein persönliches, wenngleich vergebliches Interesse geäußert haben. Denn Lilly Seligmann wird sich nicht für den Direktor des Konservatoriums entscheiden, sondern für einen ihrer Mitschüler. Was zur väterlichen Seite überleitet und damit zur pompöse­ sten Begegnung meiner Kindheit - zu Rocco Giordano. Ein zunächst genialisches Leben, das seinen genialischen Ur­ sprung auf Sizilien hatte, aber abgrundtief fremd und verlassen in Deutschland endete. Geboren am 9. Januar 1865 in Riesi, einer Kleinstadt im Regie­ rungsbezirk Caltanise.tta, wird seine Jugend bis in mein achtzig­

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stes Lebensjahr im dunkeln bleiben, dann aber, begleitet von einem wahrhaften biographischen Wunder, unerwartet erhellt werden. Davon zu seiner Zeit. Was ich kenne vom Aufstieg und Fall des Sizilianers, das weiß ich von meiner Großmutter und seiner Frau Emma, geborene Schoultz, Kind eines Schweden und einer Dänin. Als die beiden aufeinandertrafen, 1895 in Hamburg, war Roc­ co Giordano bereits ein berühmter Mann - der Maestro des Erst­ klassigen Blasorchesters Giordano unter der persönlichen Leitung des Sizilianers Rocco Giordano aus Palermo -, so zu lesen in groß­ formatigen Programmankündigungen. Die wiesen als Stationen der Banda aus: Zoologischer Garten, Deutsche Musikhalle, Kö­ nigs-Cafe, Berlin; Zeltgarten, Breslau; Central-Halle, Hamburg; Walhalla, Lüttich; Trädgardsföreningen, Göteborg; Buff, Mos­ kau; Eremitage, Kasan; dazu Konzertsäle in Jalta, Paris, London und Konstantinopel - eine unvollständige Liste. Vollständig dagegen war die Aufzählung des Repertoires in den Programmankündigungen - unglaubliche 250 Märsche, 25 Polkas und 24 Mazurkas! All das nach Ziffern geordnet und un­ ter Namensangabe der Komponisten, ein endloser Katalog, dem in kursiver Schrift die Lieblingswerke des Kapellmeisters ange­ fügt waren - Carl Maria von Webers Aufforderung zum Tanz, Ponchiellis La danza delle ore, Beethovens Egmont und die Ou­ vertüre von Rossinis Wilhelm Teil. Verschlissene Fotos, noch in der Manier der Daguerreotypie, zeigen den maestro in der Mitte seiner Musiker als einen Grand­ seigneur alter Schule - auf einen leicht gebogenen Säbel gestützt, in kordelbesetzter paramilitärischer Uniform, die linke Brust ordengeschmückt, über der rechten Schulter eine lange Schär­ pe in den Nationalfarben des Königreichs Italien und auf dem erhobenen Haupt herrisch eine beschirmte Mütze mit hellem Federbusch. Die Federn auf den Kopfbedeckungen der Bläser, fünfzehn gesetzte, lächellos dreinschauende Männer, waren dun­ kel. Ihre Instrumente in der Hand, außer einer gewaltigen, vor dem Philharmonischen Blasorchester protzig placierten Trommel, saßen sie in unleugbar verschüchterter Pose da. Die war begründet genug, hatte der an strenger Disziplin unüber­ bietbare Choleriker Rocco Giordano doch einmal seinen Posauni­ 14

sten mit einem Faustschlag niedergestreckt, als der mit seinem Part um den unhörbaren Bruchteil einer Sekunde zu spät eingesetzt hatte. Seither sollen die Orchestermitglieder dem Maestro auf das Zucken seiner Braue gehorcht, etliche aber auch nach Fluchtmöglichkeiten Ausschau gehalten haben. Absichten, die der Dirigent mit dem de­ monstrativen Kauf einer Pistole, Marke Beretta, quittierte und der gleichzeitigen Ankündigung, er werde jeden von ihnen, der sich le­ bensmüderweise zu absentieren versuche, verfolgen, wenn nötig bis ans Ende der Welt, um ihn dort an Ort und Stelle niederzustrecken, und zwar eigenhändig und ohne zu zögern. Nun trat zwar niemals der Ernstfall ein, wohl aber das, was spä­ ter in Kollegenkreisen gern als Debakel von Malmö bezeichnet werden sollte. Nach zwei vorangegangenen und glänzend verlaufenen Gast­ spielen in die schwedische Hafenstadt zurückgekehrt, war der Ge­ feierte schon an der Pier von tosenden Musikstudenten, jubelnd und kreischend vor Begeisterung, auf die Schultern gehoben und hoch in die Luft geworfen worden. Während der Kopf des Ge­ feierten dabei so sehr rötlich anschwoll, daß er zu platzen droh­ te, und seinem Mund in höchstem Diskant unartikulierte Laute entfuhren, umklammerte er mit beiden Händen krampfhaft die hintere seiner Hosentaschen - wo die Beretta steckte. In begreif­ licher Sorge, das jugendliche Ungestüm könnte die stets gela­ dene Pistole mit fürchterlichen Folgen zur Entladung bringen, muß Rocco Giordano wahre Höllenqualen ausgestanden haben, zumal das Begrüßungsritual andauerte. Denn vom Kunstenthu­ siasmus seiner Bewunderer buchstäblich übermannt, konnten Roccos wechselnde Grimassen und fuchtelnde Arme von den Ahnungslosen nur als Zeichen höchster Zustimmung zu einem wahrhaft königlichen Empfang mißdeutet werden. Wie auch die Tatsache, daß er danach schluchzend und schweißtriefend zusam­ menbrach. Kein Wunder, wußte nach heimlichen Übungen doch niemand besser als er, von welch ungeheurer Durchschlagskraft jene handlich gedrungene Waffe war, die allein, wie er fest glaub­ te, ihn vor dem Ruin bewahren könne. Dann die Konzerte, die Auftritte, der Einzug des direttore der Töne. Gerade wie ein Baum vor dem Orchester postiert, gekleidet in seine dramatisch kolorierte Phantasieuniform, mit umgeschnall-

rem Säbel und heftig wippender weißer Feder auf der Mütze, troff dem Zuchtmeister bald das Wasser aus den Ärmeln, wäh­ rend den Bläsern schier der Atem ausgehen wollte, so stachelte der Maestro durch das eigene Beispiel die halb widerstrebenden, halb hingebungsvollen Musiker zu immer neuen Höchstleistun­ gen an - wenn nötig, siebenmal die Woche. Gipfel der Darbietungen aber war stets und überall sein großes Solo auf der Trompete - einmal zart, wie auf Grashalmen gezirpt, dann wieder mit mächtigen Stößen, als gelte es, die Mauern von Jericho ein zweites Mal zu brechen, während das Publikum im Parkett, wie gelähmt vor Schreck und Entzücken, ihn stumm anbe­ tete, ehe es nach dem letzten Ton in frenetischen Jubel ausbrach. Und so führte denn der aus dem Dunkel seines Vorlebens phönixartig auf der Bühne des europäischen Konzertlebens er­ schienene Sizilianer an der Wende des 19. zum 20. Jahrhundert sein Philharmonisches Blasorchester Giordano zwischen Großbri­ tannien und der Krim, Skandinavien und dem Balkan, in Paris, Warschau und St. Petersburg (wo ihm Zar Nikolaus II. einen kostbaren Dirigentenstab schenkte) von einem Höhepunkt zum andern, überall triumphal empfangen und trauernd verabschiedet, Berserker der Kunst, begnadeter Musiker, unerträglicher Chef und - zärtlicher Vater. War der Vereinigung und Vermählung mit der halben Schwedin, halben Dänin Emma doch am 15. Dezem­ ber 1895 ein Sohn entsprossen - Alfons Giordano, mein Vater. Geburtsort war Hamburg, quasi die geographische Mitte ihres rastlosen Nomadentums, wo Rocco und Emma festes Quartier ge­ nommen hatten: in der Roonstraße 31, Stadtteil Hoheluft, drei Trep­ pen hoch, unterm Dachboden und nach hinten hinaus. Zweieinhalb Zimmer, kleiner Balkon, Küche, Toilette, kein Bad, aber eine Ab­ stellkammer. Und das, ohne daß der exotische Mieter samt seinem Anhang eine Ahnung davon haben konnte, welche Art von Dauer­ refugium daraus in nicht allzu ferner Zukunft werden sollte. Man schrieb das Jahrzehnt vor 1914. Damals veränderte sich Rocco Giordano sichtlich - der Sohn machte ihn zugänglicher, weicher. Wo auch immer auf dem Kon­ tinent gastiert wurde, überall zeigte er sich als närrischer Vater, stolzgeschwellt und jede Minute, die er erübrigen konnte, für das Kind da. Das hockte selig auf dem Schoß seines Erzeugers und ließ sich von ihm, schnurrend wie ein Kätzchen, sanft die Ohr­

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läppchen zwischen Daumen und Zeigefinger zwirbeln - rühren­ des Bild und Idylle, die nicht andauern sollten. Stand das Leben von Alfons Giordano doch unter dem Un­ stern einer frühen Fehlbeurteilung, unter der mein Vater bis an sein Ende geprägt bleiben sollte. Es war während einer Orchesterprobe, irgendwo in Europa, so um die Jahrhundertwende herum: die Kapelle - Bläser und Trommler - in voller Probe, der ganze Klangkörper wie ein ein­ ziges Wesen fixiert auf den Maestro, dessen Taktstock aus dem Blech die schrillsten und zartesten Töne hervorzauberte, und all das eingehüllt in eine Wolke von Staub und diffusem Licht. Da geschah es. Der Vierjährige hatte sich im Rücken des Vaters auf das Podium geschlichen und dort so wild mit einem aufgelese­ nen Stab zu hantieren begonnen, daß er jeden Augenblick in den Schacht vor der Bühne zu fallen drohte. Von den ebenso besorgten wie gleichzeitig ergriffenen Musi­ kern vorsichtig auf das ekstatische Kind aufmerksam gemacht, wandte der Sizilianer sich um, ließ überwältigt die Hände sinken, regungslos, ehe er in der fürchterlichen Mischung aus Deutsch und Italienisch, die zur Lingua franca der Familie geworden war, fassungslos und immer wieder ausrief: »Einär Wundärki-ind, einär Wundärki-ind! Figlio mio isse einär Wundärki-ind!« Dann gab er den Männern das Zeichen zum Weiterspielen, überließ, demonstrativ zurücktretend, dem fuchtelnden Sohn die Rolle des Dirigenten und schloß ihn nach den ersten Anzeichen von Erschöpfung weinend in die Arme: »Einär Wundärki-ind, einär Wundärki-ind ...« Unter diesem Begriff - Wunderkind - wuchs er auf, obwohl sich der Auftritt nicht wiederholte oder sonst irgend etwas ein­ trat, was auf ein Feuer, eine innere Entflammung für den Musiker­ beruf hätte hindeuten können. Die Folgen waren verheerend. Mein Vater hat nie eine kontinuierliche musikalische oder schuli­ sche Ausbildung erhalten. Sie ging unter in dem hektischen Trubel einer väterlichen Karriere, die sich immer noch steigerte, sich steiler und steiler hochschraubte und den Sizilianer bis zur Urkatastrophe von 19.14 zu einem der Orchesterleiter seines Zeitalters machte. Der Absturz war denn auch jäh, grausam und endgültig. Der Eintritt Italiens in den Krieg gegen das deutsche Kaiscr17

reich und seine Verbündeten am 23. Mai 1915 zerstörte dieses Le­ ben auf einen Streich. Die Musiker kamen Rocco Giordano kopflos abhanden, verlie­ fen sich einfach, stoben in alle Winde, feindliche Ausländer nun, wie er, der mit Sohn und Frau in jener Wohnung der Roonstraße 31 im Hamburger Stadtteil Hoheluft strandete, die eigentlich nur als Notposten zwischen den furiosen Auftritten quer durch den Kontinent angemietet worden war, doch nun zum Daueraufent­ halt wurde. Rocco Giordano blieb in Deutschland, ohne jeglichen Versuch, nach Italien oder gar Sizilien zurückzukehren. Seinen Lebensunterhalt verdiente der Triumphator von gestern als Angestellter einer Schneiderei in der Hamburger Innenstadt, ein kultureller und sozialer Abstieg sondergleichen. Was mag vorgegangen sein in diesem Herrscher über Orchester und Publi­ kum, wenn er die Nadel durch die Stoffe fremder Leute zog und allabendlich heimkehrte zu einer Frau, die er nicht liebte, und der unter einem Himmel lebte, der keine Ähnlichkeit mit dem sizilia­ nischen Firmament hatte? Ohne alle Pläne in seinem alten Beruf, inzwischen über fünf­ zig, mag seine einzige Hoffnung bestanden haben in einer großen Karriere des »Wun-där-kindes«. Die jedoch erfüllte sich nicht. Auf dem Hamburger Konservatorium des Direktors Mußmann blieb Alfons Giordano schülerhafter Durchschnitt, ein Pianist nicht ohne handwerkliches Können, aber bar jeden künstlerischen Funkens. Und so wurde dort denn nicht die Musik, wohl aber Lilly Seligmann sein Schicksal - und er das ihre. Aus allem, was ich den spärlichen Kommentaren meiner Eltern aus dieser Zeit entnehmen konnte, war der Beschluß zusammenzubleiben spontan gefaßt, mit einer sentimentalen Neigung der Braut, dem Gatten nach der Verehelichung 1922 hingebungsvoll zu dienen. Gewartet mit dem Vollzug hatten beide allerdings nicht - Sohn Egon, mein Bruder, war noch kurz vor dem Ja-Wort, am 8. November 1921, geboren worden, ein Jahr, vier Monate und zwölf Tage vor meiner Geburt. Die Zusammenkünfte des mütterlichen und des väterlichen Zwei­ ges müssen gespenstische Züge getragen haben, und das von An­ fang an.

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Unzählige Male habe ich versucht mir die erste Begegnung vorzustellen: hie Urgroßmutter Helene, Urgroßvater Adolf Selig­ mann und Tochter Selma samt deren Ehemann Rudolph Lehm­ kuhl - da der mediterrane Ex-Maestro mit seiner skandinavischen Frau Emma und, sozusagen zwischen den Fronten, die beiden Neuvermählten. Gesprochen wurde Deutsch, ein Idiom, das Rocco Giordano nur mangelhaft beherrschte und verstand, während keiner der Se­ ligmanns auch nur ein Wort Italienisch konnte. So kam es, wozu es irgendwann einmal kommen mußte - zu Mißverständnissen. Als nämlich im Verlauf der mühsamen Konversation das Wort »Kulo« fiel, sprang der Sizilianer mit hochrotem Kopf auf, schrie in seiner unnachahmlichen Mischsprache, er werde sofort gehen, und war auch dann nur mühsam zu beruhigen, nachdem das Miß­ verständnis geklärt war. »Kulo« war nämlich der Name eines Ge­ schäftsinhabers im Parterre des Hauses, wo das Rendezvous statt­ fand. Er fiel ohne jede Kenntnis, daß »culo« das italienische Wort für »Hintern« oder gar »Arsch« ist - wenn auch mit C geschrie­ ben und nicht mit K, was phonetisch ja nun in der Tat nicht zu unterscheiden ist. Seiner ganzen Verfassung nach konnte Rocco Giordano, ohnehin tief mißtrauisch gegenüber der fremden Fami­ lie, nur argwöhnen, daß er hier hinterrücks und hohntriefend mit Schimpfworten belegt werde. Kein Wunder, daß die Beziehungen zwischen dem mütterli­ chen und dem väterlichen Zweig der Sippe nie das wurden, was man innig hätte nennen können. Tatsache war vielmehr, daß sich hier Angehörige von Stämmen zweier verschiedener Planeten trafen, zufälligerweise aneinandergeraten durch den unumkehr­ baren Entschluß meiner Mutter, sich trotz Warnung ihrer Näch­ sten gerade diesen Partner zu erküren.

Lilly Giordano, nach Bewertung kompetenter Größen eine bedeu­ tende Hoffnung weit über das Hamburger Musikleben hinaus, gab zu deren Entsetzen mit der Eheschließung gleichzeitig auch alle professionellen Pläne auf. Einzige Verwertung ihrer gerühm­ ten Talente bestand darin, daß sie nach Umzug in die Hufnerstra­ ße ii 3. auf einem von Helene und Adolf Seligmann gestifteten Piano mehr oder weniger begabten Schülerinnen und Schülern gegen knappes Entgelt Klavierunterricht erteilte. 19

Das allerdings erwies sich nach Geburt der beiden Söhne denn auch als höchst notwendiger Zuschuß, fristete ihr Mann doch be­ ruflich ein ziemlich trauriges Dasein. Nichts da vom Genie des Vaters, von dessen künstlerischem Ungestüm und dem Höhenflug auf die Bühnen erster Konzerthäuser Europas, keine Spur von der berserkerhatten Umtriebigkeit Rocco Giordanos mit seinem gna­ denlosen Taktstock. Vielmehr probte der unter dem betäubenden Prädikat»Wundärki-ind, figlio mio isse einär Wundärki-ind« groß­ gezogene Sohn des Sizilianers nach einem nicht gerade erhebenden Abschluß am Konservatorium seine schmalen Dienste am Klavier in kleinen Cafes der Stadt, manchmal in Barmbek, manchmal au­ ßerhalb. In jedem Fall aber waren es triste Örtlichkeiten, oft genug verqualmt, mit Bierdunst angefüllt, und ein Publikum, das zu al­ lem eher Zugang hatte als zu jener anspruchsvollen Musik, unter der es der jugendliche Pianist um seiner Selbstachtung willen nicht machen wollte, und sei es auch gegen das Veto des Arbeitgebers. Kein Wunder also, daß es Entlassungen hagelte, bis der eigensin­ nige Musiker erkennen mußte, daß er auf der falschen Fährte war, wollte er als Ernährer der Familie nicht völlig ausfallen. Das bedrohte Glück war von Anfang an auf Hilfe von außen angewiesen, die große Stunde Selma Lehmkuhls - obwohl nicht sie das für die Tochter abgezweigte Geld verdiente, sondern ihr Mann, für mich der Inbegriff von Nachsicht, Güte, Geduld und unerschütterlicher Leidensfähigkeit: Rudolph Lehmkuhl. Er hat nie auch nur über einen einzigen Groschen seines Lohns verfügt. Nach dreieinhalb Jahren Stellungskrieg in Frankreich - daher später von mir aufgeschnappte Schlachtnamen wie »Somme, Ver­ dun, Arras« - war mein Großvater unverletzt, aber noch duld­ samer von der Front in die Heimat zurückgekehrt. Aus einem Krieg übrigens, der in der Familie auf das Synonym »Steckrüben­ winter« geschrumpft war. Angestellt als Lagerverwalter bei den HEW, den Hamburgi­ schen Electricitäts-Werken, eisernes Mitglied der SPD und durch Welten getrennt von der wildbewegten Existenz eines Rocco Giordano, war Rudolph Lehmkuhl das Daueropfer seiner streit­ süchtigen Frau. Nachdem sie sich uns gegenüber, Hufnerstraße iio, einquar­ tiert hatten, sehe ich Opa Rudolph noch aus der Fuhlsbüttler-

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Straße einbiegen, schweren Schrittes von der Arbeit kommend und von mir stets achtungsvoll begrüßt, was er mit einem dank­ bar registrierten Fingertip an den bemützten Kopf beantwortete. Dann eine Treppe hoch in der kleinen Wohnung angelangt (ein Zimmer, Küche, Toilette, kein Bad), ließ er allabendlich wieder Selmas stereotype Nörgeleien, Anschuldigungen und Berufungen wortlos über sich ergehen, um an jedem Freitag seiner Frau ohne Murren und spätere Kontrolle den vollen Lohn auszuhändigen. Scharfäugig die beruflich dürre Situation des ungeliebten Schwiegersohns bewertend, verkündete Selma hinter vorgehalte­ ner Hand der Tochter die sichere Fortdauer der Unterstützung, ehe sie blumig den eigenen Ruin beschwor, der ihrer Selbstlosig­ keit unvermeidlich folgen und schließlich beide Familien in den Abgrund reißen würde. Doch in der Tat - ohne Selma Lehmkuhls Zuschuß wäre es dem jungen Paar schlecht ergangen. Unglückseligerweise zog Selma daraus das Recht, die Dinge des Lebens auch jenseits ihrer eigenen zu bestimmen und zu re­ geln, was fortwährende Eingriffe in die Autonomie von Tochter und Schwiegersohn bedeutete. Der aber verkündete plötzlich triumphierend, daß er ihren Griff ins Portemonnaie nicht mehr nötig habe. Gerade dreißig geworden, hatte Alfons Giordano ein festes Engaichomang gefunden (wie ich das Wort Engagement regelmä­ ßig aus dem Munde meines Vaters gehört haben will). Von der Reputation her »zwar nicht das Gelbe vom Ei«, wie Selma in der Furcht, an Einfluß zu verlieren, sofort giftig kommentierte, wohl aber eine Aufgabe, die ihm und der vierköpfigen Familie das Ende der Not und finanziellen Abhängigkeit versprach - als Pianist in Barmbeker Kinos! Was nicht hieß, daß er mit seiner Musik die Pausen zwischen zwei Filmen füllte. Vielmehr meist lichtlos vor dem Instrument unterhalb der be­ wegten Leinwand hockend, begleitete der glücklose Sohn eines bedeutenden Vaters fortan die damals noch stummen Filme auf dem Klavier - jetzt pianissimo, dann crescendo, je nach dem flim­ mernden Geschehen über seinem Kopf. Eine zwar nicht pompös bezahlte, immerhin aber offenbar zukunftssichere Anstellung. War doch alle Welt fasziniert von dem noch jungen Medium Film und seinen Stars: Henny Porten, Asta Nielsen, Harry Piel, vor

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allem aber von Amerikanerinnen und Amerikanern - Greta Gar­ bo, Lillian Gish, Gloria Swanson, John Gilbert, Ramon Novarro, Rudolph Valentino und, allen voran, Charlie Chaplin. »Hollywood«, soll mein Vater gesagt haben, mit Nachdruck, wenn auch, wie sich herausstellen wird, etwas voreilig, »Holly­ wood hat mich gerettet.« Und so hieb er denn, für die Zuschauer unsichtbar, auf die schwarz-weißen Tasten ein, in Moll und in Dur, zur akustischen Untermalung von Wildwestfilmen, Liebestragödien, Historien­ schinken oder Lustspielen, wobei das Publikum nicht nur kräftig in die Klänge aus dem Untergrund einfiel, sondern dem unsicht­ baren Künstler auch spontan Beifall spendete. Zu einer solchen Gänsehaut erzeugenden Übereinstimmung kam es einmal in der »Skala«, ein »Flohkiste« genanntes Kino in der Fuhlsbüttlerstraße, ganz nahe unserer Wohnung. Kindervor­ stellung, wie jeden Sonntag um vierzehn Uhr, Eintritt pro Person dreißig Pfennig, volles Haus, darunter ich auf einem der Klapp­ sitze neben der Mutter - und der Vater, aus kleinen Kehlen schrill umjubelt, der Vater am Klavier! Es heißt, ich hätte nach Abklingen der Ovationen hörbar auf­ geseufzt und links und rechts nach Händen gegriffen - in tiefster Einheit mit der Welt, ihren Wundern und mir selbst. Die Szene ist mir so minutiös, so unverbraucht im Gedächtnis geblieben, als wäre es gestern gewesen. In der Tat fand hier eines jener Schlüsselereignisse statt, wie sie sich über ein Dasein verteilen, verlief hier so etwas wie die Naht­ stelle zwischen Vorgeschichte und Geschichte meiner Biographie, glomm die erste Ahnung auf von Glück, Geborgenheit und spring­ fröhlicher Leichtigkeit. Ganz plötzlich war er da, der Übergang vom Kleinkind zum Knaben, der Durchbruch zu einer neuen Wachheit, getaucht in ein anderes als das bisher wahrgenommene Licht und voll sehnsüchtiger Gläubigkeit, daß das Glück kein Ende haben, daß es dauern und dauern würde - bis in alle Ewigkeit. Ach ja ...

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ELYSIUM oder DAS ERSTE LEBEN (1923-1934)

I. An der Haustür der Hufnerstraße 113 das Messingschild mit dem exotischen Familiennamen; der Eintritt in den Korridor, der Garderobenständer und die nie geöffnete graue Kiste. Das Vor­ derzimmer rechts, stets nur »Eßzimmer« genannt, obwohl dort nie gegessen wurde, sondern die Eltern schliefen (die Mutter auf einer alten Couch, der Vater in einem schmucklosen Metallbett); spartanische Ruhestätten, die in seltsamem Gegensatz standen zu der Vornehmheit des ebenholzdunklen Büfetts mit seinen Stapeln glänzenden Geschirrs hinter Glas. In großer Nähe daneben ein eiserner, nie beheizter Ofen. Ganz im Gegensatz zu dem klassisch Grüngekachelten im Wohnzimmer nebenan, einzige Wärmequelle der Behausung und zur kalten Jahreszeit von meinem Vater unter der fortwährenden Mahnung »Tür zu!« fachmännisch befeuert. Zur Fensterfront, zum Licht hin das kostbarste Stück des uneinheitlich zusam­ mengefügten Inventars, das der geliebten Enkelin von den Selig­ manns geschenkte und von einem Herrn von Kothen regelmäßig gestimmte Klavier; die helle, innen in einem wunderbaren Rot furnierte Notentruhe aus Nußholz, wie auch der schmale Bücher­ schrank und der zierliche Sekretär aus dem gleichen Material. Äs­ thetische Eindrücke, die allerdings aufgehoben wurden durch die Unansehnlichkeit eines niedergesessenen Sofas, das den Blick in sein sprungfedererlahmtes Innenleben schamlos freigab. Dann das Zimmer für uns Brüder, noch »Kinderzimmer« ge­ nannt, als wir längst keine mehr waren; vom Korridor rechts ab die Toilette (mit einer langen Eisenstange, um die Belüftung zu be­ dienen); gegenüber die Besenkammer, dann die Küche - damals noch gasbeleuchtet, mit dem Handstein als einziger Wasserstelle, einem kohlefressenden Herd mit schweren Feuerringen und dem Zugang zur Speisekammer, kühlster Ort der Dreizimmerwoh­ nung. Das Ganze komplettiert durch einen schmalen Abstell-und-Lager-Raum im Keller und einen hölzernen Verschlag auf dem Bo­ den, also unterm Dach. Kein Bad. Die Miete von fünfunddreißig auf fünfundvierzig Reichsmark kletternd während der zwanzig Jahre, die wir hier wohnen werden - in Hamburg-Barmbek. Keine privilegierte Adresse der Freien und Hansestadt,

wahrlich nicht, vom Dünkel der Winterhuder, Uhlenhorster und Harvestehuder abschätzig als »Barmbek-Basch« zitiert, volkreich­ ste Wabe im urbanen Körper, damals weithin proletarisch und kräftig nach Norden auswuchernd.

Mit zwei Jahren soll ich alphabetrein gesprochen und so virtuos und tongenau auf der Mundharmonika gespielt haben, daß die Leute auf der Straße stehenblieben und sich rasch ein Audito­ rium um mich versammelte. Geduldigster Zuhörer war übrigens mein Bruder Egon. Die zweite Heimsuchung nach der wundersamen Errettung durch die Großmutter am ersten Tag meines Erdendaseins kam im dritten Jahr - Schweinsbeulen. Ein Schreckensbegriff, der wie ein böser Schatten durch meine Kindheit geistern sollte, wenn­ gleich die häufig beschworene Wiederkehr zum Glück ausblieb. Überliefert sind immerhin Dutzende grünlich-bläulicher Schwellungen am ganzen Körper, was angesichts seiner Zerbrech­ lichkeit ziemlich bedrohlich gewesen sein dürfte. Erfreulicher­ weise aber haben die Geschwüre mich nicht in den Glöckner von Notre-Dame verwandelt, sondern nur eine sichtbare Narbe hinterlassen - an der Außenseite des linken Oberschenkels, also an einer meist eher bedeckten Stelle. Gleichwohl soll ich zwan­ zig Jahre später unter apokalyptischen Umständen an ihren Ur­ sprung erinnert werden. Was mir aus dem damaligen Dunkel der Frühzeit akustisch im Gedächtnis haftenblieb, ist die lapidare Bemerkung einer Nach­ barin aus der ersten Etage des Hauses: »Sieht aus wie die Pest der arme Junge, zu retten ist er wohl nicht mehr ...« Irrtum, lautete auch diesmal die frohe Botschaft auf den der­ ben Nachruf - der allerdings so ganz aus der Luft gegriffen nicht war. Daß es auch diesmal gutging, hatte ich wohl eigenen Heil­ kräften zu verdanken, denn ärztliche Hilfe wurde auch diesmal nicht bemüht. Zwei bleibende, weil höchst beunruhigende Eindrücke: die Seiten einer rechteckig geschnittenen Kinderbilderbibel - dra­ matische Schwarzweißzeichnungen, mit schweren Himmeln, aus denen Blitz und Donner fuhren; ein bärtiger, tafelschwingen­ der Greis auf Berggipfeln; Brudermord mit Keule und triefende Sintfluten; Posaunenstöße, die ganze Mauerwerke zum Einsturz 26

brachten mit herunterpurzelnden Kriegern; schließlich ein waf­ fenloser Mensch in einer Löwengrube und, in immer neuen Varia­ tionen, ein fast nackter Mann, dem durch beide hochgerissenen Hände und übereinander gezwungene Füße schwere Nägel getrie­ ben waren. Bilder, die mir eiskalte Schauder den Rücken hinuntertrieben. Der zweite haftengebliebene Eindruck von großer Unheimlich­ keit war eine mumienhafte Erscheinung, die ich verschwommen hinter der Milchglasscheibe des Kinderschlafzimmers gesehen ha­ ben wollte: »Eine Hexe!«, soll ich aufgeschrieen und behauptet haben, es sei die Nachbarin vom gleichen Treppenhausflur gewe­ sen. Die hieß Fräulein Müller, eine zurückhaltende alte Dame, was mich nicht abschreckte, bei der nächsten persönlichen Begegnung den urigen Aufschrei zu wiederholen. Eine Fehlleistung, die mei­ ne Mutter mit sofortiger Entschuldigung nach der einen und kum­ mervollen Vorhaltungen nach der andern Seite quittierte. Ein ver­ geblicher Korrekturversuch übrigens. Auch sonst muß die Welt für mich ganz offenbar noch allerlei Molesten mit sich gebracht haben, denn wie anders ließe sich der flehentliche Ausruf des älteren Bruders verstehen: »Halchimam, beiner doch nicht so, Dongale singt doch sooo schön?« Auf deutsch: »Ralphilein, warum weinst du denn nur? Brüderchen Egon singt doch sooo schön?« Ich war vier Jahre alt, habe die Melodie aber noch heute im Ohr. Es war der Zeitpunkt bewußterer Wahrnehmung meiner Um­ gebung gekommen, eine deutliche Zäsur, von der die prähistori­ sche Phase beendet wurde. Die Urgroßeltern mütterlicherseits, Helene und Adolf Selig­ mann, bleiben dabei eher eine Episode, Begegnungen am Rande bildhafter Erinnerung zwischen Wirklichkeit und diffus verblaß­ ten Momentaufnahmen. Manchmal durfte ich bei Opa Adolf und Oma Lene in der Heit­ mannstraße übernachten. Dann lag ich mit angehaltenem Atem im Bett, hörte auf das Ticken der wuchtigen Standuhr im Wohnzim­ mer und auf die Geräusche von der nahen Hamburger Straße ein stetes Rauschen, von dem ich sanft eingelullt wurde. Wenn ich heute die Augen schließe, kann ich immer noch aus irgendeinem 27

Winkel meiner Ganglienzellen verschwommen die Atmosphäre von damals mit ihren Gerüchen und Tönen inhalieren. Bei jeder Ankunft das gleiche Zeremoniell. Lag im Hause das obligate Geschenk für mich bereit? Dann mußte ich an der Schublade einer Kommode riechen und mich gebärden, als ob ich zweifelte. Was ich, nach allen Erfahrungen, in Wahrheit natürlich nicht tat und dafür dann auch prompt belohnt wurde - mit Sü­ ßigkeiten, Spielzeug, Kleidungsstücken. Und einmal, nachdem ich solchen Wunsch geäußert hatte, auch mit einem sogenannten Blockwagen, der für mich allein zu groß, also auch für die Spielge­ fährten gedacht war (und mit dem sich bald einer der verhängnis­ vollsten Augenblicke meines Lebens verbinden wird). Später, irgendwann, erfuhr ich, daß die Seligmanns im Jahr meiner Geburt und dem darauf folgenden 1924 durch die gro­ ße Inflation ihr ganzes Vermögen verloren hatten, wie Millionen andere auch. Schicksalsschläge, die meine kindlichen Sinne nicht erreichten. Als Adolf Seligmann 1927 an Blasenkrebs starb, soll ich sein Ableben mit dem ebenso begrifflosen wie vielleicht durch mein zartes Alter nicht ganz unerklärbaren Kommentar: »Nun ist er tot, der kleene Kacker« begleitet haben. Ein Jahr darauf folgte ihm Helene Seligmann - hochbetagt und immer noch geschmückt von den Spuren einstiger Schönheit. Die Erinnerung an die Urgroßeltern, genau auf dem schmalen Grat des Umbruchs zwischen Vorgeschichte und Geschichte der eigenen Biographie, bleibt noch verweht. Aber dann beginnen die Bilder plastischer zu werden.

II. Der Vater. Am Klavier, immer am Klavier, »übend«, wie es hieß - stunden­ lang, oft bis in die Nacht hinein (heute der Geräuschempfindlich­ sten einer, frage ich mich: »Und die Nachbarn?«). Das dröhnte, perlte, flutete nur so aus dem Wohnzimmer her­ vor, es strömte, zerfloß nach allen Seiten und sprengte Decken, Türen und Fenster - auf diese Weise wuchs ich mit nahezu dem gesamten Repertoire der Klassiker im Ohr auf. Melodien, ganze

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Kompositionen, die ich bald bis in die letzten Halbtöne hinein fehlerlos nachsummen konnte, ohne sie auch schon mit den Na­ men ihrer Schöpfer versehen zu können - Haydn, Beethoven, Schubert, Mozart, Tschaikowsky? Kenntnisse, die später kamen. Nur einen Komponisten identifizierte ich von früh an, einen, der mich hinriß, sobald die erste Taste angeschlagen war, der mich elektrisierte, sprachlos verstummen ließ und, wie von magischer Kraft gezogen, in die Nähe des Vaters trieb - Frederic Chopin! Seine Preludes, Walzer, Nocturnes, Polonaisen, Mazurken und - Etüden. Unter diesen eine, die mich förmlich aus der Haut fahren, mich schier schmelzen ließ vor innerer Kongruenz, so sehr bewegte sie mich-c-Moll op. io, Nr. 12 - die »Revolutions­ etüde«! Wann immer sie erklang, spannte sich etwas in mir, scheuchte mich auf, selbst wenn ich schon eingeschlafen war. Die Tür zum Wohnzimmer einen Spalt geöffnet, sehe ich noch den Vater auf dem Hocker vor dem Instrument sitzen - mit kreisendem Ober­ körper, geschlossenen Augen, nur schwach bestrahlt und von dem atemlosen Zuhörer angebetet wie ein Gott. Erst später erfuhr ich, was Chopin, patriotischer Sohn einer polnischen Mutter und eines französischen Vaters, zu diesem viel­ leicht furiosesten seiner Werke aufgewühlt hatte: Um ihn sich und der Menschheit zu erhalten, hatten polnische Freunde in Paris ihm den Zeitpunkt des sogenannten Novemberaufstandes von 1832 gegen die russische Okkupationsmacht verheimlicht, so daß Chopin nicht, wie beabsichtigt, an der Erhebung teilnehmen konnte. Deshalb der Name - »Revolutionsetüde«. Aber da war noch etwas, das sich der heimliche Beobachter nicht erklären konnte. Stand der Vater doch nach dem letzten Ton langsam auf, schob den Bock zurück und verbeugte sich feier­ lich, nach links, rechts und nach vorn, dabei huldvoll die Hände erhoben und dankstammelnd ins Leere wispernd. Es war der traurige Ersatz für die ausgebliebene Karriere des »Wundärki-indes«, entwürdigende Kompensation jenes Traums, dessen hartnäckiges Ausbleiben er nicht in der Kluft zwischen Erfoigswillen und seinem Leistungsvermögen ortete, sondern in die Verantwortung dunkler Mächte delegieren wird. Ohne daß ich es damals schon begriff, wurde hier etwas nach 29

innen Gekehrtes sichtbar, eine tiefe, verborgen gehaltene Wunde, die daseinslang schwären wird. Was er dagegen stolz nach außen trug, war seine Vaterschaft. Berühmte Momentaufnahmen zwischen Dreckmannswiese und Bahnhof Barmbek nach Geburt der Söhne - Alfons Giordano auf der Straße, einen hochrädrigen Kinderwagen von grüner Far­ be vor sich herschiebend und die häufigen Zeichen von Anteil­ nahme, Interesse und Zuneigung wie ein ihm zustehendes persön­ liches Verdienst gönnerisch erwidernd. Dann, als wir Brüder gehen konnten, die Ausflüge in den Stadtpark, aufregende Erkundungen, Bilder, Ureindrücke: der mächtige Backsteinbau der Stadthalle, Badeanstalt, Restaurant, gastliche Burg am Parkeingang. Der weite Blick von ihren Ter­ rassen über den Stadtparksee auf die große Wiese vor dem alten Wasserturm (der in ein Planetarium verwandelt war). Tiefer im Innern die Schöpfung des namhaften Bildhauers August Gaul, ein Kleinod - der Pinguinbrunnen: Um einen kreisrunden Brun­ nen gruppiert und von einer kecken Fontäne glänzend besprüht, wirkten die sechs possierlich befrackten Meeresvögel aus Bronze so lebensecht, als wollten sie jeden Augenblick davonwatscheln. Das flache, sandumsäumte, stets von Kindern übervölkerte Planschbecken. Ganz in der Nähe das Denkmal eines Mannes in anmutiger Pose, Kinn auf der linken Hand, Ellbogen auf den rechten Unterarm gestützt und vom Vater mit einem Namen be­ dacht, der mir nichts sagte - Heinrich Heine. Die Diana, auf dem Hirsch, bogenbewehrt, nackt, unnahbar. Die kupferoxidierten naturalistischen Zentauren auf der Liebesinsel, Mann und Frau, halb Mensch, halb Pferd, schweres Metall. Das sommerliche Gewimmel bunter Kanus vor dem Park-Cafe, idyllisches Pendant zur Stadthalle. Der trotz seines schnatternden Lebens verträumte Ententeich, seine zierlichen, chinesisch anmutenden Brücken. Die Reitbahn, mit ihren Gräben, widerständigen Hürden und vorneh­ men Benutzern hoch zu Roß. Die Platanenallee, ein wahrer Dom von Bäumen, schattenspendend, mit bröckelnder Rinde, als wäre dem Stamm die Haut abgezogen. Dann, pointenhaft aufgesparter Schluß, Hans Martin Ruwoldts wunderbar eleganter Panther aus Stein: tiefe Augenhöhlen, in unüberbietbarer Würde majestätisch auf einem Sockel hingegossen, war er für uns Brüder jedesmal wieder das Objekt wohligen Gruselns: 3°

Der Vater kommt mit vorsichtigen Bewegungen und sanften Worten der regungslosen Großkatze schmeichelnd näher und nä­ her, bleibt vor ihr stehen, tätschelt sie: »Ei, du liebes Tier, ei, du gutes Tier«, und - versetzt ihr eine schallende Ohrfeige. Dann springt er, in Furcht vor den Folgen seiner tückischen Verstel­ lung, hektisch zurück, packt die erstarrten Söhne und flieht mit ihnen in die Sicherheit eines weiten Abstands. Ein Schauspiel, dem der Bruder und ich jedesmal wieder mit schreckensgeweiteten Augen heftig applaudierten. Erst dann zurück, nach Hause. Uber den Stichkanal in die Hellbrookstraße, links der riesige Barmbeker Giiterbahnhof, rechts Werkstatt und Betriebsbahn­ hof der Hamburger Hochbahn AG; unter der himmelhohen Stahlbrücke der Walddörferbahn abgebogen in den Rübenkamp und von dort, vorbei an der Sandkiste, vor das tiefvertraute Bild der Hufnerstraße mit ihren prachtvollen Lindenbäumen. An diese Stelle gelangt, schluckte ich, immer wieder - Heimat, dachte ich, Heimat. Die Mutter begrüßte unsere Rückkehr mit Aufatmen - sah sie doch die weiten Ausflüge ihres Mannes mit den Söhnen höchst ungern - was konnte ihnen da alles passieren! Nie vergaß sie, ihren Gatten vorher mit immer den gleich stren­ gen Verhaltensregeln zu verabschieden, darunter die wichtigste: die Söhne keine Sekunde von der Hand und aus den Augen zu lassen. War sie von den Großeltern Adolf und Helene Seligmann be­ hütet worden wie ein Juwel, so übertrug sie diese Sorge nun noch gesteigert auf den eigenen Nachwuchs. Ohne ausdrückliche Er­ laubnis der Mutter durften wir weder die Straße betreten noch gar die Fahrbahn kreuzen. Mein Bruder war sieben, als es ihm zum erstenmal erlaubt wurde, unter scharfer mütterlicher Bewa­ chung. Obwohl die Verkehrsdichte damals, gemessen an der heu­ tigen, mehr als bescheiden war, kam es zu gegebener Stunde vom Balkon her zu einer Kanonade aufgeregter Zurufe, wie: »Halt, warte noch!« - »Vorsicht, Kind, dahinten kommt was!« - »E-eegon, jetzt geht es nicht ...«. Bis mein Bruder einfach losrannte, das gegenüberliegende Trottoir unversehrt erreichte und ebenso zurückkehrte.

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Ich mußte mit der Überquerung aus eigener Kraft noch ein volles Jahr warten. Aber damit nicht genug. Zu Ostern 1929 eingeschult, wurden mein Bruder und ich entweder von Großmutter Selma oder der Mutter morgens hinund mittags zurückgebracht, und das unter der Häme der Mit­ schülerschaft und weit über das ABC-Schützen-Stadium hinaus, nämlich volle drei Jahre lang - obwohl zwischen der Volksschule Bramfelder Straße und der Hufnerstraße nicht mehr als zehn Mi­ nuten zu Fuß lagen. Zudem war es der Mutter unglaublicherweise gelungen, daß mein um ein Jahr, vier Monate und zwölf Tage älterer Bruder und ich gemeinsam in eine Klasse kamen. Welche bürokratischen Hemmnisse dafür auch immer zu überwinden waren, Lilly Giordanos Horror vor einer Trennung der Söhne, und sei es auch nur für einige Stunden, muß alle Bedenken der Behörde förmlich weg­ geschwemmt haben. Es klingt seltsam, aber wirklich beruhigt war die Mutter nur, wenn sie uns im Bett wußte, und das keineswegs bloß nachts, sondern auch tagsüber. Denn dort im Kinderzimmer, warm un­ ter der Decke und ihrer gluckenhaften Bewachung, konnte uns nichts, aber auch gar nichts angetan werden. Um diesen Zustand möglichst häufig herzustellen, erfand Lilly Giordano ihren eigenen Muttertag. Hatte der offizielle, staatlicherseits in Deutschland seit 1922 auf einen Sonntag im Mai gelegte Muttertag in ihren Augen doch einen großen Nachteil aufzuweisen - seine jährliche Einmalig­ keit. Den sprengte sie nun nach eigenem Gusto, indem sie übers Jahr hin in loser Folge Muttertage bestimmte, eine Festlichkeit mit ganz bestimmten Ritualen. Dafür hochsensibilisiert, erkannten wir sofort die Zeichen, wenn es wieder soweit war. Das geheimnisvolle Gesicht der Mutter; ihr demonstrativer Aufbruch; die beruhigende Ankündigung: »Ich komm gleich zu­ rück!«; das Klappern ihrer Schritte die Treppe herab - und wir stumm wartend auf das klirrende Geräusch des Schlüssels an der Haustür bei der Rückkehr. Sobald dann von der Küche her Papiergerascbel und Tellergeklapper zu hören war, zogen wir Brü­ der uns blitzschnell aus, hüpften in die Betten und starrten von 32

dort auf die Tür, in deren Rahmen alsbald die Mutter erschien: in den Händen ein Tablett, beladen mit Obst, belegten Brötchen (in Hamburg »Rundstücke« genannt), Limonade, Kuchen, La­ kritzen und andere Süßigkeiten (weshalb das Ereignis dann auch »Schnooptag« hieß). Lukullische Krönung des Muttertags waren übrigens Rund­ stücke mit gekochtem Schinken. Und während wir beide uns freudig schmatzend über das Schlemmermahl hermachten, stand die Mutter wortlos da, ehe sich unerklärlicherweise jedesmal wieder ihre Augen langsam mit Tränen füllten. Die kleinen Bäuche voll, bis obenhin satt, die Decke bis zum Kinn hochgezogen, blieben wir mit dankbaren Blicken liegen für den Rest des Tages. Nicht, weil es uns so gefiel, sondern, wie wir wußten, der Mutter. Lilly Giordano hatte den Bruder zwei, mich zweieinhalb Jahre an ihrer Brust genährt.

Ein anderes, ebenfalls betörendes Erlebnis waren die Fahrten in die Stadt. Entweder mit der von Norden, von Ohlsdorf kommenden Straßenbahnlinie 6 oder, lieber noch und meist zur warmen Jah­ reszeit, mit dem Alsterdampfer von der Anlegestelle Richardstraße. Der kleine schaukelnde Ponton; das flache weiße Schiff zwi­ schen den schwellendgrünen Ufern des Eilbekkanals; der Kuh­ mühlenteich und die St.-Gertrud-Kirche; hinter der Uhlenhorster Brücke das grandiose Panorama der Außenalster und am Horizont die Scherenschnitte der Hamburger Kirchtürme. Dann über die segelbetupfte Fläche auf die dreibögige Lombardsbrücke zu und unter ihrem rechten Bogen hindurch in die Binnenalster und zur Anlegestelle Jungfernstieg. Dort, immer an der Hand der Eltern, vorsichtig von Bord und, atemlose, neugierige Begegnung mit der großen Welt, in die Stadt. Die Fronten der Kaufhäuser; die Schluchten der Geschäftsstra­ ßen Neuer Wall und Große Bleichen; der Gänsemarkt mit der Lessingstatue; Alsterfleet und Bleichenfleet, breite, bautenumstandene Wasserstraßen mitten in der Stadt; die Schleusen an der 33

Schleusenbrücke, wo mit unerhörtem Getöse die gestaute Alster abgelassen wurde; der Blick auf das Rathaus, dahinter die Spitze der Nikolaikirche, und schließlich Rast in einem Cafe unter den Alsterarkaden - Kuchen, Eis, Zitronenwasser, Trinkschokolade. Fahrt in die Stadt. Aber so aufregend sie war - ich konnte kaum abwarten, bis es wieder an die Pier des Jungfernstiegs ging, wo die Alsterdamp­ fer anlegten und abfuhren, darunter auch die Linie, die uns zur Richardstraße zurücktransportieren würde. Und wohin es mich so mächtig zog, daß ich meine Ungeduld vor den Eltern kaum verbergen konnte. Denn wieder an Bord, passierte das gleiche wie schon auf der Hinfahrt - ich hatte nur Augen und Ohren für die Eingeweide des Schiffs, jene Gruft, aus der es feucht und zischend fauchte den Maschinenraum! Den kleinen Kopf durch eine offene Luke gezwängt, sah ich hinunter in ein bebendes, stampfendes, glühendes Inferno, sah schwere Kolben von einer ängstigenden Kraft aus mächtigen Zy­ lindern dröhnend rauf- und runtergeschleudert und erkannte in der Halbfinsternis einen über und über geschwärzten Mann, der fortwährend Kohlen in ein loderndes Loch schaufelte. Von meinem Vater geduldig gehalten, verließ ich meinen Platz erst, als die Anlegestelle Richardstraße erreicht war. Was mich so anzog, mich alles andere vergessen ließ, war ein frühes, fast mythisches Interesse an dem, was das Schiff antrieb am Dampf. Oder genauer: an der Dampfkraft. Noch exakter: an dem Mechanismus, der Dampf in Energie verwandelt, also an der Dampfmaschine. Sie faszinierte mich schon lange, bevor mein technisches Be­ griffsvermögen ihre Wirkungsweise verstand oder ich auch nur eine Ahnung hatte von Kreuzkopf, Schwungrad, Pleuel oder Schieber und ihren Funktionen. Alles, was mit Dampf zu tun hatte, übte eine magnetische Anziehungskraft auf mich aus. Wo immer ich auf Dampfgetriebenes stieß, bei Straßenarbeiten, in Fil­ men oder, nachdem ich lesen gelernt hatte, auch in Büchern, fühl­ te ich mich davon bis ins Innerste berührt, begierig zu sehen, zu erleben, Zeuge zu werden, wie menschliches Genie durch kluge Zügelung und geniale Lenkung den gestauten Dampf zu vorher undenkbaren Leistungen führt. Es war der Kraftakt selbst, der

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mich inspirierte, das, was sich da tat mit Zylinder, Kolben und gestautem Druck. Wo aber konnte man das unmittelbarer, offener, direkter beob­ achten als an der großartigsten, ja, behaupte ich, auch der schön­ sten Kreatur technischer Geschichte - der Dampflokomotive? Und so verführte ich denn in jenen frühen Jahren meine Mut­ ter, mit mir zum Hamburger Hauptbahnhof zu fahren und unter seinem verrußten Dach von Bahnsteig zu Bahnsteig zu eilen, dort­ hin, wo immer gerade eine der gewaltigen D-Zug-Loks stand, an­ kam oder abfuhr. Meine Hand immer fest umklammert, folgte sie mir, wohin ich sie zog - so nahe wie möglich heran an die Maschi­ nen mit den übermannshohen Rädern, den gewaltigen Kesseln und kohlebeladenen Tendern. Trunken von all dem Lärm, dem Trubel, den Gerüchen des Hamburger Hauptbahnhofs, den schnaufenden, speienden, ge­ liebten Kolossen selig hingegeben, ging es schließlich zum Bahn­ hof Barmbek zurück, Hand in Hand, und nicht ohne schlechtes Gewissen meinerseits. Obwohl meine schrullige Vorliebe gewiß von ihr nicht geteilt wurde, war die Mutter ihr doch voller Ver­ ständnis entgegengekommen.

Manchmal, in periodischen Abständen, machte sie sich auch allein in die Stadt auf, ohne Anhang, nur sie, vom Vormittag bis in den späten Nachmittag. Womit sie offenbar zwei Bedürfnissen nach­ kam - einmal, um für kurze Zeit dem täglichen Familiendruck und seinen Aufgaben zu entrinnen, dann aber auch, um in natür­ licher Eitelkeit ihre weibliche Anziehungskraft zu erproben. Ich glaube, daß die Ehe meiner Eltern in diesem Stadium das war, was »glücklich« genannt zu werden pflegt, monogam, von starken Gefühlen getragen und ohne jede Eifersüchtelei. Für meine Mutter wird es ohnehin in ihrem Leben nie einen anderen Mann geben als meinen Vater. Daß dennoch etwas fehlte, dafür zeugte die harmlose Institution dieses »Ausgehtages«. Ich sehe sie noch bei solchem Anlaß, schon auf der Straße, in ei­ nem weißen Kleid, das ihre schlanken Fesseln zeigt, mit üppiger Haartracht, aufbruchbereit lächelnd, wie eine Erscheinung - eine wunderschöne Frau. Der Abschied von der Familie war allerdings jedesmal wieder hochdramatisch - würden ihre Kinder doch für einige Stunden 35

ohne mütterliche Aufsicht und sich selbst überlassen sein, ein schwerer Entschluß. Also wurde der Vater mit allen möglichen Mahnungen und Warnungen bedacht, ernsthaft ins Gebet genom­ men, und das mit Floskeln und Wendungen, die er eigentlich selbst hätte auswendig vor sich hersagen können. Dann ging die Mutter die Drögestraße hoch, zur Straßenbahn­ station der Linie 6 in der Fuhlsbüttler Straße, nicht ohne sich immer wieder umzudrehen und uns, die ihr nachschauten, zuzu­ winken. Einmal, erinnere ich mich, stockte sie, machte Anstalten, zu­ rückzukommen, besann sich dann aber und ging weiter, wenn auch langsameren Schrittes. Ich glaube, der Drang, umzukehren und den Ausgehtag, so nötig sie ihn hatte, fahren zu lassen, blieb die ganze Zeit der Abwesenheit über in ihr. Mein Bruder Egon und ich nannten sie »Mutti«, und das, so­ lange sie lebte. Wenn es je eine jiddische Mamme gegeben hat, eine altitschke jiddische Mamme, dann Lilly Giordano, meine Mutter. Und keiner von uns hatte damals auch nur die leiseste Ahnung, was das noch einmal bedeuten sollte.

III. Ein anderes, alljährlich wiederkehrendes familiäres Großereignis fiel unter das Stichwort an die Elbe. Dazu ging es mit der (später »S-Bahn« genannten) Vorortbahn über Hauptbahnhof und Altona bis nach Hochkamp, eine Sta­ tion vor dem Endbahnhof Blankenese. Dort ausgestiegen, zogen wir mit Sack und Pack eine lange, von vornehmen Villen beid­ seitig gesäumte Straße hinab bis an die berühmte Elbchaussee, überquerten sie und gelangten an eine Treppe, die den Blick auf das gewaltige Panorama der Unterelbe freigab - ein stets aufs neue atemverschlagender Augenblick. Der mächtige, vor seiner Teilung in Norderelbe und Süderelbe bei Finkenwerder an die vier Kilometer breite Strom; mittendrin die nackten Inselrücken Schweinesand und Neßsand; die großen, auf der nassen, flirren­ den Fläche von der Geesthöhe her aber wie Spielzeug wirkenden Schiffe; die kaum wahrnehmbare Schraubenspur der winzigen

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Fähre nach Cranz, drüben, im Alten Land - ein zur Zeit der Obst­ blüte wie von Schnee leuchtend überdecktes Terrain. Und in der Nase wieder, staunend eingesogen, der unverwechselbare, spezi­ fische, von der Flut transportierte Meergeruch der fast hundert Kilometer entfernten Nordsee. Unten dann, nahe der Stelle, wo die Treppe den Strand be­ rührte, schlugen wir das Lager auf, warfen, wie alle anderen hier auch, Sandburgen auf, gegen die nächste Umwallung albern abge­ steckte, damals jedoch nicht so empfundene Refugien, meist das immer größer, immer höher werdende Werk des ehrgeizig schau­ felnden Vaters. Noch Nichtschwimmer, mußten wir Brüder zu der seinerzeit sauberen, von der Mutter aber als »tückisch« denunzierten Elbe zwar gehörigen Abstand halten, durften dafür jedoch unbegleite­ te Streifzüge in die Umgebung machen, wenn auch »nur in Sicht­ weite, Kinder!« Nickend, doch mit der festen Absicht, den elter­ lich abgesteckten Radius gründlich zu mißachten - so zogen wir los. Die Nüstern gebläht, als wollten wir inhalieren, was uns begeg­ nete, ging es den steilen Mühlenberg hoch und oben hinein in den verwunschenen Hirschpark; dann durch das fast südländisch wir­ kende Dockenhuden hinauf zum Süllberg, und am Falkenstein wieder hinab an den Strand. Die ganze Zeit über wie verzaubert und den Blick immer wieder auf den großen Strom und seine wech­ selnden Farben gerichtet, stapften wir dann endlich keuchend zu­ rück - wobei sowohl die vorgeschriebene Zeit, zwanzig Minuten, wie auch die erlaubte Distanz bei weitem überschritten waren. Das Gesicht der Mutter, als wir wieder in ihr Blickfeld traten, als hätte sie schon lange nach uns ausgespäht; ihr stoßhaftes »Das letzte Mal, das allerletzte, nie wieder!«, über allem aber die sicht­ liche Freude, daß wir vor ihr standen, unversehrt und bebend vor Lebenslust. An die Elbe - das war das Paradies, war sommerliche Sehn­ sucht, vertraute Atmosphäre. Große und kleine Pötte, die, nun viel näher als von der Treppe oben, erhaben stromauf oder strom­ ab vorbeischwammen. Freundliche Nachbarn, denen man hier auch schon im Vorjahr begegnet war. Aus irgendeiner der Burgen herüberwehende Mundharmonikaakkorde. Ein spürbar größerer Appetit als zu Hause.

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Und dann jene Szene Jahr um Jahr, die sich mir wohl ihrer un­ gewöhnlichen Kombination wegen einprägte - ohne jede Kennt­ nis, was einst von ihr ausgehen würde. Aus einem Haus an der Treppe stieg ein großgewachsener Mann, ein älterer Herr von hanseatischem Habitus, stumm, gra­ vitätisch und mit einem riesigen Hund an der Leine. So kam er daher, schritt nahe an uns vorbei, grußlos, kehrte nach längerem wieder zurück und verschwand, wieder nahe an uns vorbei, mit dem gewaltigen Tier in dem Haus neben der Treppe. Am späten Nachmittag, manchmal auch gegen Abend, wenn es kühler wurde, wohlig ermatteter Aufbruch, die Haut sonnenge­ wärmt, sprechfaul und zufrieden, so, wie der Tag verlaufen war. Ich erinnere mich weder an eine einzige disharmonische Stun­ de noch an auch nur einen Tropfen Regen während dieser Aus­ flüge an die Elbe. Für uns Brüder aber hatten sie rasch ein Synonym gefunden, ein Kodewort, das das Bukett unserer Empfindungen bündelte und seine Farben einte - der Name des Ortes, der der Region den Titel lieferte und wo wir, so der geheime brüderliche Schwur, hin­ wollten, wenn wir groß wären: Blankenese! Es war nach einer Rückkehr von der Elbe, als sich zum ersten­ mal etwas zeigte von jenem romantisch-schmerzlichen Verhältnis zum andern Geschlecht, was mein ganzes Leben so varianten­ reich durchziehen wird. Während Vater und Mutter vor dem Haus in ein Gespräch mit Nachbarn vertieft waren und ich daneben am Zaun des kleinen Vorgartens lehnte, hatte sich der Gruppe ein zauberhaftes Wesen genähert, ein Mädchen von zehn Jahren, in einem roten Kleid und im Haar eine Schleife, so etwas wie sein persönliches Signal. Jedenfalls habe ich es nie ohne diese Schleife gesehen, immer aber schon im Auge gehabt, weil es so besonders hübsch war - die Rote eben. Plötzlich wurde die abendliche Ruhe durch einen markerschüt­ ternden Schrei gestört - und zwar aus meinem Mund: Die Schö­ ne hatte mich gebissen! Sie hatte sich angeschlichen und mich in den kleinen Finger der rechten Hand gebissen! Mit Perlzähnchen zwar, aber doch so kräftig, daß sich die Wunde über dem Nagel augenblicklich dunkel färbte.

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Als die Mutter auf mich zustürzte wie auf einen, der gerade hoch vom Dach herabgefallen war, und das Mädchen verstört fragte: »Warum hast du das getan?«, schluckte es, als müsse es innerlich etwas überwinden, strich sich verlegen über das rote Kleidchen, nestelte unsicher an der Haarschleife und weinte dann laut auf: »Aber wenn ich ihn doch so liebhabe!« Worauf alle lachten, nur ich nicht - hatte die Rote doch wirk­ lich zugebissen. Trotzdem war ich natürlich beeindruckt, wie denn nicht bei soviel Bekennermut? Nachdem die Mutter mich wie einen Schwerkranken die Treppe hinaufgeführt hatte, lief ich bei der ersten Gelegenheit nach vorn auf den Balkon, um zu sehen, ob meine wundervolle Peinigerin noch unten war. Und tatsächlich, da stand sie, die Rote, neben der Linde, und schaute nach oben, nach rechts, zu uns, aufs Hochpar­ terre. Aber nicht selig wie ich, trotz des Schmerzes, sondern eher grimmig und, so wollte es mir scheinen, mit geballten Fäustchen. Wie das? Hatte sie nicht eben noch beteuert, wie lieb sie mich habe? Ah! Totale Verwirrung. Ich glaube, ich habe ihr verhalten zugewinkt, möglicherweise sogar mit der schlenkernden Rechten. Aber so genau weiß ich das heute nicht mehr.

Inzwischen hatte sich Selma Lehmkuhl ein neues Betätigungsfeld für ihre hektische Unrast erschlossen - einen fünfhundert Qua­ dratmeter großen Schrebergarten in der Nähe des Bramfelder Sees, am Rande des Ohlsdorfer Friedhofs, dessen erhabene Silhou­ ette das andere Ufer säumte. Hier reagierte die Großmutter ihre kochenden Energien ab, und das mit ganz erstaunlichen Resulta­ ten für die Ernährung der Familie. Denn Obst und Gemüse gedie­ hen unter ihren pflanzenden, düngenden und jätenden Händen auf das prächtigste, eine geradezu explosive Fruchtbarkeit, die alles übertraf, was in der Nachbarschaft wuchs und sproß: pralle Johannisbeerrispen an schwellenden Sträuchern; Stachelbeeren nicht minder; Erdbeeren die Fülle; schwere Äpfel an U-förmigen, niedrigen Baumgerüsten; süße Erbsenschoten; skurril gewach­ sene Rettiche; Himbeeren, deren Aroma ich noch auf der Zunge spüre; eine mächtige Hecke strotzender Brombeeren. Und davor eine Laube, die Rudolph Lehmkuhl, der handwerklich geschickte Großvater, mit erprobter Geduld und stummem Gehorsam an 39

Sonntagen und während des kurzen Urlaubs, den die Hambur­ gischen Electricitäts-Werke ihrem geschätzten Lagerverwalter ge­ währten, zu einer werter- und winterfesten Unterkunft ausgebaut hatte. Eß- und Schlafraum, Küche mit Gaskocher, Wasserpumpe, Geräteschuppen für Schaufeln und Harken - es war alles da für die kleine, aber intensive Landwirtschaft. Niemand blieb verschont von Selmas neuer Errungenschaft, wir alle waren einbezogen in ihre selbstgestellte Aufgabe, die Fa­ milie auf einem Teilsektor der Ernährung autark zu machen. So kam es zu den langen Fußmärschen der Sippe von der Huf­ nerstraße zu dem gepachteten Grund in Bramfeld, eine endlose Strecke - über Fuhlsbüttlerstraße, Mildestieg, Steilshooper Stra­ ße und Bramfelder Redder, bis an die keuchend erreichte Haupt­ pforte des Schrebergartengeländes. Dort immerhin erheiterte uns ein Schild mit schwarzer Schrift auf hellem Grund: »Ich sage dir, hier laß das sein, wer Dreck hinwirft, der ist ein ...« - dahinter ein gezeichnetes Schwein. Dann an der Kantine vorbei und hin zu dem zehn mal fünf­ zig Quadratmeter großen Rechteck, wo wir erst einmal alle vor Ermattung zusammenbrachen, Großeltern, Eltern und Söhne, ei­ ner hier, der andere da, wo wir gerade standen. Mir wird noch schlecht, wenn ich in einem alten, sämtliche Straßen namentlich aufführenden »Atlas für Hamburger Schulen« die Marathon­ strecke zwischen Barmbek und Steilshoop nachziehe, die wir un­ zählige Male zurückgelegt haben. Ungeachtet der Strapazen aber wurde der Schrebergarten mei­ ner Großmutter für mich zu einem Ort erwartungsvoller Freude und besonderer Empfindungen. Auf einer Schaukel hin- und her­ pendelnd, konnte ich inmitten all der Büsche und Sträucher stun­ denlang in den Himmel blicken, von ringsum die Düfte einatmen und auf die Geräusche aus der Laube horchen, wo Mutter und Großmutter die Mahlzeiten anrichteten. Was seltsamerweise, so schien es mir jedenfalls, die doppelte Zeit wie zu Hause brauchte und auch immer zu heiß serviert wurde. Trotzdem schmeckte es auch hier, wie an der Elbe, anders, war der Appetit fordernder, die Umstände, wie er gestillt wurde, abenteuerlicher. Abenteuerlich war allerdings war auch meine Unfähigkeit, mit dem Naschen zu warten, bis die Früchte reif waren - darin übrigens vom Bruder noch übertroffen. Obwohl wir uns nach



getanem Frevel schworen, ihn nie mehr zu wiederholen, wurden wir immer wieder schwach, stopften wir uns immer wieder voll mit Beeren, Äpfeln, Birnen und Kirschen, deren Äußeres kei­ nerlei Hehl daraus machte, daß ihre Zeit noch nicht gekommen war. Ein Tun, das vor Eltern und Großeltern natürlich verborgen bleiben und deshalb konspirativ angegangen werden mußte. Was sich jedoch meist nicht verbergen ließ, waren die natürlichen Fol­ gen der zu frühen Ernte. Wir krümmten uns nur so, wenn die un­ gegorenen Säfte in unseren kleinen Mägen wüteten, von der mit Recht unwirschen Mutter dann zwar heftig umsorgt, aber trotz schlechten Gewissens unbelehrbar - wußten wir doch: Der näch­ ste Rückfall kommt bestimmt. Dennoch war der Schrebergarten bald so selbstverständlich in unser Dasein integriert, daß die Frage auftauchte, was wir eigent­ lich so lange ohne Bramfeld gemacht hatten. Ohne die heißen Sommer auf seinem Grund und Boden; den Anblick des schilfbe­ standenen, nierenförmigen Sees, mit dem dunklen Horizont des Ohlsdorfer Friedhofs; ohne die langen, von mir auf der Schaukel beobachteten Sonnenuntergänge; das Quietschen der Pumpe, wenn sie Wasser hochsaugte; nicht zuletzt ohne die Gespräche mit dem Nachbarn hinter der Brombeerhecke, Witwer, hilfsbe­ reit, die Freundlichkeit in Person - alles Bilder, die sich bis heute tief in meine Erinnerungen eingebrannt haben. Die Bearbeitung des kleinen Fleckchens Humus lohnte sich ein­ fach, die Ausbeute war beträchtlich und die körperliche Leistung der Großmutter phänomenal. Den mir von ihrem Vater Adolf Se­ ligmann, meinem Urgroßvater, geschenkten Blockwagen vollbela­ den hinter sich herziehend, so kam sie aus Bramfeld zurück, äch­ zend, aber sieghaft. Die kleine, immer etwas nach vorn gebeugte Gestalt auf ein Staket gestützt, ordnete sie gebieterisch an, was jeweils in die Wohnungen Hufnerstraße 113, unsere, und 110, die ihre, gebracht werden sollte, pedantisch darauf bedacht, daß die Verteilung anweisungsgenau befolgt wurde. Dann verschwand sie abschiedslos und ward nicht mehr gesehen. Sehr wohl aber konnte es sein, daß sie vierundzwanzig Stunden später mit dem hochbepackten Bollerwagen wieder an der gleichen Stelle stand, so ächzend und unerschütterlich wie am Tag zuvor. Ja, eine großartige Spenderin war diese Großmutter, die gleich­ 4i

wohl ihre guten Taten unverbesserlich begleitete mit notorischen Nörgeleien an ihrem Schwiegersohn, meinem meist störrisch reagierenden Vater, und mit jenen wilden Attacken gegen ihren schweigend gefügigen und grenzenlos geduldigen Mann, deren Zeuge ich von klein auf geworden war - Rudolph Lehmkuhl. Ein Mensch, mit dem ich bis zu seinem Tod 1952 niemals ein schroffes Wort gewechselt habe; Inbegriff der Zuverlässigkeit, das fleischgewordene Vertrauen selbst - mein verehrter Opa Ru­ dolph. Und doch war nicht er die Hauptperson meiner Kindheit, nicht er ihr Mittelpunkt und Zentrum. Mittelpunkt und Zentrum meiner Kindheit war, neben den El­ tern, der andere, der italienische, der sizilianische Großvater.

Gehrock, schwarzer Hut, Stehkragen, Krawatte, Spazierstock so sehe ich noch Rocco Giordano oben aus der Fuhlsbüttlerstraße in die Drögestraße einbiegen, einen gellenden Pfiff ausstoßen und mir zuwinken, der in ungefährer Kenntnis seiner Ankunft wie gebannt auf diesen Anblick gewartet hatte, nun dem Großva­ ter entgegenlief und in seine ausgebreiteten Arme stürzte - Opa Rocco! Damals natürlich noch ohne jede Kenntnis seiner Lebens­ geschichte und ihres tragischen Verlaufs, nur dunkel gestreift von seiner Tätigkeit als Angestellter einer Schneiderei in der Hambur­ ger Innenstadt, doch ganz im Banne der exotischen Erscheinung, war ich froh, wenn er nun mit mir die eine Treppe erklomm und in der Wohnung etwas tat, das mich mit sprachlosem Entzücken erfüllte (und es bis heute tut). Der Sizilianer nahm mich auf sei­ nen Schoß und begann, mir mit Daumen und Zeigefinger zärt­ lich die Ohrläppchen zu zwirbeln. Ich muß das hier wiederholen, diese Geste einer Gewogenheit, wie ich sie nie wieder erlebte, so­ zusagen der Ursprung meines Glaubens, daß die Welt gut sei und daß sie es gut mit mir meine: Opa Rocco setzte mich auf seinen Schoß, wiegte den Oberkörper leicht hin und her und drückte mir mit seinen Fingern unendlich sanft und doch ganz spürbar die Läppchen meiner beiden Ohren. Ich soll dabei, so später die Eröffnung meiner Mutter, ge­ schnurrt haben wie ein gestreicheltes Kätzchen. Wenn Rocco uns ohne Emma Giordano, seine Frau, aufsuchte, 42

dann um mich zu holen in die großelterliche Wohnung, Roonstraße 31, für mehrere Tage - ein unerhörtes Erlebnis. Das allein schon, weil es dahin nicht über die kurze Hochbahn­ strecke Barmbek-Hoheluft ging, sondern über die lange, über den Ring, quer durch die Hansestadt und auf meinen besonderen Wunsch hin - die Hafenstrecke. Immer streng an der Hand des Großvaters (so ihm von meiner Mutter eingeschärft, ja, zugeschworen), preßte ich schon hinter der Station Rödingsmarkt die Nase aufgeregt an die Zugscheibe, ehe ich dann kurz darauf, zwischen Baumwall und Landungs­ brücken, wie erstarrt auf das Panorama blickte. Auf der glitzernden Fläche der Norderelbe die bulligen Schlep­ per und die grünen Fährschiffe; drüben, auf Steinwerder, die stählernen Fronten von Blohm & Voss, der Stülcken- und der Deutschen Werft; die schaukelnden, damals noch hölzernen St.Pauli-Landungsbrücken; der patinierte Kuppelbau des Elbtunnels; die stolze Überseebrücke, wo die großen Pötte festmachten, die eigentliche Sensation. Die Passagierschiffe der Hamburg Süd und der HAPAG, schwimmende, fernwehweckende Majestäten die »Cap Arcona«, die »Monte Sarmiento«, die »Monte Rosa«, die »Albert Ballin« und die »Cap Polonio«. Aus deren mächtigen Pfeifen es manchmal nachts, wenn sonst alles still war, dumpf her­ überdröhnte bis in den Norden der Stadt und in meinen Schlaf. Da ich mich nicht so schnell trennen mochte von der erregen­ den Ouvertüre des großen Tages, stieg der Großvater oft mit mir an der Station Landungsbrücken aus, sah geduldig zu, wie ich ver­ zückt die vibrierende Luft einsog, und ließ mich keine Sekunde aus der Hand, ehe es mit dem nächsten Zug bis zur Station Hohe­ luft weiterging. Dann, den Großvater über Isebekkanal und Bismarckstraße immer eiligeren Schrittes hinter mir herziehend, die Ankunft Roonstraße 31, drei Treppen hoch, nach hinten heraus, ein un­ verwechselbares Fluidum, einmaliges Ensemble aus Gerüchen, Licht, Bildern, Stimmen. Die Grünpflanzen auf hölzernen Stän­ dern vor den Fenstern im Wohnzimmer; das nie mehr benutzte Pianoforte; darüber ein Kindheitsfoto meines Vaters; der Zigarren­ abschneider aus Messing; das heruntergesessene Sofa; das kleine, »halbe« Zimmer, mit dem Balkon und dem Blick auf die Hofseite des riesigen Häuserblocks. Der klinisch saubere Anblick des groß­

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elterlichen Schlafzimmers; die schmale Toilette, und daneben die Rumpelkammer. So nannte ich diesen geheimnisvollsten, berückendsten, die Phantasie mehr als alles andere beflügelnden Ort meiner Kind­ heit. Eine sorgfältig aufgehängte Uniform, helle Hose und dunk­ les Jackett, besetzt mit großen Knöpfen, Kordeln, Tressen, an der linken Brustseite mit metallenen Orden gespickt; eine hohe Schirmmütze mit einem weißen Federbusch; ein schwerer, halb aus der Scheide gezogener Säbel; eine mächtige Trommel; eine grün-weiß-rote Schärpe; eine patronenlose, in einem Pappkarton versteckte Pistole; ein hölzerner Stab, dünn, aber offenbar unge­ heuer hart; und schließlich, ebenfalls an der Wand befestigt und doch irgendwie gesondert angebracht - eine Trompete. Während die Textilien einen vernachlässigten, ausgebleichten Eindruck machten, war das Instrument stets auf Hochglanz poliert. Wer tat das - Rocco oder Emma? In dieser Kammer, immer irgendwo das aufgeschnappte Wort maestro im Kopf, habe ich Stunden um Stunden zugebracht. Auch wenn ich die größeren biographischen Zusammen­ hänge damals natürlich noch nicht verstehen konnte, so hatte ich doch immerhin begriffen, daß alle diese Gegenstände mit dem musikalischen Vorleben des Großvaters zu tun hatten. So etwa, daß ihm der dürre Stab aus Eisenholz vom Zaren, dem Herrscher aller Russen, überreicht worden und Opa Rocco einst Chef eines großen Orchesters war. Weil darüber aber so gut wie nie gespro­ chen wurde, fühlte ich mich gehemmt, Fragen zu stellen. Was ich mir ebenfalls nicht erklären konnte, war eine seltsame Klage, die der Großvater manchmal ausstieß, wenn ich auf sei­ nem Schoß saß und er mir die Ohrläppchen zwirbelte, ein Dop­ pelausruf, den ich phonetisch in Erinnerung habe als »Zitschilia, Zitschilia« und der etwas Verwehtes an sich hatte. Es wird siebzig Jahre dauern, bis so etwas wie ein biographisches Wunder Licht in dieses Dunkel bringen wird. Jetzt beeinträchtigte Ungewisses die innigen Beziehungen zu dem geliebten Großvater aber in keiner Weise, im Gegenteil, das Geheimnisvolle, das sich da auftat, band mich nur noch fester an Opa Rocco. Krönung der Familienchronik aber, sozusagen ihr geselliger

Höhepunkt, war ein Ereignis, das uns quasi zeremoniell zusam­ menführte, zu allen Jahreszeiten und bei jedem Wind und Wet­ ter - das allmonatliche Spaghettiessen! Das wartete nicht, bis wir im dritten Stock angelangt waren, das kroch uns bereits bei Betreten des Treppenhauses in die Nase, verstärkte sich noch auf dem Weg nach oben und umhüllte uns schon im Flur wie ein unsichtbarer Mantel. Von der Küche her hörten wir in der fürchterlichen Misch­ sprache des Hausherrn jene strengen Anweisungen, von denen die Großmutter mir gegenüber später behaupten wird, sie habe zwar stets dazu genickt, sie jedoch nie wirklich befolgt. Ob das nun stimmt oder nicht - Spaghetti wie bei dieser spaghettata siciliana jedenfalls habe ich in meinem Leben nie wieder vorgesetzt bekommen. Ihre Spezialität war übrigens eine Scheibe aus gekochtem Och­ senfleisch, die zuoberst auf die unter der dicken Schicht strengen Parmesans fast abgekühlten Nudeln gelegt wurde und die zuerst genossen werden mußte. Damit trat nun jenes Ereignis ein, auf das wir Brüder schon warteten, ja, förmlich lauerten, ohne uns diesen inneren Span­ nungszustand äußerlich anmerken zu lassen. Während wir anderen um den festlich gedeckten Tisch herum das kulinarische Ritual befolgten und brav das Fleisch vertilgten, ehe wir mit der Gabel auf die saucetriefende pasta stießen, ließ Emma ihre Scheibe unberührt liegen. Und das nicht zufällig. Denn unmittelbar, nachdem Rocco die seine verspeist hatte, holte er mit nie fehlendem Gabelstoß das Fleisch von Emmas Teller zu sich herüber, um es ohne jedes Zeichen von schlechtem Gewis­ sen, ja, seelenruhig zu verspeisen. Zu jung noch, um dieses martialische Schlaglicht auf die Bezie­ hung der Großeltern begreifen zu können, hatten der Bruder und ich die größte Mühe, nicht laut loszuprusten. Wie konnte ich damals ahnen, was ein Leben an der Seite die­ ses gescheiterten und weit entfernt von Sizilien gestrandeten Ge­ nies bedeutete? Eine glückliche Ehe war das nicht. Die Großmutter, die ihren Mann um zweiundzwanzig Jahre überleben wird, habe ich bis zu ihrem Tod Anfang der fünfziger Jahre äußerlich immer gleich im Gedächtnis, ohne unterschied45

liehe Daseinsstadien sozusagen. Sie blieb für mich die alte Frau, als die ich sie von Anfang an wahrgenommen hatte, in den fuß­ langen Kleidern und Mänteln, Hüten und Rüschen der Vorkriegs­ mode. Eine gütige Oma, von der ich damals nur mitbekam, daß die Beziehungen zu ihrer Schwiegertochter, meiner Mutter, nicht die besten waren, wenn auch ohne offene Auseinandersetzung. Die halbe Schwedin, halbe Dänin sprach zwar besser Deutsch als Rocco, hatte aber doch einen hörbar skandinavischen Akzent. Daß Emma Giordano, geborene Schoultz, dereinst eine wich­ tige Auskunftsquelle für ein literarisches Lebenswerk von mir werden sollte, davon hatte ich in der zweiten Hälfte der zwanzi­ ger Jahre des vorigen Jahrhunderts, zur Zeit der Besuche bei Opa Rocco, keine Ahnung. Was ich spürte, schmeckte, roch, betastete, war einfach nur wunderbar. Das Leben - ein Paradies.

IV. Zentrales Fest der Giordanos aber war Weihnachten: eigentlicher Mittelpunkt, auf den alle anderen Festlichkeiten zustrebten, ein Magnet, der die ganze Sippe am 24. Dezember in sprachlosem Staunen vor das alljährlich wieder vom Vater herausgeputzte und im Wohnzimmer aufgestellte Prachtstück führte - einen an die drei Meter hohen, dichtnadeligen, tadellos gewachsenen, kerzen­ geschmückten Tannenbaum. Voll war er von schweren, leuchtend­ roten und -grünen Kugeln, von farbigen Zuckerkringeln, schwe­ bender Lametta, wolkigem Engelshaar, gläsernen Vögelchen mit ätherisch zitternden Seidenschwänzchen und, gleichsam als krö­ nendes Szepter, dem güldenen Stern auf der Baumspitze. Mein Bruder und ich waren ganz in der Vorstellung des sowohl gütigen wie auch strafenden Weihnachtsmanns aufgezogen wor­ den, einer offenbar in unmittelbarer Nähe zum Lieben Gott an­ gesiedelten Autorität, mit der nicht gut Kirschenessen war - was ich hier ausdrücklich eitern- und kulturkritisch anmerke. Also hatte ich auch meine liebe Not mit der Erscheinung, die da »von drauß’ vom Walde« herkam und uns Kinder beehrte: eine hohe Gestalt, mit seltsam starrem Gesicht unter der Kapuze, 46

in einen weiten, weißgesäumten roten Mantel gehüllt, bartumwuchert, rutenbewehrt und auf dem Rücken einen großen Sack. Vor der Bescherung von der ebenso gefürchteten wie herbei­ gesehnten Untergottheit befragt, ob ich denn das Jahr über auch artig gewesen sei, soll ich zwar mit fester Stimme »Ja!« ausgeru­ fen haben, während aber alle zehn Finger meiner im Rücken ver­ schränkten Hände gleichzeitig heftig rotiert hätten, so später die Mutter. Nicht ganz unbegründet, hatte ich doch noch in bester Er­ innerung, den zwar älteren, jedoch von mir dominierten Bruder aus nichtigen Anlässen unsanft an den Haaren gerissen zu haben. Aber ob ich nun den Mann mit dem merkwürdig starren Antlitz da vor mir tatsächlich von meiner Wahrheitsliebe, besser, meiner Fähigkeit zu schwindeln, überzeugt hatte oder nicht - die demon­ strativ zur Schau getragene Rute trat jedenfalls nie in Aktion. Dann der große Augenblick - die Öffnung des unergründli­ chen Sackes, aus dem die Geschenke hervorgeholt wurden. Doch was auch immer daraus zum Vorschein kam, ich fieberte nur einem davon wirklich entgegen, dem Moment, ohne den es für mich kein wahres Weihnachten gegeben hätte, der aber grundsätz­ lich stets der letzte war. So hatte die ganze Sippe Zeit genug, sich an meinen mal von Enttäuschung, mal von Hoffnung gezeichne­ ten Mienen zu ergötzen, ehe sie dann beim Anblick des Kartons mit der Eisenbahn - Lokomotive, Wagen und Schienen - in ein erleichtertes Aufleuchten übergingen. Ein metallen kühles Spiel­ zeug, das seine Energie geräuschvoll aus einem kräftigen Uhr­ werk bezog und unter meinem glücklichen Lächeln Runde um Runde auf den zusammengesteckten Gleisen drehte. Heute stolzer Besitzer einer ansehnlichen Sammlung dampfge­ triebener Modelleisenbahnen, denke ich mit Wehmut zurück an die tiefe Freude über so bescheidene Anfänge einer lebenslangen Vorliebe. Wie ich auch an den unwiederbringlichen Zauber denke, in den das Weihnachten der Kindheit eingehüllt war. Erinnerungen an Köstlichkeiten wie Traubenrosinen und Wickelkuchen; an den frühmorgendlichen Gang ins Wohnzimmer kurz nach dem Erwachen am ersten Weihnachtstag; an den Duft des Baumes mit den- ungleichmäßig herabgebrannten Kerzen; an das Chaos der überall verstreuten Geschenke, an eine durch das Große Fest grundveränderte Atmosphäre - und das nicht nur in der eigenen 47

Wohnung, sondern auch in der Straße, ja, im ganzen Viertel. Oft verschwand ich Heiligabend in das nach hinten heraus gelegene Schlafzimmer von uns Brüdern und horchte bei geöffnetem Fen­ ster in den Hof des Häuserblocks. Von dort erklangen dann mit ungeschulten Stimmen Melodien, die mich dennoch entzückten. Nicht nur das obligatorische »Stille Nacht, heilige Nacht« oder »O du fröhliche, o du selige, gnadenbringende Weihnachtszeit«, sondern auch andere, nicht so bekannte wie »Ihr Kinderlein, kom­ met, o kommet doch all!« oder »Komm mit mir nach Bethlehem, dideldudel, dideldudel, dideldudeldei ...« Das summte ich begeistert mit, ehe ich mich wieder in die Ge­ meinschaft der versammelten Sippe begab. Wie herrlich das alles - konnte man da nicht aus der Haut fah­ ren? Das Festlichste vom Festlichen aber, kulinarisches Glanzstück, im Andenken der Familie übers Jahr hin häufig beschworen und bei trister Durchschnittskost das Objekt ebenso selbstquälerischer wie speichelfördernder Familiengespräche - Festlichstes vom Festlichen war ein mächtiger, saftiger, ungeheuer verlockender Schweinebraten! Duftend, mit krosser, in kleine Würfel zerschnit­ tener Schwarte, ein im Küchenherd hörbar brutzelndes Ungetüm von fünfzehn Pfund und mehr, wurde er zur Bestimmungszeit von der Sippe mit unglaublichem Appetit bis auf die letzte Faser vertilgt. Und das in einer Familie mit mütterlicherseits jüdischem Zweig. Irgendwelche diesbezügliche Bedenken hat es aber zu der Zeit noch nicht gegeben. Und so bestätigte denn Weihnachten, wie es damals von uns begangen wurde, im Grunde zweierlei. Erstens - etwas Familiäres, nämlich die Unterordnung meiner sonst bis in die Knochen jiddischen Mamme Lilly Giordano un­ ter ihren Mann, meinen Vater, einen Anhänger der sogenannten Christlichen Wissenschaft (Christian Science), einer Sekte aus dem Amerikanischen mit Hauptsitz in Boston. Davon später mehr. Dann aber auch, zweitens, etwas Allgemeineres - nämlich die tiefe Integration der deutschen Juden in die Gesellschaft der Wei­ marer Republik. 48

Natürlich hat es damals Juden gegeben, die sich streng an die Riten, Sitten und Gebräuche der mosaischen Religion hielten, andere, die sich nur an den Feiertagen - wie Pessach, Rosch haSchana, Jom Kippur, Purim, Chanukka - ihres Judentums erin­ nerten. Darunter meine Urgroßeltern Helene und Adolf Selig­ mann, mit denen ich schemenhaft solche Bilder verbinde. Für die große Mehrheit der deutschen Juden jedoch, auch und erst recht für die in Mischehen (wie meine Eltern), war nach einer fast zweihundertjährigen Geschichte der Entghettoisierung und Emanzipation ein Gefühl herangereift, das während der Weima­ rer Republik seinen ideellen und materiellen Höhepunkt erreicht haben dürfte: Zugehörigkeit, absolute, unangezweifelte Zugehö­ rigkeit. Matze wurde dann und wann bei uns gereicht, aber ohne reli­ giöses Beiwerk. Eine Trennung von Milchding und Fleischding samt dem Geschirr und den Bestecken hat es nie gegeben. Wenn es doch Jüdisches gab, dann als Bestandteil unseres Sprachschat­ zes, mit überkommenen Ausdrücken wie Chasserkopp, Ganev, Schmodder, Jelodimche, Nebbich, Schlehmil oder auch Ausrufe wie Oi wei, Oi wei.

Natürlich dauerte der kindliche Glaube an den Weihnachtsmann nicht an. Obwohl die pittoreske Erscheinung am Heiligabend stets in gehöriger Entfernung von allen Lichtquellen gehalten worden war, wurde ihr seltsam starres Antlitz der eigentliche Grund un­ serer Nachforschungen. Durch höhnende Reden wissenderer Klassengefährten der Volksschule Bramfelder Straße und von unserem untergründigen Mißtrauen in immer tiefere Zweifel über die wahre Existenz dieses irdischen Abgesandten von Got­ tesgnaden gestürzt, machten wir Brüder uns schließlich auf die häusliche Suche nach der Maske (hinter der, das war bald klar, kein anderer gesteckt haben konnte als Opa Rudolph, so gro­ ße Mühe er sich auch gegeben hatte, seine Stimme guttural zu verstellen). Und tatsächlich entdeckten wir das Corpus delicti dann auch bald - in der Besenkammer, mitten unter einem gro­ ßen Stoffhaufen, in Form bemalter Pappe. Die schleppten wir im Triumph vor Vater und Mutter, die erstaunt taten, ehe sie mit uns darüber lachten. • 49

Doch ging zunächst auch ohne Glauben an den Weihnachts­ mann alles so weiter wie bisher, mit Tannenbaum und Lichtern, der pünktlichen Versammlung der ganzen Sippe am 24. Dezem­ ber in der Hufnerstraße 113, und dem duftenden, krossen, vom ei­ genen Saft getränkten und zur Bestimmungszeit in kürzester Zeit restlos vertilgten Schweinebraten. Als würde es nie ein Ende nehmen.

In der Volksschule Bramfelder Straße waren die Gebrüder Gior­ dano Ausnahmeerscheinungen. Die innere Selbstverständlichkeit, mit der der Vater, das Wun­ derkind, sich von der profanen Umgebung abheben wollte, hatte seinen sichtbaren Ausdruck in der Frisur der Söhne gefunden unsere Haare waren mal pagen-, mal bubikopfhaft geschnitten, auf jeden Fall mädchenhaft lang. Einen solchen Kopfschmuck wies kein anderer der etwa fünfhundert Schüler auf. Die Hänse­ leien, denen wir deshalb ausgesetzt waren, trugen wir zwar mit einem gewissen Trotz, aber doch auch mit dem innigen Wunsch, möglichst bald von der äußeren Abhebung befreit zu werden. Die Erfüllung ließ jedoch gut zwei Jahre auf sich warten, und das auch noch mit unterschiedlichen Terminen. Zuerst wurden die braunen Locken des Bruders, danach meine schwarzen auf gewöhnliches Maß gestutzt, ein Zustand, der sich anfühlte, als wä­ ren wir eines wärmenden Schutzes beraubt worden, ohne daß wir ihm jedoch nachtrauerten. Die Schule, ein Backsteinklotz zwischen der Steilshooper und der Bramfelder Straße, eine Hälfte für Knaben, die andere für Mädchen, war vor allem der Schauplatz neuer Begegnungen, dar­ unter aufregende Beziehungen, denen ich ewige Treue und An­ hänglichkeit schwur. Ich habe noch Namen von Klassengefähr­ ten im Kopf, die ich mit solchem Enthusiasmus überfiel - Otto Puls, Herbert Fesser, Günter Hermann, Detlef (Diddl) Wist (sie mögen sich, falls sie dieses lesen, bei mir melden!). Namentlich vom letzteren, Detlef Wist, habe ich eine folgenträchtige Szene in Erinnerung. Von unserer Klassenlehrerin Fräulein Lyon jeden Montagmor­ gen wieder aufgefordert, über Erlebnisse des Sonntags zu berich­ ten, erzählte Freund Detlef einmal von einem Besuch im Barmbe­ ker Krankenhaus, wo seine Großmutter mit einer Halsentzündung



lag. In guter Absicht hatte der Enkel ihr Milch mitgebracht, die sie aber leider nicht zu sich nehmen konnte, weil - und nun Detlef (Diddl) Wist vor fast achtzig Jahren wörtlich - »Milch schleimt«. Ich erstarrte - ich, den die Mutter dreißig Monate an der Brust genährt hatte und von dem Großmutter Selma behauptete, er habe »Kühe ausgesoffen«, habe seither nie wieder pure Milch ge­ trunken: »Milch schleimt.« Da waltete offenbar von früh auf eine spezifische Ästhetik, die mir bis heute zu schaffen macht, zum Beispiel, wenn ich mit un­ überwindlicher Abneigung sehe, wie Leute sich beim Essen die Finger abschlecken, ohne sie danach mit einer Serviette von den Bratkartoffel- oder Steakmolekülen zu säubern, die daran haften. Oder wenn ich grundsätzlich aus jeder Tasse mit nach links ge­ drehtem Henkel trinke - weil die normale Mundberührung auf der anderen Seite erfolgt. An meinen Sympathien für Detlef (Diddl) Wist hat sein un­ schuldiger Montagmorgenbericht übrigens nichts ändern kön­ nen, an seinen Auswirkungen allerdings auch nicht. Ein anderer Fall war Günter Hermann. Der hatte, mit meiner Zustimmung, die Angewohnheit, mich nicht nur in schwierige philosophische Gespräche zu verwickeln, sondern auch Antworten zu fordern, so etwa auf die Frage, ob Tiere sprechen könnten, die Sonne ein Herz habe oder die Mensch­ heit ewig leben würde. Worauf ich allen möglichen Unsinn erwi­ derte, aber nun meinerseits erpicht war, ihn mit den Produkten meiner eigenen Phantasie zu behelligen, darunter Überlegungen wie: Ob der Baum denn wohl Schmerz fühle, wenn er zersägt würde; wie hoch der Mensch springen könnte, wenn er über die Fähigkeiten eines Flohs verfügte; oder ob Fliegen sich auch mit nur einem Flügel noch in die Luft erheben können. In derlei Tiefsinniges versunken, zogen wir, Günter Hermann und ich, Arm in Arm über den Schulhof und durch die Gänge, eine Einheit der Wißbegierde und des Forscherdrangs. Wenn ich aber einmal einen Tag gefehlt hatte, nahm derselbe Günter Hermann mich am nächsten Morgen beiseite, schaute mich vielsagend an und meinte dann: »Es war viel leichter, als du nicht da warst, viel leichter ...« Ich weiß bis heute nicht, ob das als Vorwurf oder als Kompli­ ment gemünzt war. S

Dann die Affäre Helmut Horn. Der zählte, wie ich, zu den Kleineren der Klasse - was ihn je­ doch nicht solidarisch machte. Denn als ich ihm einmal auf dem Schulhof während der Pause unabsichtlich Obst aus der Hand stieß, fauchte er, meine Entschuldigung nicht zur Kenntnis neh­ mend: »Dafür schlagen wir uns!« Und noch einmal: »Dafür schla­ gen wir uns!« Das war nichts Ungewöhnliches an einer Schule, wo es nicht im­ mer zimperlich zuging, ja, physische Auseinandersetzungen an der Tagesordnung waren und rauhe Gesellen das große Wort führten. Was aber mein eingeborenes Entsetzen vor körperlicher Gewalt nur noch steigerte. Da die Herausforderung jedoch auch von ande­ ren gehört worden war, konnte ich ihr schlecht ausweichen, ohne den ungeschriebenen Ehrenkodex der Schülerschaft zu verletzen. Trotzdem versuchte ich die Drohung einfach zu ignorieren, bis die öffentliche Kontrolle und die Hartnäckigkeit des Kontrahen­ ten keinen Ausweg mehr ließen und Stunde und Ort des Kampfes festgesetzt wurden: auf dem buschbestandenen Dreieck vor der Schule, gegenüber dem Kino »Am Zoll«, da, wo die Bramfelder Straße und die Steiihooper Straße zusammenstießen. Ich war wie gelähmt, als es soweit war und wir uns beide, von einem sensationsgierigen Mitschülerkreis umringt, mit erhobe­ nen Fäusten voreinander aufgestellt hatten. In meiner Verzweiflung fiel mir nichts Besseres ein, als der Lo­ sung »Angriff ist die beste Verteidigung« zu folgen, so daß ich mich auf den Gegner stürzte und ihm, ehe er sich’s versah, einen Schlag auf die Nase versetzte. Worauf er zu Boden ging, sich zu meinem Schrecken aber rasch wiederaufrappelte und mit gesteigerter Wut auf mich einstürmte. Ich hatte die Fäuste schon sinken lassen. Die Rettung kam von außen, in Gestalt eines älteren Mannes. Von der anderen Straßenseite herübereilend, trennte er uns, beschimpfte uns lautstark, zwang uns, einander die Hände zu ge­ ben, und rief dann aus: Gerade die Kleinen hätten zusammenzu­ stehen und einander zu helfen. Zu meiner nicht mehr meßbaren Erleichterung war das das Ende des gefürchteten Zusammenstoßes. Einen zweiten gab es nicht, alles blieb friedlich. Nie auch nur ein Mißton kam von meinem Schulintimus Otto Puls, einem Jungen, der sich immer verlegen die Lippen befeuch5*

tete, wenn ihn Zeichen meiner Sympathie erreichten. Das fand ich drollig, sagte es ihm aber nicht, weil ich es so gern sah und er diese Zungenübung dann vielleicht beendet hätte. Ich erinnere mich an Mitschüler, deren Namen, nicht aber Vor­ namen ich behalten habe - Pommikala, Schneidereit, Peters, Borwitzki, Loch -, deren Gesichter ich aber noch wie gestochen vor mir habe. Manche waren sanft, andere knurrig, einige hochsensibel, viele derb, und einer hieß, zu seinem Verhängnis, Stange. Was irgend jemanden zu einer Komposition inspirierte, den niemand kannte, dessen plebejische Schöpfung aber um so häufiger gesungen oder, genauer, gegrölt wurde, mit diesem Libretto: Stange hat ’ne Hose an, die reicht ihm bis zum Knie, und wenn er sie noch höher zieht, dann sieht man seine (...)

Kunstpause, ehe es dann, noch dröhnender, weiterging: Stange hat ’ne Hose an, die reicht ihm bis zum Knie.

Ein oft bis zur Erschöpfung wiederholter Refrain. Zuerst noch schüchtern, dann dreister, fiel ich oft in ihn ein, nicht ohne ein gewisses Entzücken, daß es sich um etwas offensichtlich Anstö­ ßiges handelte. Im Unterricht zählten der Bruder und ich wie selbstverständ­ lich zur Klassenspitze. Wir hatten rasch lesen und schreiben gelernt, uns ergötzt an Fi­ belgeschichten, wie der vom »dicken, fetten Pfannekuchen«, der »kantapper, kantapper in den Wald lief«, und tummelten uns im Unterricht wie Fische im Wasser, jenseits jener Schwerkraft, die andere Mitschüler so sichtlich nach unten zog. Jetzt regte sich in uns auch so etwas wie eine innere Opposi­ tion gegen jene verfehlte Geleitzugpädagogik von Mutter und Großmutter, die den Bruder und mich in den Augen einer robu­ sten Schülerschaft zu Trotteln degradierte, zu blöd, den kurzen 53

Weg zwischen Hufnerstraße und Bramfelder Straße allein zu schaffen. Und so fand denn eines Tages auch diese übertriebene Beglei­ tung ihr Ende. Nicht ohne die ernstesten Bedenken der Mutter, die uns am liebsten auch noch während des Unterrichts im Auge behalten hätte. Unsere Zensuren waren glänzend, alle Fächer mit i und 2 be­ notet (bei einem System von 1 bis 5). Die Beteiligung am Unter­ richt wurde gerühmt, wenn auch mit unterschiedlich bewertetem Temperament. War bei dem Älteren hinter Betragen »Ruhig, sehr ernsthaft« eingetragen, so bei mir: »Von rascher Auffassungsgabe, außerordentlich lebhaft.« Diese erste Schulzeit stand ganz im Banne von Fräulein Lyon, unserer Klassenlehrerin - einer stattlichen Frau, mit dunklem Haarschopf, tiefer Stimme und immer in Blusen von zarten Farben gekleidet. Zwischen ihr und der Mutter hatte sich bald eine vertraute Beziehung hergestellt, ich sehe beide Frauen noch im Gespräch vertieft auf dem Flur vor dem Lehrerzimmer. Na­ türlich ging es um uns, die Kinder, Lilly Giordanos Augäpfel, ein nicht ausgehender Gesprächsstoff. Dann, eines Tages, war die Klassenlehrerin weg, hatte sie Deutschland verlassen - weitsichtig. Fräulein Lyon war Jüdin.

V. Nach der Schule - die Sandkiste. Das war ein mauerumschlossenes Dreieck zwischen Rüben­ kamp und Bahndamm, mit einem abgesonderten Altenteil, einem Pinkelwinkel-Nur für kleine Kinder (woran sich niemand hielt), zwei Schaukeln, einer Wippe und Sand, Sand, Sand. Da wurde gegraben und gehäufelt, war nasser Sand begehrter als trockener, weil der nicht so rasch zerfiel und seine, wenn auch kurze, Konsistenz wahre Wunderwerke ermöglichte - Schlösser, Burgen, Wolkenkratzer, Höhlen gar, Tiergestalten, kleine und große, darunter eine berühmte, der »weiße Elefant« genannt. Gleichzeitig probte eine Gruppe von Mädchen und Jungen aus der Drosselstraße mit großem Ernst ein Theaterstück, in dem es

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Helden gab und Schurken, bedrohte Jungfrauen und Drachen, mit deklamatorischer Leidenschaft vorgetragen und nicht ohne dramatisches Talent. Natürlich ging es um den Kampf der Guten gegen die Bösen, seien es Ritter oder Bauern, seien es Indianer oder Trapper, wobei letztlich immer die Schwachen siegten. Da waren Hochgefühle im Spiel, brennende Wangen, banges Hoffen und Warten, manchmal auch Tränen, und jedesmal am Ende der gleiche Jubel. Wirklich in Ordnung war die Welt nach dem Fall des fiktiven Vorhangs aber erst, wenn aus den jugendlichen Keh­ len, gleichsam um der Rührung eine Ohrfeige zu versetzen, die Sandkistenhymne erscholl:

Klau''n, klau’n, Appel wüllt wi klau’n, husch husch öbem Zaun. Ein jeder aber kann das nicht, denn er muß aus Barmbek sein

Das war zwar lokalpatriotisch verfälscht, da es eigentlich »aus Hamburg« hieß, doch wehe, wer sich hier einen andern Text er­ laubt hätte. Die Sandkiste - Momentaufnahmen: die große Eiche davor, ei­ nes Nachmittags erklettert von einer angstfauchenden Katze auf der Flucht vor einem riesigen Hund; ringsum Mehlbeer- und Vo­ gelbeerbäume, ihre leuchtenden Früchte, die einen eßbar, die an­ deren gemieden wie schieres Gift; die Laternenzüge, immer noch einmal mit Gesang um die Mauern herum: Laterne, Laterne, Sonne, Mond und Sterne. Brenne auf mein Licht, brenne auf mein Licht, Aber nur meine liebe Laterne nicht. Häkelnde Mütter auf den Bänken; Väter, die ihre Kinder auf der Schaukel in Schwung brachten; in dem großen Becken Zucker­ sand, ganz hell, ganz fein, wüstenartig, auf dem dunklen Unter­ grund von nassem Sand. Die Kommentare der Architekten zu ih­ ren vergänglichen Schöpfungen; und um mich herum alle, die ich von früh auf kannte, Gleichaltrige, Gesichter, Körper, Mienen, ohne die das Leben nicht denkbar war - die Freunde! Günter, aus dem Haus nebenan, Hufnerstraße 115, aufwach­ send bei den Großeltern, ein Junge, der mit Vorliebe ärmellose

Pullover trug und grün um die Nasenflügel wurde, sobald ihn etwas ärgerte, so etwa, wenn meine aufziehbare Spielzeugfeuer­ wehr bei Wettfahrten auf der Straße schneller war als seine. Ein anderer, zweiter Günter, aus der Drosselstraße, dessen Familie über Jahre hin unter akuter Bedrohung stand, wegen säumiger Zahlung auf die Straße gesetzt zu werden, weshalb der knick­ beinige Vater von den Straßenjungen respektlos mit dem höh­ nischen Mahnruf »Die Miete! Die Miete!« bedacht wurde. Im Parterre des Nebenhauses, hinten heraus, die Gebrüder Klint, von einem düsteren Geheimnis umweht, weil niemand ihre El­ tern kannte und keiner von uns je in die offenbar fast möbel­ leere Wohnung gelassen wurde. Dann Hans, Haus Hufnerstraße iii, ein fahler Junge, der unermüdlich aufschnitt und dauernd Leute verprügelt haben wollte, die wir nie zu Gesicht bekamen; Fiete, aus der Fuhlsbüttlerstraße, weißblond, der ernsteste von allen, mit einem Hang zur Philosophie und oft mit dem jüngeren Bruder an der Hand in die Sandkiste kommend. Hanno aus der Drögestraße, ein Draufgänger, der jedem verkündete, er wolle Kapitän werden (und es dann tatsächlich wurde), Sohn einer at­ traktiven Mutter und Bruder einer noch attraktiveren, phantasie­ anregenden Schwester, Ada. Nicht zu vergessen Werner, Sohn des Bäckers Wilke, Hufnerstraße 117, rundlich, mit aufgeworfe­ nen Lippen und von uns anderen beneidet, weil wir glaubten, er könnte jederzeit so viele Punsch- und Cremeschnitten verspei­ sen, wie wir es gern getan hätten. Nicht ganz dazu, aber doch immerhin mit periodischer Anwe­ senheit, gehörten die Gebrüder Gerhard und Siegfried, Zwillinge des evangelischen Glasbläsers Anton Z. und seiner jüdischen Frau Franziska, von allen »Ziska« gerufen. Sie war Helene und Adolf Seligmann einst im Haushalt zur Hand gegangen, schon in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, woraus eine Beziehung entstanden war, die auch nicht abbrach, nachdem sie 1918 geheiratet und den Dienst quittiert hatte. Am Grab meiner L) rgroßeltern, so wird über­ mittelt, soll niemand so viele Tränen vergossen haben wie Ziska. 1921 als zweieiige Zwillinge geboren, zogen Siegfried und Ger­ hard mit dem Glasbläser und seiner Frau kurz nach unserem Um­ zug aus der Heitmannstraße, fast zeitgleich, in die Hufnerstraße, aber weiter unten, am Osterbekkanal. So war die Nähe geblieben, und die beiden waren häufig in der Sandkiste anzutreffen.

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Äußerlich unterschiedlicher als die beiden konnten Brüder kaum sein - Siegfried von geradezu gleißendem Blond, immer mit gereckter Brust, Gerhard dunkel, verwuschelt, mehr in sich zu­ rückgezogen. Gemeinsam hatten beide nur ein verlegenes Lächeln, als müßten sie sich dauernd für ihre Anwesenheit entschuldigen. Ich fühlte mich mehr zu Siegfried hingezogen - ohne die geringste Ahnung zu haben von dem Verhängnis, das da in nicht allzu ferner Zukunft über seinem lichten Haupte schweben wird.

Am meisten hingezogen aber fühlte ich mich zu Heinemann, ei­ nem von sieben Kindern jener Großfamilie, die vor kurzem zum Entsetzen der Hausbewohner mit Sack, Pack und ohrenbetäuben­ dem Lärm Einzug in die Wohnung über uns gehalten hatte. Er, Heinz, der vierte von sieben, war mein Favorit, glühend bewun­ dert, weil er aufbleiben konnte, solange er wollte, und seine Stim­ me von der Straße her sogar noch um Mitternacht zu vernehmen war. Welche Freiheit, welch unabhängiges Leben - Heinemann, Heinemann war mein bester Freund! Und die Sandkiste der Mittelpunkt des Daseins. Dort geschah es dann, an einem warmen Sommernachmittag, im Kreise der Gefährten, ich mit einer Schaufel in der Hand und sieben Jahre alt. Der Spruch war ganz plötzlich da, vor meinem inneren Auge, wie eine an die Wand geschriebene, zugleich aber auch gehörte Vision:

»Du bist freundlich zu ihnen, dann sind sie auch freundlich zu dir.« Ich sah mich um, sah in die Gesichter und war erfüllt von einem Glücksgefühl, das mir die Brust sprengen wollte: Ich mochte sie, sie mochten mich! Und so sollte es bleiben bis in alle Ewig­ keiten. Was sich da soeben getan hatte, war eines von zwei lebensbe­ stimmenden Schlüsselerlebnissen: Ganz intellektfern, rein emo­ tional, hatte sich meine eigentliche Natur definiert, eine frühe, aber daseinslang unkorrigierte Maxime: »Du bist freundlich zu ihnen, dann sind sie auch freundlich zu dir.« Was immer die Wirklichkeit später davon angenagt, ja, bis zur 57

Unkenntlichkeit entstellt haben mag; was immer dieser Maxime nicht entsprach, und das war vielleicht der größere Teil meiner Wirklichkeit - es wird meinen Wünschen, meinem Denken und Fühlen gewaltsam aufgezwungen sein. Ich bin, was ich war und bis an mein Ende bleiben werde: Je­ ner kleine Hamburger, dieser Barmbeker Junge aus der Sandkiste, der der Welt Frieden geben wollte, damit ihm selbst Frieden wer­ de: »Du bist freundlich zu ihnen, dann sind sie auch freundlich zu dir.« Also der Stoff, aus dem Tragödien sind.

Das zweite Schlüsselerlebnis folgte bald darauf - und wird ge­ nauso lebensbestimmend sein. Bulle, Hufnerstraße 111, war von der Natur schwer benach­ teiligt worden. Vierzehnjährig, aber mit der Körpermasse eines Walrosses ausgestattet, war er das ständige Objekt öffentlicher Verunglimpfungen, wüster Beschimpfungen und gnadenloser Nachstellungen. Gehetzt von Kindern und Jugendlichen ohne je­ den Nerv für das Drama, das hier unverbergbar zutage trat und das in dem Geschmähten im Lauf der Zeit eine Wutflamme ent­ zündet hatte. Geduldig auf der Lauer liegend, schoß Bulle plötzlich mit ei­ ner Gewandtheit, die man seinem Gewicht nicht zugetraut hätte, aus dem Treppenhaus hervor, um einen oder mehrere der Verunglimpfer einzufangen und ihnen unter dem Ruf »Salmi! Salmi!« mit dem Knie so ausgeklügelte schmerzhafte Stöße gegen die Oberschenkelmuskulatur zu versetzen, daß das Gewimmer und Geheul groß war. Seine gelegentlichen Erfolge änderten jedoch an der Grund­ situation nichts - wo und wann immer Bulle auftauchte, setzte sich das Trauerspiel entwürdigender Schmähungen fort. Mein Bruder Egon und ich hatten sich nie daran beteiligt. Immer wieder zu Zeugen dieser Verfolgung geworden, standen wir innerlich ganz auf der Seite des Gejagten, in demonstrativer Distanz zum Geschehen und im Glauben, daß Bulle davon Notiz genommen hatte. Bis wir erkennen mußten, daß wir uns geirrt hatten. Wieder hatte sich eine Horde lautstark vor dem Nebenhaus versammelt, hatte mit unflätigen Ausdrücken nicht gespart und 58

schließlich im Chor »Bulle! Bulle!« gegrölt, als der plötzlich aus der Haustür herauswirbelte, um sich einen davon zu greifen. Das allerdings schlug fehl, weil die Bande schneller war, feixend davonstob und ihre Verbalangriffe aus sicherer Entfernung fort­ setzte. Mein Bruder und ich waren nicht weggelaufen - warum auch? Gehörten wir doch nicht dazu. Nur zufällig zu Zeugen gewor­ den, hatten wir wieder abseits gestanden, deutlich getrennt von der Meute, aber in dem Karree zwischen den Vorgärten der bei­ den Häuser - das sich nun als Falle erwies. Denn Bulle wendete sich schnaubend uns beiden zu, zornver­ zerrten Gesichts und in der erhobenen Rechten eine dünne zwei­ schwänzige Peitsche. Ich hätte vielleicht gerade noch entkommen können, aber der Bruder, der tiefer in dem Karree stand, nicht mehr. Der erste Schlag galt mir, traf mich aber nicht, weil ich zur Seite springen konnte, was die Möglichkeit einer erfolgreichen Flucht noch erhöhte. Als die Peitsche auf mich zuschoß, hatte ich nichts als Angst, grauenhafte Angst vor ihrem Biß, wollte fliehen, davonstieben bis ans Ende der Welt, nur weg von diesem ledernen Ungeheuer. Nur - in der Sekunde der Entscheidung sah ich in das Gesicht meines Bruders: Es war wie zerstört vor Furcht. Da geschah es. Zurückschnellend, warf ich mich in den Schlag, der den Bru­ der treffen sollte, wickelte mich geschickt in die Zweischwänzige ein, sah, wie Egon gerade noch Bulle entkam, entschlüpfte selbst mit einer blitzschnellen Gegenrolle der Fesselung und floh wind­ geschwind an dem schwerfälligen Bedroher vorüber aus dem Kar­ ree ins Treppenhaus, wo der atemlose Bruder die Tür aufhielt. Was hatte mich getrieben? Der Anblick des Schreckens im Gesicht des Bruders, das sprach­ lose Entsetzen darin, sein Hilfeschrei bis zum Himmel, ohne daß ihm ein Laut entfuhr, seine hoffnungslose Unterlegenheit und die Angewiesenheit auf meinen Eingriff - das hatte mich getrieben. Wenn jemand meiner Hilfe bedurfte, in Not war, meinen Beistand brauchte und ihn erwartete, dann mußte ich hin zu ihm - ohne Überlegung um das eigene Wohl, ohne Gedanken an etwaige Gefährdungen, oder an Folgen für die eigene Person, von 59

nichts anderem beseelt, als den Bruder vor Schmerz zu bewah­ ren, ihm beizustehen, ihn zu retten. Das hatte mich in die Peitsche getrieben. Dieser Helferzwang, der heute so stark ist wie eh und je, läßt sich also bis in die ersten Jahre meines Lebens zurückverfolgen. Da war etwas in mir geboren, das unabhängig von meinem Willen in mir lebt, eine vegetative Reaktion, für Schwächere dazusein, ein unwiderstehlicher Zwang, dann eingreifen zu müssen. Ich habe das die Große Kraft genannt - das zweite lebens­ bestimmende Schlüsselerlebnis. Die Reaktion auf die Peitschenattacke von Bulle aber war nur ihre Initialzündung. Bald wird sich diese Kraft auf eine Person konzentrieren, die durch die Macht der Umstände tödlich be­ droht sein wird - auf die eigene Mutter.

VI. Ende der zwanziger, Anfang der dreißiger Jahre hatte Lilly Gior­ dano es als Klavierlehrerin lokal zu einer gewissen Berühmtheit gebracht. Und tatsächlich waren ihre pädagogischen Fähigkeiten bemerkenswert, ihre Hingabe und ihr Fleiß offensichtlich, der Funke sprang sofort über - meist auf Schülerinnen (an Schüler er­ innere ich mich nur an einen, vielleicht seines klingenden Namens wegen - Günter Defalco). Die Mädchen, keine unter acht, keine über vierzehn, lernten rasch und hatten Gelegenheit, das Erlernte auch den Eltern bei uns vorzuführen. Zu diesem Zweck wurde die sonst stets ge­ schlossene Doppeltür zwischen Wohn- und Eßzimmer geöffnet, so daß Platz genug da war. Mein Vater, der keinerlei Anteil am Unterricht hatte, führte bei solchen Zusammenkünften dennoch das große Wort und ließ es sich nicht nehmen, sich mit eigenen Darbietungen zum Mittel­ punkt des Programms zu machen. Die Seele der musikalischen Feierlichkeit aber blieb meine Mutter. War sie eine Künstlerin? Ich habe Zweifel. Auf jeden Fall aber hatte ihr Spiel etwas, das dem meines Vaters fehlte - Sensibilität, Seele, über das Handwerkliche weit hinaus. 60

Mein Vater hat die hohe Begabung seiner Frau weder aner­ kannt noch gar gefördert - eher hielt er sie für eine Dilettantin und hat daraus auch kein Hehl gemacht. Ich erinnere mich an nichts von seiner Seite, was ihr musikalisches Selbstbewußtsein hätte stärken können. Sie, die viel Talentiertere, hat das hingenom­ men, wie so vieles andere. Aber manchmal triumphierte sie eben doch.

Bei den feierlichen Zusammenkünften mit den Eltern der Schüle­ rinnen wurde es ganz still, wenn sie sich für ein Solo ans Klavier setzte. Da regte sich kein Laut, sondern lag so etwas wie Wehmut in der Luft, wie Trauer um ein heimliches, nicht erreichtes Ziel so sehe ich die Mutter von damals vor mir. Aber sie hätte sich wohl eher die Zunge abgebissen, als ihrem Mann solche Stimmun­ gen einzugestehen. Die Liebe zur Musik, die da hörbar wurde, eine schüchterne und doch kraftvolle Verlorenheit an sie - er hät­ te damit gar nichts anfangen können. Natürlich wurde der Unterricht bezahlt, bescheiden, wie ich vermute, aber doch willkommen als ein pekuniäres Zubrot zum väterlichen Einkommen. Heute glaube ich, daß der sogenannte Muttertag oder Schnooptag nur dadurch fortgesetzt werden konnte. Denn das ging weiter wie eh und je: die verheißungsvolle An­ kündigung »Kinder, ich komme gleich wieder, seid schön artig«, das Rascheln von Papier in der Küche, die Entkleidung der Brü­ der in affenartiger Geschwindigkeit, das Tablett mit den belegten Broten, Obst, Süßigkeiten, Brause - und im Türrahmen stumm die Mutter, deren Augen sich langsam mit Tränen füllten. Die nie endende Arbeit im Haushalt, ohne alle modernen Hilfs­ mittel, Mann und Kinder zur absoluten Unselbständigkeit erzo­ gen, dazu der Unterricht - ich habe nie einen belasteteren Men­ schen erlebt als meine Mutter, niemanden, der so unfähig war wie sie, langsam zu gehen. Und auch keinen, der trotzdem so ausdau­ ernd lächeln konnte, eine innere, eingeborene Attitüde, mit der sie auf andere zugegangen ist und sie angesteckt hat. Obwohl in­ zwischen über dreißig und mit zwei schweren Geburten hinter sich, konnte sie strahlen wie ein junges Mädchen. Daneben aber dunkelte die schlaflose Sorge um ihre Brut, ein

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dauernder Druck, der ein seltsames verbales Ventil gefunden hat, drei Wörter, die trotz ihrer inflationären Wiederholung nichts an Eindringlichkeit verloren und mir bis heute gegenwärtig sind: »Habt ihr Hunger?« Mit dieser rein rhetorischen Frage der Mutter bin ich groß ge­ worden, ohne je Hunger gehabt zu haben. Sie klang mir schon im Ohr, bevor ich überhaupt wissen konnte, was das bedeutete: »Habt ihr Hunger?« Das Merkwürdige daran war, daß die Frage immer dann ge­ stellt wurde, wenn wir nach genossener Mahlzeit nichts als satt sein konnten. Ganz offenbar reagierte sich hier eine Urangst da­ durch ab, daß sie in einer Situation eindeutiger Verneinung be­ schworen wurde. Ein weiteres Kapitel von magischer Eindruckskraft war die Tierliebe meiner Mutter. Sie war, kann man sagen, verrückt nach Tieren, besonders solchen mit Fell. Glänzende Lefzen, dicke Pfoten, wollige Halskrausen - konnte es etwas Zärtlicheres, Hin­ reißenderes geben? Wir hatten Katzen im Haus, herrenlose Hunde, einen »Dan­ ny« gerufenen Zeisig, einen Wellensittich namens »Gully«, dazu Schildkröten, Goldfische und manch anderes Getier. Eines aber hatten sie alle gemeinsam - ein längeres Zusammenleben mit ih­ nen war uns nicht vergönnt. Katzen wurde der Zutritt verwehrt, nachdem eine mir bei ei­ ner Balgerei auf dem Korridor fast ein Auge ausgekratzt hätte. Zugelaufene Hunde rannten undankbarerweise einfach davon, nachdem wir sie hochgepäppeit hatten. Danny verendete rühm­ los, weil mein Vater einmal vergessen hatte, den Gashahn abzu­ stellen, so daß der geliebte Zeisig bei unserer Rückkehr mit den bekrallten Stelzen nach oben steif auf dem Rücken lag. Die Gold­ fische fanden wir eines Morgens statt in ihrem Bassin tot auf dem Fußboden, ohne daß wir je herausbekamen, wie sie ihrem natür­ lichen Element entsprungen und auf diese Weise erstickt waren. Schließlich segnete auch die Schildkröte durch Herzinfarkt das Zeitliche, nachdem die schwere Lehne eines versehentlich umge­ stürzten Stuhls haarscharf neben ihr aufgeschlagen war. Nein, heimisches Glück hatten wir mit Tieren wahrlich nicht, was der Liebe zu ihnen jedoch keinerlei Abbruch tat. Im Gegen­ teil, die unheimliche Serie von Flucht- und Todesfällen sporn­

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te meine Mutter nur zu weiteren Diensten an. So sammelte sie beim Bäcker Wilke Brot- und Kuchenreste ein, die sie von den Fenstersimsen der Küche und des Kinderzimmers an Spatzen ver­ fütterte - und das so ausgiebig, daß zeitweise das Tageslicht von ihren Scharen verdunkelt wurde. Während draußen wie tollwütig gepickt und gehackt wurde, stand die Wohltäterin drinnen hinter der Gardine und winkte uns Kinder mit vor den Mund gelegtem Finger leise heran, damit auch wir das plusterige Schauspiel ge­ nießen konnten. Wieder und wieder von ihr inszeniert, hatte die Fürsorge für die Plebejer unter den Vögeln ihr einen Namen ein­ gebracht: Mutter der Barmbeker Spatzen! Wer immer ihr das Prädikat ursprünglich verpaßt hatte, es war jedenfalls bald herum, und wo sie auch hinkam, alle nannten sie so. Nun fällt der Apfel bekanntlich nicht weit vom Stamm. Wie in jeder anderen Beziehung, war ich auch in punkto Tier­ liebe ganz das Kind meiner Mutter. Da gab es nichts einzupflan­ zen, es war einfach da, von allem Anfang an, mit durchaus exhibi­ tionistischen Zügen. So ging ich jahrelang erst mit einem höchst naturgetreuen Panzernashorn aus Elastolin, dann mit einem Nil­ pferd aus dem gleichen Material zu Bett. Darüber hinaus stand mir ein ganzer Zoo zur Verfügung - mit einem indischen Löwen, einem weißen Elefanten, mit Dromeda­ ren, Perlhühnern, Gürteltieren, Pfauen, Schlangen und Krokodi­ len. Die geschickte Hand von Opa Rudolph hatte einen grünen Zaun gezimmert, eine würdige Unterkunft für die zwar immo­ bile, aber doch höchst pittoreske Fauna (die zu Geburtstagen und zu Weihnachten über flehentlich geschriebene Wunschzettel noch vervollständigt wurde). Den absoluten Höhepunkt der Giordanoschen Pathologie aber bildeten die periodischen Besuche von Hagenbecks Tierpark in Hamburg-Stellingen. Fiebrige Erwartungen schon auf der Hinfahrt, bevor es dann vom exotischen Eingang gar nicht rasch genug an der Hand der Mutter ins Innere gehen konnte - und das mit einem sehr be­ stimmten Ziel. Denn da hatte sich früh eine Wahrheit herausgeschält, was Tie­ re und meine Liebe zu ihnen betraf: Die schönen faszinierten, die

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häßlichen aber entflammten mich. Und die häßlichsten der häß­ lichen, wahre Ungeheuer an Abscheulichkeit, waren in meinen Augen - afrikanische Warzenschweine! Woran sich bis heute nichts geändert hat. Damals führte diese Vorliebe zu dramatischen Auftritten. Ohne die geringste Ahnung, daß ich der Gattung Phacochoeras aethiopicHS später mehr als einmal auf freier Wildbahn begeg­ nen würde, trieb es mich bei Hagenbeck an die Stelle, wo sich die Schweine um ein großes Wasserloch zu versammeln pflegten und sich suhlend Grunz- und Knurrgeräusche von sich gaben, die al­ lein schon mein schieres Entzücken entfachten. Bei solchem Besuch soll ich einmal Freundschaft geschlossen haben mit einem Alphatier von so verwilderter Majestät, daß ich allein schon bei seinem Anblick in eine Art Lähmung verfiel. Was sich dann abspielte, ist eingegangen in die Familiengeschichte als die große Hypnose (die immerhin erklärt, warum ich selbst mich nur noch schemenhaft an dieses epochale Ereignis erinnere). Je­ denfalls soll es zwischen mir und dem mächtigen Afrikaner zu einer Annäherung der besonderen Art gekommen sein, indem etwas Unsichtbares zwischen uns hin- und herwogte, ein sprach­ loser, aber um so intensiverer Austausch der Persönlichkeiten, der nicht nur von der eigenen Familie, sondern auch von einer beträchtlichen Zuschauerschaft mit großer innerer Anteilnahme verfolgt worden ist. Bis es dem guten Zureden von Eltern und Bruder dann endlich doch gelang, mich, wenngleich unter Tränen, von der Stelle zu entfernen, an der ich offenbar mit meinem Visavis bis ans Ende aller Tage verharren wollte. Es wurde, wie sich denken läßt, ein schwerer, ein sehr schwe­ rer Abschied. Die gleiche Begeisterung für tierische Häßlichkeit haben nur noch zwei andere Gattungen in mir hervorrufen können: vietna­ mesische Hängebauchschweine und Tüpfelhyänen. Denen aller­ dings stand ich dann nicht mehr in Zoos, sondern viel, viel später in ihrer natürlichen Umgebung Auge in Auge gegenüber. Die Ingredienzien dafür, und für manch andere Facette einer Tierliebe, die später zu einem Buch skurriler Geständnisse ge­ führt hat, waren mir injiziert worden von Lilly Giordano. Nicht, daß mein Vater kein Verständnis für Tiere gehabt hätte, aber hier

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war ja weit mehr im Spiel als das konventionelle »Oh wie süß!« und »Oh wie niedlich!«. Da wurden vielmehr Grundkriterien eingerammt, wurde ein Kompaß installiert, dessen Nadel über ein ganzes Leben hin un­ erschütterlich auf die Pole »Trau keinem, der Tiere nicht mag« und »Vorsicht vor den Humorlosen, denn sie mögen keine Tiere« wies. Weisheiten, von deren Richtigkeit ich mich später immer wie­ der überzeugen konnte. Dies allerdings völlig unvereinbar mit der (ich glaube sehr deut­ schen) These »Tiere sind die besseren Menschen«. Obwohl meine Mutter die treibende Familienkraft war, gesund war sie nicht. Mehrere Male mußte sie von Bandwürmern befreit werden, zwischendurch wurde sie heimgesucht von Schwindelanfällen und Herzbeschwerden, die allerdings meist rasch vorübergingen und dann so gut wie vergessen waren. Nicht so etwas anderes, Hartnäckigeres - ein furchtbarer Husten. Wann genau ich ihn zum erstenmal bewußt wahrgenommen habe, weiß ich nicht mehr, aber es muß früh gewesen sein, so laut und heftig, wie er aus der Mutter hervorbrach - ein Ansturm, von dem der ganze Körper erfaßt wurde und der ihn fast an den Rand des Erstickens brachte, jedenfalls hörte es sich so an. Ein schauer­ liches Bild: In der Küche über den Handstein gebeugt, keuchend, mit wirrem Haar, gab sie Töne von sich, die uns Kinder erschau­ ern ließen. Dann aber, nachdem es ausgesehen hatte, als nähme der Husten gar kein Ende mehr, hörten das Schütteln und Rütteln von innen her plötzlich auf, von einer auf die andere Sekunde. Und nun ge­ schah das Unglaubliche: In das eben noch wie bis zur Entblutung erblaßte Gesicht stahlen sich Farbe und erste Anzeichen jenes un­ verwüstlichen Lächelns, das das prägende Merkmal meiner Mutter war. Es sah buchstäblich so aus, als würde eine dunkle Wolken­ decke blitzschnell weggezogen von einer Kraft, die alles sonnig überstrahlte und den finsteren Anfall einfach vergessen machte. Wenig später schon hörten wir sie schalten und walten wie im­ mer, mit der gleichen Energie, die ihr übervolles Tagewerk von ihr verlangte. 6*

Dennoch wußte sie, wußten wir - der nächste Anfall kommt bestimmt. Unglaublich deshalb: Ärztliche Hilfe, medizinischer Rat wur­ de nie bemüht: Beide Eltern waren Anhänger der Christlichen Wissenschaft, einer 1879 von Mary Baker-Eddy in Boston gegrün­ deten Sekte mit der sonderbaren Lehre des 1910 verstorbenen weiblichen Gurus, daß die »Materie« bloßer Schein und durch »Harmonie des Geistes« zu überwinden sei. Das hieß: Vater und Mutter waren klassischen Gesundbetern in die Hände gefallen. Die Postille der Sekte, der monatlich auch in deutscher Sprache erscheinende »Herold«, war die bevorzugte Lektüre bei uns zu Hause, und Mrs. Mary Baker-Eddys ebenfalls ins Deutsche über­ setzte Standardwerk »Wissenschaft und Gesundheit« (»Science and Health«) das meistzitierte Buch. Der Beispiele von Wunderheilungen voll, suggerierten diese Schriften jedem Kranken, daß er für seine Gebresten und Mo­ lesten selbst verantwortlich sei, insofern es ihm an Zugang zur »Harmonie« gebreche. Innerer Kern dieser alles andere als wis­ senschaftlichen Lehre bestand in der Leugnung der Materie als eines einzigen großen Trugbilds. Es zu überwinden und zur ein­ zigen, ewigen Wahrheit durchzustoßen, sei das Ziel allen mensch­ lichen Tuns. Dem hatten mein Bruder und ich, ohne jede innere Verteidi­ gungsmöglichkeit, nichts entgegenzusetzen. Obwohl wir beide von sämtlichen Kinderkrankheiten befallen wurden - Scharlach, Masern, Keuchhusten, Windpocken ist nie ein Arzt an unser Krankenbett getreten oder uns je eine Medi­ zin verabreicht worden. Die Anfälle meiner Mutter gehörten zu den schrecklichsten Er­ fahrungen meiner Kindheit, dieser tief von unten heraufgeholte Husten, der alle Luft aus den Lungen zu saugen schien. Es wird noch fünfzehn Jahre dauern, bis er tatsächlich eine Frage von Leben und Tod sein wird. Aber das dann nicht nur für die Mutter, sondern auch für den Vater und ihre drei Söhne.

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VII. Denn im Januar 1930 genas Lilly Giordano zu Hause eines gesun­ den Knaben, blond, von anderen Säuglingen nicht zu unterschei­ den, aber von den um die Wiege herumstehenden Angehörigen dennoch als besonders schönes Exemplar ausgerufen und mit all­ gemeiner Zustimmung »Rocco« genannt. Der Großvater, bis zum Schluß von seinem Sohn mürrisch hin­ gehalten, ob es dieser Name und kein anderer werden sollte, war nach der Entscheidung ausgebrochen in einen Freudenschrei, der sich an der Decke brach, ehe der Pate vor Glück in kurze Ohn­ macht fiel. Geboren wurde zu Hause, zwar mit Hebamme, aber ohne jede ärztliche Nachsorge. Die nunmehr dreifache Mutter war sehr bald wieder auf, wäh­ rend ich den neuen Bruder sogleich mit dem Zusatznamen »der kleine Muck« versah und voller Entzücken sein ungewöhnlich dichtes Blondhaar befingerte. Kamen dann andere, Nachbarn, Freunde der Familie, und gaben ihre Zuneigung zum besten, so dachte ich: »Macht nur, tut nur. Ich hab’ ihn doch am liebsten den kleinen Muck.« Der eine kam, der andere ging - kurz nach der Geburt des nach ihm benannten Enkels starb mein geliebter Opa Rocco. Er starb auf dem Weg zu seiner Arbeitsstätte an Herzschlag, zwischen den Stationen Baumwall und Landungsbrücken, da, wo ich mir in seiner Gegenwart beim Anblick des Hamburger Hafens die Nase an der Scheibe plattgedrückt hatte. Nun sollte er nicht mehr da sein, kein Pfiff mehr bei seiner Ankunft in Barmbek, kein zärt­ liches Zwirbeln meiner Ohrläppchen, wenn ich auf seinem Schoß saß, nicht mehr dieses seltsame »Zitschilia, Zitschilia«, das sofort verstummte, wenn jemand ins Zimmer trat. Ganz anders als beim Tod der Urgroßeltern klaffte da plötz­ lich ein Loch, das sich nicht schließlich wollte. Es gab für mich niemanden, der sich mit dem Sizilianer hätte vergleichen können - er blieb die exotische Ausnahme, ein Son­ derverhältnis, das mir nichts nahm von meiner Liebe zu Rudolph Lehmkuhl, dem andern Opa, dieser Rechtschaffenheit in Person, die ich ehrerbietig grüßte, wenn ich ihrer ansichtig wurde, und die meinen Gruß immer ernsthaft erwiderte. Aber da war nicht das 67

Prickeln, das mich erfaßte, sobald Rocco Giordano auftauchte, und das anhielt, solange ich in seiner Gegenwart war. Doch dann milderte sich allmählich, was ich als dumpfes Boh­ ren empfand, spürte ich, daß der geliebte Mensch zwar leiblich nicht mehr da war, in mir aber doch auf eine merkwürdige Weise weiterexistierte, Voraussetzung für eine Neugierde, die sich erst in einem übernächsten Lebensabschnitt entfalten wird, um dann sehr viel später noch in einem biographischen Wunder auszu­ klingen. Darüber an gegebener Stelle. Auf einmal entdeckte ich die Musik, jenseits des alltäglichen väterlichen »Übens« und belauschter Klavierstunden meiner Mut­ ter. Jetzt war die Welt voller Töne, auf der Straße und aus dem kleinen Radio, das der Vater mitgebracht hatte, ein umständlich zu bedienendes Gerät, mit Kopfhörer und einem Kasten, an dem man drehen und herumfummeln musste, ehe dann Stimmen und Melodien ans Ohr drangen. Und welche Melodien! Mir ist, als hätte ich sie gestern zuletzt gehört. »Das ist die Liebe der Matrosen, auf die Dauer, lieber Schatz, ist mein Herz kein Ankerplatz«, so schmetterte ich es in den Tag hinein, wenngleich ohne rechte Vorstellung, was das eigentlich bedeuten sollte - Ankerplatz? Da war ein anderer Schlager schon etwas begreiflicher: »Ich hab’ dich einmal geküßt, ich hab’ dich zweimal geküßt, doch erst beim dritten Mal hab’ ich gespürt, was Liebe ist.« Diesen Textteil formulierten ältere Spielgefährten in der Sandkiste zur allgemeinen Gaudi um in »doch erst beim drit­ ten Mal hab’ ich mein Portemonnaie vermißt«. Dann das schmusige »In einer kleinen Konditorei, da saßen wir zwei bei Kuchen und Tee, du sprachst kein Wort, kein ein­ ziges Wort und wußtest sofort, daß ich dich versteh! Und das elektrische Klavier, das klimpert leise eine Weise von Liebesieid und Weh« - wobei die letzte Zeile von der Straße ebenfalls um­ gedichtet wurde in »mit einer Weise vom leeren Portemonnaie«. Was allgemeines verständnisvolles Feixen zur Folge hatte - ein begüterter Stadtteil war Barmbek nicht. Die Krone des aktuellen Liedguts aber war eine Melodie aus dem Film »Der Kongreß tanzt«, die totale Verkitschung des 68

historischen Wiener Kongresses von 1814/15 zur märchenhaften Romanze zwischen dem russischen Zaren (Willi Fritsch) und einem Mädchen aus dem Volke (Lilian Harvey): »Das gibt’s nur einmal, das kommt nicht wieder, das ist zu schön, um wahr zu sein.« Ganz besessen davon, trällerte ich es schon frühmorgens, wenn ich pinkelte, vor mich hin und stimmte überall, wo immer es mir begegnete, begeistert ein - ahnungslos, daß sich hier ein soziales Drama für die eigene Familie anbahnte. Denn »Der Kongreß tanzt« war ein Tonfilm!

Es war die Ankündigung eines neuen Zeitalters, das in Barmbek eingeleitet wurde mit einer trompetenhaften Lokalhymne: »Kin­ der, seid vernünftig, laßt die Frau durch, denn sie will noch ein­ mal in die Schauburg.« Gemeint war die »Schauburg« in der Fuhlsbüttlerstraße, gleich hinter der Hochbahnbrücke zu den Walddörfern, ein modernes Kino, elegant und großräumig, ein Haus, das mit Pomp eröffnet wurde, während der Schlager »Kinder seid vernünftig, laßt die Frau durch, denn sie will noch einmal in die Schauburg« in aller Munde war. Sehr bald zogen andere Kinos nach, der »Europa-Palast« am Barmbeker Markt, das »Odeon« und »Balke« in der Hamburger Straße, die »Weltlichtspiele« und das »Kino Mundsburg«, sie alle nun tönend, darunter schließlich auch die Flohkiste »Skala«, un­ ser Stamm- und Heimatkino. Und das mit einem Film aus Holly­ wood, der alle bisherigen Rührstücke übertraf und »Sunny Boy« betitelt war: die zu Gemüte gehende Geschichte eines als Neger umgefärbten Vaters (Al Jolson), der singend, aber vergeblich um das Leben des seltsamerweise weißen Sohnes (Jackie Coogan) kämpft und dabei schnulzt: »Mehr als mein Leben möcht’ ich für dich geben, du bist mein Glück, Sunny boy.« Da blieb kein Auge trocken, da wischten sich Männer, Frau­ en und Kinder nach der Vorstellung verschämt die Tränen weg, darunter auch meine Mutter, mein Bruder und ich. Die Gesich­ ter hatten Stimmen bekommen, die geschriebenen Zwischentexte entfielen, die Töne fanden ihren Weg unmittelbar dahin, wohin sie gelangen sollten - ins Herz. Bald schon flammte denn auch am so modernisierten Zelluloid­ 69

himmel ein Name auf wie ein Fixstern, ein Mädchen, in das sich alle verliebten, jung und alt, groß und klein - Shirley Temple, ame­ rikanischer Kinderstar und Personifizierung des Tonfilms. Es war der Todesstoß für den Stummfilm.

Mein Vater hat die Gefahr für seine Profession als Musikbeglei­ ter zunächst wohl gar nicht erkannt oder doch jedenfalls unter­ schätzt. Ich sehe ihn noch in unserer Wohnung am Klavier sitzen und den Schauburg-Schlager in die Tasten hämmern, als ginge nun alles weiter wie bisher. Was jedoch nicht der Fall war. Denn musikalische Untermalung war nun nicht mehr vonnö­ ten, sie war völlig überflüssig geworden, nachdem sich die Stim­ men selbständig gemacht hatten. Und so ging der Berufsstand des Begleiters unterhalb der Kinoleinwand denn peu a peu zu Ende, mit einer Bittstellerei zur andern, von einem Kino zum näch­ sten - vergebens. Der Stummfilm war buchstäblich verstummt, und Alfons Giordano, der von ihm gelebt hatte, ohne Arbeit wie Millionen im damaligen Deutschland auch. Ausgehend vom Schwarzen Freitag, dem 25. Oktober 1929, an der New Yorker Wallstreet, waren es die Jahre der großen Weltwirtschaftskrise, und die staatliche Hilfe der ohnehin maroden Weimarer Repu­ blik für die Erwerbslosen beschränkte sich auf ein Minimum. Damit kamen in unserer Familie zwei Begriffe auf, die lange Zeit vorherrschen sollten - Stempeln und Wohlfahrt, Wörter, die irgendwie mit Armut und Mangel zu tun hatten. Unmittelbare Folge war Großmutter Selmas klagende Be­ schwörung: »Nun werde ich noch mehr gefleddert!« und die (er­ folgreichen) Bemühungen meiner Mutter um mehr Klavierschü­ lerinnen. Zusätzlich diente sie Nachbarn an, Monogramme in Taschentücher zu sticken und Kleidung auszubessern, selbstver­ ständlich ohne daß sich ihre bisherige Überlastung minderte. Mein Vater tat nicht das geringste für eine Änderung der Not­ lage. Völlig passiv, ließ er die Dinge treiben, holte die wöchent­ liche Unterstützung ab und - übte. Was hieß, daß er sich morgens an Klavier setzte und oft bis in die Abendstunden das Instru­ ment behämmerte, oft ein und dieselbe Passage Dutzende Male wiederholend. Seltsamerweise hat sich nie jemand darüber be­ schwert, was besonders verwunderlich war bei dem am meisten 7°

betroffenen Bewohner, dem Zigaretten- und Zigarrenhändler Stief im Parterre unter uns. Dieser Mann muß eine überirdische Geduld gehabt haben. Immer in Weste und Schlips, gehrockartig gekleidet, geradezu pinguinhaft aufrecht und die Rechte stets am Staket des kleinen Vorgartens - so stand er vor seinem Laden, während über ihm die Symphonien Beethovens rauschten, Liszts Glissandi und Tre­ moli perlten oder Chopins unvergleichliche Melodien aus der ge­ öffneten Tür des Wohnzimmers über den Balkon auf die Straße schlugen. Der Vater übte ... Und das jenem ersehnten Augenblick entge­ gen, wo seine Talente von der Welt erkannt und seine Laufbahn als Wunderkind ihre verdiente Erfüllung finden würde. Mit anderen Worten - Alfons Giordano war, unter solchen Vorspiegelungen, zur Belastung geworden.

VIII. An der Fröhlichkeit meiner Mutter, ihrer stets guten Laune, ih­ rer Fähigkeit, zu lächeln und aufzumuntern, änderte die prekäre Situation nichts. Vielleicht rührte es daher, daß ich das, was da über uns eingebrochen war, nicht bewußt registrierte, ja keinen Schimmer davon hatte. Im Gegenteil, das Leben war aufregend und großartig, dar­ unter das, was damals in Hamburg »Kloppe« genannt wurde: Jugendliche Anwohner verschiedener Straßen und Viertel gerie­ ten sich in die Haare, droschen aufeinander ein, prügelten und schmähten sich, bis einer der Kontrahenten, oft genug aber auch beide, sich zum Sieger erklärten. An derartigen Kloppen war die Hufnerstraße zusammen mit der Drossel- und Drögestraße tief beteiligt, und zwar nur Jun­ gen, keine Mädchen. Die Gegner kamen mehr aus dem Süden des Stadtteils, der Gegend um den Barmbeker Markt herum. Ich selbst befand mich dabei in einem Zwiespalt - zwischen meiner Grundhaltung, freundlich zueinander zu sein, und dem, was ein-ungeschriebener Ehrenkodex vorschrieb, nämlich bei Strafe des Ausgestoßenseins keine Furcht vor körperlicher Verseh­ rung zu zeigen - der für mich größte Horror. Es war ein Konflikt

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zwischen Prinzipientreue und Gesichtswahrung, den ich summa summarum ganz wacker bestanden habe. Und dabei geschah es, während solcher Kloppe, Ende 1932, vielleicht schon Anfang 1933, in der Nähe der Sandkiste. Plötzlich im Getümmel vor mir ein Knirps von sechs Jahren, noch kleiner als ich, ein dunkles Gesicht, Kraushaar, ein Farbiger sichtlich afrikanischer Herkunft, aber weiß gemischt und - eine Barmbeker Berühmtheit: Mickey! Da standen wir nun sehr nahe beieinander, die Fäuste erhoben, rollten mit den Augen und - taten uns nichts in der allgemeinen Rauferei. Ganz richtig, Körper an Körper, taten wir uns nichts. Wir grinsten uns an - und ließen voneinander ab. Die Szene ist zur Stunde dieser Niederschrift über siebzig Jah­ re her, aber ich habe sie wie eine Photographie in Erinnerung. Von der Minute an kannte ich Mickey persönlich und behielt ihn im Gedächtnis. Er dagegen mich nicht, wie sich herausstellte, was nur natürlich ist - war ich für ihn doch nichts als ein Bleich­ gesicht unter vielen Bleichgesichtern. Bis dahin war ich Mickey zwar nie begegnet, hatte wohl aber von ihm gehört, wenn auch Spärliches - daß er das Kind eines afri­ kanischen Vaters und einer weißen Mutter sei, Hamburgerin, mit der er allein in der Nähe des Barmbeker Marktplatzes wohne, auf der Straße immer der erste vorneweg, kühn und offenbar allseits respektiert. Nun waren er und seine Mitkämpfer verschwunden und die wüsten Haufen in verschiedene Richtungen davongestoben. Ich aber konnte das kleine dunkle Gesicht unter dem Kraus­ haar nicht vergessen, es verfolgte mich wie die seltsame Passi­ vität, die uns beide ungeschoren ließ, obschon wir uns doch feindlich gegenübergestanden hatten. Wie er richtig hieß - Hans Jürgen Massaquoi, der in Äonen der Autor von »Neger, Neger, Schornsteinfeger« werden sollte -, wußte ich damals nicht, für mich war er von Anfang an Mickey - und ist es geblieben, bis heute. Daß hier also gerade eine Dauerbeziehung ihre Initialzündung hatte, ein zufälliges Rendezvous stattfand, das zu einer Lebens­ freundschaft mit einer unglaublichen Wechselwirkung und bio­ graphischen Pointe führen wird, das lag im Schoß einer Zukunft, die niemand voraussehen konnte.

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Es wird fast anderthalb Jahrzehnte dauern, bis Mickey und ich uns wiedertrafen, aber das in einem völlig veränderten Deutsch­ land und unter tödlicher Bedrohung für beide. Die wilden Zusammenstöße von Jugendlichen beschränkten sich übrigens nicht auf die Kloppe - auch der Hof der Volksschule Bramfelder Straße war ein solcher Schauplatz, wenngleich mit ganz anderen, nämlich politischen Vorzeichen. Inzwischen waren mein Bruder und ich dort im dritten Jahr, immer unter den ersten und mit spielerischer Freude am Unter­ richt. Sie waren alle noch da - Otto Puls, Herbert Fesser, Günter Hermann, Detlef (Diddl) Wist und die anderen, deren Vornamen ich vergessen habe, Pommikala, Schneidereit, Ladiges, Borwitzki, Loch. Nur war für die Spanne der Pausen die Einheitlichkeit ver­ schwunden, hatten sich Beziehungen verändert, waren Freund­ schaften zerfallen, andere entstanden, je nachdem, unter welches Vorzeichen man sich stellte: Hammer und Sichel (Kommunisten), Drei Pfeile (Sozialdemokraten), Hakenkreuz (Nationalsoziali­ sten). Diese Logos, wie man heute sagen würde, waren zur Aus­ wahl freigegeben, mit Entscheidungen, die am häufigsten wohl von der elterlichen Position abhängig waren. Und so hieb man aufeinander ein, bis zu blutigen Nasen und ernsthaften Verletzungen, um dann nach der Pause, wieder in den Klassen, einander nichts nachzutragen, gleichsam als handelte es sich um zwei verschiedene, ganz verschiedene Welten. Was sich da im Mikrokosmos des Schulhofs Bramfelder Stra­ ße abspielte, war nichts als der Widerschein des Makrokosmos der Weimarer Republik, ein Spiegelbild dessen, was sich in ganz Deutschland tat, lautstark und gewalttätig. Anhänger der verschie­ denen politischen Richtungen und Parteien bekämpften sich auf der Straße, gerieten heftig aneinander, prügelten und beschossen sich auch. Mehr als einmal flohen mein Bruder und ich auf dem kurzen Weg in die Schule oder von der Schule zurück in Treppen­ häuser, wenn es um uns herum knallte (seit Beginn des dritten Schuljahres war die elterliche oder großelterliche Begleitung end­ lich entfallen). Und so wogte es denn in den Pausen auf dem Schulhof wüst hin und her, allerdings nur auf der Hälfte für Knaben, die andere, für Mädchen, blieb von der Rauferei völlig frei. Was sich dort

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aber bildete, war eine Riege bewundernder Statistinnen, deren akustische und gestenreiche Zuschauerschaft mit persönlichen Sympathien und Antipathien nicht ohne Einfluß auf die teils be­ reits kräftig Pubertierenden blieb. Lehrer griffen übrigens nicht mehr ein - sie hatten es nach vie­ len aussichtslosen Versuchen aufgegeben, die Streithähne vonein­ ander zu trennen. Während es durchaus üblich war, die Seiten zu wechseln - ge­ stern Hakenkreuzanhänger, heute unter Hammer und Sichel -, hatten mein Bruder und ich uns konstant für die Drei Pfeile ent­ schieden. Und das aus dem Bauch heraus, mit untergründiger Hören-und-Sagen-Motivation durch den sozialdemokratischen Großvater, Rudolph Lehmkuhl. Obwohl bei uns zu Hause kei­ ne politischen Gespräche geführt wurden, ja, Politik überhaupt eher etwas Ausgeklammertes war - soviel hatte ich doch mitbe­ kommen: Opa Rudolph war Sozi. Wie und warum? - Unwichtig. Wichtig war nur, daß die Neigungen des bedächtigen, hochgeach­ teten Großvaters in diese Richtung gingen. Und so fanden denn auch mein Bruder und ich uns sozusagen unter seinem Banner mitten in dem Getümmel wieder, wenn­ gleich darauf bedacht, anderen nicht allzu weh zu tun und auch selber möglichst verschont zu bleiben. Dabei hatte sich herausge­ stellt, daß der Bruder noch größere Furcht vor körperlicher Versehrung hatte als ich, ja, von einem geradezu panischen Entsetzen davor erfüllt war. Zu spüren war eine seltsam veränderte öffentliche Atmosphäre, ein neues Fluidum, das plötzlich auf persönliche Beziehungen ein­ wirkte, so etwa auf die zu Günter Hermann, der dauerhaft zur Hakenkreuzfahne hielt, deren Anhänger mir besonders unsympa­ thisch waren, vielleicht weil »Stange hat ’ne Hose an« ihr beson­ ders ruppiger Anführer war. So kam die Politik in mein Leben. Der in bestürzender Voraussicht nach Frankreich geflohenen jüdischen Lehrerin Fräulein Lyon war Lehrer Bleß gefolgt - ein Exzentriker, was als vorsichtige Charakteristik gelten darf. So ließ Bleß, zum Beispiel, eines Tages ein schweres Terrarium ins Klassenzimmer bringen, in das er vor unseren Augen eine gro­ ße Ringelnatter setzte, um ihr dann einen Frosch nachzureichen und das Gefäß zu schließen. Als dann nur noch die Hinterbeine

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des Frosches aus dem weit aufgerissenen Maul des Reptils heraus­ ragten, sagte Bleß tonlos, aber laut genug: »Seht nur genau hin, schaut euch das an, so ist die Welt - grausam.« Bis heute habe ich das angstgepeitschte Gehüpfe des unentrinn­ bar mit der hungrigen Schlange eingesperrten Frosches nicht ver­ gessen können. Und weiß immer noch nicht, was den Mann zu dieser Vorfüh­ rung bewegt hat - reiner Sadismus oder der Versuch, uns auf eine kommende gnadenlose Zeit vorzubereiten. Politischen Hintergrund vermute ich schon, denn Lehrer Bleß ließ dann und wann meine Mutter kommen, um ihr, ganz wie Fräulein Lyon, zu raten, Deutschland zu verlassen. Dabei duzte er sie nicht nur, sondern gab ihr seltsamerweise auch eigenmäch­ tig andere Vornamen, so etwa »Sara«, »Esther« oder »Recha«. Seine inständige Beschwörung: »Ihr Juden habt hier keine Zu­ kunft, glaub mir, Sara, es kann nur Schlimmes kommen.« Ich erinnere mich nicht mehr an Reaktionen der Mutter, aber der Lauf der Dinge bewies, daß die Warnung sie nicht erreicht hatte. Lehrer Bleß hatte übrigens nicht nur einen Narren an ihr ge­ fressen, sondern auch an mir. Sichtlich zog er mich dem Bruder vor, lobte mich öffentlich und machte aus seiner Zuneigung kein Hehl. Um so heftiger muß es ihn getroffen haben, mich dennoch züchtigen zu müssen. Die Ursache: Ich war verliebt in eine Schülerin aus der Mäd­ chenschule nebenan, ein Wesen, das zwar auf den banalen Namen »Liesel Möller« hörte, aber von betörendem Aussehen war. Und das offenbar nicht nur nach meinen Kriterien, denn ich war nicht der einzige, der sie begaffte und nach der Schule verfolgte, son­ dern etliche andere Schüler aus meiner Klasse auch. Das muß ein lächerliches Gehabe gewesen sein, denn jeder versuchte auf sei­ ne Weise, die Aufmerksamkeit der Angebeteten auf sich zu zie­ hen - die einen durch Gegröle, die anderen durch turnerische Ver­ renkungen, dritte wieder durch schweigende Ausdauer. Zu denen zählte ich. Es nützte allerdings weder das eine noch das andere. Stets von einer ausnehmend häßlichen Freundin begleitet, tat die Favoritin sowohl auf dem Schulhof als auch vor ihrer Wohnung in der Steilshoopcr Straße so, als bemerkte sie die gespreizten 75

Bemühungen ihrer Verehrer überhaupt nicht, ging summend an uns vorbei, als wären wir Luft, und verschwand nach einiger Zeit im Treppenhaus, um sich so noch kostbarer zu machen, als sie ohnehin schon war. In dieser Situation entschloß ich mich zu einer Verzweiflungs­ tat, für die ich mir mein Klassenzimmer auswählte, das zwei Stockwerke über dem Eingang zur Mädchenschule lag. Trotz strengen Verbots blieb ich während der großen Pause da, po­ stierte mich am Fenster, wartete geduldig, bis abgeläutet wurde, und - ließ in dem Moment, da ich wähnte, er müsse der Spröden punktgenau auf den Kopf treffen, den gesammelten Speichel nach unten fallen. Ach ja ... Nicht nur, daß ich zu meiner Enttäuschung noch gewahrte, daß alle Anstrengung umsonst gewesen und das Objekt meiner Sehnsucht weit verfehlt worden war, kurz darauf wurde auch schon die Klassentür aufgerissen von einer Erscheinung, die mich erbleichen ließ - Lehrer Bleß. Und in der Tat, der Anblick, den er bot, war furchterregend das üppige Ffaupthaar zerzaust, das Jackett wehend geöffnet, die Miene wutentstellt und der Blick immer fest auf mich gerichtet, welche Position der Körper auch immer einnahm. Dann rief Bleß, nach einem stummen Augenblick, als hätte ihm etwas die Sprache verschlagen, klagend aus: »Daß du mir das angetan hast, gerade du« und »Niemals hätte ich das von dir gedacht, gerade von dir«, eilte zum Schrank, holte dort einen Rohrstock hervor, befahl mir schneidend: »Bücken, ganz tief bücken!« und versetzte mir vier starke Schläge auf das gespannte Gesäß. Danach warf er den Stock in die Ecke und lief laut weinend aus dem Raum. Er hatte, wie sich herausstellte, meinen unästhetischen An­ schlag vom Lehrerzimmer aus zufällig beobachtet. Die vier Hiebe habe ich seltsamerweise nicht da gespürt, wo sie mich trafen, sondern in den Kniekehlen (etwas, woran ich mich viel später erinnerte, als ich Hunger nicht im Magen, son­ dern ebendort verspürte). Der enttäuschte Lehrer brauchte meinen Anblick übrigens nicht mehr lange zu ertragen, wurde er doch am Ende des drit­

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ten Volksschuljahres versetzt und gleich darauf ersetzt - durch Lehrer Wagner: beleibt, bebrillt und am Tag seines Antritts in der braunen Uniform eines SA-Mannes. In die Kämpfe auf dem Schulhof, wo mein Bruder und ich un­ erschütterlich zu den Drei Pfeilen hielten, griff auch er nicht ein.

Mein Idol unter den Spielgefährten war nach wie vor Heinemann, in der Geburtenreihe der vierte von den sieben Sprößlingen der lärmend über uns eingezogenen Familie. Begeistert von der auf­ sichtslosen Freiheit des Gleichaltrigen, war ich begierig, seine Achtung zu erringen - auch um den Preis, ihm auf verbotenen Wegen zu folgen. Denn Heinemann war ein Dieb von begnadeter Begabung, mehr, er war der geborene Kleptomane. Er klaute alles, was nicht niet- und nagelfest war - beim Grünhöker Kartoffeln und Früch­ te, beim Friseur Steffen Nagelscheren und Kämme, beim Bäcker Wilke vorwiegend Punschschnitten, beim Schlachter Beier Filets und in der Sandkiste die Schaufeln und Eimer anderer Kinder. Bis zur Atemlosigkeit berauscht von seiner kriminellen Ener­ gie und höchst begierig nach seiner Anerkennung, folgte ich ihm bis zu Karstadt in der Hamburger Straße, um dort zu klauen - Ta­ schentücher, Schokolade, Trillerpfeifen, aufziehbares Kleinspiel­ zeug und manch anderes noch. Es kam gar nicht drauf an, was ich stahl - Hauptsache, ich konnte Heinemann mit der Beute impo­ nieren. Natürlich ging das nicht ohne erhebliche innere Überwin­ dungen vonstatten, was allerdings, so empfand ich, von meinem Idol nicht so gewürdigt wurde, wie es meiner Meinung nach dem Grad der Selbstverleugnung angemessen gewesen wäre. Was ich ihm gegenüber auszusprechen allerdings nie gewagt hätte. Ein kurzes anerkennendes Nicken war denn auch schon das Äußer­ ste, was Heinemann abgerungen werden konnte, so daß die Hin­ gabe an ihn immerhin nicht gänzlich vergeblich war. Meine Eltern haben von der kriminellen Komplizenschaft übri­ gens nicht das geringste erfahren. Aber nur, weil ich nie erwischt wurde. Jedenfalls hing ich mit ganzer Seele an dem ungebärdigen Nachbarsohn, der ohne jegliches elterliche Reglement über Zeit und Leben verfügen konnte. Wenn die Fahnen heraushingen, bei feierlichen Anlässen oder

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zu Wahlen, rauschte vom Balkon der Etage über uns übrigens schweres rotes Tuch mit Hammer und Sichel, dem Emblem der Kommunistischen Partei Deutschlands.

IX. Im Oktober 1932 meldete der seit über zwei Jahren stellungslose Pianist Alfons Giordano seine beiden Söhne zur Prüfung für die Höhere Schule an. Die hätten nicht das mindeste dagegen gehabt, weiter auf die Volksschule Bramfelder Straße zu gehen, vertraut, wie ihnen der Backsteinanblick des Gebäudes mit dem Trumm von Turnhalle mitten auf dem Hof war, und von gelindem Entsetzen erfüllt über jede Art von Ortswechsel. Danach fragte der Vater aber nicht, fest im Blick, daß meinem Bruder und mir zuteil würde, was ihm versagt geblieben war in den Jahren des hektischen Nomadentums quer durch Europa un­ ter der Dirigentenfuchtei von Rocco Giordano - Bildung! Also das, was er nie gehabt hatte, weder schulisch noch musikalisch. Nun aber sollten sein Fleisch und Blut nachholen, was ihm durch die Umstände verwehrt worden war. In der Tat, mein Vater war kein gebildeter Mann. Die aben­ teuerliche Idiommischung von Deutsch und Italienisch, als fa­ miliäre Lingua franca seit seiner Kindheit, hatte jede Bemühung um sprachliche Klarheit von vornherein zunichte gemacht. Im Italienischen noch unfertiger, sprach Alfons Giordano immerhin Deutsch ohne Akzent, aber was die Deklinationen betraf, vor al­ lem Dativ und Akkusativ, so setzte er häufig den akademischen Regeln seine eigenen entgegen. Ich habe mich dafür geschämt, wenn ich dessen Zeuge wurde, gleichzeitig aber auch das elemen­ tare Bedürfnis gehabt, den Vater vor Spott und Hohn zu schüt­ zen und ihn meiner Liebe zu versichern. Für viele Menschen, denen etwas vorenthalten blieb, gewinnt das Defizit eine Dimension der Verklärung, eine fast metaphysi­ sche Komponente. Das führte im Fall meines Vaters dazu, daß er sich seltsam gab, sobald er sich in einer Gesellschaft gebilde­ ter Menschen wähnte. Er verfiel dann in gezierte Redewendun­ gen, die das, was er mitteilen wollte, noch unklarer machten, um 78

schließlich, total verhaspelt, abrupt abzubrechen. Auch das habe ich oft erlebt, jedesmal wieder überschwemmt von Scham und dem Wunsch, dem Vater gegen jede Reaktion, die ihn verletzen könnte, zu Hilfe zu eilen. Seine Äußerungen über unser beider Zukunft ließen bald er­ kennen, welche Stätte er auserkoren hatte, um meinen Bruder und mich der höchsten, der äußersten, der umfassendsten Bil­ dung zuzuführen, nämlich dem humanistischen Gymnasium der Freien und Hansestadt Hamburg, der ehrwürdigsten, traditions­ reichsten, dem Geist ihres Gründers Johannes Bugenhagen ver­ pflichteten Anstalt - der Gelehrtenschule des Johanneums! Davor hatten die Götter der Hamburger Schulbehörde allerdings eine, wie es hieß, strenge Prüfung gesetzt, und die fand statt in der Oberrealschule Osterbekstraße, also ganz in unserer Nähe am Osterbekkanal. Sie dauerte drei kalte Tage, im Februar 1933, und ich habe von ihrem Verlauf und Inhalt so gut wie nichts in Erinnerung behalten. Wahrscheinlich, weil die Prüfung mich nicht wirklich bewegte, ich machte einfach gute Miene zum, wie ich fand, bösen Spiel - hätte ich doch nach den ersten vier Jahren in der Bramfel­ der Straße auch die folgenden viel lieber dort zugebracht. Woran ich mich erinnere, war der tiefe Unmut darüber, daß der Bruder und ich während der Prüfung nicht nebeneinander sitzen durften, wie stets bisher; daß ich viele Lokomotiven und Hafenszenen gezeichnet und von den vorgelegten Rechenaufga ­ ben nichts, aber auch gar nichts begriff, nach den drei Tagen also verständlicherweise felsenfest davon überzeugt war, durchgefal­ len zu sein, und fröhlich in die alte Volksschule zurückkehren zu dürfen. Tatsächlich aber bestanden mein Bruder und ich die Prüfung ohne jeden Vorbehalt. Die Tage in der Bramfelder Straße waren zu meiner Enttäu­ schung gezählt.

Mir ist bis heute nicht klar, was meinen Vater dazu trieb, uns aufs Johanneum zu schicken, eine Schule, auf die damals bis auf Ausnahmen nur Söhne begüterter Bürger, die männliche Nach­ kommenschaft wohlhabender Kreise, entsandt wurden. War es 79

das Defizit in ihm selbst, das er damit kompensieren wollte, oder steckte dahinter auch der Wunsch, daß ein Abglanz fiele auf ihn, den Erzeuger so gelehrter Kinder? Oder war möglicherweise bei­ des im Spiel? Doch was Alfons Giordano auch dazu angespornt hat, ich werde meinem Vater, der in nicht allzu ferner Zukunft, wie zu lesen sein wird, zu einer Gefahr werden sollte, immer dankbar sein für die Unbeirrbarkeit, mit der er mich gegen alle Konventio­ nen jener Zeit aufs Johanneum geschickt hat - dankbar bis an das Ende meines Lebens. Mag sein, daß bei anderem Verlauf manche Bildungs- und Wissenslücken später von meinem autodidaktischen Potential gestopft worden wären, mag sein. Niemals aber hätte das intel­ lektuelle Sclbstbewußtsein den Pegel erreichen können, dessen Voraussetzung die Jahre auf dem Johanneum waren. Niemals hätte ich ohne sie, ohne die Kenntnisse in den Altsprachen La­ tein und Griechisch, jene linguistische Sicherheit erwerben kön­ nen, von der dann auch das Verhältnis zu meiner Muttersprache Deutsch mitbestimmt worden ist. So finster die Zeit auf der Ge­ lehrtenschule dann auch werden sollte, besonders die letzten drei Jahre - ohne diese Schule wäre mein geistiges Leben niemals so verlaufen, wie es verlaufen ist.

Abgeschlossen wurden die ersten vier Jahre auf Schulbänken durch eine dritte bittersüße Erfahrung im Umgang mit dem an­ deren Geschlecht - nach der ersten, dem Biß der Roten in den kleinen Finger meiner rechten Hand, gefolgt von ihrem wilden Geständnis »Aber wenn ich ihn doch so liebhabe!«, und der zwei­ ten, gerade verflossenen, der ich meine noch schmerzenden Knie­ kehlen zuschrieb. Und auch diesmal hieß die Auslöserin Liesel Möller. Wieder hatte sich nach der Schule die Schar der Verehrer vor dem Haus ihrer Barmbeker Penelope versammelt, wieder hatte sie sich mit Kopfstand, Handstand, heftigen Laufübungen und allerlei Schattenboxen in turnerischer Hektik ergangen, und das, wie üblich, ohne sichtbaren Erfolg. Nur mit mir, der wie immer in einiger Entfernung bewegungslos dastand, sollte eine Ausnahme gemacht werden. Denn plötzlich löste sich das Mädchen von dem Pulk und kam, wie immer in Begleitung seiner häßlichen Freun­ 80

din und völlig unbeeindruckt von der Hysterie meiner Konkur­ renten, unvermutet geradewegs auf mich zu. Da stand sie denn wenig später vor mir, die kleine, angebetete Gestalt, ganz nahe, verweilte ein paar Sekunden so, stumm, hob dann die Hand und strich mir zweimal über beide Wangen, wobei sich ein zauberhaf­ tes Lächeln auf das himmlische Zartrosa ihres Gesichts malte. Dann schritt sie, mich in einer Art Starrkrampf zurücklassend, am Arm ihrer Freundin und in demonstrativer Ignorierung der sich nun noch wütender gebärdenden Bewerber, auf den Treppen­ hauseingang zu, drehte sich dort um und winkte mir, ehe sie end­ gültig verschwand, noch einmal mit beiden Armen zu. Was des Glückes fast zuviel gewesen wäre. Aber es kam noch schöner, durch ein unerwartetes Nachspiel. Da war nämlich einer, der älter war als wir anderen, dazu noch den Vorteil hatte, hier zu wohnen, also Nachbar zu sein, und der sich deshalb wohl als Favorit empfand. Ob nun die Begehrte ihn dazu ermutigt hatte oder nicht, jedenfalls mußte er ihre sanfte Liebkosung des hergelaufenen Jungcasanovas von irgendwoher beobachtet und sich dadurch in seinen tatsächlichen oder ver­ meintlichen Rechten verletzt gefühlt haben. Denn unvermittelt, wie aus dem Boden geschossen, wuchs er vor mir auf und schlug mir zwei-, dreimal ins Gesicht, bevor er, schrittweise rückwärts gehend und immer noch sichtlich empört, von mir abließ. Doch nun ging etwas Merkwürdiges, Unerwartetes vor sich: Statt mich gedemütigt, beleidigt, verletzt zu fühlen, schwellte in mir so etwas wie das Gegenteil hoch, fühlte ich mich herausgeho­ ben aus der Menge und sichtlich bevorzugt: Hatte ich doch um meiner Gefühle willen in aller Öffentlichkeit leiden müssen! Das einzige, was ich bedauerte, war, daß die Verursacherin der körperlichen Attacke nicht auch zu ihrer Augenzeugin geworden war. So kam ich mit der Liebe zusammen. Liesel Möller habe ich nie wiedergesehen - das Drama hatte sich gegen Abend meines letzten Tages an der Volksschule Bram­ felder Straße zugetragen. Wie vertraut doch der bisherige Lebenskreis, der nun zum ersten­ mal gesprengt werden sollte ... Geographisch reichte er von Großmutter Selmas Schreber­

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garten am Bramfelder See im Norden Hamburgs und dem riesi­ gen Areal des Stadtparks über die Sandkiste bis hin zu Karstadt in der Hamburger Straße, nahe der Mundsburg - der innere Kreis der Heimat. Es gab auch einen äußeren - den mit den Alsterschiffen oder der Straßenbahn in die Stadt, zum Dampf- und Rauchgewölle des verrußten Hauptbahnhofs mit seinen gigantischen Stahlrössern; mit dem Jungfernstieg, der Lombardsbrücke, der Binnen- und Außenalster; dem Anblick des Hafens, von der Hochbahn aus oder auf den schwankenden Pontons der Landungsbrücken, sei­ nen bulligen Schleppern und der Fernweh weckenden Majestät der Überseedampfer. Schließlich die sommerlichen Ausflüge an den großen Strom, vom Bahnhof Hochkamp über die Elbchaussee bis zur großen Treppe und dort hinab an den Strand. Und da waren natürlich die Freunde, die Spielgefährten von klein auf, Hans, Fiete, Günter, Werner, Hanno, die komischen Zwillinge Siegfried und Gerhard und vor allen anderen Heine­ mann. Ihre Rufe beim Kriegenspielen, spätabends noch, wenn ich schon im Bett lag, aber höchst wach war - ihr »All zu Mal, all«, wenn es in eine neue Runde ging, neidvoll behorcht von mir, des­ sen Radius durch elterliches Gebot umso vieles begrenzter war. Jeder Laut bekannt, jedes Bild plastisch vor mir - bis heute. Die große graue Dogge im Hinterhof des linken Nebenhauses, nie auf der Straße, ein geheimnisvolles Fabelwesen, vor das der ewig nach »bester Butter« riechende Milchmann Meier uns dann und wann verschwörerisch führte. Im Parterre rechts der schwer magenkranke Fahrradhändler Dettmann, der die Aufstellung der funkelnden Tretmaschinen im Vorgarten dennoch jeden Morgen so begeistert zelebrierte, wie er sie abends wieder im Innern verstaute. Der Inhaber des Linoleumladens gegenüber, Herr Metzler, den ich nie anders gesehen habe als in seinem langen braunen Kittel. Das Feinkostgeschäft Kliche daneben, ein gleichsam aseptischer Ort, mit bakterienfreien Leckereien unter Glas, speichelfördernd, teuer und, wie mir schien, deshalb immer nur grammweise gekauft. Und der Schneider Sartorius, im Hochparterre über Bäcker Wilke, ein Mann, der von uns irgendwie mit Bayern in Verbin­ dung gebracht wurde, vielleicht, weil er immer ganz unhansea­ tisch vor sich hinsang: »Von den Bergen all strömt der Wasserfall, von den Bergeshöh’n kann man Täler seh’n.« 82

Dann die Bäume in der Hufnerstraße, diese wunderbaren Bäu­ me, deren Aufwachsen man förmlich mit bloßem Auge beobach­ ten konnte; Linden, deren abgefallene Blüten von Halbstarken getrocknet und zu einem nikotinfreien Tabakersatz zermahlen wurden. Dann die Tankstelle oben zur Fuhlsbüttlerstraße hin, eine grellrote Zapfsäule, in der das Benzin beim Auf- und Abfül­ len quirlig schäumte, während der Tankwart mit einem Handhe­ bel die privilegierte Kundschaft bediente. Und einmal, in einem dieser Sommer, dröhnend über den Barmbeker Häuserschluch­ ten, wie eine überdimensionale Aluminiumwurst, die »Graf Zep­ pelin« - ein Luftschiff von erschreckenden Ausmaßen. Noch heute sehe ich mich mitten auf der Straße hochstarren und von hinten heftig angehupt. Dann die schneereichen Winter damals, genug, um Schneehöh­ len zu bauen und Schneemänner - mit den drei sich nach oben verjüngenden Kugeln: dicker Rumpf, darauf als Taille eine klei­ nere Kugel, und oben, noch kleiner, der Kopf - zwei Kohiestücke als Augen, als Nase eine Wurzel (woanders »Möhre« genannt) und gelegentlich von einem verschmutzten Hut gekrönt. Die Gaststätte Britzke, wo »Rundstück warm« serviert wur­ de - aufgeschnittenes Brötchen (Rundstück), mit dicker brauner Soße übergossen, eine saftige Scheibe Schweinefleisch zwischen den beiden Hälften und als kulinarischer Höhepunkt heißhung­ rig verspeist. Aber das Nest, das Zentrum dieser Topographie war das müt­ terliche Dickicht in unserer Wohnung, waren das Licht und die Schatten, die Lilly Giordano warf, war die Sicherheit und Gebor­ genheit, die sie mit jedem ihrer Worte, jeder ihrer Gesten perso­ nifizierte. Das Leben - herrlich, meine Welt - ein Elysium, das schön­ ste auf Erden. Ich habe den großen amerikanischen Epiker John Steinbeck erst fünfzehn Jahre später kennengelernt, sage aber aus der heutigen Retrospektive: Diese ersten zehn Jahre waren mein Yoknapatawha, die einzige unbeschwerte Zeit meines Lebens. »Nie wieder«, so werde ich später in einem meiner Bücher schreiben, »nie wieder hat es ihre Luftigkeit und Leichtigkeit, ih­ ren Duft und ihre himmlischen Erwartungen gegeben, nie wieder ihren Frieden und den Glauben an seine Grenzenlosigkeit.« Einen Schritt vor dem Abgrund. 83

HIOB oder DAS ZWEITE LEBEN (1934-1945)

I. Der Tag der »Machtergreifung« Hitlers, der 30. Januar 1933, war noch spurlos an mir vorbeigegangen, wie auch der Reichstags­ brand am 27. Februar und der Boykott jüdischer Geschäfte am 1. April. Nur wenig später aber wurde das Dritte Reich Adolf Hitlers für mich spürbar - am Antrittstag auf dem Johanneum. »Hie Arier - hie Nichtarier« - wurde da befohlen. Worauf sich die Klasse in zwei ungleiche Gruppen teilte, eine kleinere und eine größere. Da mein Bruder und ich mit der Frage nicht das geringste anzu­ fangen wußten, gesellten wir uns dem größeren Teil der Mitschü­ ler zu, etwa dreißig, während der kleinere nicht mehr zählte als Finger an einer Hand. Am Nachmittag wurden wir dann von den Eltern belehrt, daß wir zu der kleineren Gruppe gehörten. Ich erinnere mich an kei­ ne Beunruhigung von Vater und Mutter, Stirnrunzeln vielleicht, das war alles. In mir sah es jedoch anders aus. Obwohl die Teilung keine äußeren Folgen hatte, etwa sitz­ mäßige Trennung der kleinen von der größeren Gruppe - da war dennoch etwas Unheimliches im Gange. Gerade weil der Klassen­ lehrer die Spaltung ganz offensichtlich ablehnte, ja, sie ironisch oder gar höhnisch kommentierte. Dieser Mann hieß Studienrat Dr. Ernst Fritz, und er wird der Initiator meiner politischen Sozialisation werden. Obwohl seit der ersten Begegnung mit ihm über siebzig Jahre vergangen sind, steht er so klar konturiert vor meinem inneren Auge wie damals ein kleiner, wenn auch nicht kleinwüchsiger Mann, mit einer war­ men Stimme und großen braunen Basedowaugen. Gerade seine unverhohlene Ablehnung sensibilisierte mich ge­ gen eine Macht, die anonym hinter der absichtsvoll diskriminie­ renden Aufteilung in zwei ungleiche Gruppen stand. Ohne später eintretende und heutzutage allgemein bekannte Ereignisse, deren Wurzel der Ungeist war, der sich an diesem denkwürdigen Tag zeigte, vorwegnehmen zu wollen - da läutete ein schriller Alarm in mir, weil etwas fühlbar angetastet wurde, was danach nie wie­ der ganz ins Lot kommen wird: das Gefühl selbstverständlicher Zugehörigkeit.

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Diese frühe »Sonderbehandlung«, die erste Konfrontation mit dem kommenden Schicksal, war eine historische Urstunde mei­ ner Biographie. Das Johanneum nahm ich wahr als einen mächtigen, U-förmig strukturierten Backsteinbau, mit der Statue des Gründers Johan­ nes Bugenhagen, Beichtvater und Mitarbeiter Martin Luthers, rechts vom schmiedeeisern vergitterten Eingang. Dahinter der vor­ nehme, von der Bronze eines griechischen Jünglings dekorierte Innenhof, Zugang zu dem gewölbten Halbrund des eindrucksvol­ len Portals und in den Pausen Tummelplatz für die Klassen Un­ tersekunda bis Oberprima (für die Schüler von der Sexta bis zur Obertertia war der geräumigere Außenhof da). Unser Klassenzimmer befand sich im ersten Stock des linken Flügels, Wabe eines architektonischen Gesamtensembles, das wei­ hevoll beherrscht wurde von einer großen Aula (an der Wand der römische Spruch »Dulce et decorum est pro patria mori« »Süß und ehrenvoll ist es, fürs Vaterland zu sterben«) und der sogenannten Ehrenhallc, in deren Mitte ein nackter Krieger aus dunklem Metall den stahlhelmbewehrten Kopf nach unten beug­ te und die Rechte am Schwertknauf hielt. Montags früh hatte die sechshundertköpfige Schülerschaft samt Lehrerkollegium zum Morgenappell im Innenhof anzutreten, eine gerade eingeführte Zeremonie. Dabei trat der neue Direktor, Dr. Werner Puttfarken, aus dem hochtürigen Portal heraus, rief uns allen ein lautes »Heil Hitler!« zu und schritt, die Augen rechts, die Augen links, stramm über den Platz. Vor dem Tor zackige Kehrt­ wendung und ein gellendes »Heiß Flagge!« hoch zum Turnlehrer auf dem Turm. Und während dort oben die Hakenkreuzfahne wehte oder schlaff herunterhing, stimmten Lehrer und Schüler erst die alte Nationalhymne »Deutschland, Deutschland über al­ les, über alles in der Welt« an, danach die brandneue Ergänzung, sozusagen ihre zweite Hälfte: »Die Fahne hoch, die Reihen fest geschlossen, SA marschiert mit ruhig festem Schritt.« So wird es am Montagmorgen über Jahre zugehen. (Noch heute bin ich unfähig, das »Deutschlandlied« zu hören, ohne daß in meinem inneren Ohr automatisch die unsägliche Kom­ position des 1930 bei einer Schlägerei umgekommenen SA-Man­ nes Horst Wessel folgt. Eine Erklärung für meine lebenslangen Vor­

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behalte gegen das von Hoffmann von Fallersleben gedichtete und ursprünglich als habsburgische Kaiserhymne von Joseph Haydn vertonte Lied. Daß ihm nach dem Zweiten Weltkrieg als National­ hymne die beiden ersten Strophen amputiert wurden und nur der Torso der dritten, am wenigstens verfänglichen, überdauerte, zeugt von der Verkrampftheit unbereinigter deutscher Geschichte bis in unsere Tage. Wahrheit ist aber auch, daß ich, wenn ich ihr akusti­ scher Zeuge werde, nicht mehr abschalte oder vom Ort fliehe, wie über viele Jahrzehnte hin, sondern mich bemühe, die dritte Stro­ phe in einen emotionalen Zusammenhang mit der demokratischen Republik zu bringen. Obwohl dabei Fortschritte zu verzeichnen sind - ganz, glaube ich, wird es mir nicht gelingen.)

Die Versetzung von der Volksschule auf das Johanneum kurz nach meinem zehnten Geburtstag am 20. März 1933 war der Ein­ tritt in eine komplett neue Welt. Sie war nur möglich geworden durch ein Gesetz der gerade untergegangenen Weimarer Republik, das die Eltern in Notfäl­ len von der Schulgeldzahlung entband - und der unsere war so einer. Eine Situation, die nur als abenteuerlich bezeichnet werden kann. Da kamen also zwei schon äußerlich von ihrer Kleidung her sozial unterprivilegierte Brüder auf die erste, die renommierteste Schule Hamburgs, von Barmbek so fern wie der Sirius und besucht vom Nachwuchs aus den »besseren Quartieren« der Elbestadt. Natürlich war es bald herum, daß hier die Kinder eines arbeits­ losen Musikers aufzutauchen wagten, ein Beruf, der in der Bewer­ tungsskala dieser Kreise eher dem eines Zirkusdompteurs mit Na­ senbären im Programm zuzurechnen war. Herum war bald auch, daß mein Bruder und ich den Weg von der Hufnerstraße in die Maria-Louisen-Straße, eine Entfernung von immerhin gut sechs Kilometern, oft zu Fuß zu gehen hatten, weil das Geld für die Hochbahn, sechzig Pfennig bis zur Station Sierichstraße und zu­ rück, nicht aufzutreiben war. Bei Erhebungen über Beruf und sozialen Stand der Elternschaft zeigte sich, daß in unserer Sexta der Vater nur eines einzigen Mit­ schülers Angestellter war, naserümpfend registriert, aber dennoch natürlich turmhoch über dem Sozialstatus der Giordanos.

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Bei Ausflügen der Klasse in die Umgebung der Stadt konnten mein Bruder und ich nur dann mitmachen, wenn Mitschüler für das Fahrgeld aufkamen. Wofür Dr. Ernst Fritz feinfühlig sorgte. Die proletarische Stigmatisierung hat aber seltsamerweise kei­ ne bleibenden Schäden verursacht, weder in meinem Bruder noch in mir. Und das aus zwei Gründen. Wenn Mitschüler an unserem sozialen Status Anstoß nahmen, und das taten manche von ihnen ganz bestimmt, so waren sie gut genug erzogen, es sich nicht anmerken zu lassen. Das war der eine Grund. Es gab jedoch noch einen anderen - nämlich wie mein Bruder und ich auf die ungleichgewichtige Situation reagierten. Von Minderwertigkeitskomplexen unsererseits den begünstig­ ten Klassengcfährten gegenüber war nämlich nichts zu spüren. Vielmehr staune ich heute noch, wie selbstbewußt wir beide auf­ traten, vor allem mein um fast anderthalb Jahre älterer und auch in seiner körperlichen Entwicklung früh pubertierender Bruder Egon. Mit ihm sich anzulegen hätte auch Brachiales zur Folge haben können. Nein, gekuscht haben wir nicht, sondern ganz im Gegenteil uns über manche häusliche Sitten bei Mitschülern mokiert. Zum Beispiel, daß einige von ihnen ihre Schuhe nicht selbst putzen mußten, weil sie von Hausbediensteten gesäubert wurden. Das fanden wir komisch, ja, lächerlich, und haben damit nicht hinterm Zaun gehalten. Die anderen Nichtarier unserer Klasse, mit uns beiden sieben an der Zahl, hießen Oppenheimer, Henning, Frey, Wiegelmesser und Rosenthal. Von Antisemitismus oder persönlicher Abneigung gegen uns war in dieser Frühzeit weder in der Schüler- noch in der Lehrer­ schaft etwas zu spüren. Die Stigmatisierung zu Nichtariern hatte also zunächst keine spürbaren Folgen. Was tatsächlich geschah, und zwar durch Dr. Ernst Fritz, war eher das krasse Gegenteil. Nicht etwa, daß er die Juden seiner Sexta bevorzugte oder ihnen gegenüber stärkere Sympathien als gegenüber anderen sichtbar wurden. Er zeigte sie auf seine Weise, weit über das Lokale hinaus ins Epochale, das man nie vergessen wird, wenn man es erlebt hat. Dr. Ernst Fritz hat mir etwas eingeflößt, was mich von vornherein immun machte gegen

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alle Einflüsterungen und Versuchungen durch Agitation und Propaganda: seine sichtbare Verachtung für die Machthaber, mit untergründigen Spitzen und abschätzigen Bemerkungen gegen den »Führer«. Dabei denke ich auch an einen geradezu exhibitio­ nistischen Auftritt, bei dessen Rekonstruierung mir heute noch heiß und kalt wird. Eines von vielen Ritualen der neuen Zeit bestand darin, daß die Lehrer bei Betreten der Klasse den Arm auszustrecken und, von den Schülern chorhaft erwidert, mit »Heil Hitler« zu grüßen hatten. So auch Dr. Ernst Fritz, wenngleich mit einer durchaus persön­ lichen Abwandlung. Vor Antritt des Unterrichts hörten wir den schmächtigen Mann mit militärischem Stechschritt vom Flur her auf die geöff­ nete Tür zustapfen, wo er eine Weile vor dem Katheder verharrte, in Feldherrnpose und den Mund zu einem gewaltigen Schrei auf­ gerissen. Aber nur, um ihm ein wisperndes »Heul Hitler!« entfah­ ren zu lassen. In der Klasse Gekicher, Unruhe, Zustimmung, Ratlosigkeit, auch Abwehr. Die neue Herrschaft befand sich zwar noch im embryona­ len Stadium, aber schon in diesen wenigen Wochen hatte sich die Atmosphäre so verändert, daß natürliche Reaktionen wie Grinsen oder gar Gelächter, wenn überhaupt, nur gebremst aufkamen. Dr. Ernst Fritz schien von den unterschiedlichen Reaktionen völlig unberührt zu sein: »Den >Ludus latinus< aufschlagen.« So hieß damals das Lehrbuch, mit dem der Lateinunterricht auf dem Johanneum begann. »Agricola, agricolae, agricolae, agricolam, agricola« - »amo, amas, amat.« Ich ließ die wunderbare, mir marmorhaft erschei­ nende Sprache in mich einfließen, bald vertraut mit Deklinatio­ nen und Konjugationen, aber zu Hause dann befallen von einer merkwürdigen, ja, beunruhigenden Empfindung: Lernte ich da nicht Dinge, von denen Vater und Mutter keinen Schimmer hatten? Wußte ich nicht, bald auch auf anderen Gebieten, mehr als sie? Das beunruhigte mich. Aber dann geschah etwas, das solche Überlegungen in den Hin­ tergrund treten ließ und das Bewußtsein für den Wandel der Zeiten schärfte.

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Anfang Mai klingelte es gegen sechs Uhr früh an der Haustür. Ich war sofort wach, war das doch um diese Zeit noch nie geschehen. Als ich hörte, daß jemand auf dem Flur war, blieb ich im Kinder­ zimmer, machte aber die Tür einen Spalt auf. Im Licht des Korri­ dors sah ich meine Mutter, in einem verschlissenen Morgenman­ tel, die rechte Hand wie zögernd auf die Klinke gelegt, als würde sich so vielleicht verflüchtigen, wer da draußen unangemeldet auf den Knopf gedrückt hatte - dann öffnete sie. Vor ihr stand ein großer Mann, in einem dunklen Mantel und mit einem Hut, schwarz, gewölbt, ohne Mitteldelle. Er blickte wortlos auf meine Mutter herab, schob sie beiseite und ging zur Tür des Wohnzimmers, von wo außer der lauten Stimme meines Vaters auch eine andere hörbar wurde. Er horchte, schaute eine Weile hinein, wie ich aus einem Augenwinkel erkennen konnte, und schloß die Tür wieder. Dann ging er zurück, ins Treppenhaus, drehte sich dort um, blickte stumm auf meine Mutter herab - und verschwand. Die Erscheinung hatte keinen Laut von sich gegeben. Ich sah, wie meine Mutter eine Weile dastand, auf den Tür­ knauf gestützt, sah, wie sie sich umdrehte, als bewegte sie sich in Zeitlupe - und erschrak bis ins Innere. Ihr Gesicht war so ent­ stellt, wie ich es noch nie gesehen hatte - als wären ihre Züge ent­ gleist und sie nun mühsam dabei, sie wieder zu ordnen. Dann ging sie langsam zurück ins Eßzimmer, den Schlafraum der Eltern. Ich stand da, wie vom Donner gerührt. So etwas hatte ich noch nie erlebt. Was ging hier vor, was kam da auf? Warum fühlte sich plötzlich so vieles anders an als vorher? Alfons Giordano hatte von alldem nichts mitbekommen. Seit Jahren ohne Arbeit, hatte er sich angewöhnt, nach seinen oft achtstündigen »Übungen« auf dem Klavier spätabends noch andere, ebenfalls erwerbslose Musikerkollegen einzuladen, um mit ihnen bei uns zu Hause das Spiel zu zelebrieren, mit dem er von früh auf vertraut war und das er auch uns Kindern bei­ gebracht hatte, dem er aber nun, bei solchem Überfluß an un­ ausgefüllter Freizeit, förmlich verfallen schien: Schach. Also dröhnte allwöchentlich mehrere Male lautstark vom späten Abend bis oft genug hinein in den Morgen, ohne Rück­

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sicht auf Frau, Kinder und zerstörte Nachtruhe, die markerschüt­ ternde Drohung »Schach!« oder, noch gellender, förmlich heraus­ platzend, »Schachmatt!« (ein Ambiente, das mir das königliche Spiel gründlich und dauerhaft verderben sollte). Vater und Gäste gebärdeten sich jedenfalls, als wären sie allein auf der Welt. Zunächst brachten wir den stummen Besuch im Morgengrauen nicht in Zusammenhang mit den periodisch wiederkehrenden Verbalwütereien, bis die Auslöserin sich selbst verriet. Berstend vor Aktionswut für »das neue Deutschland«, so ihr eigener Kommentar, hatte sie anderen Mitbewohnern des Hauses anvertraut, daß es ihrer Ansicht nach neuerdings bei den Giordanos nicht mit rechten Dingen zugehe. Dauernd erschienen frem­ de Gesichter auf der Szene, auch spätabends und frühmorgens, ständig huschte es dort ein und aus, und dann und wann kriegten sich die »Kommunisten« auch in die Haare, so heftig schrieen sie sich an. Im übrigen wisse man ja: Die Hausfrau, die Hausfrau sei Jüdin ... Deshalb sei sie ihrer Pflicht als Volksgenossin nach­ gekommen und habe die Gefahr ordnungsgemäß gemeldet. In diesen Text wurden wir von mehreren Nachbarn fast gleich­ lautend eingeweiht. Die Denunziantin wohnte im selben Haus, ein Stockwerk hö­ her, mit einem durch ein Loch im Balkon ewig bellenden Hund namens »Mora« und einem federleichten Männchen als Ehemann, der neben seinem schwergewichtigen, stets in verschnürten Halb­ stiefeletten einherstapfenden Ungetüm von Ehegespons aussah wie seine eigene Karikatur. In den langen Jahren der Nachbarschaft hatte es zwischen ihnen und uns nie auch nur den Anflug eines bösen Worts ge­ geben. Jetzt hielt sie ihre Stunde für gekommen. Als sie meiner Mutter kurz danach begegnete, zischte sie: »Das nächste Mal klappt’s aber, verlaß dich drauf.« Bis dahin hatte sie immer »Sie« gesagt. Sie hatte auch die Adresse gewußt, an die sie sich zu wenden hatte. Und so hatten wir schon im Mai 1933 die erste Aufwartung von der Organisation, die für uns zum Synonym des kommenden Schreckens werden sollte: der Geheimen Staatspolizei - Gestapo!

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II. Durch die Geburt seines dritten Sohnes sollte Alfons Giordano in seiner Vaterrolle noch einmal zu großer Form auflaufen. Wie schon meinen Bruder und mich, schob er nun auch Rocco, den kleinen Muck, in dem hochrädrigen grünen, so lange im Kel­ ler geparkten Kinderwagen durch die Straßen Barmbeks. Lang­ sam und achtungheischend, in stolzgeschwellter Erzeugerschaft, ganz dem schweren Amt hingegeben, dem kostbaren Nachwuchs das Äußerste an Liebe und Fürsorge zuteil werden zu lassen und - es vor der Welt nicht zu verheimlichen. Das Brüderchen gedieh prächtig, nur schien es aus der Art zu schlagen, insofern Blondes auf seinem Kopf sprießte und sich die skandinavische Seite in Gestalt der halb schwedischen, halb dä­ nischen Großmutter bemerkbar machen wollte. Nichts da vom Braun- und Schwarzhaar seiner älteren Brüder, das ganze kleine Wesen statt dessen licht, hell und wie in Trotz gegen den siziliani­ schen Vornamen ohne alle mediterranen Merkmale. Hatte die Mutter uns ältere Söhne schon behütet wie ihren Augapfel, so schienen sich ihre Befürchtungen um den Jüngsten noch weit darüber hinaus zu steigern. Abgesehen davon, daß sie ihn länger an ihrer unerschöpflichen Brust säugte, wollte sie ihn buchstäblich keine Sekunde aus den Augen lassen. Um so pro­ blematischer waren für sie die Ausflüge des Vaters mit dem Um­ sorgten und durchzuführen überhaupt nur mit dem Versprechen, den mütterlichen Anweisungen auf das exakteste zu folgen. Was er zwar stets emphatisch beeidigte, ohne jedoch seinem Schwur auch immer gründlich nachzukommen. Erinnere ich mich doch bei einem dieser Gänge an eine prekäre Situation auf der Dreckmannswiese in Steilshoop. Ein Platz, auf dem von Anwohnern und Besuchern Sport getrieben wurde, vor allem Fußball, obwohl es verboten war, weil hinter einer Umzäu­ nung Kühe und Pferde grasten. Was niemanden daran hinderte, sich dort zu tummeln, alle Gebote und Verbote zu übertreten und der Tatsache zu vertrauen, daß es hier zwischen Mensch und Tier nie zu Konflikten gekommen war. Was stimmte - bis auf jenen Nachmittag, an dem mein Vater sich in demonstrativer Jugendlichkeit an der Bolzerei mit dem Lederball beteiligte, sogar ein Tor schoß, dabei aber den Kinder­

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wagen mit Sohn Rocco für einige schwerwiegende Minuten un­ botmäßig und meineidig außer acht ließ. Auch ich war nicht ganz auf der Hut, beobachtete ich doch wie immer das Umfeld, um gegebenenfalls mit dem Ruf »Tschako!« die Spieler vor dem Auftauchen eines Polizisten zu warnen. Denn dieses Wort - »Tschako« - hatte es mir, ich weiß nicht, warum, regelrecht angetan, besonders wenn es unter so dramatischen Um­ ständen auszustoßen wäre - phonetisch ein kühner Klang. Statt eines Polizisten aber nahte sich nun eines der Pferde, die da auf der Dreckmannswiese grasten, und zwar ohne menschli­ che Begleitung oder Führung, sondern hufeschlagend und sicht­ bar irritiert. Wie das Tier die offenbar zu niedrige Umzäunung hinter sich lassen konnte, war nicht mehr herauszukriegen, jedenfalls stürm­ te es geradewegs auf den grünen Kinderwagen zu, als wäre er der Stein des Anstoßes, den es umzuwerfen galt. Aber dann, im letzten Moment, war der Vater doch da. Mit einer Behendigkeit, die ich an ihm nicht vermutet hätte, rannte er zur Stelle, um das grüne Gefährt so rasch und stürmisch vor sich herzuschieben, daß der verdutzte Gaul ihm nicht folgen konnte. Der Bruder war gerettet, der Säumige außer Atem und ich ver­ stört daneben. Die Mutter erfuhr nie etwas davon. Ohnehin empfing sie den Rückkehrer jedesmal mit Mienen und Gebärden, als wäre er gerade noch einer Welt von Gefahren entronnen, die darauf aus waren, ihr das Kostbarste, was sie hat­ te, zu rauben. Was an meiner Mutter jüdisch war - und das war, ungeachtet ih­ rer mangelnden Kenntnisse mosaischer Religion, mosaischer Bräu­ che und mosaischer Sitten, ungeachtet auch ihrer Unterwerfung unter die sektiererische Christlichkeit ihres Mannes, jede Pore und Faser ihres Leibes -, alles, was an Lilly Giordano jüdisch war, sam­ melte, konzentrierte, ballte sich in der allgegenwärtigen, schlaflo­ sen, muttertierhaften, mythischen Sorge um ihre Brut.

Dann wurde der junge Sozialdemokrat aus dem oberen Stock­ werk des-Haus verhaftet - ein freundlicher Mensch, stets zum Scherzen aufgelegt und bekannt als eiserner Anhänger der inzwi­ schen verbotenen Partei mit den Drei Pfeilen.

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Durch die Etagen geisterte das Gerücht, die Verhaftung sei durch jene Familie veranlaßt worden, die Mitte vorigen Jahres in die hintere Parterrewohnung eingezogen war - Vater, Mutter und zwei Söhne, um die fünfundzwanzig Jahre herum, wie der Sozi­ aldemokrat auch, aber häufig zu sehen in der braunen Uniform der SA. Einmal, im Herbst 1932, war es zwischen den dreien zu einem Zusammenstoß gekommen im Treppenhaus, wobei die beiden Braunen fürchterliche Drohungen ausgestoßen haben sollen, dar­ unter die, daß bald der Tag der Rache kommen und an ihm, dem »Sozi«, vollstreckt werde. Eine Prophezeiung, die nun erfüllt zu werden schien. Dabei wurde hinter vorgehaltener Hand häufig ein Name genannt, der sich mir rasch cinprägte: Kolafu, die Abkürzung für Konzentrati­ onslager Fuhlsbüttel. Die Familie aus der hinteren Parterrewohnung verschwand bald, kurz bevor der Verhaftete zurückkehrte. Aber es war nicht mehr derselbe Mensch, nicht der, den wir gekannt hatten. Er hinkte, und sein rechter Arm hing steif, völ­ lig bewegungslos herab. Das schlimmste aber war sein Gesicht stumm, bleich, ausdruckslos, die Miene eines Gespenstes. Nie­ mand hat ihn je wieder lächeln gesehen. Sein Beispiel hat tief auf mich eingewirkt, es war wie eine per­ sönliche Versehrung, als hätte der fremde Schmerz Einzug in mich gehalten. Das Hinken verschwand, der verkrüppelte Arm blieb. Wann immer ich ihm begegnete, blickte ich wie magnetisch auf die Lähmung, auf das Glied, das nicht zum übrigen Körper zu ge­ hören schien, aber auch nicht von ihm abfallen wollte. Wer hatte das getan? Warum? Und: Würden sie das auch mit mir machen? Ich war elf Jahre, als ich mir diese Frage stellte. Bei Beflaggung war die Hufnerstraße jetzt ein einziges Haken­ kreuzmeer. Wovon Haus 113 keine Ausnahme machte - auch hier wehte von den meisten Balkons das neue Staatssymbol. Zu den ersten, die Hammer und Sichel gegen das Hakenkreuz ausgetauscht hatten, zählte übrigens die kinderreiche Familie über uns. Plötzlich propagandistisch hoch favorisiert und allenthalben als »bevölkerungspolitisches Vorbild« gepriesen, war sogar von Auszeichnung mit dem »Mutterkreuz« die Rede. 96

Ich verfolgte das mit Unruhe, war mir doch nur eines wichtig: daß Heinemann mein Freund blieb. Um diese Zeit traten zwei Personen in mein Blickfeld, von denen unser Leben später entscheidend mitbestimmt werden wird. Die erste: der Bankbeamte Erwin H. Dazu ein Vorspiel. Des Alleinseins nach Roccos Tod allmählich müde, hatte Emma Giordano sich zunächst als Gesellschaft einen Zwergpa­ pagei ausgesucht, ein besonders häßliches Exemplar der Gattung Psittaciformes, zu dem sie zu unser aller Ergötzen jedoch ein gera­ dezu verwandtschaftliches Verhältnis herstellte. Der auf den Na­ men »Tarzan« horchende Vogel wurde von ihr gefüttert, getränkt und sogar nachts in ihrem Bett gewärmt, obwohl er, wie wir arg­ wöhnten, noch nicht ganz stubenrein war. Jedenfalls konnte Großmutter Emma bald ohne Tarzan nicht mehr sein und schleppte deshalb auch den Zwergpapagei samt Käfig mit sich, wenn sie uns besuchte. Diese Begegnungen ende­ ten regelmäßig damit, daß Tarzan in die Besenkammer gesperrt werden mußte, wo er sich vor ohnmächtiger Wut die ohnehin spärlichen Federn einzeln ausriß und auch sonst mit allen Mitteln kundtat, daß er heimwollte. Daß Emma dieses Verhalten tragischerweise als Liebe zu ihr mißdeutete, sollte sich jedoch bald zeigen. Denn nach gut zwei­ jährigem harmonischem Zusammensein mit geradezu ehelichem Habitus setzte Tarzan sich in das von Emma zum Zeichen ihres Vertrauens zum erstenmal offengelassene Küchenfenster, von wo er die laut Aufheulende auf das übelste beschimpfte, ehe das treulose Geschöpf krakeelend den Augen seiner Wohltäterin ent­ schwand. Aber nur, um alsbald der weinenden Papageienmutter von klammheimlich schadenfrohen Nachbarn tot vor die Füße ge­ legt zu werden, ein Balg, in dem der alte Tarzan nun wahrlich nur bei angestrengtester Phantasie wiederzuerkennen gewesen wäre. Nach ihrer Entscheidung, sich angesichts dieses tierischen De­ bakels wieder Menschen zuzuwenden, hatte die Großmutter im »Hamburger Fremdenblatt« eine Annonce aufgegeben: »Witwe vermietet anderthalb Zimmer mit Küchenbenutzung an kinder­ loses Ehepaar.« Daraufhin meldete sich der Bankbeamte Erwin H. - Mitte

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Fünfzig, korrekt gekleidet, mit kaiserlichem Schnurrbart, schnar­ render Stimme und ohne daß seine Frau, Hanna H., in der Stunde der Vorstellung auch nur ein einziges Wort geäußert hätte. Er ge­ bot sogleich über die ihnen zugedachten Räume, das große Zim­ mer hinten und das halbe, kleine mit dem Balkon auf den Hof des Häuserblocks; schüttelte den Kopf über das Interieur der Rum­ pelkammer, bemängelte die düstere Toilette und hatte von der er­ sten Minute der Begegnung an die Herrschaft in der Wohnung des ehemaligen Maestro ergriffen. Daß noch ein Kind dazukam, ein Junge in meinem Alter - Eitel-Fritz -, Emmas ausdrückliche Forderung nach Kinderlosigkeit also selbstherrlich mißachtet wurde, konnte den Lauf der Dinge nicht ändern. Von der Autorität des Bankbeamten förmlich erdrückt und gutgläubig bis zum Exzeß, erging sich Emma sogleich in so de­ mütigenden Bekundungen, daß die Aufforderung zum soforti­ gen Einzug der neuen Untermieter nur folgerichtig war - und ihr auch sogleich entsprochen wurde. Womit Großmutter Emmas eigener Bereich reduziert war auf das Wohnzimmer, wieder Verstorbene es mit allen Utensilien, An­ denken und Bildern hinterlassen hatte, auf die Hälfte der Küche und auf das eine Drittel der Rumpelkammer, das der Bankbeamte Rocco Giordanos Uniformen, Instrumenten und Papieren ohne jedes sichtbare Interesse dafür gerade noch zugestanden hatte. Bei unseren Besuchen in der Roonstraße von großer Leutselig­ keit, erwies sich Erwin H. als politisch motivierter Zeitgenosse deutschnationalen Zuschnitts und großer Offenheit: Von Hitler sprach er nur als »dem Gefreiten« und von dessen Anhang stets als »den braunen Horden«. Daß seine Sympathien der verbliche­ nen Monarchie gehörten, wurde er nicht müde zu wiederholen, dabei stolz auf den Namen des Sohnes hinweisend - »nach einem derer von Hohenzollern«, wie er sich ausdrückte. Eitel-Fritz war ein lieber Junge, mit dem ich mich gut verstand, während sein Vater mir mit seiner schnarrenden Stimme immer et­ was komisch vorkam. Der Bankbeamte war Hamburger, seine flachnasige, meist wie auf den Mund geschlagene Frau Hanna aber kam aus der Alt­ mark, einem kleinen Ort namens Bösdorf, mit der Postadresse »über Oebisfelde«, wie wir erfuhren. Dort lebte ihre Schwester, und dort machte die Familie auch alljährlich Urlaub. 98

Worüber wir ungefragt ausführlich informiert wurden, so daß Bösdorf bald schon zu einem festen Begriff bei uns geworden war. So regelten sich die Dinge: die Großmutter nicht mehr allein, sondern in starker Obhut. Daß der Bankbeamte zwar betont deutschnational, ganz offenbar aber Antinazi war, wurde mit je­ ner Wachheit registriert, die sich unter uns bei der Beurteilung von Menschen binnen kurzem eingestellt hatte und eine immer größere Rolle zu spielen begann. Der Einlogierer und seine Familie - eine gute Wahl, so glaub­ ten wir.

Zweite Person von entscheidender Bedeutung in unserem Leben war eine neue Nachbarin im oberen Stockwerk des Hauses Huf­ nerstraße 113: um die dreißig, schlank und Frau eines Taxichauf­ feurs, den wir selten zu Gesicht bekamen - Grete Schulz, genannt »Gretel«. Die Halbstarken pfiffen ihr nach, und auch Ältere drehten sich um. Sie schien solche Reaktionen gewohnt zu sein und nahm sie ungezwungen hin. Ihr Anblick tat mir gut. Wenn wir uns begegneten, grinsten wir uns an. Nichts, aber auch gar nichts deutete darauf hin, daß Leben und Tod eines Tages in der Hand dieser Frau liegen werden.

III. »Heul Hitler!« Auch in der Quinta setzte Dr. Ernst Fritz seine regimefeindli­ che Pädagogik fort - nach der Methode des steten Tropfens, so­ zusagen zwischen die Zeilen des »Ludus Latinus« geträufelt und scheinbar auf Vergangenes gemünzt: Schon im alten Rom habe das Parteibuch über die Intelligenz gesiegt, und wer immer recht haben wolle, wie Cäsar, sei am Ende dann doch der Verlierer. Al­ lerdings, die Methoden der Unterdrückung hätten sich inflatio­ niert, und er frage sich, was wohl gewesen wäre, wenn Machiavclli Radio und Film zur Verfügung gestanden hätten. Von einer Bevorzugung der nichtarischen Gruppe konnte aber 99

keine Rede sein, eher manchmal das Gegenteil - wenn er meinte, die Bedrohten täten etwas, was er ständig tat, sie aber nicht tun dürften: nämlich unvorsichtig sein. So schoß er einmal morgens, nach der unwillig hingemurmel­ ten Grußformel, auf meinen Bruder zu und schrie ihn an: »Ausge­ rechnet du hebst den Arm nicht! Hast cs wohl nicht nötig, wie?«, wobei sein Kopf tomatenrot anschwoll. Mein Bruder, der nichts weniger als offenen Widerstand hatte leisten wollen, kippte vor Schreck aus dem Stand nach hinten über. Ich hatte den Sinn der Anschnauzerei sofort begriffen: »Sei ge­ fälligst vorsichtig, gerade du.« Also genau die Devise, nach der Dr. Ernst Fritz selbst nicht handelte. Keineswegs nur ein Zoon politikon, konnte er auch kauzig sein wie kein anderer. Förmlich süchtig, die Schüler zum Lachen zu bringen - »das beste, was ihr in dieser trostlosen Zeit tun könnt«. So verstieg er sich zu allerlei Albernheiten, schnitt Grimassen, ver­ renkte die Finger und verschwand bei Klassenarbeiten unter dem Rui »Ich vertraue darauf, daß ihr nicht voneinander abschreibt« sogar in einem Schrank. Gelegentlich machte er absonderlicherweise liederliche An­ spielungen auf das andere Geschlecht, die auf eigene Störungen schließen ließen. Daß der Lehrer eine unglückliche Ehe führte, war allgemein bekannt, ja, es hieß sogar unter der Hand, sie sei nie vollzogen worden. Ich liebte ihn, diesen Mann mit den braunen Basedowaugen, und er mochte mich auch. Bei meiner Umbenennung von Ralph in Ralle war er vor der Klasse ausführlich geworden, hatte von Wasser-, Tüpfel- und Zwergrallen berichtet, die gemeine Ralle aber dem Sumpf- oder Purpurhuhn zugeschlagen. Begeistert von soviel persönlicher Zuwendung, versuchte ich mich durch erhöhten Lerneifer zu revanchieren. Was aber offen­ bar nicht immer glückte. Nach einem Extemporale, einer sogenannten »Formenarbeit« (bei der lateinische Verben verschiedener Tempi ins Deutsche oder deutsche ins Lateinische übersetzt werden mußten), kam Dr. Ernst Fritz bei Verteilung der Hefte zuletzt zu meinem, reichte es mir, seufzte: »Ralle, du hast mich schwer enttäuscht!« und drehte sich brüsk ab.

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Ich saß wie vom Donner gerührt da - mit dem aufgeschlage­ nen Heft in der Hand und der Note 5. In jener Februarnacht des Jahres 1935 setzte ich mich zu Hause hin und paukte die lateinischen Konjugationen - also die a-, e-, i-, die kurz-i- und die konsonantische - bis tief in die Nacht hinein so gründlich, daß sie nie wieder aus meinem Kopf herausgingen und ich heute noch, Äonen nach der letzten Lateinstunde, jede ihrer Formen beherrsche, ob nun Aktiv oder Passiv, Konjunktiv oder Indikativ, Singular oder Plural. Ich erprobe das mit Vorliebe an Schülern, die gerade Abitur gemacht haben und dennoch meist weit Zurückbleiben hinter mei­ nen Kenntnissen der lateinischen Konjugationen. Das galt sogar für jenen Mitschüler aus meiner Klasse, der damals in der Rang­ folge weit über mir stand, immer unter den ersten, wenn nicht gar Primus, und der sich viel später bei einer solchen Prüfung doch geschlagen geben mußte. Sein Name: Walter Jens. Ich werde über weite Strecken von der Sexta bis zur Oberse­ kunda mit ihm auf einer Bank sitzen, in Mathematik kräftig von ihm abschreiben und eine Langzeiterfahrung machen, die biogra­ phisch von nicht zu überschätzender Bedeutung war - stetes In­ teresse, launcnloses Beieinander, gleichbleibende Zuneigung, die Sicherheit eines nie enttäuschten Vertrauens. Und das zu einer Zeit, in der sich ein Schatten reckte, der nun größer und größer zu werden drohte: die Furcht vor Liebes- und Freundschaftsverlust.

Es muß in den Sommerferien 1935 gewesen sein. Ich betrete vormittags die Hufnerstraße und gehe in Richtung Sandkiste, um dort meine Spielgefährten zu treffen. In dem Moment kommen mir drei von ihnen entgegen - mit jenem Blockwagen, den mir einst Urgroßvater Adolf Seligmann, Opa Adolf, geschenkt hatte und den ich dann meinerseits - »Sei freundlich zu ihnen, dann sind sie auch freundlich zu dir« - den Gefährten zur beliebigen Benutzung vermacht hatte. Zwei sitzen in dem Wagen, einer zieht ihn - Heinemann. Ich sehe in drei Gesichter, die mich anders anschauen als bis­ her. Da -ist irgend etwas, irgend etwas Neues drin. Dann bleibt mein bester Freund kurz vor mir stehen und sagt: »Ralle, mit dir spielen wir nicht mehr, du bist Jude!« 101

Das letzte Wort lauter, als sollten es möglichst viele hören. Dann sausen die drei mit dem Blockwagen johlend an mir vor­ bei. Zur Stunde der Niederschrift ist dieser Moment über siebzig Jahre her, aber während ich dies in die Maschine gebe, laufen mir immer noch die kalten Schauder den Rücken herunter. Es war wie eine Hinrichtung. Ich konnte mich nicht rühren, nicht antworten, kaum atmen. Die Welt blieb einfach stehen, mit einem Ruck, der mich ins Nichts schleuderte. Ich bin nie ganz daraus hervorgekommen, ein Teil von mir steckt weiter darin. Auch heute noch, wo eher um meine Freund­ schaft geworben wird und ich selbst souverän über Ja oder Nein entscheiden kann, ist die Furcht vor Liebes- und Freundschafts­ verlust, vor einer Haltung, die heute anders ist als gestern, nicht überwunden - und wird nie überwunden sein. Wie so vieles andere nicht. Allmorgcndlich machten wir Brüder uns auf den Weg zum Johan­ neum, manchmal mit der Hochbahn, häufiger, weil das Fahrgeld fehlte, zu Fuß, ein langer Marsch über den endlosen Wiesen­ damm. Dabei achteten wir penibel darauf, nicht im Gleichschritt zu gehen - alles Militärische war verpönt. Die schulischen Dinge hatten inzwischen Konturen angenom­ men. Egon war der bessere Schüler, ich deshalb kein schlechter. Zwar mochte ich Mathematik nicht, wie alles, was mit Zahlen zu tun hatte, Arithmetik, Algebra, Logarithmen; aber in Latein immerhin Mittelplatz; hohes Interesse für Geographie und Geschichte; auch für Chemie, Physik und Biologie. Im Fach »Turnen« durchaus vorn, das heißt schneller Sprinter und guter Springer, obwohl ich zu den Kleineren in der Klasse zählte. Diktat lag mir wie Interpunk­ tion auch, während in Aufsatz blanker Durchschnitt waltete und Fabulierkunst nicht zu spüren, Brillantes nicht zu entdecken war. Zu ehrgeizigen Lerntaten fühlte ich mich nicht hingerissen, der Appell an mich selbst herauszuholen, was in mir ist, dieser Ruf, der mein späteres Leben so vollständig bestimmen wird, hatte mich noch nicht erreicht. Und doch geisterte schon, irgendwo und vage, in mir eine Idee herum, der ich sogar dann und wann, nach Berufswünschen gefragt, Ausdruck verlieh, ohne sie aber

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mit der Schule in Verbindung zu bringen: »Schreiben möchte ich, schreiben.« (Vorher, so bis zu meinem achten, neunten Jahr, hatte ich auf die Frage nach der Profession kühn erwidert: »Lokomotiv­ führer, Cowboy, Jockey!«) Also keineswegs vor Begeisterung glühend, machte ich mich dennoch gern auf den Weg in die Maria-Louisen-Straße, vor al­ lem in Erwartung der Zeichen, die der bewunderte Klassenleh­ rer gerade jetzt wieder setzte, mit Stoßrichtung gegen das Italien Mussolinis, das sich über das fast wehrlose Abessinien hermach­ te, während sich in Spanien Unheil zusammenbraue. Offenbar schickten sich, so wörtlich, »die vereinten Mächte der Finster­ nis zum Amoklauf gegen die Welt an«. Gutgehen könne das nicht ... Nein, es ging nicht gut - mit Studienrat Dr. Ernst Fritz.

Erst war es ein Gerücht, das aber bald von der Schulleitung offi­ ziell bestätigt wurde: Der Lehrer war in seiner Wohnung in der Winterhuder Dorotheenstraße verhaftet und ins Untersuchungs­ gefängnis eingeliefert worden - staatsfeindlicher Äußerungen we­ gen. Was war geschehen? Schüler unserer Klasse hatten über viele Monate hin aufge­ schrieben, was Dr. Ernst Fritz an Antipathien gegenüber Partei, »Führer« und dessen Anhängern abgesondert hatte, ein langer Ka­ talog, wie es hieß, der von Eltern Stück um Stück an die Geheime Staatspolizei weitergereicht worden sei. Wer unter uns hatte heimlich notiert oder im Kopf bewahrt, was der Lehrer geäußert hatte? Die Verhaftung spaltete die Klas­ se auf den Schlag in eine Stätte tiefen gegenseitigen Mißtrauens, da sich niemand zu der Denunziation bekannte. Wohl gab es Ver­ mutungen, aber keine Gewißheit. Außer, daß die Täter eine Min­ derheit waren - die Mehrheit der Schüler zeigte sich entsetzt und machte daraus kein Hehl. Das eigentlich Unheimliche war, daß niemand etwas bemerkt hatte. Der Teil der Klasse, der seine Hand im Spiel hatte, hatte so »wasserdicht« gearbeitet, so gelungen konspiriert, so eisern ge­ schwiegen, daß von dem Anschlag auch nicht das geringste nach außen gedrungen war, kein Sterbenswörtchen. Wem also war noch zu trauen? In dieser Frage steckte die 103

eigentliche Verunsicherung. Bis zur Teilung der Klasse 1938 wird sich die aufgerissene Kluft nicht mehr schließen. Alle Versuche von ihm wohlgesinnten Schülern, Dr. Fritz bei Verhören zu entlasten, fruchteten sowenig wie die Unterschriftensammlung von Eltern zugunsten des Angeklagten. An dieser Ope­ ration war übrigens mein Vater hauptbeteihgt. Rastlos suchte er über Wochen hin eine Adresse nach der andern auf. Dr. Ernst Fritz wurde schuldig gesprochen und zu Gefängnis verurteilt-sein Leben war zerstört. Ich werde ihm nach 1945 wie­ der begegnen, aber nur, um dieses Resultat bestätigt zu bekom­ men. Was mich heute noch frieren läßt: Die das Attentat geplant und es in ihrem Sinn ohne Fehler konspirativ durchgeführt hatten, waren wie die, die von dem Anschlag überrascht worden sind, zwölf, dreizehn Jahre alt ... Wir waren Kinder - Kinder.

IV. Heinemanns Diktum »Ralle, mit dir spielen wir nicht mehr, du bist Jude!« zeigte keine allgemeine Wirkung - befolgt wurde es nur von ihm selbst, wenn auch konsequent. Alle anderen blieben, wie sie waren - Fiete aus der Fuhlsbüttlerstraße, der ernsteste von allen, oft wie ein stellvertretender Va­ ter mit seinem kleinen Bruder an der Hand erscheinend; Hans, Hufnerstraße 109, alter Gefährte und Dauerschwadronierer von ständigen K.-o.-Siegen über Gegner im Nirgendwo; Hanno aus der Drögestraße, der Kapitän werden wollte, was weniger inter­ essierte als seine hübsche Schwester Ada; die beiden Günter, der eine aus dem Nebenhaus 115, der immer grün um die Nase wurde, wenn er sich ärgerte, der andere aus der Drosselstraßc, dessen Familie wegen säumiger Mietzahlung nach wie vor in Ge­ fahr war, auf die Straße gesetzt zu werden. Dazu Werner, der zur Dicklichkeit und Frühreife neigende Sohn des Bäckers, und schließlich die Söhne des evangelischen Glasbläsers und seiner jü­ dischen Frau Franziska, Siegfried und Gerhard, die vom oberen Abschnitt der Hufnerstraße kamen, zwischen Wiesendamm und Ostcrbekkanal. Siegfried blond wie der Prototyp des offiziell 104

proklamierten »Ariers«, und das ganz im Gegensatz zu seinem dunklen, verwuschelten, in sich zurückgezogenen Bruder - bei­ de aber mit jenem verschämten Lächeln, das mich immer wieder anrührte. Sie alle blieben mir gegenüber, wie sie waren. Mehr noch: Sie erhoben mich zum Häuptling des »Stammes«! So der Name der Horde, die malerisch als Indianer geschmückt in den Stadtpark einfiel, um dort allerlei Unfug zu treiben: Passanten durch Ge­ heul zu erschrecken, trotz strengen Verbots wildwachsende Äp­ fel weit vor der Reife von den Bäumen zu reißen oder sich einen Spaß daraus zu machen, Parkwächtern, also älteren Herren, aus dem Boden gerissene Grassoden an den Kopf zu schmeißen. Hauptrückzugsgebiet nach vollbrachten Schandtaten waren der erste, zweite und dritte Wald, eine grüne Front von der Hell­ brookstraße bis zur Alten Wöhr. Das waren ziemlich dichte Ge­ hölze, die für uns den Vorteil hatten, daß man von innen nach außen besser sehen konnte als umgekehrt. Jedenfalls sind wir trotz reichlich verdienter Strafe nie von ei­ nem der Behördenvertreter erwischt worden. Und ich nun der erkorene, gleichsam demokratisch gewählte Häuptling. Was nicht ganz ungerechtfertigt war, kam die Idee des Stammes doch von mir, und, wie wir sehen werden, noch ei­ niges dazu. Zunächst jedoch bedeutete die hohe Ehre nichts an­ deres, als allerlei Mutproben zu bestehen, darunter auf schmalen Brückengeländern über tiefem Abgrund zu balancieren, und das schon zu einer Zeit, da ich noch gar nicht schwimmen konnte, sondern mich als Quintaner in der Badeanstalt Kellinghusen hef­ tig abstrampelte, über Wasser zu bleiben. Die Einfälle des Stammes in den Stadtpark standen allerdings keineswegs nur im Zeichen jenes Unfugs, mit dem wir in periodi­ schen Abständen seinen Wächtern das Leben schwerzumachen pflegten. Vielmehr waren die nachmittäglichen Ausflüge auch geprägt von Vorträgen, die ich den Gefährten im Dickicht des ersten, zweiten oder dritten Waldes hielt - nicht ohne jedesmal in Hörweite verbleibende Späher ausgesandt zu haben: Die Ge­ schichte der Indianer Nordamerikas! Genauer, ihr Ablauf auf dem Territorium der späteren USA, ein gigantischer, über dreihundert Jahre währender Kampf von der Ostküste am Atlantik über die Alleghanies, den Mississippi, 105

die Great Plains und die Rocky Mountains bis hin zu den Gesta­ den des Pazifischen Ozeans im Westen. Ausgestattet von Großmutter Emma mit Federschmuck und einem trapperähnlichen Kostüm, versuchte ich, der aufmerksam lauschenden Runde so etwas wie einen ersten Einblick in das große Drama zu geben. Damals hatte ich mir meine Kenntnisse bestenfalls angelesen, dauerhaft, aber unsystematisch. So in Büchern aus der Leihbi­ bliothek Laasch in der Drosselstraße, wo ich auf den amerikani­ schen Schriftsteller Zane Grey und seine Bücher »Männer der Grenze« und »Betty Zane« stieß; oder in Fortsetzungsbroschü­ ren, unhistorischen Groschenheften, mit Titeln wie »Wildtöter«, »Texas Jack« oder »Buffalo Bill«, aber auch aus Fenimore Coo­ pers »Lederstrumpf«, dick und schwer, Weltliteratur unterm Weihnachtsbaum. Begierig auf alles, was sich seit der Gründung von Jamestown an der Cheasepeake Bay und der Ankunft der »Mayflower« zu Beginn des 17. Jahrhunderts tat, war ich empört über den Kampf so ungleicher Kräfte. Berstend vor Wut über die erfolgreich gelegte Eisenbahntrasse quer durch den Kontinent in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts, die die Büffel in eine Nord- und eine Südherde trennte; voll wilden Jubels über den Untergang des Generals George Armstrong Custer und seines 7. Kavallerieregiments durch die vereinigten Sioux und Cheyennes im Juni 1876 am Little Bighorn River und schwer an­ geschlagen durch das Ende der Indianerkriege mit dem Massaker am Wounded Knee im Jahr 1890. So war ich zusammengekom­ men mit den Namen berühmter Verfechter einer verlorenen, der indianischen Sache - Metcomet, Pontiac, Tecumseh, Osceola, Sitting Bull, Geronimo. Tatsächlich aber war mein damaliges Bild von Indianern eher romantisch geprägt als historisch fundiert und dazu noch, wie gesagt, auf das Gebiet der Vereinigten Staaten von Nordamerika beschränkt. Erst später wird ein elementares Interesse an der Ge­ schichte der Ureinwohner des Doppelkontinents von Alaska bis Patagonien hinzukommen, mit Schwerpunkten auf den Hochkul­ turen Mexikos und der südamerikanischen Anden-Indios - ah­ nungslos, daß ich ihren Zeugnissen einmal als Fernsehautor per­ sönlich gegenüberstehen würde. In der blutigen Auseinandersetzung zwischen »Weißen« und

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»Roten« war ich entschlossen Partei, mit der Neigung, die »Ro­ ten« hemmungslos zu verklären und zu idealisieren. Also lange ignorant für die wahren Verhältnisse, die ewigen Kämpfe unter­ einander, überhaupt für die grausame Seite der Wirklichkeit von Völkern, die sich an der oberen Grenze der Steinzeit bewegten und deren hohe Kulturen in erschreckendem diametralem Gegen­ satz zu jeglichem Humandenken standen. Das sah ich nicht, wohl aber als Idol, ja, als Ikone all meiner Vorstellungen vom roten Mann das stolze, wie schwerelose Bild des adlerfederngeschmückten berittenen Prärieindianers. Was mir trotz dieser Begrenzung jedoch früh ganz elementar vor Augen stand, war die Erkenntnis, daß die Völker Amerikas insgesamt in dem Moment verloren waren, als Christoph Kolum­ bus am 12. Oktober 1492 christlicher Zeitrechnung seinen Fuß auf die Insel Guanahani setzte, später San Salvador, eine der Ba­ hamas. Das war der Anfang vom Ende. Und ich fühlte mich als berufener Chronist, die Klage über einen Teilausschnitt des großen Dramas an meine Freunde wei-

Also lagerte der Stamm irgendwo zwischen Wasserturm, Parkcafe, Planschbecken und Ententeich und ließ sich von mir berichten: über das ständige, immer temporeichere Go west, den unaufhaltsamen Vortrieb weißer Siedler; über die »Herrschaft der Großmütter« unter den Irokesen, Reste eines uralten Matriar­ chats; über den aussichtslosen Kampf der Shawanos in den »dunk­ len und blutigen Gründen« Kentuckys gegen Daniel Boone und seine Rifle-Männer; und über die berühmte Reise von Lewis und Clarke an den oberen Missouri bis zu den Schwarzfüßen, Schnei­ se für den Oregon-Trail durch die endlosen Prärien und über das Felsengebirge bis zu den Naturwundern der Sequoyabäume in Oregon. In diesen Stunden atemlosen Lauschens meiner phantasiege­ schmückten Exkursionen über den Zusammenstoß so ungleicher Kräfte gab es nichts als die natürliche Unbefangenheit von Men­ schen unseres Alters, ohne jede individuelle Feindseligkeit zwi­ schen dem Auditorium und mir, die wir uns von klein auf kann­ ten, kostbare Zeugnisse beständiger Sympathien. Der Stadtpark und der Stamm - das waren noch Ausläufer des 107

Elvsiums in einer sieh schon verwandelnden, noch aber Unbefan­ genheit gestattenden Welt, wo persönliche Feindseligkeiten nicht galten. Heinemanns Fluch »Ralle, mit dir spielen wir nicht mehr, du bist Jude!« hatte zwar für mich nichts von seiner Fürchterlichkcit eingebüßt, war aber dennoch sozusagen intern geblieben. Das galt auch für das von gespenstischem Schweigen begleitete und nicht wiederholte Auftauchen des Gestapobeamten und für den Schock des ersten Tages auf dem Johanneum. Aber was nun folg­ te, das war extern, das kam von außen. Und es kam Schlag auf Schlag. Ein Höhepunkt des Jahres auf der Gelehrtenschule des Johanneums war ein großes Sportfest, das in der Jahnkampfbahn des Stadtparks hinter dem Wasserturm ausgetragen wurde - in vielen Disziplinen und von der Sexta bis zur Oberprima. Obwohl physisch unter die Kleineren geraten und bei der Aufstellung in der Turnstunde - »In Riegen angetreten!« - entwe­ der der letzte oder vorletzte, machte ich beim Wettbewerb in den leichtathletischen Disziplinen keine schlechte Figur, jedenfalls eine bessere als der Bruder, der schwerer und stämmiger war. Ich konnte rennen wie ein Wiesel und springen wie ein Floh. Und so wurde ich denn auf dem großen Sportfest des Johanneums 1935, also im Jahr vor der Berliner Olympiade, im Hundert­ meterlauf mit einer Zeit von 13,5 Sekunden Klassenzweiter - und damit Anwärter auf die Silbermedaille. Nun bildeten die Auszeichnungen der Sieger natürlich den Hö­ hepunkt der Veranstaltung, die mit einigen Pausen von vormit­ tags bis in den Abend hinein währte. Und das in Anwesenheit Hunderter von Eltern, die auf den hölzernen Tribünen Platz ge­ nommen hatten und ihre eigenen Söhne und Freunde von dort lautstark anfeuerten. Dabei wurden oft Namen der Wettkämpfer gerufen, durch Mitschüler der eigenen oder anderer Klassen, die diesen oder jenen zu ihrem Favoriten erklärt hatten. Und das auch bei mir: »Ralle! Ralle!« dröhnte es von der Tri­ büne her, als ich dem Ziel entgegenkeuchte, nur Zentimeter hin­ ter dem Sieger. Dann die Ehrung, vor aller Augen und Ohren - doch ohne mich. Denn nach dem ersten Namen wurde nicht der meine auf­

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gerufen, sondern der des dritten Läufers, der eigentlich Bronze verdient gehabt hätte, nun aber Silber bekam, während der dritte Platz dem Schüler zugesprochen wurde, der das Ziel als vierter erreicht und dem nach den Regeln eigentlich gar keine Ehrung zustand. Ich war wie betäubt von dem wortlosen Betrug, aber offenbar fühlte sich eine Reihe von Zuschauerinnen, Zuschauern und Mit­ schülern ebenfalls getroffen, denn es erhob sich ein hörbares Ge­ murmel. Doch die Jury tat so, als hörte und sähe sie nichts. Nur Walter Jens kam auf mich zu und nahm mich coram publico in den Arm. Es war klar: Juden durften nicht mehr öffentlich ausgezeichnet werden. Wir Brüder hatten abgemacht, zu Hause nichts von der Äch­ tung zu vermelden. Aber meine Mutter sah sofort an unser beider Mienen, daß etwas Verstörendes geschehen war - worauf wir ge­ standen. Da drehte sie sich um - und weinte. Lautlos und geschüttelt, so weinte sie. Auch dieses Bild habe ich siebzig Jahre danach noch vor mei­ nem inneren Auge, als wäre es gestern gewesen. Der nächste Schlag ließ nicht lange auf sich warten. Immer noch hoch im Kurs standen die Fahrten in die Stadt. Entweder mit der Straßenbahnlinie 6 von der Fuhlsbüttlerstraße oder von der Anlegestelle Richardstraße mit dem Schiff durch den Eilbekkanal und den Kuhmühlenteich, vorbei an der Gertrudenkirche auf die schimmernde Außenalster, dann durch Lombardsbrücke und Binnenalster zum Jungfernstieg. Dabei ich wie eh und je mit dem Kopf in der Luke zum Maschinenraum, wo man in die brodelnde, wunderbare Hölle des Dampfantriebs mit seinen hämmernden Kolben und wuchtigen Pleueln schauen konnte. In den Steinschluchten Neuer Wall und Große Bleichen dann wieder weit die Augen auf; wieder das stirnrunzelnde Staunen vor der Lessingstatue auf dem Gänsemarkt - mehr von ihm, mehr über ihn erfahren! Und auch diesmal wieder die Hoffnung, daß die Schleusen an der Schleusenbrücke rechts vom Rathaus geöffnet würden und die gestauten Wasser der Kleinen Alster auf

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ihrem Weg zum Hafen und in die Nordcrclbe sich tosend und schäumend ins Alsterfleet ergießen würden. Wie immer scheue Blicke auf die ragenden Türme der Kirchen, auf Ihre Hoheiten St. Petri, St. Jakobi, St. Nikolai und, von ei­ ner bestimmten Stelle aus zu sehen, auch auf den »Michel«, Ham­ burgs kupferoxidiertes Wahrzeichen. Der einzige Unterschied zu früheren Zeiten bestand nun dar­ in, daß mein Bruder und ich nicht mehr an der Hand der Mutter hingen, sondern selbständig einherwandclten, allerdings immer beseelt von dem Gedanken, in ihrer Nähe zu bleiben - und natür­ lich auch in der von Großmutter Selma, die diesmal mitgekommen war. Schließlich, nach langer Route über die Mönckcbergstraße zum Hauptbahnhof und zurück, dann zur Rast in das Cafe un­ ter den Bögen der seltsam südländisch wirkenden Alsterarkaden: Kuchen, Eis, Zitronenwasser, Trinkschokolade - Höhepunkt der Fahrt in die Stadt. Nur sollte es diesmal dazu nicht kommen. Denn am Eingang zu den Alsterarkaden, vom Jungfernstieg her, kam uns aus Richtung Schleusenbrücke ein Mann entgegen, in vornehmer Kleidung, ein Hanseat wie aus dem Bilderbuch. Er blieb kurz vor uns stehen, musterte uns eindringlich und sagte dann, ohne die Stimme zu erheben, quasi in väterlich mahnen­ dem Ton: »Daß ihr Juden euch immer noch hierherwagt.« Als wir wie angewurzelt stehenblieben, fuhr der vornehm Ge­ kleidete, noch näher an uns herantretend, mit gedämpfter Schärfe fort: »So glimpflich wie diesmal werdet ihr nicht immer davon­ kommen« und schritt rechts an uns vorbei, ohne sich noch ein­ mal umzublicken. Wir schauten ihm wie gelähmt nach, bevor wir begriffen - wir waren soeben auf offener Straße von einem Fremden persönlich angegriffen worden. Wenn es überhaupt dafür gültige Merkmale gibt - weder mei­ ne Mutter noch meine Großmutter sahen besonders jüdisch aus. Allerdings hatten beide früh die Erfahrung gemacht, daß es Men­ schen gab, die eine »Nase« fürs Jüdische hatten, ohne sagen zu können, wieso. Sollte der akute Angriff also aufs Geratewohl gestartet wor­ den sein - was den Bedrohcr schon in der Sekunde danach sicher, HO

todsicher machen konnte, daß er ins Schwarze getroffen hat, war der Schrecken auf unseren Gesichtern, war unsere stumme, wider­ standslose Hinnahme der Drohung. Denn natürlich hätte jeder falsch Bezichtigte wütend reagiert, hätte stracks und in Notwehr sein »Ariertum« hervorgekehrt und den Angreifer zum Angegrif­ fenen gemacht. Aber solche Reaktion kam von unserer Seite nicht. Der Hanseat hatte ja die ganze schreckliche Wahrheit gesagt: Lilly Giordano und Selma Lehmkuhl waren Jüdinnen, mein Bru­ der und ich ihre Söhne und Enkel - was inzwischen eine ganz eigene Bedeutung, ein ganz anderes Gewicht bekommen hatte. Diese unheimliche Minute zwischen Jungfernstieg und Alsterar­ kaden schuf eine neue Etappe des Bewußtseins - und stanzte die beiden Sätze der Verbalattacke für ewig wortwörtlich in mein Hirn: »Daß ihr Juden euch immer noch hierherwagt« - und »So glimpflich wie diesmal werdet ihr nicht immer davonkommen«. Selbstverständlich fielen Kuchen, Eis, Zitronenwasser und Trinkschokolade diesmal aus. Wie wir nach Hause gekommen sind - ich weiß es nicht mehr, wohl aber, daß keiner von uns bis dahin auch nur ein einziges Wort gesprochen hatte. Was blieb, war eine Art Betäubung. Das Ereignis selbst wurde in der Familie nicht weiter erörtert, gleichsam, als gäbe es ein geheimes Gelübde der Beteiligten dar­ über. Sollte mein Vater deshalb nichts davon erfahren haben - beim nächsten Schlag war er dabei.

Es war ein Tag wie im Bilderbuch - Sommer, Sonne, blauer Him­ mel, ein Hamburg, das nie auch nur einen Regentropfen abbe­ kommen hatte. So wurde beschlossen, wieder an die Elbe zu fahren. Eine Stunde später saßen wir in der Vorortbahn, Eltern und drei Brüder - Rocco, der kleine Muck, war inzwischen fünf ge­ worden. Bahnhof Hochkamp ausgestiegen und die lange, villengesäum­ te Straße, zügig hinunter bis zur Elbchaussee. Dann weiter bis an die große Treppe und von dort, nach einer atemlosen Pause beim Anblick des majestätischen Stroms, hinab an den Strand. 111

Wie vertraut doch alles! Der unverwechselbare Seegeruch der Unterelbe, obwohl so weit landein; rechts die hellen Rücken von Schweinesand und Neßsand; drüben, im Alten Land, zart, pastellfarben, der Kirch­ turm von Neuendorf; hier, am Nordufer, auf der Geest, der Zau­ ber des Hirschparks, die Schluchten von Baurs Park, die sanfte Höhe des kastellgleich gekrönten Süllbergs und das verwinkelte Dockenhuden, hinter dessen Gardinen unweigerlich das geruh­ same Rentnerleben alter Seebären vermutet wurde. Wie immer, so absolvierten der ältere Bruder und ich auch diesmal gehend, laufend, rennend den vollen Radius unserer Neu­ gierde und Sehnsüchte - zwischen Falkenstein und Strandweg, Polterbcrg und Elbhöhe bis an die Stelle, wo der Elbuferweg an die Elbchaussee stößt. Zeit genug auch, von manch verträumtem Winkel mit Blick aufs Wasser darüber nachzugrübeln, wieviel Tonnage die elbauf und elbab dampfenden kleinen und großen »Pötte« wohl drauf­ hätten und von welchen Heimathäfen ihre Flaggen kündeten. Mit alien Sinnen in der Gegenwart, durchströmt von den uner­ schöpflichen Energien unserer jungen Körper, wortkarg, sogen wir wie trunken Bild um Bild, Farbtupfer um Farbtupfer, Ge­ räusch um Geräusch in uns ein. Um dann alles, was wir gesehen, gerochen, geschmeckt und angefaßt hatten, zu bündeln in jenes Synonym, das sich im Lauf der Jahre wie von selbst ergeben hat­ te, quasi die erste, gleichzeitig jedoch permanente und in zehn Buchstaben geronnene Zukunftsvision: Blankenese! Dort wollten wir hin, dort wollten wir leben - wenn wir »groß« sein würden. Von solchen Vorstellungen geschwellt, kamen wir an jenem herrlichen Sommertag zurück zu unserem Lagerplatz, umarmten die sichtlich aufatmende Mutter, setzten uns verschämt etwas ab­ seits der vom Vater mächtig aufgeworfenen Sandburg und rechne­ ten kennerisch aus, daß es wohl noch gute vier Stunden dauern würde, bis das protzige Werk, zeitgleich mit unserem Abschied, von der steigenden Flut erreicht und in sich zusammenfallen würde. Doch zerstört werden sollte es schon früher. Heute trat der ältere Herr am frühen Nachmittag aus dem gro­ ßen Haus an der Treppe. Stumm, gravitätisch, den riesigen Hund 112

an der Leine, so stieg er Stufe um Stufe herab, wendete sich unten dann nach links und schritt in unsere Richtung aus. Unmittelbar vor uns lockerte der große Herr die Leine um ein sichtbares Ende und sagte so laut, daß es jedermann ringsum ver­ nehmen konnte: »Ich gebe Jerusalem zehn Minuten Zeit zu ver­ schwinden, sonst...« Dann schritt er mit dem Hund so nah an unserer Sandburg vor­ bei, daß die Hälfte davon einstürzte. Es gibt Szenen, die momentaufnahmehaft in einem bleiben, gleichsam für immer erstarrt. Diese war so eine. Meine Mutter zusammengesunken, wie auf einen Streich ge­ fällt; mein Vater, in offenkundiger Verkennung der Machtverhält­ nisse drauf und dran, dem Zerstörer nachzueilen, woran ihn die Mutter wie von Sinnen hinderte, ehe sie mit verströmender Kraft planlos zu packen begann, mühsam die große Treppe erklomm, sich dann langsam zum Bahnhof Hochkamp schleppte und offen­ bar ihre Stimme verloren hatte. Aber keiner wagte sie anzuspre­ chen. Die ganze Zeit, bis in die Wohnung, hielt sie den kleinen Muck an der Hand. Wenn es denn eine Initialzündung dafür gibt, daß sich das, was ich meine Große Kraft genannt habe, für lange Zeit auf meine Mutter konzentrieren wird, dann muß es dieser Augenblick ge­ wesen sein. Doch an diesem denkwürdigen Tag trat noch mehr hervor. Daß nämlich Alfons Giordano gerade ein Beispiel seiner rea­ litätsgestörten Unfähigkeit, Situationen richtig einzuschätzen, abgelegt hatte und uns alle damit schwer gefährdete. Was ich damals noch nicht erkannt hatte, sondern erst begriff, als sich später diese Störung unter lebensbedrohenden Umständen wie­ derholte. Die Vertreibung von der Elbe hatte aber noch ein anderes Nachspiel - für Rocco. Obwohl der Fünfjährige das Geschehene natürlich noch nicht wirklich erfassen konnte - es mußte dennoch in ihm etwas aus­ gelöst haben. Denn in dieser Nacht, nach unserer Rückkehr von der Elbe, schrie Rocco gellend auf, als er erwachte und um ihn herum nichts als Dunkelheit war. Gefragt, warum er das getan hatte, stammelte er etwas von einem Riesen, der ihn bedrängt hätte, schlief dann aber wieder ein. ”3

Bei diesem ersten Schrei wird es nicht bleiben. Vielmehr wird Rocco Giordano den akustischen Ausbruch einer Urangst sein ganzes Leben lang nicht verlieren. Ich weiß nicht, wie oft wir, solange wir zusammenlebten, von diesen Schreien aufgeschreckt worden sind. U nd natürlich wußte ich damals auch nicht, auf wel­ che Weise und unter welchen Umständen die vegetative Reaktion meines jüngeren Bruder auf Dunkelheit um ihn herum für uns alle noch einmal lebensgefährlich werden wird. An die Elbe sind wir nicht mehr gefahren.

V. Inzwischen war die fünfhundert Quadratmeter große Parzelle am Uter des Bramfelder Sees gegenüber dem Ohlsdorfer Fried­ hof die eigentliche Domäne Selma Lehmkuhls geworden, der früchte- und gemüsestrotzende Schrebergarten in Steilshoop ihre wahre Heimstatt. Als wohnten ihren Händen wachstumsfördernde Kräfte inne, übertraf das Ergebnis ihrer Arbeit alles, was ringsum gepflanzt und geerntet wurde. Auch auf den Beeten des Nachbarn, Witwer, der durch ein kleines Tor in der Brombeerhecke hinter der festen, von Rudolph Lehmkuhl errichteten Laube zu erreichen war. Im Lauf der Zeit hatten sich zu dem untersetzten, etwa vierzigjähri­ gen, fehlerlos Platt sprechenden Mann angenehme, ja, vertraute Beziehungen hergestellt. Man grüßte einander freundlich, half sich gegenseitig aus, sei es mit Küchengeräten, sei es mit Dünger, und fand genügend Stoff, sich lang und breit über die Wonnen des Schrebergartenlebens auszulassen. Immer noch machte sich die Großmutter zu Fuß auf den wei­ ten Weg von der Hufnerstraße über die endlose Steilshooper Stra­ ße und den Bramfelder Redder bis hin zu dem gehegten Grund­ stück; immer noch kehrte sie im Sommer und im Herbst von dort hochbeladen zurück, und immer wieder bestimmte sie schrill und herrisch, was davon auf beide Familien verteilt werden sollte. Aber auch die Eltern und wir Brüder machten uns auf die ver­ wegene Tour, wobei Rocco auf dem Arm oder den Schultern des Vaters getragen wurde, eine enorme Leistung, zumal sie auf dem Rückweg wiederholt wurde. Wobei allerdings der ältere Bruder,

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stärker als ich, dem Vater die Last des kleinen Mucks oft bis zur eigenen Erschöpfung abnahm. Jedesmal auch wieder Ergötzen über das Schild mit schwarzer Schrift auf heller Fläche am Haupteingang zur Schrebergartenko­ lonie: »Ich sage dir, hier laß das sein, wer Dreck hinwirft, der ist ein ...« - dahinter dann das schwer überzeichnete Schwein. Und während Großmutter und Mutter, unter meist nicht ge­ rade friedlichen Dialogen, in und vor der Laube die Mahlzeiten vorbereiteten, schleppte ich Wasser aus der nahen Pumpe, stopfte mir, auch wenn sie noch unreif waren, Stachel-, Johannis- und Erdbeeren in den Mund, bewunderte die U-förmig gewachsenen Apfelbäume, fläzte mich zwischen Petersilie, Radieschen, Retti­ chen, Kartoffeln auf dem Boden und schaute in den Himmel (selt­ samerweise erinnere ich mich an keinen einzigen Regentag dort). Und während ich so dalag, auf dem Humus und seiner Krume, durchrieselte mich ein wohliges Gefühl tiefer Verbundenheit mit der Erde. Ich weiß nicht, wer mir das Gefühl für die Natur einge­ haucht hat, vielleicht ich mir selbst - jedenfalls muß es sehr früh geschehen sein. An Sonn- und Feiertagen, auch während des knappen Urlaubs, den die Hamburgischen Electricitäts-Werke ihrem verdienten La­ gerverwalter gewährten, war Rudolph Lehmkuhl mit von der Partie - der respektierte Großvater, der die wohnlichen und tech­ nischen Voraussetzungen für die grüne Idylle am See geschaffen hatte, ohne dafür von seiner Frau je ein Wort der Anerkennung oder des Dankes empfangen zu haben. Meist aber zog die Großmutter allein los - immer in Unrast, immer hektisch, immer ein wenig nach vorn gebeugt, als müsse sie mit ihrem schmalen Körper fortwährend Hindernisse beiseite räumen, und immer noch von den Spuren einstiger Schönheit ge­ zeichnet. Spontan, an keine Zeit gekettet, ungeordnet und ohne Abmel­ dung, waren es problematische Aufbrüche. Selma Lehmkuhl war nun sechzig, Jahresringe, die damals weit mehr wogen als heutige. Äußerlich von unglaublich zäher Statur, bot sie bei der Rückkehr, schwer beladen, wie sie war, einen dennoch geradezu erbarmungs­ würdigen Anblick. Doch wehe, wenn ihr das auch nur mit einer Silbe vorgehalten worden wäre. Alles vergebens - der Schrebergarten war ihre Freude und ihre

Aufgabe, war ihr Tag- und ihr Nachtgedanke, ja, so etwas wie die Erfüllung int Leben dieser ewig nörgelnden, unerträglich zänki­ schen und im Innern doch so grundguten Frau. Dann eines Tages, gegen Abend, sehe ich sie zurückkehren mit leeren Taschen und Beuteln, taumelnd, torkelnd und nicht ansprechbar, als ich versuchte, etwas über die Gründe ihres Zu­ stands herauszubekommen. Sie stieß mich einfach beiseite und verschwand unter wimmernden Kiagelauten im Haus uns gegen­ über, Hufnerstraßc i io, wo im ersten Stock die kleine Einzimmer­ wohnung mit Küche lag. Erst am nächsten Tag erfuhren wir von ihr, was geschehen war. Als Selma Lehmkuhl gestern die Parzelle erreicht hatte und die Pforte zum Schrebergarten aufschließen wollte, gelang ihr das nicht. Sie versuchte es wieder und wieder, aber jedesmal vergeb­ lich. Bis sie merkte, daß das alte Schloß ausgewechselt und durch ein neues ersetzt worden war. Dann erst erblickte sie auf der Laube, ihrer Laube, eine Fah­ ne - rot-wciß-schwarz und in der Mitte das Hakenkreuz. Gleich darauf entdeckte sie den Urheberder Veränderungen - den Nach­ barn von nebenan. Es war derselbe Mensch, der den Durchgang in die Brombecrhecke geschnitten hatte, um den Zutritt zum anderen Grundstück zu ermöglichen; derselbe, dessen Muttersprache das Hamburger Platt war und mit dem sich die Lehmkuhls und Giordanos in all den Jahren bestens verstanden, ja fast freundschaftlich verbunden gefühlt hatten. Nun stand er da, breitbeinig, die Arme fest über der Brust ver­ schränkt, mitten im Garten, grinsend, wie er zuvor noch nie ge­ grinst hatte, und als Hintergrund die wehende Fahne - kein Zwei­ fel, wer hier der Sieger war. Da war meine Großmutter geflohen, war die lange Strecke nach Barmbek hinuntergekeucht und oben ins Bett gefallen, ohne ihrem Mann mitzuteilen, was geschehen war. Ganz fahl, kam er noch am selben Abend herüber zu uns, die genausowenig wußten wie er. Als sie uns am nächsten Tag, auf dem abgewetzten Sofa in der Wohnstube hockend, berichtete, was geschehen war, stand sic immer noch unter Schock, legte aber das Zeugnis eines geradezu

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plastischen Erinnerungsvermögens ab - die Vertreibung aus ih­ rem Paradies in allen Einzelheiten. Danach Schweigen. Bis die Großmutter plötzlich auffuhr und, einem Schwur gleich, wiederholte, worauf es ihr vor allem anzukommen schien: keinen Widerstand leisten, keinen Widerspruch erheben; alles so belassen, wie es sei, nie wieder dahin zurückkehren und den Gar­ ten vergessen, einfach vergessen ... Und dann geschah es. Selma Lehmkuhl - meine Großmutter, von der ich nie ein auch nur einziges gutes Wort über meinen Großvater vernommen hatte, der jede Art von Zärtlichkeit fremd war und die eher Abscheu vor ihrem Ehemann zu empfinden schien -, sie warf sich plötzlich an Rudolph Lehmkuhls Brust, umklammerte ihn wie im Fieber und stammelte: »Vergessen, ver­ gessen, vergessen.« Und mein Großvater? Er strich ihr sacht über das schüttere Haar, wiegte seine Frau in den Armen wie ein Kind, wandte sich ab und schluchzte. Es gibt Augenblicke, da will einem das Herz weißbluten. Dies war so einer. Und es war die Sekunde, in der die Katastrophenerwartung, die wie eine Faust in unser Dasein eingeschlagen war, ihren Na­ men erhielt: Hiob! Die Botschaft war auf ein handtellergroßes Stück schmutzigen Pa­ piers geschmiert: »Judenschwaine raus aus Deutschland«. Den Zettel hatte meine Mutter im Briefkasten gefunden, uns aber nichts davon gesagt. Den zweiten - »Judenschwaine nemt euch In acht« - fand ich, hielt ihn jedoch, in Unkenntnis des ersten, ein paar Tage zurück. Doch dann, als das Verhalten meiner Mutter erkennen ließ, daß ihr etwas Schlimmes zugestoßen sein mußte, und sie mir mehr und mehr den Eindruck einer Somnambulen machte, zeigte ich ihr meinen Fund. Bisher nur am Vormittag Gegenstand kurzer Aufmerksam­ keit - gewöhnlich war die Post bis elf Uhr eingeworfen -, war der Briefkasten ganz plötzlich zu einem Rund-um-die-UhrFeind geworden. Es drückte mir den Atem ab, wenn ich beobach-

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tete, wie die Mutter heimlich zur Haustür ging, sie geräuschlos öffnete, einen Blick hinauswarf und sic dann wieder unhörbar schloß. Woher der oder die Täter kamen, war uns sofort klar - aus der vielköpfigen Familie über uns, Analphabeten, die sich ihrer Straflosigkeit so sicher waren, daß sie sich ohne Scheu selbst ver­ rieten. Denn vierzehn Tage nach dem zweiten Drohbrief war im Treppenhaus ein Papier geheftet, auf dem stand: »Schlösselbond gevunden. Abzuhohlen bei Scholz.« Die gleiche primitive Schrift wie auf den Zetteln, die gleiche Unfähigkeit, die Wörter richtig zu schreiben, die ganze sichtbare Unbehaustheit in der deutschen Sprache. Daraufhin tat meine Mutter etwas Erstaunliches. Sie riß das Papier im Parterre des Hauses von der Wand und ging damit und mit den beiden Drohungen auf die nächste Polizeistation in der Hellbrookstraße. Dort wußten die Herren nicht, ob sie lachen oder weinen soll­ ten, nachdem meine Mutter ihnen den Tatbestand unterbreitet hatte. Jedenfalls machten alle drei Schriften die Runde unter den Uniformierten, deren vielsagendes Kopfschütteln offenließ, ob es den Drohungen galt oder der Tollkühnheit einer Jüdin, die offen­ bar das Verfahren gegen eine »kinderreiche arische Familie« ein­ zuleiten gedachte. Das wurde mit ebendiesem Argument sogleich scharf abge­ lehnt. Wobei der Sprecher, hochgewachsen und im ganzen Di­ strikt als »radelnder Schutzmann« bekannt, es aber nicht beließ, sondern, die drei Zettel gegen das Licht haltend, meine Mutter mit den Worten: »Im übrigen erkenne ich keineswegs die von Ihnen behauptete graphologische Übereinstimmung« unmißver­ ständlich entließ. Ich bin nie dahintergekommen, was Lilly Giordano getrieben hat, dieses Wagnis zu unternehmen. Erzogen in Respekt und Ge­ horsam gegenüber Behörden und Ämtern, wie alle Seligmanns, erscheint es mir aus der Retrospektive wie ein letzter Versuch, sich aufzubäumen gegen ein vor noch gar nicht langer Zeit un­ denkbares Schicksal und seine Folgen. Im übrigen zog die kinderreiche Familie über uns unter dem kaum verhehlten Jubel der anderen Hausbewohner schon bald danach um, mit Sack und Pack, und mit Heinemann, der nach der 118

öffentlichen Aufkündigung seiner Freundschaft nie wieder ein Wort mit mir gewechselt hatte. Erst, als sie verschwunden waren, fand mein Vater den Zettel im Briefkasten. Darauf stand: »Ihr Juden werded ale getöded.« Wir waren sprachlos vor Entsetzen. Aber die Wahrheit ist auch, daß wir uns die Verwirklichung der Prophezeiung nicht vorstellen konnten, sondern in ihr den Ausdruck eines starken persönlichen Hasses sahen. Als acht Jahre später die Drohschreiben zusammen mit einem großen Teil Barmbeks in einer Bombennacht zu Asche verbrann­ ten, wußten wir es besser. Was sich da in kurzer Zeit und rascher Folge, Schlag auf Schlag und unabhängig voneinander, offenbarte - von der gestohlenen Siegerehrung im Stadion hinterm Wasserturm, dem Ende der Fahrten in die Stadt und der Vertreibung von der Elbe über den Verlust des Schrebergartens bis zu den antisemitischen Schmä­ hungen und Todesdrohungen -, war ein Gesinnungswechsel von epidemischer Expansion. Bisher brachliegende, schlummernde Energien sahen sich angesprochen und bestätigt. Hier war etwas freigesetzt, etwas angestochen worden, das in Deutschland lange schon latent in vielen Herzen und Hirnen genistet hatte und nun, staatlicherseits mobilisiert, sanktioniert und gefordert, lauthals und massenhaft hervorkroch - der Appell von oben traf auf seine Entsprechung von unten. Es war der Anfang eines Prozesses, in dessen Verlauf wir lern­ ten, nur noch von »den Deutschen« zu sprechen, Ausdruck einer Isolation, die zu wachsender innerer Trennung von unserer Umge­ bung führen wird. Daß damit auch eine schleichende Enthumani­ sierung der eigenen Person verbunden war, als Nebenprodukt der Dauerbedrohung, blieb mir damals und lange noch verborgen. Dann kam Post, für Lilly Giordano, im Oktober 1935, aber nicht anonym, sondern mit dem Absender Reichsmusikkammer Berlin. Der Inhalt informierte die Empfängerin knapp, daß sie als Jüdin nach den Nürnberger Gesetzen ihre Lizenz als Klavier­ pädagogin verliere und keinerlei Unterricht erteilen dürfe, weder praktischen noch theoretischen. Etwaige Einkünfte der letzten Monate seien zurückzuerstatten.

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Meine Mutter hat das Kuvert lange in ihren Händen gehalten. Gerade in der vergangenen Woche noch hatte bei uns jenes traditionelle Fest stattgefunden, das den Eltern vorführen sollte, was ihre Töchter übers Jahr dazugelernt hatten (nicht ohne daß auch diesmal wieder mein Vater sich gönnerhaft dazu herabgelas­ sen hatte, der unprofessionellen Versammlung die Ehre eigener Variationen Chopinscher Etüden zu erweisen, was zu spürbarer Überdehnung des Programms führte). Für mich waren die Schülerinnen immer schöner geworden. Besonders eine von ihnen wurde von mir so heftig favorisiert, daß ich ihren Namen bis heute behalten habe: Inge Koselnack, Inbegriff mädchenhafter Lieblichkeit, aber auch, wie die Mutter nicht müde wurde zu preisen, von starkem Talent. Damit war es nun von einem Tag auf den andern vorbei. Was immer es sic innerlich kostete - die Mutter hielt sich an das Ver­ bot. Also entfiel auch das Honorar, das zwar nicht üppig war, bei der notorischen Geldknappheit des Haushalts aber nötiger denn je. Ohne die großmütterlichen Zuschüsse wäre es noch karger zugegangen - ihr Schwiegersohn, der stellungslose Pianist, stem­ pelte im sechsten Jahr ... Und da geschah das Wunder. Wer die Kunde verbreitet hatte, blieb im dunkeln, aber meine Mutter griff sie sofort auf: Danach suchte die Hamburg- Amerikanische-Packetfahrt-Actiengesellschaft, kurz HAPAG, für einen ihrer großen Passagierdampfer auf der Route Hamburg-New York-Hamburg einen Pianisten. Das erste, was sie tat, war, ihren Mann gar nicht zu fragen, was er dazu sagte, sondern nach dem nächsten Telefon zu fahnden, es beim Milchmann Meier im Nebenhaus links auszumachen und von dort den Personalchef der berühmten Reederei anzurufen. Und das Unglaubliche geschah - sie wurde tatsächlich mit ihm verbunden und, nachdem sie ihr Anliegen vorgebracht hatte, aufgefordert, ihren Gatten so schnell wie möglich zum Sitz der HAPAG an der Binnenalster zu beordern. Erst dann informierte sie meinen Vater. Der brach keineswegs in einen Freudentaumel aus (was nach über siebzig Monaten Stempelei und Wohlfahrtsunterstützung nur natürlich gewesen wäre), sondern erklärte die Aufforderung,

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sich dort vorzustellen, mißmutig zu einem typischen Luftschloß seiner Frau, machte sich dann aber doch, wenn auch höchst unlu­ stig, auf den Weg. Nach einigen Stunden kehrte er zurück, mit muffiger Miene und der Nachricht, er könne zwar die Stellung bekommen, die auszufüllenden Formulare habe er bei sich, nur werde er die Be­ dingung nicht akzeptieren: Entwürdigenderweise sei er als Pianist für die Passagiere der dritten Klasse vorgesehen, obschon er, das einstige Wunderkind, selbstverständlich nur den Passagieren der ersten Klasse zur Verfügung stehen könne, höchstens vielleicht noch denen der zweiten. »Den Plebs animiere ich nicht.« Nun hätte man ihm, wenn man sich auf diese Mißachtung des Publikums eingelassen hätte, überzeugend begegnen können, daß er in all den Jahren als Stummfilmbegleiter oder auch Kaffeehaus­ pianist genau das getan habe. Aber es kam anders. Hatte ich meine Mutter, trotz all ihrer inneren Selbständigkeit, bisher eigentlich nur in der Rolle als dienende Hausfrau erlebt, erklärte sie jetzt in einem Ton, der neu war: »Du nimmst das an!« Und weiter: »Das ist keine Frage, die du entscheidest, sondern ob nach arisch, nichtarisch oder jüdisch versippt gefragt wird.« Die sofortige Prüfung ergab, daß in dem Bogen selbstverständ­ lich danach gefragt wurde, und zwar sowohl, was den Bewerber, als auch, was seine Familie betraf. »Damit hat sich die Sache erledigt«, war der Kommentar mei­ nes Vaters, und er sagte es auf eine Weise, als wären davon nicht er und die Seinen, sondern Wildfremde betroffen. Meine Mutter erwiderte gar nichts, sondern eilte abermals zum Telefon des Milchmanns, rief wieder bei der HAPAG an, wurde, unglaublich, sofort mit dem Personalchef verbunden und erklärte ohne Umschweife in die Muschel: »Ich bin Jüdin.« Darauf entstand am andern Ende eine Pause, ehe die Männer­ stimme - so nachher meine Mutter - antwortete: »Ich habe noch Albert Ballin gekannt, Mitbegründer der HAPAG und jüdischer Freund des Kaisers. Bis 1933 war eines unserer Schiffe nach ihm be­ nannt - heute die >HansaHansa< als Pia­ nist engagiert, zunächst für ein Jahr in der dritten Klasse, doch mit Aussicht auf die zweite, sollte der Vertrag verlängert wer­ den. Obwohl das die ersten guten Nachrichten seit langem waren, hellten sie die Stimmung des Vaters kaum auf. Bar jeder Eigenin­ itiative, machte er den Eindruck eines Menschen, der sich einen anderen Status quo als den gewohnten kaum noch vorstellen konnte. Denn untätig, so mag er sich selbst getäuscht haben, untä­ tig sei er ja nicht gewesen. Übte er nicht alltäglich, und zwar bis zu acht Stunden lang, um auf der Höhe zu sein, wenn seine große Stunde schlagen und er endlich in jenen Rang erhoben würde, die ihm widrige Kräfte seit seiner Jugend verweigerten? Obwohl die Transatlantikfahrt ganz gewiß nicht die Erfüllung seiner realitätsgestörten Vorstellungen war, kehrte er nach drei Wochen auf sonderbare Weise verändert zurück. Redete aufge­ kratzt von überwundener Seekrankheit, haushohen Brechern, pries New York und seine Wolkenkratzer, holte Berge von Zei­ tungen und Zeitschriften hervor, darunter die »New York Times« und, zu meinem Entzücken, etliche Exemplare des berühmten »National Geographie Magazin«. Dazu Zahnpasta, die so appe­ titanregend aussah, daß Rocco sie zu essen versuchte, große Fla­ schen von Waterman’s ink, einer herrlich dunklen Tinte, und die Kunde von dem großen Modetanz »Big apple«. Dann setzte er sich ans Klavier, spielte »Sweet Georgia Brown«, »Smoke gets in your eyes«, »Begin the beguine«, vor allem aber und immer wieder »Goody goody«, offenbar sein Lieblingssong, dessen Schluß er meist in mißtönendem Englisch zum besten gab: »Goody goody for me, goody goody for you - now I hope you are satisfied you rascal you.« Wobei er vom Klavierbock aufstand, als könnte der Rhythmus ihn dort nicht länger halten, und dazu einige Steppschritte mach­ te, die so unbeholfen waren, daß wir uns das Lachen verkneifen mußten. Aber Alfons Giordano war nicht wiederzuerkennen. Mit diesen Transatlantiküberquerungen des Vaters trat etwas Neues in unser Leben, eine innere und äußere Erweiterung des Blickfelds, ein Hauch, eine Ahnung von Freiheit, die einerseits

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aufatmen ließ, andererseits die eigene Drucksituation nur um so fühlbarer und bewußter machte. Da war ein Licht aufgegangen, waren weit im Westen die Feuer eines verheißungsvollen Leuchtturms angezündet worden, eine Utopie, eine Vision aufgetaucht, und das alles versehen mit einem Namen: Amerika! Wenn ich es allegorisch fassen soll: Glück hieß - dort zu sein. Natürlich führte das zur Idealisierung. Ich erinnere mich an eine deutsch-amerikanische Sportveran­ staltung in der Nähe des Bahnhofs Berliner Tor, in Begleitung meines älteren Bruders, mit US-Sprintern der Weltklasse im ioound 200-Meter-Lauf - Metcalfe hieß einer dieser Asse, der schnell­ ste. Ich versuchte, möglichst nahe an ihn heranzukommen, und als er an mir vorbeiraste (10,2), sog ich geradezu verzückt seinen Schweißgeruch ein. Was da in Wahrheit aus der Tiefe hochkam, war so etwas wie ein nur allzu verständlicher Urwunsch - die Sehnsucht nach ei­ nem druckfreien Dasein. Ich hatte damals vielleicht noch nicht das volle Bewußtsein dafür, aber alle Ingredienzien sammelten sich in diesem einen Wort: Amerika. Und es blieb ja auch keineswegs nur unerreichbare Utopie oder Vision, sondern war importierte Wirklichkeit, wenn auch in Form von Zelluloid. Wurden Hamburgs Kinos doch über­ schwemmt mit amerikanischen Filmen, von der SchauburgNord, der Flohkiste »Scala« und dem »Europa-Palast« über das »Odeon« und »Balke« bis hin zu den »Weltlichtspielen« an der Hamburger Straße. Ich kannte sie alle, die weiblichen und männ­ lichen Stars ihrer Zeit - Eleanore Powell und Robert Taylor, Loretta Young und Clark Gable, Spencer Tracy und Katherine Hepburn, Tyrone Power und Francis Dee. Wie auch alle Filme, die Western mit Tom Mix und Jack Hoxy, Titeln wie »Der Weiße Adler«, »Tomahawk und Büchse«, »Die Schlacht am Blauen Ber­ ge« oder »Die große Karawane« (was eigentlich »Treck« heißen sollte, ein Streifen, in dem ein Schauspieler namens John Wayne die Hauptrolle spielte). Ich hatte »Texas Rangers« gesehen, »San Francisco«, »Testpilot«, den Farbfilm »Ramona«, alle Filme mit Shirley Temple und, lieber noch, die mit dem kindlichen und doch schon irgendwie erwachsenen Freddy Bartholomew. Eine Aufzählung, die dauern und dauern könnte. 123

Meist aber hatte ich nur Augen und Sinn für die Frauen unter ihnen, was sich übrigens nicht nur auf amerikanische, sondern auch auf deutsche Schauspielerinnen bezog - Lilian Harvey, Re­ nate Müller, Marianne Hoppe, Lil Dagover, um nur einige zu nennen. Pein machte mir nach Ende des Films regelmäßig das plötzlich angehende Licht, da ich mit meinen Gefühlen und Gedanken an die Schönheiten doch zu gern unsichtbar und allein geblieben wäre. Ein so starkes Bedürfnis, daß es mich auf dem Weg zurück dahin trieb, wo es dunkel war. Zu Hause angekommen, husch­ te ich sogleich ins Bett, um mit niemandem mehr sprechen zu müssen. Und so kreisten denn alle meine Gedanken um das eine: Ame­ rika. Präpariert durch mein frühes Interesse an der Geschichte sei­ ner Ureinwohner, dehnte es sich jetzt auch auf andere Gebiete aus, bekam erwachsenere Formen und mündete schließlich in ei­ nem Berufswunsch, der wohl schon früher da war, aber das eben mit den vagen Bildern eines zarten und in seiner Vorstellungswelt naturgemäß begrenzten Lebensalters. Nach drei kindlichen Antworten auf die Frage, was ich denn einmal werden wolle - Lokomotivführer, Cowboy, Jockey -, setzte sich mit Amerika etwas Definitives in meinem Kopf fest, et­ was, das vegetativ aus mir heraussprudelte, eine Antwort, die ich mir zuerst selbst gab, ehe ich anderen sagte: »Journalist.« Das war nicht etwa begleitet von einem festen Begriff dieses Berufs, seiner Arbeitsweise und seinen unendlichen Variationen. Das Fertige, das Endgültige lag vielmehr in der Schlußfolgerung, die ich aus dem Begriff »Journalist« zog - zu schreiben. Das war es! Mag es schon davor in mir geschlummert haben - hervorge­ holt hatte es die Begegnung mit Amerika. Damals war ich bereits alt genug, um zu wissen: Hier in Deutschland würde es nicht gehen. Wahrscheinlich liegt der früheste Wunsch, das Land meiner Geburt zu verlassen, in dieser von Amerika dominierten Zeit. Da die Zusage, daß der Vater nach einem Jahr vor den Passagie­ ren der zweiten Klasse spielen dürfe, eingehalten worden war, 124

hatten sich die Einkommensverhältnisse so verbessert, daß ich zu Weihnachten 1937 eine elektrische Eisenbahn, Marke Märklin, ge­ schenkt bekam. Und doch lag über uns ein größerer Schatten als je zuvor. Nach jener Rassenarithmetik, die am 15. September 1935 von den sogenannten Nürnberger Gesetzen akribisch kodifiziert wor­ den war, galt unsere Familie - Vater arisch, Mutter jüdisch, Kin­ der jüdische Mischlinge ersten Grades - als privilegierte, die der kinderlosen Großeltern als nichtprivilegierte Mischehe. Das Schicksal meiner Mutter und ihrer Kinder, wie auch das meiner Großmutter Selma, hing von ihren Ehemännern ab. Ein einziges Wort an die Gestapo, und sie wären ihrer Frauen ledig gewesen. Aber auch eine tödliche Krankheit oder ein tödli­ ches Unglück des Vaters oder des Großvaters und ihre Frauen hätten schutzlos dagestanden. Es hat eine Zeit gedauert, bis ich diese verworrenen Zusam­ menhänge begriffen hatte. Wir älteren Brüder brachten den Vater am Tag der Abreise regel­ mäßig zum Pier, blieben dort, bis das Schiff verschwunden war, und fuhren dann zurück nach Barmbek. Keiner von uns wagte es je auszusprechen, was von nun an immer deutlicher wurde: Sollte dem Gatten und Vater etwas zu­ stoßen, käme er, aus welchen Gründen auch immer, aus Amerika nicht zurück, so wären Frau und Söhne verloren. Alfons Giordano war unser einziger Schutz.

VI. Im Frühjahr 1937 wurden wir auf dem Johanneum in die Oberter­ tia versetzt - der Bruder übrigens mit besserem Zeugnis als ich. Denn auch diesmal stand bei mir wie immer im Fach Mathematik die Note »Mangelhaft«. Das nahmen Lehrer und ich gottergeben hin, das war notorisch und nicht zu ändern. Aber cs war auch ein Ansporn, in keinem anderen Fach zu versagen, hätte das doch et­ was mit meinem Stolz Unvereinbares zur Folge gehabt - nämlich sitzenzubleiben. Ein herausragender Schüler, wie Primus Walter Jens oder mein

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anderer enger Freund Peter Tügel, war ich nicht, eher irgendwo einer in der Mitte. Wenn ich es genauer beleuchte - die Schule forderte meinen Ehrgeiz nicht heraus. Ich fand dort nicht, wo­ nach ich, etwas sternenwandlensch, suchte. Noch offener - keine meiner später sichtbar werdenden Begabungen wurden von ihr angesprochen. Dennoch ging ich gern aufs Johanneum, meist von Barmbek über den Wiesendamm zu Fuß, neben meinem Bruder, beide stets darauf bedacht, nicht im Gleichschritt miteinander zu marschie­ ren, nun aber, nach dem Engagement des Vaters auf der »Hansa«, auch öfter mit der Hochbahn. Nach Latein gleich ab Sexta und Englisch in der Quarta war voriges Jahr, in der Untertertia, Griechisch dazugekommen - »Palaistra« hieß das Lehrbuch. Ich war von vornherein gefangen von der Majestät dieser antiken Sprache, schlug mich wacker herum mit Aorist I, Aorist II und Optativ, kann bis heute zur Verblüf­ fung meiner Umgebung immer noch den Anfang von Homers »Odyssee« fehlerfrei zitieren und fand, Griechisch sei doppelt so schwer zu erlernen wie Latein, und das in voller Übereinstim­ mung mit den Mitschülern. Eigentlich war jeder froh, der bei Klassenarbeiten eine 3 erwischte. Nur einer bekam regelmäßig die Note 1, ein Phänomen, das bei allen anderen ratloses Staunen, ja, Neid auslöste - Günther Frey, Volljude. Eines Morgens erschien er mit seiner Mutter auf dem Flur vor der Klasse, wo beide stehenblieben und nach kurzem Gespräch mit dem Lehrer wieder davongingen. Bald danach wußte es die ganze Schule: Der Vater, Zahnarzt, hatte sich nach Berufsverbot das Leben genommen. Das war die erste Veränderung in der nichtarischen Fraktion. Die zweite: Ein Mitschüler, wegen seines gegelten Haars »Schmalztolle« genannt und deshalb oft gehänselt, war eines Ta­ ges ausgeblieben und einfach nicht wiedergekehrt - die hochbe­ güterte Familie war »ausgewandert«, genauer: vertrieben. Wobei das schadenfrohe Gerücht umging, der Vater habe den deutschen Behörden ein freches Schnippchen schlagen können: nämlich ge­ gen alle strengen Kontrollen ein mit Waren vollbeladenes Schiff nach London in Sicherheit gebracht. Zu antisemitischen Äußerungen oder Handlungen gegen die 126

Nichtarier kam es selten in der Klasse. In Erinnerung habe ich nur einen Vorfall. Da hatte ein Schüler namens Ruth einen ande­ ren, Fritz Wiegelmesser, laut einen »Judenlümmel« geschimpft. Ich stand der Szene ziemlich nah, ohne den Anlaß der Beschimp­ fung mitgekriegt zu haben. Darauf stürzte Fritz Wiegelmesser auf mich zu und umarmte mich laut weinend. Man kann aber nicht sagen, daß die Attacke exemplarisch war. Was nicht bedeutete, daß der Zeitgeist etwa spurlos an den Mit­ schülern vorbeigegangen war. Was hier waltete, war vielmehr häu­ fig zu beobachten: nämlich die Spaltung von Juden in »gute«, also einem persönlich bekannte, und in »schlechte«, das heißt nichtbe­ kannte Juden (also ihre anonyme Mehrheit). Ein charakteristisches Beispiel für solch innere Spaltung war der Klassenlehrer, den wir in der Obertertia bekamen - Dr. Rösch. Seinen Vornamen habe ich nicht behalten, dafür aber, daß er in organisatorischem wie auch ideologischem Sinn ein Nazi war, ein sogenannter »alter Kämpfer« sogar, also Mitglied der NSDAP schon vor 1933. Nur - wir Nichtarier seiner Klasse bekamen davon nichts zu spüren. Er behandelte uns wie alle anderen auch. Besonders an mir, den er stets »Ralle« nannte, schien er Gefallen zu finden, ohne aus seinen Sympathien ein Hehl zu machen. Daß er trotzdem, und auf geradezu klassische Weise, die oben zitierte Trennung in persönlich bekannte »gute« und persönlich nichtbekannte »schlechte Juden« verkörperte, zeigte sich auf ei­ nem Klassenausflug in die Lüneburger Heide. Nach langem Marsch auf dem Boden ausgestreckt, wurden Lieder angestimmt, im Chor oder Solo, darunter eines auch von Dr. Rösch - mit diesem Text: Zwei Juden saßen auf einer Bank, der eine roch, der andere stank. Da sagte der roch zu dem, der stank Ich setze mich gleich auf ’ne andere Bank.

Es folgten zwei Strophen ähnlichen Inhalts, die mir entfallen sind. Währenddessen befand ich mich die ganze Zeit in seiner unmit­ telbaren Nähe, so nahe, daß er mich freundlich anlächelte - mich,

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von dem er doch wußte, daß er eine jüdische Mutter hatte und damit unter die Rassengesetze seiner Regierung und seiner Par­ tei fiel. Wollte er mir nun einen Tort antun, einen individuellen Stich wegen meiner unreinen Abstammung versetzen, mich krän­ ken oder beleidigen? Nichts davon! Die Wahrheit, die unglaubli­ che Wahrheit war, daß er mich, den ihm bekannten, also »guten« Juden, überhaupt nicht mit cinschloß in die Schauerlichkeit des Textes, sowenig wie meinen Bruder und die anderen Nichtarier, denen gegenüber er nie Vorurteile gezeigt hat. Dabei schickte Dr. Rösch 1937 mehrere Mitschüler unserer Klasse zum Nürnberger Reichsparteitag, um sie nach deren Rück­ kehr temperamentvoll zu animieren, darüber des langen und brei­ ten zu berichten, nicht zuletzt, was die judenfeindlichen Töne anging. Die innere Spaltung war perfekt. Wer sollte das verstehen? Ich gebe zu Protokoll: Mein Klassenlehrer in der Obertertia, treuer Gefolgsmann seines »Führers« und bekennender Nazi, hat mich nie anders als freundlich und zuvorkommend behandelt. Nicht nur, daß sein betuliches »Ralle« mir noch angenehm im Ohr klingt - unter seiner Ägide wurde ich auch mit dem besten aller meiner Zeugnisse auf dem Johanneum in die Obersekunda versetzt (die Untersekunda fiel damals aus, um ein Jahr für den sogenannten »Arbeitsdienst« zu gewinnen). Zur gleichen Zeit mutierte Deutschland durch den »Anschluß« Österreichs zum »Großdeutschen Reich«, im März des Jahres, das alles verändern wird - 1938. Wie würde es weitergehen? Vor mir liegt ein Gruppenfoto des Lehrerkollegiums aus dieser Zeit, aufgenommen vor dem Portal der Gelehrtenschule des Johanneums. Darauf sind einunddreißig Herren zu sehen, der Schulleiter ein­ geschlossen. Fünf von ihnen sind uniformiert, einer in der schwar­ zen Garderobe der SS, vier im braunen Tuch der SA. Neunzehn Lehrer tragen die Plakette der NSDAP an der Brust, waren also Mitglieder der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpar­ tei, während sieben ohne Embleme der Hakenkreuzmacht in die Linse schauen. Es wäre aber falsch, die Haltung des einzelnen nach diesen In-

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signien zu beurteilen (wie schon das Beispiel von Dr. Rösch aus­ weist). Bei dem einem traf es zu, beim anderen nicht. Zu traf es beim Rechen- und Turnlehrer Langhans, SA-Mann unterer Charge und der einzige Nichtakademiker des Lehrer­ gremiums. Er brachte uns, ganz im Sinn des Regimes, das Schie­ ßen bei - mit Kleinkalibergewehren. Finanziert wurden die teu­ ren Waffen und die Munition durch die Schüler selbst: Bei jeder Übung hatten sie ein bestimmtes Entgelt zu entrichten. Da an dieser vormilitärischen Ausbildung viele Klassen beteiligt waren, handelte es sich nicht um große Summen. Langhans hatte mich, wie man in Hamburg sagt, »auf dem Kieker«, und zwar von An­ fang an - mit häßlichen Bemerkungen und Eintragungen ins Klas­ senbuch unter disziplinären Vorwänden. Auch Schulleiter Dr. Werner Puttfarken nutzte fast jede Begeg­ nung in der Anstalt oder auf dem Schulhof zu persönlichen verba­ len Angriffen auf meinen Bruder und mich, während ein älterer Geschichtsprofessor, Dr. Struck, seine Ressentiments eher heim­ lich, sozusagen hinterrücks, absonderte. Aber es gab auch andere. Ähnliche Erfahrungen wie mit Dr. Rösch machte ich mit dem Griechischlehrer in Untertertia und Obertertia, Dr. Storck, der einzige auf dem Foto in SS-Uniform. Auch von ihm kam nie ein böses Wort. Zwei ausgesprochen antifaschistische Begegnungen sind mir unvergeßlich - die mit dem großartigen, liebenswerten und er­ heblich sächselnden Deutschlehrer Dr. Vogel und mit dem Ge­ schichtslehrer Dr. Klein, einem der unerschrockensten und zu­ gleich geschicktesten Nazigegner, die mir damals begegnet sind. Es bleibt ein Mirakel, daß ihn nicht das gleiche Schicksal traf wie Dr. Ernst Fritz. So sind meine Gefühle bei der Betrachtung dieses alten Fotos denn durchaus zwiespältig, verdunkeln sich aber auch nach so lan­ ger Zeit noch, sobald sich mein Blick in dieser Runde auf eine Per­ son konzentriert: SA-Führer mit Koppel, Hakenkreuzarmbinde und Schulterriemen, lange vor 1933 schon Mitglied dieser Schlä­ gertruppe und der NSDAP, schmißgezeichnet und wegen seines rötlichen Nackenwulstes nur »Speckrolle« genannt - unser neuer Klassenlehrer: Dr. Werner Fuß.

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März 1938, Versetzung in die Obersekunda. Das Unglück schlich sich nicht an, es setzte sofort ein, von der ersten Stunde, dem ersten Blick, ohne Verzögerung - eine laut­ lose Feindschaft. Die Speckrolle lehrte in Latein und Griechisch, und in beiden Fächern wurde ich von ihr vollständig ignoriert, war ich für sie einfach nicht anwesend. Meinen Bruder dagegen, mit dem ich die vordere Bank teilte, behandelte sie wie alle anderen. Nach einer Rückübersetzung aus Homers »Odyssee« vom Deutschen ins Griechische, einem sogenannten Extemporale, warf die Speckvolle mir das Heft zu und sagte: »Abgeschrieben!« Tatsächlich hatten mein Bruder und ich über ein Alpha das Hauchzeichen Asper statt des hauchlosen Lenis gesetzt - wie mehrere weit auseinandersitzende Schüler auch. Selbst mit Adler­ augen hätte ich nicht abschreiben können - die Bank war viel zu lang dafür. »Du hast doch nicht abgeschrieben«, hämmerte es in mir, »das stimmt nicht.« Doch je öfter meine innere Stimme diesen Satz wiederholte, desto deutlicher begann ein Gefühl in mir zu wach­ sen und mich zu lähmen: Wehrlosigkeit. Bei der nächsten Klassenarbeit in Latein - Ovid - holte die Speckrolle mich mit einer Handbewegung nach vorn, machte um­ ständlich das Katheder frei und hieß mich, wieder mit einer Hand­ bewegung, Platz zu nehmen. Worauf ich da vorn zweierlei versuchte: die Arbeit zu schrei­ ben und nicht ohnmächtig zu werden. Ich weiß bis heute nicht, wie mir beides gelang. Dann bekam ich für gute Arbeiten in beiden Altsprachen no­ torisch schlechte Noten. Bei Vergleichen mit anderen Schülern zeigte sich, daß ihre Fehler einzeln gesetzt waren, während bei mir halbe zu ganzen und ganze zu schweren Fehlern aufaddiert waren, nach einem verschachtelten System, dem nicht ohne weite­ res böse Absicht nachzuweisen war. Nur war ich der einzige, der nach diesem System zensiert wurde. Die Erkenntnis blockierte mein Denken. Es begann mir schwerzufallen, dem Unterricht zu folgen. Die Speckrolle war da­ bei, mich zu ihrer Kreatur zu machen. Hier stieß ich aut eine Übermacht, die mir blankes Entsetzen einflößte, weil ich keinen Ausweg sah, keine Möglichkeit zu ent­ 130

kommen. Die Speckrolle begann mein Denken zu beherrschen, ihr Anblick machte mich krank - ich fing an mich vor ihr zu fürchten. Dazu kam, daß sie bei Klassenarbeiten auch ohne äußeren An­ laß ihre braune SA-Uniform anzog, dann, wie in Gedanken ver­ tieft, langsam näherkam und schließlich neben mir stehenblieb. Daraufhin versagte mir die Schreibhand, der Atem ging schwer, und ich wartete nur auf eines - daß die Stunde abgeläutet wurde. Das Johanneum hatte sich für mich binnen kurzem in einen Schreckensort verwandelt, den ich wie in Trance, wie mit dem Kopf nach unten aufsuchte. Irgendwann riß der innere Faden, überwältigte mich die Furcht vor solchem Dasein und seiner täglichen Konfrontation, irgend­ wann in diesem Sommer des Jahres 1938 war sie da, so groß, so mächtig, daß sie mich vollständig überflutete - die Sehnsucht nach dem Tod, der Wunsch zu sterben. Der Grad der Verzweiflung formte einen anderen Menschen aus mir. Wurde da doch etwas narkotisiert, was sonst die höchste Priorität in meinem Leben hatte: die Bindung an die Angehöri­ gen, die Sorge um sie, die Liebe zu ihnen. Tatsächlich war der Gedanke, was ich der Mutter, dem Vater, den Brüdern mit der Tat antun würde, aus meinem Bewußtsein entfernt worden - es gab ihn nicht, er war nicht da. Hier hatte sich ein Teil des Egos selbständig gemacht und sich von seinem Kern getrennt - aus unserem gemeinsamen Schicksal zu flüchten. Ich schicke einmal voraus, daß sich solche Schizophrenie in mei­ nem Leben niemals wiederholt hat, ja, in späteren, noch furcht­ bareren Situationen nicht einmal gedacht wurde. Jetzt aber hatte ich nur einen Gedanken: Erlösung! Und be­ gann, nach einem Ort zu suchen, der so versteckt war, daß nur der Verwesungsgeruch eines Toten ihn verraten könnte. Also fahndete ich nach einsamen Plätzen in einer Millionenstadt. Ich war derart besessen von der Idee, daß ich, wohin auch im­ mer ich kam, alles auf diese Möglichkeit hin prüfte (und mich noch heute dabei entdecke). Schließlich konzentrierte sich die Suche immer bewußter, immer gezielter auf ein Areal - den Stadt­ park. Seine Topographie kannte ich in- und auswendig, dort wür­ de ich etwas finden, wo mich niemand entdecken würde - wenn es soweit wäre.

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Es bedurfte nur noch eines äußeren Anlasses. Ohne Angabe von Gründen hatte mich die Speckrolle von der Bank vorn neben meinem Bruder nach hinten gesetzt, auf die letzte Bank, während die davor von zwei Schülern geräumt wurde. So saß ich an der Wand, isoliert und ausgesondert. Bei der nächsten Klassenarbeit in Latein holte mich die Speck­ rolle wieder nach vorn, ans Katheder, um dort, für alle sichtbar, jeder Möglichkeit beraubt zu sein, abzuschreiben oder sonst ir­ gendeinen Betrug zu begehen. Ich sehe mich noch da hinter dem Pult, sehe noch, wie mein Bruder mich ansah, stumm und hilflos. Diese Arbeit schrieb ich tatsächlich schlecht. Bei der Rückgabe der Hefte - »Ungenügend« - befahl die Speckrolle mich nach vorn und jeden Satz einzeln zu zerlegen. Da stand ich dann vor der Klasse und kriegte kein Wort her­ aus. Die Speckrolle lehnte am Fenster und wartete. Ich war wie auf den Mund geschlagen, stotterte vor mich hin, wand mich innerlich in der Furcht, sie könne, wie sonst, langsam auf mich zukommen und dort, sehr in der Nähe, verweilen. Und ich fürch­ tete es, obwohl sie keine Uniform angelegt hatte. Als es dann geschah, als die Speckrolle sich tatsächlich vom Fenster löste und langsam näher kam, fiel mir das Heft aus der Hand und ich zu Boden. Mein Bruder hat die Szene einmal so be­ schrieben: »Du schriest da unten irgend etwas Unverständliches, schlugst um dich, als ich dich aufheben wollte, denn du erkann­ test mich nicht. Dann sprangst du plötzlich auf und liefst weg.« Ja, ich lief weg, so, wie ich war, ohne Mantel, Ende Oktober. Lief in den Stadtpark und verbarg mich in der Nähe des Wasser­ turms. Ich wartete die Dunkelheit ab und eilte dann zu der Stelle, die ich seit langem auserkoren hatte - die große Reitbahn. Dort warf ich mich in einen der tiefen Sprunggräben, sicher, daß der geräumige Platz um diese Jahreszeit unbenutzt blieb und ich bis zum nächsten Frühjahr unentdeckt. Meine Vorstellung vom Sterben war, vor Hunger, Durst und Kälte rasch die Besinnung zu verlieren und nicht wieder aufzu­ wachen. Aber so gnädig ging es nicht vonstatten.

Denn ich wurde da auf dem Boden des Grabens nicht bewußt­ los, trotz Hunger, Durst und Kälte. Peinvoller als alles andere aber verspürte ich eine Erschöpfung, die vom Kopf her kam. In ei­ ner Art Delirium fragte ich mich, ob ich das vielleicht nicht alles träumte, es gar nicht wirklich erlebte, hier im Stadtpark, wo der Stamm und seine Krieger die wilden Äpfel von den Bäumen geris­ sen und mit Grassoden nach den Wärtern geworfen hatten. Ich muß trotz allem auch geschlafen haben, denn ich erinnere mich an Träume, in denen sowohl die Speckrolle als auch meine Mutter auftauchten. Ich habe mich weder nachts noch am Tage über den Grabenrand erhoben, kein einziges Mal, sondern blieb die ganze Zeit auf dem kalten Grund zusammengekauert liegen. Und dann war sie plötzlich da, eine der entscheidenden Stun­ den meines Lebens. Denn in dieser Grube, ohne Nahrung, ohne Wasser, starr vor Kälte und kaum noch von Ähnlichkeit mit ei­ nem menschlichen Wesen, stand etwas in mir auf, klar und durch alle Erschöpfung hindurch: daß ich zu Unrecht gequält werde und daß das geschah, weil ich eine jüdische Mutter hatte! Es war ein ungeheurer Augenblick, ein Moment, in dem schlagar­ tig wiederhergestellt wurde, was aus der Sicht geraten war und mich quasi zu einer Exklave meiner selbst gemacht hatte: die Bindung an die Meinen. Es war wie ein Aufschrei, der mich auf die Beine brachte, eine Minute von zentraler Bedeutung. Fiel doch mit einem Schlag von mir ab, was Verfolgten von Verfolgern ganz selbstver­ ständlich suggeriert wird, nämlich daß sie ganz zu Recht verfolgt würden und sich deshalb in Selbstanklagen zu ergehen hätten. Nein! Krank vor Hunger, mit durstgeschwollener Zunge, klappernd vor Kälte wie ein Knochengerüst, hatte in diesem Graben der Reitbahn im Hamburger Stadtpark für mich eine Sternstunde ge­ schlagen: der innere Sieg über die Speckrolle und über das, was sic symbolisierte. Ich riß mich hoch und wunderte mich, daß ich stehen konnte. Es dauerte, bis ich aus der Grube gekrochen war, und weil ich immer wieder hinfiel und zusammenbrach, dauerte cs auch, bis ich den Weg aus dem Stadtpark über die Hellbrookstraße bis zur Hufnerstr-aße gefunden hatte. Meine Mutter brach zusammen, als sic mich vor der Haustür fand. 133

Ich habe von ihr nie auch nur die Andeutung eines Vorwurfs gehört, obwohl ich das immer gefürchtet habe, bis zu ihrem Tod. Mir selbst aber habe ich meine »Flucht« nie verziehen und werde es auch nicht, bis ans Ende meiner Tage. In der Schule erfuhren sie nichts - ich hatte krankheitshalber ein paar Tage gefehlt. Mitschüler bestätigten, ich sähe elend aus. Das konnte nicht bestritten werden.

VII. Akustisch habe ich keinerlei Erinnerung an die Nacht vom 9. auf den 10. November 1938. Der Hamburger Norden, wo wir wohn­ ten, blieb unbehelligt - in unserer unmittelbaren Umgebung gab es weder Synagogen noch jüdische Geschäfte. Am nächsten Morgen fand ich im Johanneum eine Atmo­ sphäre vor, in der die Dinge nicht beim Namen genannt, sondern gedämpft umschrieben wurden, etwa: »daß Scheiben geklirrt ha­ ben«. Gerüchte, dumpfe. Die Stimmung in der Klasse war sonder­ bar, mit unterschiedlichen Reaktionen. Ich erinnere mich an Scha­ denfreude - »Endlich wird’s denen mal gegeben« -, aber auch an Sätze, die von Trauer und Wut zeugten: Die Innenstadt, »von Bar­ baren verwüstet«, sei nicht wiederzuerkennen, und cs sei »mehr als Glas zerbrochen worden«. Wer das Ziel, wer die Opfer waren, das war so selbstverständ­ lich, daß sie nicht genannt wurden: Juden. Ich war aufs höchste alarmiert. Und so machte ich mich denn sofort nach Unterrichtsschluß von Winterhude auf in die Stadt, zu Fuß, um das Fahrgeld zu sparen, innerlich gespalten von der Pflicht, es gesehen haben zu müssen, und dem Wunsch wegzulaufen. In der Innenstadt dann stieß ich mit einem Gefühl, wie unter ei­ ner Tarnkappe zu wandeln, auf Folgen von Gewalt und Haß, wie ich sie noch nie gesehen hatte. Trat auf dem Jungfernstieg und der Poststraße über Myriaden von Glasscherben und sah auf den Spiegeln des Bleichenfleets und des Alsterfleets zerschmetterte Schaufensterpuppen und verdreckte Stoffe treiben. Hier und an­ derswo mußte sich Grauenhaftes zugetragen haben, und obwohl kein Laut in der Luft lag, die Stimmung der Passanten eher ge­ 134

drückt und die Täterschaft der Nacht wie entflohen war, brannte sich mir angesichts der Verwüstungen jäh eine Erkenntnis so tief ins Hirn ein, daß ich sie wie einen physischen Schlag empfand: »Wer das getan hat, der ist zu allem fähig!« Ohne damals natürlich schon eine Vorstellung über das wahre lokale und nationale Ausmaß des Pogroms haben zu können - an jenem Nachmittag des io. November 1938, hier im Herzen mei­ ner verwüsteten Vaterstadt, war mir klargeworden: Mit dieser Nacht ist ein neues Zeitalter angebrochen, auch für das persönli­ che, das künftige Verfolgtenschicksal der eigenen Familie. Wir würden nicht davon verschont bleiben.

Erst langsam ließ sich das Puzzle des Grauens zusammensetzen. Dies war der Nacht vorausgegangen. Am 7. November 1938 hatte der siebzehnjährige Herschel Grynszpan die deutsche Botschaft in der Pariser rue de Lille 78 betreten und den der NSDAP angehörenden Legationssekretär Ernst Eduard vom Rath erschossen. Die Familie des Attentäters zählte zu den etwa 12 500 Juden, die am 27. und 28. Oktober 1938 in deutsche Abschiebehaft genommen und in der Absicht, sie loszuwerden, in der Nacht des 29. Oktober an die deutsch­ polnische Grenze befördert worden waren. Polen aber weigerte sich, sie aufzunehmen, so daß sie unter katastrophalen Bedingun­ gen dahinvegetierten. Herschel Grynszpans Opfer war zufällig - er schoß auf den ersten, der ihm begegnete, als Repräsentanten des Staates, der sei­ ner Familie das Leid zufügte. Es hätte auch einen anderen treffen können. Vom Rath stirbt am Nachmittag des 9. November 1938. Hitler erfährt davon um 21 Uhr, auf der alljährlichen Feier mit den »alten Kämpfern« in München, der Hauptstadt der Be­ wegung. Eine Stunde später hält Goebbels eine Rede, die nach Rache und Vergeltung schreit. Sie ist es, die jene Lawine der Ge­ walt auslöst, die in der Formel von der Reichskristallnacht eine bösartige Verniedlichung erfahren wird. Die Kräfteverhältnisse sind so ungleich, wie sie nur sein kön­ nen - eine-ungeheure Übermacht wirft sich auf Wehrlose. In dieser Nacht wurden überall im Deutschen Reich Juden ge­ schlagen, getreten, beraubt, aus Fenstern geworfen, Treppen hin­

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untergestürzt, mindestens cinundneunzig von ihnen erschossen, erstochen oder mit Knüppeln erschlagen, Hunderte von Synago­ gen und jüdische Wohnhäuser angezündet und zahlreiche jüdi­ sche Friedhöfe geschändet. Hier fand etwas bis dahin Beispielloses statt. Während sonst das Staatsverbrechen in den Schreckenskam­ mern der Gestapo oder hinter den Zäunen der Konzentrations­ lager gewütet hatte, tobte sich die Mordlust diesmal unter freiem Himmel aus. Von nun an konnte niemand mehr sagen, er habe »von nichts gewußt«. Zu laut hatten die cingeworfenen Schreiben geklirrt, zu heftig die Feuer getost, zu durchdringend die Schreie der Mißhandelten und Getöteten in der Nachbarschaft gegellt. Die Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 zwang vielmehr alle Deutschen in die Mitwisserschaft des rassistischen Großver­ brechens. Die Machthaber wollten die Schamschwelle der Nation prüfen, und das war ihnen wichtiger als die sichere Gewißheit, mit der Reichspogromnacht dieses Deutschland endgültig außer­ halb der gesitteten Menschheit gestellt zu haben. Der Volkszorn, wie Goebbels es der Welt weismachen woll­ te, hatte den Pogrom nicht ausgelöst. Die Gewalttat war von der Reichsspitze befohlen worden - von Hitler und Goebbels. In Brandstiftung, Raub und Mord, in das organisierte Verbrechen, waren alle Gliederungen von Partei, SA und der SS verwickelt. Aber mit dieser historisch zweifellos zutreffenden Feststellung wäre die Situation von damals nur höchst unzureichend charak­ terisiert. Denn die Pogromnacht ereignete sich in einem Deutsch­ land, dessen überwältigende Bevölkerungsmehrheit längst für den Nationalsozialismus gewonnen war, ja, ihm begeistert und inbrünstig anhing. Richtig, es gab Bekundungen der Abscheu und der Trauer, der Wut und der Auflehnung, ich selbst bin mehr als einmal Zeuge solcher humanen Haltung geworden, eines natürlichen Mitleids mit den Geschundenen, bis hin zu Tränen der Fassungslosig­ keit. Dazu gesellte sich eine zweite, ebenfalls Ablehnung signali­ sierende Gruppe, deren Motive allerdings schwerer auszuloten waren als die der eben zitierten. Walteten auch bei ihnen Anteil­ nahme, Aufgewühltheit, selbstverständliche Mitmenschlichkeit? Oder war das verbreitete Unbehagen eher zurückzuführen auf

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die unfreiwillige Mitwisserschaft über den nunmehr auch öf­ fentlich schamlos hervorgetretenen kriminellen Charakter der Reichsführung? Regte sich da eine intakt gebliebene Humanitas, oder lag die Ursache der Verstörung eher in der Furcht vor dem mit Sicherheit zu erwartenden schweren Ansehensverlust im Ausland? Aber es gab auch massenhaft Beispiele privater Teilnahme an der organisierten Aktion, zahllose Exempel persönlicher Genug­ tuung über das Verbrechen, demonstrative Zustimmung und ab­ solute Mitleidlosigkeit mit den Gejagten und Gedemütigtcn, bis hin zu offen bekannter und praktizierter Tötungsbereitschaft. Und all das begleitet von ganzen Heerscharen hetzender Gaffer und perverser Voyeure beiderlei Geschlechts. Doch wie auch immer die Gewichte innerhalb der drei Reak­ tionsgruppen mit mancher Grauzone verteilt gewesen sein mö­ gen - es lassen sich keine Anhaltspunkte dafür finden, daß die Pogromnacht auch nur eine graduelle, geschweige denn eine prin­ zipielle Minderung der Popularität Hitlers und seiner Sache un­ ter den Deutschen nach sich gezogen hätte. Hier hatte eine Generalprobe stattgefunden: Wann immer es der Mörder bedurfte - sie waren zur Stelle. Die Liste der Verbote für Juden war endlos, und obwohl mei­ ne Mutter sie versteckt hielt, habe ich sie öfter hervorgeholt und darin geblättert. Juden wurden Kraftfahrzeuge und Führerscheine entzogen sowie Fernsprechanschlüsse gekündigt, sie durften keine Fahr­ räder, Schreib- und Rechenmaschinen haben und nach zwanzig Uhr nicht mehr auf die Straße treten. In Häusern, wo mehrere jüdische Familien wohnten, galt nach dieser Zeit auch gegenseiti­ ges Besuchsverbot. Es gab Bänke mit Schildern Für Juden verbo­ ten, ebenso Hotels, Restaurants, Cafes mit dieser Beschriftung, manchmal auch variiert zu Juden und Hunden Zutritt verboten. Verboten war auch der Besuch von Theatern, Museen oder Leihbibliotheken und die gelbe Armbinde für Blinde - weil das Mitleidsgefühle wecken könnte und damit die Gefahr arischer Hilfeleistung. Schließlich fand ich eine Verfügung des Reichs­ wirtschaftsministeriums, daß Juden Nähmaterial nur noch bis zu einem Höchstwert von 20 Reichspfennig vierteljährig beziehen

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könnten. Mieterschutz entfiel und die Fortzahlung des Gehalts im Krankheitsfall auch. Manches davon traf auf uns nicht zu, es waren keine Konten zu enteignen oder sonstiger Besitz zu stehlen - bei uns war nichts zu holen. Meine Mutter hatte Berufsverbot und in ihrem Ausweis den Zwangsvornamen Sara eingestempelt bekommen. Was sie direkt traf, war, daß sie nicht mehr ins Kino gehen durfte, wodurch sie auf eine seltsame, von ihr oft erörterte Idee kam - auf die Erfindung des Kinos in der Stube, wie sie es nannte, auf die Leinwand in der eigenen Wohnung, um Filme in den eige­ nen vier Wänden abzuspulen. Eine gespenstische Vision, sozusa­ gen die Vorwegnahme des Fernsehens, dessen Zeitalter sie dann noch erleben sollte. Ich bin später oft gefragt worden: »Warum habt ihr Deutschland nicht verlassen? Warum seid ihr geblieben?« Ich habe darauf immer die gleiche Antwort gegeben: »Weil wir nicht wollten und weil wir nicht gekonnt hätten, wenn wir ge­ wollt hätten.« Wir wollten nicht, weil dies unsere Heimat war - wir hatten keine andere. Und wir hätten, selbst wenn wir gewollt hätten, nicht gekonnt, weil dieses Deutschland uns nicht hätte gehen las­ sen. Was sich heutige Generationen offenbar nicht vorstellen kön­ nen: Es gab keinen freien Reiseverkehr, man konnte das Land nur mit Paß verlassen, und wir hätten keinen bekommen. Wenn wir gewußt hätten, was kommen würde, hätte es sicher solche Anstrengungen gegeben. Aber genützt hätten sie nichts. Wir saßen in der Falle. Einmal, zum Jahreswechsel 1938/39, wurde in der Familie dar­ über geraunt, daß jüdische Kinder nach Großbritannien auswan­ dern könnten, ihre Eltern aber in Deutschland bleiben müßten. Das habe ich dem Sinn nach in Erinnerung (eine Aktion, die dann auch tatsächlich stattfand. Mit dem Ergebnis, daß die Kinder ge­ rettet und die Eltern später ermordet wurden). Aber auch diese Maßnahme galt nur für volljiidische Familien, nicht für Mischehen, und gar solche mit Kindern. Doch selbst wenn sie auf diese ausgedehnt worden wäre: Wir

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uns von den Eltern, die Eltern sich von uns trennen? Einen absur­ deren Gedanken als diesen konnte es nicht geben. Unserer wachsenden Gefährdung aber waren wir uns immer bewußter geworden - auch, wer von uns die Gefährdetste war. Es war mein älterer Bruder Egon, der noch im November 1938 jene Frage stellte, die von da an im Mittelpunkt meiner Über­ legungen stand und nie wiederholt zu werden brauchte: »Was soll mit Mutter werden?« 039War schon das Münchener Abkommen vom 29. September 1938 mit dem Einmarsch der Wehrmacht ins Sudetenland, Anfang vom Ende der tschechoslowakischen Republik, mit geschärftem Sinn für die Verknüpfung von Historie und familiärem Schicksal wahrgenommen worden, so galt das für die Einverleibung des Memellandes und die Zerschlagung der »Rest-Tschechoslowa­ kei« im März 1939 in noch weit höherem Maß. Was würde die nächste Aggression sein und mit welchen Fol­ gen? Plötzlich war das Bewußtsein für eine gefährliche Eskalation da. Persönliche Dinge bekamen eine andere Sicht, da war eine Me­ tamorphose von Prioritäten im Gang. Daß ich, im Gegensatz zu meinem Bruder Egon, Ostern 1939 »das Klassenziel nicht erreichte«, also die Versetzung von der Obersekunda in die Unterprima nicht schaffte, traf mich bei wei­ tem nicht so stark, wie ich erwartet und befürchtet hatte (neben dem notorischen »Ungenügend« in Mathematik standen die No­ ten 5 und 6 auch hinter Latein und Griechisch, den Fächern der Speckrolle). Eher hatte eine gewisse Gleichgültigkeit gegenüber schulischen Belangen Besitz von mir ergriffen. Und die sollte nach den Ereignissen der nächsten Monate eher noch gefördert werden Der Freundeskreis hatte allen bisherigen Belastungen stand­ gehalten. Besonders vertieft hatte sich die Beziehung zwischen Fiete und mir, hatte sich in einen geistigen Austausch gewandelt, in dem er, der Volksschüler, sich autodidaktisch in Musik, Kunst, Geschichte vertiefte und mich, den »Studierten«, mit Fragen zu löchern pflegte, die ich oft genug nicht beantworten konn­ te. Aber hier wuchs etwas über das Übliche hinaus - gar nicht

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abzuschätzen in seiner Wichtigkeit, da die Zeit im Zeichen von Freundschafts- und Liebesverlust stand. Politische Zurückhaltung innerhalb dieses Kreises wurde nicht geübt, am wenigsten von mir, und einschlägige Ansichten über die Herrschaft auch dann brüsk geäußert, wenn es dabei manch­ mal Zwist gab. Zum Beispiel, als es darum ging, wer den Box­ kampf um die Schwergewichtsweltmeisterschaft zwischen Max Schmcling und Joe Louis im New Yorker Yankeestadium 1938 gewinnen sollte, nachdem Schmeling den Amerikaner zwei Jah­ re zuvor k. o. geschlagen hatte. Wobei Freund Günter aus dem Nebenhaus, Spielgefährte von Kindheit an (der immer grün um die Nase wurde, wenn er sich ärgerte), glühend den Deutschen favorisierte, während ich nicht weniger leidenschaftlich Joe Louis als Sieger sehen wollte (was er dann ja auch schon in der ersten Runde wurde). So grün, wie er am nächsten Tag um die Nase war, hatte ich »meinen Günter«, wie ich ihn nannte, noch nie ge­ sehen. Aber an der Vertrautheit der Beziehung hatte sich sowenig verändert wie bei Meinungsverschiedenheiten zwischen ihm und mir vorher. Etwa wenn es um den Spanischen Bürgerkrieg, um Mussolinis Einmarsch in Abessinien oder den »Anschluß« Öster­ reichs gegangen war. Da standen wir auf verschiedenen Seiten, was uns nicht daran hinderte, noch jedesmal lachend auseinander­ zugehen. Die Freunde, die vertrauten, die waren geblieben. Dann überschlugen sich die Ereignisse. Im Lauf des Sommers verdichteten sich die Gerüchte über ei­ nen möglichen Kriegsausbruch, wodurch die von uns bejubelten transatlantischen Fahrten des Vaters auf dem HAPAG-Dampfer Ursache schwerer Sorge wurden. Was, wenn der Ehemann und Vater nicht zurückkehren könnte, das Schiff unterwegs angehal­ ten, die Insassen interniert würden? Befürchtungen, die sich in der zweiten Augusthälfte bis zur Hysterie komprimierten. Letz­ te Nachrichten kamen aus Cherbourg - die »Hansa« steuere be­ schleunigt Deutschland an ... Wir kamen nicht vom Fenster weg. Es war Großmutter Selma, die ihren sonst so vielgeschmähten Schwiegersohn zuerst erblickte und, als unten ein Taxi hielt, mit überschnappender Stimme rief: »Er kommt! Er kommt!« Meine Mutter war bleich geworden, war rückwärts getaumelt

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und tat etwas, was ich lange nicht gesehen hatte: Als der Vater eintrat, lief sie auf ihn zu und umarmte ihn, so, als wollte sie nicht wieder loslassen.

VIII. Kriegsausbruch und meine Verhaftung fielen zusammen. Sie kamen am späten Nachmittag, zwei Ledermäntel, zeigten wortlos auf mich und faßten mich an den Armen. Auf der Straße wartete ein Auto mit laufendem Motor. Als mein Vater lospoltern wollte, sah es aus, als würde einer der Gestapomänner ihm ins Gesicht schlagen. Meine Mutter mußte von mir losgerissen werden, es war, als hätte sie ihre Sprechfähig­ keit verloren. Dann, im Treppenhaus, hörte ich ihre Schreie, bis unten die Wagentür zugeklappt wurde. Im Fond zwischen den beiden schweigenden Ledermänteln. Totale Einsamkeit. Angst, für die es keine Worte gibt. Wohin wurde ich gebracht? Die Gestapoleitstelle Hamburg befand sich im Stadthaus, Ecke Neuer Wall/Stadthausbrücke. Eine Zelle, so schmal, daß man weder richtig stehen noch lie­ gen konnte. An der Decke eine Glühbirne, die brennenblieb. Ich muß trotzdem geschlafen haben. Ein riesiger, mit einem überlan­ gen Lineal bewaffneter Mann weckte mich. Ich wurde auf einen Stuhl gesetzt und dann von zwei Stimmen hinter Scheinwerfern mit prasselnden Anwürfen zugedeckt: daß ich im Spanischen Bür­ gerkrieg den Sieg der Kommunisten wolle; daß ich behauptet hät­ te, das deutsche Luftgeschwader Legion Condor habe Hunderte baskischer Männer, Frauen und Kinder zu Tode bombardiert; daß Italien den Krieg gegen Kaiser Haile Selassie in Abessinien verlieren solle wie auch Max Schmeling den Kampf gegen den Neger Joe Louis; daß die Geschwindigkeit auf den neuerbauten Autobahnen begrenzt worden sei, weil der Volkswagen einen zu schwachen Motor für höheres Tempo habe und er im übrigen schon ein Teil der Aufrüstung sei wie auch jedes Kraft-durchFreudc-Schiff in Wirklichkeit ein Truppentransporter ... So ging cs weiter, eine' lange Liste, und je länger sie wurde,

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desto klarer war mir - das alles hatte ich in der Tat gesagt. Es stimmte aufs Wort, war quasi die Zusammenfassung, der Extrakt aus den »politischen« Gesprächen, die ich mit Günter aus dem Nebenhaus, Huf nerstraße 11 $, geführt hatte, über Jahre hin. Dar­ unter exakt die Punkte, in denen er anderer Meinung war als ich, aber das nie scharf oder drohend, sondern stets freundlich und neugierig auf weitere Meinungsgegensätze. Hier, vor den Scheinwerfern, begriff ich, aus welchem Grund. Ich war von Günter, meinem Spielgefährten von Kindheit an, dem Günter mit der grünen Nase, wenn er sich ärgerte, ausge­ horcht worden, war ihm ins offene Denunziantenmesser gelau­ fen und hatte nichts davon bemerkt. Erwachsene hatten es dann an die Gestapo weitergeleitet. Plötzlich stockte die lautstarke Aufzählung meiner Missetaten, ehe dann herausgefaucht wurde, worum es eigentlich ging: »Die staatsfeindlichen Ideen hat dir deine Mutter eingegeben, diese Sau von einer jiddischen Mamme - unterschreib das!« Und so wurde es immer aufs neue wiederholt, mit unerschöpf­ licher Phantasie, meine Mutter zu beschimpfen. Ich hatte binnen kurzem jedes Zeitgefühl verloren, wußte nicht, wo ich war und wer mich aufforderte, etwas zu unterschrei­ ben. Was ich wußte, war, daß ich nicht unterschreiben würde. Das war der einzige klare Gedanke, den ich fassen konnte. Zurück in die Zelle. Jetzt blitzte die Glühbirne alle zehn Se­ kunden grell auf. Ich hockte mich hin, heimgesucht von der Hoff­ nung, aus einem Traum zu erwachen. Statt dessen kam der Riese mit dem langen Lineal. Das gleiche Verhör. Die Zelle. Neues Verhör, mit immer dem gleichen Text. Wo war das Schriftstück, das ich unterschreiben sollte? War es der zweite, dritte oder vierte Tag, als mich das lan­ ge Lineal am Hals traf, der sofort ballonartig anschwoll? Die Scheinwerfer, die beiden fauchenden Stimmen. Ich habe da­ von nichts in Erinnerung als mein krächzendes, wimmerndes, ge­ flüstertes »Nicht meine Mutter, ich, nicht meine Mutter, ich ...« Das erste bewußte Bild danach: ein Zimmer mit Blick auf den Neuen Wall, ein Gestapomann hinter einem großen Tisch. Einer der beiden Verhörer? Ich hatte ihre Gesichter nicht erkennen können. Er schrieb.

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Hatte ich mich nicht vollgekotzt? Jetzt war an meiner Klei­ dung davon nichts mehr zu sehen. Was würde werden, warum schwieg der Mann so lange? Währenddessen ging die Tür einmal kurz auf, und als ein Kopf darin erschien, erkannte ich in ihm sofort den Besucher vom Früh­ jahr 1933, der uns wachgeklingelt hatte, morgens, und so lautlos gegangen war wie gekommen. Die beiden sahen sich an, der an der Tür nickte und schloß sie dann wieder. Hatten die beiden mich verhört? An der Stimme konnte ich es nicht erkennen, denn die war ruhig, als der Gestapomann einen Schrank aufschloß, auf riesige Stöße von offenbar ungeöffneten Briefen zeigte und sagte: »Schau dir das mal an. So unterstützen uns die Volksgenossen - wir kom­ men da gar nicht nach.« Er ließ den Schrank offen, ging an den Schreibtisch zurück, fragte: »Aber was machst du?« Und gab sich selbst die Antwort: »Redest dich um Kopf und Kragen.« Danach musterte er mich wieder schweigend. Kein Schrift­ stück, das ich unterschreiben sollte, kein Schimpfwort mehr ge­ gen die Mutter, nur eine lange, stille Beobachtung. Plötzlich schrie er: »Raus mit dir! Raus!« Und, als ich schon draußen war, noch einmal hinterher: »Wozu haben wir dich denn sonst wiederhergerichtet?« Erst jetzt erkannte ich, daß er einer meiner beiden Verhörer war. Auf dem Neuen Wall, vor dem großen Tor. Wie viele Tage hat­ te ich hier verbracht? Keinen Pfennig in der Tasche, setzte ich mich in Trab - vor­ bei an Binnen- und Außenalster, Mundsburger Damm, Hambur­ ger Straße, Barmbeker Markt, Hufnerstraße. Woher hatte ich die Kraft, die Strecke zu laufen? Aber ich lief. Dann die Mutter, so versteinert vor Kummer, daß sie unfähig war, meine Umarmung zu erwidern. Mein älterer Bruder: »Wir dachten, du kämst nie wieder ...« Dann begann er zu weinen, als sei eine innere Quelle angestochen worden.

Warum hatten sie mich freigelassen, war ich entkommen, nicht nach Kolafu oder Neuengamme gebracht worden, wo doch schon ein Bruchteil meiner »staatsfeindlichen Äußerungen« ge­

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nügt hätte, um andere ins Zuchthaus, ins KZ oder gleich in den Tod zu befördern? Was ich jetzt sage, nachdem ich ein ganzes Leben darüber nach­ gesonnen habe, ist Spekulation. Aber ich meine, daß sie einen Kern Wahrheit enthalten könnte. In dem großartigen Film von Marc Rothemund über die am 22. Februar 1943 hingerichtete einundzwanzigjährige Sophie Scholl (»Die letzten Tage«) spielen die Verhörszenen eine wich­ tige Rolle. Sie haben mich bis in die Atemlosigkeit fasziniert, weil ich darin etwas entdeckt haben will, was mir, mit einem anderen Ausgang, selbst widerfahren war. Dem Film zugrunde liegen die authentischen Protokolle. Da entspann sich zwischen der verhörten Sophie Scholl und dem Vcrhörer Robert Mohr etwas Seltsames: Der Gestapomann läßt sich widerwillig beeindrucken von der Standhaftigkeit seines Op­ fers. Ihm, Vertreter der Macht, scheint ihre Sache total aussichts­ los zu sein, sinn- und hoffnungslos. Aber daß Sophie Scholl trotzdem daran festhält, erschüttert Mohr. Er, der gewohnt ist, nur auf Gewalt zu setzen, sieht sich plötzlich einem Menschen gegenüber, der durch sie nicht zu zerstören ist. Dadurch wächst in ihm eine Art widerwilliger Achtung, die ihn verblüfft und ver­ stört. Würde er selbst doch, wäre er in einer Situation, in der er sich aus der Schlinge ziehen könnte, sofort die Gelegenheit dazu ergreifen. So geschieht denn das in seinem Sinn eigentlich Unge­ heuerliche: Mohr will ihr eine goldene Brücke bauen, die Sophie Scholl möglicherweise vor der Hinrichtung bewahren könnte. Sie aber beharrt statt dessen auf ihren Überzeugungen. Perplex steht Robert Mohr vor einer moralischen Überlegenheit, von der er sich nicht angetastet fühlen möchte, die aber doch unleug­ bar ist. Von diesem seltsamen Fluidum zwischen Folterer und Gefol­ tertem will ich in der letzten Stunde vor meiner unerwarteten Ent­ lassung etwas gespürt haben, da, im Hamburger Stadthaus, vor einem Gestapomann, der unnahbar war, harsch, systemkonform und doch auf uneingestandene Weise berührt von diesem schma­ len Sechzehnjährigen, der seine Mutter nicht preisgeben wollte.

Ich habe nach 1945 jahrzehntelang einen großen Bogen um das Stadthaus gemacht, unruhig, ja, irritiert, wenn ich nur in die 144

Nähe kam. Es gab noch andere Stellen, denen ich große Scheu entgegenbrachte, aber der abschreckendste Topos war immer die ehemalige Leitstelle der Geheimen Staatspolizei Hamburg, Ecke Neuer Wall/Stadthausbrücke. Es gibt ein Erlebnis aus dem Jahr 2004, das offenbarte: Auch nach 65 Jahren noch hatte der Ort für mich nichts von seinem Schrecken eingebüßt. Wenn ich in Hamburg absteige, dann im »Marriot«, ABCStraße. Weil dort einmal aber kein Platz war, zog ich um ins »Stei­ genberger«. Wie überall und immer auch dort im ersten Stock, weil ich als Klaustrophobe nicht mit dem Lift fahren kann und mich deshalb möglichst unten einquartieren lasse. Als ich an jenem Tag nun morgens zum Frühstück die Treppe hinuntergehe, schaue ich durch die große Fensterfront ahnungs­ los nach rechts und - starre genau aufs Portal des Stadthauses. Ich fand mich wieder in einem Raum hinter der Rezeption des Hotels, umgeben von guten Geistern, die mich bewußtlos auf den Stufen gefunden und mich hier gebettet hatten. Mit diesem ersten Verhör bei der Gestapo war nach sechs Jahren Inkubationszeit und zeitgleich mit dem Beginn des Zweiten Welt­ kriegs etwas zu unserem zentralen Lebensgefühl geworden: die Furcht vor dem jederzeit möglichen Gewalttod. Und das nicht, weil wir uns auf die Straße gestellt und »Nie­ der mit Hitler!« gebrüllt oder uns einer Widerstandsgruppe ange­ schlossen hätten. Unser Verbrechen war unsere physische, unsere biologische Existenz, war der Umstand, daß wir da waren auf der Welt, war die Tatsache, daß wir lebten. Damit will ich Auschwitz nicht antizipieren. Aber als ich schließlich davon erfuhr, habe ich keine Sekunde daran gezwei­ felt. In der Nacht nach meiner Verhaftung schrie mein jüngerer Bru­ der Rocco gellend auf, als er erwachte und um ihn herum nichts als Dunkelheit war. Gefragt, warum er geschrieen habe, stam­ melte er wieder etwas von einem Ungeheuer, das ihn bedrängt habe und ihn fressen wollte. Er war jetzt zehn Jahre alt, war vier davon in die Volksschule Genslerstraße gegangen und gerade auf dem Realgymnasium

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Averhoffstraße an der Uhlenhorst eingeschult worden. Ich be­ zweifle, daß er die Gefährdung der Familie bereits im ganzen Um­ fang schon verinnerlicht hatte, hier gab es zwischen ihm und sei­ nen älteren Brüdern so etwas wie einen Generationsunterschied. Aber er schrie jetzt in unterschiedlichen Abständen seit fünf Jah­ ren, seit unserer Flucht von der Elbe. Rocco Giordano, von der Mutter immer noch »kleiner Muck« gerufen, wird diese Urangst sein ganzes Leben beibehalten. Ich weiß nicht, wie oft wir von diesen Schreien aufgeschreckt worden sind. Und natürlich wußte ich damals auch nicht, auf welche Weise und unter welchen Um­ ständen die Reaktion meines jüngeren Bruders auf Dunkelheit für uns alle lebensgefährlich werden würde.

Zwei Erinnerungen aus meinem letzten Jahr auf dem Johan­ neum. Im Herbst 1939 wurden die Schüler der Oberstufen, darunter auch die Obersekunda, die ich nun zum zweitenmal durchlief, zum Kartoffelbuddeln in die Lüneburger Heide bei Amelinghau­ sen geschickt. Auf Scheunenböden einquartiert und von den Bauern verpflegt, zogen wir tagsüber auf die Felder und sammelten die nahrhaften Erdknollen ein, bis wir den Rücken nicht mehr geradekriegten. Und nun geschah etwas, das niemand vorausgesehen hatte. Obwohl keinerlei Order dazu gegeben worden war, keine Einteilung in Befehlshaber und Untergebene, begannen einige Hitlerjugend-Führer aus der Klasse, ihre Mitschüler während der Arbeit anzubrüllen, herumzustoßen und ihnen in den Hin­ tern zu treten. Was die zunächst auch mit sich machen ließen, ohne aufzubegehren. Wobei es zu völlig veränderten Beziehun­ gen untereinander kam, ja, zu grotesken Umkehrungen. Sahen sich doch gerade die besten Schüler der Klasse, die bislang rang­ höchsten Köpfe, zusammengestaucht, gedemütigt, ja, getreten, während es sich bei den wildgewordenen HJ-Führern eher um die Inhaber mittlerer oder gar unterer Zeugnisplätze handelte. Dabei tat sich besonders einer hervor, dessen körperliche Über­ größe in krassem Gegensatz stand zu seinem Einfluß und dem Grad der Anerkennung. Den hatte bisher keiner für voll genom­ men und schon gar nicht diejenigen, die nun unerwartet seine Opfer wurden. 146

Dabei würde man es sich allerdings zu leichtmachen, die plötz­ lich auftretende Gewalttätigkeit zu definieren als eine Abreak­ tion minderbegabter an besseren Schülern. Darin lag sicherlich ein Grund für das Gebaren, aber nicht der entscheidende und tiefste. Tatsächlich geschah hier etwas viel Hintergründigeres, Un­ heimlicheres - ein bisher ziviles, ein privates Verhältnis war urplötzlich in ein paramilitärisches umgewandelt worden: Da sollte strammgestanden, Meldung erstattet, Gehorsam geleistet werden; da wurde Unterordnung verlangt, Befehlsausführung, sollte Zwang anerkannt werden. Dies war also keineswegs bloß die Stunde geheim gehegter Abrechnung von Minderbegabten (denn auch die Unbegabte­ sten wurden schikaniert). Die plötzliche Veränderung unter An­ wendung körperlicher Gewalt und seelischem Terror ergab sich vielmehr aus einer Haltung, die sich durch bestimmte Umstände freigesetzt fühlte: Sie hob die bisherigen Beziehungen innerhalb eines gewohnten und in seinen Regeln anerkannten Rahmens auf und schuf sich ihre eigenen Regeln. Und schon wurden aus ver­ trauten Klassengefährten von einer Minute auf die andere Vorge­ setzte und Untergebene, Muschiks und Offiziere, Befehlsempfän­ ger und Befehlshaber. Zur Ehre der Klasse muß gesagt werden, daß dieser Zustand nicht lange andauerte, sondern die Anmaßung einzelner auf die Abwehr der übrigen stieß und damit ihr Ende fand. Aber es folgte bald ein zweites Lehrstück, ungleich fürchterli­ cher als das erste und dennoch mit ihm verwandt. Plötzlich war er da, mitten unter uns, im Klassenzimmer - der Krieg. Dieser seltsame, ferne Krieg, der sich ganz woanders als in Deutschland zuzutragen schien und der nun, nach dem schnellen Sieg über Polen, stockte und in Wartestellung ging. Aufgetaucht aber war er in Gestalt des Lateinlehrers Dr. C., auf dem Gruppenfoto unter den Parteigenossen zu finden: Gleich eingezogen, hatte er mitgekämpft, war dann aber noch im Dezem­ ber 1939 in sein Lehramt auf dem Johanneum zurückgekehrt. Dann und wann ließ er die Klasse wissen, wie es »zugegangen« war, da im Osten, mit dem »Auswurf«, der dort militärisch und in Zivil anzutrcffcn gewesen sei - appetitlich sei das nicht gewesen. 147

Es gab in der Klasse durchaus Mitschüler, die die deutschen Vorwände für den Überfall hinterfragten, von einem »Angriffs­ krieg« sprachen und von der Mißhandlung der Okkupierten. Aber das waren nicht die Themen, um die es Lateinlehrer Dr. C. gingEr wollte uns vielmehr zeigen, wie dort »aufgeräumt« wurde und daß dieser Krieg ein anderer sei als bisherige, weil man nie zuvor solches »Kroppzeug« vor der Flinte gehabt habe, Kombat­ tanten und Nichtkombattanten. »Da machten wir keinen großen Unterschied - alles Feinde.« Und dann sagte der Lateinlehrer und Parteigenosse Dr. C. auf einem humanistischen Gymnasium zu Sechzehnjährigen (nachdem er keinen Zweifel daran gelassen hatte, daß die Opfer keine Möglichkeit zur Gegenwehr gehabt hatten): »Wir hielten einfach mit unseren Maschinenpistolen drauf - und da sind die Pollacken gepurzelt wie die Hasen.« Ich halte bei dem Gedanken an diesen Satz inne. Im ersten Fall waren es Tritte, Schläge, Befehlsanmaßung ge­ genüber langjährigen Bekannten, die mit Hemmschwellen rech­ nen konnten. Bei den getöteten Opfern des Lateinlehrers C. und seiner automatischen Waffe handelte es sich dagegen nicht mehr um Mitschüler, sondern um von Geburt und Herkunft her Kri­ minelle, »Pollacken«, minderwertiges »Kroppzeug«, die Kugeln nicht wert, mit denen man es umbrachte. So unterschiedlich das erste und das zweite Beispiel auch wa­ ren, so gab es doch gemeinsame Kausalitäten: Rassismus und Mi­ litarismus, so nahe beieinander und hochkonform mit den herr­ schenden Ideen der Gesellschaft. Ich erlebte das grauenhafte Bekenntnis des Lehrers mit einem Gefühl völliger Verlorenheit, ein erschreckendes Indiz für jene wachsende Isolierung, die etwa um diese Zeit herum dazu führte, daß wir nur noch von »den Deutschen« sprachen - ein elemen­ tarer Teil meines Zugehörigkeitsgefühls hatte sich in nichts ver­ flüchtigt. Dazu kam dann noch etwas, das dieses Gefühl vertiefte. Im Februar oder März 1940 wurde verkündet, der Kriegsum­ stände wegen würden diesmal alle Schüler des Johanneums ver­ setzt werden, und zwar unabhängig von ihren Zensuren. Daß ich die Ausnahme war, erfuhr ich noch, bevor es mir offi­ ziell verkündet wurde. Der Klassenlehrer der Obersekunda, der

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gutmütige Dr. Wagner, dem gerüchteweise sozialdemokratische Sympathien nachgesagt wurden und von dem nie auch nur eine einzige Silbe Antisemitismus zu vernehmen gewesen war, wurde während einer Stunde von einem Mitschüler gefragt, ob die pau­ schale Versetzung für alle gelte. Worauf er sichtlich bedrückt und so leise, daß ich es nicht hören sollte, antwortete: »Ja - bis auf Giordano.« Ich hatte auf dem Johanneum nie über meine Verhaftung durch die Gestapo gesprochen. Aber natürlich war die Schulleitung da­ von unterrichtet worden. So einer konnte, so einer durfte nicht mehr Johanniter sein. Und wer zweimal das Klassenziel nicht er­ reichte, mußte ohnehin gehen. Mein Bruder dagegen wurde in die Unterprima versetzt. Sein Kommentar: »Ich traue dem Frieden nicht.« Er wird recht behalten. Nach sieben Jahren verließ ich, mitten aus der letzten Unter­ richtsstunde heraus, abschiedslos das Johanneum. Ecke MariaLouisen-Straße/Dorotheenstraße drehte ich mich noch einmal um und warf einen Blick zurück auf das massige, imponierende Gebäude. Mir war weh, mir war sehr weh ums Herz. Unvergessen ist der Tag aber auch noch aus einem andern Grund als dem meiner Vertreibung: durch einen Schmerz im Bauch, wie ich Schmerzen noch nie erlitten hatte. Er durchbohrte mich so schneidend, daß ich vornüberkippte und aus dieser Stel­ lung lange nicht hochkam. Passanten bemühten sich. Ich kroch mehr nach Hause, als daß ich ging. Am nächsten Tag war der Schmerz weg, wie verschwunden, ehe er nach zwanzig Jahren wiederkehren und mich dann weitere zwanzig Jahre mit allen Höllen der Magenkranken heimsuchen wird. Aber begonnen, begonnen hatte die Passion über ein halbes Leben hin an dem Tag, da ich erfuhr, daß auf dem Johanneum in jenem Jahr alle versetzt werden würden, alle - außer mir.

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IX. Was nun? Wie beim Vater und der HAPAG, so ergriff meine Mutter auch bei mir die Initiative - wobei dem Telefon des Milchmanns im Ne­ benhaus links wieder eine entscheidende Funktion zukam. Dort schlug Lilly Giordano das Hamburger Fernsprechbuch auf, forschte darin nach Handelsschulen, suchte sich aufs Gerate­ wohl eine Adresse heraus, wählte, forderte, den Direktor zu spre­ chen - und wurde mit ihm verbunden. Und das Unglaubliche geschah: Innerhalb von fünf Minuten war ich auf der Höheren Handelsschule Schlankreye, Stadtteil Hoheluft, nicht nur für ein Jahr angemeldet, sondern auch aufge­ fordert, »schon morgen zu kommen«. Obwohl meine Mutter mit nichts hinterm Berg gehalten und die prekäre Situation der Fami­ lie samt Hinweis auf die Rassengesetze geschildert hatte. »Willkommen!«, habe der Direktor gesagt und seiner Freude Ausdruck gegeben, einen so gelehrten Schüler in seiner Anstalt empfangen zu dürfen - die Wangen meiner Mutter waren noch erhitzt, als sie uns von dem Gespräch berichtete. Ich solle mich gleich bei ihm melden. Das tat ich dann auch, traf dabei auf einen kleinen Fünfzigjäh­ rigen, mit zerzausten Haaren, starken Brillengläsern, fahrigen Be­ wegungen und schier unerschöpflicher Achtung vor »Altsprach­ lern«, wie er sich ausdrückte. Und so frischte er denn mit meiner Hilfe seine Kenntnisse in Latein und Griechisch auf und sagte, wie nebenbei: »Hier geht’s nach Leistung, nicht nach Abstammung.« Und so kam ich denn zusammen mit Stenographie und Schreib­ maschine, mit Handelslehre, Buchführung, kaufmännischem Rechnen und einem aufs Kommerzielle reduzierten Spanisch und Englisch. Es war nicht meine Schule, es waren nicht meine Fä­ cher, für keines von ihnen, die Sprachen ausgenommen, empfand ich wirkliches Interesse, aber unter den gegebenen Umständen war der Besuch der Höheren Handelsschule tatsächlich das beste, was mir geschehen konnte. Dazu kam, daß etwa ein Drittel der Schülerschaft aus jungen Mädchen zwischen sechzehn und zwanzig Jahren bestand. Und nun geschah etwas, das mich zugleich erschreckte und beglückte, in dieser Reihenfolge. 15°

Etliche Geschöpfe aus dem zarten Flor schienen sich von dem bleichen Jüngling mit der schwarzen Mähne stark angezogen zu fühlen, vielleicht auch von seiner Passivität, die Neugierde nicht verbergen konnte, ohne auch nur den geringsten Annäherungs­ versuch zu unternehmen. Was wußten diese Wesen denn schon von dem Begriff »Rassen­ schande«, von den Verboten und den Strafen des Gesetzes zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre? Aber ich wußte davon, saß sie doch ganz tief in mir, diese Horrorvokabel »Rassenschande«, nach allem, was darüber fast Tag für Tag gesagt und geschrieben wurde. Vor dieser Drohkulisse war die Nähe so massierter Weiblichkeit wie ein Wechselbad von Feuer und Was­ ser, bei so manchem Impuls, der inneren Zärtlichkeit Ausdruck zu geben, und sei es nur durch ein Wort, eine Geste, etwas Natür­ liches, das nun gewaltsam unterdrückt werden mußte. Als die Gunstbeweise einiger Schülerinnen so weit gingen, mich direkt anzusprechen, etwa unter dem Vorwand, Auskunft über die Herkunft des italienischen Namens zu erhalten, andere mich gar bis vor die Haustür verfolgten und wieder andere frag­ ten, »ob alle Italiener so seien«, arteten meine Reaktionen in regel­ rechte Flucht aus. Wobei ich wohl eine höchst lächerliche Figur gemacht haben muß. Aber dann kam doch der Tag, an dem sich das, was sich in die­ sem Alter Liebe nennt, individualisierte, Gestalt in Fleisch und Blut annahm und Bedenken und Furcht zurückdrängte. Sie bestand nur aus Augen und gehörte zu einer Clique von Mäd­ chen und Jungen, die sich gegen Abend am Barmbeker Bahnhof versammelten und dort lachten, schwatzten, flirteten und später im gegenüberliegenden Tanzlokal »Cafe König« verschwanden. Als unsere Blicke sich trafen, wandte ich mich ab und ging langsam davon, in Richtung Stadtpark. Sie folgte mir, hin und zurück, immer mit Abstand. Wir spra­ chen kein Wort miteinander. So ging es lange, bis wir uns in der Platanenallee in die Arme fielen, bei Dunkelheit - es war inzwi­ schen Herbst geworden. Sie hieß Elli, einziges Kind, wohnte in der Bramfelder Straße und war sechzehn Jahre alt (ich siebzehn). Wir trafen uns jeden Tag, meist in der Platanenallee, wo wir uns das erste Mal geküßt

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hatten, aber nie am Barmbeker Bahnhof, wo die anderen sich ver­ sammelten. Sie fragte nicht - nicht danach, warum wir uns immer erst so spät trafen; warum wir nie ein Lokal, ein Restaurant, ein Cafe auf­ suchten; warum ich nicht in der Hitlerjugend war und sie nicht mit zu mir nach Hause nahm. Es war das erste Mal, daß ich jemanden liebhatte, auf jene nicht wiederholbare Weise, randvoll erfüllt davon und an nichts ande­ res denkend, so daß es einem weh und süß in der Brust brannte. So hatte ich sie lieb. In diesem Herbst 1940 gab es häufiger Fliegeralarm. Meine Mutter eilte dann mit dem Jüngsten in den Luftschutz­ keller des Hauses, während Egon und ich liegenblieben - Luft­ krieg, das Wort barg damals noch keine Schrecken in sich. Bis es plötzlich, kurz nach Mitternacht, ganz in der Nähe krachte und das Haus erzitterte - eine Bombe. Mit einem Satz war ich hoch, zog mich an, rannte auf die Stra­ ße, sah weit links Qualm und Rauch, die unser Haus nicht ge­ fährden konnten, und über den Dächern nach Osten einen Feuer­ schein. Also lief und lief ich, ohne anzuhalten oder das Verbot zu achten, daß während des Alarms die Straße nicht betreten werden durfte. Lief bis vor das Haus, wo Elli wohnte - und fand es un­ beschädigt. Da hockte ich mich davor hin und weinte vor Glück. Dann lief ich zurück. Gerade als ich keuchend ankam, wurde Ent­ warnung gegeben. So ging es weiter, das Versteckspielen, die Dunkelheit, die Ab­ schirmung vor anderen, das Schweigen darüber, warum wir uns immer so spät trafen. Aber da staute sich etwas. Bis sie dann doch fragte: »Warum?« »Weil ich eine jüdische Mutter habe«, sagte ich. Eine Weile blieb sie stumm. Dann kam sie auf mich zu, lachte leise: »Daher also hast du so verdammt viele und so verdammt schwarze Haare« und streichelte mein Gesicht. Sie hatte offenbar nicht begriffen, worum es ging. Woher auch? Zunächst gab es keine Veränderung. Dann, unverbergbar, Traurig­ keit. Da war etwas dazugekommen, das nicht mehr auf uns beide beschränkt war, was das Alleinsein zu zweit aufhob. Für das, was dann kommen sollte, gab sie mir nur einen einzigen Hinweis, ein Stichwort, mehr nicht: »Der Vater ... mein Vater ...« IP

Eines Morgens sagte mein älterer Bruder: »Elli hat einen an­ dern. Ich habe sie mit ihm gesehen.« Abends war ich an der verabredeten Stelle in der Platanenallee, hinter dem großen Busch. Sie kam pünktlich, aber nicht allein. Neben ihr ging einer von den jungen Männern, die ich vom Barmbeker Bahnhof her kann­ te, ein hübscher, blonder und völlig ahnungsloser Junge. Elli streifte an dem Busch vorbei, wobei sie mit ihrer Hand beinahe die meine berührte, dann gingen beide in Richtung Frei­ lichtbühne weiter. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich an der Stelle stehenblieb eine halbe, eine Stunde? Ich weiß nur noch, daß ein Teil von mir taub geworden war, wie betäubt, gleichsam narkotisiert. Ich fühl­ te gar nichts und hoffte, daß es so bliebe. Aber es blieb nicht so. Der Schmerz kam wie ein schwarzes Biest über mich - blinde Realitätsverweigerung, irrwitzige Hoffnung, aus einem Traum zu erwachen. Die Minute, als die beiden an dem Busch vorbeistrichen, hinter dem ich war, hat mein Verhältnis zu Frauen über eine lange Strecke meines Lebens geprägt, hat mich verwandelt in einen Bluter des Mißtrauens und der bösen Erwartungen, in ständiger Furcht, zu verlieren, was ich liebe. Wirklich davon erholt habe ich mich nie. Gleichzeitig aber empfand ich keinen Vorwurf gegen das Mäd­ chen, auch nicht gegen den Vater, der auf der Trennung bestanden hatte. Es war stärker. »Im Zeichen der Gefährdung anderer«, so stammelte ich mir immer wieder beschwörend selbst zu, »im Zeichen der Gefähr­ dung anderer hast du kein Recht, jemanden liebzuhaben, du hast kein Recht dazu, kein Recht, kein Recht...« Die Selbstdeformie­ rung war in vollem Gange. Ich habe Elli nie wiedergesehen.

Es war Grete Schulz, die Frau des inzwischen zur Wehrmacht eingezogenen Taxifahrers aus der oberen Etage, die, gleichsam im Vorübergehen, sagte: »Du siehst aus wie dein eigener Schatten.« Und ein paar Tage später: »Was ist mit dir lebendem Leichnam?« Es war das Direkte an dieser Frau, das mich schon vorher an­ gezogen hatte, was mich nun aber vor einer Art Versteinerung rettete. U3

Natürlich hatte meine Mutter an meiner Verfassung erkannt, daß etwas nicht stimmte, mich auch gefragt und nach dem Stich­ wort, dem Namen des Mädchens, halblaut mit drei Worten rea­ giert: »Du weißt doch.« Ja, ich wußte - und war unfähig, mit ihr darüber zu sprechen. Mit Grete Schulz konnte ich es. In all diesen Jahren hatte mir ihr Anblick gutgetan, hatten wir uns angegrinst, wenn wir einan­ der begegneten, war sie oft bei uns gewesen und hatte keine Zwei­ fel an einer Gesinnung gelassen, für die ich einen siebten Sinn hat­ te: völlige Immunisierung gegenüber allem, was von oben kam, unempfänglich, sich von daher antasten zu lassen, mit schnodderi­ gen Reaktionen und bis in die Tollkühnheit unvorsichtig. Wie tief die Allianz war, wird sich später zeigen. Jetzt war die Nachbarin meine Beichtmutter, der ich wasser­ fallartig offenbarte, was sich ereignet hatte. Ich muß dabei ein er­ bärmliches Bild geboten haben. Daraufhin, direkt wie immer, tat sie das einzig richtige. Die Szene ist bei der Verfilmung meiner autobiographischen Hamburger Familien-und-Verfolgten-Saga »Die Bertinis« über­ nommen worden, und ich erinnere mich an die überwältigende Übereinstimmung, die ich dabei vor dem Bildschirm empfand: Grete Schulz (die Erika Schwarz in Buch und Film) nimmt Ro­ man Bertini, mein Alter ego, an die Hand, sie ziehen sich lang­ sam, ohne Hast aus, legen sich ins Bett und wärmen einander. Grete Schulz war die erste Frau in meinem Leben. Ich werde ihr aus Gründen, bei denen es, wie die Leserschaft erfahren wird, um Leben oder Tod ging, bis ans Ende meiner Tage dankbar sein. Aber darin eingeschlossen ist auch diese Stunde Jahre davor als sie mich anhörte und mich vor einer Verzweiflung bewahrte, die dabei war, mich zu zerstören. Diese erste Rettung durch Gre­ te Schulz galt nur mir. Die zweite wird die ganze Familie betreffen. Der plötzliche Anblick meines Vaters in Uniform versetzte mir ei­ nen Schock. Bei der HAPAG entlassen, war er beim Sicherheits­ und Hilfsdienst (SHD) untergekommen, einer Organisation des Luftschutzes, die ihren Angehörigen ein bläulich-graues Gewand aus Hose und Jacke verpaßte, aber dennoch über ihren eigentlich

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zivilen Charakter nicht hinwegtäuschen konnte. Zwar gab es den sogenannten Bereitschaftsdienst, im Sprachgebrauch des SHD »Wache« genannt, die der Vater nächtens zwei-, manchmal auch dreimal in der Woche mit etwa sechzig anderen SHDlern in der ehemaligen Volksschule Tieloh, ganz in der Nähe der Hochbahn­ station Habichtstraße, verbringen mußte. Aber als Kasernierung wurde das nicht aufgefaßt und empfunden. Sinn und Zweck des SHD: Betroffenen bei Luftangriffen tätige Hilfe zu leisten. In dem Fragebogen und seiner unvermeidlichen Rubrik arisch oder nichtarisch hatte mein Vater aus der jüdischen Abstammung seiner Frau kein Hehl gemacht, war aber dennoch ohne jede Nach­ frage aufgenommen worden. Ob das simpel übersehen worden war oder für den Sicherheits- und Hilfsdienst kein ausdrückliches Verbot bestand, jüdisch Versippte in seine Reihen aufzunehmen fortan wurde es zu einem gewohnten Bild, den Vater in der bläu­ lich-grauen Uniform auf einem von der Organisation gestellten Fahrrad heran- oder wegradeln zu sehen, nicht ohne durch kräfti­ ges Beinestrampeln ein gewisses Selbstbewußtsein zu demonstrie­ ren, wenn er sich durch die Straßen Barmbeks bewegte. »Es ist genau die richtige Beschäftigung für mich«, freute er sich immer wieder, um auch gleich den Grund zu nennen: »Trägt sie doch zur Schonung meiner Hände bei.« Und in der Tat fand er zwischen den Dienststunden genügend Gelegenheiten, wie eh und je in unserem Wohnzimmer mächtig in die Tasten zu grei­ fen und das fortzusetzen, was in unserer Familie, seit ich hören konnte, »üben« genannt wurde. Der Jubel über den deutschen Sieg in Frankreich im Juni 1940 wurde etwas gedämpft durch die nun häufigeren Fliegeralarme, eingeleitet durch einen auf- und abtönenden Heuiton der überall auf den Hausdächern installierten Sirenen, dem später dann als Entwarnung ein gleichbleibender Ton folgte. Für uns war das keine nächtliche Ruhestörung, sondern ein willkommenes Zeichen: England war unbesiegt! Meine Mutter ging jedesmal sofort mit dem Jüngsten in den Keller (bisher hatte kein Mitbewohner, was möglich gewesen wäre, gegen ihre Anwesenheit protestiert, auch nicht die Denun­ ziantin aus der nächsthöheren Etage), während mein älterer Bru­ der und ich in der Wohnung blieben.

Und dabei sah ich eines Nachts aus dem Fenster des Kinder­ zimmers den ersten britischen Bomber am Himmel über Ham­ burg - gefangen in den Scheinwerferkegeln der Luftabwehr und umkracht von den Feuerbällen ihrer Flugabwehrkanonen (Flak) mir blieb das Herz stehen. Sich kurvig auf- und abwindend, wie ein Insekt, das den überlan­ gen Lichtfingern zu entkommen versuchte und doch wie von einer magnetischen Kraft in ihrem Zentrum verblieb, sandte ich dem Bundesgenossen von der Royal Air Force zwei Stoßgebete hoch in den brüllenden, granatenzerfetzten Himmel: daß es dem Piloten gelingen möge, der tödlichen Beleuchtung zu entfliehen, sich in die Dunkelheit zu propellern und dem Feind unsichtbar zu wer­ den - so das erste Stoßgebet. Das zweite ist heute noch in meinem Kopf, als wäre es nicht vor fast siebzig Jahren, sondern erst gestern aus mir herausgekeucht worden. Es lautete wörtlich: »Kommt her­ unter und nehmt uns mit. Holt uns an Bord und flieht mit uns, nur heraus aus diesem Deutschland, weg von seiner grauenhaften Erde, weg von der ständigen Angst und weg von der Furcht vor Künftigem. Kommt herunter und nehmt uns mit!« So flehte ich vom Fenster des Kinderzimmers hoch, als ich zum erstenmal in meinem Leben einen Bomber der Royal Air Force sah, glücklich, als die britische Maschine sich plötzlich dem Kegel Dutzender von Scheinwerfern entwinden konnte und verschwun­ den blieb. Dennoch aber muß der Wunsch, mitgenommen zu wer­ den, so elementar in mir gelebt haben, daß das geglückte Manö­ ver des Piloten in mir eine bodenlose Enttäuschung auslöste. Es gab damals viele Gründe für Tränen, so viele, daß man sie oft gar nicht erst fließen ließ, sondern vorab herunterschluckte. Aber als jetzt der Himmel wieder völlig dunkel war, das Brum­ men der Motoren und die Explosionen der Flak schwächer wurden, ehe die Sirenen dann Entwarnung gaben - da habe ich geweint. Herbst 1940. Im »Europa-Palast« am Barmbeker Markt wurde »Jud Süß« gezeigt. Ich beschloß, es mir anzutun und hinzugehen - mit Fiete. Von den Freunden war er mir immer noch am nahesten gekom­ men. Volksschüler und sich seiner Bildungsdefizite auf angenehm aufrichtige Weise bewußt, mittlerweile beschäftigt als technischer

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Zeichner im Hafen auf der Werft von Blohm & Voß, zeigte Fiete nicht nur lebhaftes Interesse, an meinem »Johanneums-Niveau«, wie er es nannte, zu partizipieren, sondern bewies überhaupt Ei­ fer für Geistiges. Ohne System und Plan stürzten wir uns auf Bü­ cher, lasen gemeinsam Nietzsche und Hegel, vertieften uns in die Werke der Gebrüder Grimm, machten uns her über Goethe und Schiller, schrieben unsere Kommentare zu der jeweiligen Lektüre und tauschten sie untereinander aus. Manchmal verzogen wir uns in den dunklen Stadtpark, setzten uns dort auf eine Bank und begannen, gegen alle Bestimmungen des Luftschutzes, aber höchst romantisch, bei Kerzenlicht an ir­ gend etwas Eigenem zu schreiben. Von Kindesbeinen an miteinander bekannt, hatte sich eine Be­ ziehung entwickelt, die in ihrem Verlauf weit über die Bindung an andere Freunde hinausging und von großer Vertrautheit ge­ prägt war. Obwohl gelegentlich deutschnationale Töne von Fietes Vater durchdrangen, hatten offizielle Ideologien keinerlei Einfluß auf unser beider Verhältnis. Wie überhaupt nationalsozialistische Ideen und Sprüche im Kreis der Freunde keine Rolle spielten, sondern einfach ungesagt blieben. Womit ich nicht behaupten will, daß sie nicht Kinder ihrer Zeit waren, aber keiner von ihnen sah dem schon bald sicheren Einziehungsbefehi ihres Jahrgangs zur Wehrmacht mit Zustimmung oder gar Freude entgegen. Also mit Fiete zu »Jud Süß«. Der »Europa-Palast«, nach dem damaligen Stand ein moder­ nes Kino mit gut 200 Sitzplätzen, war vollständig ausverkauft. Nach der »Weltpremiere« in Venedig und der Erstaufführung im Berliner »UFA-Palast« im September 1940 war »Jud Süß« in aller Munde. Zeitungen, Zeitschriften, der ganze Propagandaund-Agitations-Apparat war des Lobes voll, so daß ich zu wissen glaubte, was mich erwartete. Ein Irrtum, wie sich herausstellte, und zwar in mehrfacher Hinsicht und am selben Tag. Hatte ich schon bei der Ankunft einen Schreck bekommen, weil die schreiend bunte Plakatankündigung über dem Eingang ein bösartig verzerrtes Gesicht zeigte, das sich als die mimische Karikatur des Hauptdarstellers Ferdinand Marian alias Jud Süß entpuppte und der antisemitischen Hetzschrift »Der Stürmer« von Julius Streicher hätte entnommen sein können - sobald der U7

Film anlief, begann mich schüttelfrostartig zu frieren, eine Tempe­ ratur, die während der Vorstellung bis in die innere Vereisung fiel. Von der ersten Minute an war mir klar, was dieser Film anrichten würde - in einem Deutschland, dessen Siegeszug quer durch Eu­ ropa die Bindung zwischen Volk und Führung sichtlich vertieft hatte; einem Deutschland, dessen verbliebene Juden total entrech­ tet waren; einem Deutschland, dessen »Führer« am 30. Januar 1939 - ich habe die überschnappende Stimme noch im Ohr - zum erstenmal öffentlich vor dem eigenen Volk und der Welt die Aus­ rottung der europäischen Juden im Fall eines Kriegs angekündigt hatte. Woraufhin am 12. Oktober 1939, also anderthalb Monate nach Kriegsausbruch, die Deportation der Juden aus Österreich und der Tschechoslowakei nach Polen verfügt, im November im sogenannten Generalgouvernement der Judenstern eingeführt und im Februar 1940 zum erstenmal Juden aus dem »Altreich« in den besetzten Osten deportiert wurden. Was ich da sah, konnte nur einen Sinn haben: den Boden für weitere Schritte gegen Juden im deutschen Machtbereich vorzu­ bereiten - und das höllisch geschickt gemacht. Denn was da vor mir auf der Leinwand flimmerte, war kein primitives Machwerk, wie es kurz zuvor der Propagandamini­ ster Joseph Goebbels unter dem Titel »Der ewige Jude« hatte zu­ sammenstoppeln lassen, mit der berüchtigten Gleichsetzung von Juden und Ratten, diesen Trägern von Pest, Lepra, Typhus und Cholera, und mit anderen, so eindeutig verunglimpfenden Pro­ pagandaeffekten, daß die ausbleibenden Zuschauerzahlen schon nach einer Woche zur Absetzung des Streifens geführt hatten. Zu dick aufgetragen, hatte »Der ewige Jude« selbst den damals kei­ neswegs philosemitischen Deutschen zuviel zugemutet. Die Lehre daraus war Veit Harlans »Jud Süß«, die niederträchtig­ ste, gemeinste und raffinierteste Form von »künstlerischem« Anti­ semitismus, der mir je vor Augen gekommen ist - sage ich mehr als sechs Jahrzehnte danach. Großartige Schauspieler, Publikumslieblinge - Heinrich George, Lil Dagover, Eugen Klöpfer, Ferdinand Marian, Werner Krauß (dieser in sechs Rollen!). Angelangt an der Szene, in der die Tochter des Landschaftskonsulenten Sturm, Do­ rothea (Kristina Söderbaum, Harlans Frau), durch die Folterung ihres Ehemannes und Kanzleischreibers Faber (Malte Jäger) Jud Süß’ Gelüsten gefügig gemacht werden sollte und dann auch wur158

de (was die »Reichswasserleiche« in den Freitod trieb) - an dieser Stelle ging ein Stöhnen der Wut und der Abscheu durch die Kino­ reihen, eine offenbar ununterdrückbare Gefühlsäußerung, die von der starken Wirkung des Films zeugte. Und der Lüge, nicht nur, was diese Szene betrifft. Denn Veit Harlan hat nicht den geschichtlichen Joseph Süß Oppenheimer (1692-1738) porträtiert, Finanzrat des Herzogs von Württem­ berg, leiblicher Sohn des Freiherrn von Heydersdorff und der Tochter eines jüdischen Kantors (nach der NS-Rassenarithmetik also eigentlich ein jüdischer Mischling ersten Grades). Veit Har­ lan ist nicht in die seriösen Fußstapfen der Wilhelm Hauffschen Novelle »Jud Süß« von 1827 und auch nicht in die des gleichna­ migen Romans von Lion Feuchtwanger hundert Jahre später ge­ treten. Veit Harlan hat aus dem tragischen Stoff eines nicht ohne eigenes Zutun Gescheiterten vielmehr seine eigene, ahistorische, der NS-Propaganda professionell auf den Leib geschneiderte und ihr mundgerecht servierte Figur zusammengeschmuddelt, ein ab­ stoßendes Geschöpf, das allen traditionellen Ressentiments eines durch die NS-Medien seit Jahren ununterbrochen angefachten Antisemitismus weit entgegenkam. Als nach dem Abspann das Licht anging, herrschte denn auch große Stille - als wären die Zuschauer gelähmt. Die Luft war schwer, die mörderische Wirkung des Films überwältigend prä­ sent. So präsent, daß ich glaubte, mich nicht erheben zu können, ohne erkannt zu werden. In jenen fürchterlichen Minuten schob sich plötzlich in mein Bewußtsein etwas von der Kluft, die sich in den vergangenen sieben Jahren Zentimeter um Zentimeter zwi­ schen der Umwelt und mir aufgetan hatte - eine ebenso unheimli­ che wie in sich trotzige Erkenntnis. Doch nun geschah etwas Seltsames. Der Weg vom »EuropaPalast« nach Hause war für uns beide kurz, keine zehn Minuten. Und doch schien er mir endlos zu sein. Denn von Fietes Seite kam kein Wort. Stumm brütend ging er neben mir. Dann, beim Abschied vor der Haustür, blieb er lange stehen, ehe er langsam sagte: »Irgend etwas muß doch dran sein.« Und noch einmal, grüblerisch: »Irgend etwas muß doch dran sein.« Dann gab er mir die Hand, wie immer, und umarmte mich beim »Tschüss«, wie immer. Ich aber stand wie vom Donner gerührt da, lange noch,

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nachdem er im Treppenhaus verschwunden war. Es dauerte, bis ich mich über die Drögestraße in die Hufnerstraße aufmachte. Diese Nacht blieb ich wach. »Irgend etwas muß doch dran sein.« Das hatte nicht irgendeiner, das hatte mein Busen-, mein Lieb­ lings-, mein bester Freund gesagt - Fiete. Und wieder, dies das eigentlich Grauenhafte, hatte sich der alte Mechanismus gezeigt: Meine jüdische Mutter und ich, ihr Sohn, wir waren in diesen Ausspruch überhaupt nicht einbegriffen! Wir waren die »guten Juden«, die, die man kannte und mit denen man konnte; waren diejenigen, die sich ausgenommen sahen von diesem »Irgend etwas muß doch dran sein«: daß nämlich Juden immer, durch die ganze Geschichte hindurch, verfolgt wurden, weil sie allen verhaßt sind, geldgierig, verschwörerisch, undurch­ sichtig, fremd ... Und das waren die Giordanos, nach all seiner Kenntnis, doch nicht. Dieser schizophrenen Aufspaltung von Sympathien und Anti­ pathien gegenüber den »eigenen« und »den anderen Juden« war ich in den letzten Jahren immer wieder begegnet. Und gerade, weil die Teilung so selbstverständlich war, hatte ich sie hingenom­ men wie ein Naturereignis. Daß aber auch jemand wie Fiete sie machte - die Erkenntnis war ein Schock für mich. Dabei konnte überhaupt keine Rede davon sein, daß er das war, was man mit Fug und Recht einen Judenfeind hätte nennen können - er wäre darüber höchst auf­ gebracht gewesen. Dennoch lebten gewisse Stereotypen auch in ihm. Und so änderte sich an seinem Verhalten mir gegenüber nichts, nicht das mindeste. Ihm war ja gar nicht bewußt, was in mir vor­ ging. Unsere Freundschaft ist dadurch übrigens nicht zerstört worden, und ich bin froh darüber. Denn schließlich werden sich, wie wir sehen werden, die Dinge zum Guten wenden. Es wird allerdings dauern, bis der dunkle Punkt wieder hervor­ geholt werden und »Jud Süß« erneut Schlagzeilen machen wird im Hamburger Prozeß gegen Veit Harlan, zehn Jahre später und unter völlig anderen Bedingungen also. Jetzt aber, 1940, hatte ich Fiete eine der schicksalhaftesten Be­ gegnungen meines Lebens zu verdanken. 160

X. Damals war das Cafe König gegenüber dem Barmbeker Bahnhof noch der Treffpunkt von jungen Leuten, die nicht nur äußerlich durch Haarlänge und Kleidung in Gegensatz zum staatlich er­ wünschten Jugendbild standen, sondern die dieser Haltung auch durch eine Vorliebe zu angloamerikanischer Musik geradezu verzückt Ausdruck gaben. Sie kannten jede Melodie von Louis Armstrong, Nat Gonella oder Duke Ellington, Cole Porter, san­ gen begeistert die englischsprachigen Texte von »Some of these days«, »Begin the beguine«, »Jeepers screepers« oder »I can’t give you anything but love« mit, in der Aussprache zwar nicht immer einwandfrei, aber voller Enthusiasmus. Endgültig außer sich aber gerieten sie, wenn die ebenfalls sehr junge band zum Höhepunkt des Programms kam - dem Tiger Rag. Gemessen am Rock and Roll und Heavy Metal unserer Tage eher ein Wiegenlied, war die­ ser Schlager das äußerste an musikalischer Ekstase, was die Zeit hergab. Deshalb war dann auch kein Halten mehr, Tische und Stühle wurden erklommen und Cafe König der Schauplatz einer frenetischen Gemeinschaft, die ganz offensichtlich wenig Nei­ gungen hatte für Marschmusik, Fahnen und militärischen Drill: »Where's the tiger, where’s the tiger ...«, scholl es bis weit hinaus auf die Fuhlsbüttlerstraße. Und je näher die Gewißheit kam, daß die männlichen Mitglieder dieser Jahrgänge bald schon in Uni­ form gesteckt würden, desto inbrünstiger wurde den Rhythmen gehuldigt, die da aus dem feindlichen England und dem noch nicht im Krieg gegen Deutschland befindlichen Amerika herüber­ drangen. Natürlich war die feurige Begeisterung für so Undeutsches der Obrigkeit nicht verborgen geblieben, waren Verbände der Hitlerjugend auf die bekennenden Anhänger der Swing-Musik losgelassen worden, war es zu Schlägereien und Verhaftungen ge­ kommen, hatte sich, wie in anderen Teilen Hamburgs, auch die Gestapo mit schlimmen Folgen für einzelne eingeschaltet - zu einem Verbot war es indessen nicht gekommen. Und so wurde dann das ekstatische Treiben einer schon in naher Zukunft als Kanonenfutter schwer dezimierten Jugend in der Sylvesternacht 1940/41 zum absoluten Höhepunkt der Geschichte von Cafe König. Es heißt, die Kapelle habe sich selbst übertroffen und ihre 161

Fans hätten sich sängerisch so beteiligt, daß man meinen konnte, in London oder New York zu sein. All das erfuhr ich von Fiete, der sich angesichts der Vorankün­ digung seines Gestellungsbefehls in das Getümmel gestürzt hatte und dabei, wie er wähnte und nicht müde wurde zu wiederholen, Punkt 24 Uhr auf das »Glück seines Lebens« gestoßen war: einsfünfundsechzig groß, von traumhafter Figur, mit dem Gesicht einer antiken Gemme und vor einundzwanzig Jahren auf den Na­ men Esther getauft, konnte sie von ihrem Eroberer durchaus be­ rechtigt »eine Laune der Natur« genannt werden. Die Übereinstimmung beider war groß, ihre Erfüllung noch zur gleichen Stunde hinter dem Rundbunker gegenüber dem Barmbeker Bahnhof vollzogen und der Rest der Nacht in völli­ ger Harmonie verbracht in Esthers elterlicher Wohnung - seitab des Mundsburger Damms, kurz vor Schwanenwik. An nichts anderes denkend, von nichts anderem redend, mein­ te Fiete, es gebe nichts Dringlicheres für mich, als Esther kennen­ zulernen. Allerdings auch ihren Vater, »meinen Schwiegervater, ein ganz ungewöhnlicher Mann, wie du sehen wirst«. Wahrlich.

Es war denn auch nicht die Bekanntschaft mit der Vergötterten meines Freundes, die im Schoße einer noch fünf Jahre entfernten Zukunft zum lebensentscheidenden Ereignis werden sollte, son­ dern die Begegnung mit ihrem Vater. Er wird für mich aus der Situation heraus keinen Vor- und Familiennamen haben, sondern stets nur der »Klempner« genannt werden - eine Anrede, die ich auch in diesem Buch beibehalten werde. Das erste, was ich von ihm wahrnahm, war ein versteifter rech­ ter Arm, der mich sofort an den jungen Sozialdemokraten in un­ serem Haus erinnerte, der zerbrochen aus der Haft im Konzentra­ tionslager Hamburg-Fuhlsbüttel (»Kolafu«) zurückgekehrt war. So bekam ich zur Begrüßung die Linke. Der Klempner war viel älter als der verstummte Nachbar, an die Sechzig, schätzte ich, von kräftiger Gedrungenheit, kantig geschnittenem Gesicht und Augen, die einen einfingen und nicht wieder losließen. Von Fiete als »großer Schweiger« angekündigt, wartete ich, bis er das Wort ergriff: »Er hat mir von euch erzählt.« Das war zunächst einmal alles, danach Schweigen. Dann eine kurze Bewegung mit dem 162

rechten Arm hin zum linken und der Kommentar: »Gestapo, Kolafu - März 1933 bis September 34.« Wieder Schweigen. Ich wartete, wie in einem Schraubstock gefangen. Dann schau­ te er auf die Uhr, sagte: »Gleich ist es soweit« und drückte auf den Knopf eines Radios vor ihm: »Bum-bum-bum-bum«, die Ankün­ digung deutschsprachiger Nachrichten von Radio London - bei schwerer Strafe verboten. Ich weiß nicht mehr, ob dann Lindley Fraser, Peter Peterson oder Miss Ogilvy Gibson gesprochen haben, war mir aber be­ wußt, was sich unglaublicherweise hier in wenigen Minuten ereig­ net hatte - eine Initiation. Wenn damals so etwas wie der deutsche Blick existierte, also die Abtastung, ob das Gegenüber einem gefährlich werden konn­ te, so gab es auch das Gegenteil, ebendas, was sich hier zwischen dem Klempner und mir ohne jede persönliche Vorverständigung abgespielt hatte: die Gewißheit einer Bundesgenossenschaft durch gemeinsame Erzfeindschaft. Es war wie eine »Einweihung«, der rituelle Eintritt in eine Be­ ziehung, wie sie nur hoher Druck gebären kann. Da genügen wenige Worte. Sie waren gleich nach dem Reichstagsbrand vom Februar 1933 zu dem ortsbekannten Roten gekommen, hatten nach Material gesucht, dabei die Wohnung auf den Kopf gestellt, aber nicht ge­ funden, was ihn den Kopf gekostet hätte: »Die Pistole.« Sie klopf­ ten jeden Winkel ab, kehrten das Oberste zuunterst, rissen sogar Dielen auf. »Nur hier suchten sie nicht«, er zog einen Stuhl un­ ter dem Tisch hervor. »Darauf lag die Waffe - das überhängende Tischtuch hat mich gerettet.« Wetterleuchten in dem gegerbten Gesicht. Beim Abschied fragte ich: »Hast du die Pistole noch?« Nicken. So endete unsere erste Zusammenkunft. Das eine Jahr auf der Höheren Handelsschule war im März 1941 abgeschlossen - mit bravourösen Zeugnissen, darunter einer Eins in Spanisch, Englisch und Stenographie (das ich nie benut­ zen werde, das mir aber samt Kürzeln durch inneres Mitsteno­ graphieren von Gesagtem bis heute geläufig geblieben ist); dem demonstrativ persönlichen Abschied des Direktors, der mir so

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manches Zeichen seiner Sympathien gegeben hatte, und mit mei­ ner Unfähigkeit, zehnfingrig auf der Maschine blind zu schreiben (geht es doch auch mit weniger fast ebenso schnell). Die Materie, der Lehrstoff, das Soll und Haben des Kaufmän­ nischen, blieben mir zwar fremd und fern, aber nach dem Johan­ neum fiel mir die Schule einfach leicht. Ich habe sie und die Mit­ schüler in guter Erinnerung, ohne jeden Mißton, obwohl alle wußten, daß ich unter die Nürnberger Rassengesetze fiel. Nun galt es, eine Lehrstelle zu finden. So schrieb ich denn Bewerbung um Bewerbung, immer mit der Angabe, daß der Absender jüdischer Mischlings ersten Grades sei, was mir einundzwanzig Absagen in Form von Nichtbeantwor­ tung einbrachte. Erst der zweiundzwanzigsten Anfrage folgte eine Zusage. Der Absender: Firma Dobbertin & Co., Kattrepel 2, Eisen- und Stahlexport. Lehrzeit drei Jahre, mit einem monat­ lichen Salär von zwanzig Reichsmark im ersten, dreißig im zwei­ ten und vierzig im dritten Lehrjahr. So ließ ich mich denn mit dem Paternoster werktags allmor­ gendlich um neun Uhr in den vierten Stock des Bürohauses tra­ gen, holte aus Stahlschränken wahre Berge von Akten und Ord­ nern, die am Abend zuvor dort wegen des Luftkriegs verstaut worden waren, und schrieb mit zahlreichen, farblich unterschie­ denen Kopien Rechnungen über Rund-, Flach- und Stabeisen fob Galatha-Istanbul oder cif Teheran aus. Die einst auch außereuropäischen Verbindungen der Firma wa­ ren zu dieser Zeit durch die Kriegsläufte auf die Türkei und den Iran beschränkt, ein Radius, der noch zusätzlich schrumpfte, da einige Wochen nach meinem Antritt sowjetische und britische Truppen das Reich des achsenfreundlichen Schahs von Persien besetzten. Das traf vor allem den Prokuristen der Abteilung Orient, ei­ nen Mann mit dem Parteiabzeichen der NSDAP am Revers, nebst Auszeichnungen aus dem Ersten und dem Zweiten Welt­ krieg. Im Juni 1940 im Frankreichfeldzug verletzt, wurde er nicht müde, zu bedauern, wie sehr ihn die Rückkehr ins unheroische Zivilleben kränkte und was er dem Feind persönlich am übelsten nahm - eben den Heimatschuß an der Marne. Weiteren, stereo­ typ wiederholten Bekundungen nach trösteten ihn darüber je­ doch die soeben errungenen deutschen Siege über Jugoslawien

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und Griechenland, wie überhaupt die Zuversicht, daß »niemand der deutschen Wehrmacht gewachsen« sei. Das stieß auf den untergründigen Widerspruch des Prokuri­ sten Inland-Wartegau, Vater zweier Söhne im Felde, kleingewach­ sen, mit grauem Schnurrbart und sichtlich entzückt, kraft seiner verschlüsselt negativen Kriegsprognosen den Prokuristen der Ab­ teilung Orient so zu reizen, bis der entnervt aufschrie: »Mensch, Mann, halten Sie Abstand - Ihr Gebiß stinkt.« An brauner Gesinnung übertroffen wurde der Prokurist Ori­ ent aber noch durch seine Sekretärin, die, jung, blond, ganz Ab­ bild des erwünschten nordischen Frauentypus, abgetrennt hinter Glas vor ihrer Maschine saß und mit Überlegungen zum zeitge­ nössischen Geschehen nicht sparte. Ihnen war zu entnehmen, daß sie ein enormes Vertrauen in die Zielsicherheit britischer Bomberpiloten haben mußte, suchten ihrer Meinung nach die »Luftpiraten der Royal Air Force« doch bei den Nachtangriffen auf deutsche Städte immer wieder exakt Kirchen, Schulen und Krankenhäuser als Objekte ihrer Zerstörungsgier aus. Daneben ließ sie keinen Zweifel daran, daß sie mehr als den »Führer« nur noch ihren »Verlobten im Felde« anbetete, nach willig herumge­ reichten Photographien ausgewiesen als Prototyp des nordischen Mannes, dazu in der Uniform der SS - »ein schmuckes Paar«, wie sie selbst zu äußern beliebte. Aber wie dem Prokuristen Orient, so erwuchs auch ihr ein Wi­ derpart - aus der Buchhaltung ein Stockwerk höher, ein storch­ ähnlicher Mensch, der regelmäßig hinabstieg, um ihr, wenn auch höchst sibyllinisch, Paroli zu bieten. Zwar, so der Storchähnliche, wolle er die Verdienste Adolf Hitlers in keiner Weise schmälern, nur solle man doch bedenken, daß möglicherweise noch ganz andere Kräfte die Weltgeschichte lenkten, sozusagen kryptisch. Nein, an das Beispiel des internationalen Judentums denke er dabei weniger als an das des Dalai Lama vom Potala im tibetani­ schen Lhasa aus. Und wenn die Blonde dann, im Widerstreit, ob sie hier auf­ gezogen werde oder der Kollege tatsächlich an das glaubte, was er da von sich gab, unwillig abwinkend das Gesicht verzog, ent­ fernte sich der Mann aus der Buchhaltung rückwärtsgehend mit kratzfußartigen Verbeugungen. Ich war dem Prokuristen für Importe von Eisenerz aus

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Skandinavien zugeteilt worden, einem gepflegten Mann zwischen vierzig und fünfzig, dessen Kommentare zu den Überzeugungen des Prokuristen Orient und der blonden Sekretärin keinen Zwei­ fel an seiner gegnerischen Position ließen. Mit dem inzwischen gewonnenen Instinkt für Halbgesagtes, erkannte ich binnen kur­ zem, daß dieser Mann ein Antinazi war, sowohl aus politischen als auch aus ästhetischen Gründen, und daß er mir erbärmlichem Lehrling wohl auch deshalb höchst nachsichtig gegenübertrat, war ich doch offensichtlich völlig ungeeignet für diesen Beruf. »Schon wieder bei der Faktura die rosa Kopie vergessen, die wichtigste von allen«, knurrte er mich dann hörbar an, während er mir mit einem Auge zuzwinkerte. Die einzige, wirklich persönliche Beziehung aber hatte ich nur zu dem alten Boten in der Postabteilung, einem Faktotum von fünfundsechzig, das seit zwanzig Jahren in einer türlosen Klau­ se des Bürokomplexes die ausgehenden Briefe frankierte - was jedoch nur eine der zahlreichen Beschäftigungen war, die er für seinen »Herrn und Meister«, wie er den Firmenchef titulierte, zu verrichten hatte. Sonst mußte er als Mädchen für alles tun, was ihm aufgetragen wurde: die Koffer des Chefs zur Bahn bringen oder von dort abholen, oft auch das Gepäck, selbst das schwer­ ste, bis in das Domizil in Reinbek schleppen (»Ich sage dir: ein Schloß, großkotzig wie kein zweites Anwesen drum herum«); vergessene Akten dorthin bringen, aber auch in der Firma lie­ gengelassene Regenschirme. »Mit mir altem Hund kann man’s ja machen, kann den Gecken und Oberbefehlshaber herauskehren, und das, Junge, ohne einen Pfennig mehr Lohn, glaub mir, ohne einen einzigen Pfennig auch nur.« Im Lauf der Jahre muß sich eine ungeheure Wut in dem alten Boten aufgestaut haben, ein Zorn, dem er zur Gaudi der Ange­ stellten von Zeit zu Zeit verbal Luft machte, und zwar stets dann, wenn das Subjekt seiner Aggressionen im schalldichten Chefzim­ mer Geschäftsgespräche führte, die ihn nach allen Erfahrungen dort längere Zeit festhielten. Dann legte der alte Bote sprachmächtig los, trumpfte auf mit Verbalinjurien wie »dieser fleischgewordene Kapitalismus« oder Anschuldigungen wie »Mogul«, »Blutsauger« oder gar »Men­ schenfresser«, und das in immer krächzenderer Verbitterung. Da aber ein gewisses Restrisiko blieb, daß der gewohnte 166

Ablauf verkürzt oder unterbrochen, der Geschmähte also den­ noch Zeuge der Schmähungen werden könnte, eigentlicher Kitzel der heimlichen Zuhörerschaft, kam der alte Bote während sei­ ner Schimpfkanonade immer wieder aus der Klause heraus, um vorsorglich auf den Flur zu spähen, von dem das Chefzimmer abging. Und wirklich, sich vorzustellen, daß er dabei tatsächlich ein­ mal in flagranti ertappt würde, war furchterregend. So furchterregend wie der Anblick des Eigentümers, der sofort verständlich machte, warum er von der »Gefolgschaft« heimlich »die Fresse« genannt wurde: ein wildes Gesicht, dessen überbrei­ tem Mund nur knurrende Befehle entweichen konnten, ein wah­ rer Zyklop, alles Volk um Haupteslänge überragend und von herrischer Unnahbarkeit. Lehrlinge gar wurden von der Fresse, wenn überhaupt, nur andeutungsweise wahrgenommen. Und so war denn auch die Einstellung der drei »Neuen«, darunter ich, sang- und klanglos ohne jede Vorstellung vonstatten gegangen. Eines Tages im Juni jedoch wurde ich ins Allerheiligste beor­ dert, wo mir die Fresse übergangslos eröffnete, ich müsse mich zu einer anderen Frisur bequemen, also die lange, dichte Mähne, die »schwere schwarze Wolle« ausdünnen, kurz, die Frisur um­ formen, denn die entspreche nicht der Zeit. Dies sei kein Haus der Auftritte, sondern des Kommerzes, und das sei von jedem, auch von mir, zu respektieren. Frist: eine Woche. Sprach es und winkte mich weg. Hier war etwas angesprochen, was damals lächerlicherweise unter den Begriff »Weltanschauung« fiel. Erwünscht, nein, gefordert war der militärisch kurze »Streich­ holzschnitt« als männliche Standardfrisur, alles andere galt als gefährliches Bekenntnis zu Dekadenz und so undeutschem Ver­ halten wie Sympathien für angloamerikanischen Jazz, Swing und andere Niggermusik. Wie sehr diese Forderung mit der Volksmeinung überein­ stimmte, hatte ich seit Jahren am eigenen Leib zu spüren be­ kommen. Wegen meiner Haare war ich öffentlich beschimpft, bespuckt, auch tätlich angegriffen worden, in immer neuen Va­ riationen, aber aus dem gleichen Motiv. Dennoch hielt ich an mei­ ner Frisur fest, ließ sie nicht kürzen und die Angriffe über mich ergehen. Und das keineswegs nur aus narzißtischen Gründen, 167

weil sie mich besser kleidete, sondern weil die Beharrung darauf innerlich zu so etwas wie einer Sache auf Leben und Tod gewor­ den war. Es war wie ein Schwur: Nur gewaltsam könnte ich mei­ ner »schweren schwarzen Wolle« beraubt werden. Eine Haltung, die nun abermals einer Prüfung unterzogen wurde. So wenige Wochen ich hier war, so klar war mir, daß der Be­ fehl aus dem Chefzimmer keinen braunen Anstrich hatte - das paßte nicht in das Bild eines Hochmuts, der sich gewöhnlichen Ansichten verschloß. Vielmehr lautete die Botschaft: Dich haben sie im Visier, aber ich habe dich trotzdem eingestellt. Tu das Dei­ ne, die eigene Lage durch einen äußeren Gegensatz nicht zu ver­ schärfen. Ich hatte durchaus begriffen, was sich hier hinter der Schroff­ heit tat, ja, empfand Dankbarkeit dafür. Entsprechen konnte ich der Anweisung dennoch nicht - nach einer Woche hatte sich auf meinem Kopf nichts verändert. Was am Morgen nach Ende der gesetzten Frist, einem Montag, bei ei­ ner zufälligen Begegnung mit der Fresse zwar unübersehbar war, aber folgenlos blieb. Es hätte allerdings auch Verständigungsschwierigkeiten gege­ ben, denn gerade war der Orient-Prokurist dabei, durch die Bü­ roräume zu toben und zu brüllen: Der widernatürliche Pakt mit den Roten sei beendet, jetzt gehe es dem Bolschewistengesindel an den Kragen, werde Stalin endlich am Schlafittchen gepackt und ihm der Garaus gemacht, um dann geifernd zu enden: »Ist doch niemand, niemand auf der Welt unseren Soldaten gewachsen!« Am Tag vorher, dem 22. Juni 1941, war die Wehrmacht ohne Kriegserklärung in die Sowjetunion eingefallen.

XI. Mein älterer Bruder und ich würden nicht zu den Soldaten kom­ men. Egon gemustert im Sommer 1940, ich am Anfang 1941, hatten wir zwar einen Wehrpaß bekommen, aber mit der Eintragung »n. z. v.« (»nicht zu verwenden«). Manch jüdischer Mischling ersten Grades war zwar zu Anfang

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des Krieges noch eingezogen, inzwischen aber die ganze Gattung für »wehrunwürdig« erklärt worden. Das galt auch für Gerhard, der den gleichen Vermerk wie wir im Wehrpaß trug, während sein Bruder Siegfried gar nicht erst gemustert worden war - beschnitten und Mitglied der Jüdischen Gemeinde Hamburg, galt er als Volljude. Das heißt: Obwohl von denselben Eltern abstammend, dem arischen Vater und der jüdi­ schen Mutter, ordneten die Nürnberger Rassengesetze die Brü­ der verschiedenen Kategorien zu. Ursache für eine Tragödie in naher Zukunft. In letzter Zeit waren die Brüder häufiger als sonst vom Osterbekkanal zu uns gekommen, nachdem der Glasbläser und seine Frau rasch nacheinander gestorben waren. Gerhards Lächeln war noch verlegener als sonst, der Pessimismus von Siegfried noch brütender. Und während der eine zaghaft fragte: »Ist ein Wehrpaß, wenn auch zweiter Klasse, nicht vielleicht doch ein Schutz?«, sagte der andere, tonlos: »Die Arier fallen an den Fron­ ten zuhauf für »Führers Volk und Vaterland. Ausgerechnet für uns Nichtarier soll ein frontferner Naturschutzpark errichtet wer­ den?« Womit Siegfried einen Gedanken aussprach, der mir schon oft gekommen war. Dann fügte er hinzu: »Das kann, jedenfalls für meine Spezies, nicht gutgehen - sie sprechen bereits von Deportation.« Nach meiner Erinnerung fiel hier das Wort in unserm Kreis zum erstenmal. Danach gab es, mir unvergeßlich, eine rührende Geste: Ger­ hard, der jüdische Mischling ersten Grades, nahm die Hand seines beschnittenen und als Volljude eingestuften Bruders, führte sie an seine Wange und sagte unter Tränen: »Kommt schon nicht so schlimm, kommt schon nicht so schlimm.« Vierzehn Tage später trafen beide mit völlig verstörten Mienen bei uns ein. Siegfried hielt ein Formular hoch: »Von der Gestapo - eine Erfassungsliste. Ich muß darauf alles angeben, was ich habe, jede Form von Eigentum, Geld, Wertsachen, alles, bis auf den letz­ ten Bleistift. Wozu?« Seine Hand zitterte so, daß ihr das Blatt zu entfallen drohte. Dann sagte er, mit einer Stimme, aus der jede Hoffnung entschwunden war: »Das ist der Anfang - vom Ende.« 169

Ich sehe bei diesen Worten das Gesicht meiner Mutter, und ich sehe es, an die achthundert Monate später, noch heute vor mir. Im Lauf des Sommers 1941 hatte ich mir angewöhnt, mich in der Mittagspause vom Hause des Kommerzes am Kattrepel 2 auf den kurzen Weg in die Mönckebergstraße zu machen, hin zum Karstadt-Gebäude, wo hinter einer der großen Schaufen­ sterscheiben auf einer riesigen Karte der stürmische Vormarsch der deutschen Armeen an der Ostfront mit Fähnchen markiert wurde. Inzwischen weit, weit hinaus über die Ausgangslinie vom 22. Juni, stürmten die Einheiten der Wehrmacht zwischen Ost­ see und Schwarzem Meer einem offenbar unaufhaltsamen Sieg über ein marodes Land und seine marode Armee entgegen; lie­ ßen Millionen Gefangene und Namen wie Riga, Wilna, Minsk, Kiew hinter sich und stießen auf Smolensk und Leningrad zu, gen Osten, immer gen Osten. Eine gigantische Kriegsmaschine, alles niederwalzend, was sich ihr entgegenstellte, und das mit eindeutiger Stoßrichtung auf das Herz des Feindes, auf seine Me­ tropole und Zentrale Moskau - ein entfesseltes Schlachtenpano­ rama. Entsprechend fielen dann auch die Reaktionen der Menge aus, die sich traubenförmig davor zu ballen pflegte: »Die sind geschla­ gen, für immer« - »durch bis Wladiwostok« - »mit Mann und Roß und Wagen hat Adolf sie geschlagen« - »Weihnachten im Ural« - und ähnliches in diesem Stil. Sollte es darunter nachdenk­ liche Gemüter, kritische Stimmen gegeben haben, ich habe von ihnen nichts vernommen. Wohl aber die meine, von ganz tief, von ganz unten her - und die sagte: »Stürmt und siegt, soviel ihr wollt, es wird alles nichts nützen. Diesen Krieg wird Deutschland verlieren, mit Mann und Roß und Panzer. Es wird klein werden und stumpf und nicht verstehen, warum. Bis dahin wird es dauern, und ob wir es erleben werden, ist ungewiß. Aber den von ihm angezettelten Krieg wird dieses Deutschland verlieren.« So sprach ich zu mir selbst, als ich in der Mönckebergstraße vor der Karte mit dem von Tag zu Tag wechselnden fähnchen­ abgesteckten Verlauf der Ostfront stand, und das in striktem Ge­ gensatz zu dem, was ich da vor mir sah und was stündlich über

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Sondermeldungen des Oberkommandos der Wehrmacht in die Welt hinausposaunt wurde. Diesem unerschütterlichen Glauben an den Untergang des Bö­ sen zu einer Zeit, als es unbesiegbar schien, lag nicht etwa eine prophetische Gabe meinerseits zugrunde; er war in keiner Weise getragen von der Vorstellung, daß diese Gegner, unsere Bundes­ genossen und potentiellen Befreier, bald mehr Panzer, mehr Flug­ zeuge, Kriegsschiffe und Bomben haben würden. Und mit dem Verlauf der Weltgeschichte bis zu diesem Sommer 1941 konnte der unerschütterliche Glaube ohnehin und erst recht nicht erklärt werden. Worauf er fußte, war vielmehr meine parametaphysische Unfä­ higkeit, sich den Sieg des Bösen über das Gute vorstellen zu kön­ nen, also auf der höchst irrationalen Gewißheit, daß der Starke von heute der Schwache von morgen, der Schwache von heute aber der Starke von morgen sein würde, weil nur so die Welt ge­ rettet werden konnte. Mit solchen hoch- und landesverräterischen Gedanken schritt ich denn wie unter einer Tarnkappe zurück in das Haus des Kommerzes am Kattrepel 2, ganz sicher in der Deutung der Zu­ kunft. Nur ungewisser denn je, ob die Meinen und ich sie erleben würden.

Mitte Oktober bekamen wir unerwarteten Besuch - von der rus­ sischen Jüdin. Vor uns stand eine etwa fünfzigjährige Frau, bäuerlicher Typ, an der Seite eines städtisch wirkenden Mannes, die völlig außer sich in einem Deutsch mit stark fremdländischem Akzent auf uns einredete, in die Wohnung drang und meiner Mutter um den Hals fiel. Obwohl sie ganz in der Nähe wohnten, waren wir beiden bisher nicht persönlich begegnet, hatten aber in der Buschtrom­ melatmosphäre jener Zeit Vages über sie gehört: daß da am Wie­ sendamm eine Jüdin aus Rußland lebe, die seit langem verheiratet sei mit einem arischen Deutschen - nach der Rassenarithmetik der Zeit also eine Mischehe, aber kinderlos. Andere Kenntnisse hatten wir nicht. Jetzt aber, als die Frau meiner Mutter weinend am Halse hing, 171

ein erschreckend elementarer Ausbruch, war es, als würde sie uns schon lange kennen. Als sie endlich abließ, behielt sie doch eine Hand in den ihren. Der innere Aufruhr war so stark, daß es einige Zeit dauerte, bis wir den Inhalt ihrer ohnehin in gebrochenem Deutsch hervorge­ stoßenen Sätze begriffen und klarwurde, was die russische Jüdin uns da mitteilen wollte: daß in der besetzten Sowjetunion Juden zu Tausenden und Abertausenden von eigens dazu aufgestellten Kommandos ermordet würden, und das überall, wohin die Deut­ schen kämen. Dabei wurde sie immer wieder von ihrem eigenen Schluchzen unterbrochen, stockte manchmal wie in Trance und fuhr dann fort, nun auch die andere Hand meiner Mutter in den ihren: Bei Kiew, von wo sie käme, sollen in wenigen Tagen Zehntausende von Juden in eine Schlucht getrieben und dort systematisch nie­ dergemäht worden sein, Menschen jeden Alters, Frauen, Kinder, Männer, der Reihe nach, Tag und Nacht - »Zehntausende«. Dann brach sie nach vorn in die Knie, legte den Kopf in den Schoß meiner Mutter und wimmerte leise vor sich hin. Ihr Mann, der bisher kein Wort gesagt hatte, trat neben sie und strich ihr über die Haare. Dann hob er seine Frau auf, führte sie unter beschwichtigen­ den Worten, die auch uns galten, zur Haustür und verschwand mit ihr im Treppenhaus. Es war wie ein Spuk. Woher hatte sie die Nachricht? Natürlich wußte ich damals nichts von den vier Einsatzgrup­ pen A, B, C und D, deren mobile Mordkommandos keinen ande­ ren Zweck hatten, als an und hinter der deutschen Front Juden zu töten, eine Aufgabe, von deren Erfüllung sie in ihren »Ereig­ nismeldungen« an das Reichssicherheitshauptamt, Zentrale des sich nun kräftig entwickelnden Vernichtungsapparats, präzise berichteten. Dokumente, die ich später für Bücher von mir ein­ sehen konnte, mit genauen Angaben, wo, wann, von welcher Ein­ heit und wie zwischen Riga und der Krim Juden innerhalb eines Jahres nach dem Überfall auf die Sowjetunion umgebracht wor­ den sind, etwa eine Million. Ebensowenig wußte ich damals, daß es sich bei dem konkreten Fall, den die russische Jüdin genannt hatte - »bei Kiew, Zehntau­ sende« -, offensichtlich um das heute in aller Welt bekannte Scp-

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tember-Massaker 1941 in der Schlucht von Babi Jar gehandelt hat, wo mit logistischer Hilfe der Wehrmacht das Sonderkommando 4a der Einsatzgruppe C sowie Angehörige von SS und Polizei in­ nerhalb von drei Tagen über 33 000 Juden umgebracht hatten. Noch ohne konkrete Kenntnisse der historischen Tatsachen, zweifelte ich doch keinen Augenblick an der Wahrheit dessen, was uns da eben unter gespenstischen Umständen mitgeteilt worden war. Ständiger Hörer der deutschsprachigen Sendungen der BBC, hatte es darin Andeutungen gegeben, die dem Unausdenkbaren nun so etwas wie den Stempel der Wirklichkeit aufprägten. Zu dieser Zeit, Herbst 1941, stand die Errichtung der stationä­ ren Todesfabriken auf polnischem Boden noch bevor, die Vernich­ tung der europäischen Juden in großem Stil aber hatte begonnen. Zusammenhänge, die ich erst später begriff. Ich hatte mich nie in falscher Sicherheit gewiegt, sondern war seit längerem der Überzeugung, daß in der Planung das Schick­ sal der sogenannten Mischehen dem der Volljuden ähneln wür­ de - nur später. Wie recht ich damit hatte, wie sehr das dann für uns zu einem Wettlauf zwischen der Endlösung der Judenfrage und dem Endsieg der Alliierten werden sollte, das war mir da­ mals noch verschlossen. In der familiären Verfolgungsgeschichte jedenfalls markierte der Tag mit der russischen Jüdin eine weitere Verdichtung - erst mit ihm wurde die Furcht vor dem jederzeit möglichen Gewalt­ tod zur vollständigen Wirklichkeit. Aus der Ahnung war Gewiß­ heit geworden. Woher die Frau ihre Kenntnisse hatte, blieb ein Geheimnis. Als ich das Ehepaar einige Tage nach dem raschen Abschied am Wiesendamm aufsuchen und danach befragen wollte, stellte sich heraus, daß es mit unbekannter Adresse verzogen war. Die erste Deportation Hamburger Juden fand am 25. Oktober 1941 statt. Siegfried war nicht dabei. Zwölf Tage vorher, am 13. Oktober, war mein Bruder Egon der Gelehrtenschule des Johanneums verwiesen worden, mit der Be­ gründung: Es habe sich in seiner Tasche das Buch eines Mitschü­ lers angefunden, »ein klarer Diebstahl«. Sein Protest, es sei ihm in böser Absicht da hineingelegt worden, hatte keinerlei aufschie­

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bende Wirkung. Die Direktive kam vom Schulleiter Dr. Werner Puttfarken selbst und hatte unverzüglich befolgt zu werden. Tatsächlich war es ein Vorwand, um das Johanneum judenfrei zu machen, wie die später aufgefundene Korrespondenz zwischen Schulleitung und Sicherheitsdienst des Reichsführers SS, SD-Leitabschnitt Hamburg, vom Sommer des Jahres bestätigen wird. Nach allem, was ich mitgekriegt habe, schied mein älterer Bru­ der ohne Gram und Erbitterung. Die politische Atmosphäre hat­ te sich zusehends verschlechtert, einige Mitschüler waren offen aggressiv geworden, und auch ein bestandenes Abitur verbesserte die trostlose Perspektive nicht. So war er eher erleichtert und kam alsbald durch den Zufall der Begegnung bei einem Kunstgewerbler unter, der in der Innen­ stadt in einem Kellcratelier wunderbar anzusehende und absolut überflüssige Gebilde aus zartem Material herstellte: Handspiegel und Haarbürsten, Tabletts und Döschen, das alles dekoriert mit Käfern, Schmetterlingen und Faltern. Am schönsten waren die In­ sekten pur, hinter Glas, herrlich in ihren Naturfarben und wie für die Ewigkeit luftdicht abgeschlossen - ein Handwerk, das künstle­ risches Empfinden voraussetzte. Obwohl der Kleinunternehmer, nach der Schilderung des Bruders ein magerer alter Mann mit leuchtenden Augen, der sich immer wieder über die eigenen Schöp­ fungen begeistern konnte, bald zu erkennen hatte, daß eben darin nicht die Stärke des neuen Anlernlings lag, entließ er ihn nicht. Ohne lange zu fragen, wieso der Zwanzigjährige nicht einge­ zogen war, oder überhaupt nach Privatem zu forschen, ließ der Kunstgewerbler meinen Bruder Fenster putzen, die Werkräume säubern, vor allem aber die leicht zerbrechlichen Produkte auslie­ fern an die Kunden, oft bis in die Vororte Hamburgs - Tätigkei­ ten, die keinerlei Kenntnisse der Altsprachen benötigten. Die plötzliche Veränderung auch im Leben des älteren Bru­ ders rief unter uns jedoch keine Verwunderung hervor, sondern entsprach dem Stand der Dinge, wie sie sich bis dahin ergeben hatten. Die Eltern ohne ihren eigentlichen Beruf; die Mutter wachsend bedroht, der jüdisch versippte Vater in einer paramilitärischen Uniform; zwei von den drei Söhnen vor der Matura von der Schule verwiesen und auf unvorhergesehene Weise beschäftigt; der Jüngste, Rocco, inzwischen elf Jahre, zwar noch Schüler der

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Uhlenhorster Realschule Averhoffstraße, aber auch er von vorzei­ tiger Verweisung bedroht - unser Dasein war zu einem jederzeit beendbaren Provisorium geworden. Und das voraussehbar auch weiterhin im Zeichen Hiobs. Dann wieder, trotz allem, Hoffnungen, ferne, hauchdünne Zuversichten - und der Paukenschlag einer atemlähmenden Nach­ richt.

XII. Die Nachricht vom Eintritt der USA in den Krieg gegen die Ach­ senmächte nach dem japanischen Überfall auf Pearl Harbor vom 7. Dezember 1941 kam wie ein Sturmwind über mich. Hatte es schon vorher niemals irgendwelche Zweifel gegeben, wie der große Kampf ausgehen würde, so betrat jetzt die Möglichkeit seiner Abkürzung die Bühne der Geschichte. Damals fegte mir ein Gedanke durchs Hirn, der mich total beherrschte, irrational, ja, kindlich fast, gegen die Zeichen der Zeit, die Deutschland auf dem Höhepunkt seiner Macht sah, und doch von elektrisierender Kraft: Die Armeen der Welt, die Armeen der Welt hatten sich vereint, um uns, die Giordanos, zu befreien, hatten sich vereint einzig zu diesem Zweck und keinem andern, hatten sich auf den langen Weg gemacht, hin zu uns, die in der Falle saßen und auf sie warteten, in der Vorstellung, daß das Unglaubliche, das Unfaß­ bare, die Fata Morgana unseres Lebens wahr werden würde: die Befreiung. Aus dieser Zeit kehrt mir immer wieder auch eine andere Erin­ nerung wie gestochen zurück: Ich stehe vor unserem Haus Hufnerstraße 113 und denke: »Einschlafen, einschlafen und erst wieder aufwachen, wenn alles vorbei ist.« Just in dieser Periode tiefer Finsternis fälle ich eine lebensbe­ stimmende Entscheidung.

Es war in der Nacht vom 5. auf den 6. Januar 1942, nach einer län­ geren Periode des Unwohlseins. Plötzlich war er da, in der Schwärze der Stunde, wie ein grel­ les, augenschmerzendes Licht, ein lautloser, gewaltiger Schlag, I7J

eine stechende Kraft, die mich hochtrieb in die Sitzhocke und so atemlos verharren ließ: Der Entschluß, den Rohstoff des eigenen Lebens zur literarischen Vorlage für einen Roman zu machen die Idee vom Buch! Danach fiel ich zurück, blieb mit offenen Augen liegen und fühlte, wie es in mir hämmerte: »Du hast es, Heureka, endlich hast du es.« Noch ohne jede konkrete Vorstellung, wie das Werk ausfal­ len würde, wußte ich doch, welche Riesenaufgabe ich mir da ge­ rade selbst gestellt hatte und daß mich nur eines hindern könnte, diesen Himalaja mit dem Teelöffel abzutragen - der Tod. Sonst nichts. Die Stunde hatte ihre Vorgeschichte. Obschon seit jeher beseelt von dem Wunsch zu schreiben, hatte es im Lauf der Jahre dazu nur vage Bemühungen gegeben, ohne ernsthaften Druck, spielerisch und suchend, so etwa, das Märchen von Schneewittchen und den sieben Zwergen in Verse zu fassen oder mich in Frühlingsgedichten zu versuchen. Auch widmete ich der Lektüre ungeheuer langweilender Bücher mit Titeln wie »Stu­ dium der Literaturgeschichte« oder »Die Kunst des Schreibens« viel Zeit, ehe ich dann, genervt von soviel Theorie, wüste Phantasie­ bilder aufs Papier warf: »Aus siedender Hitze wuchsen kreisende Orchideen, aus brünstiger Brust die Leckgier geifernder Flamme. Totes Blut schlurfte zur Erde, gierig gesogen von schmählichen Mündern. Kahle Sträucher, eine kalt-schweißige Hitze vom Sand der Erde bis zum Glas des Himmels - und kein Horizont.« Und noch manche solcher Exaltationen. Da gärte, da preßte etwas in mir, wollte raus, fahndete nach ei­ nem konkreten Stoff - und stieß dabei auf das Buch »Schau heim­ wärts, Engel« von Thomas Wolfe. Dieser 1929 in den USA erschienene Erstling des großen ameri­ kanischen Epikers sollte für mein schriftstellerisches Dasein von singulärer Bedeutung werden. Denn wie das Drama der Gant-Pentland-Sippe im hinterwäld­ lerischen Gebirgsort Altamont das ganze Universum der Come­ dia humana widerspiegelt; wie sich in diesem Kaff des US-Staates North Carolina das ganze unermeßliche Amerika einfindet; wie diese unter sich grundverfeindeten Väter, Mütter, Söhne und Töchter, Vettern, Neffen und Nichten dennoch unlösbar mitein­

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ander verbunden sind und wie der Autor den Seelen der Gebirg­ ler bis in die letzten Kapillaren folgt - das war eine Lektüre, die mit der Gewalt eines Naturereignisses in mich einschlug. Und mich sofort die Form finden ließ, die auch mein Buch haben soll­ te: die eines autobiographischen Familienromans. Mir war damals die Ausgabe der Berliner Deutschen Buch-Ge­ meinschaft in die Hände gefallen, und ich habe mich seither oft gefragt, warum »Schau heimwärts, Engel« im Deutschland der späten dreißiger Jahre erscheinen konnte. Offensichtlich wurde von der drastischen Schilderung des Sippendramas eine negative Leserreaktion auf »amerikanische Verhältnisse« erhofft, ohne daß die rohe Blindheit der Zensur auch nur die geringste Ahnung von der Humanitas des Werkes hatte. Ich jedenfalls wurde sofort gesund. Und machte mich auf die Jagd nach der Familiengeschichte, zunächst bei Großmutter Emma, dann bei Großmutter Selma Forschungen in den Annalen des väterlichen und mütterlichen Zweigs. Dazu kamen aber auch zahlreiche Ereignisse aus dem ei­ genen Leben, von der Kindheit bis in die Gegenwart. Den Teil ab 1933 jedoch unter Auslassung aller Aufzeichnungen, die mir im Fall einer Beschlagnahme hätten gefährlich werden können. In Kürze schwoll das Gesammelte zu einem Konvolut an, das in einer Mappe mit der Aufschrift Manuskripte geordnet und im­ mer wieder für ergänzende Einfügungen hervorgeholt wurde. Diese Mappe, das Fundament des Buches, sollte mich künftig überallhin begleiten, also auch in den Luftschutzkeller. Der wurde inzwischen von uns bei jedem Alarm aufgesucht. Es waren Bomben gefallen, vorbei die alte Sorglosigkeit, der Luftkrieg hatte ein anderes Gesicht bekommen. Was das bedeutete, bekam Hamburg in der Nacht vom 26. auf den 27. Juli 1942 zu spüren. Das Orgeln der niedersausenden Bomben, das flackernde Licht, die Stöße der Explosionen, wieder und wieder, über zwei Stunden hin - im Keller der Hufnerstraße 113 nichts als Angst, Hysterie, Gebete, Zusammenbrüche, Todesfurcht - die meine ein­ geschlossen. Während dieser hundertzwanzig Minuten war mir, viel inten­ siver als früher schon, zu Bewußtsein gekommen, daß es neben

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der ersten Gefahr für uns, mit dem Synonym Gestapo, auch eine zweite gab - umzukommen durch die Bomben unserer Befreier. Ein fürchterliches Paradoxon, das immer deutlichere Gestalt angenommen hatte.

Der Deportationsbefehl für Siegfried nannte kein Ziel. Er forderte den beschnittenen der beiden Brüder auf, sich für eine besondere, vordringliche und auswärtige Arbeit unter Vor­ lage der Kennkarte, des Arbeitspasses sowie sämtlicher Lebens­ mittelmarken am 11. Juli 1942 um zehn Uhr am Hannöverschen Bahnhof einzufinden. Mitgebracht werden könnten: Ausrü­ stungsstücke, vollständige Bekleidung und Bettzeug mit Decken, aber ohne Matratze. Einsprüche und Beschwerden gegen diesen Bescheid, ferner Gesuche um Rückstellung oder Befreiung hät­ ten keine aufschiebende Wirkung. Nichtbefolgung des Einsatzbe­ fehls werde mit staatspolizeilichen Maßnahmen geahndet. Da standen sie vor uns, Siegfried fahl und erloschen, mit dem Stern auf der linken Seite über dem Herzen, wie es in der An­ ordnung vom 19. September 1941 hieß, während Gerhard, unbe­ schnitten und deshalb nach den Nürnberger Gesetzen jüdischer Mischling ersten Grades, ohne das gelbe Brandmal war. Die Brüder blieben etwa eine halbe Stunde, in der der Stern immer gelber, das Papier auf dem Tisch immer größer zu werden schien. Außer meinem Vater, der in der SHD-Unterkunft Tieloh Dienst hatte, waren wir alle da. Später kam Grete Schulz dazu, zufällig, wollte gehen, als sie die Atmosphäre spürte, wurde aber von Gerhard zurückgehal­ ten. Er gab ihr den Einsatzbefehl, sie las und reichte ihn wortlos zurück. Da begann Gerhard, den stummen Bruder zu umarmen und dabei zu weinen, und das war das Bild, das beide bis zum Abschied boten. An ein Wort des Trostes, der Beschwichtigung erinnere ich mich nicht. Es gab nichts zu sagen. Dem ersten Transport Hamburger Juden vom Oktober 1941 waren im November und Dezember drei weitere gefolgt. Als Ziel­ orte waren gerüchtehaft Namen wie Lodz, Minsk, Riga durchge­ drungen. Auch für diese fünfte Deportation war kein Ziel genannt wor­ den.

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Ich hatte in regelmäßigen Abständen von etwa einer Woche den Klempner besucht. Meist waren wir allein - Fiete war inzwischen eingezogen wor­ den, und Esther, seine Braut, in der Rüstungsindustrie verpflich­ tet, hatte oft Nachtdienst. Die Wohnung war voll von den Gegenständen seines Hand­ werks, über die ich auf dem Weg zur Küche hinwegstapfen mußte - Rohre, Flansche, Waschbecken, Klosettschüsseln und Wasserhähne. Offenbar rares, aber begehrtes Gut, wie ein Blick in die wohlgefüllte Speisekammer erraten ließ. Auf welche Weise diese Zusammenhänge einmal bedeutsam für meine Familie und mich werden sollten, davon ahnte ich damals nichts. Sicher war nur jetzt schon - der Klempner war ein Bundesge­ nosse, einer von denen, die Todfeinde der Nazis waren, ohne jü­ disch zu sein. Wenn ich von »den Deutschen« sprach, wie es sich bei uns eingebürgert hatte, war er davon ausgenommen. Meist wurden gleich nach meiner Ankunft die deutschsprachigen Sen­ dungen der BBC eingeschaltet, leise, aber hörbar. Wenn es spät wurde, auch Radio Moskau, auf deutsch. Ich konnte nicht anders, ich sah immer wieder auf den versehr­ ten Arm des Klempners. Er blieb der große Schweiger, als den Fiete ihn angekündigt hatte, aber wenn wir sprachen, ging es um den Krieg, seinen Ver­ lauf, sein sicheres Ende und was bis dahin mit uns geschehen könnte - und mit ihm. »Mag sein, daß sie auch mich wieder abho­ len, aber die programmatisch Gefährdeteren seid ihr.« Dann beugten wir uns über die große Karte, die immer auf dem Tisch ausgebreitet lag, und zogen die Linie der deutschen Ostfront nach, die im Süden dabei war, auf den Kaukasus und das Kaspische Meer zuzustoßen. »Da werden sie nicht lange blei­ ben«, knurrte der Klempner. »Was wollen sie überhaupt da? Der Elbrusgipfel ist genau die Hälfte der Strecke zwischen der deut­ schen Ostgrenze und der chinesischen Westgrenze.« Als ich ihm von der Deportation Siegfrieds berichtete, senk­ te er den Kopf: »Im Osten werden die Juden massenhaft umge­ bracht. Es sollen auf polnischem Boden regelrechte Todesfabri­ ken eingerichtet worden sein.« Pause. Dann: »Er wird nicht wiederkehren.« 179

Der Bescheid war karg, ohne daß ein Zweck genannt war für die Aufforderung an Alfons und Lilly Sara Giordano, sich einzufinden in der Gestapoleitstelle Hamburg, Neuer Wall/Stadthausbrücke. Mein Vater wütete: »Was wollen die? Das ignorieren wir ein­ fach.« Ein Ausspruch, der mich erschreckte, weil er eine tiefe Rea­ litätsgestörtheit offenbarte - und ich wußte, wie meine Mutter sic fürchtete. »Wir gehen«, sagte sie, mehr nicht. Aber für einen Augenblick war ihr Lächeln verschwunden, war es, als wenn sie all jene Kraft verloren hätte, die sie zum Untermann der Fami­ lie machte, schrumpfte ihre unnachahmliche Fähigkeit, Trübsal fernzuhalten und ihre glückliche Natur zu verteidigen gegen Zeit­ läufte, die in immer größeren Gegensatz zu ihr gerieten. Mein Denken war ausgeschaltet, eine schwallartige Angst um die Mutter über mich gekommen. Dabei geschah etwas in mei­ nem Hirn, das mich in einen Trancezustand versetzte - ich war da und doch nicht da. Zu groß war das Bedürfnis nach einer anderen Wirklichkeit, zu schreiend die Sehnsucht, aus einem Traum zu er­ wachen. Der Besuch bei der Gestapo muß turbulent verlaufen sein durch meinen Vater. Aufgefordert, sich von seiner jüdischen Frau scheiden zu lassen, hatte er einen Tobsuchtsanfall bekommen, hatte die Beamten im Zimmer beschimpft, hatte gedroht, er wer­ de wieder Italiener werden wie sein Vater und die Zumutung, die da an ihn gestellt werde, öffentlich verkünden. »Es ist ein Wunder, daß sie uns nicht dabehalten haben«, sagte meine Mutter, den Schrecken noch immer im Gesicht. »Aber sie würden wiederkommen, haben sie gesagt.« Wie der Gestapomann zu mir bei der Entlassung im Septem­ ber 1939, dachte ich unwillkürlich. Es war klar, was geschehen wäre, wenn mein Vater auf die Forde­ rung nach Scheidung eingegangen wäre - meine Mutter wäre sofort deportiert worden. Nicht ganz klar war, was das Schicksal von uns Brüdern gewesen wäre, ihrer drei Söhne. Auf jeden Fall war der Ehe­ mann und Vater unser letzter Schutz. Ich wußte, daß er sich nie von uns trennen würde. Aber würde das für immer die staatlichen Maß­ nahmen gegen die Mutter begrenzen? Würde dieser Schutz nicht eines Tages auch ohne Scheidung einfach aufgehoben werden? Von diesem Herbsttag des Jahres 1942 an konzentrierte sich das, was ich so früh schon als Große Kraft empfunden hatte, ganz auf 180

Lilly Giordano, die Bedrohteste von uns. Es stellte zur Stunde in mir ein neues Verhältnis zu ihr her, ein Chaos von widerstreiten­ den Empfindungen, die mich um- und umwirbelten - die Mutter zu retten, aber, wenn nötig, auch an sie Hand anzulegen, um ihr ein schlimmeres Schicksal zu ersparen. Ich war damals neunzehn und versuche fünfundsechzig Jahre später, den ungeheuren Druck zu rekonstruieren, dem gleichzeitig der Gedanke an Rettung wie auch an die Auslöschung des geliebtesten Menschen entsprang. Ähnliches mußte sich in meinem älteren Bruder tun, auch wenn wir nicht darüber sprachen, außer einer knappen, inhalts­ schweren Bemerkung von ihm vor einiger Zeit: »Mutter darf nicht in die Hände der Gestapo fallen.« Nein, das durfte sie nicht.

23. November 1942, 1 Uhr 40 früh. Ich hocke, wie so oft zu dieser Stunde, im Wohnzimmer vor dem Apparat, der auf dem Klavier steht, und habe die deutsch­ sprachige Sendung von Radio Moskau eingestellt - leise, aber hörbar. Die erste Meldung: Sowjetische Streitkräfte unter den Ge­ nerälen N. F. Watutin und K. Rokossowski haben sich zwischen Don und Wolga bei Kalatsch hinter den deutschen Truppen verei­ nigt und ihnen damit den Rückzug abgeschnitten. Ich war soeben zum Zeugen der Einkesselung der 6. deutschen Armee bei Stalingrad geworden. In den letzten Tagen des Jahres erschien Gerhard, so geisterbleich, daß etwas Außerordentliches geschehen sein mußte. Er reichte mir einen verschmutzten, aber leserlich handgeschriebenen Zet­ tel, sagte abgehackt, fast stotternd: »Kam nicht mit der Post, war unter die Haustür durchgeschoben« und schlug sich die Hände vors Gesicht. Ich las: »Auschwitz, 16. Dezember 1942. Gnadenlos werden hier jüdische Männer, Frauen und Kinder aus dem ganzen deutsch besetzten Europa umgebracht. Ausnahmen werden nicht gemacht. Gerhard, lieber Bruder, leb wohl. Siegfried.«

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Stille. Keiner von uns wagte, den andern anzusehen. »Auschwitz«, ich gab den Zettel zurück, »wo ist das?« Schweigen. Dann fragte Gerhard: »Warum sind die Anfangs­ buchstaben von >GnadenlosAusnahmen< und >Siegfried< so her­ vorgehoben worden. G - A - S?« Er schüttelte den Kopf. Seine Augen, sein Körper wirkten wie leblos. Er nahm den Zettel und ging. Wir sahen ihn nie wieder.

Nach dem Untergang der 6. deutschen Armee bei Stalingrad An­ fang Februar 1943 verschwand die große Karte von der Ostfront aus dem Schaufenster des Karstadtgebäudes in der Mönckebergstraßc. Zu offensichtlich waren die Gebietsverluste im Mittel­ abschnitt, vor allem aber im Süden, weg von Wolga, Don und Kaukasus, immer rückwärts, vom Wehrmachtsbericht als »plan­ mäßige Absetzbewegungen« apostrophiert. Dann eine unheimliche Ruhe an der zweitausend Kilometer langen Kampflinie, das Frühjahr ohne die erwartete Offensive, die Spannung schier unerträglich. »Da braut sich was zusammen.« Der Klempner, wie immer über die auf dem Küchentisch ausgebreitete Karte gebeugt, zeigte auf einen Punkt: »Besonders hier.« Ich las: Kursk. Wann, dachte ich, wann? Und wie geht es weiter? Am 23. Juni 1943 war der 14. Transport Hamburger Juden in den Osten abgegangen - damit war die Deportation volljüdischer Familien abgeschlossen. Eine Woche später bekam mein Vater von der örtlichen Kom­ mandantur des Sicherheits- und Hilfsdienstes ohne Angabe von Gründen den Kündigungsbescheid für Ende Juli, jedoch mit so­ fortiger »Beurlaubung«. Fast gleichzeitig mit der Nachricht, daß mein Bruder Rocco das Realgymnasium in der Averhoffstraße nur noch bis September besuchen dürfe. Dann, Anfang Juli, traf Post mit dem Absender Geheime Staatspolizei ein - ich fand das Kuvert morgens im Briefkasten. Es war das gleiche Formular, das Siegfried vor der Deportation erhalten hatte - die Vermögenser­ klärung. Darin war alles anzugeben, was wir hatten, jede Form von Eigentum, Geld, Wertsachen, Schmuck, Möbel - alles. Meine Mutter kriegte keinen Ton heraus, sie saß da wie ge­ lähmt, das Papier in der herabgesunkenen Hand. 182

Jetzt, unmittelbar nach den volljüdischen Ehen, kamen die Mischehen an die Reihe. Am selben Tag, dem 5. Juli 1943, endete an der Ostfront die Ruhe vor dem Sturm und begann das, was zur eigentlichen Wende des Zweiten Weltkriegs werden sollte: die größte Panzerschlacht der Kriegsgeschichte, im Kursker Bogen - eine gewaltige, waffen­ starrende, weit in den mittleren deutschen Frontabschnitt einge­ drückte Beule, die plötzlich explodierte. Der Klempner hatte recht gehabt. Das gigantische Kampfgeschehen wird zehn Tage dauern und mit der deutschen Niederlage enden. Von nun an wird die Rote Armee unaufhaltsam nach Westen marschieren, bis zur Erobe­ rung Berlins. Das konnte ich natürlich damals nicht wissen, be­ griff aber durchaus, daß ein neues Zeitalter des Kriegs im Osten angebrochen war. Unser Leben war nun endgültig zu einem Wettlauf zwischen der Endlösung der Judenfrage und dem Endsieg der Alliierten ge­ worden. »Jetzt seid ihr dran«, sagte der Klempner, »und deine Mutter ist die Gefährdetste.« Dann, wie immer über die Karte gebeugt: »Die Fronten sind noch zu weit, um unterzutauchen.« Ich erschrak - es war das er­ ste Mal, daß dieses Wort fiel. »Untertauchen?« fragte ich. »Wo? Bei wem? Und wenn - wir müßten doch verhungern.« »Handwerk hat goldenen Boden, besonders heute«, sagte der Klempner sarkastisch und öffnete die Tür zur Speisekammer. Was ich da sah, veranlaßte mich halb scherzhaft, halb im Ernst zu fra­ gen: »Versorgst du etwa schon einen Untergetauchten?« - »Das würde ich selbst dir nicht sagen.« »Ich brauche deine Pistole«, sagte ich. »Die ist nicht hier. Nächstes Mal.« Dazu kam es nicht.

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XIII. Am Tag darauf, dem 24. Juli 1943, einem Sonnabend, saß ich im Wohnzimmer spät über den Manuskripten, als die Sirenen los­ heulten. Binnen zehn Minuten war klar, daß dies kein Angriff wie vor­ angegangene war, cingeschlossen der schwere vom Vorjahr, son­ dern mit ihm eine neue Dimension des Luftkriegs gegen Deutsch­ land eingeleitet wurde. Es war die Operation Gomorrha. Als ich nach zwei Stunden durchgerüttelt und -geschüttelt nach draußen trat, bogen sich die Linden der Hufnerstraße durch den Sauerstoffsog in Richtung Süden so stark, daß sie zu brechen drohten. Noch wilder fauchte der Sturm nach dem zweiten Angriff, vom 27. auf den 28. Juli, bei dem Hamburgs Südosten im Phos­ phor verglühte und mit ihm an die vierzigtausend Menschen. Jetzt brachen tatsächlich schwere Aste von den Bäumen ab, wir­ belten durch die Luft, krachten Kronen herunter, krümmten sich die Stämme förmlich, ächzten, knarrten - unter einem wie von riesigen Hochöfen angestrahlten Gluthimmel. Die Sonne kam tagsüber nicht mehr durch. Dann, vom 29. auf den 30. Juli, war Hamburgs Norden, war Barmbek das Ziel der Bomber. Fast sofortiger Brandgeruch nach dem Alarm - raus aus dem Keller. Draußen Erdbeben, Qualm, Blitze, Feuer, das Donnern der Flakbatterien. Mitten auf der Straße die Großeltern, Selma und Rudolph Lehmkuhl, aneinandergeklammert und schon jetzt wie am Ende ihrer Kräfte. Dann torkeln, taumeln wir sieben los, manchmal aufrecht, manchmal auf Knien, hin zur Sandkiste, die zu einem Löschbecken umfunktioniert worden ist. Aber der Wasserspiegel brennt lichterloh. Weiter, den Rübenkamp hinun­ ter, vom Luftdruck immer wieder zu Boden geschleudert, die Münder aufgerissen, brüllend, möglichst eng beieinander. Vor der großen Hochbahnbrücke in die Walddörfer schießt aus dem krachenden, berstenden Häuserblock rechts eine gewaltige Feu­ erzunge auf uns zu, schmort das Haupthaar meiner Großmutter weg und erlischt so plötzlich, wie sie herübergeleckt hat. Nach links in die Hellbrookstraße, wo sich das Häusermeer lichtet. Wir fallen in ein Trichterloch, das sich rasch mit Wasser füllt, ent­

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kommen durchnäßt knapp, kriechen, rutschen in Richtung Stadt­ parkrand weiter, um uns ein Inferno von Spreng-, Phosphor- und Stabbrandbomben. Vorbei am völlig verwüsteten Güterbahnhof, immer wieder zu Boden geworfen, brauchen wir eine Ewigkeit für die fünfhundert Meter bis zum Stadtparkrand. Dann, von einem Augenblick auf den andern, Ruhe, eine ge­ spenstische Lautlosigkeit nach dem übermächtigen Geräuschpe­ gel des Angriffs. Mit den anderen vor der brennenden Stadthalle zusammengesunken, schmerzende Ohren, aber sonst unversehrt, entdecke ich, daß wir alle, Großeltern, Eltern und Söhne, Barm­ beks Sterbestunde überlebt haben. Mein Vater macht sich auf, kommt zurück mit der Nachricht, daß die Hufnerstraße in Flam­ men steht, auch das Haus 113 - wir sind ausgebombt, haben alles verloren. Nur meine Manuskripte nicht-die hatte ich mitgenom­ men und nicht losgelassen. Wohin? Es wird später Nachmittag, bis wir durch Winterhude und Eppendorf die Roonstraße erreichen - Haus 31 ist unver­ sehrt geblieben, wie die ganze Straße. Großmutter Emma fällt ih­ rem Sohn um den Hals. Wir lagern total erschöpft im Wohnzimmer und hören plötz­ lich, wie der Bankbeamte Erwin H., Emmas Untermieter, assistiert von seiner Frau, erklärt: Die Behausung sei zu klein für jeden wei­ teren Aufenthalt, wir müßten weg und sollten die Oma gleich mit­ nehmen, »am besten dalli, dalli, sonst ...« Als ich den drohenden Unterton aus dem Mund eines Menschen höre, mit dem wir bisher nur freundliche Worte gewechselt hatten, und mir siedendheiß klar wird, daß wir ins Nichts gefallen, daß die Brücken des bisherigen Lebens hinter uns abgebrochen sind, da schießen mir gegen mei­ nen Willen Tränen in die Augen. Meine Mutter sieht das, fällt auf die Liegecouch und verliert ihre Sprech- und Bewegungsfähigkeit. In diesem Moment grenzenloser Verlassenheit dringt eine Wahr­ heit in mein Bewußtsein: Nicht die Mutter ist der Untermann der Familie, ich bin es: Stützt sie sich doch auf mich. Wie lange schon, ohne daß ich es bemerkt habe? Meine Tränen versiegen sofort, und ich werde überflutet von der Großen Kraft. Es ist richtig, daß sie, wie ich heute sagen kann, über mein ganzes Leben hin wirksam sein wird - nie wieder aber habe ich sie so gespürt wie in dieser Situation. Gleichzeitig ist es die Geburtsstunde einer doppelten, gegenläufigen, einer schrecklichen Wahrheit: Ich werde alles tun, 185

um die Mutter zu retten, aber auch alles, was notwendig wäre, um sie vor einem schlimmeren Ende zu bewahren. »Mutter darf nicht in die Hände der Gestapo fallen.« Gleichzeitig wird es die Geburtsstunde eines Schwurs, der über mich kam wie ein Gesetz, von keinerlei Zweifel angeweht, ohne jedes Bewußtsein für rechtliche Folgen, vorausgesetzt, daß ich das Ende Hitlerdeutschlands erleben würde: Zu töten, wer uns, wer mich gepeinigt hatte! Hier, in diesem Zimmer, wo die allmonatlichen Spaghettiessen stattgefunden hatten, die Wochenenden mit dem geliebten Opa Rocco, der Gang in die Rumpelkammer; hier, an dieser Stätte ein­ stiger Geborgenheit, die völlig unvergessen in meinem Innern weiterlebte, an diesem 30. Juli 1943, zeigte sich, daß ein solches Regime, vielleicht sein größtes Verbrechen, nicht nur seine An­ hänger und Verfolger, sondern auch seine Gegner und Verfolgten deformiert - ohne daß ich mir dessen damals bewußt war, also bar jeder Vorstellung davon, daß auch ich, wenngleich mit ganz anderen Vorzeichen als denen unserer Peiniger, rehumanisiert werden müßte. Als meine Mutter nach einer Stunde wieder einigermaßen sprech- und bewegungsfähig war, brachen wir auf - mit Emma Giordano acht Personen. Das Schicksal hatte mir eben das Kommando übergeben. Nach Süden, zum Hafen hinunter, raus aus der röchelnden Stadt. In der Grindelallee hüllt die zusammenfallende Fassade eines fünfstöckigen Hauses uns in ihren Staub ein - weißgepudert, aber heil an Gliedern, ziehen wir weiter. Wäre einem von uns ein Schuhband aufgegangen oder hätten wir nur für ein paar Sekun­ den gezögert, wir wären alle erschlagen worden. Was folgte, war ein zeitliches Niemandsland, diffus, erinne­ rungslos. Der Hafen, eine Fähre, hinüber nach Harburg. In Zügen Men­ schenknäuel, alle einander ähnlich, abgerissen, heimatlos, mit verstörten Mienen, noch ungläubig, dem Inferno entronnen zu sein. Ich bin zu einem Hütehund geworden: nicht auseinander­ kommen, sich nicht aus den Augen verlieren - gäbe es doch kei­ nen Punkt mehr, wo man sich wiedertreffen könnte. Wohin geht 186

es überhaupt? Das Gehör ist geschärft. Ausgerufene Bahnhofs­ namen: »Uelzen«, »Celle«, »Hannover«, »Braunschweig«. Dann: »Oebisfelde«. Darauf Großmutter Emma, krächzend vor Er­ schöpfung: »Oebisfelde? Aus einem Dorf hier ganz in der Nähe kommt doch Hanna her, und ihre Schwester lebt dort immer noch mit ihren beiden Töchtern.« Hatte die Frau des Bankbeamten H. uns in all den Jahren da­ von nicht bis zum Überdruß berichtet? Griff nach dem Strohhalm. Wir setzen uns in einen Zug - es ist der richtige. An der ersten Station auf einer Nebenlinie nach Magdeburg steigen wir auf einem sonst leeren Bahnsteig aus, acht Vogelscheuchen, wie man sie sich abgerissener nicht vorstellen könnte. Der Schrankenwärter schaut konsterniert. Da lag er vor uns, auf einer kleinen Anhöhe, der Ort, der zur unvergeßlichen Exklave der Familiengeschichte werden soll­ te - Bösdorf, Postadresse: über Oebisfelde, Kreis Gardelegen, Alt­ mark. Den sandigen Weg hoch, das grobe Pflaster der Dorfstraße, die riesige Kastanie neben der schartigen Kirche ... Hier, Im Winkel, dem zentralen Dorfplatz, kommt uns erst Emma Giordano ab­ handen, fürsorglich von den Besitzern, einem alten Ehepaar, in ei­ nen großen Hof geleitet; dann verschwinden Selma und Rudolph in einem Haus, über dessen Eingangstür »Molkerei« steht, von Mutter und Tochter, beide mit weißer Schürze, sanft die Stufen hinaufbegleitet; schließlich werden wir fünf, Eltern und drei Brü­ der, ins Altenteil eingewiesen - über einen Hof mit einer alten Pumpe und einem riesigen Schleifstein in ein Haus mit Küche, Wohn- und Schlafzimmer. Es ist alles da, Lebensmittel auf dem Tisch, Bestecke, Licht, die Betten bezogen - meine Mutter weint. Sie ist, wie wir alle, so erschöpft, daß es nicht aus ihr herausbricht, sondern schubweise fließt. Aber das vor Freude. Nach der Ausbombung als die wahrscheinlichste Aussicht vor uns ein zielloses Nomadentum quer durch Deutschland, findet sie sich und die Ihren in einer Stätte wieder, in der, so klein sie auch sein mag, alles Lebensnotwendige vorhanden ist. Es wird noch besser, wir sind das Thema der Ortschaft, Frauen kommen, bringen -weitere Lebensmittel, fragen, hören interessiert zu. Der Gegensatz zu der vorangegangenen Woche ist zu groß, als daß wir ihn schon ganz .begreifen könnten. 187

Wir zeigen uns dankbar, Vater und Söhne gehen aufs Feld, rau­ fen Kartoffeln, brechen mit Stangen Zuckerrüben aus der Erde, fühlen uns bei den Mahlzeiten unter freiem Himmel wie im Schla­ raffenland. Die Sonne brennt herab, es ist ein heißer Sommer, und wir fallen abends todmüde ins Bett (das kleine Schlafzimmer faßt uns fünf gerade noch), aber es ist, als wäre eine Fessel wegge­ sprengt. Mein Vater hat dem Bürgermeister reinen Wein eingeschenkt, worauf der eine dumme Bemerkung machte über das Weltjudentum, aber ohne Widerspruch die Beschaffung von Geld für Aus­ gebombte und Lebensmittelmarken einleitete. In mir glomm eine unsinnige Hoffnung auf. Blick aus dem Wohnzimmer: ein kleiner Garten, ein krummer Apfelbaum, Fliederbeerbüsche, ein Nest mit bedrohlich brum­ menden Hornissen, dahinter, weit, Felder bis zum Horizont. Aus den Ställen des Hofes dringen Gebrumm von Kühen und der süß­ liche Geruch von Vieh, ungewohnt, aber irgendwie anheimelnd. Bösdorf hat an die fünfhundert Einwohner, liegt zwischen Braunschweig und Magdeburg und grenzt an den Drömling, ein unter Friedrich II. von Preußen trockengelegtes Sumpfgebiet, nun Weideland bis zum Mittellandkanal. Dort vertrauen Bauern uns die Tränke der Tiere an, die bis zum Winter hier grasen wer­ den. Wir Brüder liegen auf der Wiese, starren in den Himmel, saugen die reine Luft ein und können es nicht glauben. Abends dringt vom Nachbarhof her das Haupt eines Mannes von gewaltigem Leibesumfang durch eines der offenen Schlafzim­ merfenster ein: »Paul Stephan, Sattlermeister von Bösdorf.« Er reicht mir die Hand, zieht mich daran über die Fensterbank in den Hof und dann ins Haus. Dort schaltet er das Radio ein, leise, und ich höre das vertraute und unverkennbare »Bum, bum, bum, bum« - Radio London. »Gevatter«, sagte der Sattlermeister, »ihr seid nicht koscher, dein Bruder und du nicht eingezogen, wie sonst jeder in eurem Alter. Also wehrunwürdig, weil nichtarisch. Das ganze Dorf weiß es bereits. Aber auch sonst hätte ich es ge­ rochen. Sag das drüben weiter: Bei mir seid ihr in guten Händen. Wann immer ihr wollt«, er zeigt auf das Radio, »könnt ihr kom­ men.« Eine Frau kommt herein - »Anna« — und nickt dazu. Mein Instinkt sagt mir: Hier gibt es nichts zu mißtrauen: »Danke.« 188

Als uns Geld und Lebensmittelkarten gebracht wurden, suche ich, finde aber bei den Marken für meine Mutter weder das J noch den Zwangsnamen Sara. Der sie uns bringt, ist der Gemein­ dediener von Bösdorf, Theodor W., ein Mann um die 45, dunkel, mit buschigen Brauen, in Stulpenstiefel steckend und wortkarg. Er ist in Begleitung eines jungen Mädchens, dessen Äußeres sie sogleich als Tochter ausweist, dunkle Augen, dunkle Brauen, lange Wimpern, ein Gesicht von fast schmerzender Schönheit, doch von einem unjugendlichen Ernst. Sie schaut mich an, ich lächle, sie gibt es nicht zurück, behält mich aber weiter in ihrem Blick. Als mein älterer Bruder hinzutritt, kraust der Gemeinde­ diener die Stirn, verweilt einen Moment, als wenn er eine Frage stellen wollte, verläßt dann aber mit seiner Tochter grußlos den Hof. »Er ist sozusagen unser Wirtschaftsamt«, sagt mein Vater. Fortan hörten und sahen wir Theodor W., eine große Glocke schwingend, durchs Dorf ziehen und der Gemeinde mit lauter Amtsstimme Anordnungen und sonstige Wichtigkeiten verkün­ den. Zu uns kommt aus ihrem Haus am Rand von Bösdorf auch die Schwester von Hanna H., Frau des Bankbeamten, eine freundli­ che Vierzigjährige mit zwei Töchtern: Sie habe in all den Jahren viel von uns gehört und wolle nun wissen, wie es »denen« in Ham­ burg« ergangen sei, habe sie doch von dort noch keine Nachricht erhalten. Worauf Großmutter Emma beruhigende Auskunft gab und Erwin und Hanna H. in den höchsten Tönen pries. Unmittelbar darauf wurde das Altenteil aufgesucht von dem Pfarrer des Sprengeis, zu dem auch Bösdorf gehörte. Ein kleiner weißhaariger Mann, der gleich mit der Tür ins Schloß fiel und meinen Vater inständig bat, Bösdorfs immer geschrumpfteren Gottesdienst doch künftig auf der Orgel zu begleiten, »nachdem uns der Himmel einen Musiker geschickt hat. Die Kirchenschlüs­ sel sind in Gewahrsam des Gemeindedieners.« Und so predigte der Pfarrer denn schon am nächsten Sonntag vor einem nach langer Zeit wieder bis auf den letzten Stuhl be­ setzten Haus, während mein Vater oben auf der Empore in die Tasten griff und die Register bediente - Bach, Saint-Saens, das »Largo« von Händel, Gounods wunderbares »Ave Mana«. Und hinter der Orgel ich, der über einen langschäftigen Blasebalg den

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Pfeifen bis zur Erschöpfung den nötigen Atem zuführte. Plötz­ lich werde ich abgelöst - dunkle Augen, lange Wimpern, dichte schwarze Brauen, keine Spur von Lächeln, aber das schönste physiognomische Ensemble, das ich je gesehen haben will. Und wäh­ rend die Tochter des Gemeindedieners den Blasebalg auf und ab tritt, blickt sie mich unverwandt an. Dann, nach dem letzten Ton, verschwindet sie. Wir hatten kein Wort miteinander gesprochen. Noch auf dem Weg von der Kirche zurück ins Altenteil wurde meinem Vater von einer älteren, ganz unbäuerisch wirkenden Frau ihr Klavier zur beliebigen Benutzung angeboten. Ihr Haus befinde sich am östlichen Rand von Bösdorf, das Instrument sei unbespielt, sie seit langem Witwe, die froh sein würde, wenn wie­ der Klänge durch die Räume tönten. Also bitte ... Es konnte nicht wahr sein. Würden wir hier vielleicht überdauern können? War mit der Operation Gomorrha gegen die Hansestadt an der Elbe nicht ganz offensichtlich ein neues Zeitalter des Luftkriegs eingelei­ tet worden, eine Übermacht am Himmel erschienen, der nichts Gleichwertiges entgegengestellt werden konnte bei ihren raids auf jede deutsche Stadt, soweit der Sprit reichte? Mußte das nicht zu Chaos, Aufschub, Verzögerung führen? War unsere Verschlagung in die tiefe Provinz eine Galgenfrist oder mehr? Keiner von uns sprach darüber, aber diese Hoffnung glomm in uns allen. Oft trat ich jetzt in der Dunkelheit nach hinten aus dem Haus heraus, in den Garten, und dachte: Nacht sollte es bleiben über Bösdorf, verhüllende, lange Nacht, bis das Unglaubliche gesche­ hen und die Panzer der Alliierten auf den Dorfplatz einschwen­ ken und dort ihre siegreichen Fahnen hissen würden, dreitausend Kilometer kämpfend von Ost und West gekommen aus einem Grund, einem einzigen: uns zu befreien von der Todesfurcht.

Der Brief des Bankbeamten Erwin H. aus Hamburg war zwar an den Gemeindediener, seinen »lieben Freund Theodor«, persön­ lich gerichtet, aber binnen einer Stunde hatte das ganze Dorf ge­ naue Kenntnis vom Inhalt. Danach sei das, was da aus Hamburg eingefallen und ihm und

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seiner Frau im Fall der eigenen Ausbombung die Zufluchtstätte im Haus der Schwägerin genommen hatte, ein Gesindel, wie man es sich übler nicht vorstellen könne: die Mutter Volljüdin (das Wort war dick unterstrichen); ihr Mann, ein Straßen- und Kaf­ feehausmusikant, urkundlich nichtdeutscher Herkunft; die drei Söhne jüdische Mischlinge, die sich in der Heimat herumdrück­ ten, während Gleichaltrige an den Fronten ihre Haut für »Füh­ rer«, Volk und Vaterland zu Markte trügen. Nach dem nunmehri­ gen Treu- und Vertrauensbruch sei endlich die Zeit gekommen, das schmarotzerhafte Dasein dieser Sippe mit einem kostenlosen Aufenthalt in einem Konzentrationslager auszutauschen, wofür ihm aus vorsorglich geführten politischen Gesprächen reichlich Material zur Verfügung stehe. Bis er das an die richtige Adresse bringe, solle er, der »liebe Theodor«, seiner patriotischen Pflicht nachkommen und ein wachsames Auge auf die Eindringlinge haben. Es war Großmutter Emma Giordano, die mit dieser Art von Todesurteil ins Altenteil kam - der Gemeindediener hatte das Schreiben auch ihren Wirtsleuten zuerst gezeigt. »Aber wir wohnen doch gar nicht bei der Schwester von Han­ na«, sagte sie kläglich. Die kam wenig später selbst ins Altenteil, bleich: »Schwester und Schwager in Hamburg müssen meinen Brief mißverstanden haben, ich habe nicht geschrieben, daß Sie bei mir wohnen.« Lähmendes Entsetzen. Jetzt zählte jede Stunde. »Wir beide fah­ ren sofort hin.« »Nimm ein Brot mit vom Bäcker, ein großes Brot, gut ein­ gewickelt«, sagte sie. Ich fragte nicht, weshalb. Es dauerte anderthalb Tage, bis wir über Hannover, Uelzen und Celle Hamburg erreichten. Dort stellte sich heraus, daß der Bankbeamte und seine Frau nicht mehr in Emmas Wohnung leb­ ten, sondern im Parterre des Nebenhauses, Roonstraße 33, eine eigene bekommen hatten - die Vormieter waren umgekommen. Als der Bankbeamte die Tür öffnete und uns sah, winkte er mich herrisch ab und ließ nur die Großmutter ein. Ich rannte los. In einer Stunde stand ich vor dem unversehrten Haus am Erlenkamp - der Klempner und ich fielen uns in die Arme. Dann berichtete ich. »Wenn es irgendwie geht - bleibt da«, sagte er, wie immer über

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die Karte gebeugt. »Italien ist abgefallen, die Rote Armee im Vor­ marsch, und irgendwann muß ja auch mal die zweite Front im Westen errichtet werden.« »Die Pistole«, schrie ich, »deine Pistole!« Er verließ die Küche, dann ein Knall. Als er wieder eintrat, hielt er in einer Hand ein Kissen mit einem großen, an den Rän­ dern verbrannten Loch, aus dem Federn drangen, in der ande­ ren die Pistole. »Parabellum, 7,65, funktioniert.« Pause. Ich bin nie wieder einem Menschen begegnet, der so lastend schweigen konnte. Dann: »Ich weiß, warum du sie haben willst, und darum gebe ich sie dir. Aber wenn du damit erwischt wirst, ist es um dich geschehen. Das mußt du wissen.« »Danke.« Noch ehe ich in der Roonstraße an Großmutters Tür klingelte, war mir, als trüge ich die Waffe schon seit langem. »Das große Brot hat uns gerettet«, sagte Emma, »er läßt Gnade vor Recht ergehen.« »Du bleibst in Hamburg«, sagte ich. »Für alle Fälle.« Vor der Rückfahrt in die Hufnerstraße. Haus 113, eine Ruine, Trümmer, wie alles ringsum. Mir ist, als liefe mir das Blut aus den Adern. Zeichen von Nachbarn; Schrift­ züge auf Pappe, wo wer zu erreichen sei; Adressen, Suche nach Lebenszeichen von Kindern und Eltern; Blumen, verwelkt; aus dem Keller noch dumpfe Hitze. Keine Spur von Grete Schulz.

Am Abend des nächsten Tages war ich wieder in Bösdorf. Ich bin unfähig, der Leserschaft mitzuteilen, was sich im Ge­ sicht meiner Mutter abzeichnete, als sie mich sah - sowenig, wie ich meine Gefühle zu schildern vermag, als sie bei meiner An­ kunft in der Küche des Altenteils hantierte, wie immer mit nichts anderem beschäftigt, als die alte Frage »Habt ihr Hunger?« zu verneinen. In letzter Zeit kam ihr morgendlicher Husten öfter hoch als sonst, und auch Rocco brüllte häufiger auf, wenn er in dem sticki­ gen Raum erwachte und nach Luft rang. Als mein Bruder Egon und ich am nächsten Sonntagmorgen den Schlüssel für die Kirche abholen wollten, schüttelte der Ge­ meindediener ohne weitere Begründung den Kopf. Und als wir eine halbe Stunde später mit dem Vater vor der Kirche ankamen

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und hineinwollten, versperrte Theodor W. uns mit ausgestreckten Armen den Zutritt, wieder wortlos. Der Pfarrer, im Hintergrund, hatte die Augen zu Boden geschlagen und sagte nichts. So endete das kurze Zwischenspiel meines Vaters als Organist in der Kirche von Bösdorf. Fast gleichzeitig bat die alte Dame am Rand des Ortes ihn, künftig doch bitte auf die Benutzung des Klaviers zu Übungszwecken zu verzichten - »Sie wissen schon«. Dabei weinte sie. In diesen Nächten schrie eine Frau aus der Nachbarschaft des Altenteils über die Dächer des Dorfes, und das derart anhaltend und gellend, daß ich mir die Decke über den Kopf zog. »Ihr Sohn ist an der Ostfront gefallen, bei Orel«, so der dicke Sattlermeister. »Die Wehrmacht in vollem Rückzug. Kursk war die Wende.«

XIV. Das Schreiben vom Hamburger Arbeitsamt war an meinen Vater gerichtet, galt aber für die ganze Familie: Innerhalb von drei Ta­ gen habe sie zurückzukehren und sich in der Behörde am Pferde­ markt zu melden - »zwecks Arbeitseinsatzes«. »Ich fahre«, sagte mein Vater, packte ein paar Sachen ein, ver­ abschiedete sich grußlos und ließ uns in lähmendem Entsetzen zurück. Wir waren entdeckt, wahrscheinlich über unsere Anmel­ dung beim Bürgermeisteramt des Dorfes. Nach zwei Tagen kam der Vater wieder, aufgeräumt, mit tau­ sendfünfhundert Reichsmark in der Tasche als Abschlag für den Totalverlust unserer Habe und der Nachricht, daß er und mein älterer Bruder in Bösdorf bleiben könnten, wenn sich für sie in­ nerhalb von vier Wochen Arbeit fände, und mein Lehrlingsver­ hältnis bei der Firma Dobbertin & Co. bis März nächsten Jahres weitergelte. Fände sich danach für mich in der Altmark eine Tätig­ keit, könnte auch ich bleiben. Meine Mutter war überhaupt nicht erwähnt, ebensowenig wie Rocco, und die Großeltern Selma und Rudolph Lehmkuhl waren total vergessen. Eben noch bedroht von der Vorstellung einer Rückkehr in Ge­ stapoaufsicht, nun aber ausgestattet mit der amtlichen Genehmi­ gung, bleiben zu können, begriffen wir nur langsam, was sich da

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getan hatte: Wir konnten zusammenbleiben, und zwar »weit vom Schuß«. Innerhalb weniger Tage waren mein Vater und mein Bruder Egon bei der Güterabfertigung der Bahnmeisterei in Oebisfelde untergebracht, wo sie Achsen schmieren, Waggons be- und entla­ den und beim Rangieren helfen mußten, während ich einem Dut­ zend Bösdorfer Schülerinnen und Schülern Nachhilfeunterricht in allen möglichen Fächern gab. Derweilen sahen und hörten wir, wie der Gemeindediener durch den Ort schritt, die Glocke schwang, seine Botschaften verkündete und düster beiseite schaute, wenn ihm einer von uns begegnete. Die Situation hatte etwas seltsam Gegenläufiges an sich. Während sich die Dinge draußen besser entwickelten, als anzu­ nehmen war, begegnete uns hier drinnen in Gestalt von Theodor W. eine dumpfe Feindschaft, die uns tief beunruhigte. Inzwischen hatte ich erfahren, daß seinem Sohn in Rußland das rechte Bein weggeschossen worden war. »Und der ist in deinem Alter«, klär­ te der dicke Sattlermeister von nebenan mich auf. »Daraus zieht der Gemeindediener Schlüsse, die nicht gut sind für euch - auch wenn er kein Parteigenosse ist.«

Eines Nachts begann in der Küche des Altenteils das Geschirr zu klirren, die Fensterscheiben zu zittern und die Erde leise zu schaukeln - ich war mit den anderen sofort hoch. Kein Zweifel da fielen, wenn auch weit weg, Bomben. Durch den Stamm des Apfelbaums hinter dem Haus zuckte es wie unter elektrischen Schlägen. Das ging etwa eine Stunde so. Obwohl es inzwischen herbstlich kalt geworden war, blieben wir draußen. »Braunschweig«, sagte der Sattlermeister am nächsten Mor­ gen, »die holen sich jede Stadt.« In der folgenden Nacht dröhnte es am Himmel über Bösdorf in Richtung Osten, als hätten sich alle Motoren der Welt dort oben versammelt. Natürlich standen wir wieder auf. Als der Sattlermeister meinen älteren Bruder und mich sah, winkte er uns in sein Haus: »Radio London hat eben angekün­ digt, daß Berlin bis Jahresende jede Nacht angegriffen wird, jede Nacht.« Was dann geschah, werde ich nie vergessen. 194

Mein Bruder und ich verließen das total verdunkelte Dorf in Richtung Rätzlingen, rannten, bis wir außer Hörweite waren, und schickten dann unseren brüllenden Jubel nach oben, unter wilden Sprüngen, fuchtelnd, gestikulierend, mit gestammeltem Dank an die Besatzungen da oben, die unter Lebensgefahr ihren Teil zu unserer Befreiung beitrugen. »Kill them!« schrieen wir, »kill them all!«, ehe wir langsam und widerwillig, am ganzen Kör­ per geschüttelt, in den Ort zurückkehrten. Zu diesem Zeitpunkt mußten schon die ersten Bomben auf Berlin gefallen sein. Aber daran dachten wir nicht, nicht an verschüttete Keller, an lodernde Häuserblocks, an fliehende, brennende, verstümmelte Menschen, nicht an eine Angst, die unbeschreiblich war und die wir doch selbst kannten. Daran dachten wir nicht. Und das, obwohl wir doch erst vor kurzem selbst dem Inferno des Luftkriegs ausgesetzt waren, in genauer Kenntnis seiner Höl­ len, den Brandgeruch noch in der Nase und den Druck bersten­ der Sprengbomben in den Ohren. Was die beiden Brüder da un­ ten auf der Landstraße in ihre wilden Tänze trieb, was sie da in der Dunkelheit vor Freude sich fast überschlagen ließ, das war die Nähe zu ihren Bundesgenossen, zu ihren potentiellen Befrei­ ern, jener gewaltigen Streitmacht, ohne deren Sieg es keine Hoff­ nung gab. Daran dachten wir und an nichts sonst, als die Bomberströme der Royal Air Force, Tod und Verderben in ihren Rümpfen, über die Altmark auf die Hauptstadt zuflogen. Wenn es denn eine Stunde, ein Ereignis gab, die mir später klarmachen sollten, daß die bestehenden Herrschaftsverhältnisse keineswegs nur die Verfolger entmenschlichten, sondern, wenn­ gleich aus anderen Gründen, auch die Verfolgten - dann war es die Erinnerung an jene Nacht. Es wird dauern, bis ich Anteilnahme empfinden sollte für Men­ schen, die während der bedrohtesten Jahre meines Lebens auf der anderen Seite standen und dort Leid erfuhren. Im November 1943 jedenfalls war mir solche Empathie fremd. Und tatsächlich kamen die Bomber wie angekündigt Nacht für Nacht. 195

An einem Freitag löste sich aus der dröhnenden Monotonie hoch droben ein einzelnes, unheilverkündendes Geräusch, das lauter und lauter wurde - kein Zweifel, da fiel ein Bomber vom Himmel. Die Maschine schlug mit ungeheurem Knall und einem Blitz, der das Dorf blendete, kaum dreihundert Meter vom Ortsrand ein. Keiner von uns ging am Morgen an die Absturzstelle, wir hät­ ten den Anblick nicht ertragen können. Der Sattlermeister berichtete von einem tiefen Krater, den die zerfetzte Maschine geschlagen hatte, von zerrissenen Körpertei­ len, die weitverstreut waren, darunter eine Hand und ein Ober­ schenkel, deren Haut schwarz waren. Überlebende hatte es nicht gegeben. Im Lau! des Tages erfuhren wir, daß Uniformierte gekommen waren, die die Stelle streng absperrten, die sterblichen Reste ein­ sammelten und sie am Rand des Friedhofs an der Straße nach Oe­ bisfelde in eine ausgehobene Grube legten. Zum Zuschaufeln aber kam es nicht, weil plötzlich der Gemeindediener von Bösdorf am Schauplatz erschien, die Leichenteile wie ein Wahnsinniger aus der Grube herausgeschleudert und dabei geschrieen hatte: Die Luftpi­ raten hätten kein Begräbnis in geweihter deutscher Erde verdient, und das schwarze Mistzeug unter den Banditen schon gar nicht. Wenn ihm einer dieser Brüder in die Hände fiele, dann ... Niemand widersprach, auch nicht, als Theodor W. die Körper­ teile in eine große Leinwand packte und alles zusammen auf of­ fenem Feld in einem schmalen Streifen Unkraut am Straßenrand versenkte. Wie seit längerem, verließ ich auch an diesem Tag spätabends das Altenteil noch einmal, um durchs Dorf zu gehen. Hörte die Geräusche aus den Ställen, Flügelschlagen, Grunzen, Brummen, sog den Duft aus der Bäckerei ein, ging über den Dorfplatz und dann, vorbei am Haus der Schwester von Hanna H. und ihren bei­ den Töchtern, in Richtung des Bahnhofs. Es war dunkel, aber das Dorf auf der kleinen Kuppe da vor mir hob sich doch silhouettenhaft gegen den fast wolkenlosen Himmel ab - als wären Höfe und Häuser zusammengekrochen, mit der Kirchturmspitzc in der Mitte, igelgleich. Würden wir, fragte ich mich zum hundert­ sten Mal, würden wir hierbleiben können?

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Als ich das Altenteil wieder betrete und das schwere Tor hinter mir schließe, spüre ich die Anwesenheit eines Menschen - vor mit steht Charlotte W., die Tochter des Gemeindedieners. Das wunderschöne, dunkle, todernste Gesicht ist so nahe vor dem meinen, daß wir uns fast berühren. Zu Tode erschrocken, fah­ re ich zurück, nur von einem Gedanken beseelt - Flucht, rasche Flucht. Aber das Mädchen kommt mir nach, faßt nach meiner Hand, behält sie in der ihren, stumm, flehend. Ich weiß nicht, ob sie weint, stehe nur da und flüstere: »Dein Vater schlüge dich tot - aber vorher mich.« Sie macht eine impulsive Bewegung auf mich zu, sagt: »Euch wird nichts geschehen«, schüttelt den Kopf und fährt fort, be­ schwörend und doch so leise, daß ihre Stimme kaum zu verste­ hen ist: »Ihr seid doch weiß, ihr seid doch keine Neger.« »Nein«, flüstere ich zurück, »viel schlimmer.« Alles, was ich gesagt hätte, wäre falsch gewesen, und so ist es auch dies. Was konnte dieses Mädchen denn schon wissen? Es hat im selben Land gelebt und doch wie auf einem andern Pla­ neten. Ich war berührt, von ihrer Schönheit, ihrer Sympathie, ih­ rem Wagemut, wie denn nicht? - Wir waren zwanzig. Aber der Schrecken gefror mich zu einer Säule äußerer Leblosigkeit. Jetzt weinte sie, hörbar, aber dann war Charlotte W. plötzlich weg, wie ein Schatten und so leise, daß ich kaum das Zuklappen des Tores vernahm. Um diese Zeit ging eine jähe Veränderung in meinem Vater vor sich. Er begann zu klagen, daß die schwere Arbeit in der Bahnmeiste­ rei von Oebisfelde - die Hilfe beim Rangieren, das Beladen und Entladen schwerer Güter, die beginnende Kälte - seine Hände ein für allemal ruiniere und alle Aussichten auf eine Dirigentenlauf­ bahn zunichte mache. Dabei sprach er dumpf in sich hinein, eigent­ lich nicht zu uns, sondern zu sich, als gehörte er nicht dazu. Wir anderen sagten nichts, ließen den Angriff unkommentiert, warteten aber auf einen Ausbruch. Der kam mit einem donnern­ den »Tür zu!«, jenem väterlichen Befehl, den wir von Kindheit an kannten, als Zeichen einer Besessenheit, Wärme zu sparen, pa­ thologisch, nervend, aber brav befolgt - bis zu dieser Stunde. Mein Bruder Egon aber schloß die Tür zwischen Wohnzim­

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mer und Küche im Altenteil nicht, er stand nur da. Da bückte sich der Vater, griff nach einem Feuerhaken, sprang auf seinen Sohn zu, schlug nach ihm und traf ihn an der Schulter. Mein Bru­ der blieb bewegungslos stehen, meine Mutter stieß einen unter­ drückten Ruf aus, und ich starrte schweigend auf den Vater. Der warf die Tür ins Schloß, verschwand ins Schlafzimmer und ließ uns sprachlos zurück. Jeder von uns fühlte, daß hier mehr geschehen war als der kör­ perliche Angriff auf ein erwachsenes Familienmitglied. Und der das aussprach, war der Attackierte: »Papa ist dem Druck nicht mehr gewachsen. Neben dem Feind von außen haben wir von jetzt an auch einen von innen.« Das war’s, kurz und bündig. Die tiefe, schon dem Jüngling innewohnende Feindschaft meines Vaters gegenüber Welt und Menschen - sie war dabei, sich nun auch nach innen zu kehren, gegen seine Nächsten. Dem alten Schrecken hatte sich ein neuer zugesellt. Nicht, daß wir fürchteten, mein Vater würde sich je von mei­ ner Mutter trennen wollen, was ihre sofortige Deportation bedeu­ tet hätte - kein Gedanke daran. Wohl aber hatten seine enttäusch­ ten Lebenserwartungen ihren jederzeit verfügbaren Blitzableiter gefunden: die eigene Familie. Und das in einem Stadium ihrer im­ mer größeren Gefährdung. Mein Versuch, ebenfalls bei der Bahnmeisterei in Oebisfelde un­ terzukommen, war abgelehnt worden - jedenfalls, wie mir bedeu­ tet wurde, so lange, bis mein Lehrvertrag mit der Hamburger Firma auslief, also bis Ende März 1944. Und so hatte sich denn mein Nachhilfeunterricht auf eine Kli­ entel von einem Dutzend Dorfmädchen und -jungen zwischen acht und zwölf Jahren erweitert, eingeteilt in zwei Gruppen, die dreimal die Woche zusammenkamen - lärmend, fröhlich, wißbe­ gierig und erfrischend intelligent. Es machte richtig Spaß, auch wenn ich einem Mädchen namens Gerda, mit dreizehn die älteste der Schülerinnen, den erbetenen Einzelunterricht abschlug. Sehr bald waren mir Gerüchte zu Ohren gekommen, ob beim Unterricht »so junger Küken« durch einen erwachsenen Mann auch alles mit rechten Dingen zugehe. Wobei klar war, aus wel­ cher Ecke sie gestreut wurden. 198

»Gib bloß nicht nach«, sagte der dicke Sattlermeister, »das würde der Theodor nur als Bestätigung seiner schmutzigen Phan­ tasien werten. Bis jetzt ist doch alles gutgelaufen. Wenn das so weitergeht...« Er winkte mich näher zu sich heran, senkte die Stimme: »Die sowjetische Winteroffensive ist in vollem Gange - Witebsk, Nevel, Schitomir. Da war die Wehrmacht schon einmal - 1941, auf dem Vormarsch.«

Der 24. Dezember 1943 wird mir in ewiger Erinnerung bleiben es war der Tag, an dem wir Brüder zu jüdeln begannen. Wer von uns dreien zuerst, weiß ich nicht mehr. Auf jeden Fall bedurfte es keiner Probe, keiner Vorverständigung, noch einer Partitur - es war sofort da. Voran Rocco, der Jüngste, der immer schon pantomimische Begabung gezeigt hatte - vornübergebeugt, die Oberlippe weit vorgestülpt, um die Nase mehr zu krümmen, erst die Zeigefinger beider Hände auf- und abstechend, dann eine imaginäre Thora tragend, so hüpfte er im Kreis herum wie ein Zaddik, ein Wunder­ rabbiner. Ihm folgte Egon, der ältere Bruder, mit aufgepumptem Brustkorb, ein ruheloser nächtlicher Golem, die Arme rudernd ausgestreckt, als schwömme er in reißendem Wasser, während ich, noch tiefer gebeugt, als Nachhut einen gierig zählenden Geldjuden mimte. Alle drei statt einer Kippa das Taschentuch auf dem Kopf, phantasievoll verrenkt, in den Knien eingeknickt, watschelnd, die Handflächen nach oben gekehrt, zeternde Got­ tesanbeter, mal auseinanderstrebend, mal eng zusammengeschlos­ sen, immer wieder nach dem Taschentuch greifend, damit die Kopfbedeckung nicht herunterfiel - mauschelnde, greinende, sä­ belbeinige Krüppeljuden, wie im »Stürmer« - so ging es im Kreis herum, wohl eine Viertelstunde lang. Danach hielten wir erschöpft inne. Was sich da eben zugetragen hatte, unabgesprochen und mit einem Schlag geboren, war ein Versuch verzweifelter Überli­ stung von zehn Jahren Diskriminierung, Verfolgung, Tortur und Angst: Indem wir die Karikatur durch Überkarikierung verächt­ lich machten, erhoben wir uns über unsere Verächter, karikierten wir sie unsererseits, ohne daß sie uns daran hindern konnten - es gab einen Raum, den sie nicht erreichten. 199

Zu jiideln - das war wie ein Sieg. Aber daneben gleichzeitig etwas, das ich damals in seinem vol­ len Ausmaß noch nicht erkennen konnte, nämlich auch ein Sym­ ptom für die tiefe innere Entfremdung von unserer Umwelt und für das Ausmaß jener Isolation, die uns seit einer Dekade Zug um Zug jedes Zugehörigkeitsgefühl geraubt hatte. Zu jüdeln, das war wie ein Kommentar zu der Selbstverständlichkeit, mit der wir längst nur noch von »den Deutschen« sprachen - wir gehörten nicht mehr dazu, wir waren längst zu einem Teil der Alliierten geworden. Zu jüdeln - das war die Bestätigung für einen heiligen, unausgesprochenen Schwur: im Fall der Befreiung, des Überle­ bens den blutigen Staub dieses Landes so rasch wie möglich von unseren Füßen zu schütteln und zwischen ihm und uns die weite­ ste aller Distanzen zu legen. Davor aber Vergeltung! Vergeltung für jeden falschen Gedanken, für jedes verkehrte Wort und für jede herausgehängte Hakenkreuzfahne; für jeden Heil-Ruf, jeden Schlag, jeden Tritt, jeden Stoß und jeden Schuß im Namen Hitlers; Vergeltung für all das unschuldig vergossene Blut an den Fronten und hinter ihnen, Zahn um Zahn, Blut um Blut, Tod um Tod - Vergeltung! Das war meine Verfassung damals, und ich schäme mich nicht, sie zu offenbaren. Das Beispiel von Dr. Ernst Fritz, von dem Klempner, dem dicken Sattlermeister Paul Stephan in Bösdorf und von anderen Nazigegnern, die mir begegnet waren, änderte an dieser Verfassung nichts. Lehrten doch alle Erfahrungen, daß sie eine Minderheit waren, von der die Mehrheit nichts wissen wollte, ja, ihr gefährlich wurde. Alle späteren Differenzierungen haben an der Grunderfahrung mit jenen NS-injizierten Genera­ tionen nicht rütteln können. Damals aber, zum Zeitpunkt unseres ersten Jüdelns, war nichts als Ungewißheit über unser weiteres Schicksal. Es gab nur eine einzige Hoffnung: in Bösdorf zu bleiben. Die Lebensmittelmarken für meine Mutter wie auch für die Großmut­ ter blieben ohne das J und den Zwangsnamen Sara. Aber der Gemeindediener - und seine Tochter. Ich fand sie in der Dunkelheit zweimal im Hof, hinter dem Tor. Meine Gefühle sind schwer zu beschreiben: Schreck, der mir durch und durch ging, Sympathien für das schöne, dunkle Mäd­ 200

chen, dieses seltsame Wesen, das meine Hand in ihre nahm, sie drückte, wärmte, stumm blieb, bis sie flüsterte, ich solle nichts fürchten, und dann so lautlos, wie sie gekommen war, auch wie­ der verschwunden war. Als ich eine Weile danach auf die Dorfstraße trat, sah ich rechts, in Richtung des Ortstümpels, eine Gestalt weghuschen, die ich trotz der Finsternis erkannte: meine Nachhilfeschülerin Gerda, die nicht aufhörte, um Einzelunterricht zu bitten.

XV. Am 20. März 1944, meinem einundzwanzigsten Geburtstag, erhielt ich aus Hamburg von Dobbertin & Co. die Mitteilung, daß mein dreijähriges Lehrverhältnis Ende des Monats beendet sei und die Beschäftigung »aus den bekannten Gründen« nicht weitergeführt werden könne. Es sei jedoch dafür gesorgt worden, daß ich den Wohnort nicht zu wechseln brauchte. »Die Fresse«, dachte ich, und ein warmes Gefühl kam in mir hoch, die Fres­ se - irgendwo hinter dem furchteinflößenden Äußeren hatte sie sich ein Herz bewahrt. Zwei Tage später bekam ich vom Arbeitsamt Oebisfelde die Aufforderung, mich bei der dortigen Firma Erzfinke, Auto- und Reparaturbetrieb, als Bürokraft einzufinden. Der Chef und seine Frau erwiesen sich als höchst umgänglich und fragten nicht lange, warum ich keinen Militärdienst zu leisten hatte. Und so schrieb ich denn in einer abgeteilten Ecke Rechnungen, führte Telefonate, formulierte Briefe - das eine Jahr Höhere Handelsschule kam mir sehr zustatten. Morgens um acht fuhr ich mit dem Zug von Bös­ dorf nach Oebisfelde und kam gegen Abend zurück, etwas früher als mein Vater und der ältere Bruder von der Bahnmeisterei. Zur gleichen Zeit war der Sattlermeister mit Rocco ein regel­ rechtes Lehrverhältnis eingegangen, für die Arbeit in der Leder­ werkstatt, mit Steuerentrichtung und sozialen Abgaben: »Jetzt seid ihr alle untergekommen. Niemand kann mehr sagen, daß ihr faulenzt.« Selma.und Rudolph Lehmkuhl, die Großeltern, bei einer Mol­ kereibesitzerin am Ortsausgang untergekommen, hätten keine lie­ bevollere Wirtin finden können als diese Witwe. 201

»Bösdorf«, schrieb ich später einmal, »das war, als wenn wir von der Geschichte vergessen worden wären.« Das grobe Pflaster auf dem Hof des Altenteils; die Pumpe, der riesige Mühlstein mit der gebrochenen Achse; der Zaun und die Milchbank gegenüber dem Tor; die warmen, süßlichen Ausdün­ stungen aus den Ställen; der Blick nach hinten hinaus über die weiten Felder; die Waldflecken in Richtung Oebisfelde; der Dorf­ tümpel, der in den Drömling fließt... All das war mir in den acht Monaten, die wir hier waren, vertraut geworden, tief vertraut, während Deutschland unaufhalt­ sam auf seine militärischen Niederlage zustrebte - die Bomber am Himmel über Bösdorf zogen nun auch tagsüber ihre langen Kondensschweifc hinter sich her. Von Abwehr war weit und breit nichts zu erkennen. Dann kam der 18. April 1944.

Gegen Mittag des Tages tauchte vor dem Büro der Auto- und Re­ paraturwerkstatt Erzfinke plötzlich ein Polizist auf. Er saß auf ei­ nem Fahrrad und zog an zwei Stricken, die in Handschellen ende­ ten, meinen Vater und meinen Bruder Egon hinter sich her. Dann winkte er mich herrisch heraus, legte auch mir an einem Strick befestigte Handschellen an, schwang sich aufs Rad und fuhr, mit nur einem Arm lenkend, los. Und während wir drei ihm mühsam im Laufschritt hinterherstolperten, blieben überall auf der Straße die Passanten stehen und starrten stumm auf die makabre Szene. Ein ganzes Stück außerhalb der Ortschaft fuhr der Polizist erst langsamer, dann stoppte er ganz, stieg vom Rad und zog uns zu Fuß hinter sich her, ohne auf der sechs Kilometer langen Strecke auch nur ein einziges Wort der Erklärung abzugeben. Im Altenteil angekommen, schloß er die Handschellen auf, befahl uns ins Haus, stellte sich im Wohnzimmer vor uns auf, beleibt, in schwarzen Schaftstiefeln und grüner Uniform, die per­ sonifizierte Staatsgewalt, und schnarrte: »Gendarmeriewachtmei­ ster Schumann aus Oebisfelde.« Dann musterte er jeden einzelnen von uns streng, ehe er dro­ hend fragte: »Ist Charlotte, die Tochter des Gemeindedieners, hier bei Ihnen?« Vereisung, stummes Kopfschütteln, zu einer anderen Reaktion war keiner von uns fähig. 202

Schon halb aus der Tür, sagte der Polizist: »Ich stelle fest, daß die Tochter des Gemeindedieners nicht bei Ihnen ist. Aber ma­ chen Sie sich auf ein Nachspiel gefaßt - der Vater wird Anzeige erstatten.« Was da vor sich ging, erfuhren wir vom Sattlermeister. Nachdem Theodor W. auf das Gerücht, sie habe eine Bezie­ hung zu mir, seine Tochter grün und blau geschlagen habe, sei sie fortgelaufen, zwei Tage nach dem Auftritt des Gendarmerie­ wachtmeisters aber wieder eingefangen und an einen unbekann­ ten Ort gebracht worden. »Die Anzeige soll unterwegs sein«, sagte der Sattlermeister, »und sie soll sich gegen euch alle richten.« Am 22. April 1944 erschien Gendarmeriewachtmeister Schu­ mann abermals bei uns im Altenteil, stutzte, als er unsere Erstar­ rung bemerkte, und holte ein Papier hervor - die Anzeige des Gemeindedieners. Darin wurde erklärt: Es handele sich bei den Giordanos um eine jüdisch versippte Familie - die Mutter Jüdin, der Vater arisch, die drei Söhne jüdische Mischlinge. Der mittlere von ih­ nen, Ralph Giordano, habe seiner Tochter nachgestellt und sie gegen ihren Willen zur Rassenschande verführt. Augen- und Ohrenzeugin sei die minderjährige Tochter des Bauern L. Des weiteren sei bekannt, daß der Rassenschänder seine Tätigkeit als Nachhilfelehrer mißbraucht habe, um Schülerinnen unsittlich zu berühren. Auch der älteste Sohn, Egon Giordano, solle ebenfalls und mehrfach gegen die Rassengesetze verstoßen haben. Im üb­ rigen könnten die Familienverhältnisse als zerrüttet angesehen werden, da zwischen dem arischen Vater einerseits und seiner Frau und den Söhnen andererseits schwere Spannungen bestün­ den. »Insgesamt handelt es sich bei den Giordanos«, so endete die Anzeige des Gemeindedieners, »um eine rassische und völkische Gefahr, gegen die sofort alle notwendigen Maßnahmen ergriffen werden müßten.« Gendarmeriewachtmeister Schumann hatte langsam und ver­ nehmlich vorgelesen. Dann .richtete er sich auf, schrie plötzlich: »Stimmt das, was da steht?« und trat dabei so nahe an meinen älteren Bruder und mich heran, als wollte er uns umwerfen. Wir waren zurückgetaumelt.

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die Kehlen wie zugeschnürt. Mir schien, als dauerte es Äonen, bis ich »Nein« sagte und noch einmal: »Nein.« Der Uniformierte faltete das Papier zusammen, steckte es in eine Tasche, sagte: »Ich bin beauftragt worden, die Anzeige zu untersuchen« und ging hinaus. Als er sich draußen aufs Rad schwang, fragte ich: »Wer hat Sie beauftragt?« Der Polizist stieß sich kräftig ab und sagte, ohne mir den Kopf zuzuwenden: »Der Adressat der Anzeige sitzt in Gardelegen die Geheime Staatspolizei.« Mein älterer Bruder war hinter mich getreten. Als das Tor ins Schloß fiel, sagte er: »Wenn die SS kommt, stoße ich mir das Mes­ ser ins Herz.«

Fortan sahen die Bösdorfer den Polizisten durch den Ort eilen, mal aufs Rad geschwungen, mal zu Fuß, aber immer in Eile - von Hof zu Hof. Dort, wo meine Nachhilfeschülerinnen zu Hause waren, verweilte der Gendarmeriewachtmeister länger. So ging es über Tage, deren Spannung uns im Altenteil zu ersticken drohte. »Der will es aber wissen«, brummte der dicke Sattlermeister. »Für oder gegen euch?« Dann, nach etwa einer Woche, stand der Polizist plötzlich wie­ der im Altenteil, ganz Amtsperson, erklärte seinen Auftrag für be­ endet, kündigte eine rasche Weitergabe an und wandte sich zum Gehen. Aber bevor er verschwand, geschah etwas Seltsames - er drehte sich zu uns um und kniff plötzlich das linke Auge zu, ein­ mal und noch einmal. Mir blieb das Herz stehen. Was hatte das zu bedeuten?

Am i. Mai 1944 erschien der Polizist zum viertenmal im Alten­ teil, herrschte Rocco an, die Großeltern herzubeordern, zog, als sie eingetroffen waren, ein Papier hervor und verlas die Entschei­ dung: »Alfons, Lilly Sara, Egon, Ralph und Rocco Giordano haben Bösdorf innerhalb von zweiundsiebzig Stunden zu verlassen und sich in Hamburg sofort nach Ankunft bei ihrem zuständigen Arbeitsamt zu melden. Die Rückführung erfolgt, weil die Ein­ gliederung in den Arbeitsprozeß nicht gelungen ist. Selma und Rudolph Lehmkuhl können, bis auf Widerruf, an ihrem jetzigen Wohnort bleiben.«

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Der Polizist ließ das Papier sinken, nahm den Tschako vom Kopf, trat ans Fenster und sagte: »Mein Bericht nach Gardele­ gen hat gelautet: »Trotz umfangreicher Nachforschungen ließ sich keine der Anschuldigungen gegen die Giordanos nachweisen.Zuckerli< gerufen. Be­ suchen Sie uns.« So lernte ich den Menschen kennen, der, noch tief im Schoß der Zukunft, zum Glück und zum Reichtum meines Lebens wer­ den sollte.

Helga und Karlheinz L.-St., 32 und 36, wohnten in einer Villa am Elbufer, mit Blick auf das Alte Land gegenüber. Sie hatten 1940 gegen die Bestimmungen des Blutschutzgeset­ zes in einem kleinen Ort im Harz geheiratet. Deshalb 1942 nach Entdeckung in Hamburg verhaftet, wurde Karlheinz L.-St. ins KZ Fuhlsbüttel gesteckt, dann aber von seiner Frau mit unglaub­ licher Zähigkeit und Unerschrockenheit wieder herausgepaukt, ein rarer Fall in der Geschichte der Geheimen Staatspolizei. In ihrer Blondheit äußerlich dem propagierten Typus eines nordi­ schen Frauenbildes entgegenkommend, mag das Helga L.-St. bei ihren alltäglichen Auftritten vor der Gestapo geholfen haben.

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Solche Unwägbarkeiten konnten damals über Leben und Tod entscheiden. Die Ehe sollte dennoch nicht halten. Sehr bald spürte ich Span­ nungen, obwohl versucht wurde, sie vor mir geheimzuhalten. Helga L.-St. war aus Elmshorn gebürtig, eine bis hinein in das spitze St und Sp klassische Schleswig-Holsteinerin und - Toch­ ter eines Vaters von eingeschworener Nazigegnerschaft. Lehrer, Bürger, Humanist, war Wilhelm K. keine Sekunde lang in Versu­ chung geraten, sich von der braunen Flutwelle mitreißen zu las­ sen. Unantastbar in seiner humanen Orientierung, konnte auch die schmetterndste Siegesfanfare ihn nicht von der Überzeugung abbringen, daß das Böse besiegbar sei. Und so die Tochter, von der Pike auf, als Erbe, als Hypothek des Vaters. Aber die Angst um den Gatten, auch nach seiner Entlassung bis ans Kriegsende, hatte Spuren hinterlassen. Später werde ich ihr intimer Zeuge werden. Jetzt wurde ich bei meinen Besuchen mit einer unverwechselba­ ren Institution bekannt gemacht - dem Häkelbütel. Schülerinnen der Elmshorner Abiturjahrgänge 1932/33 hatten das Seltene wahr gemacht und trafen sich, allmonatlich mit Unterbrechung nur in den letzten Kriegsjahren, eine verschworene Gemeinschaft, mit all den wechselvollen weiblichen und familiären Schicksalen der Ära. Bald durfte ich, einziges männliches Inventar, dabei sein. Ich kam gern, nicht nur dann. Helga L.-St. wurde häufig von ihrem Mann allein gelassen. Dann rief sie mich an, und ich eilte In de Bost. Ich wäre tausend Kilometer auf dem Bauch gerutscht, wenn sie gerufen hätte, oder auch um den ganzen Äquator, einfach glücklich, wie ich in ihrer Gegenwart war. Aber das wagte sich nicht nach vorn, blieb in mir stecken wie in einer Kapsel oder einer Truhe, zu deren Schloß ich den Schlüssel verloren hatte - mein Verhältnis zum andern Ge­ schlecht, zu Frauen war versperrt, geknebelt, unerlöst. Noch völlig gefangen in dem Kokon des gerade vergangenen Schreckens, löste die Nachricht vom Abwurf der Atombombe auf Hiroschima und Nagasaki am 6. und 9. August 1945 zu­ nächst in mir nichts aus als Jubel darüber, daß nun endlich auch Japan, Hitlerdeutschlands Bundesgenosse, geschlagen war. Eine Vorstellung vom Ausmaß der Katastrophe und des Leids hatte

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ich damals nicht, sie kam erst geraume Zeit später - in dem Maß, wie die von den eigenen Ängsten verursachten Deformierungen Stück um Stück abgebaut wurden. Geblieben aus dieser Zeit bis in unsere Gegenwart aber ist meine allergische Reaktion auf alle Versuche, das Japan des Tenno und des Militarismus aus der Primärverantwortung für den Abwurf der Bombe zu entlassen. Wenn Hitler und seine Anhänger erstverantwortlich waren für die Opfer des Luftkriegs gegen Deutschland, dann waren Kai­ ser Hirohito und seine Gefolgsleute es für die japanischen Luft­ kriegstoten und -verwundeten auch. Hiroschima und Nagasaki, August 1945 ~ ja oder nein? Ob Japan schon sturmreif war, wie die einen meinen, oder mit hohen Verlusten auf beiden Seiten noch lange widerstandsfähig gewesen wäre, so die anderen, die­ ser Streit wird andauern, sollte aber mit verhaltenem Atem ge­ führt werden. Vor allem jedoch nicht so, als hätte es nie Pearl Harbour gegeben.

15. Oktober 1945, auf der Grindelallee. Vor mir geht, neben sich zwei Frauen, ein hochgewachsener Mann, der heftig gestikuliert und plötzlich laut ausruft: »Die Juden, die Juden sind an allem schuld!« Das bereut er in der nächsten Sekunde, denn ich sause ihm von hinten mit meinen Schultern in die Kniekehlen, daß er hinfällt, und bearbeite ihn am Boden so heftig mit Fäusten, Nägeln und Zähnen, bis mir die Luft schwindet. Den Augenblick nutzt der Kerl, der doppelt so schwer ist wie ich, um aufzuspringen und wegzulaufen wie ein Sprinter, der alles hinter sich läßt, auch die beiden sprachlosen Frauen, denen er seinen antisemitischen Un­ flat zugerufen hatte. Es war, als hätte mich ein Blitz getroffen. Was war da eben passiert? »Die Juden, die Juden sind an allem schuld!« Das hätte bis vor kurzem noch niemand öffentlich laut zu bekunden gewagt in die­ sem Land, dem plötzlich alle Nazis abhanden gekommen waren und wo unisono alle Widerstandskämpfer gewesen sein und Ju­ den versteckt haben wollten - so viele Juden, wie es in Deutsch­ land gar nicht mehr gegeben hatte. »Die.Juden, die Juden sind an allem schuld!« Gedacht, natür­ lich, haben es viele, hätten sich aber im Frühling und im Sommer 1945 nicht geoutet, wie cs so schön auf neudeutsch heißt. 259

Da hatte sich soeben gezeigt, daß etwas Elementares wegge­ brochen war, etwas, das nur ein halbes Jahr angedauert hatte - ein tiefsitzender, nahezu kollektiver Vergeltungsschock, von den Sie­ gern als Besiegte so behandelt zu werden, wie Deutsche als Sieger die Besiegten behandelt hatten. Als diese alttestamentarischen Ra­ cheängste nicht eintrafen, kam der braune Adam ganz rasch wie­ der auf. Was gewiß für die drei westlichen Besatzungszonen galt. Womit nicht gesagt sein soll, daß bei allem Entsetzlichen, was im deutschen Osten durch die Rote Armee geschah, die sowjetische Besatzungsmacht nach dem Motto »Auge um Auge, Zahn um Zahn« gehandelt hätte. Wehe, wenn es so gewesen wäre. Ich aber hatte da auf der Grindelallee eine Lektion, eine Stand­ pauke politischer Befindlichkeit erhalten: Hitler und. alles, was der Name symbolisiert, war zwar militärisch geschlagen, nicht aber auch schon geistig - oder besser ungeistig. Hier also verlief die Front der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und dem, was er in Herz und Hirn angerichtet hatte; hier wür­ den die Schlachten um die Seelen geschlagen; hier die Opfer ge­ sühnt und die Täter zur Rechenschaft gezogen werden, hier - in Deutschland! Aber wie könnte ich es dann verlassen, wie diesen Kampf ande­ ren überlassen? Wie darüber berichten? Und in welcher Sprache? Könnte ich denn überhaupt in einer anderen als der deutschen schreiben, denken, träumen, das Buch mit einem andern Alpha­ bet beginnen und vollenden? Und wenn ich flüchtete, weil ich den Blutgeruch dieses Landes nicht länger auszuhalten meinte verriet ich dann nicht jene, die nicht überlebt hatten? Aber - in Deutschland bleiben? Hamburg, Grindelallee, 15. Oktober 1945 — Fragen über Fra­ gen. Es war erst der Anfang. Die Fortsetzung erfolgte durch Reaktionen auf meine erste ge­ druckte Veröffentlichung überhaupt - einen Leserbrief in einer von der britischen Militärregierung lizenzierten Hamburger Zei­ tung. Der Nürnberger Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher hatte seine Schatten vorausgeworfen und die bekennende Unbe­ lehrbarkeit ihre mißtönende Stimme schon weit im Vorfeld erho­

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ben. Von »Siegerjustiz« war da die Rede, vom »Verbrechen der Vertreibung«, von »Dresden«, immer wieder aber vom »saube­ ren Waffenrock der Wehrmacht«. Ein verräterisch oft benutztes Kodewort, als hätten Heer, Marine und Luftwaffe unabhängig von der politischen Führung irgendwo im Universum einen au­ ßerirdischen Kampf geführt. Ich fühlte mich durch die Lüge und ihre historische Dimen­ sion persönlich tief getroffen (ohne schon zu ahnen, damit eines der großen Themen meiner lebenslangen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und seiner Hypothek aufgenom­ men zu haben). Sauberer Waffenrock? Wir fürchteten die Gestapo, antisemitische Nachbarn, Denun­ zianten, den Blockwart und auch Freunde, von denen sich her­ ausstellte, daß sie keine waren - die fürchteten wir, stimmt. Doch mehr als alles andere fürchteten wir die Organisation, deren mili­ tärisches Schicksal gleichzeitig auch über das historische Schick­ sal des ganzen Systems entschied; fürchteten wir das Instrument, das in den Händen der verbrecherischen Reichsführung mit Ab­ stand das mächtigste war; jene nicht mehr meßbare Übermacht, die uns in den knapp gewonnenen Wettlauf zwischen Endlösung und Endsieg der Alliierten gezwungen hatte: die Wehrmacht. Sie war unser gefährlichster Feind, ohne sie und ihre territorialen Er­ oberungen hätte es Auschwitz und alles, was dieser Name mate­ rialisierte, nicht gegeben. Sauberer Waffenrock! Ich habe nie geglaubt oder behauptet, daß jeder Angehörige der Wehrmacht im strafrechtlichen Sinn ein Verbrecher war, wohl aber, daß sie alle einer verbrecherischen Sache gedient hat­ ten. Und wer es vorher nicht gewußt hat, der hätte inzwischen genug Zeit gehabt, sich zu korrigieren. Dies ließ ich in der Zeitung verlauten, so knapp wie möglich, aber unmißverständlich. Die Folgen waren nicht vorhersehbar, war in dem Blatt doch nebst meinem Namen auch die Adresse angegeben worden - Elbchaussee 132. Und so hagelte es denn Proteste, Schmähungen, Beleidigun­ gen und Morddrohungen, natürlich anonym. Wenn doch einmal ein Absender angegeben war, entpuppte er sich als falsch. Beginn

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eines Posteingangs, der in kampagnenhaften Wellen bis in die Ge­ genwart schwappen wird. Ich will hier nicht den Helden mimen - es war unheimlich ge­ nug, mit welch ausführlichen und phantasievollen Einzelheiten mir da skizziert wurde, wie man mich vom Leben zum Tode zu befördern gedachte. Aber ich habe, Hand aufs Herz, diesem Gelichter niemals auch nur eine schlaflose Stunde geopfert, nie­ mals - in all den Jahrzehnten nicht. Zum Glück bekam ich aber keineswegs nur solche Zuschrif­ ten, sondern auch zustimmende, darunter eine, die mich beson­ ders erregte - von der Kommunistischen Partei Deutschlands, Landesorganisation Hamburg, Ferdinandstraße: Ich solle doch über dieses Thema und andere in ihrem Organ, der »Hamburger Volkszeitung«, schreiben. Und so machte ich mich denn auf, gar nicht weit, nach Blankenese, Bahnhofstraße, wo die Zeitung in einer bürgerlichen Druckerei ihre Redaktionsräume hatte. Dort wurde ich wie ein alter Bekannter begrüßt, wurden mir Männer und Frauen vorgestellt, die in Lagern waren und gegen Hitler und seine Armee gekämpft hatten. Darunter am eindrucksvollsten der Chefredakteur der Zeitung, Erich Hoffmann. Spanienkämp­ fer, schwerverwundet, in Vichy-Frankreich verhaftet und nach Auschwitz deportiert, das er überlebt hatte - eine imponierende Chronik. Seine Augen ruhten wohlgefällig auf mir. Ich hatte den Eindruck, unter meinesgleichen zu sein, ich fühl­ te mich gut.

Zu dieser Zeit hatte ich zu schreiben begonnen, langsam und tastend, nicht am Buch, sondern an einer Novelle: »Morris. Ge­ schichte einer Freundschaft«. Darin schlüpft der Erzähler in die Gestalt eines gehbehinder­ ten fünfzehnjährigen Hamburgers, Arier der herrschenden Ras­ senarithmetik nach, der durch Zufall auf den Juden Morris stößt, 1938, nach der Reichspogromnacht, und ihn begleiten wird - über den Verlust der Familie, die Illegalität und die Befreiung hinaus bis zur Abreise nach Palästina. Ich nehme mir dieses Erstlingswerk, in das sich autobiographi­ sche Elemente des Buches eingearbeitet sahen, heute nicht ohne innere Bewegung vor. Es ist die Geschichte jugendlicher Hingabe an Bedrohte, ein Selbstzeugnis der Anfälligkeit für Schwächere, 262

voll des inneren Zwangs, ihnen auch unter Gefahr für das eigene Leben zu helfen. Es ist das Bekenntnis eines noch unversehrten Glaubens an die Menschlichkeit, an den natürlichen Sieg des Gu­ ten über das Böse, geschrieben in literaturtheoretischer Unschuld und beseelt von einer glühenden Botschaft: »Nie wieder National­ sozialismus« - wer ihr zuwiderhandelt, kriegt es mit mir zu tun! Darunter aber kommt für mich in der Nachlektüre noch etwas anderes zum Vorschein, eine tiefere Wahrheit, von der die acht­ zig Seiten der Novelle ganz durchtränkt sind: das fassungslose Staunen des jugendlichen Autors, befreit worden zu sein und da­ mit auch frei von der allmächtigen Angst vor dem jederzeit mög­ lichen Gewalttod. Mit »Morris. Geschichte einer Freundschaft« habe ich mich quasi in mein schriftstellerisches Leben eingeführt. Wobei das Erstlingswerk drei Fähigkeiten bescheinigt: zu artikulieren, zu ge­ stalten und Wesentliches von Unwesentlichem zu scheiden. Es entstand in etwa zwei Monaten, ohne daß am Horizont auch nur die Andeutung eines Verlags oder eines Fürsprechers sichtbar wurde. Aber - es mußte raus. Jetzt erst würde ich mit dem Buch beginnen können. Es hatte inzwischen übrigens einen Titel bekommen: »Die Bertinis«.

III. Am 27. Januar 1946 wurde meine Schwester Gabriela geboren, ein Achtmonatskind. Großmutter Emma war in die Elbchaussee gekommen, mit Selma und Rudolph Lehmkuhl also die ganze Sippe beisammen, dazu der Hausbesitzer und seine Frau. Die Stimmung schwankte zwischen Hysterie und Erwartung. Der Arzt aus Blankenese, ein hochgewachsener Mann in wei­ ßem Kittel, machte ein sorgenvolles Gesicht - kein Wunder, dachte ich, bei dem Alter der Wöchnerin. Dazu hatten die Wehen einen Monat zu früh begonnen. Wie schon dreimal zuvor, hatten meine Eltern auf häuslicher Entbindung bestanden, obwohl der Arzt, der hier die Hebamme machte, dringend einen klinischen Aufenthalt angeraten hatte.

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Alles, was ich von der Geburt mitbekam, war ein langer, qual­ voller Schrei meiner Mutter. Dann ein Augenblick Stille, ehe der Arzt, die Ärmel aufgekrempelt, aus dem Zimmer hervorschoß und ins Bad eilte, mit einer Miene voller Trauer, Wut und Sorge, deren Ursache ich nicht deuten konnte. Ich hatte den Eindruck, als wenn er möglichst schnell wegwollte. Währenddessen war mein Vater, Gebete murmelnd und mit ge­ schlossenen Augen, in der Wohnung auf- und abgegangen, ganz, als wäre er der Mittelpunkt des Geschehens. In dieser Stunde war ich glücklich und sonst nichts - an der Neugeborenen würde sich unser Leben nicht wiederholen, sie würde aufwachsen ohne Furcht und Bedrohung. Voll ungeheurer Genugtuung trat ich auf den großen Balkon, blickte auf die Elbchaussee und konnte meine Tränen nicht halten. Daß meine Mutter, was die Behandlung des Kindes betraf, ein seltsames Gebaren an den Tag legte, wurde mir erst später bewußt. Niemand, auch der Vater nicht, durfte dabei sein, wenn das Kind gewaschen und gewindelt, wenn es aus- oder angekleidet wurde. Jedenfalls sah ich den Säugling nie anders als in bedecktem Zu­ stand, was ich aus hygienischen Gründen nur für natürlich hielt und weshalb ich mir deshalb auch keine Gedanken machte. Die Stimmung ging noch tagelang hoch, wobei die Frau des Hauseigentümers den Vogel abschoß - ständig mit dem (stets an­ gezogenen) Kind beschäftigt, verbrachte sie einen großen Teil ih­ rer Zeit oben bei uns in der ersten Etage. Zwischen dem Ehepaar und uns hatten sich fast familiäre Beziehungen hergestellt. Inzwischen hatte ich auch herausbekommen, was der Hausbe­ sitzer bei unserem Antrittsbesuch mit dem Ausspruch »Dann ist das Haus ja in Sicherheit« gemeint hatte. Schon im letzten Som­ mer schwirrten Gerüchte umher, daß das Hauptquartier der bri­ tischen Militärverwaltung nach Hamburg verlegt werden würde und dort natürlich in seinen schönsten Teil - in die Elbvororte. Zwar waren auch andere Städtenamen genannt worden - Min­ den, Herford, Bad Oeynhausen -, aber die Beunruhigung zwi­ schen den Stadtteilen Othmarschen und Blankenese hatte wegen immer häufigeren Inspektionspatrouillen erheblich zugenom­ men. Haus Elbchaussee 132 aber war bisher davon ausgenom­ men worden, und sein Besitzer meinte auch zu wissen, warum, wie er mir gestand: weil er uns, Verfolgte von gestern, aufge­

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nommen hatte. Wörtlich: »Da wagen die sich nicht ran.« Was ich nur hoffen konnte, wäre ich doch selbst, ja wären alle Giordanos todunglücklich gewesen, hätten wir unser geliebtes neues Domizil räumen müssen. Nur konnte ich in mir nicht ganz die Frage unterdrücken, wie es denn mit der schier überbordenden Freundlichkeit des Eigentümerpaares bestellt gewesen wäre, hät­ ten wir in seinen Augen diese angebliche Schutzfunktion gegen eine Hausbeschlagnahme nicht gehabt. Und was wäre, wenn sie eines Tages entfallen sollte? Was schneller als gedacht eintrat - das Hauptquartier der briti­ schen Zone in Deutschland kam nicht nach Hamburg.

Es muß um diese Zeit gewesen sein, daß ich vom Balkon unse­ rer Wohnung auf der Elbchaussee etwas erblickte, das mich faszi­ nierte, so rasch es auch vorbeihuschte und verschwand: ein Auto, in der Form eines Tiers, eines Raubtiers, mit den geschwungenen Kotflügeln einer großen Katze gleich, die sich zum Angriff duckt. Ich hatte damals keine Ahnung, daß das Phantom em Jaguar war, erinnere mich aber genau an meine spontane Reaktion: »So einen wirst du auch einmal fahren!« Ein angesichts der Wirklichkeit nachgerade lächerlicher Wunsch, der dennoch über die Zeiten in mir lebendig blieb. Es wird fünfundvierzig Jahre dauern, bis ich ihn mir erfüllen konnte, und das unter Umständen, die sich auch die blühendste Phantasie nicht hätte vorstellen können.

Ein Jahr nach ihrer Geburt kam heraus, daß Gabriela Giordano ein mongoloides Kind war. Meine Mutter hatte cs von Anfang an gewußt, aber dazu geschwiegen und es verborgen gehalten. Ich hatte, wie die anderen auch, meine Schwester stets nur vollkommen angezogen oder bis obenhin zugedeckt gesehen, ohne deshalb irgend etwas zu argwöhnen. Nach wie vor war das Glücksgefühl, daß hier ein Sproß von uns angstfrei aufwach­ sen würde, größer als alle Bedenken, die das Alter der Eltern zu­ nächst heraufbeschworen hatte. Aber dann war mir doch unbehaglich geworden. Und so such­ te ich denn in der Nähe des Blankeneser Bahnhofs die Praxis des Arztes ^uf, der damals die Entbindung vorgenommen hatte. »Ihre Schwester ist ein mongoloides Kind«, sagte er ohne Umschweife, »cs hätte nie geboren werden dürfen - nach allem.« - »Woran 265

haben Sie es erkannt?« - »An der schweren Zunge und an den Zehen, die unregelmäßig aus dem Fußstamm wachsen. Es gab kei­ nerlei Zweifel für mich. Und ich habe es Ihrer Mutter auch gleich mitgeteilt.« Jetzt begriff ich die finstere Miene des Arztes an jenem 27. Ja­ nuar vor einem Jahr, seine Hast, die Anzeichen von Verstörtheit, die ich damals nicht zu deuten wußte. Ich dankte, ging - und zö­ gerte drei Tage lang. Dann sagte ich es meiner Mutter. Was kann sie in all den endlosen Tagen und Nächten seit der Geburt auf anderes als auf ein Wunder gehofft haben, auf das Wunder, morgens zu erwachen und neben sich ein gesundes Kind vorzufinden? Es gab sonst keine Erklärung dafür, daß sie uns nicht eingeweiht hatte. Und was hat es sie an seelischen Energien und körperlichen Anstrengungen gekostet, den wahren Zustand des Kindes vor uns zu verbergen, ohne darin auch nur ein einzi­ ges Mal versagt zu haben? Nun, nach meiner Eröffnung, brach sie zusammen. Erst laut­ los, dann immer heftiger geschüttelt, ehe es wie ein langes Stöh­ nen aus ihr herausfuhr, eine Verfassung, in der ich die Mutter we­ der vorher noch nachher je erlebt habe. Ich wollte zu ihr hin und sie umarmen, aber letztlich konnte man sie in ihrem archaischen Schmerz nur allein lassen. Mit diesem Kind würde keine neue Zeitrechnung in unserer Familiengeschichte anbrechen, wie wir inbrünstig gehofft hatten, war kein Wesen geboren worden, das dermaleinst wie eine ferne Sage den Unterschied zwischen seinem Leben und dem der El­ tern und Brüder kennen und erkennen könnte. Selbst wenn wir imstande gewesen wären, alles zu vergessen, was uns getroffen hatte, selbst wenn wir die übermenschliche Gabe besessen hätten, in unserm Gedächtnis auszulöschen, was die zwölf Jahre da hineingestanzt hatten - dieses Kind würde uns immer daran erinnern. Was jeden von uns nur fester an die Tochter und Schwester gebunden hat. Gabriela Giordano wird, nehme ich vorweg, zweiundfünfzig Jahre alt werden, ungewöhnlich für mongoloide Kinder. Sie wird auch nach dem Tod meiner Eltern in bester Obhut sein, des Le­ sens und Schreibens kundig, nicht ohne den spezifischen Humor der Familie, von jedem Weltwissen weit entfernt, doch fähig,

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anderen Behinderten zu helfen - das einzige Mitglied unserer Sippe, das über sein ganzes Dasein hin nichts als glücklich war.

Im April 1946 besuchte ich für die »Hamburger Volkszeitung« das ehemalige Konzentrationslager Bergen-Belsen - wo Zehntau­ sende von displaced persons, Juden aus dem Osten, unter elenden Bedingungen auf ihre Weiterreise nach Palästina warteten - in der fast jenseitig-inbrünstigen Hoffnung auf eine baldige Heimstatt im Gelobten Land. Doch die britische Mandatsmacht wollte die­ se Immigranten nicht. Und so waren sie hier festgehalten worden, verbunden mit schweren verbalen und auch tätlichen Zusammen­ stößen zwischen Militär und Lagerinsassen. Die Situation stand auf Messers Schneide. Hier an diesem Ort des Grauens, ein Jahr nach der Befreiung, hat es mich dann zum erstenmal berührt, war es aufgegangen wie ein Riesenfächer, der darauf lange gewartet hatte - Israel! Und dort, im Rundhaus von Bergen-Belsen, lernte ich ihn ken­ nen, den Herausgeber der »Allgemeinen Jüdischen Wochenzei­ tung« (damals noch »Jüdisches Gemeindeblatt für die britische Zone«, bald darauf »Allgemeine Jüdische Wochenzeitung«, seit 2002 »Jüdische Allgemeine«), eine Generation älter als ich, Jahr­ gang 1897, ein Mensch, der mein väterlicher Freund und zu ei­ ner der schicksalhaftesten Begegnungen meines Lebens werden sollte: Karl Marx. Klein von Wuchs, voll beweglicher Energie, mit Augen von fast mädchenhafter Schönheit, sprühendem Geist und voll mit Neugierde für den jungen Spund, der ihm da wie ein lebendes Fragezeichen vor die Füße gelaufen war. Und der diese unverbergbaren Sympathien nun mit der ganzen ungestü­ men Aufnahmefähigkeit seines dreiundzwanzigjährigen Gemüts erwiderte - begierig, mehr zu erfahren. Im Lothringen des deutschen Kaiserreichs geboren; Freiwilli­ ger des Ersten Weltkriegs an der Isonzofront; nach 1918 in der Ju­ gendbewegung für Demokratie und 'völkerverbindende Mensch­ lichkeit, hatte Karl Marx mit richtiger Witterung am 5. März 1933 das Reichsgebiet verlassen und dreizehn Jahre in der Emigration zugebracht. Dort, in England, hatte er seine Frau kennengelernt, Lilly Marx, und war erst vor kurzem zurückgekehrt - nach Düs­ seldorf. Als ich Bergen-Belsen verließ, hatte ich einen neuen Freund

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gewonnen und ein neues Arbeitsfeld - in der jüdischen Zeitung, deren dienstältester Mitarbeiter mich zu nennen ich seit langem die Ehre habe. Im Mai 1946, ein Jahr nach der Befreiung, machte ich mich zusam­ men mit Egon nach Bösdorf auf, um Theodor W. zu töten. An dem Vorsatz hatte sich nichts geändert, ungeachtet der Erfahrungen, die ich mit dem Bankbeamten und der Speckrolle gemacht hatte. Für den Gemeindediener würde es keine Gnade geben. Mit der Bahn kamen wir bis Helmstedt, wo die Grenze zwi­ schen der britischen und der sowjetischen Besatzungszone ver­ lief. Dann ging es durch den Lappwald hoch nach Norden, mit uns ein junges Pärchen, das nach Salzwedel wollte. Plötzlich tauchte aus der Finsternis ein Riese auf, schrie: »Stoi!« und richtete ein Gewehr auf uns vier. Wir blieben wie er­ starrt stehen. Dann scheuchte uns der Rotarmist, den ich auf fünf­ undzwanzig Jahre schätzte, fluchend vor sich her, blieb aber in unregelmäßigen Abständen stehen, strich dem Mädchen mit den Worten »Wenn du allein, ich dich nicht verlassen« zärtlich übers Haar und fauchte plötzlich: »Weg, weg, weg!« Das ließen wir uns nicht zweimal sagen. Was wäre mir passiert, wenn in der nächsten sowjetischen Kommandantur die Pistole bei mir entdeckt wor­ den wäre? Mich schaudert noch heute bei dem Gedanken. Bösdorf erreichten wir gegen vier Uhr morgens - es war be­ reits hell geworden. Wir legten uns unter die Mühle und schlie­ fen ein. Gegen acht Uhr wachte ich auf, weckte meinen Bruder und ging mit ihm auf die Dorfstraße, die nach Rätzlingen führte. In die andere Richtung, nach Oebisfelde, war sie etwa hundert­ fünfzig Meter einsehbar, bis sie am Dorfpiatz bei der Kirche nach links abbog. An diesem Ende sah ich eine Gestalt, die in unsere Richtung ging und die ich sofort erkannte - Theodor W. Es war wie in einem Shakespeareschen Drama. Er hat ja gewußt, daß wir überlebt hatten, und deshalb diesen Augenblick wahr­ scheinlich mehr als alles andere gefürchtet. Nun war die Stunde gekommen, denn natürlich erkannte auch er uns sofort. Statt nun aber das zu tun, was zu erwarten war, nämlich zu fliehen, fort von den potentiellen Rächern, geschah genau das Gegenteil. Theodor

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W. schritt weiter auf uns zu, als zöge ihn eine magnetische Kraft da­ hin, wobei er seinen Mund bewegte und etwas redete, das ich nicht verstehen konnte, auch nicht, als er näher kam. Und das, obwohl ihm anzusehen war, daß es gegen seinen Willen geschah. Nur trieb ihn etwas, gegen das er nicht ankam - Angst, Furcht, Entsetzen. So kochte es ihm aus dem geöffneten Mund hervor, ein unverständ­ liches Zischen und Brummen, wie aus einem aufgescheuchten Bie­ nenstock, unkontrollierte Laute, die sich zu Höhen und Tiefen ver­ stiegen, während seine Augen starr auf uns gerichtet blieben. Etwa zwanzig Schritte vor uns fiel er auf die Knie, verstummte und breitete die Arme aus. Dabei richtete sich sein Blick auf mei­ ne rechte Hosentasche, in der ich die Pistole entsichert hatte. Aber - abdrücken konnte ich nicht, wieder nicht, konnte nicht einmal die Waffe hervorholen - es ging nicht. Das hatte ich bis vor wenigen Sekunden noch geglaubt, hatte mir vorgestellt, wie ich sie ihm an die Schläfe halten und abdrücken würde. Aber es ging nicht. Und das auch diesmal nicht etwa, weil irgendwelche Überlegungen an rechtliche Folgen - Anklage, Verhandlung, Ur­ teil - Platz in meiner Vorstellung gehabt hätten, nichts da. Ich drückte nicht ab, weil es nicht ging. Statt dessen sahen wir Brüder uns an, lachten und gingen, an Theodor W. vorbei, ins Dorf. Dabei streifte mein Bruder unab­ sichtlich die rechte Schulter des Gemeindedieners, wodurch er nach hinten fiel und auf den Steinen der Dorfstraße lag, ausge­ streckt wie der gekreuzigte Jesus. Vor diesem Bild - es war zuviel - liefen wir johlend davon. Hin zu Paul St., der inzwischen Bürgermeister geworden war und von dem wir nun erfuhren, daß Theodor W. Mitglied der vor einem Monat aus dem Zwangszusammenschluß von SPD und KPD entstandenen SED geworden war - ich wollte meinen Ohren nicht trauen. Mit der Autorität meiner Zugehörigkeit zur KPD Hamburg konnte diese Mitgliedschaft aber rasch aufgeho­ ben werden. Wir kamen ungeschoren über die Zonengrenze zurück. Unter­ wegs warf ich die Waffe in einen Teich - sie hatte keine Bedeu­ tung mehr. (Ich hatte den Vorsatz zu töten also dreimal nicht ausgeführt. Hätte ich abgedrückt, wenn ich die beiden Gestapomänner, die mich am Johannisbollwerk windelweich geschlagen hatten, gefun­ 269

den hätte? Ich hatte ein Leben lang Zeit, über die Antwort nach­ zudenken. Gefunden habe ich sie nicht.) Ein von mir bei der Justizbehörde von Halle (Saale) gegen Theodor W. eingeleitetes Verfahren brachte den Gemeindediener für anderthalb Jahre ins Zuchthaus. Ich fand, daß er glimpflich davongekommen war. In der britischen Zone wäre er wahrschein­ lich freigesprochen worden, soviel war der hiesigen politischen Atmosphäre bereits damals zu entnehmen. Und die Haltung der Bösdorfer? Hatten sie bei unserer Ver­ treibung im Mai 1944 eher Anteilnahme an unserem Schicksal ge­ zeigt, so machten sie nun kehrt gegen uns. Zwei weitere Besuche in Bösdorf ließen keinen Zweifel daran - mit der Anzeige hatten wir es uns bei ihnen verscherzt. Da deutete sich in embryonalen Umrissen an, was ich später, mit meinem Copyright, die »zweite Schuld« nennen werde - die Verdrängung und Verleugnung der ersten unter Hitler.

IV. Da sie überall die gleichen Artikulationen fanden, also von Men­ schen geäußert wurden, die sich nicht kennen konnten, nann­ te ich sie »kollektive Affekte«, zum Beispiel: »Es waren ja gar nicht sechs Millionen Juden, die umgebracht worden sind, son­ dern ...« - »Hitler hat nicht nur Schlechtes, er hat auch Gutes geschaffen, zum Beispiel die Autobahnen« - »Es muß doch end­ lich einmal vergessen werden, es muß doch endlich einmal mal Schluß sein« - »Aber wir haben doch von nichts gewußt« und »Was konnten wir denn dagegen machen?« Darf man da fragen: Wogegen denn? Gegen das, was man nicht gewußt haben will? Instabilitäten wie diese wohnen dem gesam­ ten Bau der kollektiven Affekte inne. Denn wie strittig die These von der Kollektivschuld auch immer sein mag, die Schuldabwehr trug unstrittig kollektive Züge. Lange bevor die irreparablen Fol­ gen der zweiten Schuld zur Kalamität des Großen Friedens mit den Tätern ausgewachsen waren, hatten meine Sensoren die Ten­ denz dahin aufgespürt. Es waren denn auch nicht soziale Trieb­ kräfte, die mich in die Kommunistische Partei Deutschlands, Lan­ desorganisation Hamburg, eintreten ließen, sondern politische: 270

mich mit denen zu verbünden, von denen ich meinte, daß sie die schärfsten Nazigegner seien. Der Nationalsozialismus hatte zwei Hauptfeinde gehabt - die Juden und die Roten, die Kommuni­ sten, die von allen parteipolitischen Gegnern den höchsten Blut­ zoll entrichtet hatten. Mußten die Feinde meiner Feinde nicht meine Freunde sein, ihre Mitglieder nicht meine politische Hei­ mat? Wenn Zugehörigkeit überhaupt möglich wäre, wo dann, wenn nicht hier? So mein damaliger Erkenntnisstand. Dazu kam, daß wir zwar durch die 8. Britische Armee befreit worden waren, wir uns aber auch immer durch die Rote Armee gerettet fühlten. Hatte sie doch die größten Opfer im Kampf gegen Hitlerdeutschland bringen müssen. Das waren die Themen, über die ich mit einer wilden Formulie­ rungsfreude in der »Hamburger Volkszeitung« schrieb. Aber sie blieb nicht mein einziges publizistisches Wirkungs­ feld. Im Herbst tauchten in der Elbchaussee drei uniformierte Eng­ länder auf, die von einer neuen Zeitschrift namens »Diese Wo­ che« berichteten, mit Sitz in Hannover und von Deutschen ge­ macht - ob ich bereit wäre, daran mitzuarbeiten? Und ob ich das wollte! Ab 4. Januar 1947 hieß die Zeitschrift »Der Spiegel« und trug im Impressum seiner ersten Nummer meinen Namen. Ich konnte mich daran nicht satt sehen. Gleichzeitig erschien in der Berliner Wochenzeitschrift »Die Weltbühne« ein Artikel von mir - »Hamburg - Anfang 1947«: ein Auswurf jugendlicher Erbitterung gegen jene Geister brauner Unbelehrbarkeit, die nun im Windschatten des Kalten Kriegs aus den Löchern ihrer Racheängste hervorkrochen, sich in nahtlosem Anschluß - »Haben wir doch immer gesagt!« - an die antisowjeti­ sche Brust schlugen und das große Wort führten. Hitler war mau­ setot, aber seine Anhängerschaft nicht. Aus allen Rohren schie­ ßend, doch ohne große Hoffnung auf Veröffentlichung, hatte ich meinen verbalisierten Grimm abgeschickt. Und nun - Autor der »Weltbühne«, der vielleicht berühmte­ sten deutschen Wochenzeitschrift, geadelt durch Namen wie Siegfried Jacobsohn, Carl von Ossietzky, Kurt Tucholsky! Meine Verzückung kannte keine Grenzen, mir schwindelte, ich ging mit dem roten Heftlein schlafen! In die Mohrenstraße Ostberlins cingeladen, lernte ich Hans

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Leonard kennen, Chefredakteur, Verlagsleiter und Mitherausge­ ber in Personalunion, ein liebenswürdiger, aber unberechenbarer Monomane. Er schickte mich, »die große Hoffnung der Partei«, zu Albert Norden, Emigrant, Jude, damals noch nicht Mitglied des Politbüros der SED, aber sehr einflußreich. Vor mir ein klu­ ger, gepflegter Mann, der Hamburg aus der Zeit vor 1933 kann­ te, sich anteilnehmend nach meiner »Vergangenheit« erkundigte, mich autorisierte, sich bei Bedarf an ihn zu wenden, und mir riet, »für das rote Blättchen weiterzuschreiben«. Was ich dann auch tat - meine Zeit schien gekommen. Nur einer war darüber nicht gerade begeistert - Karl Marx. Unsere Beziehung hatte sich inzwischen noch vertieft, ich arbei­ tete kontinuierlich mit an der »Allgemeinen Jüdischen Wochenzei­ tung in Deutschland« und begleitete Karl Marx, als die unglück­ liche »Exodus« in den Hamburger Hafen eingelaufen war - mit Tausenden von verzweifelten Zwangsrückkehrern, die schon bis vor die Küste Palästinas gelangt waren. Unter Anteilnahme der ganzen Welt und gegen ihren Protest von den Briten als »illegales Flüchtlingsschiff« überZypern ausgerechnet nach Deutschland zu­ rückgebracht, boten der lecke Seelenverkäufer und seine verzwei­ felte Fracht einen Anblick, der uns beide sprachlos machte. Natürlich hatte ich Karl Marx von meinem Eintritt in die KPD berichtet. Jetzt, beim Abschied, sagte er: »Ralph, damit hast du einen großen Fehler begangen. Eines Tages wirst du zu mir kom­ men und sagen: >Karl, es war ein Irrtum.Weltbühne< oder >SpiegelDie Partei hat immer recht« ist falsch.« Damit war das Unausdenkbare geschehen, unausdenkbar bis vor kurzem auch für mich: Ein Mitglied der Kommunistischen Partei Deutschlands hatte soeben im Heiligen Offizium der Ober­ sten Gerichtsbarkeit der alleinseligmachenden Lehre von der Un­ fehlbarkeit der Partei abgeschworen. Es ist lange her, aber die Stille, die nun eintrat, mir noch im Ohr. An der Wand Lenins Bild. Dann begannen sie zu reden, stundenlang - von der Konter­ revolution in Polen und in Ungarn, von den intellektuellen An­ stiftern, die die Wurzel allen Übels seien, von der Arbeiterschait

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beider Völker, die treu zur Sowjetunion hielten, trotz allem, was Berija dort getan habe ... So sprachen sie, an zwei Tagen, müh­ ten sich um den jungen Genossen aus Hamburg, holten mich per Auto vorn Hotel ab und brachten mich, nun Objekt der Be­ mühungen des höchsten Kontrollgremiums der Partei, wieder zurück, zäh, begütigend, geduldig. Draußen auf den Fluren Stim­ men, Schritte, Klappern von Schreibmaschinen. Und immer wie­ der, auch am zweiten Tag, ein Name: Berija. Ihn, den langjähri­ gen Leiter des Geheimdienstes, Volkskommissar, Graue Eminenz der Sowjetunion über Jahrzehnte und nach Stalins Tod von den anderen Mitgliedern des Politbüros gestürzt und zum Tod ver­ urteilt, ihn zu zitieren, den »Teufel in Menschengestalt«, wie sie sagten, wurden die drei Mitglieder der PKK nicht müde - Beri­ ja. Und Stalin? Sein Name fiel kein einziges Mal, sie mieden ihn sichtlich, gingen auch mit keinem Wort auf Vorgaben ein, die ich ihnen dazu lieferte - es konnte nicht wahr sein. Was hier geschah, war offensichtlich - die Verantwortung für das, was da an Ent­ setzlichem ruchbar geworden war, sollte nicht dem Stählernen, sie sollte seiner Kreatur Berija zugeschoben werden. Das war die offizielle Parteilinie und damit jede kreative Auseinandersetzung blockiert. Plötzlich wußte ich, was ich wollte: ihr Geständnis. Aber wie? Ein langer Tag, an dem ich scheinbar nachdenklich wurde, die Haltung der Inquisiteure wurde gelockerter, ihr Vertrauen in die Macht der Umgebung, in den Selbstlauf der Autorität größer. Ge­ gen Abend wurde ich behandelt wie ein Zurückgewonnener. Der nächste Tag, der dritte, sollte die Frucht des ungewöhnli­ chen Aufwands bringen, die Einsicht in meine Fehler, die Erklä­ rung. Ein Stück Papier, ein Schreibgerät. Ich begann. Eingangs Floskeln, übliche Wendungen, früher häufig in inbrünstiger Übereinstimmung aufgezeichnet, nun gut für eine beabsichtigte Täuschung: »Der Grund meiner Abirrung hat darin gelegen, daß ich Stalin für den Hauptverantwortlichen gehalten habe, indes mir nun klargemacht worden ist, daß der Hauptschuldige Berija heiße.« Da stand es und mußte natürlich sofort als Betrug, als Hinter­ halt entdeckt und geahndet werden. Plötzlich wurde mir angst und bange - hier, sozusagen in der Höhle des Löwen selbst, die 316

Oberste Gerichtsbarkeit hinters Licht zu führen. Das konnte nicht gutgehen. Doch es ging gut, das Blatt wurde kopfnickend entgegenge­ nommen. »Bravo, Genosse.« Wenn die Nahtstelle zwischen Emanzipation und Bruch, wenn dieser Umschlag von Quantität in Qualität zeitlich fixiert werden kann - in dieser Sekunde geschah es: Nicht um die Aufdeckung der Stalinschen Verbrechen ging es, sondern um ihre Unterschla­ gung. Die Aufhebung meiner Identifikation mit der Partei war identisch mit der Aufhebung meiner Hoffnung, die Welt könnte mit ihr bewohnbarer gemacht werden. Genickt hatte die totale Lüge - und mit der Lüge konnte es keine Koexistenz geben. Für diese Erkenntnis hatte ich elf Jahre gebraucht. Waren sie umsonst? Der Preis für den Bruch jedenfalls war hoch, und das in doppel­ ter Hinsicht: Einmal wegen des Verlustes oder wenigstens der Un­ terbrechung unersetzlicher Freundschaften angesichts des stalini­ stischen Totalitätsanspruchs, ebenso aber auch wegen des Verlustes jenes Zugehörigkeitsgefühls, das ich trotz allem in der Partei gefun­ den zu haben glaubte - eine Illusion, wie sich nun herausstellte. Es war ein Sprung durchs Fenster, ins Nichts, in die Käl­ te. Denn diese Bundesrepublik Deutschland, in die ich zurück­ kehrte, konnte ich nicht als meine politische Heimat empfinden. War doch auf ihrem Territorium dem größten geschichtsbekann­ ten Verbrechen mit Millionen und Abermillionen Opfern, die wohlbemerkt hinter den Fronten umgebracht wurden wie Insek­ ten, das größte Wiedereingliederungswerk für Täter gefolgt, das es je gegeben hat. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, waren sie nicht nur straffrei davongekommen, sie konnten ihre Karrieren auch unbeschadet fortsetzen. 32000 aktenkundige politische To­ desurteile - Kopf ab, Kopf ab, Kopf ab, wegen nichts als Bagatel­ len -, aber keiner dieser NS-Blutrichter und -ankläger wird von der bundesdeutschen Nachkriegsjustiz je rechtskräftig verurteilt werden, kein einziger. Nur ein Beispiel für die zweite Schuld. Auf beiden Augen sehend geworden, wurde mir bald klar, daß das Kodewort vom großen Frieden mit den Tätern unter eige­ nen Vorzeichen auch für die DDR galt. Ohne die Integrität vie­ ler Nazigegner antasten zu wollen - ein von oben summarisch 3i7

dekretierter Antifaschismus hatte die DDR und ihre Bevölkerung summarisch zu Mitsiegern des Zweiten Weltkriegs, ja, quasi nach­ träglich zum Bestandteil der Antihitlerkoalition erklärt, abenteu­ erliche Lügen, die jede tiefergehende Auseinandersetzung mit der Nazizeit von vornherein verbauten. Ein Antifaschismus, der die Humanitas teilt, ist keiner. Ich hatte zur Internationale der Einäugigen gezählt, Angehöri­ ger ihrer linken Fraktion, die so blind war wie die rechte mit ih­ ren Vorzeichen. Damit hatte ich mich auseinanderzusetzen, scho­ nungslos. Die Voraussetzung dafür war der Bruch mit der Partei. Er machte moralisch, intellektuell und individuell den Weg für alles frei, was kommen wird. Was aber würde das sein? Ich hatte mich gelöst, war aber nirgends angekommen, ein von beiden Sei­ ten Geächteter: Renegat für diese, Stalinist für die andere Seite und inzwischen fünfunddreißig geworden. Das Leben, bis auf die Kindheit eine Periode der Finsternis, schien zu Ende. Daß es nun überhaupt erst richtig beginnen, daß es licht wer­ den wird, ich frei und ohne jeden Druck in die Speichen meiner Begabungen greifen könnte und mir die ganze Welt offenstehen wird - wie, wie nur hätte ich das damals schon wissen können? Aber genauso kam es.

XII. Nun rasteten die Zahnräder des Schicksals ein, eines nach dem andern. Das erste: Vor zehn Jahren hatte Karl Marx prophezeit: »Ralph, damit hast du einen großen Fehler begangen. Eines Tages wirst du zu mir kommen und sagen: >Karl, es war ein Irrtum.Die Partei hat immer recht* und sind beeindruckt. Ich möchte darüber gern ein Interview mit Ihnen führen.« Einverstanden. Ich wunderte mich nur, daß ich nicht in das Stammhaus des Norddeutschen Rundfunks in der Rothen­ baumchaussee bestellt, sondern nach Lokstedt beordert wurde. Dort angekommen, sah ich mich plötzlich einer Kamera gegen­ über - und gab mein erstes Fernsehinterview. Das geschah in der Ost-West-Redaktion des NDR, dessen Leiter damals Hans-Ullrich Barth war, Nachfolger von Thilo Koch. Nach der Aufnahme nahm er mich beiseite: »Ich trage mich mit dem Gedanken, eine Sendung zu machen über innersowjetische Aufstände, wie den der Matrosen von Kronstadt, im März 1921. Wollen Sie mir da­ bei helfen?« - »Ich habe keine Ahnung vom Fernsehen.« - »Das hatten wir, als wir von der Presse, von der Uni, vom Rundfunk kamen, doch alle nicht. Also?« Ich nickte - ohne die geringste Vorstellung, daß ich damit eine Lebensweiche gestellt hatte. So kam ich zum Fernsehen.

XIII. Erste und höchst unheimliche Erfahrung des Anlernlings - am Schneidetisch übst du die Weltherrschaft aus! Auf diesem tech­ nischen Hauptinstrument des Mediums kannst du mit einheimi­ schen Politikern, afrikanischen, asiatischen oder lateinamerikani­ schen Potentaten, berühmten oder unbekannten Zeitgenossen, über Knöpfe, Tasten und Hebel tun, was dir beliebt. Du läßt le­ bende oder tote Große dieser Erde, vor denen Millionen zittern oder gezittert haben, gegen den Strich erst rückwärts marschie­ ren, dann wieder olympiaschnell nach vorne rasen; stoppst sie so, daß ein Bein läppisch in der Luft vereist (wie jetzt gerade das linke von Mao Tse-tung, Chinas rotem Gott, der dazu noch die dümmlichste Miene der Welt aufsetzt), kannst also die Starken und die Schwachen, die Riesen und die Zwerge in jeder Pose so lange verharren lassen, wie es dir beliebt. Ich sitze mucksmäuschenstill da und sage erst einmal gar nichts. Denn natürlich ist mir klar, daß hier nicht nur Komik waltet. Das Fernsehgelände des Norddeutschen Rundfunks in

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Hamburg-Lokstedt hatte damals noch keine Ähnlichkeit mit dem Manhattan-Look von heute, ja, vor dem Fenster des Schnei­ deraums, der meine neue Arbeitsstätte war, blühte sogar ein Pflaumenbäumchen, das von uns behutsam bewässert wurde eine Idylle wie aus prähistorischen Zeichen. Damals gab es nur die ARD und ab 1962 das ZDF, noch keine Privaten, keine Kommerzsender, keine digitale Technik, aber in mir schon früh Fragen, die meinen Rücken schreckhaft steiften: Hätte sich ohne die Kontrolle einer humanen Gesellschaft die Moderne mit dem Fernsehen nicht eine politische Mordwaffe ge­ schaffen, eine elektronische Atombombe? Sind seiner Manipulier­ barkeit überhaupt Grenzen gesetzt? Kann dieses in alle Himmels­ richtungen explodierende Heimkino mit der unvergleichlichen Überzeugungskraft des Bildes in unserem so bildersüchtigen und -gläubigen Zeitalter nicht alles beweisen oder dementieren, was es beweisen und dementieren will? Ich werde fast dreißig Jahre beim Fernsehen bleiben. Aber die frühe Warnung dort im Schneideraum mit dem Blick auf das blü­ hende Pflaumenbäumchen blieb unvergessen.

Die Ost-West-Redaktion des NDR in Hamburg, an die ich gera­ ten war, befaßte sich ausschließlich mit der Thematik DDR, Ost­ block, kommunistische Staaten außerhalb der Sowjetunion, wie China, Vietnam, Nordkorea und Kuba. Der Leitende Redakteur, Hans-Ullrich (»Ulli«) Barth, war Flüchtling aus der DDR, rührender Vater und problematischer Ehemann; von großer Fähigkeit, Talente anzuziehen, ohne sie halten zu können; zu seinen Mitarbeitern so charmant wie im nächsten Augenblick grob, vor allem aber im Ruf eines Kalten Kriegers stehend. Und tatsächlich - hier focht einer ohne Zwi­ schentöne seine persönliche Fehde mit der SED, der Sowjetunion und den Volksdemokratien aus, wobei das Instrument dafür sein Arbeitsplatz war. Ein alsbaldiges Lehrbeispiel - seine Reaktion auf den 13. August 1961, Beginn des innerdeutschen Mauerbaus, der wie eine Bombe in die Redaktionsarbeit einschlug. Und Ulli? Statt Entsetzen klammheimlicher Jubel: »Gut so, da zeigen die nur abermals ihr wahres Gesicht.« Was fehlte, war Empathie für die Eingeschlossenen. Worauf ich hier stieß, war ein damals in der Bundesrepublik 326

mit nahezu ungebrochener Kontinuität vorherrschender Antibol­ schewismus, Kernlehre der Naziideologie, entspannungsfeind­ lich, nichthuman und nichtdemokratisch motiviert und deshalb von mir als »perverser Antikommunismus« definiert. Wobei die DDR und ihr verheerendes Beispiel es solcher Holzhammerargu­ mentation leichtmachte. Kein Mitarbeiter der Ost-West-Redaktion nahm Barths Stand­ ort ein, und es wäre ein Kapitel für sich, den Tricks und Hintertü­ ren nachzuforschen, mit denen sich davor bewahrt wurde, in seine ziemlich fundamentalistischen Fußstapfen zu treten. Jeder seiner Versuche, Ansätze durchzusetzen, die nicht meinen eigenen er­ kämpften Kriterien entsprachen, hätte zum Abbruch der Beziehun­ gen geführt. So auch andere. Ein Mann wie Eugen Kogon (»Der SS-Staat«), mehrfach hinzugezogen, ließ sich ohnehin nicht reinre­ den, sowenig wie Alf red Kantorowicz (der nach demütigenden Jah­ ren der Verfolgung durch sudetendeutsche Vertriebenfunktionäre in München nach Hamburg umgezogen und mit seiner Frau Ingrid freudig in den Freundeskreis aufgenommen worden war). Ich hatte inzwischen herausbekommen: Die Fernsehdokumen­ tation war meine Sache, die Herstellung einer Symbiose von Bild und Wort eine wunderbare Aufgabe. Was meine eigene Begabung betrifft, habe ich mich bei der Frage: »Hast du sie oder hast du sie nicht?« nie belogen. Hier hatte ich sie. Meine erste 45-Minuten-Sendung, »Walter Ulbricht - Porträt ei­ nes Stalinisten«, hatte noch eine Koautorin (Carola Stern), die zwei­ te, »Ist die Sowjetunion unser neuer Erbfeind?«, schon nicht mehr. Sie brachte mir übrigens die erste persönliche Begegnung mit Heinrich Böll ein, als Interviewpartner im Kölner Mutterhaus des Westdeutschen Rundfunks am Wallrafplatz. Unvergessen Bölls Antwort auf die Titelfrage der Sendung (ohne auch nur den geringsten Zweifel an seiner Einstellung zur stalinistischen und poststalinistischen Sowjetunion aufkommen zu lassen): »Deut­ sche dürften die letzten sein, ein Land als Erbfeind auszurufen, das vor kurzem noch durch Deutsche über zwanzig Millionen Tote zu beklagen hatte.« Ohne an der Weltmacht Sowjetunion das Geringste zu be­ schönigen, wurde die Dokumentation eine Philippika gegen die gängige These, der militärische Angriff auf die Sowjetunion sei im Grunde gerechtfertigt gewesen und nur durch von der

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Wehrmacht ungewollte und angeblich bekämpfte Verbrechen der SS diskreditiert. Obwohl Hanns-Ullrich Barth eher dazu neigte, wurde die Sen­ dung so ausgestrahlt, wie ich sie gefertigt hatte. Aber die Spannun­ gen zwischen uns waren gewachsen. Ich hatte die Partei verlassen und über meinen Irrtum Zeugnis abgelegt, aber zum Kalten Krie­ ger taugte ich nicht.

Im Sommer 1961, zwei Jahre, nachdem ich - mit sechsunddrei­ ßig! - den Führerschein gemacht hatte, konnte ich mir von dem Salär als »Freier« das erste Auto kaufen, einen gebrauchten VW Käfer (wobei der Spaß am Fahren heute, nach weit über einer Mil­ lion zurückgelegten Kilometern, noch genauso unverbraucht ist wie damals). Was meine (bisher sehr schmalen) Einkünfte betraf, so war also ein neues Kapitel aufgeschlagen, wenngleich der Lei­ tende Redakteur ein höchst launischer Arbeitgeber blieb. Nun konnte ich immerhin den langen Weg von der kleinen Wohnung in der Elbchaussee, in der Helga und ich lebten, nach Lokstedt ohne öffentliche Verkehrsmittel zurücklegen. Dabei kam ich regelmäßig am Stammhaus des NDR in der Rothenbaum­ chaussee vorbei, wo sich mir von einem nicht mehr genau zu or­ tenden Datum an immer wieder eine Frage stellte: »Wie wird es weitergehen, was aus dir werden?« Das galt auch für einen zweiten Topos, den Stephansplatz in der Innenstadt, wo sich mir die gleiche Frage stellte, aber hier unter dem Aspekt: »Was wird aus deinem Verhältnis zu Ham­ burg werden, und was aus seinem zu dir?« - Nachdem ich mich so verzankt hatte mit ihm. Ich liebte es doch, trotz allem, was geschehen war, wollte mit ihm ins reine kommen, ihm sagen: »Nicht zuletzt du bist es, was mich hiergehalten hat.« Später, viel später, bei meiner Ehrung zum 65. Geburtstag durch den Ham­ burger Senat im März 1988, werde ich in meiner Dankesrede sa­ gen: »Bei jeder neuen Ankunft, bei jedem abermaligen Anblick Hamburgs, von welcher Himmelsrichtung auch immer - Herz­ klopfen, Herzklopfen bis zum Halse.« Es wird ein langer Weg werden bis zur Annahme und Erwiderung dieses Bekenntnisses durch die Stadt. NDR Hamburg, Rothenbaumchaussee, und Stephansplatz das waren die beiden Synonyme, an denen ich meine künftigen

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Entwicklungsstationen messen wollte, ein Ritual, das sich bis heute, da die Berührungsängste längst wohlwollender Anerken­ nung gewichen sind, erhalten hat.

Dann, an einem Oktobertag des Jahres 1961 auf dem Weg von der Redaktion zum Schneideraum in Lokstedt, eine plötzliche Eingebung, wie von einem Blitz eingebrannt, wie mit glühenden Buchstaben: »Giacomo Bertini war fünf Jahre alt, als er beschloß, sein er­ bärmliches Geburtsnest Riesi im sizilianischen Regierungsbezirk Caltanisetta auf dem Rücken eines nachbarlichen Esels unabge­ meldet zu verlassen - das Meer, Palermo, Musik.« Ich blieb wie angewurzelt stehen an der Stelle, an der es mich getroffen hatte: Ich hatte den ersten Satz meiner »Bertinis« gefun­ den, ihren wahren Anfang und großen Auftakt. Jedes Wort, jede Silbe, jeder Buchstabe stimmte, ihre Musik, ihr Rhythmus. Und das nach so langem Suchen und Tausenden von beschriebenen Sei­ ten. Fast zwanzig Jahre waren vergangen seit jener Januarnacht des Jahres 1942, als mir die Idee zu dem Buch kam, und so lange war bei der Arbeit auch die Überzeugung ausgeblieben: »Du hast es, endlich hast du es.« Jetzt waren sie da, wie ich sie immer haben wollte, beides - die Chronologie und der Stil. Deshalb sprang ich auf den Fluren zwi­ schen Redaktion und Schneideraum herum wie ein Verrückter, froh, daß es keine Zeugen gab, aber ganz sicher, daß ich auch dann nicht anders reagiert hätte auf das große Heureka! Bald darauf die erschütternde Nachricht von John F. Kennedys Ermordung, am 22. November 1963. Ich saß im Auto, abends, und stellte das Radio an, gerade als die Nachricht kam. Ich fuhr an den Straßenrand, stoppte, stellte den Motor ab und hoffte, aus einem schwarzen Traum zu erwachen. Aber - der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika war umgebracht worden. Zu der Zeit, ein Jahr nach der Kubakrise 1962, hegte ich eine große Hoff­ nung: daß der Frieden der Welt in den Händen des Dreigespanns Papst Johannes XXIII., Sowjetpremier Nikita Chruschtschow und John F. Kennedy in guten Händen läge. Ob nun durch die Geschichte gerechtfertigt oder nicht - es lebte als innige Überzeu­ gung in mir, aus der nun ein großes Stück herausgebrochen war. 329

Es dauerte eine Weile, bis ich den Motor wieder anwerfen konnte. Im NDR kriselte es. Die höchst beliebte kritische Sendung »Hallo Nachbarn« wurde abgesetzt wie auch die herrlich tabulose BBC-Produktion »That Was The Week That Was«, dazu das Magazin »Panorama« von kon­ servativer Seite so heftig attackiert, daß der Abgang seines Leiters Gert von Paczensky angesichts der schwächelnden SPD-Hälfte im NDR-Aufsichtsrat nur eine Frage der Zeit sein konnte. Was mich zunehmend bedrückte, war die thematische Beschrän­ kung auf das Ost-West-Thema. Gab es nicht noch andere, viele andere Themen ? Ich spürte doch, wie sehr die Fernseharbeit meine Sache war, mir sozusagen auf den Leib geschneidert, etwas, das meine Phantasie beflügelte, meinen Forschungsdrang, kurz alles, was an mir kreativ war. Jede meiner bisherigen Sendungen war eine Doktorarbeit gewesen - der Boden des Raumes, in dem ich sie vor­ bereitete, war bedeckt mit Papieren und Dokumenten über den jeweiligen Stoff. Ich mußte das Gefühl haben, bis an die Grenzen meiner Leistungsfähigkeit gegangen zu sein, ehe dann die Sendung aus einem großen Reservoir herausdestilliert werden konnte. Inzwischen war es 1964 geworden, waren drei Jahre vergan­ gen. Aber welche Perspektive bot sich hier? Die Lösung brachte meine nächste, umfangreichste und interes­ santeste Sendung »Moskau - Peking - Analyse eines Weltkonflik­ tes«. Da die üblichen Stereotypen des perversen Antikommunis­ mus darin fehlten, wußte ich, daß der Redakteur mit der ganzen Richtung nicht einverstanden sein würde. Was spätestens bei der Abnahme der fertig geschnittenen Sechzig-Minuten-Dokumentation ruchbar werden würde. Und so kam es denn auch, wenn­ gleich der Eklat über eine Nebensächlichkeit eskalierte. In diese Dokumentation wurde ein Besuch Nikita Chru­ schtschows in den USA während der Präsidentschaft John F. Ken­ nedys eingeschnitten, darin auch ein Besuch Hollywoods. Dabei legte Shirley MacLaine vor ihm und seiner Begleitung im Rahmen von Dreharbeiten einen Can-Can hin, dessen weibliche Wucht Nikita Sergejewitsch sichtlich irritierte. Aber nicht nur ihn, son­ dern auch den Leitenden Redakteur. Als das Licht wieder anging, schwieg er eine Weile und sagte dann: »Die Can-Can-Passage

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muß raus.« Ich: »Nein.« Wieder Schweigen, als wäre hier soeben ein Sakrileg geschehen, dann: »Dein Nein wird Folgen haben.« Es hatte Folgen. Durch meine Sendungen inspiriert, hatte das Fernsehen des WDR, genauer, sein Redakteur Jürgen Rühle, die Fühler ausge­ streckt - ob ich nicht auch für den Kölner Sender, den größten in Deutschland, arbeiten wolle? Rühle, Flüchtling aus der DDR, ehemaliger Lektor von Kiepenheuer & Witsch, Autor des Klas­ sikers »Die Schriftsteller und der Kommunismus«, war mir seit langem ein Begriff. Gerade, als ich dachte, nun sei alles aus und vorbei, rastete wieder ein Schicksalsrad ein, das fünfte - wenn diesmal auch mit einem Wermutstropfen. Zwar war es nicht auszuhalten gewesen mit Ulli, und dennoch empfand ich ihm gegenüber so etwas wie Dankbarkeit, war Hans-Ullrich Barth doch in der Tat so etwas wie der Vater meiner Fernsehbiographie. Aber mir wieder reinre­ den lassen, nur diesmal aus der anderen Ecke? Am nächsten Tag reiste ich nach Köln. Die folgenden fünfundzwanzig Jahre werden ein Dasein wie auf Flügeln sein in des Wortes buchstäblicher und übertragener Be­ deutung, ein Zustand phantastischer Schwerelosigkeit, mit Mög­ lichkeiten, die weit über meine kühnsten Träume hinausgingen. Ein Stichwort, und ich konnte in die Welt hinausfliegen - »Fasten your seatbeit!« - und in zwölf europäischen und fünfundzwan­ zig afrikanischen, lateinamerikanischen und asiatischen Ländern an die hundert Fernsehfilme machen - ohne Sonn- und Feiertage, ohne das Bedürfnis nach Urlaub oder auch nur die Andeutung von persönlicher Muße. Dabei werde ich neben meiner Profes­ sion als Autor noch manch andere Berufe erlernen müssen, als da sind: Bergsteiger, Möbeipacker, Marathonläufer, Chauffeur mit den Fähigkeiten eines Rallyefahrers, notorischer Frühaufsteher und - Beichtvater für das Team, das oft genug monatelang mit mir unterwegs ist. Hektik wird an der Tagesordnung sein, Chaos, Panik - über allem aber die Freude an einer Arbeit schweben, die immer wieder Spuren folgt, Spuren, einer nach der andern, mit unverbrauchbaren Energien, Millionen Bildern im Kopf und ei­ nem Dutzend verendeter Kameras rund um den Äquator. Es war - die Freiheit. ■

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FASTEN YOUR SEATBELT oder DAS VIERTE LEBEN (1961-1982)

I. Es war die Freiheit. Ihre Namen: Jürgen Rühle, Redakteur; Dieter Gütt, Redakteur zur besonderen Verwendung; Franz Wördemann, Chefredakteur Fernsehen des WDR - unter der Ägide des WDR-Intendanten Klaus von Bismarck. Uber ihn später mehr. Mein Einstand: ein Block von drei 45-Minuten-Sendungen unter dem gemeinsamen Titel »Kennwort Gewalt« - Gewalt im kommunistischen Machtbereich; Gewalt unter Hitler, »Jahr­ markt des Todes«; Gewalt gegen politische Gefangene in der Ge­ genwart, »Das Paradies findet nicht statt« (darin erwähnt Nelson Mandela, der vom südafrikanischen Apartheidregime gerade zu lebenslanger Haft verurteilt worden war - noch fünfundzwanzig Jahre bis zu seiner Freilassung im Februar 1990). Erste Dreharbeiten im Ausland für Sendung Nummer eins, Besuch des schwergefolterten ungarischen Publizisten (und spä­ teren Freundes) Bela Szsas in London. Während des Fluges klaus­ trophobische Beklemmungen, die mir angst machten - hegte ich doch Drehpläne mit viel längeren Flugzeiten. Als die drei Sendungen abgenommen wurden, das heißt, ich meinen Text in Gegenwart der Verantwortlichen bei laufendem Film auf dem Schneidetisch gegengelesen hatte, eine Weile Schwei­ gen. Dann sagten Jürgen Rühle und Dieter Gütt, wie aus einem Mund: »Die Arbeit entzieht sich jeder Kritik«, und Franz Wörde­ mann ergänzte: »Was sind Ihre nächsten Pläne?« Ein Blankoscheck - ich hatte Pleinpouvoir. Die nächste Sendung sollte Fernsehgeschichte machen - »Heia Sa­ fari - Die Legende von der deutschen Kolonial-Idylle in Afrika«. Nach ihr war der deutsche Kolonialismus, im Gegensatz zum bri­ tischen, französischen oder spanischen, ein guter, nein, der beste Kolonialismus gewesen. Noch ehe ich tiefer in den Stoff einge­ drungen war, wußte ich, daß es sich dabei um einen historischen Schwindel sondergleichen handelte. Zwei Ereignisse sollten mich zu dem Entschluß führen, dar­ über eine Sendung zu machen (vierzig Jahre, bevor sich das deutsche Fernsehen und die Öffentlichkeit des Themas wieder annehmen wird).

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Die »Welt der Arbeit«, Organ des Deutschen Gewerkschafts­ bundes, hatte eine kritische Serie über die Kolonialepoche be­ gonnen, sic aber schon nach wenigen Folgen kommentarlos ab­ gebrochen - so stürmisch waren die Proteste aus dem Leserkreis gewesen. Was hieß: Das Organ einer der mächtigsten und ihrem Selbstverständnis nach auch fortschrittlichsten Institution der de­ mokratischen Republik hatte vor der Legende kapituliert. Das zweite Ereignis war eine Trauerfeier in der kleinen Kirche des schleswig-holsteinischen Dorfes Pronstorf bei Segeberg, wo Paul von Lettow-Vorbeck, sozusagen das Idol der Legende über­ haupt, am 13. März 1964 vierundneunzigjährig zu Grabe getra­ gen wurde. Das hätte auf sich beruhen können, wenn der dama­ lige CDU-Bundesverteidigungsminister Kai-Uwe von Hassel am offenen Grab dem Toten nicht nachgerufen hätte: Mit General Paul von Lettow-Vorbeck werde einer der Großen unserer Zeit, ja, »ein menschliches Leitbild der Gegenwart«, bestattet. Ein Nekrolog, den niemand so überzeugend widerlegt hat­ te wie der Besungene selbst - und zwar in seinem einige Jahre vor seinem Tod erschienenen Buch »Mein Leben«. Darin erwies sich, daß der 1870 geborene kaiserlich-preußische Offizier sich in seinem fast hundertjährigen Dasein nie gewandelt hatte, eine Lektüre des Grauens: Massentötungen von Menschen, »Eingebo­ renen« selbstverständlich, werden darin im Jägerjargon geschil­ dert, die Vernichtungsstrategie der deutschen Kolonialkriege in Ost- und Südwestafrika ausdrücklich gebilligt und die Gleichbe­ rechtigung von schwarz und weiß keineswegs nur für die Vergan­ genheit, sondern auch für die Gegenwart verneint. Dazu kommt, daß der General nicht nur bewundernde Worte für Hitler findet und jeden Widerstand gegen ihn verwirft - er erhoffte dessen Sieg auch noch öffentlich, als die britischen Truppen Anfang Mai 1945 schon vor Hamburgs Toren standen. Das war der Mann, den ein Verteidigungsminister der Bundes­ republik Deutschland zwanzig Jahre nach dem Untergang des Dritten Reichs der deutschen Jugend als »menschliches Leitbild der Gegenwart« anzupreisen wagte. Danach stand für mich fest: Du produzierst »Heia Safari - Die Legende von der deutschen Kolonial-Idylle«! Aber - kriegte ich dafür auch die Genehmigung? Also ging ich zu Dieter Gütt. Da saß er vor mir in seiner Redaktionsklause, von bedrohlicher 336

Präsenz, weißgesichtig, korpulent, schwer durchschaubar, hörte stumm zu und sagte, nachdem ich geendet hatte: »O. k.« Ich hatte grünes Licht. Anfang Januar 1966 ging es los. Landung Nairobi Airport, Kenia, 1500 Meter hoch. Kühle. Wer hatte behauptet, Afrika sei heiß? Dann mit dem Propellerflug­ zeug über die schneegekrönte Majestät des Kilimandscharo nach Daressalam, damals Hauptstadt von Tansania, ehemals DeutschOstafrika. Tropisches Küstenklima - es ist, als würde dem Team, Kameramann, Kameraassistent, Toningenieur und mir, ein glü­ hendheißes Tuch über das Gesicht gepreßt werden. Außer in Tansania werden wir in Kamerun drehen. Die Ein­ reise ins ehemalige Deutsch-Südwestafrika war uns von den Be­ hörden der Südafrikanischen Union verweigert worden. Ich hatte fast zwei Jahre in den Schriften der deutschen Kolo­ nialepoche in Afrika (1884-1918) gewühlt, in der Flut amtlicher Dokumente, den Protokollen des Reichstags, des Kolonialrats und der zeitgenössischen Presse - eine unübertreffliche Selbstcharaktisierung. Ein Zeitalter, das nicht ahnte, einst Gegenstand einer Legende zu werden, hatte präzise Buch geführt: Krieg, Krieg und noch einmal Krieg. In Deutsch-Ost Buschiri-Aufstand, Aufstand der Polizeisoldaten, Aufstand der Massai und Wahehe (»Maji-Maji«); blutig unterdrückte Erhebungen in Ka­ merun, und in Deutsch-Südwest der Untergang der Herero im Durstgebiet der gefürchteten Omahekewüste: »Innerhalb der deutschen Grenze wird jeder Herero, mit oder ohne Gewehr, er­ schossen. Ich nehme keine Weiber und Kinder mehr auf, treibe sie zu ihrem Volk zurück oder lasse auf sie schießen. Der große General des mächtigen Kaisers von Trotha.« Anfang 1904, vor Beginn der Feindseligkeiten, wurden die Herero auf hunderttausend Köpfe geschätzt. Nach der letzten amtlichen Zählung 1913 waren es noch 21 699. »An vielen Stellen war in fünfzehn bis zwanzig Meter tiefen, aufgewühlten Löchern vergeblich nach Wasser gegraben worden. Das Drama spielte sich auf der dunklen Bühne des Sandfeldes ab. Aber' als die Regenzeit kam, als sich die Bühne allmählich erhellte und unsere Patrouillen bis zur Grenze des Betschuanalandcs vorstießen, da enthüllte sich ihrem Auge das grauenhafte 337

Bild verdursteter Heereszüge. Das Röcheln der Sterbenden und das Wutgeheul des Wahnsinns - sie verhallten in der erhabenen Stille der Unendlichkeit. Das Strafgericht hatte sein Ende gefun­ den. Die Hereros hatten aufgehört, ein selbständiger Volksstamm zu sein.« So steht es im Abschlußbericht des deutschen Generalstabs über den ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts. Nie wieder, bis auf den heutigen Tag, bin ich in einem amtlichen Dokument einer solchen Mischung von perverser Poetik und blumigem Stil zur Rechtfertigung eines kollektiven Massakers begegnet. Es ist wahr, jede Kolonialpolitik basiert auf den zwei Säulen Gewalt und Ausbeutung, aber auf einem Gebiet war die deutsche einzigartig - dem der Prügelstrafe. In den Schriften des Reichs­ kolonialamts akribisch bis auf den letzten Hieb registriert, zählt ihre inflationäre Anwendung zur schrecklichsten Lektüre, die mir je außerhalb der Hitlerära vor Augen gekommen ist. Eine ver­ gleichende Prügelstatistik aller vier deutschen Kolonien für die Jahre 1901 und 1913 zeigt ihre Eskalation: »Deutsch-Ostafrika: 3467-8057, Kamerun: 315-4800, Deutsch-Südwest: 257-1655, Togo: 162-832«. Reichskolonialamt, Akten-Nr. 5379, Blatt 134. Das Schlaginstrument - der Kiboko, die Peitsche aus Nilpferd­ haut. Ich habe eines dieser Mordwerkzeuge mitgebracht, es steht hier in der Ecke meines Arbeitszimmers, und dies ist seine Ge­ schichte. Bei den Dreharbeiten an der Ostküste Tansanias, in der Nähe von Bagamoyo, kommen wir mit den Einwohnern ins Gespräch über unser Thema. Da taucht plötzlich ein sehr alter, aber noch rüstiger Mann auf, beginnt unaufgefordert in verständlichem Eng­ lisch über die deutsche Kolonialzeit zu sprechen und kommt dabei rasch auf die Prügelstrafe. Dann reißt er sein weißes Obergewand von der linken Schulter, wodurch drei parallel nebeneinanderlau­ fende dicke Striemen sichtbar werden, eilt in ein nahes Haus und tritt, ich traue meinen Augen nicht, mit einem Kiboko in der Hand wieder daraus hervor. Und nun kommt es zu einer gespenstischen Szene - er ahmt die Prügelstrafe von damals nach, die Tortur von einst, die er selber erlitten hat. Holt wuchtig aus, zählt in seiner Stammessprache die Hiebe, zählt und zählt, immer erregter, immer lauter, bis er kreischt: »Der letzte für den Kaiser« - auf deutsch!

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Diesen Satz hatte er nicht vergessen, obwohl damals, 1966, mehr als fünfzig Jahre vergangen waren, seit er ihn zuletzt ver­ nommen haben konnte: »Der letzte für den Kaiser.« Außer die­ sen fünf deutschen Worten kannte er keines. Wir standen wie gelähmt da. Noch erschütternder als das Studium der Dokumente von ko­ lonialer Gewalt und Ausbeutung aber war die Begegnung mit An­ gehörigen der Gruppe, die von den Kolonialisten am schändlich­ sten mißbraucht worden waren und von ihren Apologeten nach wie vor mißbraucht werden - die treuen schwarzen Seelen, allen voran die Askari, farbige Soldaten der deutschen Schutztruppe. Und das erschütterndste daran - sie sangen nach wie vor das Loblied auf ihre Kolonialherren von einst. Wie der weißhaarige Samuel Njau aus Tansania, der in gebrochenem Deutsch sag­ te: »Woher habe ich diese Schreiben, Lesen, Religion? Ich habe sie gekriegt von deutsche Mission. So wie kann ich vergessen?« Oder in Kamerun der ehrwürdige Joki, ebenfalls auf deutsch: »Die Deutschen werden hier nie vergessen, denn die Leute fühlen bis auf den heutigen Tag, was sie wirklich gearbeitet haben.« Ich werde diese Gesichter, diese Stimmen am Strand des Indi­ schen Ozeans zwischen Daressalam und Bagamoyo nicht verges­ sen. Nur war Treue durch ein persönliches Verhältnis zu einem oder mehreren weißen Herren nie typisch gewesen für die Bezie­ hungen zwischen Kolonisierern und Kolonisierten. Die Verklä­ rung der eigenen Jugend hebt weder die Unbestechlichkeit der Dokumente auf, noch schreibt sie die Kolonialgeschichte Afrika anders. Die Legende aber erreicht hier den Höhepunkt ihrer Unauf­ richtigkeit. Denn wer rief da seit 1918, dem Jahr des Verlustes der Kolonien, nach Afrikanern als Kronzeugen deutscher Kolo­ nisationsfähigkeit? Leute, die die betrügerischen Verträge zwi­ schen unwissenden und eingeschüchterten Häuptlingen und dem deutschen Kaiserreich zu einem Akt des Völkerrechts erklärten; die darüber feilschten, ob in dem (deutscherseits selbstverständ­ lich gerechtfertigten) Krieg gegen die Hereros 80000 oder 40000 von ihnen im Sandfeld der Omaheke verdursteten; die in konservativeh Organen des Jahres 1966 noch die Niedermetzelung von Afrikanern als »Befriedung« bezeichneten, jede Forderung nach Gleichberechtigung von weiß und schwarz als Zumutung

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zurückwiesen und, nach der tausendsten Beschwörung der treu­ en schwarzen Seelen, voller Entsetzen fragten: »Wird Südwest­ afrika Negerdiktatur?« Unfähig, das Wertesystem der Kolonial­ epoche zu überwinden, werden die Anhänger der Legende nicht müde, die Opfer ihres Rassendünkels in ihre Fürsprecher zu ver­ wandeln. Noch vierzig Jahre nach der Ausstrahlung von »Heia Safari«, also zu Beginn des 21. Jahrhunderts, werden Autoren von mehr oder weniger kritischen Fernsehdokumentationen über die Kolo­ nialzeit die Unsterblichkeit der Legende zu spüren bekommen. Mir hatte der Einblick in die Geschichte rasch erschlossen, daß cs im Kaiserreich nie eine Koloniallegende gegeben hatte - Presse und Reichstagsprotokolle waren vielmehr voll von den »Koloni­ alskandalen«, ein Komplex, der bis zum Kriegsausbruch 1914 im­ mer mehr auf eine offene Bankrotterklärung zugesteuert war. Die Legende kommt erst danach. Ihre Urzündung: die Unfähigkeit einer Mehrheit der damali­ gen Deutschen, die Niederlage von 1918 anzuerkennen. Wenn denn schon die Siegesträume dahinwaren und in Europa alles danebengegangen war, dann sollte es jedenfalls eine überseeische Domäne ohne Fehl und Tadel gegeben haben. Um wieviel mehr galt das nach dem Zweiten Weltkrieg, in dessen Verlauf Deutsch­ land Europa in Trümmer gelegt und sich die Sehnsucht nach ei­ nem Fetzen heiler Welt noch einmal ungeahnt verstärkt hatte. Im März 1966, nach zweieinhalb Monaten Dreharbeit, kehrte das Team zurück nach Köln, und ich machte mich an den Schnitt. Der erste Teil der Doppelsendung von je 45 Minuten befaßte sich mit der kriegerischen Eroberung, der zweite Teil mit dem Ge­ samtfiasko der deutschen Kolonialpolitik bis zur letzten großen Debatte im Reichstag vom März 1914. Im Sommer lagen beide Rollen auf dem Schneidetisch. Wie würde Dieter Gütt, der verantwortliche Redakteur, darauf reagie­ ren? Nachdem ich meinen Text zum Film verlesen hatte, neunzig Minuten lang, schwieg er ausgiebig, ehe er spöttisch fragte: »Gior­ dano, Sie glauben doch nicht, daß das jemals über den Bildschirm gehen wird?« Und als ich eine jähe Bewegung machte, weil diese Reaktion so gar nicht zu dem kämpferischen Stil des stellvertre­ tenden Chefredakteurs der Abteilung Politik im WDR-Fernse-

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hen passen wollte, fügte er hinzu: »In dem Fall würde ich die Kabinettsfrage stellen.« Das heißt: Obwohl er Ärger und Schlimmeres befürchtete, hatte Gütt sein Plazet gegeben - ebenso, wie es wenig später Chef­ redakteur Franz Wördemann und Programmdirektor Hans Lan­ ge taten. Ich war ungeheuer erleichtert. Die Ausstrahlung wurde auf den 5. und 6. Oktober 1966 im ARD-Programm festgesetzt, einem Mittwoch und einem Donnerstag, zur besten Sendezeit. Und so geschah es dann auch. Klaus von Bismarck, der Intendant des WDR, ließ sich die Doppelsendung erst am 15. Oktober vorführen - inmitten eines Proteststurms, der alle Erwartungen übertraf. Noch in der Nacht zum 6. Oktober hatte Eugen Gerstenmaier, seines Zeichens Bun­ destagspräsident und bekannter Großwildjäger, versucht Klaus von Bismarck in einem Telefongespräch zur Absetzung des zwei­ ten Teils von »Heia Safari« zu bewegen. Dem wurde nicht statt­ gegeben. Was dann auf den Sender niederprasselte, war ein wahres Erd­ beben von Schmäh- und Empörungsbriefen, an die tausend, viele davon anonym. Ich selbst wurde das Ziel zahlreicher schriftlicher und mündlicher Morddrohungen, die mich im WDR oder pri­ vat in Hamburg und Köln erreichten. Der Druck war so groß, daß Dieter Gütt dem Intendanten mitteilte: »Ich werde der Sa­ che nicht mehr Herr.« Die Rechtspresse schrie: »Geschichtsfäl­ schung!«, von Bismarck ließ mich kommen, stellte ein paar Fra­ gen und - kündigte eine weitere Sendung an. Nicht des kritischen Inhalts wegen, wie es hieß, sondern wegen seiner polemischen Form. Gleichzeitig stellte er eine öffentliche Diskussion über »Heia Safari« im WDR in Aussicht. Ich hatte mittlerweile Grund zu der Annahme, daß »Heia Safari« nie gesendet worden wäre, wenn der Intendant die Filme vor der Ausstrahlung gesehen hät­ te. Die Zusage einer weiteren Sendung mit dem gleichen Thema wurde nicht eingehalten, wohl aber die der Fernsehdiskussion. Sie fand im Februar 1967 statt. Der Kreis der Diskussionsteilnehmer wurde von der Leitung des Senders fast ausschließlich aus den Absendern der eingegange­ nen Empörerpost zusammengesetzt. Entsprechend war die Szene dann auch - auf der Tribüne eine Schar von Kolonialapologeten,

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meist betagteren Jahrgangs und von einem Kollegen der Bildregie nach zwei Stunden hin- und herwogender Diskussion unter einer Art Schockwirkung als »wilhelminische Menagerie« charakteri­ siert. Im Zeichen der Abwiegelung, auf die sich der Sender einge­ lassen hatte, kam nicht viel mehr heraus als die Seibstentlarvung geballter Unbelehrbarkeit. Ein wahres Bild der öffentlichen Re­ aktionen auf die Sendung ergab sich daraus jedoch nicht, wie die turnusmäßige Abfrage bei einem »repräsentativ ausgewählten« Zuschauerkreis ergab. Danach unterstützten über fünfzig Pro­ zent die Darstellung, vierzig Prozent schwankten, und nur acht Prozent bekundeten eine ausgesprochen negative Haltung. Für den Autor war es ein Durchbruch. Ganz glücklich gemacht hat er mich dennoch nicht. Es war Jür­ gen Rühle, der mich einige Zeit danach beiseite nahm und fragte: »Weißt du, welchen Eindruck ich hatte? Daß du fortwährend auf die >Deutsche Nationalzeitung< eingedroschen hast.« Ich war wie vom Donner gerührt, weil ich sofort erkannte, daß das zutraf. Hatte ich mein freudiges Entzücken, mit dem ich die hysterische Reaktion dieser Gazette des zeitgenössischen Natio­ nalsozialismus auf die Sendung registrierte, doch noch allzugut in Erinnerung. Was der Sendung fehlte, gänzlich fehlte, waren die Nachweise privater Bindungen an Afrika, war die Empathie für Menschen, die dort ihre Heimat gefunden hatten, die sich verzaubern ließen von Afrika, es liebten, ihr Leben da hineingesteckt hatten, ihm verfielen. Nichts, gar nichts wäre von der historischen Wahrheit beschädigt worden, wenn ich auch diese Seite berührt hätte. Aber ich tat es nicht, und je öfter ich in den folgenden Jahrzehnten dort landen werde, je vertrauter mir dort alles wird, desto tiefer habe ich dieses Defizit von »Heia Safari« empfunden. War und bin ich Afrika doch selbst hoffnungslos verfallen, ver­ fallen bis hinein in die Sentimentalität.

In Kamerun, nachts, zwischen Edea und Douala, auf der noch sonnenwarmen Asphaltdecke hockend. Rechts und links der Straße das große Tropenkonzert, Afrikas grelles Urwaldorche­ ster. Bis schließlich alles übertönt wird von dem rhythmischen, unerschöpflichen, sich sekundengenau wiederholenden, trommel­ fellsprengenden Gezirp einer einzigen Zikade. 342

Farbschriller Zusammenprall zweier feindlicher Klimazonen, hoch aus der Luft über Uganda erspäht: der tropische Regenwald des Kongo, zweitausend Kilometer vom atlantischen Westen her siegreich, verdurstet der kontinentale Grünpelz hier mit unzähli ­ gen, weit ausgeworfenen Tentakeln bräunelnd in der triumphie­ renden Steppe Ostafrikas.

Kenia. Kühle Lodge, leichtabfallender Hang zum Wasser; Vögel in Scharen, fliegend oder schwimmend; Baumstümpfe, scharf abgezeichnet gegen bizarre Wolkengebirge eines dämmernden Himmels; Tertiärpanorama, Kohlezeitlandschaft - Abend am Naivashasee. In der Nähe von Muea. Maisfelder - ein bewässertes Stück Afrika breitet seinen Segen aus. Grüne, Frische, Tau, das erste zarte Korn herrlich schmekkend, und im Hintergrund, mit ragenden Eiszacken, der große Spender Mount Kenya. Wie trunken stapfe ich tiefer zwischen den Stauden, sicher, an diesem Morgen schon die Hälfte dessen, was ein Leben an voll­ kommenem Glücksgefühl bereithalten kann, soeben erfahren zu haben. Ich habe die Erde Afrikas gerochen, sein Licht erblickt und beides in mich eingesogen - danach kann die Welt nie wieder so sein, wie sie vorher war.

II. »Slums - Hinterhof der Menschheit.« Kanisterheime, Erdhöhlen, Särge voll aussätzigen Lebens, Ren­ dezvous der leeren Mägen, Barackenwüste, Schwärme von Insek­ ten, Geschrei, Staub; Vogelscheuchen von Stadtlandschaften, Röh­ ren als letzte Zufluchtsstätte, die gekrümmten Bewohner von Geiern belauert - Lagos, Hauptstadt von Nigeria. Lateinamerikas schmutzstarrende Warteräumc, wo Frauen und Mädchen ihre Kinder für nichts gebären als den Barriadaund Favclatod der Seuchen, der Schwindsucht und des Hungers. Die Schorflawinen an deh moros, den Hängen von Rio; der Wür­ 343

gegriff aus Gestank und Krankheit um Lima, Wohnhöllen ohne Wasser, Lieht und sanitäre Anlagen längs der tiefen und schmalen Schlucht des Rimac; Bogotas faulender Süden; Altiplano - die un­ endliche Verlassenheit der Peripherie von La Paz. Tunnelartige Einbuchtungen, gewühlt in den gigantischen Aus­ wurf der Millionenstadt, Höhlen, Gruben in der Erde, ein Stück Dachpappe über dem Loch zwischen sich und dem Himmel, ein ungeheuerlicher Geruch, und mittendrin Wesen, die mit Forken, Schaufeln und Händen in dem dampfenden, gärenden Auswurf der Müllwagen zwischen Ratten und Gasen nach Verwertbarem stochern, Geschöpfe von einem zähen, nicht mehr abwaschbaren Grau, die Rückkehr zu prähistorischen Daseinsformen, wie ein letzter, allerletzter Abschied - die Stinkmenschen von Santiago de Chile! Aber es ging noch ein Geschoß tiefer - da lagen sie, auf dem Boden einer großen Halle - letztes Stadium von Tuberkulose, Hungerdelirien, Fieberagonie, das Ende eines ganzen Lebens in ständiger Erschöpfung. Ein Greis, der gefüttert wird, teilt einer europäischen Schwester stoßatmig mit, daß er seit seiner Kind­ heit nie mehr auf einer weichen Unterlage wie dieser geruht habe - und stirbt. Eine Frau, keine fünfzig, aber uralt, will etwas sagen, keucht, fällt zurück - und stirbt, zwei von vierzig, deren Zeuge ich allein an diesem Tag werde: Kalkutta, Haus der ster­ benden Obdachlosen. Und alle, die ich gesehen habe, starben mit dem gleichen Gesichtsausdruck: Staunen. Denn was sie hier in der Nähe des Kalitempels während ihrer letzten Stunden oder auch nur Minuten unter dem Dach der nachmaligen Nobelpreis­ trägerin Mutter Theresa erfahren, ist etwas, das sie nie kennenge­ lernt hatten - Hilfe, Güte, Trost, Achtung. Ich hatte vor der Abreise einmal um die Welt gewußt, daß dies keine Monate der Erbauung sein würden, nicht aber, daß wir ei­ nen Kriegsschauplatz kennenlernen würden, das soziale Ghetto unserer Epoche, die Krätze auf der Haut der globalen Armut, spät erschienen auf der Karte des internationalen Krisenbewußt­ seins, vielleicht schon zu spät. Als ich das erste Mal nach Nairobi kam, 1966, konnte man vom äußeren Rand der kenianischen Hauptstadt noch die Hochbauten der City erkennen. Zehn Jahre später, kurz vor Jomo Kenyattas Tod, waren sie von der Peripherie her vollständig verschwunden. 344

Die shanti.es und bustis, die favelas, barriadas und callampas dieser Erde werden wachsen, hieß es damals im Text meiner Sendung, und das in der geheimen Hoffnung, daß meine Arbeit ihr Molekül zur Verhinderung dieser düsteren Vision beitragen könnte (wie es mir auch bei anderen Sendungen mit globalen Themen ergehen wird). Heute, vierzig Jahre später, schaudert es mich sowohl vor der Richtigkeit der Prophetie als auch vor der Naivität meiner Illusionen - Säo Paulo 25 Millionen Einwohner, Mexico-City gar 30 Millionen. Und das als Teil einer offenbar un­ umkehrbaren großen Landflucht und Verstädterung der Mensch­ heit, die inzwischen alle pessimistischen Prognosen weit hinter sich gelassen und zu einer globalen Migration geführt hat, deren bevorzugtes Ziel wir selbst geworden sind. »Slums - Hinterhof der Menschheit« wurde zu einer vieldisku­ tierten Sendung. Die Cutterin mußte ausgewechselt werden - Bild und Text hatten ihre seelische Strapazierfähigkeit überfordert. Kameramann, wie schon bei »Heia Safari«, war Josef (»Jossi«) Kaufmann, 1936 in Tel Aviv als Sohn eines deutsch-jüdi­ schen Vaters und einer griechischen Jüdin geboren, Veteran des Sinaifeldzugs 1956 und seit 1958 in der Bundesrepublik. Als ich zum WDR kam, war er dort bereits eine Berühmtheit. Vor­ verständigung zwischen uns war nicht nötig, sowenig wie bei Georg Stefan Troller, der gerade dabei war, sich mit seinem »Pa­ riser Journal« in die Geschichte des deutschen Fernsehens ein­ zuschreiben. Andere, zum Teil alteingesessene Kollegen waren Rudolf Rohlinger, Claus-Hinrich Casdorff, Dieter Kronzucker, Peter Scholl-Latour, Olrik Breckhoff, Ernst Ludwig (»Elu«) Freisewinkel. Mit mir von Hamburg-Lokstedt zum WDR gekommen war Claus-Ferdinand Siegfried. Ebenfalls vom Leiter der Ost-WestRedaktion oft genug unzumutbar behandelt, fiel ihm der Wechsel nach Köln nicht schwer, nachdem wir beim NDR geradezu ideal zusammengearbeitet hatten. Er, der mich in die Technik des neu­ en Mediums einführte und dazu Regiearbeiten übernahm, ich, der Autor, der ihm beibrachte, wie in Symbiose zwischen Bild und Wort filmisch gestaltet und komponiert werden konnte. Das wird sich dann einige Jahre beim WDR fortsetzen, bis der sieben Jahre Jüngere sich mit eigenen Sendungen verselbständigte. Auch daraus entstand eine Lebensfreundschaft.

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Als damals, und für lange noch, Freier war ich in Köln nur, wenn die Sendungen geschnitten, betextet und endgefertigt wur­ den, eine Angelegenheit von jeweils drei bis vier Wochen Dauer. Dann wohnte ich, oft von Helga begleitet, in Hotels oder Pen­ sionen, auch auf der schäl Sick, also der »falschen«, der rechten Rheinseite, etwa in Köln-Mülheim. Dabei gab es Verständigungs­ schwierigkeiten, z. B. im Tante-Emma-Laden um die Ecke. Dort wurde nicht nur Kölsch gesprochen, sondern Müllemer Platt was für mich wie Botokudisch war (die Botokuden sind ein India­ nerstamm am Amazonas, deren Idiom ich genausowenig verstan­ den hätte). Überhaupt hatte ich Schwierigkeiten mit der Landessprache. Das Kölsche war mir zu weich, zu entfernt von der Härte und Klarheit des gewohnten Hamburgisch - der gedehnte A-Umlaut gar - »Ä« statt einem reinen »E« - bereitete mir fast körperliche Schmerzen. Dann jedoch bemerkte ich zu meiner Überraschung, daß sich die Aversion gegen den Dialekt aufgehoben sah bei Men­ schen, denen ich nähergekommen war. So etwa meinem Fahrer­ kollegen Eddi, Kölner Urgestein, mit dem ich im Lauf der Jahre Tausende von Kilometern durch Europa gekurvt bin - es mach­ te mir Spaß, ihn sprechen zu hören. So forderte ich ihn dann in periodischen Abständen auf: »Eddi, sag doch mal >Köln-KalkKöln-KalkHalten zu Gnaden«? Herrlich - >halten zu Gnaden!* Ganz herr­ lich ...« Der sonst so disziplinierte Mann kriegte sich, wie man so schön sagt, buchstäblich »nicht mehr ein«. Die Wendung hat ihm, dem weit über seinen Ursprung hinaus­ gewachsenen liberalen Sprößling einer altmärkischen Adelssippc, 347

die den Eisernen Kanzler Otto von Bismarck gestellt hatte, offen­ bar gefallen - ganz mächtig gefallen sogar.

Im August 1967 hatten Helga und ich geheiratet. Wir kannten uns jetzt seit 1945 und waren seit 1948 zusammen. Sie war in den fünfziger Jahren einem ungeliebten Beruf im Ham­ burger Wohnungsamt nachgegangen, bis 1961 ganztägig, dann dank meiner Arbeit beim Fernsehen auf halbe Tage verkürzt. Seit 1964, also meinem Antritt beim WDR, konnte sie ganz zu Hause bleiben. Ich hatte oben schon gesagt, sie sei das Glück und der Reich­ tum meines Lebens gewesen, und ich wiederhole es hier. Ob ich nach Monaten von einer Drehreise in der Welt oder nach einem kurzen Einkauf in dem kleinen Delikatessengeschäft nebenan in unsere kleine Wohnung an der Elbchaussee zurückkehrte - wenn ich Helga sah, lächelte es in mir, wurde es heller, als wäre ein un­ sichtbares Licht angezündet worden. Ich hatte nur einen Wunsch: für sie dazusein, für sie zu sorgen, sie zu beschützen (was ich in fi­ nanzieller Hinsicht lange nicht gekonnt hatte). Was in mir gut ist (und in mir ist durchaus nicht alles gut), hat sie mobilisiert - nicht bewußt, nicht als pädagogische Aktion, sondern durch ihre blo­ ße Existenz. Ich konnte nicht an ihr vorbeizugehen, ohne sie zu streicheln. Ihre geliebten Eltern waren gestorben, die Mutter 1952, der Vater ein Jahr später, und das Haus am Elmshorner Sandweg 100, wo sie zuletzt gewohnt hatten, mußte verkauft werden. Sie hatte nur mich, und so ging denn die Große Kraft in mir fast nahtlos von meiner Mutter auf meine Frau über. Fast von unserer ersten Begegnung an fand ich sie krän­ kelnd - Gliederschmerzen, Migräne, Herzbeschwerden, Leiden, die sich im Lauf der Zeit verstärkten. Parallel dazu dann seit dem Frühjahr 1959, und mit Ursprung in der Nazizeit, meine Magen­ krankheit, die mich, wo immer ich auch war, dreihundert von den dreihundertfünfundsechzig Tagen des Jahres vor dem Bett schlaflos knien ließ, weil die Schmerzen liegend noch größer wa­ ren. Das Übel war chronisch geworden. Ein Psychiater, den ich gleich nach Beginn der Krämpfe aufsuchte, hatte nach kurzer An­ hörung meiner biographischen Eckdaten lapidar erklärt: »Nazis weg, KPD weg - aber nun schaffen Sie sich ihre eigene Gestapo 348

und Parteikontrollkommission - offenbar können Sie ohne den gewohnten Druck nicht leben.« Keine ermutigende Diagnose - was immer daran wahr war oder nicht. Dazu kam noch die ebenfalls chronische Bürde unser beider Albträume, die ihre Ursache ebenfalls in den Erlebnissen bis 1945 hatten - bei Helga durch die Verhaftung ihres Mannes, jüdischer Mischling ersten Grades, im Jahr 1942 wegen ihrer gegen die Nürnberger Gesetze verstoßenden Heirat von 1940. Sobald sie von solchen Träumen heimgesucht wurde, begann sie zu stöhnen und zu wimmern, was meist rasch dadurch been­ det wurde, daß ich nach ihrer Hand griff und sie wach rüttelte. Es dauerte, bis sie wieder einschlief. Das Muster meiner Albträume blieb unverändert bestehen die Folterszene kam langsam auf mich zu, bis sie nach mir griff und ich mich selbst aus dem Entsetzen herauskatapultierte. Was sich aber im Lauf der Jahre geändert hatte, und zwar bei uns bei­ den, waren die Abstände zwischen den Heimsuchungen - sie wur­ den immer kürzer. Dennoch - heute frage ich mich, wie - hatten wir die Kraft, uns das Leben dadurch nicht verdüstern zu lassen. Ihr Kummer war, daß sie sich zu korpulent fand, was der Schönheit ihres Gesichts jedoch keinen Abbruch tat. Ich gestehe, daß ich ein Fetischist weiblicher Physiognomie bin, einer, der von Frauenantlitzen bis zur Verzückung hingerissen werden kann. Aber das Gesicht meiner Frau war von einer Paarung, wie ich sie so nie wieder gefunden habe - Glanz und Würde. Es mag komisch klingen oder gar übertrieben, doch Wahrheit ist, daß ich mich an ihr über die ganzen neununddreißig Jahre hin, die wir uns kannten, nicht satt sehen konnte. Als gebürtige Schleswig-Holsteinerin war Helga übrigens eine Protagonistin des spitzen norddeutschen »St« und »Sp«, eine un­ erschütterliche Lottospielerin (mit der Zahlenreihe 6, 15, 24, 37, 38, 40) und, wie ich, eine glühende Liebhaberin von Tieren, be­ sonders solchen mit Fell. Was uns fundamental einte, war die Na­ zigegnerschaft ab ovo, also auch die Wut und die Empörung über die nahezu kollektive Entstrafung der Täter in der Nachkriegzeit, eine irreparable Tragödie, die zweite Schuld. Der »Häkelbütel«, diese in periodischen Abständen ausdau­ ernd stattfindende Zusammenkunft ehemaliger Schülerinnen des 349

Abiturjahrgangs 1933 aus Elmshorn und Umgebung, existierte unbeirrt weiter, darunter ich als sozusagen männliches Inventar, wenngleich nun durch die weiten Reisen mit seltenerer Anwesen­ heit. Wo ich auch drehte, ich schrieb Helga fast täglich, von über­ allher - Briefe, die allesamt, ohne Ausnahme, davon geprägt waren, daß darin so gut wie kein Wort von meinen Erlebnissen und Begegnungen unterwegs steht, nichts von den Landschaften und den Menschen, die meine Wege kreuzten, von den großen und den kleinen Problemen, die dem Team zu schaffen mach­ ten und die Aufgabe erschwerten. Ich blättere heute darin und stelle mit seltsamer Genugtuung fest, daß sich darin nichts als zärtliche Beteuerungen finden, immer wieder, in phantasievollen Variationen, doch dem stets gleichen Tenor: »Ich hab’ dich lieb.« Ich kann das nicht lesen, ohne zu weinen. Denn es wird die Zeit kommen, da alle vorangegangenen Leiden meiner Frau zu ei­ nem bloßen Vorspiel werden sollten. Was wir damals glücklicher­ weise nicht wußten.

Jetzt war es ein Leben wie auf Flügeln - ein Stichwort, und ich konnte hinausfliegen in die Welt und von dort berichten: »Hun­ ger - Herausforderung auf Leben und Tod«, »Flüchtlinge - Odys­ see unserer Tage«, »Folter - Schmach unserer Tage«, um nur ei­ nige Titel zu nennen. Themen im voraus hatte ich in Fülle, für hundert Jahre - woll­ te den großen und den kleinen Dingen dieser Welt auf den Leib rücken, den Freuden und Leiden der Menschen; wollte ihren Sau­ erstoff und ihren Stickstoff einatmen; in den Amazonas eindrin­ gen, den Anapurna, den Daulaghiri und den Himalaya aus der Nähe grüßen; wollte mehr, viel mehr von Europa kennenlernen als bisher - das geteilte Irland; das biographisch phosphoreszie­ rende Sizilien; Kretas dunkle Geschichte und die kidnappenden Schafhirten Sardiniens; wollte Azteken-, wollte Inkaland betre­ ten - und Indien, Indien inhalieren! Das alles und viel mehr noch wollte ich jenseits aller touristischen Aspekte erforschen, ergrün­ den, ertasten. Und erforschte, ergründete, ertastete es dann auch tatsächlich. »Fasten your seatbeit«.

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III. Für die Sendung »Hunger -- Herausforderung auf Leben und Tod« erhielt ich 1969 in Marl meinen ersten Adolf-GrimmePreis. Einmal rund um die Erde hatte ich den Stoff für eine zeitgenös­ sische Analyse des Welthungers beigebracht - seines Gesichts, sei­ ner Ursachen, seiner Bekämpfung und seiner Perspektive. Wir hatten Bauern in Vorderasien mit uraltem Hakenpflug und magerem Zugvieh gefilmt; von Schwedenmilch gespeiste Männer, Frauen und Kinder an den Ufern des kenianischen Turkanasees; indische Bauern auf ihren Miniaturparzellen zwischen Delhi und Agra; das Masai wheat program im Süden Kenias, international geförderter Weizenanbau, der die stolzen Söhne Ostafrikas aus Nomaden in seßhafte Bauern verwandeln sollte; sprühende Kri­ stalle einer Feldberegnung im Kibbuz der biblischen Oase En Gedi am Toten Meer; Geometer in der Wüste, die in der endlo­ sen Leere schon den Schnittpunkt großer Überlandrouten von morgen absteckten; Brücken in Kolumbien, Stahlkonstruktionen einer verwegenen Zukunftshoffnung, die Hunger und Mangel in einem Land chronischer Unterernährung bannen wollten; die Ka­ thedralen in der Wüste, Monumentalzeugnisse fehlgeleiteter Ent­ wicklungshilfe, die unabgetragenen Halden einer riesigen, mit deutschem Geld errichteten Superphosphatfabrik in den perua­ nischen Anden, ohne den Indios ringsum Sinn und Nutzen des chemischen Düngers klargemacht zu haben; der Wall schwarzer Kinderleiber am Ausgang eines tansanischen Dorfes, jauchzend, Wogen jugendlicher Schönheit, Gesichter voller Intelligenz, wach, erwartungsvoll, neugierig, ruhelose Arme, Beine, Köpfe vor der staubverhüllten Kamera - der gefährlichste Reichtum der sogenannten Dritten Welt: die Bevölkerungsexplosion. Und das auf einer Erde voller Spannungen, Kriege und Rüstungsausga­ ben, die in keinem Verhältnis zu den Aufwendungen im Kampf gegen Hunger stehen. Die Pointe des Films »Hunger-Herausfor­ derung auf Leben und Tod« war der Schlußsatz: »In der chinesischen Sprache heißt >Frieden< >Ho ping