Erinnerung und Intersektionalität: Frauen als Opfer der argentinischen Staatsrepression (1975-1983) [1. Aufl.] 9783839430873

While the Year of the Woman was being declared internationally in 1975, in Argentina, a wave of serious abuses of the hu

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German Pages 558 Year 2016

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Table of contents :
Inhalt
Einleitung
Teil I. Die Konzepte der Intersektionalität und der Spur in der Erinnerungsarbeit
1. Der Intersektionalitätsansatz
1.1 Wissen situieren
1.2 Mehrschichtige Interdependenzen
1.3 Zur Entstehung des Konzepts der Intersektionalität
1.4 Intersektionalität und verwobene Kolonialität
2. Die Spur – Transkriptive Bezugnahme und die desapariciones forzadas
2.1 Das Doppelleben der Spur als Voraussetzung ihrer Lektüre
2.2 Die Spur der Erinnerung an die desapariciones forzadas: Abwesenheit, Trauma, Wahrheit
2.3 Die Spur und die Prozesse der Bildung des kulturellen Gedächtnisses
Teil II. Nation und die Subjekte/Körper der Rebellion
1. Zwischen Utopien und Gewalt
1.1 Kalter Krieg und nationale Sicherheit
1.2 Der peronistische Diskurs: »Perón o muerte«
1.3 Rückblende zur Campaña del Desierto (1878-1880): Argentiniens entwertetes Leben zur Gründungsstunde der Nation
1.4 Protest, Revolution und weibliche Emanzipation in den Sechzigern
1.5 Politische Partizipation und revolutionärer Kampf der Frauen
2. Diskursradikalisierung in der Ära der desapariciones forzadas
2.1 Zensur und der Diskurs der Ausmerzung
2.2 Die Politiken der Körper im »gefährdeten Vaterland«
2.3 Verkörperter Widerstand: Die Intervention der Mütter und Großmütter der Plaza de Mayo
Teil III. Staatsrepression und diskursiver Wandel
1. Zwischen »kleinem Auschwitz« und »schmutzigem Krieg«
2. Krieg oder Genozid – Eine begriffliche Distinktion im Rückblick auf die desapariciones forzadas
2.1 Zur Geschichte des Genozidkonzepts
2.2 Die Handlungsgrundlage: Die Genozidkonvention der Vereinten Nationen
2.3 Der Handlungsbedarf: Die Anwendbarkeit des Genozid-Tatbestands
2.4 Anwendbarkeit und Reformulierungen
3. Krieg, Genozid und Staatsrepression in Argentinien
3.1 Zwei Deutungsansätze für die argentinische Staatsrepression
3.2 Die Produktion identitärer Figuren: »genocidas«, unschuldige Opfer und heroische Märtyrer
3.3 Die Staatsrepression und ihre genderspezifische Gewalt
4. »Guerra« und »genocidio« – Umkämpfte Begriffe für den politischen Massenmord in Argentinien
4.1 Phasen der Erinnerung an den Staatsterror
4.2 Diskursiver Wandel – Illustriert anhand von drei Bestandsaufnahmen
Teil IV. Eine von Frauen geschriebene Literatur der desapariciones forzadas
1. ›Dichte Verwobenheit‹ als Autorisierungsstrategie in faktualen und fiktionalen Texten
2. Faktuale Erzählungen – Testimonios zwischen Undarstellbarkeit und Dringlichkeit
2.1 Pilar Calveiros Poder y desaparición (1998) – Wider das Denken in Dichotomien
2.2 Graciela Fainsteins Detrás de los ojos (2006) – Die leib/hafte Erinnerung
3. Fiktionale Erzählungen – Mnemo-ästhetische Verfahren zwischen dem Ruf nach Gerechtigkeit und der Mythenbildung
3.1 Manuela Finguerets Hija del silencio (1999) – Das doppelte Gedächtnis der Vernichtung
3.2 María Teresa Andruettos La mujer en cuestión (2003) – Eine un/übersehbare Frau
Abschließende Überlegungen
Danksagung
Literatur
Personenverzeichnis
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Erinnerung und Intersektionalität: Frauen als Opfer der argentinischen Staatsrepression (1975-1983) [1. Aufl.]
 9783839430873

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Verónica Ada Abrego Erinnerung und Intersektionalität

Mainzer Historische Kulturwissenschaften | Band 25

Editorial In der Reihe Mainzer Historische Kulturwissenschaften werden Forschungserträge veröffentlicht, welche Methoden und Theorien der Kulturwissenschaften in Verbindung mit empirischer Forschung entwickeln. Zentraler Ansatz ist eine historische Perspektive der Kulturwissenschaften, wobei sowohl Epochen als auch Regionen weit differieren und mitunter übergreifend behandelt werden können. Die Reihe führt unter anderem altertumskundliche, kunst- und bildwissenschaftliche, philosophische, literaturwissenschaftliche und historische Forschungsansätze zusammen und ist für Beiträge zur Geschichte des Wissens, der politischen Kultur, der Geschichte von Wahrnehmungen, Erfahrungen und Lebenswelten sowie anderen historisch-kulturwissenschaftlich orientierten Forschungsfeldern offen. Ziel der Reihe Mainzer Historische Kulturwissenschaften ist es, sich zu einer Plattform für wegweisende Arbeiten und aktuelle Diskussionen auf dem Gebiet der Historischen Kulturwissenschaften zu entwickeln. Die Reihe wird herausgegeben vom Koordinationsausschuss des Forschungsschwerpunktes Historische Kulturwissenschaften (HKW) an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.

Verónica Ada Abrego (Dr. phil.), Lateinamerikanistin und Übersetzerin, forscht und lehrt am Fachbereich Sprach-, Kultur- und Translationswissenschaft der Universität Mainz in Germersheim. Neben den lateinamerikanischen Memoriadiskursen liegen ihre Forschungsinteressen in den Prozessen kultureller Übersetzung im Rahmen der Migrationen in den spanischen und portugiesischen Sprachräumen und in der Konstruktion des Lateinamerikabildes in Europa. Intersektionalität und Transkulturalität, die Manifestationen der Globalisierung in Literatur, Medien und Künsten sowie die Dekolonisierung des Denkens stellen weitere ihrer Interessengebiete dar.

Verónica Ada Abrego

Erinnerung und Intersektionalität Frauen als Opfer der argentinischen Staatsrepression (1975-1983)

Meinem Bruder Gabriel Alejandro Abrego (Buenos Aires, 1959 - 1978) in memoriam

Gedruckt mit Mitteln des Forschungsschwerpunktes Historische Kulturwissenschaften an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2016 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat: Marieluise Schmitz, Germersheim Satz: Mark-Sebastian Schneider, Bielefeld Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-3087-9 PDF-ISBN 978-3-8394-3087-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Einleitung..........................................................................................................9 Teil I Die Konzepte der Intersektionalität und der Spur in der Erinnerungsarbeit.........................................................................................27 1. Der Intersektionalitätsansatz.......................................................................29 1.1 Wissen situieren..........................................................................................29 1.2 Mehrschichtige Interdependenzen..............................................................33 1.3 Zur Entstehung des Konzepts der Intersektionalität...................................35 1.4 Intersektionalität und verwobene Kolonialität............................................46 2. Die Spur – Transkriptive Bezugnahme und die desapariciones forzadas................................................................52 2.1 Das Doppelleben der Spur als Voraussetzung ihrer Lektüre......................56 2.2 Die Spur der Erinnerung an die desapariciones forzadas: Abwesenheit, Trauma, Wahrheit.................................................................59 2.3 Die Spur und die Prozesse der Bildung des kulturellen Gedächtnisses.....................................................................86 Teil II Nation und die Subjekte/Körper der Rebellion.....................................95 1. Zwischen Utopien und Gewalt...................................................................96 1.1 Kalter Krieg und nationale Sicherheit........................................................97 1.2 Der peronistische Diskurs: »Perón o muerte«..........................................100 1.3 Rückblende zur Campaña del Desierto (1878-1880): Argentiniens entwertetes Leben zur Gründungsstunde der Nation..............................................................104 1.4 Protest, Revolution und weibliche Emanzipation in den Sechzigern......................................................................................112

1.5 Politische Partizipation und revolutionärer Kampf der Frauen.................................................................................................117 2. Diskursradikalisierung in der Ära der desapariciones forzadas.....................................................................128 2.1 Zensur und der Diskurs der Ausmerzung.................................................128 2.2 Die Politiken der Körper im »gefährdeten Vaterland«.............................159 2.3 Verkörperter Widerstand: Die Intervention der Mütter und Großmütter der Plaza de Mayo..........................................................193 Teil III Staatsrepression und diskursiver Wandel...........................................215 1. Zwischen »kleinem Auschwitz« und »schmutzigem Krieg«........................................................................219 2. Krieg oder Genozid – Eine begriffliche Distinktion im Rückblick auf die desapariciones forzadas.........................................220 2.1 Zur Geschichte des Genozidkonzepts.......................................................223 2.2 Die Handlungsgrundlage: Die Genozidkonvention der Vereinten Nationen......................................228 2.3 Der Handlungsbedarf: Die Anwendbarkeit des Genozid-Tatbestands..........................................231 2.4 Anwendbarkeit und Reformulierungen....................................................244 3. Krieg, Genozid und Staatsrepression in Argentinien................................256 3.1 Zwei Deutungsansätze für die argentinische Staatsrepression.................260 3.2 Die Produktion identitärer Figuren: »genocidas«, unschuldige Opfer und heroische Märtyrer........................268 3.3 Die Staatsrepression und ihre genderspezifische Gewalt.........................271 4. »Guerra« und »genocidio« – Umkämpfte Begriffe für den politischen Massenmord in Argentinien.......................................282 4.1 Phasen der Erinnerung an den Staatsterror...............................................283 4.2 Diskursiver Wandel – Illustriert anhand von drei Bestandsaufnahmen....................................................................288 Teil IV Eine von Frauen geschriebene Literatur der desapariciones forzadas...................................................................371 1. ›Dichte Verwobenheit‹ als Autorisierungsstrategie in faktualen und fiktionalen Texten..........................................................373 2. Faktuale Erzählungen – Testimonios zwischen Undarstellbarkeit und Dringlichkeit.....................390

2.1 2.2 3. 3.1 3.2

Pilar Calveiros Poder y desaparición (1998) – Wider das Denken in Dichotomien...........................................................390 Graciela Fainsteins Detrás de los ojos (2006) – Die leib/hafte Erinnerung.........................................................................419 Fiktionale Erzählungen – Mnemo-ästhetische Verfahren zwischen dem Ruf nach Gerechtigkeit und der Mythenbildung.............................................................................442 Manuela Finguerets Hija del silencio (1999) – Das doppelte Gedächtnis der Vernichtung................................................442 María Teresa Andruettos La mujer en cuestión (2003) – Eine un/übersehbare Frau.........................................................................461

Abschließende Überlegungen ................................................................483 Danksagung.................................................................................................491 Literatur.........................................................................................................493 Personenverzeichnis.................................................................................547

Einleitung

Gibt es eine Erinnerung an die argentinische Staatsrepression aus der partikulären Perspektive der Frauen? Und findet sie in der gesellschaftlichen Debatte um die Deutung und die strafrechtliche Verfolgung der Verbrechen Gehör? Im Mittelpunkt dieses Buches steht das negative Gedächtnis der Verfolgung rebellischer Frauen während der argentinischen Staatsrepression (1975-83). Eruiert werden die Verflechtungszusammenhänge zwischen dem illegalen, geheimen Vorgehen des argentinischen Staates gegen linke Oppositionelle und der Kategorie Geschlecht/Gender sowie die Fragen danach, woraus die brutale und tabubrechende Gewalt, die Frauen traf, ihre Kraft schöpfte und wie die argentinische Gesellschaft sie wahrnahm und bis heute aufarbeitet. In einer vom verabsolutierenden dichotomischen Denken durchzogenen Zeit war der eliminatorische Zug der argentinischen Streit- und Sicherheitskräfte die gewaltsame Reaktion auf komplexe gesellschaftliche Prozesse; sie begann mit der schweigenden Zustimmung großer Teile der Bevölkerung und entfaltete ihre diskursive Kraft nachhaltig bis in die Gegenwart. Die Präsenz von Frauen im öffentlichen Raum war in den Dekaden vor der Anwendung genozidaler Praktiken in bis dorthin unbekanntem Maße gewachsen, aber die Emanzipation der argentinischen Frauen aus einem neuen Rollenselbstverständnis heraus sorgte für große Irritation. Die Verfolgung und Peinigung politisch engagierter Frauen wurde mit einem hohen Maß an sexueller Gewalt umgesetzt. In den Diskursen der politisch-historischen Aufarbeitung und insbesondere in den literarischen Narrationen der Erinnerungsarbeit argentinischer Autorinnen kann den gesellschaftlichen Bildern jener politischen Frauen – sowie der nachhaltenden Wirkung der Gewalt – im Wandel der Jahre nachgespürt werden. Die Literatur als Feld individueller Manifestation und gesellschaftlicher Verhandlung spielt bei der vorliegenden diskursiven Spurensuche eine fundamentale Rolle. Denn während sie oftmals in sehr lyrischer, aber häufig auch in bemerkenswert sachlicher Sprache das negative Gedächtnis der Verfolgung zeichnet und sich als Diskurs gegen das 9

Erinnerung und Intersektionalität

Vergessen artikuliert, wehrt sich die von Frauen geschriebene Literatur des erzwungenen Verschwindens gleichzeitig gegen die vereinfachten Formeln noch nachhallender postdiktatorischer Erklärungsdiskurse. Argentinierinnen und Argentinier werden heute, mehr als 30 Jahre nach dem Ende der siebenjährigen Militärdiktatur, die das Land zwischen März 1976 und Dezember 1983 beherrschte, noch beinahe täglich über Gerichtsverhandlungen informiert, in denen Schergen, Handlanger und Exekutoren der blutigen und weitestgehend geheimen Repression zur Rechenschaft gezogen werden. Auch die Nachrichten über junge Menschen, die erst im Erwachsenenalter Aufschluss über ihre familiäre Zugehörigkeit erhalten, sowie die Feststellung der Identität menschlicher Überreste, die endlich Auskunft über den Verbleib jener verschleppten und nicht wiedergesehenen Menschen geben, die Opfer der Repression wurden, erlangen immer wieder brennende Aktualität. Die Streit- und Sicherheitskräfte gingen in einer in der Geschichte Argentiniens beispiellosen Art und Weise gegen Oppositionelle vor und versetzten sowohl die verschleppten Menschen als auch ihre sie suchenden Angehörigen in einen schutzlosen Raum, den sie durch die Aufhebung aller Bürgerrechte entstehen ließen. Am 14. Dezember 1979 beschrieb der Vertreter des Heeres der Militärjunta, General Jorge Rafael Videla, die Ausnahmesituation, in die seine Regierung die Mehrheit der Opfer der Staatsrepression gebracht hatte, bei einer Pressekonferenz: Solange es so ist, ist der Verschwundene eine unbekannte Größe. Wenn er wieder auftauchen würde, nun, dann bekäme er die Behandlung X. Und wenn sich herausstellt, dass er nicht verschwunden ist, sondern tot, bekommt er die Behandlung Z. Aber solange er ein Verschwundener ist, kann er keine besondere Behandlung bekommen. Er ist eine unbekannte Größe, ein Verschwundener, ein Körperloser, er existiert nicht, weder tot noch lebendig, er ist verschwunden.1

Die fehlende Auskunft über das Schicksal der Verschwundenen, der Desaparecidas und Desaparecidos, Argentiniens ebenso wie über das ihrer geraubten Kinder sollte Verwirrung unter den Gegnern der Diktatur stiften und die Gesellschaft insgesamt im Ungewissen darüber lassen, ob die Vermissten tot oder lebendig waren. Das Leiden der während der argentinischen Repression Verschleppten, die anschließend in geheimen Lagern gefoltert und (mit wenigen Ausnahmen) getötet wurden, setzte sich so systematisch in ihren Familien fort, da es ihnen unmöglich gemacht wurde, ihre Toten zu begraben und mit der 1 10

Videla, 1979, aus dem Spanischen übersetzt von Marieluise Schmitz (MLS).

Einleitung

Trauer zu beginnen. Durch den Schweigepakt der Postdiktatur sind – ganz nach dem Plan der Militärs – bis in die Gegenwart die Umstände des Verschwindens (und der Ermordung) vieler immer noch ungeklärt. Das massive illegale und geheime Vorgehen der argentinischen Streit- und Sicherheitskräfte gegen linksgerichtete bewaffnete Organisationen und als sympathisierend verdächtigte Personen, das sich sukzessiv auf immer weitere Kreise der Gesellschaft ausdehnte, kündigte sich mit dem ersten Fall eines Verschleppten-Verschwundenen Mitte 1974 an und erreichte zwischen 1976 und 1979 seine gewaltsamste Phase; einzelne Fälle von Freiheitsberaubung kamen noch bis Anfang 1984 vor, die Überwachung und Bedrohung Einzelner setzte sich über viele Jahre der Postdiktatur fort. Die Marschroute der Militärs resümierte der Polizeipräsident des Bezirks Buenos Aires, General Ibérico Saint Jean, im Mai 1977: Zuerst werden wir alle Subversiven töten, dann werden wir alle töten, die ihnen geholfen haben, danach … ihre Sympathisanten, danach … diejenigen, denen es egal war, und zum Schluss werden wir die Ängstlichen töten.2

Die Repression vollzog sich klandestin und bestimmte die Entstehung eines gesellschaftlichen Enigmas, das sich als Ausgangspunkt der Suche nach den Verschleppten-Verschwundenen, den Detenidxs-Desaparecidxs, sowie nach den Verantwortlichen und Exekutoren der desapariciones forzadas, des erzwungenen Verschwindens, bis in die Gegenwart auswirkt. Menschenrechtsorganisationen (MRO) sprechen seit Mitte der 80er Jahre von 30.000 Verschleppten-Verschwundenen in Argentinien. Seitdem heißt es auf jeder Kundgebung der MRO: »30.000 Detenidos-Desaparecidos ¡Presentes!« [30.000 Verschleppte-Verschwundene – Anwesend!]. Diese politisch und weitestgehend emotionell relevante Zahl ist keine statistische Größe, vielmehr entstand sie aus der fehlenden Gewissheit über die tatsächliche Anzahl der betroffenen Menschen, die bezeichnend für das klandestine Wirken der Staatsrepression und das verhüllende Schweigen der Täter danach war. Sie ist inzwischen das Symbol für die langjährige Suche der Angehörigen und den unablässigen Kampf der MRO für die Aufklärung des Verbleibs der Detenidxs-Desaparecidxs und die strafrechtliche Verfolgung der Menschenrechtsverbrechen. Auf der anderen Seite trägt die magere Zahl von inzwischen 21 abgeschlossenen Fällen, in denen der Oberste Gerichtshof Argentiniens über in die illegale Repression involvierte Zivilisten und Mitglieder der Streit- und Sicherheitskräf2

Zit. in Goñi, 1996, S. 34, aus dem Span. von MLS. 11

Erinnerung und Intersektionalität

te ein Urteil endgültig bestätigt hat3, der Intensität der gesellschaftlichen Debatte um die Erinnerung an die Repression und insbesondere an die Desaparecidas und Desaparecidos keine Rechnung. In den letzten 30 Jahren fand eine intensive Auseinandersetzung statt, in der Deutungen, Figurationen und Artikulationen über die Staatsrepression (1975-83) und die Zeit des Prozesses der Nationalen Reorganisation (1976-83) gesellschaftlich verhandelt wurden. Mit dem Prozess hatte sich die Militärjunta die Neuentstehung bzw. Auferstehung der argentinischen Nation nach einer Umorganisationszeit als Ziel gesteckt, ein Programm, das angesichts des gesellschaftlichen Umbruchklimas jener Zeit aus militärischer Perspektive offensichtlich einen Ausrottungszug in der eigenen Bevölkerung zu seiner Voraussetzung machte. Diese eliminatorische Wende wurde vom Militär bereits im Jahr 1975, noch während der demokratischen Regierung der Witwe und Regierungsnachfolgerin von Juan D. Perón, María Estela Martínez de Perón, mit dem »Operativo Independencia«4 [Operation Unabhängigkeit] eingeleitet: Waren bis 1975 Personen, die im Verdacht standen, in bewaffnete revolutionäre Aktivitäten involviert zu sein, noch festgenommen und vor Gericht gestellt worden, so reichte nach dem Putsch vom März 1976 der Verdacht aus, um das Dispositiv des Verschwindenlassens in Gang zu setzen. Das biopolitische Programm wurde von diskursiven Praktiken begleitet, die lange wirksam blieben. In den Jahren der Postdiktatur wurde der Diskurs der Menschenrechte nur allmählich zum gesellschaftlichen Grundkonsens und fand nach und nach einen institutionellen Niederschlag. Das Ringen um die Gültigkeit einer Rechtsgrundlage, die die Menschenrechtsverbrechen der illegalen Staatsrepression auch nach langen Jahren als nicht verjährt einstufte bzw. nicht weiterhin ungesühnt bleiben ließ, war bei der gesellschaftlichen Debatte um die Deutung der Ereignisse als Krieg oder Genozid zentral.5 3 4

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CELS, 2015, o. S. Am 05.02.1975 ordnete der Vorsitzende der Länderkammer, der Peronist Ítalo Argentino Luder, im Namen der Präsidentin, damals gesundheitlich längere Zeit indisponiert, per Dekret die »Ausrottung subversiver Elemente« in der Provinz Tucumán an. Die als »Operativo Independencia« bezeichnete gemeinsame Offensive der Armee und der Luftwaffe richtete sich gegen die marxistische Revolutionäre Volksarmee ERP. Dabei wurde zum ersten Mal das Verschwindenlassen von Personen systematisch angewandt. Nach dem Putsch vom 24.03.1976 erstreckte sich die Praxis auf ganz Argentinien. Aus völkerrechtlicher Perspektive ist für diese Unterscheidung und die Kategorisierung der Verbrechen nicht die Anzahl der Opfer, sondern die Absicht der Ausmerzung einer Gruppe relevant. Damit beschäftigt sich Teil III dieses Buches.

Einleitung

Der Kulturbetrieb Argentiniens hat in den letzten 30 Jahren in vielfältiger Weise zu den gesellschaftlichen Entwicklungen beigetragen, die zur Aufklärung der Verbrechen gegen die Menschlichkeit führen sollten, die die Militärregierung gegen die eigene Bevölkerung begangen hatte. Das ist nicht verwunderlich, wurden doch insgesamt 116 Schriftsteller_innen (27 Schriftstellerinnen) Opfer der Repression6, unter ihnen die renommierten Literaten Rodolfo Walsh, Haroldo Conti, Paco Urondo und Miguel Ángel Bustos. Autor_innen und Künstler_innen aus den unterschiedlichsten Bereichen setzten sich mit der Staatsrepression auseinander. Sie trugen zum Erfolg des Kampfes der Menschenrechtsaktivisten für »verdad y justicia« [Wahrheit und Gerechtigkeit] bei – dem Ringen um das Wissen über den Verbleib der Verschleppten und um Gerechtigkeit für die Opfer der Repression. Filme, plastische Künste, Musik, Tanz, Literatur und Journalismus verließen dabei nicht selten ihre gewohnten Rahmen und nahmen die Ziele der Menschenrechtsbewegung in ihren (künstlerischen) Manifestationen auf. Schriftsteller- und Dichterpersönlichkeiten wie Juan Gelman, Néstor Perlongher, Tomás Eloy Martínez, Juan José Saer, Osvaldo Soriano, Héctor Tizón, Humberto Constantini, Eduardo Pawlowski, Eduardo Anguita, Martín Caparrós, Gustavo Plis-Sterenberg, Miguel Bonasso und Mempo Giardinelli haben zusammen mit Ricardo Piglia, Carlos Gamberro, Alan Pauls, Luis Gusmán, Rodolfo Fogwill, Martín Kohan, Sergio Chejfec und Marcelo Figueras maßgeblich die literarische Erinnerungsarbeit der Postdiktatur geprägt und erhielten für ihre Werke nationale und internationale Anerkennung. Die Generation der Kinder der Verschleppten-Verschwundenen hat mit Félix Bruzzone einen in Deutschland bereits prämierten Vertreter. Auch wenn Schriftstellerinnen in den letzten zwei Jahrzehnten an Bedeutung gewonnen haben und ihre Präsenz als charakteristische, bahnbrechende Veränderung der literarischen Landschaft Argentiniens gewertet wird, wie der argentinische Schriftsteller Mempo Giardinelli in seiner Rede zur feierlichen

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Vgl. Agüero, 2007. Zu dieser Publikation des argentinischen Schriftstellerverbands SEA: Mit der Unterstützung der Stadtregierung von Buenos Aires hat die SEA darin Texte von 116 verschleppten-verschwundenen bzw. getöteten argentinischen Schriftsteller_innen veröffentlicht. Darüber hinaus hat der argentinische Schriftsteller Mario Goloboff eine in bilingualer Ausgabe (Spanisch und Englisch) verfasste Anthologie mit Texten von Miguel Ángel Bustos, Roberto Carri, Haroldo Conti und Diana Guerrero für die Frankfurter Buchmesse 2010 zusammengestellt: Bustos, Miguel Ángel u.a., La razón ardiente: antología de escritores víctimas de la dictadura militar 1976-1983. 13

Erinnerung und Intersektionalität

Eröffnung der Frankfurter Buchmesse 2010 bezeichnend konstatierte7, standen ihre Werke lange Zeit im Schatten der Arbeiten ihrer männlichen Kollegen, die im Zusammenhang mit der literarischen Aufarbeitung der letzten Militärdiktatur stärker berücksichtigt wurden. Das hier gewählte Vorgehen, sich ausschließlich mit einer Auswahl von durch Frauen verfassten Texten zu befassen, beruht auf einer Entscheidung zugunsten der gleichberechtigten Rezeption intellektueller Arbeit. In den verschiedenen Disziplinen der Geistes- und Sozialwissenschaften wurde seit dem Ende der letzten argentinischen Diktatur nicht nur in Argentinien, sondern in der international agierenden scientific community eine Vielfalt von Interpretationsangeboten für das Geschehen vor und nach dem Putsch von 7

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In seiner Rede listete Mempo Giardinelli einige Faktoren auf, die er als maßgeblich für den Facettenreichtum der Literatur der Postdiktatur einstufte, und wies dabei auf die besondere Rolle der Frauen hin sowie auf die dazugewonnene Bedeutung von Schriftstellerinnen und Textprotagonistinnen in der öffentlichen Wahrnehmung: »Die herausragende Rolle, die die Frauen heute in unserem Literaturbetrieb haben, hätte man sich vor nicht einmal zwanzig Jahren nicht vorstellen können. Alles hat sich verändert: die Frau als Schriftstellerin und als literarische Protagonistin; die schreibenden Frauen und das, was sie schreiben; aber auch die Frauen, die das lesen, was andere Frauen geschrieben haben, und wie über Frauen geschrieben wird. Als Kernpunkt des Endes der Diktaturen in Argentinien haben wir mit der Demokratie die Sprache wiedergefunden ‒ und wer sie am stärksten verloren hatte, war, wie immer, die Frau. Es besteht kein Zweifel, dass dies ein zentraler Bereich des demokratischen Wandels ist, die revolutionärste Veränderung der lateinamerikanischen Demokratie und ganz offensichtlich unserer Literatur« (Giardinelli, 2010, o. S., aus dem Span. von MLS). Als Kontrapunkt zum optimistischen Panoramablick des Mempo Giardinelli kann am Beispiel der Meinung der Schriftstellerin Mariana Enríquez (Cómo desaparecer completamente, 2004; Los peligros de fumar en la cama, 2009) die erlebte Wirklichkeit von Frauen im argentinischen Literaturbetrieb an Nuancen gewinnen. So erzählte sie im Interview mit The Barcelona Review: »Ich finde es ganz schön ermüdend, immer wieder dasselbe zu hören: ›Mich haben sie immer genauso behandelt wie die Männer‹, ›die Herausgeber machen keine Unterschiede‹. Das ist einfach gelogen. Als Frau musst du dich viel stärker ins Zeug legen, damit sie dich ernst nehmen. Einen Mann werden sie nie fragen, ob er mit dem Herausgeber geschlafen hat, auch dann nicht, wenn er schwul ist. Frauen haben im Literaturbetrieb ganz eindeutig keine starke Position: Die Mehrheit der Herausgeber sind Männer« (zit. in Rodríguez, O., 2006, o. S., aus dem Span. von MLS).

Einleitung

1976 geliefert. Darin sind Phasen sichtbar, in denen Schichten der Erinnerung erschlossen werden, die an jeweils aktuellen politischen Debatten ausgerichtet waren und sind. Die Vielfalt der Orte der Reflexion erschwert den Überblick über die zahlreichen Monographien und Sammelbände, die in Argentinien, aber auch in den USA, in Australien, Mexiko, Spanien, Frankreich, Israel, Deutschland, der Schweiz etc. erschienen sind.8 Inzwischen sind Erinnerungsgemeinschaften auf transnationaler Ebene entstanden, nicht nur als Ergebnis diasporischer Familien- und Freundeskreise; sie werden auch durch die globalisierten Medien und die international arbeitenden Wissenschaftler_innen gebildet.9 In Deutschland bzw. in deutscher Sprache sind in den letzten zehn Jahren sieben Monographien in den Politik-, Kultur- und Literaturwissenschaften entstanden (Stand August 2013).10 Im Jahr 2007 gab Sandra Lorenzano gemeinsam mit Ralph Buchenhorst einen umfangreichen Sammelband über die Erinnerungspolitik und -praxis heraus: Políticas de la memoria: tensiones en la palabra y la imagen. In den USA sind u. v.a. zwei relevante Sammelbände entstanden: Saúl Sosnowskis Represión y reconstrucción de una cultura: el caso argentino aus dem Jahr 1988, der einen aufschlussreichen Überblick über das Feld der Kultur während der demokratischen Transition vermittelt, sowie die von Adriana J. Bergero und Fernando Reati kompilierte Arbeit Memoria colectiva y políticas del olvido. Argentina y Uruguay, 1970-1990 (1997), in der die Jahre der Straflosigkeit atmosphärisch spürbar werden. Der von Andrés Avellaneda für diesen Band verfasste Beitrag (vgl. Literaturverzeichnis) bietet ein umfassendes Panorama der Aufarbeitung der Militärdiktatur in der argentinischen Literatur. In ähnlicher Weise haben die Sammelbände von Professor Roland Spiller La novela argentina de los años 80 (1993) und Culturas del Río de la Plata (1973-1995): transgresión e intercambio (1995) in der deutschen Kultur- und Literaturwissenschaft für Erinnerung anstatt für Vergessen gesorgt. Zu dieser Haltung hatten bereits Karl Kohut und Andrea Pagni mit ihrem Sammelband Literatura Argentina hoy: de la dictadura a la democracia im Jahr 1989 beigetragen. Auch Karl Kohuts Literaturas del Río de la Plata hoy. De las utopías al desencanto (1996) kann als maßgeblich für die deutsche Rezeption in Zeiten des angeordneten Vergessens angesehen werden. 9 Bezüglich des Vorhandenseins einer transnationalen Erinnerung erhebt sich die Frage, was und wie erinnert wird bzw. wer erinnert. Handelt es sich hierbei nicht eher um eine neue Dimension des Gehörs, das dank globalisierter Welt nun auf inter- bzw. transnationaler Ebene möglich ist? 10 Dazu zählt Estela Schindels Studie mit soziologischem und diskursanalytischem Schwerpunkt La desaparición a diario: sociedad, prensa y dictadura (1975-1978) 8

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Erinnerung und Intersektionalität

Für die historiographische Auseinandersetzung mit der Militärdiktatur in Argentinien kann mit Gewissheit behauptet werden, dass Eduardo Luis Duhaldes im spanischen Exil verfasstes Werk El estado terrorista argentino (1983) und die erst fast 20 Jahre später erschienenen Werke von Hugo Vezzetti Pasado y presente: guerra, dictadura y sociedad en la Argentina (2002) und von Marcos Novaro und Vicente Palermo La dictadura militar (1976-1983): del golpe de estado a la restauración democrática (2003) wichtige Bezugstexte darstellten. Der in Argentinien als Standardwerk der Aufarbeitung der Militärdiktatur geltende Band stammt jedoch nicht aus der Geschichtswissenschaft, sondern ist ein Gemeinschaftswerk, das im Umfeld der Politik und des Rechts entstand: Der von der Nationalen Kommission über das Verschwinden von Personen (CONADEP) verfasste Bericht Nunca Más (1984) stellt die meistgelesene Dokumentation über die illegale Staatsrepression dar. Ihre Einleitung, die im Jahr 2006 neu aufgesetzt wurde, lieferte allerdings einen nicht unproblematischen Rahmen zum Verständnis der dort geschilderten Fakten, wie Emilio Crenzel in (2012), die als Dissertationsschrift 2004 an der FU Berlin vorgelegt wurde. Veit Straßner und Ruth Fuchs veröffentlichten ihre aus politikwissenschaftlicher Perspektive verfassten Arbeiten und stellten mit Die offenen Wunden Lateinamerikas. Vergangenheitspolitik im postautoritären Argentinien, Uruguay und Chile (2007) bzw. Umkämpfte Geschichte: Vergangenheitspolitik in Argentinien und Uruguay (2010) die Forschung über die argentinische Militärdiktatur in einen größeren geographischen Zusammenhang. Karen Saban und Rike Bolte bestritten ihre Forschung im Rahmen der Literaturwissenschaft und reichten 2010 Imaginar el pasado. Nuevas ficciones argentinas de la memoria sobre la última dictadura militar bzw. 2011 Die Metaphern des Verschwindens − Varianten der Diktaturbearbeitung in der künstlerischen Produktion der argentinischen ›generación después‹ ein. Karolin Visenebers Inauguraldissertation mit erinnerungsdiskursivem Schwerpunkt Poetik und Politik der Erinnerung in der Literatur über die Desaparecidos. Globale Diskurse und die Entstehung transnationaler Erinnerungskulturen (2014) wurde im Jahr 2013 der Universität Düsseldorf vorgelegt. Eine eindrucksvolle Bilanz der globalen Dynamiken der Erinnerung und des transkulturellen Raums, in dem sie stattfinden, zog 2010 Nina Elsemann mit ihrer historiographischen Arbeit Umkämpfte Erinnerungen. Die Bedeutung lateinamerikanischer Erfahrungen für die spanische Geschichtspolitik nach Franco an der FU Berlin. Darin stellt Elsemann ein Umdenken in Spanien fest, das sie im Zusammenhang mit der Intervention der spanischen Justiz in den Strafprozessen um das Verschwindenlassen in Chile und Argentinien sieht. Die Aufarbeitung der Verbrechen während des Spanischen Bürgerkriegs und der Franco-Repression bekam erst dadurch Auftrieb. 16

Einleitung

seinem wichtigen Werk La historia política del Nunca Más: la memoria de las desapariciones en Argentina (2008) treffend analysierte. Für die erinnerungsdiskursive Betrachtung der Staatsrepression sind die von der Soziologin Elizabeth Jelin verfasste Monographie Los trabajos de la memoria (2001) und generell die von ihr betreute Reihe Memorias de la Represión von großer Bedeutung. Auch die Arbeiten des in Uruguay geborenen, im Kindesalter mit der Mutter von Argentinien nach Frankreich exilierten und heute im spanischen Baskenland lebenden Gabriel Gatti, Sohn und Bruder von Desaparecidxs, Identidades desaparecidas (2012) und El detenido-desaparecido (2008) sind wertvolle Anknüpfpunkte für die hier angestellten Reflexionen. Weil nicht zuletzt der Prozess der Nationalen Reorganisation sich selbst diskursiv als Neugründung der Nation und somit als Bruch in Szene gesetzt hat, versuchten wissenschaftliche Abhandlungen wie die von María Ollier in Frankreich verfasste Golpe o Revolución. La violencia legitimada, Argentina 1966/1973 (2005) oder Pilar Calveiros in Mexiko erstellte Política y/o violencia. Una aproximación a la guerrilla de los años 70 (2005) an vorausgegangene Entwicklungen anzuknüpfen und zur historischen Kontextualisierung der Erfahrungen der argentinischen Jugend der Siebziger beizutragen.11 In dieser Absicht untersuchte auch Paola Martínez die Frauenbeteiligung an den revolutionären Bewegungen in ihrer Monographie Género, política y revolución en los años setenta. Las mujeres del PRT-ERP (2009), so wie es 2005 Andrea Andújar et al. mit der Aufsatzsammlung Historia, Género y Política en los ’70 ebenfalls getan hatten. Die Perspektive der Frauen in diesen Bewegungen kommt neben den wissenschaftlichen Studien nicht nur in autobiographisch zentrierten Darstellungen (wie denen, die in Teil IV besprochen werden), sondern auch in Dokumentationen zum Tragen, wie in der von der Journalistin Marta Diana auf der Suche nach den Spuren ihrer Schulfreundin 11 Großen Zuspruch und gleichzeitig viel Polemik hat die von dem Journalisten Eduardo Anguita (ehemaliges Mitglied der marxistischen Revolutionären Volksarmee ERP) und dem Schriftsteller Martín Caparrós (Exmitglied der peronistischen Guerillabewegung Montoneros) gemeinsam verfasste Erinnerungsarbeit La Voluntad. Una historia de la militancia revolucionaria en la Argentina 1966-1978 erfahren. Das zunächst zwischen 1997 und 1998 als Trilogie in Barcelona veröffentlichte Werk wurde 2006 in Buenos Aires als Taschenbuch in 5 Bänden herausgegeben ‒ zum emblematischen Datum 24. März (Jahrestag des Militärputsches). Der umfangreiche Text, eine historische Fiktion, wird als dokumentarischer Roman ‒ in der Tradition von Rodolfo Walshs Operación Masacre ‒ eingestuft und hat den dritten Platz auf der Rangliste der meistverkauften Geschichtsbücher erzielt (vgl. den prägnanten Artikel von María Virginia Castro unter: Castro, 2012). 17

Erinnerung und Intersektionalität

und späteren Desaparecida erstellten Mujeres guerrilleras. Sus testimonios en la militancia de los setenta (1996), des Weiteren in dem aus langen Gesprächen unter den Überlebenden des Gefangenen- und Folterlagers in der Marineausbildungsstätte ESMA Munu Actis, Cristina Aldini, Liliana Garella, Miriam Lewin und Elisa Tokar entstandenen kollektiven Zeugnis Ese infierno. Conversaciones de cinco mujeres sobrevivientes de la ESMA (2006). Die literarische Aufarbeitung der Diktaturzeit beschäftigte den in den USA lebenden argentinischen Literaturwissenschaftler (und Bruder eines Desaparecido) Fernando Reati, der 1992 mit Nombrar lo innombrable. Violencia política y novela argentina: 1975-1985 einen Meilenstein in der literaturwissenschaftlichen Rezeption der Aufarbeitungstexte der 80er Jahre setzte. Sandra Lorenzano stellte ihrer literaturwissenschaftlichen Studie zweier Werke, die vor dem Hintergrund der Militärdiktatur geschrieben wurden (Sylvia Molloys En breve cárcel und Héctor Tizóns La casa y el viento), eine umfangreiche kulturwissenschaftliche Betrachtung der Diktaturzeit voraus und veröffentlichte im Jahr 2001 in Mexiko Escrituras de sobrevivencia. Narrativa argentina y dictadura. Von ihrem US-amerikanischen Lebensmittelpunkt aus und unter Berücksichtigung argentinischer Werke innerhalb des geographischen Rahmens, in dem die Streit- und Sicherheitskräfte mit der Operation Condor (Plan Cóndor) ihre Zusammenarbeit vornehmlich entfalteten, verfasste die Schriftstellerin und Literaturwissenschaftlerin Nora Strejilevich, Überlebende der argentinischen Lager und Schwester eines Desaparecido, El arte de no olvidar. Literatura testimonial en Chile, Argentina y Uruguay entre los 80 y los 90 (2005). Eine genderpolitische und diskursanalytische Betrachtung der argentinischen Militärdiktatur bot die in den USA erschienene Arbeit von Diana Taylor aus dem Jahr 1997 Disappearing Acts. Spectacles of Gender and Nationalism in Argentina’s »Dirty War«. Den Fokus auf die literarischen Erinnerungsarbeiten von Frauen haben bisher zwei wissenschaftliche Publikationen aus den USA gesetzt. Die aus Spanien stammende und in Colorado lehrende Professorin für lateinamerikanische Literatur María del Mar Lopez-Cabrales besprach in La pluma y la represión. Escritoras contemporáneas argentinas (2000) Arbeiten der argentinischen Autorin rumänischer Herkunft Alina Diaconú und zeigte eine Perspektive für eine feministische Lektüre der Texte lateinamerikanischer Autorinnen auf. Felicia Lynne Fahey stellte mit The Will to Heal: Psychological Recovery in the Novels of Latina Writers (2007) die Frage der persönlichen und gesellschaftlichen Aufarbeitung traumatischer Erfahrungen sozialer Gewalt in den Mittelpunkt der Analyse von sechs fiktionalen Werken von Lateinamerikanerinnen, unter ihnen die sich mit den Verbrechen der Militärdiktatur befassen18

Einleitung

den Argentinierinnen Manuela Fingueret und Luisa Valenzuela und, auch hier, Alina Diaconú. Kulturwissenschaftliche Theorien über Geschlecht und Gender, Post-/DeKolonialität und das soziale Gedächtnis werden herangezogen, um ein Lektürekonzept zu erstellen, das die von Autorinnen geschriebenen Narrationen über die Staatsrepression in eine Perspektive einbettet, die zwei grundsätzliche Aspekte und ihre Verflechtungen berücksichtigt: erstens die Tatsache der mehrfachen Diskriminierung, der Frauen und insbesondere Rebellinnen vor, während und nach der Diktatur ausgesetzt waren bzw. u.U. gesamtgesellschaftlich noch sind. Sie tritt deutlich hervor, wenn das historische und kulturelle Umfeld sowie die zirkulierenden Diskurse, die Diskriminierungsbeziehungen konstruier(t) en, affirmier(t)en und naturalisier(t)en, beleuchtet werden. Zweitens die Besonderheiten eines sich bildenden sozialen Gedächtnisses, bei dem vergangene Ereignisse aus der Gegenwart heraus erinnert und immer wieder neu interpretiert werden. Die Erinnerung an politische Verfolgung vergegenwärtigt Kategorien wie Geschlecht/Gender, Sexualität, Alter, Herkunft und Klasse als Konnex. Wie die politische Verfolgung heute gedeutet wird, impliziert darüber hinaus unterschiedliche Figurationen von Opfern und Tätern bzw. von Freund und Feind. Die Debatte um die Deutung der Staatsrepression als Krieg oder als Genozid zeigt nicht nur, wie wechselhaft und umkämpft ein negatives Gedächtnis wie das argentinische ist, sondern auch, wie ebendiese Debatte zur Konstruktion von Identitäten von Opfern und Überlebenden, Held_innen und Verräter_innen beiträgt und welche Implikationen diese für die Aufarbeitung der tausendfachen Menschenrechtsverletzungen und des politischen Massenmordes, und im Besonderen für die an Frauen begangenen Verbrechen, haben. Ausgangspunkt für die intersektionelle Betrachtung der Diskurse und der Narrationen argentinischer Frauen über die Staatsrepression sind die Reflexionen von Donna Haraway, Gloria Anzaldúa und Cherríe Moraga, Kimberlé Crenshaw sowie Judith Butler. Intersektionalität, als von Gabriele Winker und Nina Degele bearbeitetes Konzept zur Analyse sozialer Ungleichheiten, wird mit den Überlegungen von Walter Mignolo, Silvia Rivera Cusicanqui und Ramón Grosfoguel ergänzt, die die geopolitischen und historischen Koordinaten präzisieren, innerhalb derer Subalternität immer wieder hergestellt und performiert wird. Im Mittelpunkt der vorliegenden Betrachtung stehen Repressionsopfer und ihre Figurationen als Adressaten subalternisierender Diskurse und nicht selbst als Subalterne.12 Die Auseinandersetzung mit den Legitimationsdiskursen der poli12 Die Vorstellung eines »Subalternen« suggeriert das Vorhandensein von Individuen mit inhärenten Merkmalen, die in einer relativ erstarrt gedachten gesellschaft19

Erinnerung und Intersektionalität

tischen Verfolgung offenbart schonungslos den diskursiven Charakter von Diskriminierung, die nicht selten in Analysen immer noch an »wesentlichen« Attributen der Adressaten festgemacht wird. Differenzkategorien wie Geschlecht/ Gender, Körperlichkeit, Sexualität, sozio-ökonomischer Hintergrund, ethnische und religiöse Zuordnung werden hier daher als bloße Orientierungsgrößen genutzt, um genau die Diskurse zu untersuchen, die zusammen mit der Kategorie politische Zugehörigkeit/Zuordnung/Zuweisung in der Verfolgung interagierten und die Menschen zu Opfern mach(t)en. Das erinnerungstheoretische Gerüst baut auf Elizabeth Jelins Reflexionen über die Erinnerungsarbeit auf und berücksichtigt dabei die deutscher Kulturwissenschaftler der Memoria wie Sybille Krämer, Astrid Erll, Ludwig Jäger sowie Aleida und Jan Assmann.13 Die Suche nach dem theoretischen Rahmen, so wie sie in Teil I vorgestellt wird, wurde von einer Grundsatzfrage geleitet: Wie können dieselben tragischen Ereignisse im Laufe der Zeit so unterschiedlich erinnert und gedeutet werden? So wurde nach einer theoretischen Basis Ausschau gehalten, die einerseits die Dynamik und Transformation gesellschaftlicher Erinnerung in den Mittelpunkt stellte, andererseits den Raum eröffnete, subtilere Faktoren wie damit verbundene Emotionen, d.h. hier die Negativität der Ereignisse und ihrer Erinnerung, zu berücksichtigen. Dass die Texte der Erinnerung – ebenso wie die gesellschaftliche Debatte – von transnationalen und transkulturellen Geographien und Traditionen durchdrungen sind, zeigt sich u.a. in einem weiten Netz von Bezügen zu den zahlreichen Orten argentinischen Exils sowie an der ausgeprägten Intertextualität mit der Shoah und der jüdischen Memoria. Die Ausführungen in Teil II verfolgen die Absicht, die Narrationen der Erinnerung in ihre Entstehungskontexte einzubetten und diese nachvollziehbar zu machen. Begreift man den argentinischen Staatsterror als Summe rational geleiteter und größtenteils systematisch ausgeführter Handlungen, dann tritt umso lichen Ordnung aufgrund ebendieser Merkmale eine nachhaltig untergeordnete Rolle »inne« haben. Die Aufmerksamkeit soll jedoch auf die Diskurshaftigkeit der subalternisierten Rolle und auf den politischen Charakter der Subalternisierung gelenkt werden (s. auch Teil I). 13 In die Auseinandersetzung mit der Memoria finden in Argentinien vor allem Theorien französischer und US-amerikanischer Herkunft Eingang. Die Rezeption der Arbeiten deutscher Wissenschaftler_innen über die Erinnerung steht in Argentinien mangels Übersetzungen noch aus. Als Konsequenz dieses Fehlens hat die Verfasserin ein Übersetzungsprojekt angestoßen, das zum besseren Austausch beitragen soll. Der Erwerb der Übersetzungsrechte erweist sich dabei als größtes Hindernis. 20

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deutlicher der Aspekt hervor, dass es eine durchaus effektive diskursive Legitimation für seine Radikalität gab. Mit den Beobachtungen von Raul Hilberg zu den Verbrechen Nazideutschlands an den europäischen Juden als zentraler Erkenntnis wird hier von einem diskursiven Moment ausgegangen, das in Argentinien der Massengewalt vorauseilte und sie legitimierte. Lange Verbotsprozesse, die bereits auf die 50er Jahre zurückgehen und 1986 von Andrés Avellaneda in Censura, autoritarismo y cultura: Argentina 1960-1983 akribisch dokumentiert wurden, bildeten für die argentinischen Ereignisse eine solche latente Grundlage im Diskurs der Zensur. Davon ausgehend kann das phobische Moment, das Anlass für den eliminatorischen Zug der argentinischen Streit- und Sicherheitskräfte wurde, besser gefasst werden. Für den Kristallisationspunkt der menschenverachtenden Praktiken der Militärs gegenüber einer Gruppe von Verdächtigen steht das Vokabular der Folter, wie Marguerite Feitlowitz es mit ihrem Lexicon of terror 1998 dargelegt hat. Die Erfahrungen des Lagers – und darin zentral die der Folter – sind ebenfalls Kern und Ausgangspunkt des langen Ringens um Gerechtigkeit für die Opfer der Staatsrepression. Die Folter ist Teil eines Narrativs, das unmittelbar mit der gesellschaftlichen Debatte um die Deutung der Staatsrepression sowie mit den Anlässen der Erinnerungsarbeit argentinischer Autorinnen verbunden ist. In einem Spannungsverhältnis zu einem Narrativ, das einen Homo sacer in Erscheinung treten lässt, zeigen diese Texte der Erinnerung nicht selten, dass Menschen, die unter Folter zur Aufgabe ihrer Würde gezwungen wurden, sich so weit nur möglich ihre Menschlichkeit bewahrt haben und nicht pauschal als passive Opfer gesehen werden dürfen. Dass die Folter eine »ge-Gender-te« Praxis ist, kommt bei Berücksichtigung ihrer Verflechtungen mit Krieg, Genozid und dem Narrativ der Nation zu Tage; bei ihrer Entflechtung wird die Grundlage freigelegt, die nachvollziehbar macht, warum seit 2005 in Argentinien für eine Einstufung von Vergewaltigung innerhalb des Rahmens genozidaler Praktiken als partikuläres Verbrechen gekämpft wird. Die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit der Folter spielte in diesem Prozess eine wichtige Rolle, doch der krude Charakter der Erzählungen der Qualen macht die Narrationen schwer erträglich. Wie schon Hannah Arendt und Jean Améry wussten und die Politikwissenschaftlerin und Überlebende Pilar Calveiro in Poder y desaparición. Los campos de concentración en Argentina einprägsam darstellt, ist gerade die menschliche Abwehrhaltung gegenüber dem Leiden der dickste Deckmantel für das Grauen. Als Basis für Teil III diente die Untersuchung der Diskurstransformation in der argentinischen Postdiktatur anhand der Presseberichterstattung zum Erinnerungstag des Putsches von 1976, dem 24. März. Die Frage, warum das ungeheure Wort Genozid von den Argentinier_innen bemüht wird, um die blu21

Erinnerung und Intersektionalität

tige Repression zu bezeichnen, hallte vor dem Hintergrund der Erinnerung an die Gräueltaten Nazideutschlands im transkulturellen Raum der Reflexion laut nach. Daher lag es nahe, genau nach diesem Träger der Erinnerung, der das Wort Genozid ist, im argentinischen Diskurs zu suchen und seine Anwendung in die Beobachtung aufzunehmen. Bald danach stand fest, dass Genozid für drei unterschiedliche Sachverhalte verwendet wird: a) für einen festumrissenen Tatbestand des Völkerrechts mit detailliert aufgelisteten Folgen für die Weltgemeinschaft, b) für ein Konzept, um das in den Sozial- und Geschichtswissenschaften immer noch stark gestritten wird, und c) für eine Art und Weise, Ereignisse mit hohem Gewaltwert zu deuten, die nicht in die Kategorie Krieg »passen« und die von a) und b) nicht gebührend berücksichtigt bzw. nicht eindeutig definiert werden. Für die illegale argentinische Staatsrepression wird allerdings oft auch die Bezeichnung guerra sucia/dirty war/schmutziger Krieg verwendet, obwohl sich in Argentinien, wie in den ersten drei Kapiteln von Teil III dargestellt wird, kein Krieg ereignet hat. In Anlehnung an Theorie und Methode der Diskursanalyse wird anschließend eine diskursanalytische Untersuchung vorgenommen. Anhand der zentralen Motive eines kontrarevolutionären Krieges bzw. eines Genozides wird die Diskurstransformation belegt, die sich in der Berichterstattung zum Amnestiegesetz der Militärs, zu den Gnadenerlassen durch Präsident Carlos Menem und zum 24. März der Jahre 1984 bis 2004 vollzogen hat. Als relevanter Diskurs der Aufarbeitung ist die Literatur in den ersten drei Teilen ständig präsent, doch intensivst widmet sich ihr der vierte Teil, in dem die Literatur als Reflexionsebene und Metadiskurs über die desapariciones forzadas und ihre Aufarbeitung sowie als Feld der Verhandlung von Figurationen von Tätern und Opfern vorgestellt wird. Wurden im ersten Teil die Konzepte der Intersektionalität und der Erinnerung untersucht, im zweiten eine Spurensuche nach den diskursiven Grundlagen der Verfolgung vorgestellt und im dritten die wechselhaften Formen der Erinnerung an das negative Ereignis des argentinischen Staatsterrors im öffentlichen Raum besprochen, so fügen sich in diesem letzten Teil die ersten drei zu dem Geflecht zusammen, das die Lektüre der literarischen Texte einbettet. Die vorgestellten Diskursanteile werden dicht verwoben in der literarischen Erinnerungsarbeit argentinischer Autorinnen aufgespürt und mittels einer doppelten Lektüre von vier Texten explizit gemacht. Im ersten Kapitel von Teil IV wird zunächst die Konstellation reflektiert, innerhalb derer die Texte der Erinnerung erstellt wurden und rezipiert werden. Vor dem Hintergrund der bekannten literaturwissenschaftlichen Begriffe des writing back und der réécriture féminine wird ein Lektürekonzept vorgeschlagen, das intersektionelle und erinnerungsdiskursive Aspekte dieser Texte zusammen berücksichtigt. Die anschließende Textanalyse stellt die damit verbundenen 22

Einleitung

Fragestellungen gegenüber ästhetischen in den Vordergrund des kulturwissenschaftlichen Interesses. Zwei dokumentarische Zeugnisse, testimonios, von Desaparecidas und zwei fiktionale Werke argentinischer Autorinnen wurden aus einem Fundus beeindruckender Texte ausgesucht und werden aus dieser doppelten Perspektive heraus gelesen. Pilar Calveiros Text Poder y desaparición gehört zweifellos zu den zentralen Zeugnissen über die argentinischen Konzentrations-, Folter- und Vernichtungslager. Dass die Autorin ihre verkörperte Erfahrung in einen vornehmlich wissenschaftlichen Text mit literarischem Wert einfließen lässt, dessen wird man nicht ohne Weiteres gewahr. Bei genauerem Zuhören tritt jedoch die Stimme der Überlebenden, die die Marginalisierung der Lagerrückkehrer_innen anprangert und diese als Folge eines binären und heroisierenden Denkens entlarvt, deutlich hervor. Die Analyse des testimonioBuches von Graciela Fainstein Detrás de los ojos stellt das zeitliche Merkmal der Erinnerung in besonderem Maße auf den Prüfstand. Dabei wird klar, wie sehr eine verkörperte Erinnerung eigene Zeiten diktiert und wie sie sich der Absicht, Phasen und Perioden fest zu umreißen und abzuschließen, widersetzt. Manuela Finguerets Hija del silencio ist ein Beispiel für eine doppelte Erinnerungsarbeit, die die starke Bezugnahme der Argentinier_innen auf die Shoah biographisch erklärt. Geschildert wird eine fiktive Frauengenealogie, die eine Verbindung zwischen zwei historischen Ereignissen zu zwei unterschiedlichen historischen Zeiten in zwei unterschiedlichen Gesellschaften und auf verschiedenen Kontinenten herstellt. Die Ereignisse sind zwar nicht vergleichbar, präsentieren aber parallele Szenarien, in denen zwei jüdische Frauen in eine Situation extremer Subalternität versetzt wurden. María Teresa Andruettos ausgeklügelter Roman La mujer en cuestión greift auf die vorgeblich neutrale Textsorte des Berichts und einen anscheinend unbeteiligten Verfasser zurück, um eben die Unmöglichkeit unparteiischer Haltung angesichts der illegalen Repression in der argentinischen Gesellschaft zu zeigen und um damit die aktive oder passive Mittäterschaft vieler zu illustrieren. Mit dem Intersektionalitätsansatz lässt sich ein Lektürekonzept anwenden, das dem doppelten Fokus der Erinnerungsarbeit von Autorinnen geschuldet ist: Zunächst wird der gegenwärtige Anlass der Erinnerung als wichtiges Merkmal betrachtet, das das Spannungsverhältnis der Texte zu den gesellschaftlichen Ereignissen und ihr – stets gegenwärtiges – writing-back-Moment sichtbar macht. Dann werden die im Text aufkommenden Differenzkategorien untersucht. Anhand dieser Methode wird aufgezeigt, wie bei der Erinnerungsarbeit Differenzkategorien und Diskriminierungshandlungen u.a. aufgrund des Geschlechts/ Genders, der Sexualität und des Körpers sowie durch Zugehörigkeit oder Zuweisung zu einer politischen, ethnischen und/oder sozio-ökonomischen Gruppe, 23

Erinnerung und Intersektionalität

in diesen von Frauen geschriebenen Texten in der Narrationsgegenwart aufgerufen und angeprangert werden. Dieses erweiterte Verständnis ermöglicht neue Zugänge für die Arbeit an und mit Texten der Erinnerung. So wird z.B. die Art und Weise deutlich, wie sich Literatur von einem sozialen Narrativ distanziert, das Opfer auf die Trauma-Dimension reduziert oder verklärend pathetisch heroisiert. Dem Menschen-zu-Opfern-Machen gingen und gehen komplexe diskursive Konstruktionsprozesse von Feindbildern voraus, die diese Texte in ihren Figurationen der Vergangenheit und in veränderten Zeiten der Rezeption mehrdimensional und interdependent vergegenwärtigen. Zusammenfassend wird interessierten Leser_innen ein analytischer Weg angeboten, der den Gegenstand wissenschaftlicher Beschäftigung nicht zugunsten seiner Anpassung an vorgefertigte Modelle reduziert, sondern im Gegenteil Komplexität zulässt. Durch die Untersuchung mehrschichtiger Interdependenzen im Zusammenwirken vergangener und gegenwärtiger Diskurse werden neue Einblicke in das bereits gut untersuchte Feld der argentinischen Staatsrepression gewährt. Damit wird die Absicht verfolgt, sich der kulturgeschichtlichen und diskursiven Felder bewusst zu werden, in denen sich die Staatsrepression gegen rebellische Frauen vollzogen hat und innerhalb deren seitdem und bis heute darüber gesellschaftlich verhandelt wird. Wie die politische Massengewalt gedeutet wird und welchen Platz Frauen darin einnehmen, hat Implikationen für die strafrechtliche Verfolgung der Verbrechen. Aber darüber hinaus bestimmen der Raum, den die leb- und leibhaften Erzählungen über die Staatsrepression erhalten, und die Art und Weise, wie heute über sie gesellschaftlich verhandelt wird, wie sie in das soziale Gedächtnis eingehen werden. In diesem Prozess haben die Narrationen verfolgter Frauen an Sichtbarkeit gewonnen. Neben den zahlreichen Aussagen von Zeuginnen im Zuge der strafrechtlichen Aufarbeitung und parallel zu ihren Manifestationen in der Publizistik und in Theater und Film kann inzwischen von einem vielfältigen Korpus von Werken argentinischer Autorinnen gesprochen werden, die zu einer Literatur der argentinischen Lager und der Praxis des erzwungenen Verschwindens, zur Literatur der desapariciones forzadas, gezählt werden. In deren Mitte steht das negative Gedächtnis der Verfolgung von rebellischen Frauen. Die intersektionelle und erinnerungsdiskursive Analyse der Texte offenbart, dass Autorinnen sich bei der Erinnerungsarbeit zum Ziel gemacht haben, binäre Denkräume zu sprengen und Rollenselbstverständnisse sowie Gendervorstellungen im Beziehungsgeflecht zu hinterfragen und zu destabilisieren. Nicht zuletzt das Gedenken an verlorene Freundinnen und Angehörige und die Erinnerung an ihre Zeitgenossinnen leitet sie dabei.

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Einleitung

Mit dem Wunsch und in der Absicht, zur Sichtbarkeit einer Memoria jener verfolgten Frauen und zum Prozess ihrer Bildung selbst beizutragen, wurden auch die folgenden Seiten verfasst.

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Teil I Die Konzepte der Intersektionalität und der Spur in der Erinnerungsarbeit

Frauen, die als Andersdenkende verfolgt wurden, erlebten im Argentinien der letzten Diktatur mindestens eine zweifache Diskriminierung. Sie wurden Ziel politisch motivierter Gewalt und misogyner Disziplinierung. Es ist anzunehmen, dass die Folterpraktiken, denen spezifisch Frauen ausgesetzt wurden und die tief verankerte kulturelle Tabus brachen, diese doppelte Diskriminierung ausagierten (vgl. Kap. »Die Politiken der Körper im ›gefährdeten Vaterland‹« in Teil II). Vielfach litten Frauen, aber auch Männer, aufgrund ihrer Zugehörigkeit zum jüdischen Kultur- und/oder Glaubenskreis unter zusätzlichen negativen Zuschreibungen. Die hohe Prozentzahl von Menschen jüdischer Herkunft unter den Opfern der Staatsrepression1 lässt nicht nur die ausgeprägte Bezugnahme auf die Shoah in den Deutungsansätzen für das Ausrottungsprogramm der Militärs in Argentinien erklären. Ereignisse wie die Bombenattentate in Buenos Aires 1992 gegen die Botschaft von Israel und 1994 gegen das Gemeindezentrum der jüdischen Wohlfahrtsorganisation AMIA – und umso mehr ihre eklatante (Nicht-)Aufklärung2 – vergegenwärtigten in jüngerer Zeit einen vorhandenen 1 Es sind ungefähr 1.500 Desaparecidxs jüdischer Herkunft registriert, die etwa 15 % der bisher erwiesenen und 5 % der geschätzten Gesamtzahl von 30.000 Verschleppten-Verschwundenen ausmachen. Die jüdische Bevölkerung Argentiniens wurde damals auf 1 % der gesamten Einwohner geschätzt (Andersen, [1993] 2000, S. 265). 2 Der Anschlag am frühen Nachmittag des 17. März 1992 tötete in der Botschaft von Israel 24 Menschen und verletzte 242. Beim schwersten Terroranschlag der argentinischen Geschichte mitten am Vormittag des 18. Juli 1994 starben 85 Menschen und etwa 300 Personen wurden verletzt. Nicht nur weil die strafrechtliche 27

Erinnerung und Intersektionalität

Antisemitismus, der sich als ideologischer Motor bei der Ausübung und Rechtfertigung politischer Gewalt geradezu aufdrängt. Ein weiterer Aspekt erweist sich als ein zentraler interdependenter Faktor bei der Verfolgung: Der Traum von der sozialen Revolution wurde in aller Konsequenz hauptsächlich von der rebellischen Jugend geträumt; sie wandte sich in den Sechzigern und Siebzigern aktiv der Politik zu und zog teilweise in den bewaffneten Kampf. Es war die Generation, die von den Idealen und der Entschlossenheit des Vorbildes Che Guevara gebannt und von der Machbarkeit der Revolution überzeugt war; sie bekam die ganze Wucht der Repression zu spüren, als die mehrheitliche Zustimmung für das sozialrevolutionäre Projekt kippte und die Reaktion begann. Engagement für linksrevolutionäre Ideale und Zugehörigkeit zur jungen Generation, in vielen Fällen erschwerend die jüdische Abstammung, lassen sich, neben dem nicht geschlechterrollenkonformen Verhalten, als die amalgamierten Differenzkategorien festhalten, an denen sich die reaktionäre Gewalt und die misogyne Disziplinierung entluden. Um das Zusammenwirken dieser Kategorien während der argentinischen Verfolgung zu reflektieren, wird das Konzept der Intersektionalität herangezogen, eine in der feministischen Gesellschaftskritik verwurzelte Reflexionsgrundlage. Ihre Produktivität für die Analyse der Auswirkungen der argentinischen Ereignisse auf die Menschen selbst wird auf den nächsten Seiten im Anschluss an eine knappe Darstellung ihrer Entstehung und im Zusammenhang mit einer politischen Betrachtung im Kontext der Ereignisse in Argentinien vorgestellt. Beurteilung der Ereignisse komplexe Lektüren des Völkerrechts erfordert (Kollmann, 2013a, o. S.), wird der Fall inzwischen als Justizskandal gewertet. Bundesrichter Juan José Galeano, der viele Jahre mit dem Fall betraut war, wurde im August 2004 seines Amtes enthoben, nachdem ihm ein fehlerhafter Umgang mit Beweisen nachgewiesen worden war. Die zuständige Staatsanwaltschaft gab am 26.10.2006 das Ergebnis der Ermittlungen zur Aufklärung des Attentats gegen die AMIA bekannt und erklärte acht Personen im Umfeld der iranischen Regierung für dringend tatverdächtig (Kollmann, 2006, o. S.). Nach 19 Jahren Stillstand schien Anfang 2013 ein zwischen Vertretern beider Regierungen ausgehandeltes Memorandum über die Befragung der Zeugen im Iran ein erster Schritt in der Verfolgung des Verbrechens zu sein (Hauser /Kollmann, 2013, o. S.; Kollmann, 2013b, o. S.), doch zwei Jahre später gibt es in der Causa AMIA immer noch keine Fortschritte. Im Januar 2015 brachten die Umstände des Todes des während der Regierung Menems designierten, seit Juli 1997 zuständigen Staatsanwaltes und Sonderermittlers Alberto Nisman den Fall erneut auf die Tagesordnung der internationalen Berichterstattung. 28

Teil I – Die Konzepte der Intersektionalität und der Spur in der Erinnerungsarbeit

Neben der Beschäftigung mit der Intersektionalitätstheorie, die mehrfache Diskriminierungen sichtbar macht und als Konnex begreifen lässt, ist die Frage relevant, wie diese im Laufe der Zeit erinnert werden. Die Narrationen erlebten Leids aktivieren ein dichtes Feld von Bezugnahmen auf die Vergangenheit in einer bestimmten Gegenwart. Wie flicht sich die Gegenwart in die Erinnerungsarbeit ein? In welcher Beziehung stehen aktuelle Ereignisse oder jeweils gegenwärtige Umfelder zu den Erzählungen? Veranlassen sie diese gar? Als Erscheinungen im kommunikativen Geflecht stützen sich Erinnerungen auf Vorstellungen, sie affirmieren und konstruieren vergangene durch aktuelle Diskurse; u.U. wird ihnen aber auch durch letztere widersprochen. Die Auseinandersetzung mit den Erinnerungstheorien bemüht sich, Licht auf die Ursachen für die wechselhafte Aktualität von Opferfigurationen in Argentinien zu werfen. Aus diesem Grund und bevor in Teil II und III die komplexen Diskurse besprochen werden, die der Praxis der Staatsrepression vorausgingen und sie legitimierten, wird hier auf die Besonderheit erinnerter Diskurse und der Diskurse der Erinnerung eingegangen. Als Ausgangspunkt bei der Suche nach einer theoretischen Grundlage für die Analyse der stets im Wandel begriffenen und umkämpften Erinnerungen an die argentinische Staatsrepression eignet sich in diesem Kontext insbesondere das Konzept der Spur, mit dem sich der zweite Abschnitt dieses ersten Teils beschäftigt.

1. Der Intersektionalitätsansatz 1.1 Wissen situieren Wie lässt sich die ungeheuerliche Kraft eines diskriminierenden Diskurses denken, die zu Körpererfahrung und in ihrer extremen Form zu gesellschaftlicher Gewalt wird? Welches Wissen verspricht einen angemessenen Umgang mit den Erzählungen verfolgter Menschen zu ermöglichen? Und wie verändern diese Erzählungen und dieses Wissen die Theorie? Donna Haraway liefert in ihrem 1988 erschienenen Artikel Situated Knowledges: The Science Question in Feminism and the Privilege of Partial Perspective wertvolle Reflektionen über den Standort des Subjekts in der Wissens- und Erkenntnisproduktion sowie über seine Beziehung zu den Objekten des Wissens. In der Untersuchung des wissenschaftlichen Diskurses, die ihn als anfechtbaren Text und Machtfeld treffend schildert, nahm Haraway auf Hayden Whites Untersuchung über die

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Erinnerung und Intersektionalität

Rhetorizität der wissenschaftlichen Repräsentation3 Bezug und stellte fest, dass der Diskurs der Wissenschaft auch eine Narration innerhalb eines Machtfeldes und entsprechend immer der Debatte ausgesetzt ist: Science – the real game in town, the one we must play – is rhetoric, the persuasion of the relevant social actors that one’s manufactured knowledge is a route to a desired form of very objective power. […] The strong program in the sociology of knowledge joins with the lovely and nasty tools of semiology and deconstruction to insist on the rhetorical nature of truth, including scientific truth. History is a story Western culture buffs tell each other; science is a contestable text and a power field […].4

Dem geltenden geschlossenen Modell von Wissenschaft setzt Haraway eine Perspektive der Frauenemanzipationsbewegung entgegen, die Wissenschaft zum Paradigma dessen macht, was anfechtbar und umkämpft ist.5 Die Vorstellung eines privilegierten »Blicks von oben« wird entsprechend von der Idee der »Blicke von irgendwo« abgelöst, in der partielle Ansichten und vielfältige Stimmen zu einer kollektiven Subjektposition zusammengesetzt werden. Diese polyphone Subjektposition »promises a vision of the means of ongoing finite embodiment, of living within limits and contradictions«6. Aus dieser Perspektive, die Haraway in ihrem Cyborg Manifesto als Voraussetzung einer »powerful infidel heteroglossia«7 beschreibt, ist Objektivität, so stellt sie in Situated Knowledges heraus, ein »particular and specific embodiment«8, eine im Körper verankerte partielle Perspektive, die das Zustandekommen eines objektiven Blicks verspricht.9 So wird Wissenschaft nicht als Ebene jenseits menschlicher Tätigkeit und Verantwortung begriffen, sondern gerade von der Verantwortung für

3 White, Hayden, The Content of the Form: Narrative Discourse and Historical Representation, Baltimore 1987 (dt.: Die Bedeutung der Form: Erzählstrukturen in der Geschichtsschreibung, aus dem Amerikan. von Margit Smuda, Frankfurt a.M. 1990). 4 Haraway, 1988, S. 185. 5 Ebd., S. 190. 6 Ebd., S. 196. 7 Haraway, 1984, S. 181. 8 Haraway, 1988, S. 190. 9 Ebd. 30

Teil I – Die Konzepte der Intersektionalität und der Spur in der Erinnerungsarbeit

die »translations and solidarities linking the cacophonous visions and visionary voices that characterize the knowledges of the subjugated« geprägt.10 Diese im Körper verankerte partielle Perspektive, die ein polyphones Wissen ermöglicht, wird durch die Anerkennung der Wissensobjekte als Akteure vervollständigt. Die Wissenschaft aristotelischer Tradition, so Donna Haraways These, begreift das Objekt des Wissens als Ressource, als träge und passive Materie, die gleichsam darauf wartet, erschlossen und erobert zu werden. Haraway setzt sich für eine de- und transkodierende Tätigkeit der Wissenssubjekte ein, die als eine (macht)sensible Konversation mit den Objekten des Wissens begriffen wird. Die ausbleibende Anerkennung der »agency«11 der Studienobjekte, das Ignorieren ihrer Handlungsfähigkeit, führt nach Haraway zu ernsthaften Fehlern und falschem Wissen. Wissensobjekten soll stattdessen der Status von Agenten und Akteuren zugesprochen werden, zu denen Wissenssubjekte in eine dialogische Beziehung treten können. Objekte der Forschung als Akteure und Agenten der Wissenschaft zu begreifen impliziert, dass deren Handlungen die Theorie transformieren können: Situated knowledges require that the object of knowledge be pictured as an actor and agent, not a screen or a ground or a resource, never finally as slave to the master that closes off the dialectic in his unique agency and authorship of »objective« knowledge.12

Mit ihrem Konzept eines »situierten Wissens« übt Donna Haraway an einem hegemonischen Standpunkt im Diskurs der Wissenschaften Kritik, den sie als andro- und ethnozentrisch charakterisiert.13 Daran lassen sich die Beobachtungen der Women of Color anschließen u.a. die von Cherríe Moraga14, die von einer »theory in the flesh« spricht, »where the physical realities of our lives – our skin color, the land or concrete we grew up on, our sexual longings ‒ all fuse to create a politic born out of necessity«15, sowie die von Gloria Anzaldúa, die die tief eingravierte Erfahrung der Diskriminierung mit folgenden Worten 10 Ebd. 11 Ebd., S. 198. 12 Ebd. 13 Ebd., S. 197. 14 Die Einführungen zu den einzelnen Kapiteln der Anthologie This Bridge Called My Back: Writings by Radical Women of Color wurden von Cherríe Moraga verfasst (Moraga /Anzaldúa, [1981] 1983, S. XXIV). 15 Moraga /Anzaldúa, [1981] 1983, S. 23. 31

Erinnerung und Intersektionalität

charakterisiert: »[W]e are written all over, or should I say, carved and tattooed with the sharp needles of experience«16. Beide Autorinnen haben auf die Notwendigkeit hingewiesen, Theoriearbeit als Produktion von Wissen zu verstehen und sie in der Körpererfahrung und -verortung zu verankern. Ramón Grosfoguel aus der Gruppe Modernidad/Colonialidad nimmt diese Überlegungen auf, um eine »Körperpolitik des Wissens«17 zu konzeptualisieren. Damit ist ein Wissen gemeint, das »in epistemischer Hinsicht aus einer subalternen Position18 heraus 16 Anzaldúa, 1990, S. XV. 17 Der Begriff lehnt sich an die Geopolitik des Wissens an, ein Konzept, das vom lateinamerikanischen Philosophen Enrique Dussel in seiner Filosofía de la Liberación ([1977] 1996) formuliert wurde. Die Gruppe Modernidad/Colonialidad nahm dieses Konzept Ende der 90er Jahre auf und dachte aus der Perspektive Lateinamerikas über die Beiträge der Postcolonial Studies nach. Walter Mignolo postuliert mit der Dekolonisierung des Wissens und der »pluri-versalidad como proyecto universal« (2010, S. 125), der Pluriversalität als universales Projekt, ein zentrales Anliegen seines Desiderats des epistemologischen Ungehorsams. Aufbauend auf der Lektüre von René Zavaleta Mercado und seinem Konzept der »sociedad abigarrada« setzten sich parallel dazu auch die Bolivianerinnen Rossana Barragán und Silvia Rivera Cusicanqui mit der Arbeit der South Asian Subaltern Studies Group auseinander und gaben mit Debates post coloniales. Una introducción a los Estudios de la Subalternidad (1997) die erste Übersetzung der Texte auf Spanisch heraus. 18 Mit der »subalternen Position« wird auf den Begriff des »Subalternen« Bezug genommen, der auf Antonio Gramsci zurückgeht. Gramsci, in Sardinien geboren, geht es um die Möglichkeiten einer revolutionären Rolle der ausgebeuteten süditalienischen Bevölkerung gegenüber der Hegemonialmacht der Piemontesen. Er unternimmt den Versuch, die marxschen Überlegungen bezüglich der Landbevölkerung zu erweitern, da in der orthodoxen-marxistischen Theorie lediglich die städtische Arbeiterklasse als Protagonist der Revolution berücksichtigt wurde (Gramsci, [1934] 1999, S. 2185-2200). Die South Asian Subaltern Studies Group nimmt nach ihrer Entstehung in den 80er Jahren Gramscis Reflexionen auf und wendet den Begriff auf Personen und Gruppen an, die aus sozialen Gründen (race/ gender/class) diskriminiert werden. Auch Gayatri Chakravorty Spivak arbeitet in ihrem Aufsatz Can the Subaltern Speak? mit diesem Konzept, um die Lebenssituation von Frauen im postkolonialen Territorium Indiens zu beleuchten sowie die Auseinandersetzung der westlichen Intellektuellen mit der Lücke in der historischen Repräsentation der kolonialisierten Bevölkerung zu problematisieren (Spivak, [1988] 2007, S. 47-106). 32

Teil I – Die Konzepte der Intersektionalität und der Spur in der Erinnerungsarbeit

denkt«19, »ein Wissen ›von unten‹, das eine kritische Sichtweise des hegemonialen Wissens in Machtverhältnissen ermöglicht«20 und das als Hauptpunkt den Ort der Artikulation hat, »d.h. de[n] geopolitische[n] und ›körper‹-politische[n] Standort des sprechenden Subjekts«21. Die Aufforderung, den wissenschaftlichen Diskurs für eine Heteroglossie zu öffnen, die den Narrationen subalternisierter Subjektivitäten einen Platz einräumt, bildet den Ausgangspunkt für eine Lektüre der Werke von Autorinnen, die sich der Erinnerung an die argentinische Repression aussetzen.

1.2 Mehrschichtige Interdependenzen Seit ihrer Entstehung Mitte der 70er Jahre haben die Gender Studies und, seit den 90er Jahren, die Reflexionen der Queer Studies verstärkt auf die Wechselwirkungen zwischen Ungleichheits- und Unterdrückungsverhältnissen in Bezug auf die geschlechtliche Identität hingewiesen. Für die Analyse sozialer Ungleichheiten hat sich das Konzept der Intersektionalität durchgesetzt: Statt die Wirkungen von zwei, drei oder mehr Unterdrückungen lediglich zu addieren, betonen die Protagonist_innen des Konzepts, dass diese in verwobener Weise auftreten und sich wechselseitig verstärken, abschwächen oder auch verändern können. Diskriminierung wird in diesem prozessorientierten Ansatz als ein Produkt der sozialen Konstruktion von Identität verstanden, die in einem sozialen, historischen, politischen und kulturellen Kontext steht.22 Während viele Intersektionalitätstheoretiker_innen nur drei Differenzkategorien berücksichtigen (Klasse, Geschlecht und Ethnizität/»Rasse«), nehmen Degele und Winker die Kategorie Körper hinzu, da die neoliberale Leistungsgesellschaft Erfolg und Misserfolg häufig an körperlichen Merkmalen wie Gesundheit, Attraktivität und Alter misst. In diesem weiten Forschungsfeld besteht keine Übereinstimmung darüber, mit welcher Gewichtung und in welcher Reihenfolge die unterschiedlichen Kategorien geordnet werden sollten23, denn diese Kategorien oder »Achsen der Differenz«, wie Cornelia Klinger und Gudrun-Axeli Knapp24 sie nennen, stehen seitdem im Mittelpunkt einer Definitionsdebatte, die von der Schwierigkeit geprägt ist, diese Begriffe als definitorischen Rahmen zu nutzen, weil sie 19 Grosfoguel, 2010, S. 312. 20 Ebd. 21 Ebd. 22 Winker /Degele, 2009, S. 10. 23 Walgenbach /Grohs, 2006, »Gewichtungen von Kategorien«. 24 K linger /K napp, 2005, o. S. 33

Erinnerung und Intersektionalität

währenddessen der Dekonstruktion unterzogen werden. Die große Herausforderung einer intersektionellen Arbeitsweise besteht gerade darin, die abstrakte Trennung dieser Kategorien zugunsten einer verwobenen Perspektivierung zu überwinden, die sichtbar macht, dass diese Kategorien immer als Verbund auftreten, d.h. z.B. dass es keine ungeschlechtlichen Klassenbeziehungen oder klassenlosen Geschlechterverhältnisse gibt sowie keine Sexualität, die nicht auch gleichzeitig durch eine Vorstellung von Rasse markiert ist. Anna Pollert präzisiert die Beziehung zwischen Klasse und Gender mit den Worten: »[A]lthough separable conceptually to the extent that we have different words for them, in concrete social experience, class and gender are inseparable«25, während Judith Butler Rasse und Gender als untrennbar sieht: »[E]s ist nicht mehr möglich, die sexuelle Differenz der Rassendifferenz vorzuschalten oder sie überhaupt erst in vollständig trennbare Achsen sozialer Regulierung und Macht zu zerlegen«, denn »der symbolische Bereich, der Bereich sozial instituierter Normen, setzt sich aus rassisierenden Normen zusammen«26. Diese Überlegungen fließen in das von Degele/Winker vorgeschlagene Modell zur Analyse sozialer Ungleichheiten ein, das drei strukturelle Ebenen umfasst, die durch soziale Praktiken verbunden sind. Auf einer Ebene werden die Herrschafts- und gesellschaftlichen Sozialstrukturen berücksichtigt, die u.a. die Bedingungen abstecken, die beispielsweise den Zugang zum Arbeitsmarkt oder die Ungleichheit der Löhne regeln. Diese Herrschafts- und Sozialstrukturen werden in einer zweiten Ebene von Prozessen der Identitätsbildung, der individuellen Verortung und Identifizierung, begleitet, wie z.B. im doing gender oder in der Herstellung von Zugehörigkeiten. Derartige Prozesse werden zuletzt auf einer Ebene ausgetragen, die Herrschaftsstrukturen gleichzeitig stützt und hervorbringt. Auf dieser Ebene der symbolischen Repräsentationen und Artikulationen, der dritten Ebene, werden Diskurse und damit vorherrschende Normen, Werte und Stereotype transportiert sowie Identitäten konstruiert und rückgekoppelt. Die Prozesse individueller Subjektivierung stabilisieren indessen die symbolischen Repräsentationen durch performative Wiederholungen in einem System von Wechselwirkungen.27 Die Studien der Kultur- und Literaturwissenschaften haben auf der Ebene der symbolischen Repräsentationen ihre Wissensgegenstände und -agenten. Bei der Untersuchung von Texten kann daher die intersektionelle Analyse bereichernd sein, weil dadurch ein besonderes Augenmerk auf den Bezug der Texte auf Herrschaftsstrukturen, auf die Konstruktion von Identitäten und auf die Artikulation 25 Pollert, 1996, S. 650. 26 Butler, [1993] 1995, S. 251. 27 Ebd., S. 25-62. 34

Teil I – Die Konzepte der Intersektionalität und der Spur in der Erinnerungsarbeit

von Normen, Werten und Stereotypen gelegt werden kann und damit der Blick für die Diskurse geschärft wird, die diese transportieren, weiter zementieren – oder in Frage stellen und ihre Perpetuierung unterbrechen.

1.3 Zur Entstehung des Konzepts der Intersektionalität Fast ein Jahrzehnt bevor das Konzept der Intersektionalität von europäischen Feministinnen rezipiert wurde, hatten Gloria Anzaldúa und Cherríe Moraga mit weiteren Women of Color 1981 in ihrem kollektiven Werk This Bridge Called My Back: Writings by Radical Women of Color28 Rasse, Klasse und Geschlecht als Verflechtung erfasst und sie begannen, diese wissenschaftliche Genregrenzen überschreitend zu untersuchen und künstlerisch zu vertreten. Als die Women of Color auf die Diskriminierungs- und Marginalisierungserfahrungen aufmerksam machten, die Migrantinnen, einheimische Frauen anderer Hautfarbe sowie lesbische Frauen nicht selten (bei der weißen Mehrheitsbevölkerung der USA und aufgrund des Homoverhaltens zusätzlich auch in der eigenen Chicano-Gemeinschaft) erlebten, wies Moraga darauf hin, dass Aussagen immer innerhalb von Machtstrukturen stattfinden und wir dadurch zwangsläufig in ihnen unseren Standpunkt annehmen.29 Für die Verortung ihrer Aussagen wählten die Women of Color gezielt ein polyphones Wirken, das ihr Tun in die Geborgenheit der Gruppe, aber gleichzeitig in ein kreatives Spannungsverhältnis zueinander (»[W]e are women who contradict each other«30) stellte, und verankerten ihre Praxis im Akt des Körper-Schreibens: The materialism in this book lives in the flesh of these women’s lives: the exhaustion we feel in our bones at the end of the day. The fire we feel in our hearts when we are insulted, the knife we feel in our backs when we are be28 Nach 40.000 verkauften Exemplaren der englischen Originalfassung erschien das Buch im Jahr 1988 herausgegeben von Cherríe Moraga und Ana Castillo in der spanischen Übersetzung zweier Beiträgerinnen, Norma Alarcón und Ana Castillo, unter dem Titel Esta puente, mi espalda: Voces de mujeres tercermundistas en los Estados Unidos. Die erklärte Absicht der Buchveröffentlichung war, neue Brücken zwischen den Hispanoamerikanerinnen und den Afroamerikanerinnen in den USA zu bauen und damit zur Bildung eines feministischen Bewusstseins in allen kulturellen, wirtschaftlichen und ethnischen Sphären beizutragen (vgl. Moraga /Castillo, 1988). 29 Moraga, 1979, S. 27-34. 30 Moraga /Anzaldúa, [1981] 1983, S. XIX. 35

Erinnerung und Intersektionalität trayed, the nausea we feel in our bellies when we are afraid, even the hunger we feel between our hips when we long to be touched.31

Im selben Band knüpfen u.a. das Combahee River Collective und Audre Lorde an die ermutigende Perspektivierung der Gruppenidentität an und schärfen das Gespür für die Mehrfachdiskriminierung aufgrund von sozialer Herkunft und Sexualität aus der Position des strategischen Essentialismus der Frauen. Dabei werden Rassismus, Sexismus und Heteronormativität als Systeme gleichzeitiger Unterdrückung und Privilegierung entlarvt. Etwa neun Jahre später präzisiert bell hooks im von Gloria Anzaldúa herausgegebenen Band Making Face, Making Soul (1990) ein entscheidendes Moment in der Konstitution von Diskriminierung: Diskriminierte können zwar zu Wort kommen, ihre Worte finden aber kein Gehör und werden nicht selten von denjenigen, die das Zuhören verweigern, als nicht des Zuhörens werte Mitteilungen übergangen. hooks berichtet von einer Zeit, in der die unbequemen Worte von black women als Geisteskrankheit abgetan wurden: Certainly for black women, our struggle has not been to emerge from silence into speech but to change the nature and direction of our speech, to make a speech that compels listeners, one that is heard. Our speech, »the right speech of womanhood«, was often the soliloquy, the talking into thin air, the talking to ears that do not hear you − the talk that is simply not listened to.32 Madness, not just physical abuse, was the punishment for too much talk if you were female.33

Diese Aspekte sind auch im Zusammenhang mit der argentinischen Repression relevant: Der Protest der Mütter und der Großmütter der Plaza de Mayo wurde lange Zeit nicht nur überhört, sondern die Mütter und Großmütter wurden aufgrund ihrer Aufschreie als »las locas de Plaza de Mayo« abgestempelt, als »die Verrückten von der Plaza de Mayo«. »De-mentiert« und »dement-iert« wurden durch die Politik der Straflosigkeit auch die Bezeugungen der Überlebenden. Als einen unerhörten Missstand erkannte die Juristin Kimberlé Crenshaw im Fall DeGraffenreid vs. General Motors das Unvermögen der US-amerikanischen Gesetze, mehrfache Diskriminierung zu erfassen. Bereits 1988 war ihr aufgefallen, dass die Überlappung zwischen Gender und Ethnizität eine Art ge31 Ebd., S. XVIII. 32 hooks, 1990, S. 208. 33 Ebd., S. 209. 36

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sellschaftlicher toter Winkel war.34 Sie prägte 1989 dann im Prozess das Bild einer Verkehrskreuzung als Illustration des Zusammenwirkens – und der Unsichtbarkeit – einer doppelten Diskriminierung aufgrund der Rasse und des Geschlechts: Consider an analogy to traffic in an intersection, coming and going in all four directions. Discrimination, like traffic through an intersection, may flow in one direction, and it may flow in another. If an accident happens in an intersection, it can be caused by cars traveling from any number of directions and, sometimes, from all of them. Similarly, if a Black woman is harmed because she is in an intersection, her injury could result from sex discrimination or race discrimination. […] But it is not always easy to reconstruct an accident: Sometimes the skid marks and the injuries simply indicate that they occurred simultaneously, frustrating efforts to determine which driver caused the harm.35

Die Untersuchung von Fällen von Gewalt gegen farbige Frauen diente Crenshaw als Grundlage, um das Konzept der Intersektionalität weiter zu konturieren und damit eine differenzierte Wahrnehmung von Ausgrenzung als Bedingung der sozialen Existenzweise von Männern und Frauen in das Blickfeld zu rücken.36 Das Intersektionalitätskonzept wurde bald danach in Europa rezipiert und in den letzten 20 Jahren von zahlreichen u.a. in den Gender und den Queer Studies tätigen Theoretiker_innen weitergedacht. In Lateinamerika theorisierten u.a. Ochy Curiel (z.B. 2004) und Sueli Carneiro (z.B. 2009) die Intersektionen zwischen Gender und afrikanisch-stämmiger Ethnizität, während Silvia Rivera Cusicanqui (z.B. 2004) und Marisol de la Cadena (z.B. 2007a, 2007b) Beiträge 34 Kimberlé Crenshaw wurde 1959 geboren. Von ihren Beobachtungen im Milieu der Cornell University in den frühen 80er Jahren spricht sie in einem Interview: ›www.americanbar.org/content/dam/aba/publishing/perspectives_magazine/women_perspectives_Spring2004CrenshawPSP.authcheckdam.pdf‹, 06.08.2015. 35 Crenshaw, 1989, S. 149. Ausgangspunkt ihrer Überlegungen war die Klage gegen den US-Automobilhersteller General Motors, der in einer Entlassungswelle vornehmlich schwarze Arbeiterinnen entließ, ohne gleichzeitig in gleichem Maße weißen Frauen oder schwarzen Männern zu kündigen. Angesichts der fehlenden gesetzlichen Grundlagen war es Crenshaw nicht möglich, mit der Prämisse der Gleichbehandlung zu argumentieren und die Arbeitsplätze der farbigen Frauen einzuklagen. 36 Crenshaw, 1991, S. 1241-1299. 37

Erinnerung und Intersektionalität

zur Reflexion über die Interdependenzen zwischen Gender und indigenen bzw. Mestizo-Identitäten beisteuerten. Trägt die Konzeptualisierung von Intersektionalität seit den 90er Jahren maßgeblich zur Bloßlegung ethnozentrischer Diskriminierungspraktiken als mehrfache Ausgrenzung bei, so stellen die Reflexionen Judith Butlers zeitgleich essentialistische Vorstellungen von Sex, Gender und geschlechtlicher Identität in Frage. Die Unterscheidung zwischen den Geschlechtern, die die Unterdrückung der Frauen rechtfertigt, wurde von Simone de Beauvoir in ihrem Buch Le Deuxième Sexe (1949) aus der Perspektive des Existentialismus philosophisch erörtert. Beauvoir beschrieb Stereotype und Manifestationen von »Weiblichem« als Alteritätskonstruktionen des Patriarchats und entlarvte diese als seine Stabilisierungsstrategien. Beauvoirs gesellschaftskritische Kampfansage gegen die Unterdrückung von Frauen wird oftmals nach ihrem einprägsamen Leitmotiv zitiert: »On ne naît pas femme, on le devient.« Indem sie auf den Unterschied zwischen Sex, dem biologisch-anatomischen Geschlecht, und Gender, dem sozial konstruierten Zustandebringen der Geschlechterrollen, hinwies, demontierte sie den (eigentlich erst seit der Aufklärung kursierenden) Mythos eines biologisch verankerten Geschlechterunterschieds.37 Sie führte ein Verständnis von Weiblichkeit ein, das deren kulturelle Bedingtheit offenbarte, und läutete mit dem emanzipatorischen Projekt, das Frauen den »privilegierten Ort der Männer«38 zugänglich machen sollte, eine neue Phase in der westlichen Frauenbewegung ein.39 37 Der Aspekt der Geschichtlichkeit bezüglich der Wahrnehmung einer »natürlichen« Binarität der Geschlechter wurde u.a. von Thomas Laqueur in Auf den Leib geschrieben untersucht (siehe Literaturverzeichnis). Laqueurs Positionen gerieten bei deutschen Geschlechtsforscherinnen in die Kritik. Sie warfen ihm vor, in seiner Betrachtung der Körperlichkeit das Universum von Emotionen und Empfindungen komplett außer Acht zu lassen (vgl. Duden, Barbara, Geschlecht, Biologie, Körpergeschichte: Bemerkungen zu neuer Literatur in der Körpergeschichte, in: Feministische Studien 9, 2 (1991), S. 105-122; Braun, Christina von, Thomas Laqueur: Auf den Leib geschrieben. Die Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud, in: metis. Zeitschrift für historische Frauen- und Geschlechterforschung 2, 1 (1993), S. 97-99). 38 Beauvoir, [1949] 2003, S. 21-26. 39 Francesca Gargallo, mexikanische Intellektuelle italienischer Herkunft, schreibt mit ihrem Werk Ideas feministas latinoamericanas eine Geschichte des lateinamerikanischen Feminismus. Damit widersetzt sie sich gängigen europäisch-nordamerikanisch geprägten Generalisierungen, die eine Einteilung des Feminismus 38

Teil I – Die Konzepte der Intersektionalität und der Spur in der Erinnerungsarbeit

In die Strömung des französischen Poststrukturalismus eingebettet setzten sich ab den 70er Jahren Denkerinnen der Differenz wie Hélène Cixous, Luce Irigaray, Sarah Kofman, Julia Kristeva und Monique Wittig, um nur einige zu nennen, mit der (De-)Konstruktion von (weiblicher) Identität als sprachliches Ereignis auseinander. Bereits mit dem Titel Speculum. Spiegel des anderen Geschlechts brachte Luce Irigaray den Antwortcharakter des Buches auf Jacques Lacans Konzept des Spiegels zum Ausdruck. Der Psychoanalytiker Lacan hatte in »Das Spiegelstadium als Bildner der Ich-Funktion«40 postuliert, dass das Erlebnis des eigenen Spiegelbildes fundamental in der kindlichen Entwicklung ist, denn daraus konstituiert sich der Sinn der eigenen Identität als selbständiges Wesen getrennt von der Mutter und den Anderen. Doch diese Trennung ist gleichzeitig eine Aporie. Einerseits wird die Identität durch einen Widerschein konstituiert, durch das Imago, das einen Anderen zurückprojiziert: die imaginäre Entfremdung und Verkennung. Andererseits unterliegt sie der symbolischen Entfremdung, das eigene Begehren wird im Begehren des Anderen festgehalten. Nach Žižek ist Lacans Verständnis des Anderen eine »Metonymie des Mangels«, ein Platzhalter für das Nichts, das durch ein Objekt substituiert wird, an das das Subjekt sich bindet.41 Das Spannungsverhältnis zwischen imaginärer und symbolischer Entfremdung wird bei Lacan durch die Intervention eines Dritten, des Vaters, und seines Gesetzes aufgelöst. Das Gesetz und dessen Fachsprache bestätigen den Vater in seiner überlegenen Rolle und weisen der Mutter einen unterlegenen Status zu.42 Für Luce Irigaray konstituiert sich so eine symbolische Ordnung, die Worte, Zeichen und Diskurse beinhaltet, die den Platz der Frau als einen untergeordneten gegenüber dem des Mannes definiert und Frauen den Zugang zur kulturellen (öffentlichen) Sphäre – bzw. zur Wissenschaft oder zur psychoanalytischen Theorie – nur nachrangig einräumt.43 Nach Irigaray be-

nach eigener regional bestimmter Wahrnehmung in erste, zweite und dritte Welle vornehmen. Sie postuliert, dass die weiße (europäisch-nordamerikanische) Herkunft des akademisch anerkannten Feminismus Ausgangspunkt für eine Blindheit bzw. eine kritische Einstellung gegenüber Paradigmen anderer Herkunft ist (Gargallo, [2004] 2006, S. 170). 40 Vgl. Lacan, 1986, S. 61-70. Das französische Original »Le stade du miroir comme formateur de la fonction du Je« wurde 1949 in Écrits veröffentlicht, in deutscher Übersetzung als Schriften zum ersten Mal im Jahr 1973. 41 Žižek, 2004, S. 151f. 42 Lacan, 1986, S. 61-70. 43 Irigaray, 1980, S. 22. 39

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ruht diese Ordnung auf einem Verständnis der weiblichen Sexualität, das diese als defizitär darstellt: Die weibliche Sexualität ist immer von männlichen Parametern ausgehend gedacht worden. Auf diese Weise scheint die Opposition männliche klitorale Aktivität/weibliche vaginale Passivität, von der Freud (und auch andere) als von Etappen oder Alternativen der Entwicklung zur sexuell »normalen« Frau spricht, allzu sehr bedingt von der Praxis männlicher Sexualität. […] Sie müsste daher mit allen Mitteln danach streben, sich den Penis anzueignen: durch ihre etwas servile Liebe zum Vater/Gatten, der fähig ist, ihr den Penis zu geben, durch ihren Wunsch nach einem Penis-Kind, das am liebsten ein Junge sein soll, durch den Zugang zu den kulturellen Werten, die von Rechts wegen immer noch einzig und allein männlichen Wesen vorbehalten und aufgrund dieser Tatsache immer männliche sind usw.44

Unter dem Einfluss der Dekonstruktion von Jacques Derrida und in kritischer Rezeption der Psychoanalyse von Jacques Lacan hinterfragten die Denkerinnen der Differenz eine symbolische Ordnung, die sie als »phallo-logozentrisch« charakterisierten. In diese Wortschöpfung floss ihre grundlegende Kritik sowohl am logozentrischen Denken45 als auch an Freuds These des Penisneids ein, die in feministischer Lektüre als wissenschaftliche Untermauerung einer Geschlechterordnung verstanden wird, die Männlichkeit als Regel und Weiblichkeit als ihr Defizit artikuliert und die in der Sprache reproduziert wird, z.B. durch den Universalitätsanspruch männlicher Personenbezeichnungen, die auch Frauen implizieren, was umgekehrt nicht der Fall ist. Die Denkerinnen der Differenz entwickelten eine Theorie des Weiblichen als »un-repräsentierte Abwesenheit, hervorgerufen durch die männliche Verleugnung, die die Bedeutungs-Ökonomie durch einen Ausschluss begründet«.46 Ihrem gesellschaftskritischen Standpunkt entsprechend traten sie für eine réécriture féminine ein, für das Körper-Schrei44 Ebd. 45 Nach Jacques Derrida ist für die Hauptströmungen westlicher Tradition charakteristisch, dass sie auf dem »logos« aufbauen, d.h. auf der Vorstellung einer metaphysischen Einheit von Wort und Sinn. Diese logozentrische Denkweise organisiert sich in dualen, hierarchisierten Oppositionen und um übergeordnete Konzepte wie Gott, Wahrheit, Vernunft und Natur herum, denen eine außersprachliche Präsenz zugesprochen wird, die sprachliche Bedeutungen bestätigt und fixiert (Nünning, [1998] 2008, S. 445). 46 Butler, [1991] 2003, S. 53. 40

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ben, in dem der weibliche Körper und die weibliche Differenz in die Sprache und die Texte von Autorinnen eingeschrieben sind, um so eine alternative Ordnung zu begründen. So formuliert es eine ihrer prominenten Vertreterinnen, Hélène Cixous: Il faut que la femme s’écrive : que la femme écrive de la femme et fasse venir les femmes à l’écriture, dont elles ont été éloignées aussi violemment qu’elles l’ont été de leurs corps ; pour les mêmes raisons, par la même loi, dans le même but mortel. Il faut que la femme se mette au texte comme au monde, et à l’histoire, de son propre mouvement.47

Kritik an ihrer Arbeit ernteten dieser Theoretikerinnen, an deren Beiträgen sich die literaturwissenschaftliche Textanalyse aufgrund der nicht nachlassenden Aktualität der Geschlechterordnungsproblematik weiterhin orientiert, wegen ihrer Tendenz zur Reifikation des Weiblichen und trotz des allgemeinen politischen Anspruchs, binäre Kategorien dekonstruieren zu wollen, die Mann/FrauOpposition, die essentialistische Vorstellungen von Geschlechterrollen (paradoxerweise) nachhaltig affirmierte. R. W. Cornell dynamisierte und ergänzte diese Perspektive, indem sie in Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeiten den Begriff der Männlichkeit im Sinne eines sozialen Geschlechts untersuchte, der in seiner engen Reziprozität mit dem Weiblichkeitsbegriff die gesamte soziale Praxis strukturiert bzw. unterschiedliche Handlungsmuster der Geschlechterordnung herstellt.48 Überlegungen neueren Datums beleuchten und historisieren die Unterscheidung zwischen den Geschlechtern als Korrelat zur funktionellen Differenzierung der Gesellschaft in der Moderne. Der Soziologe und Publizist Christoph Kucklick vertritt in seiner Dissertationsschrift Das unmoralische Geschlecht. Zur Geburt der Negativen Andrologie die These, dass »das negative Denken der Männlichkeit eines der am tiefsten sitzenden Stereotype der Moderne [ist], ein eingefräster Topos, der sich seither stetig mit Plausibilität versorgt«49, und verortet die Begründung in der funktionalen Differenzierung der Gesellschaft, wobei »die sich um 1800 entwickelnde Geschlechterordnung als semantisches Korrelat der Differenzierung gelesen wird«50. Die Negativierung der Männlichkeit ist nach Kucklick ein historischer

47 Cixous, [1975] 2010, S. 37. 48 Connell, 1995, S. 165. 49 Kucklick, 2008, S. 13. 50 Ebd., S. 20. 41

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Prozess, der bei der Untersuchung der Ordnung der Geschlechter einen wichtigen Zusammenhang liefert: Die Negative Andrologie erscheint somit als semantisches Korrelat grundlegender gesellschaftsstruktureller Transformationen. Sie erscheint explizit weder als Ausdruck eines männlichen Herrschaftsbedürfnisses/männlicher Ohnmacht noch als Resultat irgendwelcher psychischer Prozesse. Sondern sie hat sich entwickelt als Versuch, fundamentale Umbrüche der Gesellschaft auf dem Schema von Männlichkeit/Weiblichkeit abzubilden bzw. dieses Schema als Supercodierung der Differenz von Interaktion und Gesellschaft zu benutzen. Daraus resultierte die symbolische Identifizierung von Männlichkeit mit jenen Aspekten der Moderne, die als bedrohlich, »unmenschlich«, triebhaft (maßlos) und gewalttätig erachtet wurden und werden.51

Bekanntlich ist es Judith Butler, die in Das Unbehagen der Geschlechter die Unterscheidung zwischen einem anatomischen und einem kulturellen Geschlecht geprüft und als nicht haltbar aufgezeigt hat, womit sie einen neuen Zugang zur Dekonstruktion essentialistischer Vorstellungen von (geschlechtlicher) Identität eröffnet hat. In der Diskursanalyse von Michel Foucault verankert, dekonstruiert Butler die Vorstellung einer vordiskursiven Leiblichkeit und untersucht die kulturell bedingte gedankliche Konstruktion des anatomischen Geschlechts: Die Unterscheidung Geschlecht (sex)/Geschlechtsidentität (gender) erlaubt […], die Geschlechtsidentität als vielfältige Interpretation des Geschlechts zu denken, und sie ficht bereits potentiell die Einheit des Subjekts an. Wenn der Begriff Geschlechtsidentität die kulturellen Bedeutungen bezeichnet, die der sexuell bestimmte Körper (sexed body) annimmt, dann kann man von keiner Geschlechtsidentität behaupten, dass sie aus dem biologischen Geschlecht folgt. […] Wenn wir jedoch den kulturell bedingten Status der Geschlechtsidentität als radikal unabhängig vom anatomischen Geschlecht denken, wird die Geschlechtsidentität selbst zu einem freischwebenden Artefakt. Die Begriffe Mann und männlich können dann ebenso einfach einen männlichen und einen weiblichen Körper bezeichnen wie umgekehrt die Kategorien Frau und weiblich.52

51 Ebd., S. 333. 52 Butler, [1991] 2003, S. 22f. 42

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Geschlechtsidentität ist für Butler ein Tun, ein doing gender, ein Werden und Konstruieren, ein Prozess der permanenten Wiederholung kultureller und diskursiver Praktiken, eine Performanz: Hinter den Äußerungen der Geschlechtsidentität (gender) liegt keine geschlechtlich bestimmte Identität (gender identity). Vielmehr wird diese Identität gerade performativ durch diese ›Äußerungen‹ konstituiert, die angeblich ihr Resultat sind.53

Zweigeschlechtlichkeit ist demnach eine symbolische Ordnung, Effekt von Wiederholungen, die von einem Regulierungssystem aus Normen und Wahrnehmungen ständig performiert wird. Judith Butlers theoretische Überlegungen sind primär mit Fragen nach der Lebbarkeit der Geschlechter außerhalb der Normen befasst, sie lassen sich ebenfalls als maßgeblich für die Prozesse der Marginalisierung weiterdenken. Als Verworfene, als »abject beings«, bezeichnet Butler die Noch-nicht-Subjekte in jenem Bereich des sozialen Lebens, der nicht lebenswürdig und dennoch stark bevölkert ist; sie werden benötigt, um den Wirkungskreis des Subjekts durch Exklusion und Ausschluss abzuzeichnen.54 Die Exklusions- und Ausschlussprozesse, die Subjekte existentiell bedrohen können, werden von Butler räumlich erfasst, eine Perspektive, die auch für den Kontext der politischen Verfolgung in Argentinien relevant ist. Denkt man die Diskriminierungsprozesse im diktatorischen Argentinien als Raum, so wird sichtbarer, wie »unerwünschte«, »verworfene« Menschen an dessen Rand gedrängt wurden: Sie wurden destabilisiert und ver-rückt – auch im Sinne mentaler Gesundheit, wie bei den Müttern und Großmüttern der Plaza de Mayo –, ins innere Exil geschickt oder des Landes verbannt; vielen wurde letztlich ihr Platz im Leben weggenommen. An diesem Ort der Verworfenen haben die argentinischen Diskurse der nationalen Sicherheit und der Argentinität die »Subversiven« angesiedelt und damit die symbolischen Voraussetzungen für die Aussonderung, Verfolgung und Ausrottung der Körper/Subjekte der Rebellion geschaffen. Diese Diskurse hatten ihren Fortbestand in der postdiktatorischen Aufarbeitung bzw. in der Verweigerung der Aufarbeitung, d.h. bis zur Wiederaufnahme der strafrechtlichen Ermittlungen und Verhandlungen im Jahr 2005, aber auch insgesamt in den Deutungsmodellen für die Staatsrepression. Diese diskursive Prägung besteht weiter in vielfältiger Weise, z.B. im Umgang mit den Überlebenden und in ihrer Verdächtigung als Verräter_innen bzw. in ihrer Pa53 Ebd., S. 49. 54 Butler, [1993] 1995, S. 23. 43

Erinnerung und Intersektionalität

thologisierung als traumatisierte Menschen, die als tickende Zeitbomben marginalisiert werden. Letztere werden dann mit einer »Opferidentität« versehen, die ihr gesellschaftlich verursachtes Leiden nachhaltig an diese exkludierten Orte des Abjekten verschiebt. Diese »Opferidentität«, die als Begleitphänomen der sogenannten ethischen Wende in der Erinnerungskultur mit der internationalen Etablierung des Traumabegriffes55 aufkam, hat eine weitere problematische Seite. Aleida Assmann sieht »die Betonung des Leidens und der Narben« als »Teil einer nachchristlichen Passionsgeschichte, die die Opfer mit einer absoluten moralischen Autorität ausstattet«.56 Sie folgert daraus, dass die Figur des passiven Opfers gerade durch ihre Passivität bedeutend ist, da diese mit Reinheit und Unschuld konnotiert ist.57 In diesem Zusammenhang geht es hier weniger um die Prozesse der Idealisierung von so konturierten Opfern, sondern darum, dass durch diese zugeschriebene Passivität die Wahrnehmung der Überlebenden als Lebende blockiert wird und damit eben die Tatsache, dass sie wie alles Lebendige der Entwicklung und der Wandlung unterworfen sind und dass an diesem Prozess das soziale Umfeld unmittelbar beteiligt ist (vgl. auch Kap. »Krieg, Genozid und Staatsrepression in Argentinien« in Teil III). Judith Butlers Überlegungen zu den Signifikationen, die an der Realität des Körpers festgemacht werden, sind Gegenstand eines Gesprächs mit der deutschen Soziologin Hannelore Bublitz: Materialisierung ist entscheidend, aber der Körper ist nicht einfach ein Set von sedimentierten Sprechakten. Der Körper besteht nicht aus Sprechakten und er wird nicht durch sie hervorgerufen. […] Ich denke, dass Normen sich durch den Körper materialisieren, aber Normen sind nicht ganz dasselbe wie Sprechakte. Und ich glaube nicht, dass Normen alles sind, was den Körper ausmacht. Tatsächlich, würde ich sagen, wirken Normen auf den Körper ein und informieren, strukturieren und modellieren ihn oder geben seiner Form Bedeutung. Aber der Körper ist in gewissem Sinne auch da, um sich 55 Der Themenkomplex des Traumas bildet ein wichtiges Fundament der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung in den USA. Er teilt sich zusammen mit den Holocaust Studies das wissenschaftliche Interesse und beide prägen nach Astrid Erll gemeinsam den wissenschaftlichen Gedächtnisdiskurs in den USA. Dies ist nicht zuletzt der Tatsache geschuldet, dass die Psychoanalyse und die poststrukturalistische Kritik der Repräsentation eine zentrale Rolle in der amerikanischen Kulturwissenschaft haben (Erll, 2012, S. 276). 56 Assmann, A., 2006, S. 80. 57 Ebd. 44

Teil I – Die Konzepte der Intersektionalität und der Spur in der Erinnerungsarbeit zu verhalten, um interpretiert zu werden, und da gibt es Widerstand und Materialität, die nicht vollständig durch Normen materialisiert wurde. Wenn Menschen mich fragen, mit welchen Strategien hegemonialen Normen begegnet werden kann, vergessen sie m.E. manchmal, dass der Punkt nicht ist, neue Geschlechter zu produzieren, sondern eher, eine lebbare Welt für die Geschlechter zu gestalten, die es schon gibt, insbesondere für diejenigen, die durch Nichtkonformität mit Geschlechteridealen lange Zeit gelitten haben.58

In Butlers Betrachtung werden sowohl Geschlecht und Geschlechtsidentität als auch der binäre Rahmen für beide als regulierende Fiktionen begriffen, die männliche und heteronorme – im Sinne eines gesellschaftlich geleiteten und ausschließlichen Begehrens zwischen Mann und Frau – Unterdrückung festigt und naturalisiert.59 Wenn der Körper dem Diskurs nicht vorgeschaltet ist und sowohl das anatomische Geschlecht als auch die Geschlechtsidentität kulturelle Konstrukte sind, so kann Geschlechtlichkeit als Produkt performativer Praktiken verstanden werden. Diese zitierähnlichen Praktiken, die keine Akte sind, da Akte einen Willen voraussetzen, bestätigen die Norm durch Wiederholung, aber sie können sie auch unterlaufen. Und das genau ist die Stelle, an der es zu Verwirrung, Bedeutungsverschiebungen und Transformationen kommen kann.60 Diese Überlegungen Judith Butlers sind nicht nur richtungsweisend und grundlegend für die Gender und Queer Studies: Sie leiten eine Wende in der Auseinandersetzung mit bis dorthin scheinbar feststehenden feministischen Vorstellungen geschlechtlicher Identität ein. Sie erschüttern nicht nur die Fundamente feministischer Identitätspolitik, sie sind ebenfalls äußerst wertvoll im Hinblick auf Politiken, die darauf abzielen, Minderheiten oder diskriminierte Gruppen zu stärken. Denn Butlers Analyse macht deutlich, dass subordinierte Identitäten durch zitatartige Wiederholungen kultureller Manifestationen konstruiert werden. Diese Wiederholungen naturalisieren Identitäten und können auch, in der Absicht, unterdrückte Menschen aufzurichten, dazu beitragen, Subjekte mit »wesentlichen« Merkmalen zu versehen, sie auf diese festzulegen bzw. zu reduzieren, womit bestehende Identitätskonstruktionen weiter naturalisiert werden: 58 Bublitz, 2002, S. 130f. 59 Butler, [1991] 2003, S. 61. 60 In Körper von Gewicht ([1993] 1995) relativiert Judith Butler die Möglichkeiten der Subversion am Beispiel des cross-dressing. Sie zeigt, dass das performative Spiel der Geschlechtsidentitäten im drag ambivalent ist und zwischen Überschreitung und Anerkennung oszilliert. 45

Erinnerung und Intersektionalität Die Dekonstruktion der Identität beinhaltet keine Dekonstruktion der Politik; vielmehr stellt sie gerade jene Termini, in denen sich die Identität artikuliert, als politisch dar. Damit stellt diese Kritik den fundamentalistischen Rahmen in Frage, in dem der Feminismus als Identitätspolitik artikuliert wurde. Das innere Paradox dieses Fundamentalismus ist, dass er gerade jene »Subjekte« voraussetzt, fixiert und einschränkt, die er zu repräsentieren und zu befreien wünscht.61

Judith Butler stellt die Annahme, sexuelle Differenz sei »wesentlicher« als ethnische Unterscheidungen, in Frage, da sie voraussetzen würde, dass es einen Bereich sexueller Differenzierung gibt, der von Rassifizierung nicht markiert ist, was eigentlich eine autoreferenzielle Aussage beinhaltet, die die Blindheit für die eigene weiße Hautfarbe offenbart. Denn die gesellschaftliche Regulierung von Rasse taucht nicht als ein weiterer trennbarer Bereich von sexueller Ausdifferenzierung oder Sexualität auf. Rassifizierende Normen artikulieren sich nicht entlang existierender geschlechtlicher Normen, sondern durch sie hindurch.62 Die spezifischen historischen Bedingungen der Konstruktion und Bildung von Rassismus, Homophobie und Misogynie, die Art und Weise, wie sie für die eigene Artikulation einander benötigen und stärken, sollten nach Butler in einem substantiell überarbeiteten Konzept von Macht beleuchtet werden, das eine geopolitische Dimension und die Abhängigkeiten ihrer verwobenen Zirkulation berücksichtigt.63

1.4 Intersektionalität und verwobene Kolonialität Besondere Brisanz erhalten Butlers Überlegungen, wenn politische Identifizierungen, (negative) politische Zuweisungen und politische Identitäten vor dem Hintergrund einer geopolitischen Dimension der Macht gedacht werden. Die Gewalt, die etablierte, gesellschaftlich weitverbreitete Diskriminierungspraktiken aus politischen Gründen autorisieren, ist nicht selten für das ins Visier geratene Leben schlicht und einfach gefährlich. Das beweist die Zahl der Zivilisten, die seit dem Zweiten Weltkrieg in gruppenbedingten massenhaften Tötungen ums Leben kamen. Sie wird auf mindestens zwölf und bis zu 22 Millionen geschätzt und zeigt, dass dabei mehr Menschen umgebracht wurden als in allen inter- und

61 Butler, [1991] 2003, S. 218. 62 Butler, [1993] 1995, S. 182. 63 Ebd., S. 18. 46

Teil I – Die Konzepte der Intersektionalität und der Spur in der Erinnerungsarbeit

innerstaatlichen Konflikten und Kriegen dieser Zeit zusammen.64 Vieles spricht also dafür, dass die geopolitische Dimension der Macht, in der sich diskriminierende politische Macht und politische Gewalt artikulieren, im intersektionellen Denken und im Hinblick auf die Zeit der Ereignisse in Argentinien einen zentralen Platz erhalten muss. Bei Kategorien wie »Klasse, Race/ethnische Zugehörigkeit, Geschlecht/sexuelles Verhalten, Körper« wird oft von einem materiellen Substrat ausgehend gedacht und dabei vergessen, dass sie Vorstellungen und das naturalisierte Produkt performativer Praktiken und konstruierter Fiktionen sind. Oftmals befasst sich aus diesem Grund die Analyse von Diskriminierung irrtümlicherweise mit ihren Adressaten anstatt mit den Beziehungen und symbolischen Manifestationen, in denen sich diese artikuliert und wodurch sie sich stabilisiert. Die Diskriminierung aus politischen Gründen dagegen kann sich nicht auf »angeborene« und daher scheinbar natürliche Merkmale der Adressaten stützen, sie amalgamiert jedoch Zuschreibungen gleichermaßen zu Wesenszügen. Aus diesem Grund wird im Kontext der argentinischen Repression »politische Zuordnung« als Differenzkategorie postuliert. Die Differenzkategorie amalgamierte sich auch mit der Zugehörigkeit zur jungen Generation und wurde so als Performanz wahrgenommen: Denn auch wenn sie nicht die Ursache der Verfolgung bildeten, brachten Verhalten und Kleiderordnung im Argentinien der 70er Jahre ein so schwerwiegendes Verdachtsmoment mit sich, dass es Anlass zur Spekulation über die politische Gesinnung verdächtiger Personen gab. Die Kleiderordnung (Stichwort: Unisexmode) oder z.B. das Rauchen von Frauen in der Öffentlichkeit deuteten auf ein umfassendes Programm sozialer Transformation, das auch ein neues Verständnis der Geschlechterrollen umfasste und die traditionelle Dichotomie Mann/Frau verwischte. Die konforme Performanz von Weiblichkeit wurde bei den Desaparecidas im Folterlager als Zeichen ihrer Rückbesinnung auf die tradierten Geschlechterrollen verstanden und erhöhte ihre Überlebenschancen. Die Disziplinierung zu geschlechtskonformen Rollen war zum Teil eine Reaktion auf den sozialen Aufbruch, der sich ebenfalls auf der Ebene der Geschlechterperformanz manifestierte. Vor diesem Hintergrund erscheint die Analyse diskursiver Praktiken, die politische Gesinnung essentialisieren und lebensgefährlich machen, als ein zentraler Aspekt in einer intersektionellen Annäherung an dieses Kapitel der argentinischen Geschichte und an die Schreibpraxis von Autorinnen der Postdiktatur. Die Analyse der politischen und kulturellen Manifestationen und Formen, die politische Diskriminierung heute annimmt, bietet weitere Bezugspunkte in dieser Reflexion. Die Werke von Autorinnen und Autoren, die sich der Erinne64 Harff, 2003, S. 57. 47

Erinnerung und Intersektionalität

rung an die argentinische Staatsrepression widmen, könnten entsprechend dem Diskriminierungszusammenhang in zwei Narrative eingebettet werden: einerseits in die Narrative des Lagers und andererseits in die Narrative des Kalten Krieges. Die Narrative des Lagers werden seit einiger Zeit anhand der Figur des Homo sacer reflektiert. Mit dem geheiligten Menschen, der von der souveränen Macht in den Status des »vogelfreien« Menschen aus dem römischen Recht versetzt wird, beschreibt Giorgio Agamben in seinem Werk Homo sacer aus dem Jahr 2002 die Wirkung biopolitischer Macht in der Moderne. Im Homo sacer wird die ursprüngliche Bedeutung des Wortes »sacer« vergegenwärtigt: Dieser Mensch ist »verflucht« und »geheiligt«. Giorgio Agambens Homo sacer, das rechtlose Leben, das gequält und sinnlos getötet wird (jedoch nicht geopfert werden kann, weil dies sinnstiftend wäre), entspricht dem Leben der Lagerinsassen, aber auch dem der Gefangenen der Abschiebegefängnisse. In seiner Untersuchung belegt Agamben, dass durch die Verhängung des Ausnahmezustands ein rechtsloser Raum entsteht, in dem diese Form rechtlosen Lebens außerhalb des politischen Feldes erwächst. Gegen die Vorstellung, das Leben vom Politischen (und damit von der Mitgliedschaft in den Reihen der Staatsbürger) zu trennen, erhebt Judith Butler Einspruch.65 Sie argumentiert, dass diese Ausschließungslogik die hoch politische Frage des »fallengelassenen Lebens« aus dem Feld des Politischen heraus schreibt, obwohl dieses sowohl verstoßene als auch einbehaltene Leben »in genau dem Moment machtgesättigt ist, da es der Staatsbürgerschaft beraubt wird«.66 Nach Butler handelt es sich also vielmehr um einen »Zustand der Enteignung«.67 Die Logik, diesen Zustand als undifferenzierte Instanz des »nackten Lebens« anzusehen, schränkt unseren Begriffsrahmen und unser Vokabular zu weit ein, um das komplexe Wirken der gegenwärtigen Macht zu begreifen; dadurch macht sie gleichzeitig den Widerstand dagegen unsichtbar. Die individuellen Schicksale der verschleppten Menschen in den argentinischen Folterlagern lassen sich unschwer als entwertete Leben denken. Die Überlebenden der Lager erzählen in ihren testimonios über Grenzerfahrungen des Horrors und reihen sich in die bittere Tradition des Jean Améry und des Primo Levi, der Ruth Klüger, des Jorge Semprún und des Gustaw Herling-Grudziński u. v.a. ein. Doch wider die Ohnmacht angesichts der Erfahrungen des Lagers, des Überlebens und des nachhaltigen Schattens der Verfolgung begeben sich viele Individuen auf die Suche nach den Bruchstellen jener allgegenwärtigen Macht (die u.a. das 65 Butler /Spivak, 2007, S. 27-32. 66 Ebd., S. 30 67 Ebd., S. 31. 48

Teil I – Die Konzepte der Intersektionalität und der Spur in der Erinnerungsarbeit

eigene Überleben ermöglichten) und widmen sich der Darstellung der Würde der Menschen, die nicht zuließen, dass man sie auf den Zustand gebrochener Menschen reduzierte (s. hierzu insbesondere das Kap. »Pilar Calveiros Poder y desaparición« in Teil IV). Auch die fiktionalen Texte der Postdiktatur machen den Raum des Horrors sichtbar. Hier tritt er wie eine Schnittstelle oder eine Falte auf, die sich jederzeit in der Gegenwart manifestieren und bis ins Bodenlose öffnen kann. Die Figuren der Verräter und der immer noch straflos gebliebenen Henker verkörpern soziale Überbleibsel der argentinischen Katastrophe und machen die gesellschaftliche Niederlage der sozialrevolutionären Projekte der 70er Jahre, sowie die individuelle Niederlage vieler, immer wieder aktuell. Daher können diese literarischen Werke, wie Alberto Moreiras in Tercer espacio: literatura y duelo en América Latina (1999) und Idelber Avelar in Alegorías de la derrota: La ficción postdictatorial y el trabajo del duelo (2000) darstellen, als Narrative der Trauerarbeit verstanden werden. Die in Teil IV untersuchten Fiktionen sind jedenfalls Gegennarrative zur Vorstellung der Niederlage und bilden gleichzeitig den Versuch einer Re-Semantisierung und Um-Schreibung der Ereignisse. Sie bieten alternative Handlungswege zur Ohnmacht und artikulieren Strategien des Empowerments; im Sinne geschichtlicher Ereignisse werden sogar Uchronien68 hervorgebracht, wie im Fall von Norma Huidobros El lugar perdido (2007). In die geopolitischen Zusammenhänge eingebettet, erhält die Literatur der desapariciones forzadas eine weitere Dimension: Ihre Werke können als Narrative des Kalten Krieges gelesen werden. Der Kalte Krieg wird meistens als spannungsgeladener, aber letztlich friedlich ausgetragener Konflikt zwischen den Großmächten USA und UdSSR verstanden, der sich zwar durch die militärische Aufrüstung beider Seiten und den Streit um territoriale Bereiche politischer Einflussnahme charakterisierte, aber keinen europäischen Krieg verursachte (vgl. Kap. »Kalter Krieg und nationale Sicherheit« in Teil II). An peripheren Schauplätzen tobten jedoch im Zeichen dieses Konfliktes blutige Auseinandersetzungen, zu deren Voraussetzung z.B. in Argentinien der Diskurs der nationalen Sicherheit instituiert wurde, auf dessen Grundlage der Kampf gegen die »Subversion« stattfand. Dadurch wurden Praktiken autorisiert, die jenes entwertete Leben hervorbringen sollten. Auf die Konstitution eines außereuropäischen entwerteten Lebens werfen Ramón Grosfoguels Überlegungen Licht, wenn er die Kolonialität der Macht als Verwobenheit oder Intersektionalität bespricht, die sich in Form »multipler heterogener globaler Hierarchien (›Heterarchien‹) von sexuellen, politischen, epistemischen, ökonomischen, spirituellen, sprach68 Nünning, 1995, S. 268-275. 49

Erinnerung und Intersektionalität

lichen und rassischen Formen der Dominanz und Ausbeutung« manifestiert, »wobei die rassische/ethnische Hierarchie von europäisch/nichteuropäisch alle anderen globalen Machtstrukturen transversal umstrukturiert«.69 Eine Untersuchung der argentinischen Ereignisse, die als Politizide eingestuft werden können (vgl. Kap. »Krieg oder Genozid – Eine begriffliche Distinktion im Rückblick auf die desapariciones forzadas« in Teil III), zeigt entwertete Menschenleben in peripheren Zonen, die nach Grosfoguels Aufzeichnungen als »Andere« ausgemacht werden können, die in »unterentwickelten« und »rückständigen«, ja »pathologischen« Regionen angesiedelt waren und einen Gegensatz zu den »normalen« Entwicklungsmustern (des Westens) bilden.70 Walter Mignolo und Silvia Rivera Cusicanqui sprechen von einer Gegenbewegung, von der Dekolonisierung des Denkens. Rivera Cusicanqui unterstreicht die Notwendigkeit, dekolonisierendes Denken mit dekolonisierenden Praktiken zu verbinden71 und Mignolo baut auf das Entstehen eines kritischen Kosmopolitismus, eines Denkens, das als Ausgangspunkt das hat, was nicht mehr geschehen darf.72 Bei der Betrachtung der Literatur der desapariciones forzadas geht es in diesem Sinne darum, den Raum der Rezeption dieser Narrationen zu erweitern, um ein Wissen zu generieren, das sich gegen Diskurse und Politiken der Entmündigung und der Zerstörung stellt.

69 Grosfoguel, 2010, S. 316. 70 Ebd., S. 327f. 71 Nicht nur mit der Kolonialität des Nordens und den ihr dienenden Eliten im Süden geht Rivera Cusicanqui scharf ins Gericht, sondern auch mit von den kulturellen Zentren anerkannten Theoretikern wie Walter Mignolo und Néstor García Canclini, wenn sie ihnen das Unsichtbarmachen und die Enteignung dekolonialer Theorie und Praxis von Lateinamerikanern bzw. das Fortsetzen von subalternisierenden Diskursen vorwirft. Sie prangert ebenfalls die Entstehung einer servilen Attitüde in den intellektuellen Kreisen Lateinamerikas gegenüber der Akademie des Nordens an und ruft zur Bewusstwerdung über die Rolle der Intellektuellen in den modernen Dominationsmechanismen auf (vgl. R ivera Cusicanqui, 2010b). 72 »Es geht also nicht um ›Authentizitäten‹, sondern um ethische und politische Entscheidungen, um eine historiografische und epistemische Positionierung, wenn wir entscheiden, welche Kenntnisse angesichts der Hegemonie des Wissens erforderlich sind, welches Schweigen wir aufdecken, welchen Prinzipien wir folgen müssen. […] Wir brauchen Projekte, die die Bedingungen schaffen, um die Gewalt zu stoppen und damit auch die Ausbeutung und die Domination« (Mignolo, [2003] 2011, S. 54, aus dem Span. von MLS). 50

Teil I – Die Konzepte der Intersektionalität und der Spur in der Erinnerungsarbeit

So betrachtet kann bei den Texten von Überlebenden, aber auch bei den literarischen Arbeiten, die jene dokumentarischen Zeugnisse aufnehmen, von Narrationen subalternisierter Subjektivitäten gesprochen werden, die eine weite Rezeption verdienen. Durch sie werden die Erinnerungen nach den geopolitischen Erfahrungen mit der Kolonialität explizit, die Schattenseite der Moderne wird artikuliert und Kritik an dieser geübt, während dadurch auch der Raum für ein anderes Denken eröffnet wird. Subalternität wird hier nicht als Kondition oder gar als Identität, sondern als folgenreiche (diskursive) Performanz derjenigen verstanden, die (sich) subalternisieren; eine Performanz, die Menschen immer und immer wieder in eine asymmetrische Position versetzt, mit teils fatalen Folgen. Subalternität, so gedacht, bildet eine Momentaufnahme von Beziehungen ab, die sich zu einer scheinbaren Naturalisierung zitatartig wiederholen, aber auch unterbrochen werden könnten. Diese symbolische Ordnung der Geschlechter und der Prädikate der Nationen fanden im Kontext der argentinischen Militärdiktatur und der Repression ebenfalls eine Reproduktion in diesem Sinne und werden in Teil III hinterfragt. Dabei wird eine Kritik an den vielfältigen Machtkonstellationen sichtbar, die in Zuschreibungen des Marginalen und Subalternen resultieren. Es geht dabei um eine Reflektion, wie Nelly Richard bereits beim ersten internationalen Kongress zur lateinamerikanischen Frauenliteratur in Chile im August 1987 auf die Agenda setzte, die die Kategorien des Weiblichen und des Lateinamerikanischen innerhalb eines antihegemonialen Denkens zusammenstellt.73 Als Gegenreden zu vorgenommenen Simplifizierungen und als starke Kundgabe für die Komplexität konkreter Erfahrungshorizonte stellen sich die Texte der Erinnerungsarbeit von argentinischen Autorinnen gegen dichotomische Welten. Sie scheinen sich zum Ziel gemacht zu haben, stereotype Darstellungen und die Logik vorgeblicher Binaritäten zu destabilisieren. In Bezug auf die verwobene Macht zeigen diese Erzählungen die Auflehnung gegen die Vorstellungen einer vermeintlichen Subalternität, die sich auf mehreren Ebenen konjugiert. Im Zusammenhang mit den desapariciones forzadas konfrontieren sie uns schlicht mit der Frage, was aus jenen Menschen alles hätte werden können, hätten sie nur leben dürfen.

73 R ichard, 1994, S. 67. 51

Erinnerung und Intersektionalität

2. Die Spur – Transkriptive Bezugnahme und die desapariciones forzadas So entstand diese Notwendigkeit, sich zu erinnern, die versiegelte Gedächtnistruhe zu öffnen, aber ganz behutsam, gefahrlos, und die Erinnerungen kamen langsam, sanft, begleitet von einem erträglichen, sogar befreienden Gefühl, von Weinen, das der Seele Frieden bringt. Aber auch das andere brach hervor: die Leere, die gewaltige Lücke, die Zweifel, die Beklemmung angesichts der Wolken in meiner Erinnerung, der Eindruck, aufzuwachen und zwischen diesen Wolken, im Nebel gehen zu müssen. Die Amnesie, diese durch den Schmerz verursachte Spur, ist eine unbegreifliche Spur, so seltsam wie ein Mal, das wir ganz plötzlich an unserem Körper finden und von dem wir nicht wissen, woher es kommt, wie wir es uns geholt haben.74

Die Arbeit der Erinnerung an die Menschenrechtsverletzungen bedeutete in den Jahren der Postdiktatur eine Suche nach den Spuren einer Vergangenheit, die sich in der Gegenwart immer wieder aufdrängte. Elizabeth Jelin, Forscherin der Erinnerungsdiskurse der argentinischen Diktatur, spricht in Los trabajos de la memoria (2002a), dem Auftakt eines langjährigen kollektiven Forschungsprojekts, vom Vorhandensein von Spuren in den sozialen und individuellen Körpern, die eine Annäherung an die traumatische Erfahrung erschweren und gar verhindern, während sie sie gleichzeitig unerlässlich machen. Die Aufgabe der Erinnerungsarbeit besteht für Jelin darin, die vorhandenen Spuren zu evozieren, sie in einen sinngebenden Rahmen75 zu stellen und sie darin zu erinnern. Doch die extremen Ereignisse der massiven Repression haben viele der vorhandenen Bezugsrahmen destabilisiert und so jeder Sinngebung die Grundlage entzogen. Der Rahmen, von dem Elizabeth Jelin spricht, erwies sich in der relativ kurzen Zeit seit der letzten Diktatur eher als ein Januskopf des Vergessens und Erinnerns. Einen sozialen Bezugsrahmen herzustellen, in dem das Erlebte an Sinn gewinnen konnte, hat sich gerade als größte Herausforderung (nicht nur) der (argentinischen) Postdiktatur herausgestellt. Die Politik des erzwungenen gesellschaftlichen Verschweigens und die sog. Straflosigkeitsgesetze stülpten 74 Fainstein, [2006] 2007, S. 50, aus dem Span. von MLS. 75 Damit sind Maurice Halbwachs’ cadres sociaux de mémoire, die sozialen Bezugsrahmen der Erinnerung, gemeint, die Ausgangspunkt für jede persönliche Erinnerung sind: »Das Individuum erinnert sich, indem es sich auf den Standpunkt der Gruppe stellt, und das Gedächtnis der Gruppe verwirklicht und offenbart sich in den individuellen Gedächtnissen« (Halbwachs, [1925] 1985, S. 23). 52

Teil I – Die Konzepte der Intersektionalität und der Spur in der Erinnerungsarbeit

über Jelins Metapher des Erinnerungsrahmens für die Aufarbeitung der argentinischen Ereignisse ein Vergessen, das Jan Assmann in einem anderen Kontext so beschreibt: Wenn ein Mensch – und eine Gesellschaft − nur das zu erinnern imstande ist, was als Vergangenheit innerhalb des Bezugsrahmens einer jeweiligen Gegenwart rekonstruierbar ist, dann wird genau das vergessen, was in einer solchen Gegenwart keinen Bezugsrahmen mehr hat.76

Diese Betrachtung einer Vergangenheit, die in der Gegenwart nur eingeschränkt rekonstruiert werden kann, kommt in der Reflexion des Kulturwissenschaftlers Alberto Moreiras über die postdiktatorischen Gesellschaften zum Tragen. Er diagnostizierte gerade das Ringen um Sinn unter den Bedingungen erzwungener Normalität nach dem Desaster als symptomatisch für die lateinamerikanischen Postdiktaturen und benutzte zu ihrer Beschreibung das psychoanalytische Vokabular der Trauerarbeit: In den heutigen Postdiktaturen ist der Kulturkampf weniger ein Kampf zwischen entgegengesetzten ideologischen Richtungen als vielmehr ein Kampf um die Herstellung oder Wiederherstellung der Möglichkeit, das etwas überhaupt Sinn hat. Dieser Kampf um Sinnhaftigkeit ist, radikal formuliert, unweigerlich durch mehr oder minder abwegige Introjektionsprozesse bedingt, die in den postdiktatorischen Gesellschaften den politischen Übergang von einem Regime blutiger Unterdrückung zu einer liberalen Demokratie begleiten, oder anders ausgedrückt: von einer Angstkultur hin zu einer Kultur, die am stärksten bestimmt ist vom eigenen Legat des Terrors und von der Notwendigkeit, es zu intro- bzw. extrojizieren.77

Auch der aus Uruguay stammende und in Spanien lebende Soziologe Gabriel Gatti widmet sich den Folgen des erzwungenen Verschwindens im Cono Sur mit der Diagnose eines Ringens um Sinn78, mit der Metapher der Katastrophe der 76 Assmann, J., [1992] 2007, S. 36. 77 Moreiras, 1993, S. 28, aus dem Span. von MLS. 78 Das Ringen um Sinn ist schon programmatisch im Titel seines Buches Identidades desaparecidas. Peleas por el sentido en los mundos de la desaparición forzada (Buenos Aires 2012) angekündigt. Das Buch ist eine korrigierte und erweiterte Auflage des 2008 in Montevideo erschienenen El detenido-desaparecido. Narrativas posibles para una catástrofe de la identidad. 53

Erinnerung und Intersektionalität

Sinngebung79. Als Katastrophe der Identität begriffen zerstörte das erzwungene Verschwinden die im modernen Westen gängige Vorstellung, Identität sei an eine Architektur des Namens, der familiären Genealogie und der Staatsbürgerschaft gebunden. Hier wurde der Eigenname vom Körper getrennt, die persönliche Lebensgeschichte der familiären Genealogie entrissen, das Individuum aus dem Kollektiv des Staates geworfen.80,81 Diese Katastrophe erzeugte allerdings ein soziales Feld, in dem diverse Akteure (medizinisches Fachpersonal, Akademiker, Mitglieder der Menschenrechtsbewegungen und -institutionen) um das Ringen um und die Wiederherstellung von Sinn bemüht sind.82 Dieses Ringen um die Konstruktion und Re-Konstruktion von Sinn in Zeiten persönlich vorhandener, aber gesellschaftlich gesehen zu verdrängender Trauer kann in den unterschiedlichen Lektüren der Spuren der Staatsrepression beobachtet werden. Diese Spuren und ihre Lektüren sind vielschichtig, komplex und wirken in Argentinien im Raum mediatisch-kultureller Artikulation, aber auch unmittelbarer persönlicher Erfahrung bis in die Gegenwart nach. Denn die langwierige Suche nach den Verschleppten-Verschwundenen bedingte und erfordert noch immer Rekonstruktionen von Biographien und Ereignissen anhand von Spuren. Die Körper tausendhaft beseitigt, die Akten der Verhöre noch immer versteckt, die Schauplätze massenhafter Verbrechen geräumt: Bedingt durch die Tatsache, dass die argentinischen Streit- und Sicherheitskräfte Gewalt an Andersdenkenden im illegalen Rahmen ausübten, wurden im Land unzählige Tatorte vertuscht. Zu ihrer Aufspürung und zur Wiederherstellung der Beziehung zwischen unbekannten Überresten und familiärer Zugehörigkeit nahm Clyde Collin Snow 1984 die Arbeit in Argentinien auf und gründete dort den EAAF83, ein Team von Gerichtsanthropologen, die mit den Methoden der forensischen 79 Gatti, 2012, S. 35-38. 80 Ebd., S. 216. 81 Zur Kritik an der auf Agamben basierenden Einschätzung über die Aufhebung der Staatsbürgerrechte im Lager s. Butler /Spivak, 2007, S. 27-32. 82 Gatti, 2012, S. 24f. 83 Seit seiner Gründung wurde der EAAF in 30 Ländern der Erde eingesetzt, wobei sein Einsatz in Argentinien ununterbrochen andauert. Das Team formulierte seine Ziele mit den folgenden Worten: »Nur durch Aufklärung der Vergangenheit und den Versuch des Wiedergutmachens können individuelle und gesellschaftliche Versöhnung erreicht werden. Unser Ziel ist es, zukünftigen Menschenrechtsverletzungen vorzubeugen und den Opfern ihre Würde wiederzugeben« (vgl. den Katalog zur internationalen Wanderausstellung, abrufbar unter: Turner /As54

Teil I – Die Konzepte der Intersektionalität und der Spur in der Erinnerungsarbeit

Anthropologie und Archäologie vorgehen. Ihre Untersuchungen arbeiten oftmals historische Tatsachen in Fällen heraus, die Gegenstand kontroverser Interpretationen sind. Mehrheitlich zwischen 2008 und 2012 konnte der EAAF 515 Desaparecidxs identifizieren, weitere 600 Körper konnten durch seine Arbeit überhaupt erst erfasst werden.84 Die Forensik und die Archäologie haben in der Suche, Sicherung und Deutung von Spuren ihren gemeinsamen Nenner, aber auch die Medizin arbeitet seit jeher, am durchlässigen Grenzbereich zwischen Natur- und Humanwissenschaften angesiedelt, mit dem Indizienparadigma. Der Nutzen der Indizien für die Medizin erschließt sich nicht nur aus der Tatsache, dass zur Ergründung von Krankheiten Symptome gedeutet werden. Auch kleinste Spuren, die fremde und körpereigene Substanzen hinterlassen haben, können durch Labortests Aufschluss über verborgene Wirklichkeiten geben. In der argentinischen Postdiktatur geben genetische Spuren in den Großelternschaftstests der Großmütter der Plaza de Mayo Auskunft über die familiäre Identität der geraubten Kinder der Verschwundenen – eine Spurensuche, die dreißig Jahre später noch tagesaktuell ist. Mit dem Indizienparadigma als Erklärungsmodell geht die Psychotraumatologie ihrer Kernaufgabe nach, Emotionen und Prozesse zu erforschen, die leidvolle Situationen in den Biographien verursacht haben; die Integration der schmerzhaften Erfahrung soll zur Linderung der Schmerzen beitragen, die psychische Wunden nachhaltig hervorrufen. Wunden geben darüber hinaus Auskunft über die Technik, mit der sie »eingraviert« wurden – im Kontext der desapariciones forzadas weisen sie unerbittlich auf die Lücke durch die Abwesenheit junger Menschen hin, aber auch auf die angewandte Technik der Produktion von Wahrheit, die systematische Folter. Nicht nur Orte und Körper weisen die Spuren massenhaft begangenen Unrechts auf, auch Diskurse lassen sich anhand der Begriffe, die sie besetzen, aufspüren. Die Spur der Mündlichkeit, der Gewalt in der Sprache, macht die appellative Kraft vergangener Diskurse in Texten, aber auch materialisiert in Ton- und Bildaufnahmen, rekonstruierbar. Den Geisteswissenschaften, der Medizin und der Psychologie eigen genießt das anhand von Spuren und Indizien erschlossene Wissen jedoch ein geringeres Ansehen als das Denken nach Prinzipien, das auf Platons Erkenntnismodell zurückgeht. Carlo Ginzburg85 weist darauf hin, dass niemand den Beruf lan,

o. D.). Seit 1999 zeigt eine Wanderausstellung einen Teil des fotografischen Registers. 84 Vgl. Ginzberg, 2012, o. S. 85 Für eine kritische Einschätzung der Paradigmen der Wissenschaften s. Ginzburg, [1983] 2011, S. 7-57. 55

Erinnerung und Intersektionalität

des Kenners oder Diagnostikers erlernt, »wenn er sich darauf beschränkt, schon vorformulierte Regeln in der Praxis anzuwenden. Bei diesem Wissenstyp spielen unwägbare Elemente, spielen Imponderabilien eine Rolle: Spürsinn, Augenmaß und Intuition.«86 Obwohl es sich genau genommen als »über-sinnliches« Paradigma auszeichnet, wird das Prinzipienmodell der Naturwissenschaften in den westlichen Gesellschaften paradoxerweise als »höheres Wissen« geachtet, nicht zuletzt weil zu dessen Entzifferung wenige privilegierte Erwählte berufen sind.87 Nach Carlo Ginzburg bietet das Indizienparadigma Zugang zu einem Wissen »ohne geographische, historische, ethnische, geschlechts- oder klassenspezifische Grenzen« an, das tief in den Sinnen – und damit in den Körpern – verwurzelt ist.88 Auch aus diesem Grund sind Spuren und das Spurenlesen unverzichtbare Ausgangspunkte für einen wissenschaftlichen Diskurs, der sich für die Heteroglossie der Erinnerung von subalternisierten Subjektivitäten öffnet.

2.1 Das Doppelleben der Spur als Voraussetzung ihrer Lektüre Da für die Erinnerungsarbeit die Auseinandersetzung mit Spuren zentral ist, soll eine knappe Betrachtung der epistemologischen Kraft der Spur dazu beitragen, einige ihrer Besonderheiten und ihre Wirkung bei den Narrationen über die argentinischen Ereignisse ins Bewusstsein zu rufen. Als Leitfaden werden die Überlegungen von Sybille Krämer über das epistemologische Doppelleben der Spur89 berücksichtigt. Die Philosophin erkennt an der Spur eine Schnittstelle zwischen Immanenz und Transzendenz, die es erlaubt, »[sich] im Sichtbaren auf das Unsichtbare, im Anwesenden auf das Abwesende zu beziehen«90. In der kulturellen Tradition des Abendlandes stehen hierfür zwei Paradigmen, die sich einerseits aus der Semiologie der Spur, aus ihrer Materialität, und andererseits aus ihrer Metaphysik, aus der Leerstelle, der Lücke, der Abwesenheit entfalten. 86 Ginzburg, [1983] 2011, S. 49. 87 Ebd., S. 33. 88 Ebd., S. 48f. Carlo Ginzburgs Überlegungen zum Indizienparadigma werden von Sybille Krämer als Reflexionen über das Spurenlesen als historiographische Methode angesehen, die, an der Schnittstelle zwischen einem historiographischen Positivismus einerseits und einer postmodernen Relativierung jeglicher Wahrheitsansprüche andererseits, die Beweisfähigkeit der historischen Konstruktion darlegt (K rämer, 2007b, S. 173). 89 K rämer, 2007b, S. 155. 90 Ebd., S. 166. 56

Teil I – Die Konzepte der Intersektionalität und der Spur in der Erinnerungsarbeit

Die deutsche Vokabel »Spur« geht auf das althochdeutsche spor zurück und bedeutete ursprünglich »Tritt, Fußabdruck«. Auf Latein sprach man von vestigium, das außer Fußabdruck sowohl Rest − im Sinne von Zurückgelassenem − und Erinnerungen bezeichnete als auch das Indiz einer Tatsache, die daraus entschlüsselt werden könnte. Diese letzte Bedeutung findet sich im spanischen Verb investigar wieder, auf Deutsch »erforschen«, also im Grunde »einer Spur nachgehen«. Das lateinische vestigium findet sich in der spanischen Entsprechung vestigio wieder. Das dazu quasi synonyme Wort traza geht auf das lateinische Partizip Perfekt tractus (zu trahere, ziehen, schleppen) zurück, das ursprünglich die Zeit zwischen zwei Ereignissen oder die Strecke zwischen zwei Orten bezeichnete. Diese letzte Bedeutung macht die Zeit-Raum-Dimension der Spur deutlich und damit den Zeitenbruch bzw. die physische Verschiebung, die die Spurensuche oftmals in Gang setzt. Auch ungeachtet ihrer Etymologie verhält sich die Spur auf den ersten Blick wie ein Zeichen, das es zu interpretieren gilt. Sybille Krämer macht auf die Verflechtungen aufmerksam, die diese Tatsache mit sich bringt, da wir uns Welt und Wirklichkeit nur durch Zeichen und Interpretationen zugänglich machen.91 Wissenschaftshistorisch ist diese Einsicht eine Errungenschaft der Moderne, die auf die Arbeiten von Ferdinand de Saussure und Ernst Cassirer zurückgeht. Saussure erklärte an der Wende zum 20. Jahrhundert, dass der Wert eines Zeichens allein in seiner Beziehung zu anderen Zeichen verwurzelt ist, während Cassirer – unter dem Einfluss von Aby Warburg, dem ersten modernen Denker des Archivs der Memoria – in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts ergänzend postulierte, dass wir die Wirklichkeit als Varietät symbolischer Formen zu begreifen haben.92 Gegenstände unserer Wahrnehmung, Kommunikation und Erkenntnis werden dadurch zu Interpretationskonstrukten. Wahrgenommen, kommuniziert und gedacht wird das, was wir symbolisch artikulieren können. Wenn die Spur also als interpretationsbedürftiges Zeichen verstanden wird, kann dann der Erkenntniswert des Spurenlesens fixiert werden? Diese Frage verschiebt das Interesse auf die Beteiligung des Spurenlesenden am Zeichenprozess und macht deutlich, dass es für eine Spur immer zahlreiche Lesarten gibt und an ihr keine »wahre« Bedeutung festzumachen ist. Der Aspekt der Interpretationsbedürftigkeit der Spur beschäftigte im 20. Jahrhundert die europäische Philosophie und so wurde die Spur von Martin Heidegger, Emmanuel Lévinas und Jacques Derrida als Ort der Differenz und Andersheit gedacht. In diesem Zusammenhang ist Lévinas’ begriffliche Unterscheidung zwischen 91 K rämer, 2007a, S. 12. 92 Ebd. 57

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Spur und Zeichen entscheidend: Das »Zeichen« erfüllt die Aufgabe, auf Vorhandenes, das gegenwärtig abwesend ist, hinzudeuten, und offenbart damit dessen Abwesenheit; die »Spur« dagegen bezeichnet etwas, das in der realen Welt nicht mehr vorhanden ist, sie ist ein Überbleibsel aus der Vergangenheit.93 Spuren können u.a. belegen, dass es in der Vergangenheit ein bestimmtes Individuum tatsächlich gegeben hat, hier und jetzt geben sie jedoch lediglich über seine Abwesenheit Auskunft. Lévinas formulierte eine Theorie der Spur, die den Spurenlesenden einschließt, und erweiterte Heideggers Deutung der Spur, indem er ihr eine ethische Dimension hinzufügte. In seinen Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung hatte Heidegger die Spur als Wegspur zu Gott im Medium der dichterischen Sprache gesehen, in der trotz der Spuren das Göttliche entzogen bleibt. Der Entzug des Göttlichen wird von Lévinas als eine Art Heimsuchung94 gedeutet, als ein dritter Raum zwischen den Menschen, der eine Grunderfahrung ihrer Begegnung ausmacht95; Krämer verwendet dafür das Konzept der Exteriorität96. Für Lévinas zeigt sich die Spur Gottes im Antlitz des Anderen und entzieht sich jeglichem interpretativen Zugriff. In ihr ist jedoch eine Ethik des Respekts als Imperativ für unser Handeln begründet. Darauf basierend vergegenwärtigt sich für den säkularen Denker Jacques Derrida in der Spur nicht Abwesendes, sondern in ihr erscheint Abwesendes in seiner konstitutiven Entzogenheit. Nach Derrida verweist die Spur auf das semiologische Grundprinzip der »différance«: »Der ökonomische Begriff der ›différance‹ bezeichnet die Produktion des Differierens im doppelten Sinn des Wortes (différer – aufschieben/[voneinander] verschieden sein).«97 Die Verunsicherungen und Verschiebungen im Zeichenprozess − das Zögern des Denkens, die Bewegungen der Dekonstruktion − sind nicht Ausdruck einer Inkohärenz, sondern »bewohnen« die Strukturen in einer bestimmten Weise. Die Prozesse der Wahrnehmung, Kommunikation und Erkenntnis werden unterwandert, der Entstehung von Gewissheiten wird die Grundlage entzogen.98 »Die Dekonstruktion hat notwendigerweise von innen her zu operieren, sich aller subversiven, strategischen und ökonomischen Mittel der alten Struktur zu bedienen.«99 Diese Tradition des Spurendenkens wird von Sybille Krämer 93 Lévinas, 1998, S. 230. 94 Ebd., S. 223. 95 Ebd., S. 235. 96 K rämer, 2007b, S. 179. 97 Ebd., S. 44. 98 Derrida, [1967] 1983, S. 35-48. 99 Ebd., S. 45. 58

Teil I – Die Konzepte der Intersektionalität und der Spur in der Erinnerungsarbeit

als »Entzugsparadigma« bezeichnet; darin bleibt die Spur die Chiffre für die Unmöglichkeit von sicherem Wissen und definitiver Erkenntnis, »sie gilt als Inkarnation dessen, was für uns unerreichbar ist und bleibt«.100 Vom epistemologischen Doppelleben der Spur ist bei Krämer deshalb die Rede, weil in ihr einerseits der semiologisch-repräsentationale Diskurs und andererseits die Dinghaftigkeit, die Körperlichkeit und Materialität der Welt zu verorten sind.101 Die Philosophin fasst zusammen: Spuren sind der Ort, an dem stumme Dinge durch unseren Spürsinn zum Reden gebracht werden. Spürsinn bedeutet: Nur insoweit als wir Eigenleben und Eigengesetz des materiellen Zusammenhangs der Welt kennen, anerkennen und berücksichtigen, können wir wahrnehmbare Bruchstücke dieser Welt in Interpretationskonstrukte verwandeln, die Zeugnis von dem ablegen, was uns unsichtbar und entzogen bleibt.102

2.2 Die Spur der Erinnerung an die desapariciones forzadas: Abwesenheit, Trauma, Wahrheit Wenn die Attribute, die der Spur zugerechnet werden, mit in Augenschein genommen werden, wird der Zusammenhang deutlicher, der zwischen den argentinischen Ereignissen und dem sich verändernden Blick der Erinnerung auf sie besteht. Aus diesem Grund und in der Absicht, mehr Licht auf diesen Zusammenhang zu werfen, werden in diesem Abschnitt ausgehend von den Attributen der Spur Aspekte der argentinischen Erinnerungsarbeit als Einführung in das Thema dargestellt. Sybille Krämer benennt als Attribute der Spur die paradox anmutende Gleichzeitigkeit der Abwesenheit dessen, das sie hinterlassen hat, und der Materialität dessen, was sie hinterlässt. Spuren sind auf ein Medium angewiesen, sie zeichnen einen Zeitenbruch auf und stellen die Störung eines Kontinuums dar. Spuren dienen der Orientierung, weisen allerdings nicht wie Indexe auf etwas hin. Zum Wesen der Spur gehört aus diesem Grund, dass sie viele mögliche Bedeutungen hat, die interpretiert und erzählt werden (Krämer fasst diese Attribute als »Interpretativität, Narrativität und Polysemie« der Spur zusammen). Spuren sind durch Passivität gekennzeichnet: Sie können sich weder selbst hinterlegen (sie sind heteronom), noch können sie Deutungshypothesen über ihr Selbst wi100 K rämer, 2007b, S. 157. 101 Ebd., S. 155. 102 K rämer, 2007a, S. 18. 59

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derlegen (was Sybille Krämer als Unumkehrbarkeit – fehlende Reziprozität – der Spur bezeichnet). Krämer stellt heraus, dass Spuren, anders als Zeichen, unmotiviert hinterlassen werden und dass sie als solche nur dann erkannt werden, wenn sie vom geschulten Auge eines Beobachters und von der tatsächlichen Handlung des Beobachtens erfasst werden.103 a. Das Attribut der Abwesenheit und die Krise des Todes ohne Leichnam Es erscheint im ersten Moment paradox, dass Krämer als wichtigste Eigenschaft der Spur die Abwesenheit nennt. Letztlich ist es logisch, denn in der Spur vergegenwärtigt sich die Nicht-Präsenz – die Spur ist erst dann sichtbar, wenn das verursachende Objekt an exakt diesem Ort nicht mehr präsent ist, und erst durch die Sichtbarkeit wird sie als Spur wahrnehmbar. Hier offenbart sich ein evidenter Zusammenhang mit den desapariciones forzadas. Es sind die durch Abwesenheit und Verlust verursachte Leere und die gleichzeitige überwältigende Fülle negativer Emotionen, die schwer Ausdruck und kein Gehör finden, die die Postdiktatur in Argentinien, aber auch in Uruguay und Chile charakterisierten, wie die Beobachtungen der chilenischen Schriftstellerin Nelly Richard treffend belegen: Die Erfahrung der Postdiktatur bindet die individuelle und die kollektive Erinnerung an die Figuren der Abwesenheit, des Verlusts, des Entzugs und des Verschwindens. Figuren, die allesamt von den Schatten der schwebenden, unvollständigen, spannungsgeladenen Trauer umringt sind, die Subjekt und Objekt gleichermaßen in einem Zustand des Kummers und der Ungewissheit lassen, in dem sie unablässig umherirren angesichts der Unauffindbarkeit des Körpers und der Wahrheit, die beide fehlen und nottun.104

Die systematische Anwendung der Praxis des Verschwindenlassens, der Verschleppung von Menschen und der möglichst spurenlosen Beseitigung ihrer Körper, wird in ihrer Massivität als Spezifikum der argentinischen Repression wahrgenommen, wie Isidoro Chereskys Worte aus dem Jahr 1998 beispielhaft zeigen: Das Verschwindenlassen von Personen bildet den Kern des 1976 errichteten Militärregimes, in ihm kondensiert sich das Umgestaltungsideal des Pro103 Ebd., S. 14-18. 104 R ichard, 2007, S. 138. 60

Teil I – Die Konzepte der Intersektionalität und der Spur in der Erinnerungsarbeit zesses der Nationalen Reorganisation. Und es ist genau dieser eine Zeit lang verdeckte Aspekt, der das argentinische Regime von anderen Diktaturen unterschied und die Erforschung seiner besonderen Natur rechtfertigt.105

Nach Cheresky und Raffin setzte die Praxis des Verschwindenlassens eine Vorstellung zur Transformation des politischen Feldes in die Tat um, die von beiden Autoren als Singularität ausgemacht wird. Der Equipo Nizkor listet in seinem »Proyecto desaparecidos«106 verschwundene Personen in Algerien, Bolivien, Brasilien, Kolumbien, Chile, El Salvador, Spanien, Guatemala, Indonesien, Mexiko, Panama, Peru, Uruguay, West Sahara, Sri Lanka, Thailand und der Türkei auf. In Argentinien fand die massive Praxis des Verschwindenlassens im Rahmen einer lateinamerikaweiten Aktion, der Operation Condor107, statt, die eine Kooperation zwischen den regionalen Diktaturen voraussetzte. Das Entfernen von Individuen aus dem gesellschaftlichen Geflecht und ihr Verbringen an Orte, die geheim und von jeglicher institutionellen Norm ausgenommen waren, ohne das Wissen der Angehörigen über ihr Leben oder ihren Tod, rüttelte an den Grundfesten des sozialen Zusammenlebens. Der unbestimmte Aufenthalt im Folterzentrum endete meist mit der Beseitigung der Körper der Verfolgten. Die desapariciones forzadas scheinen ihren Ursprung in der französischen spätkolonialen »guerre psychologique« in Indochina und Algerien zu haben.108 Die Praxis selbst wird heute in der Jurisprudenz als Form der Folter verstan105 Zit. in R affin, 2006, S. 152, aus dem Span. von MLS. 106 Siehe ›www.desaparecidos.org/main.html‹, 06.08.2015. 107 Die koordinierten Aktionen diktatorischer Regime Südamerikas wie Chile, Brasilien, Paraguay, Uruguay, Bolivien und Argentinien, sowie punktuell Peru, Kolumbien, Venezuela und Ecuador, und der CIA in den 70er und 80er Jahren zur Verfolgung und Ermordung der linken Opposition werden Operation Condor genannt. Siehe u. v.a. Calloni, Stella, Los Archivos del Horror del Operativo Cóndor, 1994, in: ›www.derechos.org/nizkor/doc/condor/calloni.html‹, 07.08.2015; Gaudichaud, Franck, La sombra del Cóndor. Contra-Revolución y Terrorismo de estado internacional en el Cono Sur, 2008, in: ›www.archivochile.com/ Ideas_Autores/gaudif/gaudif0004.pdf‹, 07.08.2015. Die internationale, außergerichtliche und illegale Zusammenarbeit der regionalen Staatsterrorismen steht seit dem 05.03.2013 im Mittelpunkt eines strafrechtlichen Prozesses (›http://espanol. upi.com/Politica/2013/03/02/Comienza-en-Argentina-juicio-por-crímenes-de-laOperación-Cóndor/UPI-46101362263429/‹, 07.08.2015). 108 Für die französische Beteiligung siehe den Artikel des Historikers Pierre Abromovici vom Juni 2001 für die Zeitung Le Point: ›www.lepoint.fr/actualites61

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den109 und gilt durch die Verschiebung des politischen Todes vom öffentlichen Raum in den für die (Mehrheit der) Bevölkerung unsichtbaren Raum des Lagers als Wendepunkt in der Geschichte der politischen Gewalt in Argentinien.110 Bezeichnend im Fall Argentiniens sind die diffusen Grenzen zwischen legaler und illegaler Repression (vgl. u.a. Garaños Studie [2008] über die Todestrakte des La-Plata-Gefängnisses oder das literarische testimonio [2006] von María C. Sillato). Das Verschwindenlassen bewirkte eine ungeheure Verunsicherung in der Bevölkerung und diente den Militärs als Taktik, die Bildung von Heldenmythen auf der Seite von Mitgliedern der revolutionären Bewegungen zu verhindern. Der Tod des Kriegers für eine ehrenwerte Causa, die Narration seiner außerordentlichen Taten sowie ihre nachträgliche Erhöhung zur Heldentat oder gar zum Märtyrertum spannen einen Bogen des Totenkults, der in Argentinien eine reiche Ikonographie kollektiver Bilder aufruft. Die revolutionären Ideale der 60er und 70er Jahre nährten sich von überhöhten Bildern von Helden und Märtyrern, die teilweise an die kulturell-religiösen Loci des Christentums, an das Epos der Gründung der Nation und an die Kämpfe der Arbeiterbewegung und des Peronismus anknüpften (vgl. Kap. »Die Produktion identitärer Figuren: ›genocidas‹, unschuldige Opfer und heroische Märtyrer« in Teil III). Die desaparición forzada, die in ihrer Kontinuität einen Einschnitt bedeutete, schuf eine Krise des Todes ohne Leichnam und ohne Nachricht an die Angehörigen, eine Situation, die ansonsten vor allem von Naturkatastrophen111 her bekannt ist. Nur dass die Massivität des Todes hier politisch und somit gesellschaftlich verursacht war. Diese fehlende Gewissheit sorgte bei den Angehörigen für einen kontinuierlichen ambivalenten Zustand zwischen Warten auf die imminente Nachricht des Ablebens und Aufrechterhalten der Illusion der Rückkehr. Diese Situation traumatisierte die involvierten Generationen nachhaltig, wie die Psychologinnen der Mütter der Plaza de Mayo, Diana Kordon und Lucila Edelman, in ihrer Arbeit Por-venires de la memoria (2007) durch zahlreiche Fallschilderungen aus ihrer 30-jährigen Berufspraxis in der Begleitung von Angehörigen belegen und reflektieren. Jan Assmann macht darauf aufmerksam, dass Toten- und Trauerriten »die Differenz markieren, der Zäsur einen Ausdruck geben und die Verarbeitung der politique/2007-01-19/argentine-l-autre-sale-guerre-d-aussaresses/917/0/55193‹, 06.08.2015. 109 Salinas, 2010, S. 241-244. 110 Crenzel, 2008, S. 35. 111 Nichts naheliegender als von einer »Katastrophe der Identität« zu sprechen, wie Gabriel Gatti es tut (Gatti, 2012). 62

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eingetretenen Veränderung […] kulturell formen«.112 Er nennt diese Riten anthropologische »Urszenen«113, die nicht nur deswegen wachgerufen werden, weil sie der Erinnerung dienen, sondern weil in ihnen diese Erinnerung in Sprache, Bildern und Gesten eine symbolische Objektivierung findet und den in die Krise geratenen Welten angesichts des Verlustes durch den Tod Gestalt verleihen. Diese symbolische Artikulation des Verlustes hat eine zivilisierende und humanisierende Kraft, die Distanz schafft, nicht nur »für die Wahrnehmung der Außenwelt und die Überflutung des Objekts mit Sinnesreizen, sondern auch für die psychische Innenwelt und die Überwältigung durch Affekte wie Trauer, Angst, Schrecken und Verzweiflung«.114 Mit ihnen taucht über viele Kulturen hinweg eine Konstante auf: Sowohl die Trauergemeinschaft als auch der tote Körper durchlaufen einen Prozess der Transformation, bei dem der Leichnam einer Behandlung unterzogen wird und die Hinterbliebenen sich vom geliebten Menschen (ab)lösen, ihn »sterben lassen«. Die Beziehung zwischen Lebenden und Toten ist, abgesehen von herausragenden, in das kulturelle Gedächtnis eingegangenen Erinnerungsfiguren, kein Dauerzustand, sondern ein Prozess, der in verschiedenen Stadien abläuft: Stadien der Trauer auf Seiten der Lebenden, Stadien der Statusumwandlung auf Seiten der Toten.115 Viele Kulturen berücksichtigen für das Ablösen vom Verstorbenen eine Zeit der Trauer, die oftmals nach einem Jahr endet und ethnologisch als zweite Bestattung bezeichnet wird. Das Ende dieser zweiten Bestattung wird im jüdischen Glauben, teilweise auch im Christentum, durch die Aufstellung des Grabsteins repräsentiert. In Ermangelung der Leiche, durch die fehlende Materialität des Todes erlischt die Notwendigkeit der Objektivierung durch das Trauerritual und sein Angebot zur symbolischen Artikulation des Verlustes nicht. Im Gegenteil. »Das Trauerritual ist Ausdruck der Ratlosigkeit, die der Tod erzeugt«, konkludiert Axel Michaels in seinem Aufsatz über Trauer und Trauerrituale. Aber paradoxerweise gerade weil »die Trauer im modernen Westen einsam, innen, psychisch, privat und ohne Form ist«116, konnten die massenhaft durch die Staatsrepression getöteten Individuen nicht in die private Trauer entlassen werden: Die Zermürbung der Ideale und Strukturen der Gemeinschaft, auf die die Verfolgung gezielt hatte, brachte durch die Massivität der Disziplinierungs- und Vernichtungspraktiken bemerkenswerterweise verzögerte gemeinschaftliche Rituale der Trauer mit sich. Judith Filc beschäftigt 112 Assmann, J., [2005] 2007, S. 17. 113 Ebd., S. 22. 114 Ebd. 115 Ebd., S. 30. 116 Michaels, 2007, S. 13. 63

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sich in ihrer 1997 erschienenen Studie Entre el parentesco y la política über die familiären Beziehungen in Argentinien während der Staatsrepression mit der Tatsache, dass Angehörige der Desaparecidxs regelrecht wie Bettler, allerdings um Informationen, aus ihrem privaten häuslichen Bereich getrieben und auf die Straße »geworfen« wurden: Der Staatsterror öffnete den häuslichen Bereich hin zum öffentlichen Bereich, er unterminierte die liberale Vorstellung von einem schützenden Zuhause. Gleichzeitig führten die auf der Einteilung innerhalb/außerhalb fußenden Dichotomien zu Ausschlüssen nicht nur aus dem eigenen Haus, sondern auch aus Bereichen der Gruppenzugehörigkeit. »Auf die Straße geworfen« bedeutete also, einen eigenen Ort zu verlieren.117

Dieser Verlust der Selbstverständlichkeit eines privaten Bereiches führte dazu, dass an eine Tradition der Präsenz im öffentlichen Raum angeknüpft wurde, die in der Hauptstadt insbesondere auf dem Platz vor dem Präsidentenpalast, der Plaza de Mayo, ausgelebt wird. Über den Erinnerungsort der Mairevolution und der Gründung der argentinischen Nation wird heute noch in den Schulen die Geschichte erzählt, dort habe sich 1810 das Volk der Stadt Buenos Aires unter dem Motto »¡El pueblo quiere saber de qué se trata!« [Das Volk will wissen, was hier vorgeht!] getroffen und an dieser Zusammenkunft hätte sich die Unabhängigkeit entzündet. Die Beziehung zwischen Regierenden und Bevölkerung wird seitdem an diesem Ort in Szene gesetzt und »die Plaza de Mayo ist ein Symbol-Raum für diese Beziehung«118. Silvia Sigal unterstreicht, dass der Auftritt der Mütter auf der Plaza de Mayo das Vorzeichen dieser Beziehung umkehrte: Stand sie bis dahin im Zeichen der Popularität, so re-semantisierte die Gegenwart der Mütter diese Beziehung zu einem Widerstand gegen die Politik der Regierenden119, ein Widerstand, der während der Regierung Menem in der großangelegten Abriegelung der Plaza zum Ausdruck kam und im Argentinazo, der gewaltigen Revolte und Repression vom 20./21. Dezember 2001 am Ende der Regierung de la Rúa, explodierte.120 Als soziale Ereignisse setzten die gemeinschaftlichen Trauerrituale im öffentlichen Raum – und insbesondere auf der Plaza de Mayo − nicht unmittelbar ein, sie breiteten sich aber aufgrund des massiven Charakters des Verschwin117 Filc, 1997, S. 94, aus dem Span. von MLS. 118 Jelin, 1986, S. 29. 119 Sigal, 2006, S. 325-333. 120 Ebd., S. 344. 64

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denlassens über den Kreis der Angehörigen und somit unmittelbar Hinterbliebenen hinaus aus. Des Massenmords wird im postdiktatorischen Argentinien in öffentlichen Trauerritualen (Kundgebungen, Trauerzüge, Mahnwachen, Erinnerungstage) gedacht, die seit ihren Anfängen unterschiedliche Gestalt annahmen, mehrfach Umdeutungen unterzogen wurden und, ähnlich wie die Trauerrituale für die Holocaustopfer, die Toten – im Widerspruch zur allgemeinen gesellschaftlichen Behandlung des Todes – lange nicht »losließen«. Der Journalist und Schriftsteller Martín Caparrós fasste 1998 in einem Interview die anhaltende Dringlichkeit gesellschaftlicher Auseinandersetzung mit den Spuren der Vergangenheit zusammen: Hinausgehen und nach unseren Toten fragen, das ist auch im heutigen Argentinien die Hauptform der Mobilisierung. Für mich ist es die letzte Niederlage, die die Militärs uns bereitet haben: dass wir immer noch, 15 oder 20 Jahre danach, auf die Straße gehen und nach unseren Toten fragen, wenn es den Lebenden richtig beschissen geht.121

Die Unmöglichkeit, mit dem Trauern zu beginnen und die Lücke des Verlustes in die persönliche Biographie zu integrieren, wurde in Argentinien durch die fast 20 Jahre lang währende Politik des Verschweigens und Vergessens verschärft. Nach einer ersten Untersuchung der Verbrechen und der Verurteilung einiger verantwortlicher Junta-Oberhäupter unmittelbar nach dem Ende der Diktatur begann mit den erlassenen Gesetzen zum Schlussstrich (1986) und zum gebührenden Gehorsam (1987) eine Phase sozialen Schweigens. 1994 wurde ihr mit den »Juicios por la Verdad«122 [Verfahren für die Wahrheit] begegnet, doch erst 2005 hat der Oberste Gerichtshof Argentiniens das Schlussstrichgesetz und das Gesetz über die Gehorsamspflicht aufgehoben sowie die Amnestieerlasse Menems (1989/1990) außer Kraft gesetzt und damit das soziale Schweigen offiziell beendet. Die Phase des Schweigens kann als staatlich verordnete und gesellschaftlich anerkannte Praxis der damnatio memoriae bzw. abolitio nominis der Verschwundenen bezeichnet werden. Sie setzte die Verfluchung bzw. Tilgung des Gedenkens an die Verstorbenen um und gab der Trauer den Charakter eines zweistufigen Prozesses, der das Sterben des Körpers und das Vergessen des Namens umfasste, wodurch nach dem individuellen Tod der gesellschaftliche zweite Tod hervorgerufen wurde. Kundgebungen von Menschenrechtsbewegungen, allen voran der Mütter und der Großmütter der Plaza de Mayo, richteten 121 Zit. in Pérez, 1998, o. S., aus dem Span. von MLS. 122 Untersuchungsverfahren ohne strafrechtliche Konsequenzen. 65

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sich gegen diesen gesellschaftlichen zweiten Tod und widersetzten sich der offiziellen Politik des Vergessens mit öffentlichen Trauerritualen. So konstituierte sich die Trauer nach dem Massenmord in Argentinien signifikant anders als in Deutschland. Der deutsche Historiker Franz Maciejewski beschreibt die Zerrissenheit der deutschen Volkstrauer nach 1945: Vor dem Hintergrund der massiven Verbrechen der Nazizeit war es den Deutschen nicht gestattet, ihre zahllosen in Bombardements und in kriegerischen Auseinandersetzungen gestorbenen zivilen und uniformierten Toten öffentlich zu betrauern. Die Riten, die die Alliierten der deutschen Bevölkerung zur Konfrontation mit der Shoah und den Verbrechen der Nazizeit auferlegten, wurden wiederum ohne Emotionen, ohne Trauer, ausgestanden.123 Nicht nur die den Deutschen attestierte Unfähigkeit zu trauern als Ergebnis langjähriger preußischer Disziplinierung, so die These des bekannten Buches von Alexander und Margarete Mitscherlich aus dem Jahr 1967, die auf die Folgen des fehlenden Abschieds von der führenden Persönlichkeit Adolf Hitlers für die Ambiente des Nachkriegs hinwies, wirkte hier mit. In diesen seltsamen Riten ohne Trauer lässt sich erkennen, wie sehr sich die Absonderung der deutschen Juden auf individueller und kollektiver Ebene ausgewirkt hatte. In der Nachkriegszeit hatte nicht nur die Anerkennung des erlittenen Leids der Zivilbevölkerung Deutschlands keinen Platz, sondern es mangelte auch an einer personalisierten Erinnerung an die getöteten Deutschen jüdischer Herkunft. Erst durch das Wirken der 68er-Generation wurde das Schweigen über die Vergangenheit in der deutschen Gesellschaft bis auf die familiäre Ebene herunter gebrochen, staatliche Gedenktage wurden eingeführt und der Massenmord an den europäischen Juden wurde allmählich als Mord am jüdischen Nachbarn von nebenan begriffen, als näherer Verlust.124 Für die jüdischen Gemeinschaften außerhalb Deutschlands lässt sich behaupten, dass die Shoah das Bewusstsein der Zugehörigkeit zur jüdischen Gemeinschaft stärkte; 123 Maciejewski, 2007, S. 245. 124 Der Antisemitismus wirft heute in Deutschland einen düsteren Schatten auf die Einwanderungsgesellschaft: »Er ist da, obwohl es kaum Juden gibt, obwohl die Gesellschaften so aufgeklärt sind wie nie, trotz aller Politikerreden und Bildungsprogramme« (Drobinski, 2012, o. S.). Im Sommer 2014, als der Konflikt IsraelPalästina einmal mehr militärisch eskalierte, vermischte sich die Israelkritik auf Deutschlands Straßen zunehmend mit einem deutlich antisemitischen Gedankengut und gefährdete nicht nur das Leben von Menschen jüdischer Herkunft, sondern auch das demokratische Selbstverständnis des Landes; siehe u.a. den Lagebericht der Amadeu Antonio Stiftung für das Jahr 2015 in:‘www.amadeu-antonio-stiftung.de/w/files/pdfs/aas-lagebild-antisemitismus-2015.pdf‹, 10.07.2015. 66

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doch auch hier fand ein Schweigen statt, oftmals in Form der (Nicht-)Erzählung der Verfolgung und des erlebten Leides, das sich als sogenanntes transgenerationelles Trauma niederschlug. Das Gedenken an die Opfer des Holocausts ist in Zufluchtsländern wie Argentinien stärker auf die familiäre Erinnerung angewiesen und hat einen biographischen Charakter125; aus diesem Grund gestaltete es sich vielleicht anders als in Ländern mit einer ausgeprägten institutionalisierten Ausgestaltung des Gedächtnisses. Diese Tatsache ist von signifikanter Bedeutung für die Bezugnahme auf die Shoah bei der Deutung der Verbrechen der argentinischen Repression sowie für die intensive Intertextualität der Narrationen über die argentinische Verfolgung mit der Holocaustliteratur. Vorhandene familiäre Erinnerungen scheinen im argentinischen Kontext einen stärkeren Einfluss zu haben als die Gültigkeit eines durch die anzunehmende Wandlung der nationalen Erinnerungsformen in der Zweiten Moderne und im kulturellen Horizont des Globalen entstandenen kosmopolisierten Gedächtnisses.126 So erkannten bzw. vermuteten viele in der verbissenen Verfolgung jüdisch-stämmiger subversivxs und im Aufflammen antisemitischer Ausprägungen bei den Streit- und

125 Aleida Assmann bespricht in Geschichte im Gedächtnis (2007), insbesondere S.  70-95, für den deutschen Kontext der Nachkriege und der Aufarbeitung der Nazivergangenheit die Möglichkeit des Zugangs zur Weltgeschichte über das familiäre Gedächtnis. 126 Damit ist das von Ulrich Beck in seinem 1986 erschienenen Buch Risikogesellschaft. Auf dem Weg zu einer anderen Gesellschaft vorgestellte Konzept gemeint, in dem der Soziologe seit Mitte/letztem Drittel des vergangenen Jahrhunderts eine Entgrenzung der Gesellschaften u.a. auf der Ebene des Nationalstaates, der Arbeitsbedingungen, des Familienlebens und der Geschlechterrollen diagnostiziert. Daniel Levy und Natan Sznaider nehmen dieses Konzept in ihrem 2001 erschienenen Werk Erinnerung im globalen Zeitalter: Der Holocaust auf. Sie reflektieren darin die Eigenschaften kollektiver Erinnerung in der Zweiten Moderne und machen auf das komplexe Verhältnis von Globalem und Lokalem in einer Zeit aufmerksam, in der das Globale ein kultureller Horizont ist. Kollektive Erinnerungen sind nicht mehr an territoriale Grenzen gebunden und lassen ein kosmopolisiertes Gedächtnis entstehen, das ‒ anders als beim nationalen Gedächtnis, das dazu beiträgt, eine Gemeinschaft innerhalb eines Territoriums zu bilden und zu affirmieren ‒ zunehmend entortet ist (Levy/Sznaider, [2001] 2007, S. 23). Nach Levy/Sznaider wird das kosmopolitisierte Gedächtnis durch eine neue humanistische Erinnerung konstruiert, die am Holocaust und seinen Opfern einen Maßstab eines globalen Moralbewusstseins hat. 67

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Sicherheitskräften und ihren zivilen Unterstützerkreisen eine Kontinuität oder einen Parallelismus in der Art und Weise der Verbrechen. Anders als in Deutschland wurde in Argentinien die Trauer um die im Massenmord Getöteten nicht von außen auferlegt, sondern sie eroberte sich zunehmend einen Platz im öffentlichen Raum und gewann an gesellschaftlicher Legitimation. Die Trauer, die der Suche nach den Detenidxs-Desaparecidxs folgte, wurde von den Angehörigen durch ihre Präsenz auf der Plaza de Mayo aus dem Privaten ins Öffentliche getragen. In den Trauerritualen für die VerschlepptenVerschwundenen artikulierte sich eine Gegenbewegung zur Politik des Vergessens. Der Wendepunkt zum Konsens über die Notwendigkeit einer Aufklärung dieser Fälle erwuchs aus einem Zusammenwirken der Generationen. Eine institutionelle Formung der Forderungen folgte mit der Einrichtung von Sekretariaten für Menschenrechte auf nationaler und provinzialer Ebene und Institutionen wie dem CFDH (Consejo Federal de Derechos Humanos), der CONADI (Comisión Nacional por el Derecho a la Identidad), dem Programa Nacional de Lucha Contra la Impunidad (ProNaLCI), dem Inadi (Instituto Nacional contra la Discriminación, la Xenofobia y el Racismo) und dem Archivo nacional de la memoria, die sich der Erinnerung nachhaltig annehmen. Die argentinische Justiz ließ unterdessen lang auf sich warten. b. Die Beobachter-/Handlungsabhängigkeit der Spur und das Trauma des erzwungenen Verschwindens Von Spuren kann nur dann die Rede sein, wenn sie erkannt und gelesen werden, d.h. Spuren sind beobachter- oder handlungsabhängig. Wie die Spuren der Repression gelesen und als solche verwertet werden konnten, veränderte sich im Argentinien der letzten 30 Jahre mit der politischen Großwetterlage. So wurde die Verwendung der Spuren als Beweismittel vor Gericht eine verhandelbare Kategorie, die vom jeweiligen politischen Diskurs abhängig war. Die gleich nach dem Ende der Diktatur von der CONADEP und während der Verfahren gegen die Militärjuntas erbrachten Beweise wurden mit der Generalamnestie von Präsident Menem hinfällig. Zwischen 1987 und 2005, während der Lähmung der Aufklärungsarbeit durch die Justiz, unterwanderten Aktionen wie die »Juicios por la Verdad« des Gerichts von La Plata das angeordnete gesellschaftliche Verschweigen; es wurden Informationen, Hinweise und Dokumente gesammelt, die ab 2005 zu mittlerweile über 2.200 Strafprozessen allein im Bezirk La Plata geführt haben.127

127 Centro de Información Judicial, 2014, o. S. 68

Teil I – Die Konzepte der Intersektionalität und der Spur in der Erinnerungsarbeit

Aber auch die Anerkennung der Spuren in den Biographien und den Körpern der Menschen hängt vom Beobachter ab. Die Spur der Gewalt in der Psyche des Individuums bedarf eines geschulten Auges, um als solche erkannt zu werden. Gleichsam die ganze Disziplin der Psychoanalyse begann als Theorie des Traumas – als Erklärungsmodell für die Hysterie128, die als die Folge innerfamiliärer Traumatisierung gedeutet wurde129, wobei Freud in Das Unbehagen in der Kultur (1930) eine kulturkritische Hypothese für die Sexualität und die Lebenssituation der Frauen formulieren sollte. Die an dissoziativen Störungen leidenden Rückkehrer aus dem Ersten Weltkrieg, die »Kriegszitterer«, gaben Freud Stoff, um über das Trauma des Krieges nachzudenken. Das Trauma als kulturelles Deutungsmuster war vom Zeitpunkt seiner Entstehung an von großer gesellschaftlicher Brisanz, denn es entstammt der gemeinsamen Erfahrung von Krieg, Vertreibung, Hunger und wirtschaftlicher Depression, wie aus historiographischer Perspektive immer wieder betont wird.130 Das Traumakonzept, wie es heute verstanden wird und Anwendung findet, hat sein medizinisches Korrelat in der Diagnose der »Posttraumatischen Belastungsstörung« (PTBS), die nach dem international anerkannten Handbuch Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders durch drei Symptome ausgemacht wird: Intrusionen (flashbacks), Übererregung (hyperarousal) und Vermeidungsverhalten (avoidance).131 Das soziale und politische Umfeld, in dem sich das Konzept etabliert hat, ist auch historisch gesehen relevant: Die American Psychiatric Association beschreibt das Trauma zum ersten Mal im Jahr 1980 als Krankheitsbild der Vietnamveteranen, das den amerikanischen Staat dazu verpflichtet, sie für ihr Leiden zu entschädigen132 und Unterstützung zu ihrer Reintegration zu leisten. Neben der Anerkennung der Soldaten als Opfer des Krieges übt der deutsche Traumaexperte David Becker Kritik an diesen Umständen, wenn er problematisiert, dass aus der stärkeren Wahrnehmung für das Leiden der Veteranen letztlich eine Umkehrung des Täter-Opfer-Verhältnisses resultiert, die

128 Der Begründer der Psychoanalyse Sigmund Freud lernte bei dem Gynäkologen Jean-Martin Charcot (1825-93), der im Pariser Hôpital de la Salpêtrière seine berühmten Studien über Hysterie und Hypnose durchführte. 129 Freud, [1895] 1999, S. 76-312. 130 Stahnisch, 2009, S. 34. 131 Strassberg, 2009, S. 94. 132 Daniel Strassberg zitiert in seinem Artikel Statistiken aus dem Jahr 2005, die damals die Zahl der Soldaten, die als Kriegsveteranen für Traumafolgen entschädigt wurden, auf 250.000 bezifferten (Strassberg, 2009, S. 93). 69

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zerrüttete amerikanische Heimkehrer anstatt angegriffener Vietnamesen in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stellt: Mit der Diagnose der PTBS wird versucht, das Leid nordamerikanischer Veteranen nach dem Krieg in den USA anzuerkennen. Versicherungstechnisch ist der Staat nur dann zu Hilfe verpflichtet, wenn die Krankheit während des aktiven Dienstes, also in Vietnam ausgebrochen ist. Für Krankheiten nach der Entlassung aus dem Heer gibt es keine Pflicht. Gleichzeitig ist der Vietnamkrieg etwas Hochbrisantes. Geht es hier doch um einen der letzten großen imperialen Kriege, der weltweit Proteste hervorgerufen hat. Die PTBS löst dieses Problem bravourös: Sie erkennt das Leid an und dekontextualisiert es gleichzeitig. Der Vietnamveteran ist krank. Er ist kein Täter, sondern ein Opfer.133

Aus Beckers Perspektive trägt der aktuelle Diskurs der Psychotraumatologie durch die Fixierung auf das persönliche Leid zunehmend dazu bei, das Leiden aufgrund massiver Vorgänge der Zerstörung zu entkontextualisieren, zu entpolitisieren und zu psychologisieren, so dass die politischen Verhältnisse, die sie verursachen und begleiten, nicht mehr angemessen reflektiert werden.134 Auch der Politologe und Wissenschaftshistoriker José Brunner argumentiert im Sinne Beckers. Er skizziert in Die Politik des Traumas (2014) die spezifischen – und in seinen Augen immer politischen – Umstände der Gewalterfahrungen in den USA, in Deutschland und im Israel/Palästina-Konflikt und den unterschiedlichen Umgang dieser Gesellschaften mit ihrer Aufarbeitung und mit dem Begriff des Traumas. Bemerkenswerterweise stützt sich J. Brunner für die Analyse der wissenschaftlichen und therapeutischen Fachdiskurse des Traumas auf die Reflexionen über die Aufgabe des Übersetzens von Walter Benjamin und bedient sich dabei der Metapher des kulturellen Übersetzens im Sinne Homi Bhabhas.135 Entsprechend deutet er das Bild der psychischen Wunde als eine Metapher für die unterschiedlichen Erlebniswelten von Gewaltopfern, die durch den Begriff des Traumas in eine wissenschaftliche Sprache »übersetzt« wurde.136 In der Perspektive Brunners wird der Traumabegriff so zu einem historisch-politischen diskursiven Phänomen, das mannigfaltige Ausdrucksweisen in den unterschiedlichen Gesellschaften findet und geradezu dazu auffordert, 133 Becker, 2009, S. 76. 134 Ebd., S. 88. 135 Brunner, 2014, S. 12. 136 Ebd., S. 46f. 70

Teil I – Die Konzepte der Intersektionalität und der Spur in der Erinnerungsarbeit

politische Ursprünge und Kontexte der Diskurse gebührend zu berücksichtigen und auf die de- und re-kontextualisierende Tätigkeit der Experten zu achten. Denn letztere treten nicht selten in der Öffentlichkeit auf, um auf das Leiden der Traumatisierten aufmerksam zu machen und das soziale Gehör für sie zu sensibilisieren, und sie beeinflussen die öffentliche Meinung mit ihrem Expertenwissen maßgeblich.137 Wenn die gesellschaftliche Dimension traumatischer Ereignisse vor dem Hintergrund der argentinischen Staatsrepression bedacht wird, dann wird deutlich, dass sich den Überlebenden und den Angehörigen der VerschlepptenVerschwundenen im postdiktatorischen Argentinien erst mit dem veränderten politischen und rechtlichen Umgang mit den Verbrechen der Diktatur ab 2005 gesamtgesellschaftlich gesehen Gelegenheit bot, ihr Leiden in den Kontext erlittenen sozialen Unrechts zu stellen. Vor diesem Hintergrund postulierten sowohl der Equipo de Salud Mental der Menschenrechtsorganisation CELS138 als auch der Equipo de Asistencia Psicológica de Madres de Plaza de Mayo139 das Vorhandensein einer zweiten Phase der Traumatisierung der Opfer durch die Politiken des Verschweigens und der Straflosigkeit in den fast 20 Jahren ihrer Dauer. D.h. eine Lektüre der individuellen Wunden der Repression als Trauma kann nur in einem Rahmen sozialer Anerkennung des erlittenen Leids stattfinden. Die Anerkennung des Leids als Trauma zeigt sich im postdiktatorischen Argentinien weit davon entfernt, eine isolierte Anwendung einer wissenschaftlich-klinischen Kategorie darzustellen, sie beinhaltet eine ethisch-soziale Dimension, die deutlich zum Tragen kommt, wenn vom individuellen und kollektiven Trauma die Rede ist. Hinsichtlich erlittenen Übels aufgrund sozialpolitischer Ereignisse betont der Traumaforscher David Becker, dass das traumatische Leid zunächst unweigerlich und unentrinnbar individuell ist. Es ist aber nur versteh- oder begreifbar in Bezug auf den gesellschaftlichen Kontext, in dem es zustande kommt. […] Die erlittene Traumatisierung ist Teil eines spezifischen gesellschaftlichen Kontextes, in welchem einige Mitglieder dieser Gesellschaft sich das Recht herausgenommen haben, andere Mitglieder der gleichen Gesellschaft existentiell zu zerstören.140

137 Ebd., S. 45. 138 Conte u.a., 1998, S. 500-513. 139 Edelman/Kordon, 1994, S. 125-139. 140 Becker, 2009, S. 66. 71

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Ein Trauma wird durch eine extreme Erfahrung des Körpers und/oder der Seele verursacht und als solche nur vom Einzelnen erlebt. Wenn vom »kollektiven Trauma« gesprochen wird, ist daher vom massenhaft Einzelnen die Rede. Das Trauma selbst ist jedoch nicht kollektiv, sondern es wird durch die symbolische Artikulation »symbolvermittelt« und kollektiviert.141 Daher ist die Bezeichnung »kollektive Traumata« für die Sozialpsychologin Angela Kühner ein Hinweis auf die Massivität von Verbrechen, die extreme Kränkungen des Kollektivs bedeuten, sie wird jedoch nicht selten inflationär gebraucht.142 Die Kollektivierung, die auf suggestiven, aber fragwürdigen Analogien zwischen der Gesellschaft/dem Sozialen und dem individuellen Körper beruht, birgt die Gefahr, eine Verschleierungs- und Verharmlosungsstrategie zu sein.143 Die Verfolgung und Verurteilung der Verbrechen der Diktatur durch die Justiz sind für den Einzelnen von zentraler Bedeutung, nicht weil sie etwas kitten und vergessen machen könnten, sondern weil sie die erlittene Gewalt in den Kontext dessen stellen, was gesellschaftlich als Unrecht eingestuft wird. Unrecht und Gewalt lassen sich nicht ungeschehen machen. Auch die Vorstellung von »Heilung« scheint in diesem Zusammenhang eher wie eine zynische Metapher.144 Als institutioneller Ausdruck gemeinschaftlicher Werte erfüllen die Handlungen der Justiz allerdings eine entscheidende Funktion als Garant für ein gesellschaftliches Einverständnis über das Geschehene. Therapeutische Beziehungen, die eine realistische Möglichkeit bieten, das Leid in die Biographie zu integrieren, erfordern diesen sozialen Garant als symbolischen Dritten. Der ethische Konsens darüber, dass das Trauma sozial verursacht wurde, setzte sich in Argentinien nur langsam gegen das lang verbreitete und verdächtigende »algo habrán hecho« [etwas werden sie schon gemacht haben] durch, das die »Schuld« an der traumatischen Erfahrung in einer erneut traumatisierenden Täter-Opfer-Umkehrung bei den Opfern ansiedelt. Eine konsensfähige Meinung über diesen ethischen Standpunkt ist eine unerlässliche Bedingung für eine Integration des erlebten Unrechts auf subjektiver Ebene und hat die Empathie als ihre Voraussetzung.145 Das Wissen 141 Kühner, 2002, S. 15. 142 Ebd. 143 Becker, 2009, S. 81. 144 Mit Nachdruck stellt Gabriel Gatti den psychologischen Teildiskurs in Frage, der darauf zielt, soziale Sinnhaftigkeit wiederherzustellen, indem er durch die therapeutische Tätigkeit den Anspruch erhebt, Identitäten wieder aufzubauen, die durch die traumatischen Erlebnisse angeblich »gebrochen« sind (vgl. Gatti, 2012, S. 119). 145 Kordon u.a., 1995, S. 245. 72

Teil I – Die Konzepte der Intersektionalität und der Spur in der Erinnerungsarbeit

um Empathie öffnet dann einen Raum für eine narrative Artikulation des erlebten Traumas, es beinhaltet die Möglichkeit, »die traumatische Erfahrung in ein übergeordnetes Narrativ einzubinden«.146 Entsprechend liegt in der Forderung der argentinischen Menschenrechtsaktivisten nach Wahrheit und Gerechtigkeit die Möglichkeit, die gefrorene Zeit des Traumas zum Schmelzen zu bringen und damit persönliche und gesellschaftliche Trauer einzuleiten. Dieses Traumaverständnis unterscheidet sich diametral von gängigen Vorstellungen einer »unzeitlichen«, geradezu makelhaften Markierung der Überlebenden durch das Erlebte. Es steht auch für eine andere Form der Vergangenheitsbewältigung als die des persönlichen Schweigens, das in Bezug auf die Shoah nicht selten ein gesellschaftliches Verschweigen war.147 Die Arbeit der argentinischen psychoanalytischen Teams zeigt, dass wenn die zugefügte Pein als soziales Ereignis verstanden wird und dabei der kommunikative Aspekt des Erzählens und Zuhörens hervortreten kann, das geschehene Leid sowohl in die persönliche Biographie als auch in die gesellschaftliche Erinnerung, in das kommunikative Gedächtnis, integriert werden kann. So rücken in den Vordergrund der Aufarbeitung das individuelle und das soziale Gehör für die Erzählungen der Opfer. c. Das Attribut des Zeitenbruchs und die Deutung des erzwungenen Verschwindens als Bruch oder Kontinuität Die Vorstellung eines Zeitenbruchs überlappt sich mit einem weiteren Attribut der Spur, dem der Störung eines Kontinuums, und führt in die Deutungsdebatte ein, die die blutige Repression des Staatsterrors entweder als Bruch oder als Kontinuität zu interpretieren versucht. Die breitgetretene Vorstellung der Neugründung der Nation durch die Militärs, die die Zeit vor ihrer Machtübernahme als undurchsichtiges Chaos darstellten, und die Auseinandersetzung der Menschenrechtsorganisationen mit den Militärs, die in ihrem humanitären Appell die Desaparecidxs als Menschenkinder frei von jeglichem politischen »Makel« darstellten, nährten diese Wahrnehmung der Zäsur in eine Zeit vor und eine nach der Diktatur. Diese Vorstellung von Bruch bildet einen zentralen Gegenstand in der Auseinandersetzung um die Deutung der argentinischen Staatsrepression. Der in der Kritik der Moderne und in der Erfahrung der Shoah begründete, von Dan Diner geprägte Begriff des Zivilisationsbruches für den Massenmord an den europäischen Juden wurde auch in die argentinische Debatte um die Vergangenheitsinterpretation aufgenommen. Während die österreichische Historikerin Heidemarie Uhl die »Relevanz des Holocaust als historischer Bezugspunkt 146 Bohleber, 2011, S. 10. 147 Schlant, 2009, S. 22. 73

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eines Weltgedächtnisses« betont148, kritisiert Dan Diner im selben Buch gerade eine Tendenz zu einer auf »entgrenzende Universalisierung zielende[n] anthropologische[n] Deutung des Zivilisationsbruchs«149 und erkennt darin eine weitere Vermeidungsstrategie der Shoah gegenüber. Die jungen Historiker Jan Eckel und Claudia Moisel bringen die Gefahr dieser Universalisierung auf den Punkt: Deutlich ist, dass die Internationalisierung der Holocausterinnerung auf allen Ebenen um den Preis erfolgt, die spezifischen historischen Umstände des Ereignisses zu verwischen. Die Juden erscheinen in keiner ihrer historischen Rollen – sei es als Bestandteil der europäischen Gesellschaft der dreißiger und vierziger Jahre, als von antisemitischen Ideologien identifizierte Feindgruppe oder als Akteure, die sich ihrer Verfolgung zu entziehen versuchten –, sondern als Sinnbild der Opfer moderner Gewalt. Und auch der Blick auf die Täter wird unscharf, wenn der Judenmord, um in aktuellen Debatten anschlussfähig zu sein, moralisiert und politisiert wird. […] Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob die Erinnerungsbilder überhaupt noch in einem angemessenen Verhältnis zu den historischen Tatbeständen stehen, die in ihnen vergegenwärtigt werden sollen. Sie stellt sich umso mehr, da die alles in allem schlichte Moral, die vielfach verbreitet wird – nämlich dass es falsch ist, gesellschaftliche Gruppen wegen ihrer vermeintlichen Andersartigkeit zu diskriminieren und zu töten −, des Verweises auf den Holocaust nicht bedürfte, um richtig zu sein.150

Während die Shoah die Vernichtung der europäischen Juden verortet, rückt der Begriff des Zivilisationsbruchs für Heidemarie Uhl das Geschehen in ein Raum-Zeit-Kontinuum von universaler Dimension, das sich auf die Geschichte der Moderne bzw. der westlichen »Zivilisation« erstreckt. Damit kommt der Erinnerung ein über die Gedächtniskulturen der Opfer und Täter bzw. der vom NS-Regime betroffenen Staaten hinausgehender Geltungsbereich zu.151

Hugo Vezzetti, argentinischer Historiker und Psychologe, nimmt in seiner für den argentinischen Erinnerungsdiskurs sehr relevanten Arbeit Pasado y presen148 Uhl, 2003, S. 7. 149 Diner, 2003, S. 28. 150 Eckel/Moisel, 2008, S. 25. 151 Uhl, 2003, S. 7. 74

Teil I – Die Konzepte der Intersektionalität und der Spur in der Erinnerungsarbeit

te den Begriff des Zivilisationsbruches nicht von Dan Diner, sondern in der Rezeption von Norbert Elias auf, um die Umstände zu bezeichnen, die den Kontext für die Verbrechen des Junta-Regimes bildeten.152 Er spricht von »derrumbe de la ley y [d]el estado de derecho«153 [Einsturz des Gesetzes und des Rechtsstaates] und von einem »derrumbe moral y político que culminó en el terrorismo de estado«154 [moralischer und politischer Abgrund, der im Staatsterror seinen Höhepunkt fand]. In dieser Ebene des Geltungsbereichs einer universalen Moral siedelt Vezzetti die Arbeit der Mütter der Plaza de Mayo an155 und betont, dass sie mit ihren Handlungen eine von der Politik nicht belegte Leerstelle ausfüllten.156 Vezzetti zeigt sich des inflationären Gebrauchs des Genozidbegriffs in Argentinien Anfang des Millenniums bewusst, als die extreme wirtschaftliche Exklusion in manchen Kreisen als »ökonomischer Genozid« bezeichnet wurde. Obwohl er den Begriff des Zivilisationsbruchs als Erklärungsmodell für die Umstände anwendet, die den massiven Staatsterror verursachten, distanziert er sich von einer Anwendung des Genozidbegriffs auf die argentinischen Ereignisse157, die er eher als »desenlace«158 versteht, als Auflösung vergangener Antinomien im Feld der Politik und des Staates. Mit dem Begriff des Zivilisationsbruchs bezieht sich Vezzetti auf eine andere Logik als die der Ereignisse, auf eine Ordnung, die der bekehrenden Macht der Gewalt gewidmet war.159 Emilio Crenzel schlägt dagegen eine Lektüre unter dem Zeichen der Kontinuität vor: »Über den argentinischen Horror als ›Zivilisationsbruch‹ nachzudenken ist vor dem Hintergrund der nationalen politischen Geschichte schlicht unangemessen.«160 Crenzel stellt die Ereignisse in den Rahmen einer von breiten Gruppen der Zivilgesellschaft als normal verstandenen politischen Tradition der Einmischung des Militärs, die zusammen mit dem Einfluss des katholischen Integralismus und von konservativen und nationalistischen Strömungen die Folter an politischen Gefangenen als eine reguläre und gewöhnliche Praxis und die Gewalt als privilegierte Form der politischen Konfliktlösung verstand.161 Der weitrei152 Vezzetti, [2002] 2009, S. 13. 153 Ebd., S. 14. 154 Ebd., S. 205. 155 Ebd., S. 18. 156 Ebd., S. 19. 157 Ebd., S. 157-164. 158 Ebd., S. 16. 159 Ebd., S. 14. 160 Crenzel, 2008, S. 27. 161 Ebd. 75

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chende Erklärungsansatz des Genozids, der mit dem Begriff des Zivilisationsbruches aktiviert wird, wird vom Soziologen Daniel Feierstein vertreten, der für die argentinischen Ereignisse das Konzept der »genozidalen Praktiken«162 entwickelt hat und dieses mit der Situation in der Gesellschaft danach in Verbindung bringt. Der Erinnerungstopos »Zivilisationsbruch« hat kulturhistorisch eine weitere Implikation. In Bezug auf die Shoah tritt er im Zusammenhang mit einer Rhetorik der Trauer und der Entstehung postmoderner Diskurse hervor: [T]he appeal in these discourses [the postmodern theoretical discourses] to notions of shattering, rupture, mutilation, fragmentation, to images of fissures, wounds, rifts, gaps and abysses, is familiar enough.163

Gerade die Dezentriertheit, die Instabilität und der Nomadismus, die in den postmodernen Diskursen zum Ausdruck kommen, werden nach Santner auch Merkmale postmoderner Kunst.164 Die postdiktatorischen Manifestationen in Kunst, Film und Literatur über die Erinnerung an das erzwungene Verschwinden rekurrieren auf Metaphern der Fragmentierung, der Reste, der Risse165; nach Gabriel Gatti geht es dabei darum, »sich die Unmöglichkeit des Darstellens zur Aufgabe zu machen«166. Dominick LaCapra weist auf die Rolle des Holocausts als problematischer Bruchpunkt für die Postmoderne hin, gerade weil damit Verschweigungs- und Kanonisierungsprozesse zusammenhängen: Postmodernism has developed in the wake of the Shoah, which it has often explicitly avoided, typically encrypted, and variably echoed in traumatized, melancholic, manically ludic, opaque, and at times mournfully elegiac discourses.167

Auch Adriana Bergero findet das postmoderne Element in den Diskursen über die Vergangenheit problematisch. Sie charakterisiert die Postdiktatur als ReDemokratisierungsphase und konstatiert dabei die fehlende Wahrnehmung der vergangenen Staatsrepression als Bruch, der einen Raum der Alterität eröffnet 162 Feierstein, D., 2007. 163 Santner, 1999, S. 37. 164 Ebd. 165 Siehe u. v.a. Blanco u.a., 2013; Grupo Escombros, 2007, S. 197-209; Lorenzano, 2007, S. 455-470. 166 Gatti, 2012, S. 150. 167 LaCapra, [1994] 2008, S. 225. 76

Teil I – Die Konzepte der Intersektionalität und der Spur in der Erinnerungsarbeit

hat.168 Im hegemonischen postmodernen Diskurs ist das Politische ein PseudoEreignis169, während das Ereignis selbst in der Postdiktaturgeschichte implosiv erinnert wird: »Das Gedächtnis arbeitet, ohne das Erinnerte zu markieren und zu werten; es ist Produkt und Produzent einer neuen Form von Sensibilität und gleichzeitig Werkzeug eines kollektiven Prozesses der Entdramatisierung, Entsemantisierung und Entpolitisierung«.170 Bergero postuliert 1997 die Notwendigkeit der Rückkehr der sozialen Erinnerung und der Narrationen sozialverursachten Schmerzes als explosive Instanz, »um eine juristische, politische und kulturelle Re-Territorialisierung zu implementieren und zum Sozialen zurückzukehren, um dem Subjekt einen Raum der Transformation zu gewähren, in dem es wieder eigene soziale Konsense erzeugt.«171 Fragmentierungen, Fissuren, Spaltungen und Brüche sind Figurationen und Strategien, auf die einige der in Teil IV besprochenen Texte unterschiedlich rekurrieren. Raffinierte Kritik an der Entwertung und Versachlichung des Gedächtnisses im selben Sinne wie die Reflexionen von Adriana Bergero übt María Teresa Andruettos Roman La mujer en cuestión (s. Teil IV, Kap. 4): Während die Gattungswahl mit dem detektivischen Bericht für Objektivität und Distanz steht, entwirrt die Erzählung anhand multipler, teilweise sich widersprechender Zeugnisse gleichzeitig die Entstehungsgeschichte der Diskriminierung einer in den 70er Jahren rebellischen jungen Frau und bezeugt die Wunden, die die argentinische Gesellschaft der Desaparecida und überlebenden Protagonistin zugefügt hat. Nicht nur die Vielheit der Interpretationen oder die Notwendigkeit eines empfindsamen Beobachters erschweren das Spurenlesen. Spuren verblassen mit der Zeit, die Gesichter der geliebten Menschen und andere Erinnerungen werden immer weniger greifbar. Anders als beim Zeichen, das immer Gleichzeitiges zeigt, gibt es zwischen dem Spurenhinterlassen und dem Spurenlesen stets eine Zeitverschiebung, einen Zeitenbruch, der sich nicht unbedingt in einer Zeitrechnung abbilden lässt (vgl. auch Kap. »Phasen der Erinnerung an den Staatsterror« in Teil III). Nora Strejilevich beschreibt diesen Bruch vorhandener Chronologien zu Beginn ihres Buches Una sola muerte numerosa: Nicht jeden Tag öffnet man die Tür, damit ein Wirbelsturm vier Zimmer zerlegt und die Vergangenheit zerstört und die Zeiger der Uhr abbricht. Nicht jeden Tag werden die Spiegel zerschlagen und die Verkleidungen zerfranst. 168 Bergero, 1997, S. 60. 169 Ebd., S. 61. 170 Ebd., S. 63. 171 Ebd., S. 85. 77

Erinnerung und Intersektionalität Nicht jeden Tag versucht man, zu entkommen, während sich die Uhr bewegte die Tür sich verbog das Fenster klemmte und man selbst eingepfercht einige nicht enden wollende Minuten lang wimmert. Nicht jeden Tag stolpert man und fällt mit auf dem Rücken gefesselten Händen, gefangen in einer Nacht, die dem Alltagsleben ein Ende setzt. Der Wirbelsturm aus gestrigen und heutigen Fragmenten, zerdrückt zwischen Befehlen und Anordnungen, lässt einem schwindelig werden.172

Re-Kontextualisierungen und Genealogien werden für das Spurenlesen aufgrund dieses Zeitenbruches unentbehrlich und sind doch immer von der Perspektive des Lesers der Spur, der diese (nach)zeichnet, geprägt. d. Die Polysemie und Narrativität der Spur und die (Re-)Konstruktion der Kontexte Wer eine Spur liest, rekonstruiert die gestörte Ordnung durch eine Erzählung der Umstände, die zur Spurbildung geführt haben. Die Lektüre der Spur, die dieser Erzählung zugrunde liegt, ist nur eine mögliche unter zahlreichen. Die Polysemie der Spur überträgt sich im postdiktatorischen Argentinien auf eine Vielfalt von Diskursen, die als Prozesse des Gedächtnisses zu erkennen sind. Elizabeth Jelin macht auf das Problem des Kampfes verschiedener Erinnerungen an die argentinische Repression aufmerksam, die den jeweils anderen den Raum für die eigene Version der »Wahrheit« absprechen und die Vielheit der Erinnerungen durch diesen Anspruch zu ersticken drohen.173 Die deutsche Erinnerungsforscherin Astrid Erll siedelt den Gebrauch der Metapher »Krieg der Erinnerungen« in der französischen Tradition an und stellt ihn in einen Zusammenhang mit Pierre Noras (nicht unproblematischer) Gegenüberstellung von »Gedächtnis und Geschichte«.174 Die damit verbundene normativ ausgerichtete Debatte, »wer die Vergangenheit wie, für wen und auf welche Weise repräsentieren darf oder soll«175, nimmt in der französischen Gedächtnisforschung einen großen Raum ein. Die Frage wird im argentinischen Kontext umso relevanter, als sich in der Debatte ab 2004 eine Wende vollzog. Dabei löste der bis dorthin oppositionelle Diskurs der Menschenrechte die langjährige offizielle Deutung der Vergangenheit (Stichwort: Zwei-Dämonen-Diskurs) und die daraus folgende Politik des 172 Strejilevich, 2014, S. 9. 173 Jelin, 2001, S. 93-95. 174 Erll, 2012, S. 273. Nach Ansicht Astrid Erlls färbt diese Frage auch die Perspektive, aus der die französische Forschung auf die weltweite Gedenkpraxis blickt. 175 Ebd. 78

Teil I – Die Konzepte der Intersektionalität und der Spur in der Erinnerungsarbeit

Vergessens und Verschweigens ab. Der ab 2004 als offiziell geltende Menschenrechtsdiskurs der argentinischen Regierung wurde zum Bestandteil – aber auch zum politischen Instrument – der Regierungspolitik. Das war ein großer Schritt in Richtung Aufklärung der Menschenrechtsverbrechen, doch die Errungenschaften bildeten nicht immer die Forderungen der Menschenrechtsbewegung ab und stellten diese oftmals vor ein Dilemma (s. Teil III, »Diskursiver Wandel – Illustriert anhand von drei Bestandsaufnahmen«). Die Narrativität als Eigenschaft der Spur macht die Schlüsselfunktion der testimonios deutlich: Die Grundbereitschaft zur Empathie entsteht durch Narrativität. Dabei ist der Raum, den diese Narrationen in der öffentlichen Wahrnehmung erhalten, relevant, da Empathie durch Erzählung überhaupt erst möglich wird. Nach Fritz Breithaupt entsteht Empathie als abgeleiteter Akt der Parteinahme. Ein Dritter ergreift angesichts einer Konfliktsituation zwischen zwei Kontrahenten für einen der beiden Partei, wenn die Narration der Hintergründe eines der Kontrahenten legitimer erscheint. Die Parteinahme, eine flüchtige und labile Erscheinung, kann durch die Emotionen und Affekte, die sie hervorruft, über die Zeit gefestigt werden und somit zum Abschluss des längeren Bündnisses der Empathie führen.176 Sich selbst als lesbar zu präsentieren heißt für Breithaupt, narrative Strategien in das Verhalten einziehen zu lassen, die den Beobachtern eine gespiegelte Narration des eigenen Schicksals erleichtern und dadurch Parteinahme und dann Empathie bei ihnen erwecken.177 Die testimonios ermöglichen nicht nur ein Wissen über das Geschehene, sondern auch Parteinahme und Empathie für die Opfer totalitärer Gewalt. Angesichts der geheimen Vorgehensweise des Militärs und der anschließenden Phase des verordneten Verschweigens war dies eine wichtige Voraussetzung für eine gesellschaftliche und gesetzliche Aufarbeitung der massiven Verbrechen. Als literarisches Genre erzählen die testimonios das Geschehene als Gegendarstellung zu dem, was im öffentlichen Diskurs verschwiegen wurde. Sie wirken aus dem sozialen Gedächtnis heraus dem Anspruch des Autoritarismus entgegen, einen monolithischen Diskurs zu etablieren, und artikulieren entsprechend zeitversetzt einen Gegendiskurs dazu. Auch Nelly Richard unterstrich nach dem Ende der chilenischen Diktatur, im Umfeld der überparteilichen Konsensphase der Concertación178, die Notwendigkeit ‒ angesichts einer Erinnerung, die nicht »rein« sein

176 Breithaupt, 2009, S. 156f. 177 Ebd., S. 161. 178 Nelly Richards Reflektionen beziehen sich auf die chilenische concertación, die eine Politik des Verschweigens mit der Begründung der Befriedung hervorge79

Erinnerung und Intersektionalität

kann (»la impureza de ese recuerdo«179) ‒, eine Vielheit von Erinnerungen zuzulassen, ohne sie »domestizieren« zu wollen: Die Rehabilitierung dieses Wortes als Feld vielfältiger und divergierender Kräfte soll es für eine Vielzahl von Blickwinkeln öffnen, deren Widersprüche nicht verschwiegen werden dürfen durch den heutigen Wunsch, jede Opazität aufzulösen, jeden Fremdkörper zu eliminieren, der die Vorstellung von einer fälschlich mit sich selbst versöhnten Kulturgeschichte trüben könnte.180

Spuren, anders als Zeichen, werden unabsichtlich hinterlassen. Das Nicht-Intentionale, Unkontrollierte, Unwillkürliche allein verursacht jene Gravuren und Brechungen, die dann als Fährte zu lesen sind.181 Überlebende und ihre testimonios eröffneten in Argentinien die entscheidende Chance zur Überführung der Täter. Viel wurde darüber spekuliert, in welcher Absicht Überlebende laufen gelassen wurden; offizielle Auskünfte gab es nicht. Die Frage »Warum ich?« taucht in den testimonios vielfach auf und steht in engem Zusammenhang mit der Problematik nagender Schuld(gefühle) der Überlebenden, die auch aus den Publikationen über die Shoah und allgemein von Unglücken oder Naturkatastrophen bekannt sind. Diese Schuld wird in der Psychologie als der Versuch gedeutet, die Passivität des Ausgeliefertseins in eine verursachende Aktivität umzuwandeln, um die unerträgliche Hilflosigkeit abzuwehren.182 Dank ihrer vielfach entscheidenden Beiträge zur Aufklärung der Verbrechen vor Gericht veränderte sich im Laufe der Jahre die Wahrnehmung der Überlebenden im öffentlichen Raum von allgemeiner Verdächtigung zu Anerkennung. Glaubten sich seinerzeit die Verantwortlichen für die Verbrechen vor jeder Rechenschaft sicher, über jedes Gesetz zeitlebens erhaben? Gaben die Überlebenden über jenen toten Winkel Auskunft, der von der »Überdimensionierung der totalisierenden Macht« zeugt, wie Pilar Calveiro die Allmachtsfantasien der Folterknechte und verantwortlichen Bürokraten nennt?183 Überlebende sind durch ihr Wieder-Erscheinen das Gegenphänomen zur des-aparición. Ihre bloße Gegenwart zersetzt die bracht hat und ähnlich wie die Verschweigungspolitik der Menem-Regierung auf eine Normalisierung der Straflosigkeit zielte. 179 R ichard, 1994, S. 18. 180 Ebd., aus dem Span. von MLS. 181 K rämer, 2007a, S. 16. 182 Bohleber, 2011, S. 14. 183 Calveiro, [1998] 2008, S. 127. 80

Teil I – Die Konzepte der Intersektionalität und der Spur in der Erinnerungsarbeit

Annahme einer Normalität und stellt der Gesellschaft und dem Einzelnen die beunruhigende und unbequeme Frage nach dem eigenen Verhalten während der Repression, wie die Narrationen in Teil IV zeigen werden. e. Die Materialität und Orientierungsleistung der Spur und die (Re-)Konstruktion familiärer Genealogien Wie ein Beweis für die tatsächliche Existenz der Angehörigen wurden über Jahrzehnte hinweg ihre Fotos bei den zahlreichen Kundgebungen emporgehalten. Diese Fotos184 aus den 70er Jahren wirkten im öffentlichen Raum zusammen wie Negativ-Monumente des sozialen Gedächtnisses. Sie sind jedes für sich ein Träger der Erinnerung und weisen auf die klaffenden Wunden in den Biographien der Hinterbliebenen hin, auf die gesellschaftlichen Lücken, die die Verfolgung hinterlassen hat, auf die Störung der Kontinuität des Lebens: Denn Spuren fallen nur auf, wenn eine Ordnung gestört wird. Dem, was sich in der Spur zeigt, »muss eine Form von Gewaltsamkeit eigen sein, die Kraft sich einzuschreiben, einzudrücken, aufzuprägen«.185 In Situationen großer Ungewissheit, Unsicherheit und vielleicht auch Angst entfaltet das Orientierung leistende Attribut der Spur seine Wirkung. Angesichts der extremen Störung eines normalen Empfindens des Sozialen und der Zeit, die die desapariciones forzadas verursachten, wird die Relevanz dieses Attributs deutlich. Auf der Suche nach Spuren der Angehörigen und Hinweisen folgend haben Mütter, angefangen bei Polizeiinspektionen über Kirchen und Gerichte bis hin zu den Kommandanturen, an viele Türen geklopft und nach ihren verschwundenen Kindern Ausschau gehalten. Großmütter versuchen noch heute, anhand von genetischen Spuren den Bogen familiärer Zugehörigkeit bis zu ihren Enkelkindern zu spannen und damit auch zur Überführung der Täter beizutragen. Familienbande bildeten in jenem äußerst feindseligen Umfeld der Staatsrepression eine entscheidende Rolle, aber auch neue Bande sind innerhalb der Menschenrechtsbewegung durch die Bildung eines dichten Geflechtes solidarischer Beziehungen entstanden und konstituierten sich zu dem, was Judith Filc »neue alternative Familien« nennt.186 Diese alternativen Familien »flickten« 184 Vgl. zur Anwendung der Fotografie und der Malerei als Erinnerungsstrategien im öffentlichen Raum u.a. die Studien von Ana Longoni und Gustavo Bruzzone (El Siluetazo, Buenos Aires 2008) und von Ana Longoni (Fotos y siluetas: dos estrategias contrastantes en la representación de los desaparecidos, in: Crenzel, 2010, S. 43-63). 185 K rämer, 2007a, S. 16. 186 Filc, 1997, S. 83-99. 81

Erinnerung und Intersektionalität

ein soziales Netz, das durch die Praxis der Folter extrem beschädigt worden war. Denn die Folterungen zwangen Individuen zur Aufgabe gewählter Bindungen und Treueverhältnisse und verwischten die Grenzen zwischen Freund und Feind. Die massive und professionelle Anwendung der Folter hatte als primäres Ziel die Denunziation und ließ Widerstand zur naiven Phantasie werden. Die Repression stellte familiäre Bindungen auf die Probe: Direkte Verwandte bildeten den Hafen inmitten des Desasters, Beziehungen zerbrachen jedoch nicht selten unter dem Druck der Umstände.187 Kordon und Edelman fassen die Situation der Familien zusammen: In den direkt betroffenen Familien entstanden diverse Konflikte, die häufig unabänderliche Auswirkungen hatten wie Brüche oder Veränderungen der Familienstruktur. Diese Konflikte hingen ab von der Position, die man angesichts der Situation bezog, von dem Terror, der das konkrete Verhalten bedingte, von den unterschiedlichen Graden der Identifikation mit dem befremdlichen Diskurs der Diktatur und von der Verlagerung der Aggression, die sich nicht gegen das eigentliche Ziel richtete, sondern sich innerhalb der Familie einnistete. Viele Familien wurden auf ihren Kern reduziert, was endogamische Erscheinungen ebenso verstärkte wie die Feindlichkeit gegenüber der Außenwelt; sie hatten keinen anderen Rückhalt als die Isolation, in die die Terrorsituation sie gedrängt hatte und die dazu führte, dass ihre Verwandten sie im Stich ließen und sogar in Frage stellten. Sie erlebten, was es heißt, eine »heiße Kartoffel« zu sein, die die anderen nicht anfassen möchten. Ihre bloße Anwesenheit antagonisierte in den anderen die Negierungsmechanismen, und die Gewalt der Empfindungen, die die Katastrophe in ihrem Umfeld auslöste, bringt die Menschen dazu, ihren eigenen Schmerz zu leugnen.188

Innerhalb der Familie konstituiert sich die Erinnerung durch Erzählungen, aber auch durch Schweigen und Lücken189, und nicht selten werden Familien von der Tendenz zur liebenden Idealisierung verführt.190 Die auf genetischer Identität aufbauende Spurensuche der Großmütter ist ebenfalls einer nicht unproblematischen Versuchung ausgesetzt, wie der Soziologe Gabriel Gatti herausstellt. Sie fußt auf einer Vorstellung naturalisierter, auf genetischer Information basie187 Quintana, 1994, S. 225-235. 188 Kordon/Edelman, 2002, S. 363, aus dem Span. von MLS. 189 K aufman, 2006, S. 47-71. 190 Filc, 1997, S. 202. 82

Teil I – Die Konzepte der Intersektionalität und der Spur in der Erinnerungsarbeit

render Identität, die in einer Rhetorik der Blutzugehörigkeit transportiert wird (»recuperar el lazo« [das Band neu knüpfen], »conservar el vínculo« [die Bande aufrechterhalten], »restituir la familia« [die Familie wiederherstellen]). So werden beispielweise in den Archiven der Großmütter191 persönliche Gegenstände, Erinnerungen von Angehörigen und Freunden, Fotos etc. gesammelt, aber auch zu einer schlüssigen Narration fixiert, die darum bemüht ist, Ambivalenzen in den Biographien der Desaparecidxs zu bereinigen.192 Gerade eine entscheidende Umdeutung der Vergangenheit ist auf einen familiären Kontext der Aufarbeitung zurückzuführen. Es waren die Kinder der Verschwundenen, die 1997 zur gegenseitigen Unterstützung die Organisation H.I.J.O.S. (Hijos por la Identidad y la Justicia contra el Olvido y el Silencio) gründeten und damit eine Wende in der Wahrnehmung der Elterngeneration einleiteten. Sie erkannten in ihren Eltern nicht nur Opfer, sondern auch Akteure, und traten so mit einer neuen Haltung in der Öffentlichkeit auf. Die diskursive Neugründung der Nation durch den »Proceso«, aber vor allem die Massenvernichtung und das soziale Schweigen, hinterließen den Eindruck einer tiefgreifenden Diskontinuität. Durch die Rehabilitierung der Elterngeneration schufen die H.I.J.O.S. eine Verbindung zu der Zeit vor den desapariciones forzadas, die bis dorthin gewissermaßen in Vergessenheit geraten war. Auf die problematische Kehrseite dieser Rehabilitierung wird in Teil III, Kap. 3.2. eingegangen. f. Die Medialität der Spur und die Konstruktivität der Erinnerung Spuren sind Abdruck, Einprägung und Rückstand: Sie treten gegenständlich, in ihrer Materialität, vor Augen. Sie sind durch Kontakt entstanden und geben Auskunft über die Technik, mit der sie erzeugt wurden. Kurz sei hier darauf hingewiesen, dass für die Apparatus-Theoretiker Technik, wie Sven Gramp anmerkt, nicht nur Ausdruck von Machtgefügen ist, sondern auch deren Mittel, das Vehikel, herrschende Zustände zu affirmieren und zu stabilisieren. Für AkteurNetzwerk-Theoretiker werden gesellschaftlich-kulturelle Prozesse in Technik eingeschrieben, die Handlungsprogramme an Menschen weitergibt. Demnach verhält sich die Spur als eine »Scharnierstelle«, an der gesellschaftliche Prozesse und widerständige Materie eingeschrieben sind und lesbar gemacht werden können.193 So gibt die Spur der Folter Auskunft über die Technik zur Schmerzerzeugung, die die Streit- und Sicherheitskräfte in Argentinien während der Re191 Der »Archivo Biográfico Familiar« bewahrt persönliche Erinnerungsstücke wie Bilder, Briefe und andere Gegenstände für die Kinder der Desaparecidxs auf. 192 Gatti, 2012, S. 123-145. 193 Gramp, 2009, S. 45. 83

Erinnerung und Intersektionalität

pression von Staats wegen und im autorisierenden Kontext des Kalten Krieges angewandt haben (vgl. Teil II). Diese Spur kann nicht nur in den zahlreichen testimonios gelesen werden, die Technik des Schmerzes hat sich in einen Korpus eingeschrieben, der literarische Genres übergreifend als Literatur des erzwungenen Verschwindens bezeichnet werden kann. Diese Literatur bewegt ähnliche Fragen wie jene des Holocausts: Fragen nach der Vermittelbarkeit von massivem Leiden, nach der Dringlichkeit des Erzählauftrags der Überlebenden, nach der (fehlenden) Plastizität der Sprache als Ausdrucksmittel für Grenzerfahrungen, nach dem Aufruf zur Erinnerung inmitten gesellschaftlichen Schweigens, nach der Subjektivität in der (tödlichen) Subsumierung des Einzelnen zu einer Menschenmenge u.a. Literatur und literarische Formen sind im postdiktatorischen Argentinien auch »Ergebnisse komplexer Prozesse der kulturellen Erinnerung, die von der Herstellung von intertextuellen Beziehungen bis hin zur Kanon-Bildung reichen«194. Der Aspekt des Von-außen-bestimmt-Seins der Spur kommt in ihrer Medialität zum Tragen, d.h. ein Gegenstand oder eine Handlung kann überhaupt erst eine Spur hinterlassen, wenn die Beschaffenheit des materiellen Trägers dies ermöglicht. Spuren sind auf ein Medium angewiesen, das sie als Boten gebrauchen. Auf den Menschen bezogen lässt sich die Vorstellung solcher Medialität bis Platon zurückverfolgen, der in seinem Theaitetos Wahrnehmungen und Gedanken als Eindrücke erklärt, die sich in den weichen Wachs der Seele einprägen, und damit die Erinnerung, jenes Geschenk der Mnemosyne, der griechischen Göttin der Erinnerung, in der Seele ansiedelt.195 Aristoteles, bekannt194 Erll/Nünning, 2006, S. 25. 195 »SOKRATES: So setze mir nun, damit wir doch ein Wort haben, in unsern Seelen einen wächsernen Guß, welcher Abdrücke aufnehmen kann, bei dem einen größer, bei dem andern kleiner, bei dem einen von reinerem Wachs, bei dem andern von schmutzigerem, auch härter bei einigen und bei andern feuchter, bei einigen auch gerade so, wie er sein muß. THEAITETOS: Ich setze ihn. SOKRATES: Dieser, wollen wir sagen, sei ein Geschenk von der Mutter der Musen, Mnemosyne, und wessen wir uns erinnern wollen von dem Gesehenen oder Gehörten oder auch selbst Gedachten, das drücken wir in diesen Guß ab, indem wir ihn den Wahrnehmungen und Gedanken unterhalten, wie beim Siegeln mit dem Gepräge eines Ringes. Was sich nun abdrückt, dessen erinnern wir uns und wissen es, solange nämlich sein Abbild vorhanden ist. Hat sich aber dieses verlöscht oder hat es gar nicht abgedruckt werden können, so vergessen wir die Sache und wissen sie nicht« (nach einer Übersetzung von Friedrich Schleiermacher, ›www.operaplatonis.de/Theaitetos.html‹, 25.06.2013). 84

Teil I – Die Konzepte der Intersektionalität und der Spur in der Erinnerungsarbeit

lich Platons Schüler, entfaltet in seinem Werk De Anima sein Erkenntnismodell des Gedächtnisses und der Erinnerung und bestimmt dabei die Erinnerung als das Verfahren zur Herstellung geistiger Bilder − eine Bewegung, die der eines Siegelringes entspricht, der das Siegel ins Wachs drückt.196 Auch Freud nährt in seiner Notiz über den Wunderblock (1924) eine Vorstellung von Spuren, die sich in den Wahrnehmungsapparat eingravieren.197 Auf die Arbeiten von Richard Semon (1904) geht eine aktuellere Form der Vorstellung Platons zurück, das Konzept des Engramms (gr. en »hinein« und gramma »das Geschriebene«), das eine physiologische Änderung im Gehirn aufgrund eines Gedächtnisinhalts bezeichnet. Das Engramm, auch Gedächtnisspur genannt, gilt als allgemeiner Begriff für die Kodierung und Speicherung der Erfahrungen in den Neuronen des Gehirns. »Die Summe der gespeicherten Engramme einer Person gilt als das biologische Substrat des menschlichen Gedächtnisses und ist die Basis der spezifischen menschlichen Einzigartigkeit.«198 Nach dieser heute noch weitverbreiteten Idee wären Engramme die Träger der persönlichen Erinnerung, das Gedächtnis gliche demnach einem Speicher, auf dem sich Individualität begründet. Die neurowissenschaftliche Forschung neueren Datums schlägt jedoch ein anderes Erklärungsmodell der Erinnerung vor, in dem Schlüsselelemente aus den Erlebnissen herausgefiltert und behalten werden, die dann nach aktuellen Prioritäten des Ichs aufgerufen werden. Erinnerungen werden so statt als Kopien als Konstruktionen aufgefasst, denen wir Gefühle oder nachträgliche Informationen zuschreiben können.199 Diese Neueinschreibung der Gedächtnisspur nach ihrer Reaktivierung oder, nach dem konnektivistischen Netzwerkmodell, die Entstehung eines ähnlichen Erregungsmusters wie bei der ersten Erfahrung soll ein kritisches Bewusstsein dafür schärfen, dass es keine Erinnerung ohne ge-

196 Yates, [1966] 2012, S. 39. 197 »Vor einiger Zeit ist nun unter dem Namen Wunderblock ein kleines Gerät in den Handel gekommen, das mehr zu leisten verspricht als das Blatt Papier oder die Schiefertafel. Es will nicht mehr sein als eine Schreibtafel, von der man die Aufzeichnungen mit einer bequemen Hantierung entfernen kann. Untersucht man es aber näher, so findet man in seiner Konstruktion eine bemerkenswerte Übereinstimmung mit dem von mir supponierten Bau unseres Wahrnehmungsapparats und überzeugt sich, daß es wirklich beides liefern kann, eine immer bereite Aufnahmsfläche und Dauerspuren der aufgenommenen Aufzeichnungen« (›www. textlog.de/freud-psychoanalyse-notiz-wunderblock.html‹, 07.08.2015.) 198 Häcker /Stapf, 1998, S. 223. 199 Schacter, [2001] 2007, S. 21. 85

Erinnerung und Intersektionalität

brauchsabhängige Veränderungen gibt.200 Relevant sind allerdings auch die Vorbehalte, die der Psychoanalytiker Werner Bohleber in Bezug auf eine Einbettung traumatischer Erlebnisse in die allgemeine Funktionsweise psychischer Realität erhebt. Die durch Trauma induzierte Abspaltung seelischer Bereiche weist auf eine außerordentliche Reaktion, auf einen Notstand der Psyche hin, bei dem anzunehmen ist, dass er sich nicht mit dem Erklärungsmodell allgemeiner Aktivität beschreiben lässt.201 Daher ist die Frage der Transkription und Artikulation der körperlichen bzw. seelischen Schmerzen, die in eine traumatische Erfahrung eingebettet sind, ein Schlüsselthema für die Humanwissenschaften, die Historiographie und die Literatur, hier insbesondere in Bezug auf die Literarisierung massiven Leidens, wie bei der Literatur der Shoah oder eben in den Werken im postdiktatorischen Argentinien, die sich mit der Repressionserfahrung befassen. Auf einen theoretischen Rahmen, der den hier erwähnten konstruktiven Charakter der Erinnerung auf der Ebene eines kulturellen Gedächtnisses berücksichtigt, baut die Theorie der transkriptiven Bezugnahme nach Ludwig Jäger auf, die im Nachfolgenden skizziert wird.

2.3 Die Spur und die Prozesse der Bildung des kulturellen Gedächtnisses Aus einer historischen Perspektivierung ereignen sich die anhand ihrer Attribute dargestellten Lektüren der Spur der argentinischen Staatsrepression in einem dem Ereignis relativ nahen Umfeld von 30 bis 40 Jahren. Sie bilden die Voraussetzung für das Verfahren der Konstruktion kultureller Erinnerung und verlaufen wie alle Erinnerungskulturen − oder kulturellen Erinnerungspraktiken − »prozesshaft und performativ und sie sind meist umkämpft«202. In den Konzeptualisierungen des Gedächtnisses und der Erinnerung, die Jan und Aleida Assmann mit ihrem Wirken seit Ende der 80er Jahre vorgenommen haben und die wichtige Elemente dessen sind, worauf das kulturwissenschaftliche Paradigma der Gedächtnisforschung in Deutschland seitdem begründet ist, befindet sich das argentinische Gedächtnis der Staatsrepression heute noch in seinem kommunikativen bzw. funktionalen Rahmen – innerhalb dessen, was als kommunikatives Gedächtnis203 oder Funktionsgedächtnis204 bezeichnet wird. Dieser 200 Assmann, A., 2006, S. 134. 201 Bohleber, 2011, S. 15. 202 Erll, 2012, S. 260. 203 Assmann, J., [1992] 2007, S. 48-56. 204 Assmann, A., [1999] 2010, S. 138. 86

Teil I – Die Konzepte der Intersektionalität und der Spur in der Erinnerungsarbeit

Rahmen wird durch das Merkmal der biographischen Erinnerung – der Erinnerung im Körper − charakterisiert und im alltäglichen Austausch von Zeitgenoss_ innen ausgeformt; sie ist nach Aleida Assmann ein »bewohntes« Gedächtnis205. Ihre sozusagen destillierte Form, die sich über einen langen Zeitraum von mehr als 100 Jahren ausbildet, ist das, was Jan Assmann im Rückgriff auf Maurice Halbwachs’ Konzept der cadres sociaux de mémoire (das auch der o.g. Begrifflichkeit des Rahmens zugrunde liegt) das kulturelle Gedächtnis206 nennt und Aleida Assmann als Speichergedächtnis207 bezeichnet. Nach ihrer Darstellung ist das kulturelle bzw. Speichergedächtnis durch Zeremonien, Riten und Feste stark vergegenständlicht, seine Elemente müssen von Experten (wie Priestern, Lehrern, Barden und Archivaren, den sog. »Wissensbevollmächtigten«208) aufgerufen und interpretiert werden. Dieses Gedächtnis wirkt wie ein Reservoir kultureller Zeichen, die auf lebendige Spurenleser warten, um dekodiert und in den dynamischen Teil des Gedächtnisses übertragen zu werden. Alternativ zur Assmann’schen Beschreibung verschiedener Gedächtnisarten schlägt Ludwig Jäger für den Prozess der Bildung kultureller Gedächtnisse ein dynamischeres Modell der Erinnerung als transkriptive Bezugnahme vor, in dem die Spur als eines seiner Prinzipien fungiert.209 Jäger betont, dass die Verfahren zur Formung des kulturellen Gedächtnisses notwendigerweise multimedial (intra- und intermedial) operieren und ihre Logik durch Transkriptivität bestimmt ist. Diese Logik lässt »einen engen, vielleicht sogar konstitutiven Zusammenhang von Erinnern und Vergessen sichtbar werden«.210 In seiner zeichen- und erkenntnistheoretischen Annäherung konstatiert Ludwig Jäger, dass nur über die mediale Spur die begriffliche Differenzierung der Welt und die Genese des Bewusstseins möglich sind, denn darauf »liest« das mentale System seine eigene Zeichenaktivität im Netzwerk sozialer Sprachspiele.211 Erst in der Spurenlese, der Re-Lektüre, in der der »Geist« der medialen Spur der eigenen mentalen Aktivität begegnet, in der Transkription des Mentalen in die semiologischen Register des Medialen, kann sich begriffliche Distink205 Ebd. 206 Halbwachs, [1992] 2007, S. 52f. 207 Assmann, A., [1999] 2010, S. 140. 208 Assmann, J., [1992] 2007, S. 54. 209 Jäger, L., 2011, S. 81-105. 210 Jäger, L., 2013, S. 265. 211 Jäger, L., 2001, S. 18. 87

Erinnerung und Intersektionalität tivität einstellen und ein Subjekt möglicher begrifflicher Unterscheidungshandlungen konstituieren.212

Jäger erinnert daran, dass nach Jacques Derrida die Vorgängigkeit von Sinn immer und notwendigerweise auf die Nachträglichkeit einer medialen Spur der eigenen mentalen Aktivität bezogen ist. Diese Tatsache resultiert in einer Aufwertung des Signifikants, der sich als von grundlegender Bedeutung für die Konstitution des Signifikats erweist, denn ein Bezeichnetes kann nicht unabhängig von der Phänomenhaftigkeit des Zeichens existent sein.213 Sinn tritt in »Operationen des Differierens« auf, er wird in einem Prozess der wiederschreibenden, re-mediatisierenden Bezugnahme generiert, der nicht nur für die Konstitution von aktuellem Wissen, sondern auch, gerade durch die Nachträglichkeit des Erinnerns, für die Bildung historischer Wissensbestände Gültigkeit hat.214 Damit widerspricht Jäger auch in Bezug auf die Erinnerung der Idee, Sprache sei ein semiotisches Werkzeug, das bei korrekter Anwendung eines Codes störungsfreie Transparenz und Identität von Sinn garantiert. In der Interaktion muss sich geteiltes Wissen immer wieder von neuem bewähren. Eine Selbstpräsenz des cogito, charakteristisch für das aristotelisch-cartesianische Denken, ist hinfällig, denn es gibt keinen transsubjektiven Geltungsort von Sinn. Erst im Individuum erhält Sinn seine letzte Bestimmtheit. »Es gibt also keinen sprachtranszendenten Zeichenkosmos, den die Sprache lediglich repräsentiert, sondern eine kontinuierliche Probe, ob die Vorstellungen identisch konstruiert sind.«215 Das Konzept der transkriptiven Bezugnahme wird durch drei weitere Prinzipien vervollständigt: die Prinzipien der Interpretation, der Medialität und der Störung. Beim Interpretationsprinzip wird festgehalten, dass die Möglichkeit, mit Zeichen auf Zeichen Bezug zu nehmen, die Voraussetzung dafür ist, dass Medienakteure bei Bedarf ein semantisches Netzwissen bezugnehmend transkriptiv aktivieren können. D.h. Semantiken verdanken sich Zeichensystemen, die es erlauben, weitere semiologische Eintragungen in eine semiologisch konstruierte Welt vorzunehmen. Für eine Theorie transkriptiver Bezugnahme legt diese Feststellung das Prinzip frei, dass auch hier – wie beim Spurprinzip – der Bezug medial vermittelt ist. Für eine Theorie des kulturellen Gedächtnisses impliziert dies, dass die Verfahren der Erinnerungen in Archiven und Depots Skripturen finden,

212 Jäger, L., 2011, S. 88. 213 Ebd. 214 Ebd., S. 90. 215 Jäger, L., 2001, S. 27. 88

Teil I – Die Konzepte der Intersektionalität und der Spur in der Erinnerungsarbeit

»die der Logik transkriptiver Bezugnahme unterworfen sind«216. Im Prinzip der Medialität seiner Theorie räumt Jäger mit der tradierten Vorstellung auf, Medien transportierten lediglich Informationen. Das Mediale an den Zeichen ist nicht nur Bedingung der Möglichkeit ihrer Übertragbarkeit, sondern der Sinnbildung selber217, womit Sinn bescheinigt wird, nicht der sprachlichen Semiose vorauszugehen, sondern interaktiv konstruiert und intersubjektiv geteilt zu werden.218 Damit hebt Jäger hervor, dass Medien weder leere Formen sind, die Akteure mit ihren Absichten beleben, noch eine Art »behutsames Lesegerät«, dem sich ein Sinn erschließt, der bis dorthin als rohe Erfahrung im cogito murmelnd darauf wartete, erkannt zu werden. Medien können nach dieser Vorstellung nicht mehr als Spiegel gedacht werden, die das Geheimnis des eigenen Wesens der Dinge in das Bewusstsein rückprojizieren.219 Um das letzte Element seiner Theorie, das Störungsprinzip, zu zeichnen, beschreibt Jäger Transkription als »Übergang von Störung zu Transparenz, von De- zu Re-Kontextualisierung der fokussierten Zeichen/Medien«.220 Transparenz wird von Jäger als ein Funktionsstadium der unproblematischen Geltung verhandelter Semantiken verstanden und nicht als quasi ontologische Eigenschaft der Medien. Störung, auf der anderen Seite, ist der Zustand in der Medienkommunikation, in dem ein Medium in seiner Materialität wahrgenommen und re-semantisiert wird. Als entgegengesetzter Pol zu Transparenz ist Störung der Ausgangspunkt für das transkriptive Verfahren der Re-Mediation. Die Fragilität der ungestörten Geltung von Semantiken ist in die Medienkommunikationen eingeschrieben, so dass das Prinzip Störung ein Feld medialer Operationen kennzeichnet, die anhaltend zwischen instabiler Transparenz und den Prozessen transkriptiver Re-Mediationen wirken. Weil Sinn nicht aus systemtranszendenten Quellen geschöpft wird, treten die Zeichen- und Mediensysteme, aus denen sich die Semantik von Kulturen nährt, fortwährend in Prozesse der re-mediatisierenden und re-konzeptualisierenden Bezugnahmen ein. Transkriptive Bezugnahmen, die die Verfahren der Erinnerungen bestimmen, so die These Ludwig Jägers, machen nicht nur wieder lesbar, was unlesbar geworden ist. Indem sie Bezug nehmen – die Spur lesen –, verschieben, überschreiben, verbergen oder löschen sie Sinn:

216 Jäger, L., 2011, S. 94. 217 Koch /K rämer, 1997, S. 12. 218 Jäger, L., 2001, S. 24. 219 Jäger, L., 2011, S. 95. 220 Ebd., S. 96. 89

Erinnerung und Intersektionalität Als mediale Bezugnahmen vermögen sie [die Erinnerungen] die Lesbarkeit von Wissen in den Archiven des kulturellen Gedächtnisses zu erhalten oder zuallererst herzustellen, sie können es aber auch überschreiben und aus dem Horizont der Lesbarkeit für gewisse Zeiträume oder für immer exkludieren.221

Diese Qualität der transkriptiven Bezugnahme macht die Relevanz der Deutungskämpfe hinsichtlich vergangener Ereignisse umso deutlicher. Die Tatsache der sozialen Konstruktion des Gedächtnisses zeigt darüber hinaus die Hinfälligkeit der Versuche einer monolithischen Repräsentation der Vergangenheit. Im Verfahren der Bildung eines Gedächtnisses der Repression soll daher berücksichtigt werden, wie sich die Erinnerung am Zeichen konstituiert angesichts dessen, dass es sich hier um Ereignisse handelt, die von Negativität geprägt sind. Reinhart Koselleck reflektierte 2002 aus der Perspektive eines deutschen Historikers mit einem profunden Wissen über die Nazizeit und ihre gesellschaftliche Aufarbeitung über die Besonderheit eines negativen Gedächtnisses: Von einem negativen Gedächtnis zu sprechen […] ist doppeldeutig, denn entweder meint das Negative im Gedächtnis, dass der Inhalt, der darin gespeichert wird, abstößt, unwillkommen ist, verächtlich und verachtenswert, oder das Negative bedeutet uns, dass das Gedächtnis sich der Erinnerung sperrt, sich weigert das Negative überhaupt zur Kenntnis zu nehmen: also verdrängt und so der Vergangenheit überantwortet und der Vergessenheit ausliefert. Beides, der grauenerregende Inhalt und die Weigerung ihn aus dem Gedächtnis in die Erinnerung zu überführen, hängt natürlich eng zusammen. Das eine verweist auf das andere und führt uns unmittelbar in die geschichtliche Problematik, wie Verbrechen überhaupt zu erinnern seien.222

Die Negativität, auf die Koselleck hinweist, beinhaltet sowohl den Aspekt der Wertung als auch den der Emotionalität. Von der emotionalen und kognitiven Schwierigkeit, mit der Negativität des Gedächtnisses umzugehen, zeugen gerade auch die Prozesse der Introjektion und der Extrojektion, auf die Alberto Moreiras aufmerksam macht und die er 1993 für die (Individuen der) lateinamerikanischen postdiktatorischen Gesellschaften als charakteristisch sieht, wie bereits am Anfang dieses Kapitels dargestellt. Aufgrund der Negativität mag es im Hinblick auf die Lesbarkeit der Spuren der argentinischen Repression also 221 Ebd., S. 100. 222 Koselleck, 2002, S. 21. 90

Teil I – Die Konzepte der Intersektionalität und der Spur in der Erinnerungsarbeit

in besonderem Maße zu Verschiebungen, Überschreibungen und Löschungen von Sinn kommen. An dieser Qualität der Erinnerung, ihrer Negativität, zeigen sich für Koselleck eben auch die Grenzen dessen, was kollektive Gedächtnisse leisten können: All das lässt sich vielleicht, und schwer genug, erzählen, aber daraus abzuleiten, dass es – wie man heute zu sagen beliebt – ein kollektives Gedächtnis oder gar eine kollektive Erinnerung gäbe, die davon […] Zeugnis ablegen könnten, ist ein wohl gemeinter Trugschluss. Die in den Leib gebrannte Erfahrung der absurden Sinnlosigkeit lässt sich, als Primärerfahrung, nicht in das Gedächtnis anderer oder in die Erinnerung nicht Betroffener übertragen. Mit dieser negativen Botschaft müssen wir Zeitgenossen oder Nachgeborenen umzugehen lernen.223

Koselleck unterstreicht den privaten, ja fast intimen Aspekt des Leids, das durch die schmerzvolle Extremerfahrung sozialer Gewalt hervorgerufen wurde und für Nicht-Betroffene als bleibende Exteriorität und ethischer Imperativ des Mitgefühls verstanden werden soll. Die Spuren der Primärerfahrung werden hier und jetzt von den Zeug_innen der sozialen Gewalt der argentinischen Diktatur gelesen und finden in ihren Narrationen unterschiedlich Niederschlag. Auch fiktionale Texte setzen sich mit diesem negativen Gedächtnis auseinander und beleuchten vergangene Erfahrungen von sozialem Ausschluss und Bevormundung und geben den Figuren ihrer Inszenierungen das Gefühl der eigenen Würde, den sense of dignity, zurück. Zusammenfassend wird festgehalten, dass seit der letzten Diktatur die Erfahrungen des massenhaften Einzelnen in der Mitte einer öffentlichen Debatte stehen, die mitgestaltet, wie die Staatsrepression in das kulturelle Gedächtnis transkribiert wird. ***

223 Ebd., S. 24. Reinhart Koselleck befasst sich in seinem Aufsatz auch mit der Zukunft dieser negativen Erinnerung, die für die Deutschen die Täterschaft und die Taten selbst mit einbeziehen muss. Bei einer Unterscheidung zwischen vier Formen der Erinnerung, die das moralische Urteil, die wissenschaftliche Erklärung, das religiöse Eingedenken und die ästhetische Gestaltung umfasst, mahnt er, diese seien nicht ausreichend: »[D]ie Frage des Wie [der Erinnerung] muss jeden Tag neu durchdacht werden« (Koselleck, 2002, S. 32). 91

Erinnerung und Intersektionalität

Die Konzepte der Spur und der Intersektionalität wurden in diesem ersten Teil mit dem Ziel untersucht, einen doppelten Bezugsrahmen (mit den Stichworten Frauen und Erinnerung zusammengefasst) zu skizzieren, der der Komplexität der Verbindung beider im Kontext dieser Untersuchung zentralen Elemente Rechnung trägt. Als Instrument der feministischen Gesellschaftskritik entstand das Konzept der Intersektionalität in der Reflexion über die Ungleichheiten, die es selbst beschreibt. Die Auseinandersetzung mit seinen als Konnex begriffenen Differenzkategorien entzieht jeglichem essentialistischen Denken der menschlichen Conditio bzw. des humanen Verhaltens seine Grundlage. Die Anwendung des Intersektionalitätskonzeptes stellt mit Deutlichkeit die Diskursivität von Exklusion heraus – und weist damit auf die ihr innewohnende Chance ihrer Unterbrechung hin. Anhand dieses Konzepts kann die Zugehörigkeit/Zuordnung zu einer ausgegrenzten politischen Gruppe als Differenzkategorie analysiert werden, auch wenn politische Zugehörigkeit/Zuordnung paradigmatisch dafür ist, dass sie nur als Momentaufnahme und keinesfalls als Wesenszug angesehen werden kann – und doch wurde sie während der argentinischen Repression als inhärent wahrgenommen. Diese Erkenntnis der diskursiven Radikalisierung von Differenzkategorien als Voraussetzung der Verfolgung bedingt den Schwerpunkt des zweiten Teils dieses Buches. Darin wird eine Rückblende auf die Geschichte Argentiniens vorgenommen, bei der die diskursiven Grundlagen der Verfolgung eruiert werden, um anschließend durch die sprachlichen Indizien im Diskurs der Folter die Umstände ihrer Umsetzung zu besprechen. Anhand des kulturwissenschaftlichen Konzepts der Spur wurde im zweiten Abschnitt dieses ersten Teils u.a. ein grundlegendes Verständnis für die Arten und Weisen der individuellen und sozialen Erinnerungen an das negative Ereignis des argentinischen Staatsterrors hergestellt. Dabei sollte das Gespür für eine möglichst mehrschichtige Lektüre der Diskurse der Staatsrepression und der literarischen Re-Mediationen von Autorinnen geschärft werden, die in der argentinischen Postdiktatur zur Gedächtnisbildung beitragen. Aus dieser Reflexion heraus wird in Teil III drei Aspekten besondere Aufmerksamkeit geschenkt: erstens, wie die Spur der argentinischen Staatsrepression vor dem Hintergrund der Negativität der Ereignisse gelesen wird, d.h. zu welchen Verschiebungen und Überschreibungen von Sinn es in den letzten Jahren gekommen ist; zweitens, angesichts dessen, dass die transkriptive Bezugnahme eine Handlung der Gegenwart ist, durch welchen jeweils aktuellen Anlass die Erinnerung(sarbeit) ausgelöst wird; und drittens, im Hinblick auf ihre Wirkung, welche Transformationen in der Wahrnehmung der Opfer der Staatsrepression bei jeder neuen Lektüre der Spur der Vergangenheit in den jeweils gegenwärtigen Kontexten 92

Teil I – Die Konzepte der Intersektionalität und der Spur in der Erinnerungsarbeit

angestoßen werden. Zunächst aber werden dort die Deutungsansätze beleuchtet, die das diskursive Spannungsfeld beschreiben, in dem die strafrechtliche Verfolgung der desapariciones forzadas in der Postdiktatur stattfindet: Hat sich in Argentinien ein Krieg ereignet – oder doch ein Genozid? Um diesen Deutungsbereich im Sinne festgestellter Praktiken zu kontextualisieren, befasst sich Teil II mit dem zeitgenössischen Umfeld und dem historischen Terrain, aus dem der Vernichtungszug gegen Andersdenkende seine Kraft schöpfte. Als systematische Praxis der Verfolgung wird dann die Loyalitäten zerstörende Folter und ihre Wirkung untersucht. Da die Folter für Dritte als klandestine Praxis und in ihrer Materialität schwer zu erfassen ist, wird zu ihrer Untersuchung ihre sprachliche Spur als Beweis herangezogen. Entgegen der Disziplinierungskraft der Folter werden dabei die (wenn auch geringen) Räume des Widerstandes im Lager und in der Gesellschaft beleuchtet und es wird auf den Kampf der Mütter und Großmütter der Plaza de Mayo eingegangen.

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CARLOS ALONSO. Amanecer Argentino [Argentinischer Sonnenaufgang]| 1984 | Acryl auf Leinwand | 180 x 130 cm Roxana Olivieri | RO Galería de Arte, Buenos Aires | www.roart.com.ar/

Teil II Nation und die Subjekte/Körper der Rebellion

Was trieb die argentinischen Streitkräfte dazu, einen Teil der eigenen Bevölkerung auszurotten? Worin bestand die außerordentliche Bedrohung, die von der revolutionären Jugend der 70er ausging? Rationell geleitet und rigoros in der Umsetzung führten die Streit- und Sicherheitskräfte des argentinischen Staates zwischen 1975 und 1983 einen radikalen Vernichtungszug gegen einen Teil der eigenen Bevölkerung. Bedingung für die genozidalen Praktiken war eine diskursive Radikalisierung, die subalternierendes Denken – gefolgt von exterminatorischem Handeln – gegenüber Menschen transportierte, die pauschal als »subversivos«, d.h. dem linken Lager und der rebellischen jungen Generation zugehörig, abgestempelt wurden. In den Mittelpunkt des zweiten Teils wird die Entwicklung dieser diskursiven Radikalisierung gestellt und dafür eine selektive Rückblende auf die Geschichte Argentiniens vorgenommen, bei der punktuell die historischen Grundlagen der Verfolgung eruiert werden. Ein Blick auf die Umstände der 60er und 70er Jahre soll dazu beitragen, spätere Ereignisse und die damit verbundenen Narrationen in eine kulturhistorische und diskurspolitische Perspektive einzuordnen. Neben den internationalen Zusammenhängen wird hier der Resonanzkörper historischer Begebenheiten skizziert, der für die Einwanderungsgesellschaft Argentinien charakteristisch ist und fundamentale Koordinaten für den gesellschaftlichen Aufbruch der 60er und 70er Jahre darstellt. Anschließend werden anhand der sprachlichen Indizien im Diskurs der Folter die Umstände ihrer systematischen Anwendung betrachtet. Neben die korrumpierende Kraft der Peinigung wird die des Widerstandes gesetzt, der während der argentinischen Staatsrepression in den geheimen Lagern geleistet wurde und paradigmatisch durch den Kampf der Mütter und Großmütter der Plaza de Mayo öffentlich verkörpert wurde. 95

Erinnerung und Intersektionalität

1. Zwischen Utopien und Gewalt Die fehlende Leidenschaft für das Soziale und die Trostlosigkeit und Skepsis der Intellektuellen charakterisierten nach dem Historiker Eric Hobsbawm die Stimmung in den westeuropäischen Staaten der unsicheren Nachkriegszeit.1 Als Ankündigung der Wende zu den 60ern und damit zu den Zeiten des sozialen Umbruchs hebt Hobsbawm Ernst Blochs Werk Das Prinzip Hoffnung hervor, jenes umfangreiche Buch, das im langen amerikanischen Exil verfasst wurde und dessen Grundidee dem deutsch-jüdischen Intellektuellen das Überleben während der Nazi-Herrschaft ermöglichte: die Überzeugung, dass der Mensch ein Hoffnungstier ist, eine Idee, die in seinem Konzept der konkreten Utopie ihr Korrelat findet. Die Vielfalt des Utopischen und die Auseinandersetzung mit den Sozialutopien sollten, wie Ernst Bloch in seinem im Jahr 1959 veröffentlichten Werk antizipierte, nicht nur atmosphärisch eine große Rolle in den westlichen Gesellschaften der 60er und 70er Jahre spielen; die Publikation Blochs fiel mit einem Schlüsselereignis zusammen, das seine Thesen zu konstatieren schien: Der Sieg der kubanischen Revolution über die Diktatur von Fulgencio Batista am 1. Januar 1959 setzte die Möglichkeit der Lebbarkeit von Sozialutopien oben auf die Agenda der Jugend Lateinamerikas.2 Der Appell zur Emanzipation der Guerilleros strahlte in alle Bereiche des (öffentlichen) Lebens aus. In der Sphäre des Glaubens entstand die Theologie der Befreiung, eine Kirche der Armen, die sich für eine auf der Bergpredigt basierende Lektüre der Bibel einsetzte und gegen soziale Ungerechtigkeit gesellschaftskritisch intervenierte. Diese Bewegung erstreckte sich lateinamerikaweit und zählte u.a. vom 1980 ermordeten Erzbischof von El Salvador, Óscar Romero, und dem Gegner der Militärdiktatur und sich gegen die Folter erhebenden Erzbischof von São Paulo, Paolo Evaristo Arns, über den peruanischen Theologen Gustavo Gutierrez und seinen brasilianischen Gegenpart Leonardo Boff bis hin zu den Guerillapriestern Camilo Torres in Kolumbien und Ernesto Cardenal in Nicaragua zu ihren Vertretern. Auch die Pädagogik erfand sich in der Befreiungspädagogik des Brasilianers Paolo Freire neu und bot den Subjekten der Unterdrückung ein aktivierendes und ermächtigendes dialogisches Verständnis von Kultur an; Augusto Boal entwickelte, ebenfalls in Brasilien, das Theater der Befreiung, das Kunst, Erfahrung und politisches Handeln vereinen wollte. Und Enrique Dussel begründete 1 Hobsbawm, [1961, 1973] 2008, S. 190-197. 2 Bezeichnenderweise nannte Ernesto Che Guevara ganz im Sinne Blochs seine zwischen 1956 und 1957 verfassten Tagebücher über die kubanische Guerilla La conquista de la esperanza (dt.: Die Eroberung der Hoffnung). 96

Teil II – Nation und die Subjekte/Körper der Rebellion

in Argentinien mit seiner »Philosophie der Befreiung« eine neue philosophische Schule, die aus der Perspektive der Bedürfnisse der Armen und Unterdrückten heraus Theorie zu schreiben versuchte. Die Aufbruchsstimmung dieser Zeit breitete sich allerdings nicht nur in der Sphäre des Öffentlichen aus, in Ländern wie Argentinien umfasste sie u.a. mit dem massiven Eintritt von Frauen in die aktive politische Mitgestaltung, auch im Privaten eine Reformulierung der Beziehungen zwischen den Geschlechtern. Aus heutiger Sicht steht jene revolutionäre Zeit im Schatten der Vernichtung und des Todes, die den Befreiungsbewegungen folgten und somit vorläufig die Hoffnung zerstörten, soziale Utopien könnten auf dem Kontinent rasch und radikal umgesetzt werden. Zu Beginn der revolutionären Phase mag die Gewalt, die einige als Weg der sozialen Transformation wählten, als kleineres Übel angesehen worden sein, so sehr war die Lebenssituation der Menschen in Lateinamerika selbst von Formen der sozialen Gewalt geprägt.

1.1 Kalter Krieg und nationale Sicherheit Die Zeit unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und bis zum Mauerfall wird von Eric Hobsbawm als die Zeitspanne eines »eigenartigen« Dritten Weltkrieges bezeichnet. Eigenartig, weil zwar die Zeit vom Willen beider Lager, der USA und der Sowjetunion, sich zu bekriegen, beherrscht wurde, es in der Rückblende jedoch paradox erscheint, dass trotz ständiger gegenseitiger Abschreckung durch die ausgleichenden diplomatischen Bemühungen Anerkennung und Akzeptanz des Einflussbereichs des jeweiligen Kontrahenten im Vordergrund standen.3 Die Menschen in Europa, den USA und der Sowjetunion litten sehr im Schatten eines möglichen atomaren Vernichtungsschlags und insbesondere an den Ängsten, die eine apokalyptische Rhetorik heraufbeschworen hatte. Sie erlebten jedoch die längste Friedenszeit seit dem 19. Jahrhundert. Währenddessen wurde die sogenannte Dritte Welt zum ständigen Kriegsgebiet. Aus der Perspektive des Westens, so Hobsbawm, war der Kalte Krieg im Glauben begründet, das Katastrophenzeitalter sei noch längst nicht zu Ende und die Zukunft des Weltkapitalismus und der liberalen Gesellschaft noch lange nicht gesichert.4 In der unmittelbaren Nachkriegszeit erhielten die Einflussbestrebungen der UdSSR in der Türkei, in Griechenland und im Iran nicht zuletzt durch die Situation in Deutschland und Österreich eine Lektüre als imminente Bedrohung. Daraufhin verlautbarte der Präsident der USA, Harry Truman, im März 3 Hobsbawm, [1998] 2009, S. 286. 4 Ebd., S. 291. 97

Erinnerung und Intersektionalität

1947: »It must be the policy of the United States to support free peoples who are resisting attempted subjugation by armed minorities or by outside pressures.«5 Auf der Grundlage des kurz danach vom amerikanischen Kongress abgesegneten präsidentiellen Erlasses, auch Truman-Doktrin genannt, wurden die Armee umorganisiert, die Außenpolitik neugeordnet, die CIA und das Verteidigungsministerium gegründet sowie der National Security Council gebildet. Die Truman-Doktrin wurde von der Vorstellung der unmittelbaren Gefahr einer Aggression und eventuellen Invasion durch die Sowjetunion gesteuert; innenpolitisch fand sie in der Hexenjagd des McCarthyismus den Höhepunkt eines Kampfes gegen einen vermeintlichen kommunistischen Feind im Lande, während außenpolitisch eine Politik des containment, der Eindämmung gegen den Einfluss der UdSSR, angestrebt wurde. Für Lateinamerika war die Truman-Doktrin besonders folgenreich. So unterschrieben die lateinamerikanischen Länder in Rio de Janeiro noch im selben Jahr den Interamerikanischen Vertrag über gegenseitigen Beistand (Tratado Interamericano de Asistencia Recíproca, TIAR) und vereinheitlichten damit unter der Leitung der USA ihre Militärstrategien. Die Gründung der OAS (Organisation Amerikanischer Staaten) 1948 gab den Organen des TIAR, dem Interamerikanischen Verteidigungsrat (Junta Interamericana de Defensa, JID) und dem Interamerikanischen Verteidigungskolleg (Colegio Interamericano de Defensa, CID) eine rechtlich-politische Plattform.6 Mit der Prognose eines atomaren Angriffs seitens der UdSSR für das Jahr 1954 verabschiedete der National Security Council im April 1950 das Memorandum 68 und damit nicht nur ein millionenschweres Militärbudget für das eigene Land, sondern auch solvente Programme militärischer Hilfe für Lateinamerika. Trainingsmaßnahmen auf Kuba, in Panama und später in Fort Benning trugen in hohem Maße zur Verbreitung des US-amerikanischen Diskurses der nationalen Sicherheit unter den militärischen Eliten der Länder Südamerikas bei und zum damit verbundenen technologischen Transfer. Die School of the Americas instruierte lateinamerikanische Offiziere auf Spanisch und Portugiesisch und forderte die militärische Arbeitsteilung nach den Vorstellungen Washingtons.7 Das Ideologem der nationalen Sicherheit und seine antikommunistische und kontrarevolutionäre Ausprägung wurden zwischen 1950 und 1969 an 54.000 lateinamerikanische Offiziere vermittelt, zu 30 % als technisches Training und

5 Der vollständige Text der Truman Doctrine ist abrufbar unter: ›http://avalon.law. yale.edu/20th_century/trudoc.asp‹, 24.05.2015. 6 Leal Buitrago, 2003, S. 78. 7 Velázquez R ivera, 2002, S. 18. 98

Teil II – Nation und die Subjekte/Körper der Rebellion

zu 70 % als politische Indoktrination.8 Kern des Ideologems war die Vorstellung eines internen Feindes (Mensch, Gruppe oder Institution), eines Agenten des Kommunismus, der in der Zivilbevölkerung lauerte. Innerhalb dieser Logik lag es nahe, den sozialen Wandel und die sozialen Konflikte dieser Zeit als Manifestationen des Wirkens ebendieses Feindes zu begreifen. Mit dem tatsächlichen Aufkommen der Guerillabewegungen in Lateinamerika Anfang der 60er Jahre bestätigte sich für die militärischen Eliten die Notwendigkeit der Übertragung von militärischen Strukturen und Vorstellungen auf den Staat und die Gesellschaft. Die ersten Guerillagruppierungen wurden in Argentinien allerdings erst später aktiv: Die guevaristischen FAR (Fuerzas Armadas Revolucionarias) traten zum ersten Mal 1970 mit einer bewaffneten Aktion in der Öffentlichkeit auf. Die Regierung von General Juan Carlos Onganía (1966-70) hatte jedoch vorgegriffen und eine Militarisierung gesellschaftlicher Institutionen bereits umgesetzt. Leal Buitrago hebt zwei wesentliche Merkmale der in ganz Lateinamerika angewandten »Doktrin der nationalen Sicherheit« hervor: erstens die Tatsache, dass dadurch das Militärische und seine Ideologie über die soldatischen Funktionen hinausgehend in die Mitte der Gesellschaft gestellt wurden, und zweitens die Besonderheit, dass ihre Entstehung in ideologischen und politischen Umständen begründet war, die außerhalb der Region und außerhalb der eigenen militärischen Institutionen zu finden waren.9 Erst ab den 80er Jahren mit der Menschenrechtspolitik der Regierung James Carter und mit der sich verändernden internationalen Konjunktur verlor Lateinamerika an strategischer Bedeutung für die USA, die daraufhin ihren Einfluss auf »low intensity conflicts« konzentrierten. Nach Meinung des Friedensforschers Michael Klare nahmen diese Konflikte verschiedene Formen wie Verteidigung gegen fremde Interventionen, Unterstützung von Aufständen, kontingente Kampfhandlungen in Friedenszeiten, Aktionen gegen den Terrorismus, Antidrogenkampagnen und Friedensmissionen an.10 Für Lateinamerika hatte dieser Paradigmawechsel nach rund einem Jahrhundert der Proliferation diktatorischer Regierungen die Folge, dass Diktaturen auf dem Kontinent rar wurden.

8 Ebd. 9 Leal Buitrago, 2003, S. 75. 10 K lare, 1988, S. 55-74. 99

Erinnerung und Intersektionalität

1.2 Der peronistische Diskurs: »Perón o muerte«11 Während eine geopolitische Lektüre des globalen Geschehens in verschiedenen nationalen Varianten der Doktrin der nationalen Sicherheit ihre lateinamerikanische Umsetzung fand, gewannen in den 60er Jahren die Theologie der Befreiung nach dem Puebla-Konzil (1962-65) und die Ideale Che Guevaras nach der kubanischen Revolution (1959) in ganz Südamerika zunehmend an Zuspruch. Der argentinische Kontext für diese Entwicklung war durch den im spanischen Puerta de Hierro im Exil lebenden Generalleutnant Juan Domingo Perón bestimmt, dessen Figur zu Lebzeiten genauso relevant wie strittig war. Da der Peronismus ideologisch gesehen ambivalent war, hingen die Peronisten an den Lippen ihres Führers, der eine wechselnde Lektüre seiner Doktrin gab12; die Frage, was der General alles noch zum Guten hätte wenden können, bot nach seinem Sturz 1955 viel Interpretationsraum. In vielen Punkten mit dem Programm des italienischen Faschismus vergleichbar, bestach das Wirken Peróns durch eine noch nie da gewesene Politik der Umverteilung, was Perón die endlose Dankbarkeit und Adhäsion breiter Bevölkerungsschichten sicherte. Mit der charismatischen Figur seiner zweiten Frau Evita als Bastion der Gerechtigkeit steigerte sich die Verbundenheit des Volkes schon vor ihrem Tod 1952 zu einer bedingungslosen Verehrung. Perón hatte seinen politischen Durchbruch als Arbeitsminister der Militärregierung von 1943 bis 1946 erlebt, als er die Stimmen großer Teile der Arbeiterbevölkerung für sich gewinnen konnte. Während seiner Amtszeit als Minister hatte die argentinische Arbeiterklasse ein neues Selbstbewusstsein errungen, z.B. durch direkte Lohnverhandlungen zwischen Arbeitgebern und Arbeiterschaft, die zum ersten Mal und auf Augenhöhe im Büro des Arbeitsministers stattfanden. Peróns Wahrnehmung der arbeitenden Bevölkerung als politischer Akteur wurde durch seine Wahl zum demokratischen Präsidenten Argentiniens 1946 mit der großen Zustimmung industrieller Arbeiter anerkannt. Durch die Weltkonjunktur hatte sich im Umfeld des Aufstiegs Peróns die Struktur der arbeitenden Bevölkerung Argentiniens stark verändert. Zwischen 1934 und 1943 waren jährlich etwa 72.000 Migranten aus dem Landesinneren in die Vororte der 11 »Perón oder Tod!« war ein Slogan der Peronistischen Bewegung Montoneros, der sich an die Devise der kubanischen Revolution »Patria o muerte« [Vaterland oder Tod!]) anlehnt. Der Slogan findet sich im Titel des Buches von Silvia Sigal und Eliseo Verón Perón o muerte. Los fundamentos discursivos del fenómeno peronista und resümiert das diskursive Substrat des radikalen Peronismus. 12 Vgl. Sigal/Verón, [1986] 2004. 100

Teil II – Nation und die Subjekte/Körper der Rebellion

Hauptstadt zugewandert, zwischen 1943 und 1947 waren es Jahr für Jahr bereits bis zu 117.000 Menschen, hauptsächlich verarmte Bauern und Landarbeiter aus dem ganzen Territorium,13 mehrheitlich mit indigener Abstammung. Die unmittelbare Eingliederung der Mehrheit der inneren Migranten in die industrielle Arbeiterschaft verschaffte ihnen rasch den wirtschaftlichen Aufstieg und eine relativ hohe Kaufkraft. Auf sozialer Ebene wurden die Neuankömmlinge durch die eher europäisch geprägte Bevölkerung der Hafenstadt als »cabecitas negras« [schwarze Köpfchen] ethnisch diskriminiert. Die urbane Mittelschicht erlebte diese neuen Zeiten mit einem Gefühl der sozioökonomischen Versetzung, mit Angst vor dem sozialen Abstieg und mit Sorge um die angestammten kulturellen Werte, die sie mit einer hauptsächlich europäisch orientierten Oligarchie teilten.14 »Negros« [Schwarze], »negrada« [schwarzes Pack], »grasas« [Fette] und gar »aluvión zoológico« [zoologische Überschwemmung] wurden (und werden heute noch) die Anhänger Peróns genannt. Ein Beispiel für den abwertenden Blick auf die aufstrebenden Gesellschaftsschichten, den auch die Medien vermittelten, wurde am 17. Oktober 1945 deutlich, als die Anhängerschaft Peróns, um dem geliebten Anführer ihre Loyalität zu erweisen, den langen Marsch aus den Arbeitervierteln der Vororte in die Hauptstadt unternahm, wo sie die Füße in den Fontänen der Plaza de Mayo ikonoklastisch abkühlen ließ; dadurch entstand das geflügelte Wort »patas en la fuente« [Pfoten im Brunnen] und damit das animalisierte Bild der Peronisten, die als Horde auftreten. Der Sprachgebrauch dokumentierte lapidar die Rassen- und Klassengrenze, die mehrheitlich die Zuordnung zum Peronismus markierte. Für die großen Gemeinschaften von Menschen spanischer und italienischer Herkunft in Argentinien war Perón nicht nur eine starke Identifikationsfigur, er schuf auch eine Verbindung zu den politischen Entwicklungen in den Heimatländern, die ebenfalls Zeiten des Aufbruchs versprachen, wenn auch unter faschistischem Vorzeichen. Für Frauen wurde im Peronismus der lang gehegte Wunsch nach politischer Partizipation Wirklichkeit. Auch wenn die Kämpfe um die Frauenrechte in Argentinien in erster Linie mit den Sozialistinnen verbunden sind − und allen voran mit den Feministinnen Julieta Lanteri und Alicia Moreau de Justo −, erst Evita erfüllte den Wunsch der Suffragetten; ihr Eintreten für das Wahlrecht der Frauen war ein Aufruf zur Integration der weiblichen Bevölkerung in das politische Geschehen. Paradoxerweise wurde die Errungenschaft des Frauenwahlrechts in Argentinien in Evitas dezidiert antifeministischen Diskurs eingebettet, denn ihre Haltung stimmte nicht mit einer emanzipatorischen Pers13 Germani, 1955, S. 210. 14 Avellaneda, 1983, S. 33-40. 101

Erinnerung und Intersektionalität

pektive auf die Lebensrealität der Frauen überein, sie positionierte sich vielmehr stets unter ihren Mann in einer rekurrierenden Huldigungsgeste und unterstrich gar, dass sie Perón als ihre Daseinsberechtigung begriff.15 Evitas politische Anhängerschaft bestand aus den neuen politischen Akteurinnen; mehrheitlich aus dem Landesinneren zugewanderte Hausfrauen, Arbeiterfrauen und Hausangestellte erkannten sich in dem armen Mädchen vom Lande, das Evita in »radionovelas« verkörperte, wieder und brachten ihr Bewunderung entgegen: Sie war somit bereits vor ihrer Karriere als Politikerin eine große Identifikationsfigur. In ihrer Funktion als Politikerin erreichte sie die weibliche Wählerschaft auf demselben Weg, auf dem sie wenige Jahre davor ihre Herzen als RundfunkSchauspielerin erobert hatte: als weibliche Radiostimme.16 Unter diesen Voraussetzungen gestaltete sich der Übergang zwischen ihrer fiktiven Rolle und ihrer 15 »Es ist wahr, logisch und vernünftig, dass sich die Frauenbewegung nie von der eigentlichen Natur der Frau trennt. Und das Natürliche bei einer Frau ist, sich hinzugeben, sich aus Liebe hinzugeben, denn in dieser Hingabe liegt ihre Würde, ihr Heil und ihre Ewigkeit. Also wäre die beste Frauenbewegung der Welt diejenige, die sich aus Liebe der Sache und der Doktrin eines Mannes hingibt, der bewiesen hat, dass er in der ganzen Bedeutung des Wortes ein Mann ist. In der gleichen Weise, wie eine Frau ihre Ewigkeit und ihre Würde erreicht und sich vor der Einsamkeit und vor dem Tode rettet, indem sie sich aus Liebe einem Manne hingibt, glaube ich, dass keine Frauenbewegung in der Welt Würde und Ewigkeit erlangen kann, wenn sie sich nicht der Sache eines Mannes hingibt. Wichtig ist nur, dass die Sache und der Mann dieser vollkommenen Hingabe würdig sind!« (Duarte, 1952, S. 32). Auch General Perón stellte sich offen gegen die Feministinnen. Besonders illustrativ für sein Verständnis sind seine Stellungnahmen in den 50er Jahren, die von Evita in ihren Memoiren reproduziert werden: »Sie wollen Männer sein. Es ist das gleiche, wie wenn ich versuchte, um die Arbeiter zu retten, sie in Oligarchen umzuwandeln. Da wäre ich eben ohne Arbeiter geblieben. Und ich glaube, ich hätte dadurch die Oligarchie in keiner Weise verbessern können. Siehst Du nicht, dass diese Art von ›Feministen‹ die Frauen verleugnen? Einige schminken sich nicht einmal … weil das ihrer Meinung nach eine Eigenschaft der Frau ist. Siehst Du nicht, dass sie Männer sein wollen? Und wenn die Welt eine politische und soziale Frauenbewegung braucht … wie wenig Nutzen wird die Welt davontragen, wenn die Frauen sie dadurch retten wollen, dass sie die Männer nachahmen!« (Ebd., S. 125). 16 »In das Leben der meisten dieser Frauen war Eva Duarte als Stimme getreten« (zit. in Vassallo, 2009, S. 21). 102

Teil II – Nation und die Subjekte/Körper der Rebellion

Idealisierung als Wohltäterin der armen »descamisados« nahtlos: Über jeden Zweifel erhaben stand Evita demnach im Dienst jener Menschen, denen in der von ihr geprägten populären Metapher die Armut sogar das letzte Hemd genommen hatte. Juan Domingo Peróns Verstrickungen mit der rechten Gesinnung geben oft Anlass zur Spekulation. Der GOU (Grupo de Oficiales Unidos), die geheime Vereinigung nationalgesinnter Offiziere, die Perón an die Macht gebracht hatte, stand während des Zweiten Weltkrieges eher den Achsenländern als den Alliierten nah und befand sich innenpolitisch deutlich rechts von der abgesetzten Militärregierung Castillos.17 Peróns Beziehungen zu den deutschen Nationalsozialisten und zum faschistischen Italien Mussolinis sind allgemein bekannt und eindeutig belegt.18 Auch zu Franco pflegte er gute Beziehungen. Spanien hatte während des Krieges Kredite und Nahrungsmittel aus Argentinien erhalten und so wurde Evita 1947 in Madrid im Rahmen ihrer »Regenbogen-Tour« mit den Ehren empfangen, die Königen und Staatschefs vorbehalten waren.19 Der glamouröse Auftritt der ehemaligen Schauspielerin Eva Duarte de Perón konfrontierte die europäischen Regierungen mit den geänderten Machtverhältnissen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und so empfing man in Europa mehr oder weniger wider Willen eine selbstbewusste und kapriziöse Diva, eine schillernde Persönlichkeit, die sich trotz ihrer dürftigen Bildung zu eigenen politischen Statements durchaus in der Lage sah. Auch wenn ihr Verhalten Ziel sarkastischer Kommentare wurde, kamen die Gastgeber nicht darum herum, ihr den ihnen beunruhigend erscheinenden prominenten Platz auf dem diplomatischen Parkett einzuräumen.20 Die Errungenschaften der Peróns hatten allerdings eine Kehrseite: den erzwungenen Beitritt der Staatsbeamten zum »Partido Justicialista«, der selbsternannten Partei für »Gerechtigkeit«, die für die Verfolgung linker Aktivisten und das antisemitische Klima stand. Diese kontrarevolutionären Aspekte der Regierung Perón wurden fast zwei Dekaden später von der Protestbewegung nur allzu gerne und trotz familiärer Erinnerung in den Hintergrund geschoben. Auch der Konflikt mit der Kirche während Peróns zweiter Regierungszeit (1952-55), bei dem das Spannungsverhältnis zwischen faschistischer Überzeugung und borniertem Traditionalismus zum Tragen kam, wurde Gegenstand von Deutungskämpfen. Perón hatte zu Beginn seiner Karriere seine Macht mit 17 Time, 1944, o. S. 18 Vgl. u.a. Goñi, 2002, S. 33-48, S. 135-153. 19 Di Tella, 1998, S. 277-290. 20 Vgl. K lengel, 2011, S. 50-59. 103

Erinnerung und Intersektionalität

der Unterstützung des katholischen Klerus Argentiniens ausgebaut und wurde sogar Großkreuzritter des Pius-Ordens, des zweithöchsten vatikanischen Ordens.21 Später boten sich für den Konflikt Peróns mit der katholischen Kirche konträre Interpretationen, im Juni 1955 eskalierte dieser jedoch zu einem ersten Putschversuch gegen ihn und drohte zum Bürgerkrieg zu werden. Er brachte die Bombardierung von Peróns Anhängern auf der Plaza de Mayo mit sich22, die sich rächten, indem sie Kirchengebäude in Brand setzten. Daraus schöpften die Konservativen ihre Legitimation zum anschließenden gelungenen Putsch vom 16. September und zum nachhaltigen Antiperonismus; den Anhängern Peróns ihrerseits blieb in den fast zwei Jahrzehnten des Peronismusverbots, das mit dem Gesetz 1461 vom 05.03.1956 durch die Putschisten der Revolución Libertadora veranlasst wurde, der Beschuss von Zivilisten in bitterer Erinnerung, die den Widerstand und den Kampf für Peróns Rückkehr aus dem Exil nährte.

1.3 Rückblende zur Campaña del Desierto (1878-1880): Argentiniens entwertetes Leben zur Gründungsstunde der Nation Was verlieh Peróns Figur ihre ausgesprochene Kohäsionskraft? Er schien alle »descamisados« ‒ Einwanderinnen und Einwanderer, industrielle Arbeiterinnen und Arbeiter, Ausgegrenzte in der indigenen Bevölkerung und Handwerker ‒ zu verstehen und in eine vielversprechende Zukunft der sozialen Gerechtigkeit führen zu können. In den hundert Jahren vor Peróns Aufstieg hatte sich Argentinien mittels vornehmlich englischer, aber auch französischer Investitionen und dank der großen Einwanderungswelle, die zwischen 1857 und 1930 die Bevölkerung des Landes von 1,6 Mio. um 6,3 Mio. zumeist europäische Arbeiter auf das Fünffache anwachsen ließ, unter der Vorherrschaft liberaler Oligarchien rasant entwickelt. Bis die vom Liberalismus geprägte argentinische »Generación del 80« ‒ mit den Präsidenten Bartolomé Mitre (1862-68), Domingo Faustino Sarmiento (1868-74) und Nicolás Avellaneda (1874-80) ‒ ihre Vorstellung einer industriellen und sozialen Entwicklung nach dem nordamerikanischen Modell umzusetzen versuchte, hatten sich in den zwei Jahrzehnten zuvor Kolonisten aus der Schweiz, aus Frankreich, Deutschland und Großbritannien nicht nur in der Hauptstadt, sondern vor allem in den Flussregionen des Paraná-Uruguay-Del21 Der Spiegel, 1955, o. S. 22 Laut einer im Auftrag der argentinischen Regierung 2010 durchgeführten Studie fielen den Luftangriffen auf das Regierungsviertel von Buenos Aires am 16.06.1955 308 Menschen zum Opfer (vgl. Portugheis, 2010, S. 142). 104

Teil II – Nation und die Subjekte/Körper der Rebellion

tas niedergelassen. Die erste große Zuwanderungswelle23 mit um die 850.000 vornehmlich männlichen Spaniern und Italienern wurde durch das Versprechen ausgelöst, die Einwanderer würden bei ihrer Ankunft am Rio de la Plata Landbesitz erhalten. Der Mythos von den hervorragenden Chancen in Argentinien wirkte auf die europäische Bevölkerung wie ein Magnet: Angesichts der Folgen der zweiten industriellen Revolution, der weiteren Technifizierung der Industrie und der Agrarproduktion und der Internationalisierung des Marktes sowie durch die anhaltenden Pogrome und die Territorialkonflikte im Zuge der Gründung der Nationalstaaten für Minderheiten hofften viele, durch den Weg in den fernen Süden Amerikas ihr Glück zu ändern. Argentiniens Agrarstruktur der Großgrundbesitze hatte sich durch die guten Einwanderungsbedingungen der ersten Welle allerdings kaum verändert und das neue Einwanderungs- und Kolonisierungsgesetz von 1903 beinhaltete das Versprechen kostenfreien Anbaulandes nicht mehr. Die Zuwanderungswelle von 1880 setzte zeitgleich mit der von Avellaneda angeordneten und an seinen Kriegsminister Julio Argentino Roca delegierten Ausdehnung der inneren nationalen Grenze südlich der Flüsse Negro, Neuquén und Agrio ein, die bis 1878 unter der Kontrolle eingeborener Völker, vornehmlich der Mapuche und der Teuhelche, standen. Mit der Antinomie »civilización o barbarie« [Zivilisation oder Barbarei] als Leitbild legitimierte Roca den Ausrottungszug gegen die indigene Bevölkerung und führte einen im Jargon des Fortschrittsdiskurses »wissenschaftlich« genannten Krieg durch: General Roca ließ sich von den Weiterentwicklungen der Kriegswissenschaft inspirieren, denn der Krieg ist nicht länger eine den Launen des kriegerischen Instinkts und der Inspiration unterworfene Kunst, sondern folgt den festen Regeln und der strengen Methode der Naturwissenschaft.24

Die liberalen Gründer Argentiniens imaginierten die Nation als homogenes Körperterritorium mit klar zu ziehenden Grenzen, deren Gestaltung nach den rationellen Prinzipien der Sicherheit, Disziplin, Zivilisierung und Produktivität vorangetrieben werden sollte, wobei die autochthone Bevölkerung für diese progressive Entwicklung als Störfaktor wahrgenommen wurde. Das anzueignende Territorium und der Lebensraum der Indigenen sollte aus rassischen Gründen »bereinigt« werden, damit sich die zivilisierte und produktive Nation darin entfalten konnte: 23 Für Zahlen zur Migration nach Argentinien siehe z.B. Pacecca, 1997. 24 Doering, 1881, S. 11, Hervorh. von V. A., aus dem Span. von MLS. 105

Erinnerung und Intersektionalität Das Ergebnis bewies jedenfalls, dass es machbar, sogar einfach war, die Indios, und zwar alle, aus dem Gebiet zu entfernen, das dem Land der Republik hinzugefügt werden sollte; sobald das Gebiet von Wilden gesäubert ist, das kann man bereits sehen, ist es möglich, ihm die Sicherheits- und administrativen Schutzgarantien zu geben, die ein Territorium benötigt, um Zivilisierung und Produktion zielstrebig anzugehen.25

Die »Campaña del Desierto« [Wüstenkampagne] bzw. »Conquista del Desierto« [Eroberung der Wüste] sollte die territoriale Expansion der weißen Nation besiegeln und für die Patrizier des Landes die Erschließung weitläufigen Landbesitzes möglich machen: die Eroberung einer Wüste, die keine war. Die Einverleibung des Lebensraums der malones [Horden] bildenden Indigenen befriedigte erstmal den Ausdehnungsdrang der Gründer des modernen argentinischen Staates. Die »Ursprungsvölker«, die gefürchteten Haufen Wilder, wurden als Gegenpart einer Welt dargestellt, die es im Namen der Vernunft, der imaginierten Superiorität, der Zivilisation und des Gestaltungsdranges zu entwickeln galt: Es ist offensichtlich, dass sich in einem großen Teil der Ebenen, die kürzlich für die Bearbeitung durch Menschenhand geöffnet wurden, die Natur nicht um alles gekümmert hat und dass Kunst und Wissenschaft in ihre Kultivierung eingreifen müssen, wie sie es auch bei ihrer Eroberung getan haben. Zu berücksichtigen gilt jedoch, dass zum einen die erforderlichen Anstrengungen, um aus diesen Feldern wertvolle Bestandteile des Reichtums und des Fortschritts zu machen, in einem vernünftigen Verhältnis zu den Bestrebungen einer jungen und aktiven Rasse stehen; dass zum anderen die intellektuelle Überlegenheit, die Aktivität und die Bildung, die die Zukunftshorizonte erweitern und der Menschheit neue Produktionsquellen schaffen, die besten Gründe für die Beherrschung der neuen Ländereien sind. Im Schutz genau dieser Prinzipien wurden sie der nutzlosen Rasse, die sie bewohnte, genommen.26

Das für den modernen Staat angestrebte Menschenbild der Liberalen exkludierte die Indigenen aus der argentinischen Nation. Der Diskurs über diese Marginalisierung, die Verdrängung der indigenen Bevölkerung an den geographischen und gesellschaftlichen Rand, wurde zum Selbstverständnis eines Landes, das sich im lateinamerikanischen Kontext selbst heute noch als weiß und »euro25 Ebd., S. 17, Hervorh. von V. A., aus dem Span. von MLS. 26 Ebd., S. XX, Hervorh. von V. A., aus dem Span. von MLS. 106

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päisch« sieht. Dabei gaben 600.000 Personen bei der letzten Volkszählung von 2004/2005 an, Angehörige eines der Ursprungsvölker zu sein; eine von der UNICEF in Auftrag gegebene Studie schätzte nach Angaben des ENDEPA (Equipo Nacional de Pastoral Aborigen) und des INAI (Instituto Nacional de Asuntos Indígenas) die Zahl Indigener auf 1,5 Mio.27 An jene entwertete Leben in der ersten Stunde der Nationbildung Argentiniens wird heute zunehmend gedacht. Nach der massiven Staatsrepression bildet die Auseinandersetzung mit der Dezimierung der indigenen Bevölkerung zu Zeiten des Anbruchs des modernen argentinischen Nationalstaates einen Bezugspunkt, der durch die Arbeit der Erinnerung neu formuliert wird und sich heute als Streit um die Deutung der »Campaña del Desierto« manifestiert: Sie wird inzwischen sowohl als territorialer Eroberungszug als auch als Genozid interpretiert.28 Mit den mitgebrachten Idealen und der Unterstützung frisch gegründeter anarchistischer und sozialistischer Organisationen (wie z.B. des 1890 gegründeten Vereins »Club Socialista Alemán Vorwärts«) haben zugewanderte Handwerker und Arbeiter ihre ersten arbeitsrechtlichen Kämpfe in den sie dringend benötigenden industriellen Arbeitsstätten der neuen Heimat geführt. Auf dem Land nutzten Plantageninhaber und Großgrundbesitzer ebenfalls nicht selten die prekäre Lage europäischer Einwanderer aus und brachten sie in sklavenähnliche Verhältnisse. Gegen Ende der zweiten Dekade des 20. Jahrhunderts organisierten sich auch dort Lohnarbeiter. Jedoch erst 1912, d.h. 56 Jahre nach Beginn der Einwanderungsbewegung, wurde dieser als Minderheit behandelten großen Mehrheit der Zugewanderten Platz in der Politik des Ankunftslandes gemacht, als dem Establishment ein universelles Wahlrecht für Männer abgerungen wurde, das auch Zugewanderte mit einschloss. Der Ausgang der ersten freien Wahlen vier Jahre später verdankte sich dieser Tatsache: Die große Zustimmung für die Zivil-Radikalen (Unión Cívica Radical), die gemäßigte sozialistische Ideale verteidigten und sich im Parlament für das Wahlrecht der Zugewanderten eingesetzt hatten, resultierte aus den erworbenen Rechten der Arbeiter. Gleichzeitig bildete sich jedoch ein radikaler Widerstand in den bis dorthin privilegierten Kreisen. Ende 1918 wurde die Gruppierung Liga Patriótica Argentina gegründet, 27 Censabella /M alvestitti, 2010, S. 1. 28 Vgl. u.a. die Positionen des ehemaligen Direktors des Museo Histórico Nacional und Präsidenten der Geschichtsakademie Argentiniens, Juan José Crespo, aus dem Jahr 2004 (›www.lanacion.com.ar/nota.asp?nota_id=656498‹, 24.05.2015) und die des Ministers der Corte Suprema (entspricht einem Richter des deutschen Bundesgerichtshofs) Eugenio Raúl Zaffaroni in einem Interview im November 2008 (›www.pagina12.com.ar/diario/sociedad/3-114626-2008-11-07.html‹, 24.05.2015). 107

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die nicht nur einen fremdenfeindlichen und nationalistischen Diskurs29 vertrat, sondern paramilitärisch tatkräftig gegen streikende Arbeiter vorging. Manuel Carlés, ihr Präsident, war Lehrer des Militärkollegs und der Offizierskriegsschule, wo er u.a. auch Juan Domingo Perón unterrichtete. Die Gründung der Liga folgte einer diskursiven Entwicklung, die viel früher eingesetzt hatte und rebellische Einwanderer ins Visier nahm; ihr Leitspruch lautete »Vaterland und Ordnung«. Der soziale Protest der Einwanderer wurde mittels des Aufenthaltsgesetzes von 1902, das Ley Cané30, geregelt, das die Ausweisung unerwünschter Ausländer innerhalb weniger Tage vorsah. Von der Ausweisung betroffen waren hauptsächlich Sozialisten und Anarchisten, die versuchten, Gewerkschaften zu gründen. 1909 boten die Geschehnisse der Roten Woche einen ersten Einblick in das Gewaltpotential der adversativen Diskurse der Zeit. Am Ende der Kundgebung zum 1. Mai, nach dem Beitrag eines anarchistischen Redners, hatte der Polizeipräsident Ramón Falcón das Feuer auf demonstrierende Sozialisten und Anarchisten eröffnen lassen und ein Massaker mit 14 Toten und 80 Verletzten 29 Die Wortwahl der Zielsetzung der Liga im Jahr 1919 ist dem späteren diktatorischen Diktum erstaunlich nah: »Vor allem das Gefühl der Zugehörigkeit zur argentinischen Nation fördern, indem wir nach Kräften die Nation als freie Einheit stärken, indem wir zur Wahrung der öffentlichen Ordnung und zum Schutz der Bürger mit den Behörden zusammenarbeiten, indem wir den häuslichen Frieden sicherstellen, wann immer der Friede der Republik durch anarchistische Bewegungen gestört wird. Die Liebe des Volkes zum Heer und zur Marine wecken. Bei ihrem Glauben und ihrer Ehre als Argentinier verpflichten sich die Mitglieder der Liga, mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln zusammenzuarbeiten und zu verhindern, 1. dass subversive Theorien öffentlich geäußert werden, die dem Respekt zuwiderlaufen, der unserem Vaterland, unserer Flagge und unseren Institutionen gebührt, 2. dass nicht genehmigte Versammlungen, öffentlich oder hinter verschlossenen Türen, abgehalten werden zu anarchistischen und marxistischen Themen, die eine Gefahr für unser Nationalgefühl sind. Sie verpflichten sich auch, mit allen legalen Mitteln zu verhindern, dass bei öffentlichen Kundgebungen rote Fahnen oder sonstige Symbole benutzt werden, die gegen unseren Glauben, unsere Tradition und unsere Ehre gerichtet sind« (zit. in La Nación, 1919, o. S., aus dem Span. von MLS). 30 Miguel Canés Name bleibt auch mit dem seines Romans Juvenilia (1884) über die Jugendzeit im die argentinische politische Elite bildenden Colegio Nacional de Buenos Aires verbunden. Als Gegennarration dazu siehe Martín Kohans Ciencias Morales (2007), in deutscher Übersetzung von Peter Kultzen als Sittenlehre 2010 im Frankfurter Suhrkamp Verlag erschienen. 108

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verursacht. Ein Generalstreik und die 12-monatige Verhängung des Ausnahmezustandes folgten.31 Falcón erlag wenige Monate später dem Racheakt des Anarchisten Simón Radowitzky. Der Anschlag Radowitzkys brachte mit dem Ruf »¡Caza al ruso!« [Jag den Russen!] eine fremdenfeindliche, antisemitische Welle und zahlreiche Verletzte mit sich. Der 18-jährige Radowitzky wurde zum Tode verurteilt, zahlreiche politisch aktive Migranten jüdischer Herkunft mussten das Land verlassen.32 Nach der Russischen Revolution von 1917 und den Aufständen von 1918 in Bayern und Ungarn war die Stimmung in Buenos Aires ziemlich gereizt. Die Ereignisse wurden von den Migranten und der privilegierten Bevölkerung ähnlich stark, wenn auch unterschiedlich rezipiert. Nachdem die Polizei am 6. Januar 1919 eine Protestaktion bereits länger streikender Metallarbeiter mit Waffengewalt beendet hatte, brach eine Welle der Gewalt aus, die sich erneut gegen die jüdische Bevölkerung von Buenos Aires richtete und zum ersten Pogrom in den Geschichtsbüchern Lateinamerikas führte. Die Polizei und die Armee intervenierten und wurden von den Abkömmlingen − ihre Namen bezeichnen heute vielfach die Straßen der Stadt – der gut situierten Familien von Buenos Aires unterstützt, die sich in der Liga Patriótica paramilitärisch organisiert hatten. Die Jagd auf Menschen in den bekannten jüdischen Vierteln von Buenos Aires endete in kaltblütigen Hinrichtungen. Die Verfolgungswut hielt bis zum 13. Januar 1919 an; 700 Menschen verloren ihr Leben, 4.000 wurden verletzt, zahlreiche Opfer der rassistischen und der Klassengewalt wurden nicht einmal registriert.33 Etliche Jahre später, 1932, wird die Liga Patriótica auch die Immigrantin, Suffragette und Feministin Julieta Lanteri auf offener Straße töten.34 Das disparate diskursive Feld, das die Immigration begleitete, zeichnet sich als widersprüchlich aus: Während die Generación del 80 die Vorzüge der europäischen Einwanderer lobte und ihre Ankunft zum Allheilmittel gegen eine angeblich fortschrittsfeindliche autochthone Bevölkerung erklärte − damit waren die Indigenen und die Mischlinge, die als Nomaden lebenden Gauchos, gemeint −, gestaltete sich die Realität für die Ankömmlinge in einer Gesellschaft, die ihnen nicht nur positiv gesinnt und außerdem konfliktgeladen war, alles andere als einfach. Die Lebensrealität der Immigrantenfamilien war streckenweise weit davon entfernt, dem sich hartnäckig haltenden Mythos vom Lande der Verheißung zu entsprechen. Die Immigration als konstitutives Moment einer Gemein31 Badell/Gringauz, 2006, o. S. 32 Roca /Álvarez, 2008, S. 254-258; Feierstein, R., 2006, S. 191f. 33 Di Mario, 2008, S. 12. 34 Barrancos, 2008, 95f. 109

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schaft der Argentinier_innen ist demnach ein nachträglich als »homogen« konstruiertes Imaginär, wofür der Rand – die störenden Sozialrechtler_innen, die »unergiebige« indigene Bevölkerung − unsichtbar gemacht werden musste. Als Gründungsmythos der argentinischen Nation wird der Epos einer Einwanderungsgesellschaft, die den sozialen Aufstieg mit dem geflügelten Satz »M’hijo el dotor«35 [Mein Sohn, der Arzt] zusammenfasste, allerdings heute noch bevorzugt erzählt. Betont xenophob war die Absicht der Regierenden, als sie nach dem Militärputsch von 1930 Wahlen zuließen, deren Ausgang sie jedoch durch den »fraude patriótico« [patriotischer Wahlbetrug] kontrollierten. Damit versuchte die militärische und zivile Elite, die zwischen 1930 und 1943 den Wahlbetrug ziemlich offen ausübte,36 die Folgen der Zugeständnisse an die Einwanderer im Hinblick auf politische Partizipation für sich kalkulierbar zu halten, denn seit den ersten Wahlen nach Einführung der freien, universellen Stimmenabgabe im Jahr 1916 hatte die Unión Cívica Radical 14 Jahre regiert. Vor dem Hintergrund der Weltwirtschaftskrise, des Spanischen Bürgerkriegs und des Beginns des Zweiten Weltkriegs eröffnete das als »década infame« [infames Jahrzehnt] bekannte Jahrzehnt eine wirtschaftliche Phase, die nach wie vor stark auf Exporten des Agrarsektors basierte, durch den Verzicht auf Importe zugunsten heimischer Produkte jedoch einen starken Wachstum der nationalen Industrien 35 Das ist der Titel des 1903 uraufgeführten Dramas des Uruguayers Florencio Sánchez und gleichzeitig das Sinnbild einer erfolgreichen Einwanderungsgeschichte. 36 Die Tageszeitung La Vanguardia berichtet in ihrer Ausgabe vom 16.11.1931 unter »Comicios«: »Das Einziehen tausender Wehrpässe genügte nicht, um die Bürger, die nicht für die offizielle Kandidatenliste waren, an der Ausübung ihres Wahlrechts zu hindern. Die Ungewissheit des Siegs veranlasste die Regierungspartei, die Einwohnerverzeichnisse zu manipulieren, und um diese Niederträchtigkeit zu bewerkstelligen, wurden die Wahlvorsteher gewaltsam hinausgeworfen. Die Wahlleiter, nun ohne jede Aufsicht, führten die erteilten Befehle aus: Sie entfernten die Wahlkabinen; sie zwangen die Wähler anzugeben, für wen sie stimmen, und wer sich weigerte, bekam seinen Ausweis mit einem Vermerk über die erfolgte Wahl zurück, und die Vorsitzenden warfen den amtlichen Stimmzettel eigenhändig in die Urne. In ihrem Eifer, die Wahl zu ›stehlen‹, nahmen sie in einigen Fällen alle Umschläge, die der Wahlausschuss geschickt hatte, und steckten andere amtliche Stimmzettel hinein. Es wurden jedoch immer mehr Umschläge zugeschickt als benötigt, und die regierungsfreundlichen Wahlleiter waren dumm genug, 500 Stimmzettel in die Urne zu werfen, bevor sie lasen, dass im Bezirk nur 260 oder 280 Menschen zur Wahl gegangen waren« (aus dem Span. von MLS). 110

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bewirkte. Der Bedarf an Arbeitskräften wurde durch Innenwanderungen gestillt. Korruption, Wahlbetrug und die Repression Oppositioneller waren das politische Gegenstück zum aufstrebenden Jahrzehnt. Das Jahr 1930 begann mit dem Putsch gegen die demokratische Regierung von Hipólito Irigoyen, Mitglied der Unión Cívica Radical. Damit startete unter Beteiligung der Liga Patriótica eine Sukzession von sechs militärischen Interventionen, die in knapp 50 Jahren politischen Lebens 1976 ihre Akme in der letzten Diktatur Argentiniens fand. Charakteristisch dabei war die aktive Unterstützung der Putschenden durch die Hierarchie der katholischen Kirche. Ab den 30er Jahren wurden die argentinischen Streitkräfte zu einem anerkannten politischen Akteur in einer Gesellschaft von Immigranten auf der Suche nach einer nationalen Identität, in der »argentinisieren« mit katholisieren gleichgesetzt wurde. Die Allianz zwischen den Streitkräften und der kirchlichen Hierarchie genoss die Anerkennung der zivilen Gesellschaft, wobei beide Akteure gleichermaßen, jenseits ideologischer Unterschiede, von politischen Parteien, gesellschaftlichen Bewegungen, zivilen Organisationen und Arbeitgeberverbänden wie der Sociedad Rural Argentina, der Unión Industrial Argentina und der Asociación de Bancos de la Argentina um Machterhalt und -umorganisation gebeten wurden. Der Militärhistoriker Fortunato Mallimaci äußert sich hierzu deutlich und betont: »Mehr noch wurden die militärisch-religiösen Putsche in der argentinischen Geschichte, aktiv oder passiv, durch Aktivität oder Unterlassung, von der Bevölkerung unterstützt. Die Militaristen stürmen an die Macht, sobald sie einen breiten gesellschaftlichen Konsens erreichen.«37 Für seine Mission schöpfte das Militär aus einer weiteren Quelle der »argentinidad« [Argentinität]. Als legitimer Erbe des Ejército Libertador von José de San Martín knüpfte seine Tradition nahtlos an das Heldenepos der mythischen Gründung Argentiniens und der Befreiung vom spanischen Mutterland an. Dass sich damals die Kreolen, Kinder der Untertanen der spanischen Krone, gegen die Asymmetrie der königlichen Verwaltung auflehnten, die lediglich im Mutterland Geborene zu ihren Beamten machte,38 zeigt ebenso, wie wenig die argentinische Realität mit der Vorstellung von einer souveränen Nation gleichberechtigter Bürger zu tun hatte, wie die Tatsache, dass der Ejército Libertador Tausende Schwarzer »in seinen Diensten« hatte, die weit eher Sklaven waren, denen man die Freiheit nach fünf Jahren »Dienst« versprochen hatte und die so lange Zeit in einer Art Mitgliedschaft-Gefangenschaft in den Kampf involviert waren.39 In der Kontinuität jener Armee zu stehen verschaffte den 37 Mallimaci, 2006, S. 177, aus dem Span. von MLS. 38 Anderson, [1996] 2005, S. 64. 39 Vgl. Campana, 2009, o. S. 111

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Streitkräften einen privilegierten Zugang zur Gemeinschaft der Nation. Durch die Legitimierung durch die katholische Hierarchie gestärkt artikulierte sich die Überzeugung ihrer Mitglieder, für eine Schlüsselrolle in der Nation vorgesehen zu sein, im autoritären messianischen Diskurs der putschenden argentinischen Streitkräfte.

1.4 Protest, Revolution und weibliche Emanzipation in den Sechzigern Im Rückspiegel des Renaults hat unter der Fliege die ganze Postkarte des Peronismus Platz: die Stirnbänder, die ausgestellten Blue Jeans, die T-Shirts, die PERON KOMMT ZURÜCK UND SIEGT singen. Tomás Eloy Martínez, Der General findet keine Ruhe, S. 250

Das lange Exil hatte Peróns Ruhm und seinem Einfluss auf die argentinische Politik keinen Abbruch getan. Im Gegenteil. Lange Schlangen politischer Günstlinge warteten auf eine Audienz, seine Worte lösten bei seinen Anhängern große Auslegungsdebatten aus und er verstand es, gleichzeitig für jedes politische Lager zu sprechen.40 Das Verbot des Peronismus hatte sich nach dem Sturz des Generals 1955 über fast zwei Jahrzehnte erstreckt, bis seine Anhänger 1973 in demokratischen Wahlen für seine »Losung« und damit für ihn und seine Rückkehr stimmen durften. In diesen Jahren hatten, ohne ihre Regierungszeit komplettieren zu dürfen, nur zwei Zivilisten, Arturo Frondizi (1958-62) und Arturo Illia (1963-66), auf dem Präsidentensessel Rivadavias gesessen. Die Revolución Libertadora, die Perón 1955 abgesetzt hatte, wurde nach kurzer demokratischer Pause 1966 durch die Revolución Argentina abgelöst. General Onganía, an der Spitze dieser Revolution der Rechten,41 setzte auf eine Politik der Entpolitisierung der Gesellschaft, ähnlich wie er sie zur erfolgreichen Überwindung der

40 Gillespie, [1986] 2008, S. 31-96. 41 Vor dem Hintergrund späterer Entwicklungen sollte dem Ton und der Art der deutschen Berichterstattung in den Artikeln »Golpe geglückt« im Spiegel vom 04.07.1966 (›www.spiegel.de/spiegel/print/d-46407911.html‹, 24.05.2015) und »Onganía in Not« in der Zeit vom 04.07.1969 (›www.zeit.de/1969/27/ongania-innot‹, 24.05.2015) Beachtung geschenkt werden. 112

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internen Kämpfe innerhalb der Streitkräfte praktiziert hatte. Die Ziele der Revolución Argentina wurden im dritten Kapitel ihrer Gründungsakte festgehalten: Die geistigen Werte festigen, das Kultur-, Bildungs- und technische Niveau heben; die tiefliegenden Ursachen des aktuellen wirtschaftlichen Stillstands beseitigen, angemessene Arbeitsverhältnisse schaffen, den sozialen Wohlstand sichern und unsere geistige Tradition stärken, die auf den Idealen der Freiheit und der Menschenwürde beruht, die das Erbe der westlichen und christlichen Kultur sind; zur Wiederherstellung einer echten repräsentativen Demokratie, in der Ordnung herrscht im Gesetz, in der Justiz und in den Bestrebungen des Gemeinwohls, sind all das Mittel, das Land wieder auf den Weg seiner Größe zu bringen und das auch nach außen zu zeigen.42

Onganía erhielt große Machtbefugnisse für die Umstrukturierung der Regierung nach dem hierarchischen, pyramidenartigen Modell des Militärs und griff mit ordnenden Erlassen in das öffentliche und sogar private Leben der argentinischen Bürgerinnen und Bürger ein. Der General war bestrebt, die zivile Gesellschaft nach den Prinzipien des integristischen Katholizismus zu ordnen, der den Katholizismus zum aufbauenden Prinzip ziviler Leben macht. Dabei wurde die Zensur zu einem mächtigen Instrument der gesellschaftlichen Kontrolle. Kleiderordnung und Geschlechterperformanz – und ihre Diversifizierungen − trugen zunehmend und gleichermaßen zur Identifikation und zur Identifizierung von Anhängern der Protestbewegungen bei. Aus diesem Grund war es der Regierung ein wichtiges Anliegen, dem Kleidungsstil »Unisex« mit Verboten entgegenzuwirken. Frauen wurde das Tragen von Hosen und Miniröcken in Schulen und öffentlichen Ämtern untersagt, während gleichgeschlechtliche Liebe43 ein zentrales Tabu war und einen entscheidenden Motor für die Ausgestaltung menschenfeindlicher Politiken bildete. Zu den Moralvorstellungen gehörte ein strenger Kodex, der Liebkosungen in der Öffentlichkeit verbot und von der Sittenpolizei verfolgen ließ. Die Stadtverwaltung von Buenos Aires verabschiedete so z.B. für Tanzlokale im Juli 1966 Richtlinien, deren Bigotterie sich unschwer erkennen lässt:

42 Villegas, 1969, S. 322, Hervorh. von V. A., aus dem Span. von MLS. 43 Die langanhaltenden Auswirkungen der Verfolgung aufgrund gleichgeschlechtlicher Liebe und die dazugehörige unglückliche Liebesgeschichte schildert Sylvia Molloy in ihrem Roman El común olvido (2002). 113

Erinnerung und Intersektionalität Die Sicht muss so sein, dass man im gesamten Bereich der Örtlichkeit und von jedem Punkt im Lokal aus mit absoluter Gewissheit den Geschlechtsunterschied der Besucher erkennen kann.44

Nicht nur die gesellschaftliche Öffnung bezüglich des Sexualverhaltens beschäftigte die Regierenden und rief reaktionäre Stimmen auf den Plan. Die »melenudos«, die langhaarigen Hippies und Rockanhänger, standen für ein Aussehen, das sich mit dem »revolutionären Chic«, den langen Haaren und dichten Bärten, der in den Wäldern lebenden Guerilleros und der Che-Anhänger überlappte. Die Polizei traf nicht selten öffentliche Haarschnittmaßnahmen gegen die verhassten »melenudos« in den Straßen von Córdoba und Buenos Aires. Ende der 60er Jahre flossen in den argentinischen Großstädten drei Dynamiken zusammen, die das Verhalten der Jugend sehr stark von den Vorstellungen der Generation der Eltern und Großeltern differenzierte. Erstens stand diese Generation unter dem Einfluss der Figur des Che Guevara und der von ihm illuminierten sozialrevolutionären Bewegung, die in Lateinamerika die Konstruktion eines »hombre nuevo« [neuer Mensch] unter den Prämissen der sozialen Gerechtigkeit und Gleichberechtigung vorantrieb. Zweitens rezipierte sie auch die Flower-Power-Bewegung, die sich vor dem Hintergrund des US-amerikanischen Protestes gegen den Vietnam-Krieg für freiheitlichere Umgangsformen und die Suche nach Selbstverwirklichung einsetzte und den aktiven Frieden im Sinne Mohandas Gandhis und Martin Luther Kings predigte. Und drittens gaben die breite Vermarktung von Antikonzeptiva sowie die Texte und Proteste der Emanzipationsbewegung aus Frankreich Frauen Anlass, sich von alten Rollenselbstverständnissen zu befreien und neue Beziehungs- und Ausdrucksformen auszuloten: Guerillakämpferinnen, Feministinnen, Gewerkschafterinnen, Rockerbräute; ultrakurze Miniröcke oder bunte weite Tunikas, Waffen in der Handtasche oder Mikrophon in der Hand, ganz hinten in der am wenigsten benutzten und sichersten Schublade des Hauses versteckte Antibabypillen zeigten Frauen mit unterschiedlichen Horizonten und Erfahrungen, die, nicht ohne Widersprüche, im Begriff waren, andere Formen, zu sein und sich zu verbinden, zu schaffen.45

44 Anales de Legislación Argentina, Buenos Aires, 1966, n° XXVI-B, zit. in Rodríguez Molas, 1985a, S. 142, Hervorh. von V. A., aus dem Span. von MLS. 45 Andújar, 2009, S. 150, aus dem Span. von MLS. 114

Teil II – Nation und die Subjekte/Körper der Rebellion

So wie das Jahr 1968 für studentische Protestbewegungen in Westeuropa und den USA prägend ist, markierte das Jahr 1969 eine Wende in der Radikalisierung des sozialen Protestes in Argentinien. Die repressive Atmosphäre der Regierung Onganía kippte am 29.05.1969 in »El Cordobazo«. Er ereignete sich in Córdoba nach einer Reihe von Arbeitnehmerstreiks, der sich Universitätsstudierende zahlreich anschlossen, gefolgt von einem Versammlungsverbot und dem tödlichen Schuss gegen einen Gewerkschaftler der Unión Cívica Radical, die zu einer massiven Revolte mit 34 Toten und über 400 Verletzten eskalierten. Alle Guerillagruppen, die in den folgenden Jahren aktiv werden sollten, befanden sich damals bereits in einer Trainings- und Aufrüstungsphase, doch keine von ihnen nahm an diesem Ausdruck des entfesselten Volkszorns teil.46 Diese Gruppen, die den Anspruch erhoben, den Streitkräften das Gewaltmonopol streitig zu machen, begriffen sich als die bewaffneten Vertreter der zivilen Gesellschaft und nahmen schon mit der Wahl ihrer Namen − »Fuerzas Armadas Peronistas«47, »Fuerzas Armadas Revolucionarias«48 und »Ejército Revolucionario Popular«49 − eine herausfordernde Haltung gegenüber den argentinischen Streitkräften ein. Die Ereignisse der Zeit wurden zunehmend als eindeutige Hinweise für die wirtschaftliche Abhängigkeit des Landes und die herrschende soziale Ungerechtigkeit verstanden, ebenso als Folgen der Verbote, der politischen Morde und der Repression und als Ergebnis der Zensur und der erzkonservativen Moral.50 Aufstände in den Großstädten Rosario und Mendoza ließen nach Córdoba nicht lange auf sich warten. Perón, der General im Exil, ermutigte seinerseits zur Anwendung von Gewalt und gewann bis zu seiner Rückkehr, die seine deutliche Hinwendung zu den rechten Flügeln einleitete, die Sympathien radikalisierter Anhänger auf beiden Seiten. Analysen wie María Olliers Golpe o Revolución. La violencia legitimada, Argentina 1966/1973 und Pilar Calveiros Política y/o violencia. Una aproximación a la guerrilla de los años 70, beide aus dem Jahr 46 Calveiro, [2005] 2008, S. 38. 47 Neben den Montoneros ein weiterer bewaffneter Arm des Peronismus linker Ausprägung, mit einer Tradition peronistischen Widerstandes. 48 Die FAR entstanden Ende der 60er Jahre aus einer Spaltung der Jungen Kommunisten. Sie waren Anhänger Che Guevaras und standen in Verbindung zu den Tupamaros in Uruguay. Mitte 1972 schlossen sie sich den Montoneros an. 49 Der ERP ging Mitte 1970 aus der revolutionären Arbeiterpartei PRT hervor und strebte die anhaltende sozialistische Revolution an. Der PRT war im Mai 1965 entstanden. Die Methoden und Ziele des ERP richteten sich an den Vorgaben von Che Guevara und Mao Tse Tung und am Vietcong aus. 50 Ollier, 2005, S. 47. 115

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2005, stellen die Dominanz der politischen Gewalt in der politischen Kultur Argentiniens bereits in den Jahrzehnten vor der Diktatur heraus. Die Gewalt als Mittel der Politik hatte sich Ende der 60er Jahre mitten in der Gesellschaft verankert und ausgebreitet. Dementsprechend prägten die kollektive Imagination der 60er und 70er Jahre messianische bzw. eschatologische Vorstellungen, die sich in der Konstruktion von Helden- und Verräteridentitäten fortsetzten und sich in ausschließenden Bildern von Freund oder Feind manifestierten und rückkoppelten. Der »Cordobazo« hatte die Amtsentlassung von General Onganía zur Folge, der im Juni 1970 die Regierung an General Levingston übergab. Ein Jahr später wurde Präsident Levingston von General Alejandro Lanusse entmachtet und ersetzt. Als Präsident bereitete Lanusse den Übergang zur Demokratie vor und berief die ersten freien Wahlen nach 21 Jahren ein, wobei dem fädenziehenden General im Exil aufgrund seines exterritorialen Aufenthaltsortes die Teilnahme an diesen Wahlen als Kandidat verweigert wurde. Der Wahlslogan hieß deshalb »Cámpora an die Regierung, Perón an die Macht«. Die politische Gewalt machte vor der Aussicht auf Demokratie und soziale Gerechtigkeit allerdings keinen Halt. In der Zeit zwischen Onganías Regierung und der Wahl des Peronismus, d.h. zwischen 1966 und 1973, starben etwa 100 Montoneros und 500 kamen ins Gefängnis.51,52 Pilar Calveiro fasst die Grundkoordinaten dieses historischen Moments zusammen: 51 Überdeckt von einer Wahrnehmung, die die Singularität der desapariciones forzadas für die Geschichte Argentiniens fokussiert, blickt César Seveso auf die Zeit davor und analysiert die Hintergründe und die Realität der Gefängnisaufenthalte zwischen der Revolución Libertadora gegen Perón (1955) bis zu dessen Rückkehr im Jahr 1972. In seiner Untersuchung beleuchtet Seveso einerseits die Bemühungen des Staates, die politische Opposition unter Gewährung eines rechtlichen Rahmens zu unterdrücken, andererseits räumt er mit dem Mythos auf, der Aufenthalt in den Gefängnissen bildete eine Schule des Widerstandes. Auf dieser Annahme war die Strategie der Militärs begründet, die u.a. zur illegalen Repression geführt hat. Auch der Vordenker des Peronismus, John William Cooke, teilte diese Auffassung, wie er in seiner Korrespondenz mit Perón diesem mitteilte: »Vielleicht stelle ich ja eine absurde Theorie auf, aber hoffentlich setzt die Tyrannei die Inhaftierungen fort. So wird sie weiterhin politische Führungspersönlichkeiten für uns ausbilden« (zit. in Duhalde, 2007, S. 149, aus dem Span. von MLS.). Die politische Gefangenschaft war bereits in der Zeit vor der Diktatur durch extreme physische und psychologische Bedingungen charakterisiert (Seveso, 2009, S. 163-165). 52 Gillespie, [1986] 2008, S. 148. 116

Teil II – Nation und die Subjekte/Körper der Rebellion Je stärker das Regime unterdrückte, desto radikaler wurde die Bewegung und, als Teil von ihr, ein Peronismus, der nach so vielen Jahren der Ächtung in die Offensive ging und der durch eine neue Generation von Aktivisten Aufwind bekam.53

Diese neue Aktivistengeneration stieß vor allem, aber nicht nur, zum Peronismus oder zu den Montoneros dazu, auch der ERP-PRT verzeichnete im Jahr 1972 immense Beitritte.54 Es waren generell junge Menschen, die sich in die Politik einbrachten und sich hoffnungsvoll der Gestaltung der Gesellschaft widmeten. In diesem militarisierten Staat hatte sich jedoch ein Verständnis von Politik entwickelt, das diese immer mehr als Konfrontation begriff. Eingebettet in die gleiche Logik und ermutigt durch die Errungenschaften der kubanischen Revolution zog die revolutionäre Jugend Argentiniens Konsequenzen und ging den Weg des bewaffneten Widerstandes. Der kurze Blick auf die Geschichte Argentiniens seit seiner Gründung als moderne Nation relativiert den Eindruck des plötzlichen Auftretens der Gewalt im sozialen Alltag der 60er und 70er Jahre und bestätigt die Beobachtung, dass Gewalt das politische Leben des Landes schon lange färbte. Ein Faden der Gewalt verläuft von der Gründung einer argentinischen Nation, in der die Eingeborenen unsichtbar gemacht und vernichtet wurden, über das jahrzehntelange Ringen der Einwanderungsgesellschaft um soziale und politische Partizipation bis zu den alternierenden Militärregierungen und ihre institutionalisierte sich zuspitzende Repression gegen eine sich (teilweise radikalisierende und) widersetzende Zivilbevölkerung.

1.5 Politische Partizipation und revolutionärer Kampf der Frauen Auch wenn es heute überholt erscheint: Im westlichen Denken hat die Vorstellung, Männer seien die Akteure des öffentlichen Bereichs (Staat, Politik, Recht, Wissenschaft und Wirtschaft) und Frauen haben ihren natürlichen Platz in der Familie mit den dazugehörigen Aufgaben der Reproduktion und Pflege, eine lange Tradition. Nach bürgerlichem dichotomischem Rollenverständnis wurden gesellschaftliche Räume geschlechtlich markiert und es wurde klar zwischen Öffentlichem/Staat/Männlichem und Privatem/Heim/Weiblichem unterschieden. Jenseits dieser Räume erweitern weitere Dichotomien wie Kultur vs. Natur, Seele vs. Körper, Vernunft vs. Unvernunft, Gedanke vs. Gefühl, Aktivität 53 Calveiro, [2005] 2008, S. 43, aus dem Span. von MLS. 54 Barrancos, 2007, S. 249; Martínez, 2009, S. 48. 117

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vs. Passivität das Register dessen, was geschlechtlich fixiert zugeteilt wird.55 Darauf baut nicht nur das Ringen um Gleichstellung auf (das auch ein Ringen für die Anerkennung der Gleichwertigkeit aller Arbeit ist), sondern ebenso, wie die vielfältigen Varianten bewertet werden, in denen Menschen ihre Sexualität organisieren. Vor diesem Hintergrund werden die Umstände deutlich, die ein Wandel dieser für »natürlich« und »unsichtbar« gehaltenen Prinzipien überwinden musste (und in der ganzen Breite auch noch überwinden muss). Besonders auffällig wird die Spaltung in Privates und Öffentliches bei der Wahrnehmung der Bürgerrechte. Nach jahrzehntelangem Kampf um staatsbürgerliche Gleichstellung wurde in Argentinien das Frauenwahlrecht während der ersten Regierungszeit Peróns im Jahr 1947 gesetzlich verankert; Peróns zweiter Frau Evita wird großer Einfluss bei dieser Entwicklung zugesprochen. Während Peróns zweiter Regierung (1952-55) erlangten Frauen 15 % der Mandate im Oberhaus und 22 % der Mandate im Unterhaus. In den zwei darauffolgenden demokratischen Regierungen (1958-62 und 1963-66) wurden im Oberhaus lediglich 0,5 % bzw. 2,7 % der gesamten Mandate von Frauen bekleidet. Mit der dritten Regierung des Peronismus (1973-76) stieg der Prozentsatz von Frauen, die ins Oberhaus gewählt wurden, und erreichte 8 %.56 Das kann als Indiz dafür gesehen werden, dass die konstitutionelle Verankerung der Gleichberechtigung im passiven und aktiven Wahlrecht keine Garantie für die gleichberechtigte Verteilung politischer Macht ist. Während dieser Jahre mit demokratischen Phasen und wechselnden Diktaturen war nicht nur den Bürgern im Allgemeinen ihre demokratische Vertretung immer wieder untersagt: Innerhalb der Parteien und Organisationen waren die Hemmnisse, die den Zugang von Frauen zu den politischen Entscheidungsgremien ermöglichten, stetig so hoch, dass auch in Zeiten demokratischer Beteiligung die Frauenstimmen kaum hörbar wurden. Inmitten der turbulenten 60er Jahre hatten sich allerdings feministische Forderungen nach Gleichberechtigung, legaler Scheidung, einer Reform des Sorgerechts sowie die Klagen über Gewalt und Übergriffe gegen Frauen Gehör verschafft. Nicht nur rein feministische Gruppen wie die Bewegungen »Movimiento de liberación de las mujeres« (MLM), »Unión Feminista Argentina« (UFA) und »Movimiento de Liberación Femenina« (MLF) wirkten ab Mitte der 60er Jahre, auch Frauen in linken Parteiorganisationen gründeten Untergruppen, die sich für ihre Rechte einsetzten. Auch wenn all diese Bewegungen nicht lange Bestand hatten,57 so waren sie doch ein wesentlicher Faktor für die Zunahme der 55 K linger, 2000, S. 96. 56 Marx u.a., 2008, S. 103. 57 Barrancos, 2007, S. 240-244. 118

Teil II – Nation und die Subjekte/Körper der Rebellion

Frauenpräsenz im öffentlichen Raum (sowohl in sozialen als auch in politischen Gruppen). Eine einschneidende Veränderung brachte letztlich die Tatsache, dass sich Tausende von jungen Frauen − Barrancos schätzt ihre Zahl auf bis zu 60 % der unter 30-Jährigen − in den 70er Jahren der Politik in einer äußerst radikalen Weise zuwandten und sich den Guerillagruppen anschlossen.58 Das bedeutet, dass Frauen zwar ein Platz an einer Front eingeräumt wurde, an der sie für die soziale Revolution mitkämpfen sollten, auf dem politischen Feld jedoch wurden Frauenstimmen kaum gehört. Von gleichberechtigten Plätzen in der Vorhut der Revolution kann selten die Rede sein. Denn obwohl es zahlreiche profilierte weibliche Kader in mittleren Positionen der bewaffneten Organisationen gab, wie die legendäre Norma Arrostito von den Montoneros, die nach Zeugenaussagen selbst während ihrer Inhaftierung in der ESMA, der Escuela Superior de Mecánica de la Armada (mit etwa 5.000 dorthin Verschleppten-Verschwundenen größtes Folterlager des Bezirks Buenos Aires während der Staatsrepression), den hohen Respekt der Folterknechte genoss, schafften es lediglich zwei Frauen an die Spitze des ERP-PRT, und vor dem Militärputsch von 1976 und dem gemeinsamen Exil des Führungskaders gehörte keine Frau der Führung der Montoneros an. Interviews mit ehemaligen Mitgliedern des ERP-PRT zufolge waren Frauen des Öfteren für kleine Gruppen oder Zellen verantwortlich, sie bildeten Mitglieder politisch und militärisch aus und bekamen vereinzelt die Verantwortung für eine Zone übertragen, aber nie für einen Bezirk. Bezeichnend ist allerdings die Tatsache, dass die Person, die einer Zelle, einer Frontlinie oder einer Zone vorstand, demokratisch gewählt wurde, während die Bezirksverantwortlichen von der Direktion ernannt wurden, d.h. Frauen wurden an der Basis in eine Führungsrolle gewählt, während die Hierarchie ihnen den Zugang zu höheren Entscheidungsebenen verwehrte. In der täglichen Praxis erfuhren Frauen nicht selten eine Ungleichbehandlung und ein Weiterbestehen tradierter Geschlechterrollen.59 Mit Propaganda und geheimdienstlichen Aufgaben befasst und an militärischen Aktionen beteiligt, lag der Schwerpunkt der politischen Arbeit von Frauen oft in den Armen- und Elendsvierteln.60 Eine ehemalige Guerillafrau erzählte in einem Interview 2007: Diejenigen von uns, die sich in den Vierteln engagiert haben, haben dauernd mit den Füßen im Schlamm gesteckt. Das geht gar nicht anders, da unten am Paraná, da musst du durch den Schlamm, die rote Erde, und dann die steilen 58 Ebd., S. 248. 59 Martínez, 2009, S. 123-127. 60 Ebd., S. 128. 119

Erinnerung und Intersektionalität Ufer, die klettert nicht jeder hoch, da musstest du schon richtig fit sein oder viel Erfahrung haben. Wir waren es, wir Frauen.61

Die Profilanforderung an die Guerillakämpfer war hoch: Askese, Selbstaufopferung, solidarisches und reinstes moralisches Verhalten, auch im Sexualleben. Letztere Anforderung zeigte sich im expliziten Verbot des Ehebruches, der sowohl bei den Montoneros62 als auch beim ERP-PRT63 mit einer Degradierung sanktioniert wurde. Die Proletarisierung der Mitglieder war erwünscht und auch ihnen selbst ein Anliegen.64 Aus diesem Grund unterbrachen Menschen ihre Bildungsbiographien und arbeiteten in Fabriken oder als Tagelöhner, z.B. als Erntehelfer. Das politische Engagement erforderte absolute Hingabe, denn letztes Ziel war die Aufopferung des eigenen Lebens für die Revolution. Das Ausmaß dieser Verpflichtung und ihre Idealisierung als Tugend illustrieren beispielhaft die Worte von Pedro, einem hauptamtlichen Mitglied des ERP-PRT, in einem Interview im Jahr 2006: Parteiaktivist zu sein war ein Vollzeitjob, man war den ganzen Tag im Dienst, kein Funktionär, wie manche behaupten, dass es in der Kommunistischen Partei war, wir, wir waren keine Funktionäre, wir waren Vollzeitaktivisten […], man war vor allem Aktivist, so war das nun mal. Heute klingt das irgendwie blöd, aber man war Aktivist, mehr als Bruder oder Vater oder Ehemann war man Aktivist; nicht, dass es einem egal war, dass man Vater war, aber man war eben Aktivist, und das war eine Tugend, »Aktivist sein«.65

Pilar Calveiro nennt die Adhäsion an die Gerechtigkeitsideale der Guerillakämpfer der ersten Stunde, die heute etwas befremdlich wirken mag, »espíritu romántico-justiciero«66 [romantisch-richtender Geist] und Maristella Svampa spricht von einem spezifischen »Ethos« der Siebziger, der von den wichtigsten Akteuren einer Zeit vertreten wurde, die durch »einen festen Willen zur Veränderung, wenngleich durchzogen von sozialer Unruhe, Autoritarismus und politischer Gewalt« charakterisiert war.67 Verschleppungen und Ermordungen 61 Ebd., S. 113, aus dem Span. von MLS. 62 Barrancos, 2007, S. 251. 63 Diana, [1996] 2006, S. 96. 64 Siehe z.B. Feierstein, D., 2007, S. 361. 65 Martínez, 2009, S. 114, Hervorh. von V. A., aus dem Span. von MLS. 66 Calveiro, [2005] 2008, S. 112. 67 Svampa, 2002, S. 343, aus dem Span. von MLS. 120

Teil II – Nation und die Subjekte/Körper der Rebellion

(wie die von General Aramburu, der Evitas Leichnam hatte verschwinden lassen und für die Erschießung von Peronisten 1956 in José León Suárez68 mitverantwortlich war) sowie die steigende Zahl von Raubüberfällen und erpresserischen Aktionen waren Handlungen mit hohem symbolischem Charakter, die zur Adhäsion und Sympathie der Bevölkerung, im Falle der Montoneros insbesondere der Peronisten, aufrufen sollten. Der gesellschaftliche Konsens, den die bewaffneten Gruppen zwischen 1970 und 1972 erreichten, war unter anderem durch die Semantisierung des öffentlichen Todes zu einem Akt der revolutionären Gerechtigkeit bzw. des revolutionären Märtyrertums geworden. In der Auseinandersetzung um die Deutungshoheit im semantischen und symbolischen Netz wurden die Opfer der Guerilleros, die überwiegend Stadtguerilleros waren, nach der Auslegung einer selbstgestrickten Justiz nach dem Prinzip des »gerechten Volkszorns« hingerichtet und gefallene Aktivisten wurden zu Märtyrern umgedeutet, zu Exempeln für Kampfgeist und Hingabe. Todeswachen und Beerdigungen − beispielsweise die der gefallenen Montoneros Maza, Ramus und Abal Medina im Jahr 1971 − wurden deshalb von Tausenden junger Sympathisanten besucht, die Blumenkränze niederlegten, die Nationalflagge schwenkten und die Nationalhymne sangen.69 Die eschatologische Ausrichtung der Revolutionäre stimmte nicht nur mit einer gewissen Nekrophilie überein, die aus dem EvitaKult bekannt war, sie war auch eng mit der Vorstellung von Helden- und Märtyrertum im Namen des revolutionären Kampfes verflochten, all dies Topoi der Erziehung der mehrheitlich katholischen Mitglieder.70 In dieser Konstellation erhält die Figur des Verräters, eines sich dem machtvollen Feind verkaufenden Judas, ihren Platz als Gegenpart des Helden. Denn nicht der Feind ist moralisch aberrant – die Größe des Kontrahenten bringt gerade die Heldentat in ihrer ganzen Pracht hervor –, sondern der moralisch gesehen schwächste Mensch, der Verräter, bildet das Gegenstück zum Helden.

68 Davon handelt Operación Masacre, der meisterhafte Roman von Rodolfo Walsh aus dem Jahre 1957, der mit seiner Mischung aus Dokumentation und Fiktion als argentinischer Vorläufer des amerikanischen New Journalism gilt. 69 A damini, 2010, o. S. 70 Der Katholizismus der Mitglieder war ursprünglich zentrales Kohäsionsmoment der Anfang der 60er Jahre gegründeten Bewegung Movimiento Nacionalista Tacuara, der ersten urbanen Guerilla Argentiniens. Im antikommunistischen, antidemokratischen und antisemitischen Umfeld von Tacuara lernten sich später führende Köpfe der Guerillaorganisationen, der peronistischen Rechten, Syndikatskiller und Agenten der 70er Jahre kennen. 121

Erinnerung und Intersektionalität

Dass die Revolution in der Imagination das Antlitz des männlichen Guerilleros hatte, wird in der Rückblende deutlich. Ileana Rodríguez reflektiert kritisch über die Erfahrungen von Exguerillafrauen in Lateinamerika − »Frauen, die den Traum von einer besseren Gesellschaft mitgeträumt hatten«71 − und analysiert den Platz, der im Narrativ des »hombre nuevo« für Frauen vorgesehen war. Gegen den Strich und aus feministischer Perspektive liest sie die diesem Narrativ zugrunde liegenden schriftlich verfassten Ansichten des Che Guevara, die in Lateinamerika stark rezipiert wurden und auch in Argentinien über eine weite Leserschaft verfüg(t)en. Die revolutionären Organisationen sahen Ende der 60er Jahre diesen neuen Menschen mit Che Guevaras Augen und bildeten ihre Mitglieder nach den Vorstellungen des von ihm beschriebenen monumentalen Orts »La Montaña« [Der Berg] aus. Nach Rodríguez’ Auffassung wurde Che im Narrativ und in der Ikonographie der Revolution die Rolle eines Laienheiligen zugesprochen, der »die außerordentlichen Tugenden der Traumarchitekten« verkörperte.72 Rodríguez’ Analyse stützt sich u.a. auf Che Guevaras La guerra de guerrillas [dt.: Guerilla – Theorie und Methode].73 Dabei stellt sie fest, dass der Platz der Frauen in Ches Text über den »hombre nuevo« kein neuer ist. In der Imago eines Che der außerordentlichen Tugenden ist bestenfalls eine 71 Rodríguez, I., 2003, S. 143, aus dem Span. von MLS. 72 Ebd., S. 148. 73 »Die Frauen sind den schweren Bedingungen des Guerillalebens durchaus gewachsen. Sie werden mit den Schwierigkeiten dieses Lebens nicht nur ebensogut fertig wie Männer, sondern sie bringen es sogar fertig, durch ihr Wirken ganzen Guerillagruppen das Leben durch gewisse häusliche Annehmlichkeiten zu erleichtern. […] Im allgemeinen gibt es unter den Guerilleros nur wenig Frauen. Und wenn sich die innere Front so weit konsolidiert hat, dass man sie nicht mehr unbedingt in den im Kampfeinsatz stehenden Guerillas benötigt, kann man ihnen verschiedene andere Aufgaben übertragen. Eine der wichtigsten ist die Wahrnehmung von Verbindungen mit anderen Guerillas, besonders mit solchen, die auf feindlichem Territorium operieren. Die Überbringung bestimmter Gegenstände, Post, Geld oder Mitteilungen sollte man zuverlässigen Frauen anvertrauen. Die Frauen können diese Dinge leichter übermitteln als Männer. Sie können sich besser tarnen und bei Repressalien oder Visitationen des Gegners mit mehr Nachsicht rechnen als Männer. […] Die Frauen können aber auch in den Guerillagruppen mit anderen Aufgaben betraut werden, zum Beispiel mit der Zubereitung des Essens für die Kämpfer. Für einen Menschen, der das schwere Guerillaleben führt, ist es sehr angenehm, wenn er statt seines schnell selbst zurechtgemachten Essens schmackhaft zubereitete Mahlzeiten bekommt« (Guevara, 1968, S. 87). 122

Teil II – Nation und die Subjekte/Körper der Rebellion

Übereinstimmung des Maskulinen und des Femininen, ein androgynes Wesen zu finden, das eine neue Gesellschaft begründete, die alle mit einbezog74; »die Frau« indessen wurde zwar ebenso monumental gezeichnet wie »La Montaña«, aber nicht als Partnerin auf Augenhöhe, die diesen Raum nicht nur bewohnen, sondern auch mitgestalten sollte. Rodríguez schreibt: Wir Frauen befinden uns auch in den Bergen, aber wir existieren dort nicht. In dieser Physiogeografie sind die Frauen in die Rolle der dienstbaren Geister verwiesen, und im Gedanklichen wird diese Verbannung ideologisch untermauert mit Sätzen wie »es ist natürlich, dass die Frauen für die Truppe kochen«. Das hatte schon Che verkündet, und viele, wenn nicht alle Guerillakommandeure haben es wiederholt. Wenn man den Frauen gestattet, kurz die Bühne des Heldentums zu betreten, dann wird ihre Beteiligung minimiert – sie werden zu Waffen karrenden Körpern.75

Die Aussagen von Zeuginnen und Zeugen zeichnen unterschiedliche Bilder von realen Frauen an der Front. In Bezug auf die Guerillafrauen hatte sich ein Stereotyp gebildet, das von der Vermännlichung der weiblichen Mitglieder durch das Tragen und Bedienen von Waffen und von der Kampfbereitschaft der Frauen gekennzeichnet ist. Dieser Topos wurde von den argentinischen Medien während der Diktatur für die Darstellung der Guerillakämpferinnen weitgehend übernommen76, wie die folgende Berichterstattung aus dem Jahr 1976 in der Junta-treuen Zeitschrift Somos zeigt: Fanatismus, Irrationalität, impulsives Handeln anstelle von Überlegung, Machthunger und ein Minderwertigkeitsgefühl gegenüber dem Mann verwandeln sie im Moment des Aufeinandertreffens in eine Löwin. […] Sie ist schlimmer als der Mann. Genauso mutig wie er, fanatischer, gefährlicher, entschlossener. Und obendrein: Wenn sie den Umgang mit Waffen lernt, setzt sie sie mit derselben Effizienz ein.77

Diese Zeilen, in denen Guerilleras mit Guerilleros verglichen und durch die Gefahr, die von ihnen ausging, in ein negatives Licht gestellt wurden, schilderten die Frauen bemerkenswerterweise als die effektiveren Kämpfer. Um den an74 Rodríguez, I., 2003, S. 148. 75 Ebd., S. 145, aus dem Span. von MLS. 76 Jelin, 2001a, S. 103. 77 Zit. nach Vassallo, 2009, S. 29, aus dem Span. von MLS. 123

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geblichen ausgeprägten Fanatismus der Frauen und ihre größere Gefährlichkeit zu begründen, wurden hier der klassische Topos der Irrationalität und ein neuer aktiviert: der des Gefühls der Unterlegenheit der Frauen, als garstige Umkehrung der Beschreibung sozialer Beziehungen durch die emanzipatorische Bewegung, frei nach dem Motto: »Frauen werden keineswegs unterdrückt, sie fühlen sich bloß unterlegen.« Die so konstruierte ausgeprägte Gefährlichkeit der Guerillafrauen verweist auf das dabei hervortretende Stereotyp der femme fatale, des dämonischen Gegenpols tugendhafter Frauen, das den Guerillafrauen die weitere Eigenschaft zuwies, verführerisch zu sein, eine Vorstellung, die bei der Repression als symbolischer Ausgangpunkt für  ihre sexuelle Disziplinierung und Bestrafung fungiert haben mag. Doch die Guerilleras hielten sich nicht für frivol, sondern einem dem Frivolen entgegengesetzten Ethos verpflichtet, wie Alejandra berichtet: Es gab ein besonderes Klima, das alle unsere Handlungen durchdrungen und einen tiefen Wandel in unserem Leben bewirkt hat. Unsere Protesthaltung hat sich nicht nur gegen soziale Ungerechtigkeiten gerichtet. Uns ging es auch darum, das Frivole oder Überflüssige auszulöschen und vor allem das, was für uns bürgerliche Doppelmoral war.78

Das allgemeine Bild der Guerillafrau wurde durch eine Performanz ergänzt, die durch den Verzicht auf frauenspezifische Aktivitäten und den Mangel an weiblichen Attributen gekennzeichnet war und – wie die folgende Passage zeigt – auch im Erscheinungsbild ein Korrelat fand: Wir haben Schminke, Friseur, hohe Absätze, Mode verbannt. Ich hab mir Mühe gegeben, mich nicht zu sehr zu vernachlässigen, und hab mir weiterhin die Nägel lackiert, was einem meiner Kameraden deutlich aufgefallen ist. Jedenfalls, zur Uni gehen, Organisationsversammlungen, Aufmärsche und andere Aufgaben, da waren wir unweigerlich auf den »Einheitslook« aus Jeans und Oberhemd beschränkt, meistens in Olivgrün.79

Den Topos der vermännlichten Kämpferin zu kennen und ihm durch die Performanz von Weiblichkeit zu widersprechen, sollte später in der ESMA die Überlebenschancen einzelner Frauen erhöhen.

78 Zit. in Diana, [1996] 2006, S. 29, aus dem Span. von MLS. 79 Zit. in Ebd., Hervorh. von V. A., aus dem Span. von MLS. 124

Teil II – Nation und die Subjekte/Körper der Rebellion

Auf ihre mit anderen Aufgaben befassten Mitstreiterinnen wirkten die Kämpferinnen des ERP-PRT stereotypengemäß »streng, autoritär und gewissenhaft«80, sie selbst sahen sich allerdings als ein neues Modell von Frau: »Ich glaube, dass es für alle eine schöne Herausforderung war, Frauen zu sein, die anders waren. Ich wollte nie so sein wie Susanita aus den Mafalda-Comics.«81 Diese Protesthaltung materialisierte sich in der von politischer Gewalt geprägten Gesellschaft der 70er Jahre in einem neuen Frauenprofil − »die kämpfende, die bewaffnete, die anführende Frau, kurz: die Guerillafrau«82 − und veranlasste Frauen, sich an männliche Gewohnheiten zu halten, weil diese die Logik der Front darstellten. Beachtenswert sind in diesem Zusammenhang die Worte eines ehemaligen ERP-PRT-Kämpfers, der in der Rückblende, 30 Jahre später, gängige Vorstellungen gleichzeitig autorisiert und dementiert und so ein Bild zeichnet, das beide Komponenten beinhaltet, die damals hochgeschätzte Strenge und die heute aufgewerteten stereotypen Zeichen des doing gender: Lucía war sehr hübsch, eine Mulattin, sehr ernst, man könnte sagen eine harte Person. Sie war die militärische Verantwortliche der Zelle, als ich sie kennen lernte, kurz nachdem ich meinen Dienst in diesem Gebiet begonnen hatte, sie war einer meiner Kontakte, etwa einen Monat, und ich wurde auf zwei oder drei Operationen geschickt. Sie war die Verantwortliche, die Chefin der Operationen. Sie hatte sehr gute militärische Voraussetzungen, eine Frau, die bei der Operation die Befehle gab, tz, tz, tz … sie wirkte wie ein Milizionär […]. Wenn du diese Frau gesehen hast, hast du gedacht »Wie hübsch!«, geschminkt, zurechtgemacht.83

Der Beitritt der Frauen in die bewaffneten Organisationen war oftmals eine gemeinsame Entscheidung von (Ehe-)Paaren, um das Auseinanderbrechen der Beziehung zu verhindern – was nicht selten nicht gelang.84 Nach Pablo Pozzi waren 40 % der Mitglieder des ERP im Jahr 1975 Frauen.85 Die im ERP-PRT vorherrschende Vorstellung von Familie und Kindern war in der Formulierung »sozialisierte Mutterschaft« festgehalten, doch das Versorgen der Kinder scheint

80 Ebd., S. 32. 81 Zit. in Ebd., S. 33, aus dem Span. von MLS. 82 Martínez, 2009, S. 148, aus dem Span. von MLS. 83 Zit. in Ebd., Hervorh. von V. A., aus dem Span. von MLS. 84 Barrancos, 2007, S. 250; Vassallo, 2009, S. 25f. 85 Pozzi, 2001, S. 239. 125

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prioritär immer noch bei den Frauen gelegen zu haben.86 Schwangerschaft und Mutterschaft waren positiv belegt, da eine neue Menschheit mit neuen Werten aus der »Vorhut der Revolution« – so die Selbstwahrnehmung − erwachsen sollte; Antikonzeptiva wurden innerhalb dieser Ideologie verschwörungstheoretisch als imperialistischer Vorstoß der USA und als ein Eindämmungsversuch im Kampf gegen das angeblich übermäßige Bevölkerungswachstum des Südens gedeutet: Weil die Linke die Antibabypille als Politik des amerikanischen Imperialismus ansah, stimmte sie mit den Militärregierungen darin überein, auf einen Geburtenzuwachs bei den armen und ausgebeuteten Frauen zu setzen: Die Selbstbestimmung, die die Anwendung der Pille verhieß, sollte der Mittelschicht vorbehalten sein.87

Auch die Klassenzugehörigkeit gehörte zu den zentralen Stereotypen, die die Lage der Frauen innerhalb der revolutionären Gruppen beeinflusste und sich auf den Mythos revolutionärer Standhaftigkeit anhand der sozialen Herkunft stützte. Elena, ehemaliges Mitglied des ERP, sagt dazu: Es gab zweifellos eine Ausgrenzung aufgrund des Geschlechts, aber die Klassenzugehörigkeit fiel schwerer ins Gewicht. Ich war »die kleine Bürgerliche«, oder zumindest habe ich das damals so empfunden. Wenn ich jetzt darüber nachdenke, glaube ich, dass es vielleicht auch etwas damit zu tun hatte, dass ich eine Frau war.88

Und bei der Schilderung der schwierigen Umstände ihres Alltags ergänzt sie: »Ich habe damals nicht mehr als vier oder fünf Stunden pro Tag geschlafen, ich habe ein Kind gestillt, es großgezogen, in einer Fabrik gearbeitet und die restliche Zeit ging als Aktivistin drauf.«89 Dem Anspruch zu genügen, den revolutionären Zielen stärker als allen anderen Aspekten des Lebens verpflichtet zu sein, dürfte Frauen mit Kindern allerdings nicht leicht gefallen sein. Auch wenn ehemalige Mitglieder des ERP-PRT angeben, ihre Gruppierung wäre in der Frage der Geschlechterrollen der Gesamtgesellschaft einen Schritt voraus gewesen, und obwohl die Rollenverteilung auch in den Parteigrundsätzen formuliert 86 Martínez, 2009, S. 149. 87 Barrancos, 2007, S. 232, aus dem Span. von MLS. 88 Zit. in Diana, [1996] 2006, S. 199f., aus dem Span. von MLS. 89 Zit. in Ebd., S. 200, aus dem Span. von MLS. 126

Teil II – Nation und die Subjekte/Körper der Rebellion

war,90 so waren Mütter in der Praxis doch benachteiligt, wie S. im Interview mit Marta Diana beschreibt: Diese Lebensumstände haben außerdem für alle Frauen einen Nachteil bedeutet, einen Nachteil für unseren Aufstieg innerhalb der Organisation, weil wir oft nicht zu Versammlungen gehen konnten oder für unsere Ausbildung nicht genauso viel Zeit aufbringen konnten wie die Männer. […] Auf der anderen Seite haben wir alle darauf bestanden, dass die Kameraden sich gemeinsam mit den Müttern um die Kinder kümmern. Aber der Widerstand von männlicher Seite war sehr groß, und man kann schon sagen, dass zumindest in den meisten Fällen nichts erreicht wurde. […] Das heißt, es bildeten sich zwei Flügel: Kameradinnen, die ihre Kinder nicht vernachlässigt haben, weil ihnen klar war, dass sie schon allein durch unser heimliches und gefährliches Leben viele Einschränkungen hinnehmen mussten. Und Kameradinnen, die sich kaum um ihre Kinder gekümmert haben, weil sie ihre politische Arbeit nicht vernachlässigen wollten. In beiden Fällen war es unterm Strich ein Verlust für die Frauen.91

Als die bewaffneten Organisationen illegal wurden und ihre Mitglieder in den Untergrund abtauchten, verschärfte sich die Problematik. Die verzweifelte Flucht mit den Kindern gehört zu den dramatischsten Erfahrungen von Frauen in den Untergrundorganisationen. Auch Kinder wurden erschossen und insbesondere Teenager überlebten selten die Staatsrepression.92,93 Der Schritt der Frauen in den bewaffneten Kampf stellte für konservative Kreise eine unwahrscheinliche Herausforderung dar. Während der Verdacht der extremen Gefährlichkeit bewaffneter Frauen auf traditionellen Frauenbildern, wie dem des Lügens und Hintergehens, aufbaute, alarmierte die konservative Zeitschrift Somos ihre Leserschaft mit Blick auf die erweiterten Wirkungsfelder solcher Frauen:

90 Vassallo, 2009, S. 26. 91 Zit. in Diana, [1996] 2006, S. 20, aus dem Span. von MLS. 92 Barrancos, 2007, S. 252. 93 Vgl. auch das Internetportal der Großmütter der Plaza de Mayo, insbesondere die Rubriken »Niños desaparecidos junto a sus padres« bzw. »Niños y parejas localizados asesinados« unter: ›www.abuelas.org.ar/Libro2010/index_ jpadres.php‹, 24.05.2015. 127

Erinnerung und Intersektionalität In der Guerilla spielt die Frau eine ebenso wichtige Rolle wie der Mann, sie ist ein wesentlicher Teil dieses Krieges. Sie ist als Ideologin von Nutzen, als Kämpferin, sie schleust sich überall ein, verführt, lügt, verbiegt, beschafft Informationen, indoktriniert, überprüft, verteidigt sich.94

Anders als Somos vielleicht andeutet, scheint der Alltag der Linksaktivistinnen in den politischen Organisationen sowie der Guerillakämpferinnen in den stark hierarchisierten und militarisierten Strukturen allerdings nahezu gänzlich den Männern subordiniert gewesen zu sein. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass in den 60er Jahren der Eintritt der Frauen sowohl in die bewaffneten Organisationen als auch in die demokratischen Institutionen weitgehend ein Novum darstellte, das über das politische Feld hinaus eine heftige Irritation tradierter Vorstellungen mit sich brachte. Diese Irritation rüttelte an festzementierten Rollenvorstellungen und bestimmte zweifellos die Art und Weise der repressiven Verfolgung von Frauen während der Militärdiktatur mit.

2. Diskursradikalisierung in der Ära der desapariciones forzadas 2.1 Zensur und der Diskurs der Ausmerzung Der Diskurs mag dem Anschein nach fast ein Nichts sein – die Verbote, die ihn treffen, offenbaren nur allzu bald seine Verbindung mit dem Begehren und der Macht. Und das ist nicht erstaunlich. Denn der Diskurs – die Psychoanalyse hat es uns gezeigt − ist nicht einfach das, was das Begehren offenbart (oder verbirgt): er ist auch Gegenstand des Begehrens; und der Diskurs – dies lehrt uns immer wieder die Geschichte – ist auch nicht bloß das, was die Kämpfe oder die Systeme der Beherrschung in Sprache übersetzt: er ist dasjenige, worum und womit man kämpft; er ist die Macht, deren man sich zu bemächtigen sucht.95

Im Namen der westlichen und christlichen Zivilisation etablierte das autoritäre Regime Argentiniens zwischen 1976 und 1983 eine umfassende Kontrolle des politischen Diskurses und organisierte und pflegte darin die eigene mediale Inszenierung. Bei der Disziplinierung des öffentlichen Raumes beschränkten sich 94 Zit. in Vassallo, 2009, S. 28, aus dem Span. von MLS. 95 Foucault, [1970] 2007, S. 11. 128

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die Machthaber nicht auf die Erstellung von Listen von Künstlern und Denkern, die als personae non gratae angesehen wurden, von verbotenen Büchern oder Themenbereichen: Die Verbote wurden gewaltsam umgesetzt. Das ganze Spektrum von Schikanen, Drohungen, Züchtigungen bis hin zu den Verschleppungen, Marterungen und Ermordungen bewirkte, dass argentinische Kulturschaffende irgendwann nicht mehr kontrolliert werden mussten; die Internalisierung des Diskurses der Herrschenden und der Terror führten zu vorauseilendem Gehorsam. Entsprechend äußerte sich die bekannte Schriftstellerin und Songwriterin María Elena Walsh im Jahr 1979: Uns allen ist der Bleistift abgebrochen und in unseren Köpfen hat sich ein überdimensionierter Radiergummi eingenistet. Wir treten um uns und heulen einen gewaltigen Fluss Rotz, der sich in das Meer aus Tränen und Blut ergießt, das wir in diesem strafenden Land zu schaffen wussten.96

Ein Klima der Einschüchterung trug dazu bei, den Kulturbetrieb zu regimekonformem Verhalten zu »erziehen«, so dass dieser letztendlich einen Diskurs der Legitimation mitgestaltete. Das lebhafte intellektuelle Klima, das die Protestbewegungen der 60er und 70er Jahre in Argentinien begleitet hatte und im Studentenaufstand der späten 60er Jahre »über alle drei Welten«97 »das letzte Hurra der alten Weltrevolution«98 ausgerufen hatte,99 stand dann im argentinischen Territorium unter dem Damoklesschwert der Triple A (Antikommunistische Argentinische Allianz), die ab 1975 den Terror im intellektuellen-künstlerischen Milieu säte. Der Schriftsteller Juan Martini berichtet: Wenn sie uns drohten – sie riefen uns in der Buchhandlung an, um uns zu sagen, dass es bei uns eine Bombe gäbe, das passierte oft –, sagten wir den Leuten, dass wir für eine Weile schließen würden, und ich ging mit Hugo Diz ins Augustus, wo wir einen Kaffee tranken und darauf warteten, dass die Bombe explodierte. Wir warteten eine Stunde, anderthalb, sie explodier96 Walsh, M. E., 1979, o. S., aus dem Span. von MLS. 97 Hobsbawm, [1994] 2009, S. 551. 98 Ebd., S. 554. 99 Eric Hobsbawm beobachtete: »Dieselben Bücher (darunter 1968 mit größter Sicherheit die von Herbert Marcuse) erschienen nahezu gleichzeitig in den Studentenbuchläden von Buenos Aires, Rom und Hamburg. Dieselben Revolutionstouristen überquerten Ozeane und Kontinente zwischen Paris, Havanna, São Paulo und Bolivien« (Hobsbawm, [1994] 2009, S. 554). 129

Erinnerung und Intersektionalität te nicht, wir gingen zurück. […] Es schien, als würde, abgesehen von meiner politischen Stellung – obwohl ich nie in einer bewaffneten Organisation war, aber ich war ein linker Schriftsteller, und das war bekannt –, die Buchhandlung ebenso stören wie ich. […] Die Anwälte sagten mir letztendlich: »Das ist eine Terrorkampagne und wahrscheinlich passiert nichts.« »Was heißt wahrscheinlich?«, fragte ich. »Na ja, wenn ich jemandem eine Lektion erteilen müsste, dir vielleicht …« Dieses Schreiben habe ich gar nicht gut aufgenommen, in dem Sinne, dass es mir Angst machte. Denn der Sitz der Triple A war dort, quasi genau im Zentrum, das war bekannt, und so beschloss ich wegzugehen.100

Der Weg ins Exil, den Tausende gegangen waren,101 war für mindestens genauso viele keine Alternative, denn dazu waren neben dem Mut, mit der gestraften Heimat vorübergehend abzuschließen, und den benötigten Kontakten für einen Neustart in der Fremde – sofern man keiner Organisation angehörte – auch die finanziellen Mittel nötig. Für das Publikum bzw. die Leserschaft außer Reichweite zu sein glich für Darsteller und Autoren oftmals der Empfindung, den Boden des eigenen Ausdrucks entzogen zu bekommen.102 Um der Zensur und 100 Zit. in Laurencena, 2011, o. S., aus dem Span. von MLS. 101 Bertoncello/Lattes beziffern die Anzahl der Personen, die das Land aus politischen Gründen verließen, auf etwa 3.000 (Bertoncello/Lattes, 1987, S. 71). Die Personengruppen und ihre Routen ins Exil wurden von Pablo Yankelevich in Represión y destierro. Itinerarios del exilio argentino (2004) untersucht. Mario Szneider und Luis Roniger geben in ihrem Werk The Politics of Exile in Latin America (2009) einen historischen Überblick über die Exilkonjunkturen und ihre Akteure in Lateinamerika. 102 Die Frage, wie das Exil zu bewerten sei und welche Rolle die argentinischen Intellektuellen während der Diktatur gespielt haben, beschäftigte u.a. das Symposium, das Anfang Dezember 1984 auf Einladung des Kultur- und Literaturwissenschaftlers Saúl Sosnowski in Maryland stattfand. Die daraus entstandene Publikation ist eine wichtige Bestandsaufnahme der Reflexionen an der Wende zur Demokratie und nach der Rückkehr vieler aus dem Exil. Der Rückkehrer Noé Jitrik fasst seine Empfindungen im Argentinien der ersten Postdiktaturjahre so zusammen: »Der Pakt innerhalb ist so mächtig, dass er die Exilanten zwingt, entweder ohne Zukunftsaussichten weiterzustrampeln oder sich schweigend anzupassen und zu versuchen vergessen zu machen, dass sie einige Jahre außerhalb waren. Die Ausgangslage ist die gleiche wie zu der Zeit, als sie emigrieren mussten: Wir Exilanten wurden nicht mehr publiziert und bekamen keine Briefe mehr; in dem 130

Teil II – Nation und die Subjekte/Körper der Rebellion

der allgemeinen Desinformation zu entgehen, machten Journalisten Textkapriolen für eine eingeweihte Leserschaft. Denn wer blieb, war froh, mit dem Leben davonzukommen, und musste oftmals täglich das innere Exil betreten, um seinem Beruf nachgehen zu können. Die Worte des bekannten Journalisten Alberto Dearriba malen ein Bild des journalistischen Alltags unter dem Stiefel: Bei El Cronista konnten wir nicht über Morde berichten oder gar die Regierung kritisieren. Wir hatten keine Möglichkeit. Nur hier und da eine Kleinigkeit, eine Überschrift, etwas zwischen den Zeilen. Wir versuchten, das, was wir sagen wollten, »autorisierten« Sprechern in den Mund zu legen. Oder wir betonten die faustdicken Lügen, die die Militärsprecher verbreiteten, damit sie offensichtlich und haarsträubend waren und eine entgegengesetzte Reaktion bewirkten. Dann kamen die letzten Jahre der Diktatur – 1981 bis 1983 – und ich arbeitete bei La Voz. Dort konnten wir die ersten Meldungen über geheime Friedhöfe oder die Erschießung der Guerillakämpfer Pereyra Rossi und Cambiasso veröffentlichen. Aber bis dahin, bei El Cronista, war das unmöglich. Aus Maße, wie man uns nicht mehr erwähnte, ließ man uns auf eine Art ebenso ›verschwinden‹, wie so viele andere, die die Diktatur aus dem Verkehr zog, was einige Bereiche der Gesellschaft mit Erleichterung registrierten. Die Ausgangslage wiederholt sich, weil durch das Verschweigenmüssen des Exils auch die Gründe verschwiegen werden, die es verursachten« (Jitrik, 1988, S. 134, aus dem Span. von MLS). Als Beispiel für den Streit um die Frage des Exils sei die Rezeption des Artikels von Julio Cortázar »América Latina: exilio y literatura« durch Liliana Heker erwähnt (Cortázars Artikel erschien zunächst 1980 in der Kulturzeitschrift El Ornitorrinco, Ausgabe 1-2/1980, danach in Cortázar, Julio, Argentina: Años de alambradas culturales, Barcelona 1984, S. 10-15). Cortázar hatte in seinem Text das Exil mit einer Paraphrase von Edgar Allan Poe als »entierro prematuro«, als Lebendbegrabensein bezeichnet und von einem »genocidio cultural« [kultureller Genozid] im Rahmen lateinamerikanischer Diktaturen geschrieben (Ebd., S. 11). Als Antwort auf Cortázars Artikel warf Heker ausgewanderten argentinischen Autoren (und indirekt insbesondere Julio Cortázar) vor, ihre Entscheidung sei wirtschaftlicher Natur, »ein Fall von dichterischer Hochsensibilität: zu fühlen, dass er nicht ertragen kann, was das argentinische Volk sehr wohl ertragen muss« (zit. in Bayer, 1988, S. 221, aus dem Span. von MLS). Nach Auffassung von Osvaldo Bayer hat Heker mit ihrem Kommentar lediglich die offizielle Meinung der autoritären Regierung reproduziert (Ebd.). 131

Erinnerung und Intersektionalität den Anfangsjahren der Diktatur erinnere ich mich nur an ein paar Veröffentlichungen im Buenos Aires Herald oder etwas in La Prensa. Einigen Kollegen bei der Agentur Noticias Argentinas (NA) gelang es sogar, Telegramme mit Meldungen über desapariciones zu verschicken. Sie empfingen die Mütter [der Plaza de Mayo], und so erfuhren wir einiges. Wir Journalisten bezogen unsere Informationen aus Veröffentlichungen der Kollegen von NA. Schließlich lasen wir die Berichte oder die Notizen in Humor, als würden wir »Das Kommunistische Manifest« lesen.103

Der Grund für die dargestellte Gefühls- und Vorsichtslage ist offensichtlich, wenn bedacht wird, dass laut CONADEP 15 Journalisten ermordet und 99 verschleppt wurden, von denen bis heute 84 nicht beerdigt werden konnten, darunter der Gründer der inoffiziellen Nachrichtenagentur ANCLA, Rodolfo Walsh.104 Offen Kritik zu üben oder gar Menschenrechtsverletzungen anzuprangern war den Journalisten streng verboten. Die Zensoren wachten über die einzuhaltenden Sprachregelungen. Alberto Dearriba erinnert sich sarkastisch: Einer der Männer, die die Presse zu überwachen hatten, wusste überhaupt nichts von der Existenz einer Nachrichtenagentur namens Noticias Argentinas. Sie hatten sehr dürftige Informationen über die Funktionsweise der Presse und gingen einfach mit der Dummheit des Zensors vor. Aber sie wussten sehr gut, was sie nicht wollten. Ich erinnere mich, dass damals eine Liste mit den Wörtern im Umlauf war, die wir zu benutzen hatten. Statt 103 Zit. in Anguita u.a., 2004, S. 19, aus dem Span. von MLS. 104 Die weiteren drei Mitglieder von ANCLA, Lucila Pagliai, Carlos Aznárez und Lila Pastoriza, überlebten die Staatsrepression und stellten 2012 ihr Buch ANCLA. Rodolfo Walsh y la Agencia de Noticias Clandestina (1976-1977) der Öffentlichkeit mit folgenden Worten vor: »Die Geheime Nachrichtenagentur ANCLA war eine wunderbare Erfahrung, weil sie zeigte, dass es in der Informationsfreiheit keine Barriere gibt, die mit dem erforderlichen Willen und Mut nicht durchbrochen werden kann. Es ist verblüffend: vier mechanische Schreibmaschinen, ausgeschnittene Zeitungsmeldungen, mündliche Informationen von Aktivisten und Freunden – damit konnten viele Argentinier erreicht werden und, vor allem, viele Länder der Welt. In Europa, in den USA, in Mexiko waren die internationalen Organe zur Verteidigung der Menschenrechte informiert über die Gräuel, die die Militärs begingen, nachdem sie die Macht usurpiert und Argentinien in ein riesiges Konzentrationslager verwandelt hatten« (Ejercitar la memoria editores, 2012, [Rückseite des Buchumschlags], aus dem Span. von MLS). 132

Teil II – Nation und die Subjekte/Körper der Rebellion »Kampf« musste es zum Beispiel »Aufeinandertreffen« heißen. Wenn also jemand von einem Krieg sprach, dann hinderten sie uns daran, das in dem Moment zu sagen. Wenn es überhaupt einen Krieg gab, dann hat kein Organ der nationalen Presse darüber berichtet.105

Argentinische Literaten im In- und Ausland wählten nicht selten den Weg der Allegorie106, um überhaupt Aussicht auf die Veröffentlichung ihrer Werke im Heimatland zu haben. Bekannte Beispiele dafür sind die 1980 erschienenen Romane Nada nadie nunca von Juan José Saer und Ricardo Piglias Respiración artificial. Als ein Puzzleteil im »Prozess der Nationalen Reorganisation« zielte die Zensur nicht nur darauf, den politischen Gegner zum Schweigen zu bringen. Die Unbestimmtheit und Willkür der Entscheidungen versetzte Kulturschaffende in einen Dauerzustand lähmender Angst. Durch die zunehmende Unsichtbarkeit bekannter Persönlichkeiten des Kulturbetriebs wurden die üblichen symbolischen Identifikations- und Austauschprozesse im öffentlichen Raum erschwert. Damit sollte jede Reaktion der Bevölkerung im Keim erstickt werden. Während die Zensur bestimmte Begriffe und Formulierungen verbot, konnten die Worte des Regimes umso lauter tönen. Andrés Avellaneda zeichnete in seiner 1986 erschienenen Studie Censura, autoritarismo y cultura Funktion und Wirkung der Zensur nach. Dabei stellte er fest, dass die diskursiven Verbotsprozesse, die in der Diktatur zur Anwendung kamen, keinesfalls von ihr begründet wurden, sondern am Ende eines Akkumulationsprozesses standen, dessen Anfang er – angelehnt an die durch die Militärs initiierte Beschleunigung des politischen Wechsels an den Spitzen der Institutionen – um das Jahr 1960 ansiedelt. Die Verabschiedung des ersten Dekrets − Nr. 16386 − im Jahr 1957 eröffnete dem Staat die Möglichkeit, ausländische Filme zu verbieten; es wurde zum ersten 105 Zit. in Anguita u.a., 2004, S. 13, aus dem Span. von MLS. 106 Die Untersuchung Alegorías de la derrota: la ficción postdictatorial y el trabajo del duelo von Idelber Avelar aus dem Jahr 2000 (insb. S. 1-28 und S. 100-115) wählt die Allegorie als Angelpunkt für die Analyse der Repräsentationen von Trauer und Niederlage in der Literatur der Postdiktatur. Die Rollen der Allegorie und der Ironie in den Diskursen des Militärs sowie als rhetorisches Mittel in Río de las congojas von Libertad Demitrópulos (Buenos Aires 1981), Juanamanuela, mucha mujer von Martha Mercader (Buenos Aires 1980), Respiración artificial von Ricardo Piglia (Buenos Aires 1980) und Flores robadas en los jardines de Quilmes von Jorge Asís (Buenos Aires 1980) werden von Mara Favoretto in ihrer Monographie Alegoría e ironía bajo censura en la Argentina del Proceso (19761983) (Lewinston u.a. 2010) analysiert. 133

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in einer Sammlung von Regelungen, die die Meinungsfreiheit zunehmend einschränkten.107 Eine Dekade später (1968) gründete ein Gesetzerlass der Diktatur von General Juan Carlos Onganía die Behörde Ente de Calificación Cinematográfica, die sich zur zentralen Entscheidungsinstanz im Bereich der Filmkontrolle entwickelte und sowohl Drehbücher für filmische Vorhaben als auch die Vorführung neuer Produktionen beobachtete. Die Behörde unterstand erst der Secretaría de Educación y Cultura, aber während der letzten Militärdiktatur wurde sie direkt in die Struktur des Präsidialamts eingegliedert, in die Secretaría de Información Pública. Die Leitlinien zur Förderung des argentinischen Films waren gleichzeitig die seiner Zensur und so teilte der für die »Intervención del Ente« (ein Euphemismus für die Unterwerfung der Behörde unter militärische Kontrolle) zuständige Fregattenkapitän Jorge E. Bitleston der Öffentlichkeit mit, welche Vorhaben unterstützt werden sollten: [A]lle nationalen Filme, die geistliche, moralische und christliche Werte sowie historische oder aktuelle Ideale der Nation betonen oder Konzepte wie Familie, Ordnung, Respekt und Arbeit unterstreichen. [Filme,] die sinnvolle Anstrengungen und soziale Verantwortung zeigen, um eine optimistische Volkshaltung im Hinblick auf die Zukunft zu wecken, und die obszöne Szenen oder schlüpfrige Dialoge strikt vermeiden.108

Berücksichtigt man die Belege für einen Beginn der systematischen Beobachtung und Bekämpfung verbotener Äußerungen im Jahr 1957, so liegt es nahe, in den Einschränkungen im Kulturbereich ein Korrelat für die repressiven Maßnahmen zur gezielten Disziplinierung und Vereinnahmung des öffentlichen Raums zu sehen. Doch erst im Lichte der Doktrin der nationalen Sicherheit und der Einbettung in die entsprechenden kontinentalen Politiken erhalten die Zensur und ihre institutionelle Umsetzung die Dimension, sie als diskursive Manifestationen des Kalten Krieges zu betrachten. Der Diskurs der Zensur tauchte nicht als geschlossenes Werk von Dekreten auf und war auch nicht, wie in Francos Spanien, durch ein Büro zentralisiert. Vielmehr gewann er allmählich an ideologischer und verwaltungstechnischer Homogenität durch das zunehmende Gewicht einer konfessionsorientierten Auffassung der Zulässigkeit von Werken und durch angeblich schon immer gültige Kriterien, die sich gleichermaßen auf Normen konstitutioneller wie nicht-

107 Avellaneda, 1986, S. 15. 108 Gociol/Invernizzi, 2006, S. 43. 134

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konstitutioneller Regierungen stützten.109 Die unerbittliche und maßlose Verfolgung von Verdächtigen einerseits und der betonte Formalismus durch eine Reglementierung der Praxis der Zensur mit der Vorgabe, ihr eine Legitimationsgrundlage zu schaffen110, andererseits spannten ein Netz von internen und externen Verboten, das den Kulturbetrieb quasi komplett zum Erliegen brachte. Die argentinische Verlagsindustrie, die einst zu den führenden spanischsprachigen Verlagsindustrien gehört hatte111, steckte von nun an in einer tiefen Krise, wie der Philosoph und Schriftsteller Nicolás Casullo bezeugte, als er die Übersetzungstätigkeit und damit die internationale Zugänglichkeit argentinischer Werke betrachtete: Nach dem Putsch verliert man nicht nur Marktanteile, man verliert die Gewohnheit, Sachen zu veröffentlichen, die wesentlich zur Theoriebildung beitragen. Als ich die Anthologie Moderne/Postmoderne herausgab, sagte man mir bei Puntosur: »Das Buch gehört doch übersetzt!«, und sie fragten mich, wer sich darum kümmern würde. Die Übersetzer musste ich suchen, und im Verlag wussten sie nicht einmal, wie viel sie ihnen bezahlen sollten. Da wurde mir klar, dass in Argentinien eine Verlagsära vorbei war. Denn zehn oder fünfzehn Jahre früher wäre die Übersetzung kein Problem gewesen. Übersetzer zu sein war ein wichtiger Beruf.112

Da der Gegner als allgegenwärtig imaginiert wurde, beobachtete der staatliche Nachrichtendienst neben allen Berufen der Kultur wie Journalisten, Schriftsteller, Poeten etc. auch disparate Materialien und Ereignisse wie Almanache und Schriftstellerkongresse, Schulbücher für den Unterricht in Spanisch, Religion und Französisch, Atlanten, zu übersetzende Bücher, Fernseh- und Radiosendungen, Nachrichtenmeldungen, Theaterprojekte vom Programm bis zur Aufführung und alle Schritte im Prozess des Kinofilms. Objekt der Repression war kurzum die Kultur an sich.113 Auch wenn der Versuch des Militärs, die Kulturlandschaft zu homogenisieren, weitestgehend gelang, wurde gegen die Zensur Widerstand geleistet und hier und dort öffneten sich Räume für Protest, Begegnung und kollektiven Zusammenhalt. In den Printmedien ist die nennenswerteste Erscheinung die Co109 Avellaneda, 1986, S. 17. 110 Invernizzi /Gociol, 2007, S. 48. 111 Ebd., S. 58. 112 Zit. in Ebd., S. 59, aus dem Span. von MLS. 113 Ebd., S. 51. 135

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miczeitschrift Humor, die mit Ironie und spaßiger Distanz zum Regime in der erklärten Absicht lächerlicher Verzerrung einen wichtigen Raum des Widerstands ausfüllte. Manche Comiczeitschriften, wie Mafalda von Quino, wurden sogar international bekannt. In den Comics artikulierte sich bevorzugt ein Gegendiskurs, der in dieser hybriden und eingängigen Form der Text- und Kunstproduktion starke Verbreitung fand. Einer der wichtigsten Comictexter der damaligen Zeit, Héctor Germán Oesterheld, Autor u.a. des anspruchsvollen Comicstreifens El Eternauta, wurde verschleppt und im Folterlager »El Vesubio« gefangen gehalten. Seine Überreste wurden bis heute nicht gefunden. In der klassischen figurativen Malerei brachten u.a. Antonio Berni und Carlos Alonso ihr soziales Engagement zum Ausdruck. Antonio Berni dokumentierte in den Sechzigern mit seinen archetypischen Figuren Juanito Laguna und Ramona Montiel die soziale Exklusion bildlich; seine Figuren wurden dann durch Musiker wie César Isella und Carlos Piazzolla und die Interpretin Mercedes Sosa weitergetragen und gewannen so bei einem breiten Publikum große Aufmerksamkeit. Bernis Wandmalereien Crucificción und Apocalipsis in der Kapelle des San-Luis-Gonzagas-Instituts im Bezirk Las Heras (Buenos Aires) setzen (seit) 1981 den Widerstand gegen die Diktatur in Szene: Darin sind die Militärs, die Madres der Plaza de Mayo und die geraubten Kinder leicht auszumachen. Carlos Alonso bearbeitete die Repression in seinem Exil in Italien und Spanien und gab dem Verlust seiner verschleppten und verschwundenen Tochter Paloma in seiner Malerei Ausdruck; drei seiner Werke illustrieren dieses Buch. Heute noch bezeugen seine Malerei wie seine Worte die Kraft der Kunst: Ich glaube nach wie vor an die Kunst und vor allem an ihr unbestechliches, unsentimentales Gedächtnis, denn sie vermag die Wunden festzuhalten, die uns das Leben zufügt. Ich glaube nicht, dass die Kunst irgendein Problem dieser Welt lösen kann, zumal die Zweideutigkeit die figurative Kunst vereinnahmt und die Banalität das Etikett öffentlicher Nützlichkeit bekommt. Die Staaten dieser Welt versuchen, uns durch Armut und Terror zu sterilisieren, aber genau mit dieser furchtgebeutelten Liebe können wir unsere Bilder schaffen.114

Luis Felipe Noé aus der Kunstbewegung »Nueva Figuración«, die mit Ernesto Deira, Rómulo Macció und Jorge de la Vega als stärkste Kunstrichtung im Argentinien der damaligen Zeit gewertet wird, wurde mit seinem 1971 erschienenen Buch-Kunstgegenstand Una sociedad colonial avanzada eine einfluss114 Ponieman, 2013, o. S. 136

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reiche Stimme, die sich allerdings aus dem Pariser Exil meldete. In der Skulptur wandten sich wichtige Akteure der abstrakten-konkreten Avantgarde wie Enio Iommi den figurativen bzw. expressionistischen Ausdrucksformen zu. Iommi begründete die Entwicklung seiner Kunst mit politischem Engagement bzw. einem Bedürfnis, Inhalte explizit darzustellen, die in der Abstraktion nicht zum Tragen kamen. Im Jahr 1977 setzte er mit Adiós a una época einen Schnitt in seinem Werk, das bis dorthin eminent konkret war; fortan arbeitete er mit sperrigen Gegenständen, Aggregaten, Konstrukten aus Stacheldraht, Pflastersteinen, Stricken und Hölzern, die den »dramatischen Raum« der Diktatur aufriefen, um die Gewalt auszudrücken. Die Installationskünstlerin Marta Minujín wandte sich politischen Inhalten zu und setzte mit Obelisco Acostado (1978) auf der Biennale von São Paulo und mit Partenón De Libros (1983) ein international sichtbares Zeichen gegen die Ereignisse in ihrem Heimatland. Der sogenannte »Rock Nacional«115, dessen Emergenz auf die Zeit der repressiven Regierung Onganía verortet wird, kanalisierte in den Songtexten von Gruppen wie Pedro y Pablo, Sui Generis, Serú Girán, Invisible und mit Musikern wie Charly García, Luis Alberto Spinetta, León Gieco den Jugendprotest und postulierte dabei einen freiheitlicheren Lebensstil. In den Texten artikulierte sich im oftmals ambivalenten Raum der Metaphorik und der Allegorie ein Widerstand, der von vielen singend mitgetragen wurde. Doch die Repressalien waren immer latent: Nachdem Mercedes Sosa im Oktober 1978 in La Plata während eines Konzerts mit dem gesamten Publikum, etwa 300 Personen, festgenommen wurde, musste die Künstlerin ins Exil und ihre gesamte Diskographie wurde aus den Verkaufstheken entfernt. Etwa drei Jahre später, im Juli 1981, konnten 20 Theaterdirektoren und ebenso viele Dramaturgen sowie über 100 Schauspieler mit der Aktion »Teatro Abierto« ein starkes Zeichen setzen, als sie einem zensurverdrossenen Publikum ein eigens kreiertes Programm präsentierten und damit eine Welle des kulturellen Widerstands initiierten. Innerhalb zweier Monate gab es 200 ausverkaufte Vorstellungen vor rund 25.000 Zuschauern. Nach einem Brandanschlag auf das Teatro del Picadero in der ersten Woche wurden die Vorstellungen in der Avenida Corrientes fortgesetzt. Die Stü115 Nach Raúl García unternahm das Militär den Versuch, den argentinischen Pop & Rock für den Aufruf zur nationalen Einheit während des Falklandkrieges zu instrumentalisieren, weil es dessen politisches Potenzial richtig erkannte (García, 2000, S. 196). Zum wichtigen Beitrag der Rockmusiker zum Widerstand gegen die Zensur vgl. u.a.: K reimer, Juan Carlos/Polimeni, Carlos, Ayer nomás. Cuarenta años de rock en Argentina (1966-2006), Buenos Aires 2006, und Pujol, Sergio, Rock y Dictadura, Buenos Aires 2007. 137

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cke arbeiteten mit Allegorien116 und waren inhaltlich weitestgehend unpolitisch, doch das Ereignis des Theaterbesuchs war es, was durchaus politisch war. Mit dem Teatro Abierto nahm 1981 eine Strategie des öffentlichen Widerstands Gestalt an, der sich im Kulturbetrieb artikulierte und von dort aus wichtige Impulse in die Gesellschaft senden sollte. Die Schauspielerin Marta Bianchi bringt den wesentlichen Beweggrund auf den Punkt: »Allein und verängstigt konnten wir nichts unternehmen, wir mussten uns zusammentun.«117 Vor allem durch argentinische Kinomacher im Exil entstand in dieser Zeit eine Filmographie des Widerstandes und der Aufdeckung der Verbrechen: Unter den Namen Cristina Benitez und Hernán Castillo präsentierten Ana Amado und Nicolás Casullo 1976 im mexikanischen Exil den Dokumentarfilm Montoneros, crónica de una guerra de liberación der Öffentlichkeit. 1978 zeigte Jorge Cedrón unter dem Pseudonym Julián Calinki im französischen Exil den Dokumentarfilm Resistir (Drehbuch: Juan Gelman). Aus Schweden brachte Marianne Ahrne 1979 zur Eröffnung des Internationalen Filmfests in Moskau den Film Frihetens murar, Murallas de la libertad mit, der die Schwierigkeiten eines jungen argentinischen Schauspielers zeigte, der in Schweden Exil fand, aber seine traumatische Vergangenheit nicht überwinden konnte. Carlos Saura drehte 1978 Los ojos vendados und erzählte darin die Geschichte eines Regisseurs, den die Schilderungen eines argentinischen Opfers der Repression so bewegen, dass er sie als Theaterstück inszenieren will, wodurch er selbst Opfer der Verfolgung durch rechtsextreme Gruppen wird. Raimundo Gleyzer drehte im selben Jahr in Italien Persistir es vencer, mit dem Aufruf der PRT-ERP, Widerstand zu leisten. Humberto Ríos dokumentierte 1979 mit Esta voz entre muchas in Mexiko die Stimmen von Laura Bonaparte, Carlos González Gartland und Raúl Fonseca über die Repression und die Folterungen in Argentinien. Im eigenen Land wurde das argentinische Kino Gegenstand stärkster Überwachung durch die Zensur, ausgeübt durch den »Ente« und dessen bekanntesten Vertreter, Miguel Paulino Tato.118 Nicht als politisch einzustufen war die Romanverfilmung, die argentini116 Der Theaterkritiker Jorge Dubati analysiert die Rolle der Metapher bei Teatro Abierto: »Mit ihrer schiefen Eloquenz markiert die Metapher den Übergang von einem politischen Schocktheater – das Anfang der 70er Jahre sehr verbreitet war – zu einem metaphorischen politischen Theater, das das Verschwinden, die Abwesenheit, das Unterdrückte und das Verschwiegene in fühlbare Anwesenheiten überführt. Diese Ausdrucksform der Künstlergemeinde erstrahlt 1981 mit dem Teatro Abierto am hellsten« (Dubati, 2006, S. 37, aus dem Span. von MLS). 117 Memoria A bierta, 2008. 118 Gociol/Invernizzi, 2006, S. 35. 138

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sche Kinos 1976 zeigten: Crecer de golpe119 basierte auf dem Roman Alrededor de la jaula von Haroldo Conti aus dem Jahr 1966; der Autor hingegen war es schon: Conti wurde am 5. Mai desselben Jahres verschleppt und zählt zu den Desaparecidos.120 Mit El poder de las tinieblas zeigte Mario Sábato 1979 eine Adaption des Kapitels »Informe para ciegos« aus dem Roman Sobre héroes y tumbas seines Vaters Ernesto Sábato, die als mögliche Allegorie der damaligen politischen Situation verstanden werden konnte, wie auch der Film La Isla, den Alejandro Doria im selben Jahr in einer psychiatrischen Klinik inszenierte. Sein Film Los miedos aus dem Jahr 1980 ist von ähnlich düsterem Charakter: Sechs Überlebende, archetypisch gewählt, fliehen vor einer Pestepidemie in den Süden Argentiniens. Das zunehmende Nachlassen der Zensur 1981 kann an Tiempo de revancha festgemacht werden, dem Film, mit dem Adolfo Aristarain einen Kassenerfolg landete; er handelt von einem ehemaligen Gewerkschafter, der seine Vergangenheit verschweigt, um Arbeit zu bekommen, aber von seinem alten Engagement in der Gegenwart eingeholt wird. Ein Jahr später wagte Aristarain mit Los últimos días de la víctima eine offenere Sozialkritik. 1982 ist kinotechnisch ohnehin das Jahr der Öffnung: David Lipszyc zeigt Volver und gibt den nichteingelösten Träumen der Jugend einen Platz auf der Leinwand, während Fernando Ayala mit Plata dulce den wirtschaftlichen Abstieg Argentiniens bissig kommentiert. Die Verstöße gegen die Zensur waren Lichtblicke »in einer Realität, die schwer zu fassen war, weil viele ihrer Bedeutungen […] [in] einer chaotischen Masse von Erfahrungen, die von kollektiven Erklärungen zerspalten waren, verborgen blieben«,121 wie Beatriz Sarlo den Alltag unter der Zensur zusammenfasste, um die sinngebende Aufgabe der Kultur in jener Zeit zu beschreiben. Das Regime erhob Anspruch auf totale Kontrolle des öffentlichen Raums, die ihm größtenteils auch gelang. Nur im Kontext der Terrorisierung der Bevölkerung 119 Mit Verärgerung kommentierte der renommierte Journalist und Schriftsteller Eduardo Anguita das Verhalten des Regisseurs Sergio Renán, der sich trotz bester Kontakte in Regierungskreisen nie für die Freilassung Haroldo Contis einsetzte. Die regimekonforme Haltung des Regisseurs wurde ein paar Jahre später durch den Regierungsauftrag bestätigt, anlässlich der Fußballweltmeisterschaft den Huldigungsfilm »La fiesta de todos« (1978) zu drehen (Anguita, 2004-2015, o. S.). 120 Die Beschreibung der Nacht der Verschleppung durch seine Partnerin Marta Scavac gehört zu den bewegenden testimonios familiärer Betroffenheit (Scavac, 1986, o. S.). 121 Sarlo, 1987, S. 34. 139

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kann der erforderliche Mut zur Transgression nachvollzogen werden. Es gelang jedoch nicht, einen Gegendiskurs zu bilden, der die Ablösung der Regierungsmacht durch die zermalmende Kraft einer Widerstandsbewegung durchsetzte. Das Regime hatte sich durch die Besetzung der Falklandinseln international diskreditiert und erst dadurch zerbrach seine innere Kohäsion. a. Diskursive Konstruktionen und Zuweisungen – Feindbilder Seit dem Ende der 50er Jahre und nach und nach bis zur Phase des entfesselten Terrors ab der zweiten Hälfte der 70er Jahre hatte der Diskurs der Zensur öffentliche und private Räume durchtränkt und durch manichäisches Denken eine implizite Verdächtigung von Abweichlern erzielt. Legitimiert wurde er mit dem Schutz von Minderjährigen, Moral, Familie, nationaler Sicherheit und »argentinidad« [Argentinität]. Bekannte performative Topoi basierten auf einem Verständnis von legitimer/echter vs. illegitimer/falscher Kultur, wobei legitim das Unsrige, das Einheimische war und illegitim als synonym zu fremd, ausländisch, nicht-unsrig verwendet wurde.122 »Falsche« Kulturprodukte entsprachen nicht der Moral, »dienten« außerdem dem Negativen oder »maskierten« eine falsche Absicht. Eine binäre Weltanschauung reproduzierte das Universum des Kalten Krieges und etablierte Alteritätskonstruktionen: Das »Eigene« stand für den Okzident und die freiheitliche Welt und wurde in der Formel des »ser nacional«, des nationalen Seins, zusammengefasst, das »Fremde« wurde mit dem linksrevolutionären Lager, dem Kommunismus und dem totalitären Osten gleichgesetzt. Dieser politische Blick dehnte sich auf alle Bereiche des Lebens aus und betraf auf der Mikroebene auch die Vorstellungen von Moral. Was nicht moralisch war, umfasste insbesondere die Sexualität. Lust und Sinnlichkeit wurden synonym zu Perversion und Prostitution verwendet, da sie nach erzkonservativer Gesinnung der Familie oder der Ehe nicht dienlich waren. Diese Vorstellung von A-Moralität traf vor allem das Kino und die graphische Presse mit Verboten, die sie praktisch lahmlegten. Nicht moralisch war auch alles, was angeblich religiöse Institutionen angriff oder gefährdete, und alles, was sich vermeintlich gegen die Sicherheit oder die Interessen der Nation stellte. Alles, was sich gegen das nationale Sein, das sich westlich und christlich formulierte, stellen könnte, wurde als marxistisch bzw. kommunistisch abgestempelt. Hieran knüpfte die vermeintliche »antiargentinische Kampagne«123 an, die angeb122 Avellaneda, 1986, S. 19. 123 Osvaldo Bayer versicherte, dass diese Kampagne das Ergebnis der Arbeit einer US-amerikanischen Werbeagentur und eines gezielten Propagandafeldzugs der Militärs im Vorfeld der Fußballweltmeisterschaft war (vgl. Bayer, 1988, S. 212). 140

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lich von Exilierten und irregeleiteten Nationen vorangetrieben wurde, um das Land zu diskreditieren. Regierungskritische Äußerungen, wie die im Bericht des Besuchs der CIDH (Comisión Interamericana de Derechos Humanos)124 oder die im Vorfeld und während der Fußballweltmeisterschaft 1978 (die weltweit ausgestrahlte Ächtung durch die Nationalmannschaft der Niederlande), wurden als antiargentinisch gewertet. Nicht pro-Junta zu sein wurde synonym zu antiargentinisch; Widerspruch zu erheben konnte demnach nur noch als Symptom kommunistischer oder marxistischer Gesinnung gedeutet werden, mit fatalen Konsequenzen. Katholisch/christlich wurde mit einer »objektiven moralischen Ordnung«, mit der »Freiheit und Würde des Menschen als maximaler Wert«, mit dem »Respekt für das Eigentum«125, mit »Spirituellem vor Materiellem« gleichgesetzt. Nicht-katholisch/nicht-christlich, fremd und anormal, marxistisch oder subversiv, atheistisch, antireligiös, antihumanistisch, materialistisch126 waren die Adjektive, die das Feindbild weiter zeichneten.127 Von diesem Feind ging eine Gefahr für die nationale und territoriale Einheit und die Souveränität der Nation aus, die es abzuwehren galt und die im 124 Anlässlich dieses Besuchs startete das Innenministerium unter General Albano Harguindeguy die Kampagne »Los argentinos somos derechos y humanos« [Wir Argentinier sind rechtschaffen und menschlich] und ließ 250.000 Aufkleber mit diesem Slogan auf der argentinischen Nationalfahne drucken. Das kleine Wörtchen »y« [und] machte dabei den großen Unterschied: Die »derechos humanos«, die Menschenrechte, hatte sich das Innenministerium quasi auf die Fahne geschrieben und verhöhnte den Kampf dafür mit der Aussage »Wir Argentinier sind Menschen und Gerechte« (vgl. Seoane, 2006, o. S.). 125 Der Respekt für das Eigentum wurde besonders hoch gewertet und als eine der vier Hauptsäulen der okzidentalen Gesellschaft neben Religion, Freiheit und Familie gestellt. Gleichzeitig wurde die Angst vor Enteignung geschürt und die große Gefahr betont, die vom Marxismus durch Kollektivierung und Sozialisierung ausging – ein Schreckgespenst für die Mittelschicht, die nach dieser Vorstellung im Zuge der gesellschaftlichen Transformation ihren hart erarbeiteten Wohlstand verloren hätte. 126 Beim Wort »materialista« fand eine Aufhebung des Unterschieds zwischen der Verwendung im Begriff des »historischen Materialismus« als Methode der marxistischen Theorie und der moralisch fragwürdigen Haltung des Konsumismus statt, so dass die politische Zuordnung eine weitere moralisierende Komponente erhielt. 127 Avellaneda, 1986, S. 21. 141

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Teildiskurs der Sicherheit thematisiert wurde. Darin waren die Vorgaben »Aufrechterhaltung der Ordnung, um zu verhindern, dass sich die Werteskala des eigenen institutionellen Systems auflöst« bzw. »Respekt für die Beziehungen mit den befreundeten Ländern«128 Aspekte, die weniger an einen externen, sondern vielmehr an einen internen Rezipienten adressiert waren. Dieses sprachliche Komplement des sogenannten Kampfes gegen die Subversion und der Operation Condor lässt anhand der Wortwahl seinen Ursprung in der Doktrin der nationalen Sicherheit aufspüren. Sie fand ein juristisches Korrelat in der Regelung der Praxis der Zensur und der Bestrafung ihrer Missachtung im Gesetz der nationalen Sicherheit Nr. 20848 vom 02.10.1974. Wer »zur Durchsetzung seiner ideologischen Ziele auf welche Art auch immer versucht[e] oder fordert[e], die institutionelle Ordnung und den sozialen Frieden der Nation zu stören oder zu zerstören«,129 wurde zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Diese Unbestimmtheit der »Mittel«, die nach einer Auslegung verlangte, bedeutete eine besondere Gefahr für Journalisten,130 denn allein der Informationspflicht nachzukommen konnte zu Anschuldigungen führen, frei nach dem Motto: Nicht die Nachricht ist unwillkommen, sondern der Überbringer muss sterben. Dadurch wirkte dieses Gesetz wie eine Art Desinformationsgesetz, weil allein die realitätsnahe Berichterstattung zum Verhängnis werden konnte und durch die zunehmenden illegalen Aktivitäten der Triple A, die gezielt Kulturarbeitende angriff, für Hunderte von Journalisten ihre berufliche Aufgabe in der Tat lebensgefährlich wurde.131 Bezeichnenderweise wurde das Gesetz aus dem Jahr 1974, das die Zensur regelte, zwei Jahre später durch das Gesetz 21459 erweitert. Dieses Gesetz sah für Gewaltakte gegen Militär- oder Sicherheitspersonal hohe Gefängnisstrafen (bis zu fünfzehn Jahre), lebenslänglichen Freiheitsentzug oder gar den Tod vor, und schon Drohungen und die Beleidigung oder Kränkung der »Würde von Sicherheitskräften« konnten bis zu zehn Jahre Gefängnis bedeuten. In einem 128 Ebd., S. 20. 129 Ebd., S. 38. 130 Die Gruppe der Verdächtigen wird im Gesetz folgendermaßen abgesteckt: »[…] Redakteure, Herausgeber von Publikationen jedweder Art, Rundfunkdirektoren und -sprecher oder Verantwortliche jedweder Art von Kommunikationsmedium, die informieren oder Tatsachen, Bilder oder Mitteilungen im Sinne von Artikel 1 verbreiten« (zit.n. Avellaneda, 1986, S. 38, aus dem Span. von MLS). 131 Zu den 1.100 Opfern der Triple A vor der Militärdiktatur und zur Beziehung zwischen Staatsmacht und Triple A vgl. den Artikel »Hubo 600 desaparecidos antes del 76« in der Zeitung La Nación vom 13.01.2007 (Sued, 2007). 142

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schizophrenen Gestus strebte der Staatsterror, während er illegal verschleppte, folterte und tötete, gleichzeitig und fast zwanghaft einen Legalismus an, der eben seine laufenden illegalen repressiven Praxen maskieren sollte. Das Bild des Feindes wurde durch Zuweisungen konstruiert, die suggerierten, der Feind hätte eine inhärente Natur, woraus sich gefährliche Handlungen ableiteten. So erklärte der Vizekultursekretär der Provinz Buenos Aires, Francisco Carcavallo, gegenüber der Zeitung La Prensa am 24.06.76 die Art und Weise, wie ein allgegenwärtiger Gegner die Kultur durchdrang, um die Jugend zu beeinflussen: Die Kultur war und bleibt das geeignetste Mittel, um extremistische Ideologien einzuschleusen. […] In unserem Land sind die künstlerischen-kulturellen Infiltrationskanäle über einen verformenden Prozess benutzt worden, dessen Basis Protestsongs, die Verherrlichung von Künstlern und extremistischen Texten, Avantgardetheater oder Werke waren, die gezielt subtil eingesetzt werden; Gedichtvertonungen, kostenlose Soloauftritte für Studentengruppen oder in Vierteln mit knappen finanziellen Mitteln, plastische Werke mit deutlicher Guerillaprägung, Pressekonferenzen zur Verteidigung von Kameraden in anderen Ländern, Auftritte in Musikcafés, bei denen die Botschaft immer völlig unschuldig übermittelt wird. […] So schaffen sie es, über die kulturellen Medien einen Bereich der Jugend zu beeinflussen, der von Natur aus, aus Unerfahrenheit oder aufgrund des Alters unangepasst ist.132

Beachtlich in dieser Darstellung ist, dass bei dem Versuch, das Schreckensbild eines gefährlichen Gegners zu zeichnen, kulturelle Manifestationen als verdächtig aufgelistet wurden, die der Vorstellung von Kultur als Hochkultur nicht entsprachen und Innovationen auf deren Feld waren. Diese Ausweitung des Kulturverständnisses auf alle Bereiche des Lebens, die in den 60er Jahren innovativ war, wurde von konservativen Kreisen als Unterwanderung der Kultur durch die linksrevolutionäre Bewegung verstanden und als Gefahr für die Jugend bewertet. Es wurde Künstlern unterstellt, dass sie präzise Ziele und minuziös einstudierte Aktionspläne verfolgten, um die Jugend ideologisch zu durchdringen und zu korrumpieren. Diese Vorstellung einer gefährdeten Kultur durch ihre zunehmende Popularisierung erhielt bereits in der ersten Akkumulationsphase einen wichtigen Platz im Diskurs und avancierte in der zweiten Phase der Systematisierung zu der Annahme, sie sei Teil eines teuflischen Plans von erfolg132 Zit. in Avellaneda, 1986, S. 138, aus dem Span. von MLS. 143

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reichen Ideologen der »intellektuellen Subversion«133. Nach Andrés Avellanedas Einschätzung diente der von ihm so genannte repressive-zensorische Diskurs zwischen 1976 und 1983 größtenteils dazu, eine militärische Interpretation der nahen Vergangenheit zu vermitteln, in der der Feind Bildung und Kultur unterwandert hatte.134 Er stand im Verdacht, maskierte Absichten zu verfolgen. Dieses diskursive Element war eine zentrale Voraussetzung für die massive Anwendung der Folter, weil diese ja in der Konsequenz eine »verborgene Wahrheit« zu Tage fördern sollte. Die Oppositionen »Christentum vs. Kommunismus«, »Okzident vs. Orient«, »freiheitliche westliche Welt vs. totalitäre östliche Welt« erweiterten den Ausdruck »Kampf gegen den Kommunismus« und konzentrierten sich auf Felder, in denen die repressiven Praxen der sog. »zweiten Akkumulationsphase« wüteten: Kunst und Kultur, Bildung und Erziehung. Im August 1980, als die Staatsrepression bereits gewütet hatte, führte Junta-Mitglied Leopoldo F. Galtieri in einem Fernsehinterview aus: »[A]uf dem intellektuellen Feld ist der Kampf breiter, tiefer […] [und] er wird mehr Zeit erfordern als der militärische Kampf.«135 Für dieses Feld wurde das Apriori einer sich einschleichenden Gefahr für eine wehrlose, betrogene Jugend und ein unmündiges Publikum, die geschützt werden mussten, artikuliert. Diese Schutzfunktion der Armee wurde immer wieder unterstrichen, auch als es darum ging, Bücherverbrennungen zu rechtfertigen, wie die Berichterstattung in der Zeitung La Prensa vom 30. April 1976 zeigt, als das Kommuniqué zitiert wurde, das eine öffentlich und medial inszenierte Bücherverbrennung in Córdoba begleitete: Damit unsere Jugend mit diesem Material nicht länger in die Irre geführt wird. Unser wahres Gut sind unsere nationalen Symbole, unsere Familie, unsere Kirche und schließlich unser ältestes geistiges Erbe, das besagt, dass wir unserem Gott, unserem Vaterland und unserer Familie verpflichtet sind.136

Als Schützende bestärkt sahen sich die FF.AA. ebenso durch die Auffassung, die Zivilgesellschaft Argentiniens habe bis dato kein geeignetes Personal für die Aufgabe des Regierens hervorgebracht und genau darin sei der Grund für die Krise der Gesellschaft zu finden. Kraft Zugehörigkeit zur Armee und als Mit133 Ebd., S. 23. 134 Ebd., S. 28. 135 Zit. in Ebd., S. 27. 136 Zit. in Ebd., S. 135, aus dem Span. von MLS. 144

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glieder einer authentischen Elite sahen sich die Streitkräfte besser in der Lage und sozusagen prädestiniert, anstelle einer demokratisch gewählten Volksvertretung die Regierungsfunktion zu erfüllen: Die Eliten, die aus anderen gesellschaftlichen Bereichen hervorgegangen sind, aus fähigeren, geeigneteren, echteren, regieren besser als die Masse, die sich ihrer Beschränkungen nicht bewusst ist.137

Als selbsternannte politiktüchtige Elite, aber auch als Vehikel für die Regierungspartizipation von Mitgliedern der altehrwürdigen argentinischen Oligarchie, deren auffälligstes Mitglied im Kabinett der Junta der Wirtschafts- und Finanzminister José Martínez de Hoz war, postulierte sich die Militärregierung abermals als wahrer Retter der Nation. So wurde im Inneren eine diskursbegleitete Front ausgerichtet, die der Ausgrenzung des inländischen Feindes galt. Die Streitkräfte betteten das eigene Machtbegehren in eine geopolitische Lektüre ein, die Argentinien − und damit ihnen selbst − im Weltszenarium des Kalten Krieges einen würdigen Platz einräumte, wie die Worte von Brigadegeneral Graffigna aus dem Jahr 1979 belegen: »Argentinien ist für die Sicherheit Amerikas lebensnotwendig und somit für die Sicherheit [der Seele] des Okzidents im Cono Sur.«138 Die Verortung der eigenen Aufgabe innerhalb eines geopolitischen Rahmens verleitete die argentinischen Streitkräfte dazu, ihr Selbstverständnis ins Messianische zu steigern. Andrés Avellaneda stellte fest, dass die FF.AA. zwischen 1976 und 1978 für die Legitimation ihrer Rolle die Geschichte bemühten. Sie sahen Argentiniens goldenes Zeitalter am Ende des 19. Jahrhunderts; danach hätten die gesellschaftlichen Transformationen das Land in eine Krise gebracht, die durch Demokratie, Rationalismus, eine gesetzlich verankerte institutionelle Konfessionsneutralität und die fehlende Religiosität zu erklären war, wie folgende Zitate implizieren: »als Ergebnis der Dämpfung eines unvernünftigen Optimismus, der aus der Verbindung von wissenschaftlichem Rationalismus, Automatisierung, Romantik und Demokratie erwächst«; »die Mängel eines Gesetzes aus dem Jahr 1896 – des Bildungsgesetzes – machten das ungebremste Wirken der ideologischen Gruppen möglich«; »das ist auch eine Krise des Glaubens«.139 Das goldene Zeitalter vor der Gründung des modernen argentinischen Staates wurde zum Reservoir verlorener Tugenden mystifiziert. Ein Erklärungsmuster, das Sinn ergibt, wenn bedacht wird, dass durch 137 Zit. in Ebd., S. 29, aus dem Span. von MLS. 138 Zit. in Ebd., S. 31. 139 Ebd., S. 29f. 145

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die Trennung von Staat und Kirche und vor dem Hintergrund der Auseinandersetzungen im bourgeoisen Milieu, der zunehmenden Zuwanderung und der nachfolgenden Gründung von Gewerkschaften das Militär und die Kirche in Argentinien am Ende des 19. Jahrhunderts empfindlich an Gewicht verloren hatten. Der Laizismus wurde Ausdruck eines Liberalismus, der Fortschritt, Zivilisation und Marktwirtschaft lobte und sich gegen eine Kultur stellte, die als »rückständig, barbarisch, faul, hispanisch140, indigen, ländlich« galt, während seine Affinität zu den Freidenkern und Sozialisten in Sprüchen wie »Militärs in die Kaserne und Priester in die Sakristei« zum Ausdruck kam.141 Für Fortunato Mallimaci ist die aktive Unterstützung der Putschenden durch die katholische Kirche das Charakteristikum einer Entwicklung, die ab den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts die argentinischen Streitkräfte zu einem anerkannten politischen Akteur werden ließ. Ein Klerus, der durch die laizistische Gesetzgebung spürbar an Einfluss verloren hatte, gewann ihn durch den Pakt mit dem Militär nach und nach zurück. Diese Allianz bedingte einen langsamen, aber stetigen Prozess des Katholisierens des Staates und der öffentlichen Räume sowie die Ausprägung einer allgemeinen katholischen Kultur. Vor dem Hintergrund einer weltweiten Expansion des Katholizismus in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg festigte sich die Vorstellung einer katholischen argentinischen Nation, die nach dem Putsch von 1930 in alle Staats- und Gesellschaftsschichten getragen wurde. Der Katholizismus wurde in der Folge zum identitätsstiftenden Element deklariert, so dass u.a. die Präsidentschaftskandidaten dem katholischen Glauben zugehörig sein mussten. Mit der gebetsmühlenartigen Betonung des »ser nacional« und der christlich-okzidentalen Werte wurden die diskursiven Voraussetzungen für einen Kampf geschaffen, der vierzig Jahre später in seiner Radikalität zum Vernichtungskrieg wurde. So hieß es entsprechend »erradicar la subversión« [die Subversion ausrotten]: »Erradicar« bedeutet »mit der Wurzel ausreißen« und wird mit adverbialen Bestimmungen wie gänzlich, völlig, umfassend, endgültig kombiniert. (Sprachlicher) Fanatismus pur. Die erzkatholische und antiliberale Haltung, die sich in einem homogenen »wir« des nationalen Seins oder der »argentinidad« formulierte, schloss entspre140 »Hispanisch« verweist hier auf Spaniens wirtschaftliche und soziale Lage seit der Neuzeit, die im Vergleich mit anderen europäischen Ländern lange Zeit durch Stagnation und Dekadenz gekennzeichnet war. Vornehmlich am Erhalt und der Verwaltung des Übersee-Imperiums interessiert, koppelte sich das Land vom Kapitalismus- und Rationalismuskurs des restlichen Europas durch anti-reformatorische Bestrebungen ab (s. Bernecker 2009). 141 Mallimaci, 2008, S. 245. 146

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chend und notwendigerweise einen Teil der Einwanderungsgesellschaft aus. Zu den Anarchisten, Sozialisten, Kommunisten und Gewerkschaftlern, die sich für die Belange der Arbeiter in der sich industrialisierenden Gesellschaft der neuen Heimat engagierten, zählten viele Mitteleuropäer, die die Ereignisse in der alten Heimat bewegten, darunter viele jüdische Zuwanderer. Daher geht der Weg der Suche nach den Brüchen und den Kontinuitäten, die in der Entwicklung einer so brutalen Repression gipfelten, vielfach über die ambivalente Tradition Argentiniens in Bezug auf seine jüdische Bevölkerung. Vieles spricht dafür, dass die FF.AA. durch das geopolitische Verständnis der 70er Jahre und die konfessionelle Verankerung ihrer selbstgestellten Aufgabe das eigene Machtbegehren zu einer christlichen Mission, einem Heiligen Krieg, einem Kreuzzug gegen den Kommunismus erhoben, worauf die Verlautbarungen von General Camps ‒ »Wir kämpfen auch für unseren Gott. Für die christlichen Ideale und für das, wofür die Kultur unserer Vorfahren steht.«142 ‒ oder von Oberstleutnant Hugo Pascarelli hindeuten: Heute mehr denn je stehen die bleibenden Werte des Menschen auf dem Spiel: Wir können zu Gott, Vaterland, Familie stehen oder wir können in der ewigen Dunkelheit des Materialismus versinken durch den Marxismus, den die Apostel der künstlichen Paradiese in unserem Land einführen wollen. Ihr Versuch wird nicht fruchten, denn in diesem heiligen Krieg muss man eindeutig Stellung beziehen, sich für eine Flagge entscheiden: für den himmelblauen und weißen Umhang der Jungfrau Maria143 oder für den roten Fetzen, der gleichbedeutend ist mit der Negierung des Seins.144

In dieser Darstellung der Staatsrepression als »heiliger Krieg« idealisierten sich die Mitglieder der FF.AA. selbst zu Akteuren eines Krieges für einen höhergestellten Zweck. So stellte General Graffigna den Dienst der Streitkräfte als 142 Zit. in Avellaneda, 1986, S. 214, aus dem Span. von MLS. 143 Die Jungfrau Maria wurde nach 1943 vom Oberst zum General der FF.AA. befördert. Als der katholische Glaube zunehmend zum Pfeiler der Nation wurde, zogen in staatlichen und öffentlichen Räumen wie Ministerien, Schulen, Polizeirevieren, Bus- und Zugstationen Marienstatuen ein. Damit wurde nach Mallimaci das mittelalterliche Imaginär einer in drei Stände aufgeteilten Gesellschaft – »diejenigen, die arbeiten (die Gewerkschaften), diejenigen, die Krieg führen (die argentinischen Streitkräfte) und diejenigen, die beten (die katholische Priesterschaft)« dargestellt und neu belebt (Mallimaci, 2008, S. 247). 144 Zit. in Avellaneda, 1986, S. 143, aus dem Span. von MLS. 147

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Opfergabe dar und aktivierte damit die religiöse Semantik des Christentums: »blutige Opfergaben, mit denen wir die Auszeichnungen wiedererrungen haben, die uns als aktive Mitglieder dieser freien Welt akkreditieren«.145 Der Kreuzzugscharakter des gegen die »Subversiven« geführten Kriegs weist Parallelen zur Rhetorik des Nationalsozialismus in Deutschland auf. In der Interpretation von Arno Mayer bildete der Aufruf zum säkularen Kreuzzug gegen das bolschewistische Regime und seine Ideologie einen entscheidenden Moment für das Schicksal der Juden Europas.146 Diese Idee vom Kreuzzug wird von Arno Mayer als Szenarium verstanden, in dem die Voraussetzungen für die Ausrottung der europäischen Juden geschaffen wurden; eine Auffassung, die auch Saul Friedländer teilt. Er bezeichnet die Vorstellung Hitlers, seine Mission sei eine Art Kreuzzug zur Erlösung der Welt durch die Beseitigung der Juden, als Erlösungsantisemitismus und unterstreicht, dass in dieser Idee der fanatische Antrieb zu ihrer Umsetzung bereits beinhaltet ist.147 In diesem Zusammenhang erscheint dann die Anlehnung des Dritten Reichs an die Sprache der Bibel und der katholischen Liturgie, wie die linguistische Analyse Victor Klemperers insbesondere im Kapitel »Ich glaube an ihn« darstellt, alles andere als zufällig. Klemperer stellt fest, dass trotz der erklärten Agnostik der Nazis und obwohl christliche Gläubige und Geistliche148 von ihnen verfolgt wurden, die Lingua Tertii Imperii, die LTI, als Glaubenssprache sich eng an das Christentum, genauer: an den Katholizismus lehnt, obwohl der Nationalsozialismus das Christentum, und gerade die katholische Kirche, bald offen, bald heimlich, bald theoretisch, bald praktisch, aber von allem Anfang an bekämpft149,

und dass »der Nazismus […] von Millionen als Evangelium hingenommen [wurde], weil er sich der Sprache des Evangeliums bediente«.150 Anlehnungen 145 Zit. in Ebd., S. 31. 146 Arno Mayer postuliert, dass die Ausrottung der europäischen Juden in den ideologischen Eroberungskreuzzug gegen die Sowjetunion eingebettet war (Mayer, 1989, S. 66 und S. 159). 147 Friedländer, 2006, S. 101. 148 Saul Friedländer beklagt das Schweigen der christlichen Kirchen angesichts der Ermordung von Millionen Unschuldiger in Nazideutschland als unbegreiflich (Friedländer, 2007, S. 25). 149 K lemperer, [1946] 2007, S. 148. 150 Ebd., S. 160. 148

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an die christliche Transzendenz, an die liturgische Inszenierung und an die kollektive christliche Symbolik sind Elemente, die 30 Jahre nach dem Niedergang Nazideutschlands vom Katholizismus argentinischer Prägung für den Kampf gegen die Subversion entliehen wurden.151 In der Tat bediente sich der Repressionsdiskurs des argentinischen nationalen Reorganisationsprozesses – gezielt?, zufällig?, bezeichnenderweise − bekannter rhetorischer Bilder der Nazisprache. Zum sprachlichen Alltag der Repression gehörten »Tücke« und »Verstellung«152 der Opfer sowie Ausdrücke und Vergleiche aus der Tierwelt, der Biologie und der Medizin.153 Darüber hinaus sind in dem Zusammenhang Begriffe wie »quirófano« [Operationssaal] oder »terapia intensiva« [Intensivbehandlung], die im Jargon der Folterknechte Folterkammer bzw. Folter bedeuteten, bezeichnend für eine chirurgische Metaphorik, die die blutige Realität der Tötung von Menschen 151 So wurde z.B. Christian von Wernich, von 1976 bis 1983 Kaplan der Provinz von Buenos Aires, die Beteiligung an der Repression nachgewiesen. Wernich wurde 2003 für Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu lebenslänglich verurteilt. Für eine Darstellung und Analyse der Verstrickungen der Hierarchie der katholischen Kirche Argentiniens in die Staatsrepression siehe z.B.: Verbitsky, Horacio, Doble juego, la Argentina católica y militar, Buenos Aires 2006, und Mignone, Emilio, Iglesia y dictadura: el papel de la iglesia a la luz de sus relaciones con el régimen militar, Buenos Aires 2006. Beide Autoren prangern die Mitwisserschaft von Jorge Mario Bergoglio, seit März 2013 Papst Franziskus, beim Verschwindenlassen der Jesuitenpater Orlando Yorio und Francisco Jalics am 23.05.1976 an. 152 Viktor Klemperers Kapitel »Der Stern« seines Buches LTI illustriert, wie verbreitet es in Nazideutschland war, der jüdischen Bevölkerung Tücke und Verstellung zu unterstellen. In einem bissig-fatalistischen Kommentar über die Absicht des Verstellens schreibt Klemperer: »Ein Gestapobeamter nimmt immer die Absicht des Verdeckens [des gelben Sterns] an, und darauf steht das KZ« (K lemperer, [1947] 2007, S. 229). 153 Soy paciente, der 1980 erschienene Roman von Ana Maria Shua, verwendet die Metaphorik der Medizin als Allegorie für die Staatsrepression. Auch der Slogan der Kampagne gegen die Lärmbelästigung der Stadtverwaltung von Buenos Aires von 1975, »El silencio es salud« [Ruhe ist gesund], übernahm die Bitte der Krankenhäuser um mehr Ruhe. Der Slogan, der auch mit »Schweigen ist gesund« übersetzt werden kann, wird inzwischen als Vorbote für das reale Korrelat der Repression betrachtet, denn kurz danach wurde die Opposition gewaltsam zum Schweigen gebracht. M. Feitlowitz belegt die lange Wirkung dieser Phrase, die Anfang der 90er Jahre oftmals mit der Diktaturzeit in Verbindung gebracht wurde, wie ihre Recherche belegt (Feitlowitz, 1998, S. 34). 149

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als Rettung eines schwer erkrankten Patienten maskierte. Ricardo Piglia stellt diesen Diskurs mit folgenden Worten dar: Während der Diktatur kursierte eine Art »medizinische« Erzählung: Das Land war krank, ein Virus hatte es befallen, ein drastisches Eingreifen war erforderlich. Der militarisierte Staat sah sich als den einzigen Chirurgen, der für die Operation in Frage kam, ohne Verzögerungen, ohne Demagogie. Um zu überleben, musste die Gesellschaft diesen schweren Eingriff über sich ergehen lassen. In einigen Bereichen musste ohne Anästhesie operiert werden. Das war der Kern der Erzählung: ein todkrankes Land und ein zu allem bereites Ärzteteam, um sein Leben zu retten. Tatsächlich verdeckte diese Erzählung letztendlich eine kriminelle Wahrheit, die verstümmelte Körper und blutige Operationen beinhaltete. Gleichzeitig jedoch ging sie ihr ausdrücklich aus dem Weg. Sie sagte alles und doch nichts: So ist eine Horrorgeschichte aufgebaut.154

In dieser »medizinischen Narration« wurde die Nation als ein Körper konstruiert, der durch den vermeintlichen Zerfallsprozess gefährdet war und um sein Dasein kämpfte. Dieser Kampf wurde nach den Prämissen eines sozialdarwinistischen Imperativs155 ausgefochten, bei dem das Prinzip des Selbsterhalts des Individuums auf die Gesellschaft bzw. die Nation übertragen wurde. Der Feind wurde zum Virus, zum Krebs, der »unter uns« lauerte. Und so ging es den Militärs um die Erhaltung eines authentischen argentinischen Volkes und Staates, die von im Geheimen wirkenden marxistischen Ideologen bedroht waren. Auch hier lassen sich Parallelen zum Selbstverständnis der Verantwortlichen für den Staatsterror ziehen. Während Goebbels die Soldaten des Dritten Reichs »Erretter der europäischen Kultur und Zivilisation« genannt hatte,156 kämpften die Streitkräfte in Argentinien für die okzidentale und christliche Zivilisation, 154 Piglia, 2006, S. 106, aus dem Span. von MLS. 155 Der Sozialdarwinismus, der für den Genozidforscher Mark Levene ein wichtiges phobisches Moment im Wettbewerb zwischen den Nationalstaaten um Lebensraum für ihre Völker war (vgl. Levene, 2000, S. 321), beeinflusste nicht nur ein biologistisches Verständnis des Menschen, er wurde gleichfalls auf den Lebenserhalt der Völker übertragen, worauf Hitler seinen Anspruch auf das Territorium in Osteuropa begründete. Da in dieser phobischen Vorstellung die Deutschen rein räumlich existentiell bedroht waren, ergab sich die Notwendigkeit der Eroberung und Sicherung eines Lebensraums im Osten. 156 Traverso, 2003, S. 79. 150

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für die in Gefahr geratene Seele des Okzidents, so die Formulierung des ArmeeIdeologen und Historikers Jorge García Venturini. Er stellte diesen Kampf in eine historische Kontinuität, die sich bis zum Ende der Zeit fortsetzen würde: »Es ist eine Form des alten Kampfes, der sich durch die Jahrhunderte zieht und auf die eine oder andere Weise bis ans Ende aller Zeiten fortdauern wird.«157 Im Visier dieser Ausgrenzungsrhetorik erzkonservativer Kreise war nicht ein biologistisch bzw. rassisch gezeichneter Gegner, sondern ein politischer. Raul Hilberg untersuchte diesen Aspekt in der Praxis der Vernichtung der europäischen Juden und stellte fest, dass sie ein Stadium auf dem Weg zur Endlösung war; er arbeitete drei Prozessphasen heraus: Definition, Enteignung und Konzentration.158 Nach Hilberg ist »die deutsche Ausrottung der europäischen Juden der erste vollendete Vernichtungsprozess der Weltgeschichte. Zum ersten Mal in der Geschichte der westlichen Zivilisation hatten die Täter alle einer Tötungsoperation im Wege stehenden administrativen und moralischen Widerstände überwunden.«159 Im ersten Prozessabschnitt, dem der Definition, amalgamiert sich die jahrhundertelange Geschichte des Antisemitismus. Die definitorische Trennung von Deutschen und Juden bildete jedoch keine einfache Aufgabe, waren die Juden 1933 nahezu vollständig emanzipiert und in die deutsche Gesellschaft integriert.160 Die Frage, wie aus dem Antisemitismus und der dem zugrunde liegenden Behauptung »Der Jude ist schlecht« eine Definition werden konnte, wird durch den Arierparagraphen beantwortet. Für die Täter wird diese Behauptung zum Handlungsauftrag: »Töte den Juden, weil er schlecht ist.« Die Behauptungspropaganda wurde daher bis zu den letzten Kriegstagen verwendet und benötigt, »um Zweifel und Schuldgefühle im Keim zu ersticken, wo immer – innerhalb oder außerhalb der Bürokratie – und wann immer – vor oder nach der Tat – sie auftraten«.161 Es wurde gleichzeitig auch alles unternommen, um das Verschwinden des europäischen Judentums zu verschleiern. Fünf strategische Unterdrückungsmomente werden von Raul Hilberg dabei vermerkt. Erstens: »Wer nicht beteiligt war, brauchte nichts zu wissen«162, eine Strategie, die bei der argentinischen Staatsrepression der Desinformationskampagne der Streitkräfte entspricht. Zweitens: Alle Wissenden sollten beteiligt werden, damit eine »Blut-Sippschaft« – eine Komplizenschaft am Massenmord – entstehen 157 Zit. in Avellaneda, 1986, S. 146. 158 Hilberg, [1961/1982] 2010a, S. 56. 159 Hilberg, [1961/1982] 2010c, S. 1115. 160 Hilberg, [1961/1982] 2010a, S. 58. 161 Hilberg, [1961/1982] 2010c, S. 1087. 162 Ebd., S. 1082. 151

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konnte.163 Überlebende wie Pilar Calveiro belegen, dass die breite und konkrete Teilnahme von allen Rängen an den repressiven illegalen Handlungen absichtlich gesucht wurde, »um in irgendeiner Form die Hände aller schmutzig zu machen und mit der institutionellen Politik jeden Einzelnen persönlich zu verpflichten«.164 Drittens: Eine zentrale Strategie der Verschleierung lag in der Ausschaltung von Kritik.165 Eine Parallele, die sich in der hier vorgetragenen Etablierung einer institutionellen und inneren Zensur im argentinischen Fall zeigt, die extreme Folgen bei ihrer Nichteinhaltung befürchten ließ. Das Verschweigen der Handlungen wird von Hilberg als viertes Unterdrückungsmoment genannt: »Es gibt Dinge, die nur so lange getan werden können, wie nicht über sie gesprochen wird; sobald über sie gesprochen wird, sind sie nicht mehr ausführbar.«166 Genau darin sind der lange Schweigepakt der Streitkräfte begründet, der erst durch die öffentlichen Bekenntnisse von Adolfo Scilingo 1995 gebrochen wird, und auch die Straflosigkeit in der Postdiktatur – sowie die allgemeine Weigerung, der Narration der Verbrechen gebührend Gehör zu schenken. Die fünfte Stufe im Unterdrückungsprozess diagnostiziert Raul Hilberg im Vokabular der Vernichtungsbürokratie und dessen charakteristischer Prägung, klare Beschreibungen der Tatsachen gänzlich auszulassen, denn selbst im geheimen Schriftverkehr fehlen Worte wie »Tötungen« oder »Tötungseinrichtungen« und der Leser trifft durchgängig auf Euphemismen wie »Endlösung«, »Umsiedlung«, »Spezialeinrichtungen«.167 Der Aspekt der Verschleierung ist offensichtlich und essentiell bei der Praxis der desapariciones forzadas; denn auch wenn die Unzugänglichkeit (und sehr wahrscheinliche Zerstörung) der geheimen Akten es nicht zulässt, ähnliche diskursive Feststellungen in den Archiven der Streitkräfte zu treffen, bildet das Vokabular der desapariciones forzadas und ganz besonders der Jargon der Folter ein paralleles Moment in der argentinischen Staatsrepression. Die Parallele in den Phasen »Definition, Enteignung und Konzentration«, die Ausprägung eines Vernichtungsdiskurses in der Verfolgung der DetenidxsDesaparecidxs sowie das Einwirken von strategischen Unterdrückungsmomenten in diesem Diskurs bilden die wesentliche Grundlage, um von einer Fluchtlinie und einem zentralen Bezug zur Shoah zu sprechen, die zur Interpretation der argentinischen Ereignisse herangezogen werden können.

163 Ebd. 164 Calveiro, [1998] 2008, S. 33. 165 Hilberg, [1961/1982] 2010c, S. 1083. 166 Ebd., S. 1085. 167 Ebd. 152

Teil II – Nation und die Subjekte/Körper der Rebellion

Sprache wurde für die Juntas zu einem strategischen Moment der Kampfführung. Avellaneda unterstreicht, dass für die Streitkräfte das Wort das effizienteste Instrument im Plan des Feindes war. Vizeadmiral Armando Lambruschini erklärte im Jahr 1976 die Beobachtung idiomatischer Wendungen und modischer Sprachformeln zur militärischen Aufgabe, »um zu wissen, welcher Art von Zwängen die Freiheit des kollektiven Verstands ausgesetzt ist«.168 Das heißt, eine methodische Anwendung der Diskursanalyse wurde zur nachrichtendienstlichen Aufgabe und zum Werkzeug der strategischen Kriegsführung, um einer angeblichen »Unterschlagung des Denkens«169 – so die Worte von Admiral Emilio Massera –, einem semantischen Betrug entgegenzuwirken. Das Ergebnis dieser linguistischen Betätigung war neben den vielen zu beklagenden Menschenleben die unentwegte Wiederholung einer Propaganda, deren Wirkung weit in die Postdiktatur reichte und im Schweigen der Gesellschaft lange nachhallte. Victor Klemperer widmete sich der Diskursanalyse und -rekonstruktion der Sprache des Dritten Reiches, um für ihre Giftwirkung zu sensibilisieren. Wie weit sich die Sprache des Dritten Reiches unbemerkt der Sprache der Bevölkerung bemächtigt hatte, zeigte er in einer unerbittlichen Prosa, die heute noch Auskunft über die symbolische Ordnung gibt, die die »Endlösung« ermöglichte. Wie hier dargestellt hat sich der Kulturwissenschaftler Andrés Avellaneda vor dem Hintergrund der argentinischen Ereignisse einer ähnlichen Aufgabe gewidmet. Für den Linguisten Eliseo Verón, der ebenfalls relativ früh die diskursiven Phänomene der Diktatur untersuchte, gibt Sprache Auskunft über die symbolische Ordnung, in der Politik als gesellschaftliche Handlung entsteht, und über das imaginierte Universum, das sie in Form von gesellschaftlichen Beziehungen konstruiert.170 So gesehen, sind diskursive Handlungen extremer Ausgrenzung als ein sich verdichtender Indikator zu verstehen, der politische Gewalt lange vor ihrem Ausbruch rechtfertigt bzw. ihr vorauseilt. Soziale Wandlungsprozesse wurden im Vorfeld und während der Staatsrepression in einer manichäischen Rhetorik vorgetragen, die Veränderungen im Bereich der Kultur als Gefahr darstellte. Zusammenfassend lässt sich behaupten, dass die totalisierenden diskursiven Darstellungen und das entsprechende angeordnete Schweigen ihr Korrelat in den Verschleppungen und der Zerstörung von Menschenleben, d.h. in der unlimitierten Bemächtigung der als feindlich identifizierten Körper hatten. Die Verbote, schrieb einst Michel Foucault in seiner Ordnung des Diskurses, die den Diskurs treffen, offenbaren nur allzu bald seine Verbindung mit dem Begehren 168 Zit. in Avellaneda, 1986, S. 26. 169 Zit. in Ebd. 170 Verón, 1987, S. 9. 153

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und der Macht.171 Allzu bald wurden im Argentinien der 70er Jahre die durch die Zensur verhängten Verbote und die implizite Androhung von Gewalt zur allgegenwärtigen Staatsrepression. b. Der diskursive Platz der Frauen Welchen Platz erhielten Frauen in dieser Rhetorik, die im Argentinien der Diktatur im Diskurs der Argentinität und des nationalen Seins die Argumentationsbasis für die Verfolgung bildete? In seinem appellativen Gestus stellte der militärische Diskurs Frauen stets in ihren Rollen als Hausfrauen, Ehegattinnen und Mütter im Zentrum der Familie dar.172 Die ideologische Grundlage dafür lieferte die Formel »Gott, Vaterland und Familie«, die die Unterdrückung von Frauen auf das Menschenbild des katholischen Integrismus zuschnitt und die Rolle von Frauen mit dem Pathos einer sich in existentieller Gefahr befindlichen Nation in Analogie zu einer in Not geratenen Familie vortrug. Das illustrieren die Worte von Admiral Emilio Massera vom Juni 1977, die angesichts der Vernichtung von Menschenleben empfindlich zynisch anmuten: Noch nie brauchte Argentinien seine Frauen so sehr wie in diesen Zeiten, weil die Nation noch nie so sehr wie in diesen Zeiten die Befürwortung des Lebens brauchte.173

In der Metapher der Nation als Körper wurde die Familie als Basiszelle des Organismus, als Keimzelle menschlichen Zusammenlebens angesehen. Judith Filc betont, dass diese Lektüre sozialer Strukturen als biologische Ordnung familiäre Rollen und Werte als »natürlich« erscheinen ließ und der familiären Bindung die Eigenschaft zuschrieb, »unauflöslich« und »unabdingbar« zu sein. Überträgt man die damit verbundene Autorisierung der Eltern, und insbesondere die des Vaters, auf die Rolle des Nationalstaates gegenüber den Bürgern, so werden dem Staat Rechte über die physischen und moralischen Individuen eingeräumt, die auf einer Legitimation beruhen, die nicht mehr als Vertrag, sondern als »natürliche« oder gar »göttliche« Ordnung verstanden wird.174 Welchen Platz wies dieser auf einer »natürlichen« Ordnung ruhende autoritäre Staat den Frauen zu? Mit der Feststellung Andrés Avellanedas, die argentinischen Streitkräfte trauerten der goldenen Zeit am Ende des 19. Jahrhunderts nach, liegt es nahe, 171 Vgl. das Zitat zu Beginn von Kap. 2.1. 172 Laudano, 1995, S. 19. 173 Zit. in Ebd., S. 32, aus dem Span. von MLS. 174 Filc, 1997, S. 42f. 154

Teil II – Nation und die Subjekte/Körper der Rebellion

einen Blick auf diese Zeit und ihre Frauenbilder zu werfen, um die diskursiven Grundlagen zu präzisieren. Es war an der Schwelle zur modernen Nation, als die Rolle der Frauen innerhalb der Familie essentialisiert und Frauen eine Schlüsselposition für die Kohäsion der Gesellschaft beigemessen wurde.175 Ihre Zivilrechte waren damals eingeschränkt. Frauen waren keine juristischen Personen und ihre Situation war vergleichbar mit der von Minderjährigen oder körperlich bzw. geistig Behinderten. Sie konnten daher auch nicht frei über ihren Lohn verfügen, sondern benötigten die Genehmigung des Mannes (oder des Vaters). Erst 1926 räumte das Gesetz 11.157 Frauen mehr zivile Rechte ein.176 Die Situation arbeitender Frauen war oftmals kritisch: Sie waren der Willkür ihrer Vorgesetzten ausgesetzt, denn sie standen vornehmlich bei bessergestellten Familien in Arbeit und kamen daher nicht unter den Schutz des 1907 verabschiedeten Arbeitsschutzgesetzes 5291. Das Gesetz regelte die Arbeitsbedingungen von Frauen und Minderjährigen in Werkstätten und Fabriken und zielte darauf, durch eine Verkürzung des Arbeitstages sowie durch hygienische Maßnahmen im Arbeitsumfeld die Geburtsfähigkeit arbeitender Frauen zu schützen. Die Lohnarbeit von Frauen wurde akzeptiert, denn sie trug zur Linderung familiärer Nöte bei. Aus dieser Akzeptanz ist allerdings nicht der voreilige Schluss zu ziehen, die argentinischen Frauen seien bereits früh emanzipiert gewesen. Sobald die arbeitenden Frauen vor ihrem sozialen Hintergrund Ende des 19. Jahrhunderts betrachtet werden, wird deutlich, dass es sich weniger um eine allgemeine gesellschaftliche Akzeptanz arbeitender Frauen handelte, sondern dass die Arbeit von armen Frauen lange Bestand hatte und für Bessergestellte meistens unsichtbar blieb. Sueli Carneiro bringt die damit zusammenhängende Problematik auf den Punkt, wenn sie die Situation arbeitender schwarzer Frauen in Brasilien in deutliche Worte fasst und die Mär der Fragilität sowie die vermeintliche Notwendigkeit in Frage stellt, Frauen hätten einen Platz auf dem Arbeitsmarkt anzustreben: Wenn wir vom Mythos weiblicher Zerbrechlichkeit sprechen, der den paternalistischen Schutz der Männer gegenüber den Frauen geschichtlich rechtfertigte, über welche Frauen sprechen wir dann? Wir, schwarze Frauen, sind Teil eines – wahrscheinlich die Mehrheit bildenden – Kontingents von Frauen, die diesen Mythos nie auf sich selbst bezogen haben, weil wir nie wie zerbrechliche Wesen behandelt wurden. Wir sind Teil eines Kontingents von Frauen, die jahrhundertelang auf den Feldern und Straßen als Sklavinnen 175 Mead, 2000, S. 54. 176 Jelin/Feijóo, 1989, S. 33. 155

Erinnerung und Intersektionalität gearbeitet haben, als Verkäuferinnen, als Straßenhändlerinnen, als Prostituierte … Frauen, die nichts verstanden haben, wenn die Feministinnen sagten, dass Frauen Heim und Herd verlassen und arbeiten sollten! Wir sind Teil eines Kontingents von Frauen mit der Identität von Objekten. Früher als Sklavinnen rückständiger Großgrundbesitzer und ihrer zerbrechlichen Damen. Heute als Hausbedienstete von verwöhnten emanzipierten Frauen oder von Mulattinnen, die dem Geschmack der Ausländer entsprechen.177

Am Ende des 19. Jahrhunderts kristallisierten sich Perseveranz, Selbstlosigkeit und Selbstaufopferung als die Tugenden argentinischer Frauen heraus.178 Das, was Frauen leisteten, wurde nur im Rahmen dessen anerkannt, was sie für andere taten. 70 Jahre später waren diese Tugenden in den Augen der Streitkräfte in die Krise geraten. So forderte Admiral Emilio Massera 1977 die Frauen auf, standhaft zu bleiben und sich ihrer unverzichtbaren Rolle als Mütter zuzuwenden.179 Denn es war die Familie, die als »natürlicher« Platz der Frauen und als »natürliche« soziale Einheit und Eckpfeiler der westlichen christlichen Gesellschaft durch die »subversión« und die marxistische Linke existentiell bedroht war, wie die Worte von Innenminister und Armeegeneral A. Harguindegui vom 20.06.1976 belegen: Eine Warnung an euch, Väter, Mütter und Kinder: Die unheilbringenden Ideen der marxistischen Linken greifen unsere Familien, unsere Flagge, unser Vaterland und unsere Freiheit an. Lasst uns diese Werte gemeinsam verteidigen.180

Frauenzeitschriften und insbesondere die Wochenzeitschrift Para Tí taten sich als der Diktatur nützliches Sprachrohr hervor und lancierten und pflegten einen sog. Vermittlungsdiskurs.181 Der Vermittlungsdiskurs steckte ein Identifikationskollektiv innerhalb des »nosotros« [wir] der nationalen Gemeinschaft ab und war speziell an Frauen ausgerichtet. Dieser Diskurs baute »Empfängerinnen«Identitäten (»nosotras« [wir Frauen]) auf, die dann vereinnahmt (»wir argentinischen Frauen lassen uns nicht für dumm verkaufen«182) und instruiert (»wir argentinischen Frauen sollen das Land der Zukunft erdenken, errichten, gestal177 Carneiro, 2009, o. S. 178 Mead, 2000, S. 29. 179 Laudano, 1995, S. 25. 180 Zit. in Frontalini /Caiali, 1984, S. 50, aus dem Span. von MLS. 181 Chirico, 1987, S. 53-85. 182 Para Tí vom 20.11.1978, zit. in Chirico, 1987, S. 82. 156

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ten«183) wurden. Diese pädagogisierende Haltung Frauen gegenüber kommt z.B. im Kommentar des Verlegers von Para Tí vom 05.07.1976 zum Ausdruck, der in der Form eines offenen Briefes an argentinische Mütter veröffentlicht wurde184: Wir sagen es mit Nachdruck: Den Müttern fällt eine entscheidende Rolle zu. In dieser kriminellen Zeit, die wir durchleben müssen, in diesem subversiven Krieg, der alles zu zerstören droht, ist eines der Schlüsselziele des Feindes Ihr Kind, der Verstand Ihres Kindes. Und Sie sind es, die Mütter, die kraftvoller und wirksamer als sonst jemand diese Strategie vereiteln können, indem Sie Ihren Kindern mehr Zeit als jemals widmen.185

Neben der fragwürdigen Annahme, Frauen müsse gesagt werden, was sie zu tun haben (hatten sie sich in der Vergangenheit doch zu sehr mit weniger wichtigen Themen wie der berüchtigten Frauenemanzipation oder der politischen Situation des Landes beschäftigt), wurde ihnen in ihrer Rolle als Mütter die Aufgabe übertragen, über mögliche ideologische Einflüsse von Staatsfeinden auf ihre Kinder zu wachen. Der Vermittlungsdiskurs diente also dazu, Frauen zu animieren, sich regimekonform zu verhalten und sich darüber hinaus als Regimehelferinnen zu betätigen. Eine ministeriale Mitteilung aus dem Jahr 1976 erteilte Eltern, und selbstverständlich vor allem Müttern, die Aufgabe, die Sprache ihres Nachwuchses zu überwachen: Anleitungen zum Erkennen subversiver Anzeichen bei dem, was Ihre Kinder lernen. Das erste Anzeichen ist die Verwendung eines bestimmten Vokabulars, das zwar zunächst nicht so klar erkennbar ist, das aber für den ›ideologischen Umstieg‹, der uns Sorge bereitet, sehr wichtig ist. So werden häufig diese Begriffe verwendet: Dialoge, Bourgeoisie, Proletariat, Lateinamerika, Ausbeutung, Veränderung der Strukturen, Kapitalismus […].186

Aus dieser Aufgabenerteilung ergeben sich zwei denkwürdige Aspekte. Erstens: Die res militaris, die par excellence zur res publica gehört, wurde bis in 183 Para Tí vom 27.11.1978, zit. in Ebd., S. 75. 184 Anlass dazu war das tödliche Attentat auf Polizeichef General Cardozo und seine Familie, das von einer Schulfreundin der Tochter verübt worden war. Cardozo war der dritte Mann in der Rangordnung beim Antiterrorkampf in Buenos Aires (vgl. El País, 1976, o. S.). 185 Zit. in Blaustein/Zubieta, 2006, S. 130, aus dem Span. von MLS. 186 Zit. in Dussel u.a., 1997, S. 30f., aus dem Span. von MLS. 157

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die Familie heruntergebrochen und damit wurde die Gefechtslinie gegen die »subversión« bis ins Private verschoben. Zweitens: Frauen die Verantwortung für das regimekonforme Verhalten ihrer Nachkommen zu übertragen hatte zur Folge, dass rebellisches Verhalten und der Widerstand junger Menschen mit einer indirekten Schuldzuweisung an ihre Mütter einherging. Die Überwachung der Kinder, die auch durch die rekurrierende Propagandafloskel »Wissen Sie, was Ihr Kind gerade tut?« über die Massenmedien repetitiv betont wurde, sollte Frauen daran erinnern, ihre häuslich-familiären Aufgaben als Mütter prioritär zu erledigen. Vor dem Hintergrund der Krise identitärer Selbstverständnisse und »natürlicher« Geschlechterbeziehungen ist diese verordnete Rückbesinnung der Frauen auf ihre tradierten Rollen mit einer Aufforderung zum Verlassen des öffentlichen Raums gleichzusetzen. In diesem diskursiven Moment legitimierte das Militär für sich die heimlich geführte Praxis des Raubes der Kinder der Desaparecidxs und unterstellte diesen rebellischen Müttern, die die Desaparecidas waren, nicht in der Lage zu sein, die Kinder der argentinischen Nation »richtig« zu erziehen. Die implizite Schuldzuweisung sollte als gesellschaftlicher Maulkorb fungieren und machte auch die Eltern der Desaparecidxs für den »falschen« Weg, den ihre Kinder eingeschlagen hatten, verantwortlich. Das Diktum wirkte lang nach. Judith Filc arbeitete in ihrer Analyse heraus, dass das Ideal der Familie sowohl in der offiziellen Rhetorik als auch in der oppositionellen Menschenrechtsbewegung zum zentralen diskursiven Werkzeug bei der Legitimation und De-Legitimation des autoritären Staates wurde.187 Eltern und Ehepartner, die sich in Menschenrechtsorganisationen engagierten, wurden zu Vorbildern für Mutterschaft und Vaterschaft. Aus ihren Kindern wurden Vorbilder für patriotische Hingabe und Kindes- und eheliche Liebe: Sie (und nicht die Militärs) waren die »wahren Kinder des Vaterlandes«, hatten sie doch ihr Leben gegeben für eine neue Gesellschaft.188

Die Metapher der Familie als Zelle eines nationalen Organismus wurde so zu einem diskursiven Element, das den »natürlichen« Platz der Frauen in der Metaerzählung der Nation vor, während und nach der Repression stark verankerte. Über die Absicht der Diskreditierung neuer Frauenrollen hinaus hatte dieser Verweis zur Rückbesinnung der Frauen auf ihren »natürlichen« Platz einen handfesten Anlass. Das Zurückdrängen der Frauen in die Familie fand zeitgleich mit der wirtschaftlichen Krise statt, die eine entsprechende Schrumpfung der 187 Filc, 1997, S. 203. 188 Ebd., S. 202. 158

Teil II – Nation und die Subjekte/Körper der Rebellion

Arbeitsplätze bedeutete.189 In dieser Zeit wurde ein starker Abbau der Arbeitsstellen von Frauen registriert und es zeigte sich für Frauen insgesamt eine Tendenz der Verschiebung ihrer bezahlten Aktivitäten von qualifizierter zu unqualifizierter Arbeit. Frauen erhielten überdies zwischen 1974 und 1981 für die gleiche Arbeit weniger als 70 % des Einkommens ihrer männlichen Kollegen und in manchen Fällen nicht einmal 50 % davon.190 Besonders misslich war die Lage armer Frauen, die durch die Wirtschaftskrise zum Überleben mehrere Tätigkeiten ausüben mussten und stark überbelastet waren. Der erschwerte Zugang zum Arbeitsmarkt sowie die hohen Geburts- und Heiratsindexe für Frauen unter zwanzig zeigen ebenfalls die prekäre Situation junger Frauen.191 Diese Krise, die sich aufgrund der enorm gestiegenen Außenverschuldung und des Verlustes von industriellen Arbeitsplätzen bereits in der zweiten Hälfte der Diktatur sichtbar ausbreitete,192 sollte Teil des Erbes der Diktatur werden und die argentinische Postdiktatur wesentlich prägen.

2.2 Die Politiken der Körper im »gefährdeten Vaterland« Ein Teil unseres Seins wohnt in den Seelen der uns Nahestehenden: darum ist das Erleben dessen ein nichtmenschliches, der Tage gekannt hat, wo der Mensch in den Augen des Menschen ein Ding gewesen ist.193

Anders als im Diskurs der Zensur und seiner euphemistischen Sprache gab es für die systematische Folter während der Junta-Regierung keine schönmalenden Paraphrasen. Als Teil des geheimen Plans der Ausrottung blieb das Ausmaß der Anwendung der Folter von offizieller Seite bis zu den Eröffnungen der CONADEP im September 1984 der Öffentlichkeit verborgen. Während der Diskurs der Zensur die Voraussetzungen für die Repression bildete, war der Diskurs der Folter deren Praxis nachgeschaltet. Ihre systematische Anwendung und das akkumulierte Wissen über ihre Wirkung standen allerdings am Ende einer Entwicklung, die sich in Argentinien lang zurückverfolgen lässt. Foucaults Konzept der Biopolitik und seine Feststellung, der Körper sei nicht ausschließlich Gegenstand biologischer und kultureller Rhythmen, sondern in großem Maße auch ein wechselnder Raum, in dem Macht und Politik 189 Acuña, 1995, S. 243. 190 Jelin/Feijóo, 1989, S. 43. 191 Ebd., S. 45. 192 Ebd., S. 37. 193 Levi, [1958] 2007, S. 206. 159

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ausgetragen werden,194 zeigten sich auf paradigmatische Weise in der Repression von Andersdenkenden. Argentinien hatte über Jahrzehnte hinweg Fachkräfte für den privilegierten Zugang zur Wahrheit ausgebildet, die zwischen 1975 und 1981 durch die radikalisierten Streitkräfte eingesetzt wurden, um die »subversivas« und »subversivos« zu vernichten. In einer Reihe krimineller Akte, an deren Ende die Ausrottung unerwünschter Menschen stand, war die Folter die Phase der Produktion von »Wahrheit«, die auf der Denunziation aufbaute, den Nachschub für die und die Aufrechterhaltung der Maschinerie des Terrors gewährleistete und beim Einzelnen die Zerstörung der Ideale der Gemeinschaft gewaltsam umsetzte. Zwischen Leben und Tod, an Orten des gesellschaftlichen Vergessens festgehalten, sollte sich die totale Entrechtung und Zerstörung der juristischen Person vollziehen, nachdem mittels der Tortur das moralische Individuum dort bereits aufgehört hatte – und aufhören sollte – zu existieren. a. Folter in Argentinien − Ein historischer Abriss Auf der Suche nach einer Genealogie des Terrors, und speziell der Folter als seine Schlüsselinstanz, veröffentlichte der Historiker Ricardo Rodríguez Molas bereits 1984 seine Historia de la Tortura y el orden represivo en la Argentina, eine zentrale Referenz für die Untersuchung der Folterpraxis der letzten argentinischen Diktatur. Einige Jahre später schloss sich der Philosoph und Psychoanalytiker Raul García mit seinen Micropolíticas del cuerpo dieser Suche an und ergründete die Kraftlinien und historischen Sedimente, die die illegale Repression ausmachten. Beide Werke weisen auf Stationen in der Anwendung der Tortur hin, die sie als Mittel einer kontinuierlichen Praxis der Macht deuten. In der Perspektive beider Autoren griffen die Ereignisse, die mit dem »Operativo Independencia« eingeleitet wurden, auf erprobtes autochthones Wissen zurück. Der Jurist Pablo Gabriel Salinas dokumentierte 2010 die systematische Praxis der Tortur in Argentinien zwischen 1976 und 1983 als eine Entwicklung, die im klaren Widerspruch zum nationalen und internationalen Recht stand,195 und dennoch konnte sich, wie Eugenio Raúl Zaffaroni, Mitglied der argentinischen Corte Suprema de Justicia und Verfasser des Vorworts zu Salinas Buch, herausstellt, ihre Anwendung unter Berufung auf die Doktrin der nationalen Sicherheit schrittweise durchsetzen.196 Raul García macht deutlich, dass die Eroberung Amerikas vor dem Hintergrund der Vertreibung von Juden und Moren von der iberischen Halbinsel eine 194 Foucault, [1977] 2002, S. 166 und 170. 195 Salinas, 2010, S. 277. 196 Ebd., S. I. 160

Teil II – Nation und die Subjekte/Körper der Rebellion

historische Gegebenheit darstellt, die unmittelbar mit der spanischen Inquisition und ihrer Herrschaft des Terrors verbunden ist. Die Praktiken, die die Eroberer im Umgang mit dem »Anderen« zeigten, der den begehrten Kontinent bevölkerte, lassen sich so als eine Fortsetzung der vorherrschenden und synchronen europäischen Machttechnologie verstehen. Für die indigene Bevölkerung wurde die zivilisatorische Erfahrung vielfach zu einer extremen Körpererfahrung des Schmerzes. Die Peinigung des Körpers beruhte bis zur Entdeckung des Individuums im 19. Jahrhundert auf »ein[em] altehrwürdige[n] Körper-StrafWissen«197 und war als ein »politisches Ritual zu verstehen. Sie gehört auf ihre Weise zu den Zeremonien, in denen sich die Macht manifestiert«198; durch das öffentliche Spektakel sicherte sich der Souverän die gesellschaftliche Fügsamkeit.199 Alfons X. (1221-84) hatte die peinliche Strafe als Rezeption des römischkanonischen Rechts in den Titel XXX im siebten Band seines Gesetzbuches Las Partidas aufgenommen.200 Vom Jahr 1501 an war die Folter in Spanien im Gesetz verankert, und auch in Hispanoamerika hatte sie bis zur Emanzipation der einzelnen Territorien Gültigkeit. Im Regelwerk der Partidas sind nicht nur die Foltertechniken detailliert erfasst, sondern auch Adressaten, Dauer der Anwendung, Fragen sowie auszuschließende Personen.201 Weder bei Alfons X. noch bei der Inquisition durften Schwangere und Kinder unter 14 Jahren extrem misshandelt werden. Argentinische Folterknechte machten keine Unterscheidung nach Alter, Geschlecht oder Zustand ihrer Opfer und brachen mit der Anwendung der Folter bei Schwangeren und Kindern ein tief verankertes kulturelles Tabu. Die Folter in den argentinischen Polizeirevieren hatte eine lange Tradition, als sie während des »Prozesses« zum systematischen Dispositiv der Sicherheitskräfte wurde. Der Leiter der Polizei des Bezirks von Buenos Aires, General Ramón Camps, scheute sich im Januar 1981 nicht, eine kleine Geschichte der Pädagogik des Terrors bekannt zu machen, wie folgender Abschnitt des am 197 Foucault, [1975] 2008, S. 47. 198 Ebd., S. 63. 199 Ebd., S. 64. 200 Salinas, 2010, S. 22-32. 201 Wie relevant diese Frage für die argentinische Staatsrepression wird, zeigt Martín Kohans Roman Dos veces junio (Buenos Aires 2002); um die Frage, ab wann ein Kind gefoltert werden darf, spannt sich einer der Handlungsstränge des Romans. Die Folterung von Schwangeren und die große Sorge der werdenden Mütter um den Gesundheitszustand ihrer ungeborenen Kinder schildert María del Carmen Sillato einprägsam in ihrer Narration Diálogos de amor contra el silencio (Sillato, 2006). 161

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04.01.1981 unter der Überschrift »Apogeo y declinación de la guerrilla en Argentina« veröffentlichten Artikels auf Seite 2 der Zeitung La Prensa zeigt: 1957 begann die argentinische Armee mit strukturierten Studien zum »revolutionären kommunistischen Krieg«. Verantwortlich dafür war der damalige Oberst Carlos Rosas, der stellvertretende Direktor der Kriegshochschule. Unterstützt und beraten wurde er von zwei Offizieren der französischen Armee, den Oberstleutnants Patricio J. L. de Naurois und François Pierre Badie, von den argentinischen Streitkräften wirkte außerdem Oberstleutnant Manrique Miguel Mom mit. Die Männer stützten sich auf die französische Doktrin, die in Indochina umgesetzt worden war und die damals gerade in Algerien umgesetzt wurde. Ziel war es, von der Notwendigkeit zu überzeugen, das weltweit sich entwickelnde marxistische Phänomen zu studieren, und die wirksamste Art herauszustellen, seinen zerstörerischen Vormarsch aufzuhalten. Diese auf Rosas Doktrin und ihren Modifikationen aufbauende Vorgehensweise wurde allgemein bis 1975 aufrechterhalten, um genauer zu sein bis zum Beginn der »Operation Unabhängigkeit« und ihrer Erweiterung, die als »Übergang in die Offensive« bekannt ist und eine Reaktion auf eine Entscheidung des Oberbefehlshabers der Streitkräfte vom September desselben Jahres war und die ab dem 24. März 1976 umfassende Gültigkeit hatte. […] Beide Länder, Frankreich und die Vereinigten Staaten, waren die hauptsächlichen Verbreiter der antisubversiven Doktrin. Insbesondere in den Vereinigten Staaten gründeten sie Zentren, in denen die Grundlagen des Kampfes gegen die Subversion gelehrt wurden. Sie schickten Berater und Ausbilder. Sie verteilten eine unglaubliche Menge an schriftlichem Dokumentationsmaterial. […] In Argentinien […] wurden wir zunächst vom französischen, dann vom amerikanischen Modell beeinflusst; anfangs setzten wir die Modelle getrennt ein, dann kombinierten wir Konzepte aus beiden bis zu dem Punkt, an dem sich das amerikanische Modell durchsetzte. Es ist wichtig, klarzustellen, dass der französische Fokus korrekter war als der amerikanische; er folgte einer globalen Betrachtungsweise, während der amerikanische Fokus ausschließlich oder fast ausschließlich auf das Militärische gerichtet war. […] Der laufende weltweite Konflikt (für die Franzosen) war also nicht ideologisch, nicht psychologisch, nicht kalt, nicht lau, nicht heiß. Im Krieg setzt jeder Gegner alle verfügbaren Kräfte ein, brutale und nicht brutale, um den anderen Krieger zurückzudrängen, zu besiegen oder zur Aufgabe seiner politischen Ziele zu zwingen.202 202 Zit. in Avellaneda, 1986, S. 207, aus dem Span. von MLS. 162

Teil II – Nation und die Subjekte/Körper der Rebellion

General Camps beschreibt in dieser Passage mit Begriffen wie »Studien«, »Dokumentation(smaterial)«, »Konzepte«, »Grundlagen« deutlich, wie rational und international anerkannt die Methoden der Ausbildung der Streitkräfte für den Kampf gegen einen revolutionären Feind bereits zu den Zeiten waren, als es noch keine revolutionäre Bewegung in Argentinien gab. »Zentren«, »Berater« und »Ausbilder« zeugen von einem Wissenstransfer, der nicht verschwiegen werden muss. Zwei »Schulen« von Machttechnologien wurden vermittelt, die französische Tradition, die offensichtlich weniger ideologisch, aber in den Augen des Generals umfassender war, und die amerikanische, die ideologisch auf der Monroe-Doktrin und insbesondere dem Kennan Corollary basierte. Während Andrés Avellaneda über eine Akkumulationsphase der Zensur vor ihrer Totalisierungsphase ab dem Ende der 50er Jahre spricht, wird hier der Prozess der Akkumulation von Wissen im Kampf gegen den »revolutionären kommunistischen Krieg« kundgetan. In den Worten von Ramón Camps sind die konkreten Folgen dieser Indoktrinierung keine Tatsachen, die maskiert werden sollten. Die Beteiligung französischer Offiziere an der Ausbildung argentinischer Folterknechte wurde von der Journalistin Marie-Monique Robin im französischen Fernsehen203 sowie in ihrem gleichnamigen Buch dokumentiert. Dabei wies sie die Anlehnung der argentinischen »vuelos de la muerte« [Todesflüge] an die Methode der »Crevettes Bigeard« nach, die 1957 während der Schlacht von Algier implementiert wurde. Als »Garnelen nach Art von General Bigeard« wurden die gefangenen (und sehr wahrscheinlich gefolterten) algerischen Unabhängigkeitskämpfer bezeichnet, die − ihre Füße in gegossenem Beton fixiert − aus Hubschraubern ins Meer geworfen und so spurlos beseitigt wurden. Dass es in Argentinien tatsächlich Foltertrainings gab, wurde erst im Juli 2010 in den Gerichtssälen der Provinz Mendoza bekannt, als im Rahmen der Strafverfahren gegen Verantwortliche für Verbrechen gegen die Menschlichkeit der Exmilitär und zu jenem Zeitpunkt als Polizist beschäftigte Roberto Francisco Reyes die Einzelheiten der Trainings aus dem Jahr 1967 kundtat.204 Diese Aussage war in ihrer Offenheit ein Novum, denn die Einlassungen von »plaudernden« Zeugen aus den Reihen der Streitkräfte waren in den vergangenen dreißig 203 Escadrons de la mort, l’école française, Canal+, 01.09.2003. 204 »Zum Training gehörten Handbücher und Prozeduren, um die Gefangenen auf jede erdenkliche Art zu foltern. Diese Techniken zielten darauf ab –erklärte Reyes–, von den Verhafteten Informationen zu bekommen, die zu ihren Kameraden oder zu Aktivisten führten, und dass die Folterungen so hart sein mussten, dass einige darum betteln würden, dass man sie tötet, das hatten die Ranger den Argentiniern erklärt« (zit. in Otamendi, 2010, o. S., aus dem Span. von MLS). 163

Erinnerung und Intersektionalität

Jahren selten (dann aber spektakulär). So brachten 1995 die Stellungnahmen Adolfo Scilingos gegenüber dem Journalisten Horacio Verbitsky eine große Welle der Empörung ins Rollen, der eine Reihe von Strafverfahren folgten, als Scilingo unter dem Druck eines inneren Rechtfertigungszwangs Einzelheiten über die Todesflüge205 der ESMA preisgab. In Spanien zu Besuch wurde Scilingo von der spanischen Justiz zum Verhör geladen und dort packte er vor dem Untersuchungsrichter Baltasar Garzón umfassend aus.206 Ebenso redselig verhielt sich dem Anschein nach auch Roberto Reyes vor dem Gericht in Mendoza, als er ein weiteres Detail in seinen Aussagen unterstrich: Er bekundete, dass die Maßnahmen nicht neu waren, aber die Lernenden mit ihrer Brutalität ihre Dozenten überraschten. Er bezog sich dabei auf eine Methode, die schon vor den Lektionen der Rangers sowohl von der spanischen Inquisition als auch gegenüber der indigenen Bevölkerung und den Gauchos angewandt worden war, nämlich die des Aufspießens lebendiger Menschen, und kommentierte: »Die USVeteranen schämten sich für die Brutalität ihrer Schüler. […] Am Ende lernten sie von uns.«207 Dieses Training, das 1967 stattgefunden haben soll – während des Aufenthalts von Ernesto Guevara in Bolivien und vor dessen Tod im selben Jahr –, zeugt davon, dass eine neue Phase in der Praxis der Folter eingeleitet worden war. Raul García stellte eine provokative These in den Raum, als er eine Verbindung zwischen diesen Fakten und dem Einzug der Spanier in das Territorium Lateinamerikas herstellte und dabei die Fortsetzung einer europäischen Tradition der Konquista darstellte. Wohlwissend, dass sich nach neuesten neurowissenschaftlichen Erkenntnissen die Erfahrungen des Körpers in das Körper205 Bevor Adolfo Scilingo vor dem spanischen Gericht sein Bekenntnis zu Protokoll gab, hatte er die Todesflüge bereits im Interview mit dem Journalisten Horacio Verbitsky im Detail beschrieben: Den Gefangenen wurde erzählt, dass sie für ihren Umzug in ein Gefängnis im Süden Argentiniens geimpft werden müssten. Einmal in der Luft, wurden sie ausgezogen und, noch am Leben, ins Meer geworfen. Die Anzahl der so beseitigten Körper wird auf 2.000 geschätzt. Der testimonio Scilingos wurde von Verbitsky in sein Buch El vuelo (Buenos Aires 1995) aufgenommen und kann auch online abgerufen werden: ›www.elortiba.org/elvuelo. html‹. 206 Adolfo Scilingo sitzt in Spanien zurzeit eine Strafe von 1.084 Jahren ab. 207 Zit. in Lantos, 2010, o. S. »Beispielsweise ihnen die Arme mit feuchten Riemen anpflocken und wenn die getrocknet sind, ihnen die Augenlider abschneiden; da drehten sie durch, weil sie die Augen nicht zumachen konnten, dann streute man Salz hinein, und auch die Sonnenstrahlen –präzisierte er–« (zit. in Ebd., aus dem Span. von MLS). 164

Teil II – Nation und die Subjekte/Körper der Rebellion

gedächtnis einschreiben, postulierte García seine These, dass die Erfahrung der Tortur eine bereits latente Information in der lateinamerikanischen Bevölkerung ist, die durch die Erinnerung des Fleisches (damit ist die genetische Information gemeint) von Generation zu Generation weitergegeben wird: Genau das Fleisch ist zu einem dauerhaften Gedächtnis geworden. Es ist die Seite, auf der die Geschichte der Angst ihre eigene Erzählung verewigt. Genau auf dem Fleisch findet das Mal des Terrors einen Platz, an dem es – verborgen, aber entfacht – auf das Signal wartet, das es weckt.208

Mag die These einer emotionellen Codierung der genetischen Information sowohl als wissenschaftliche Behauptung wie als philosophische Denkfigur streitbar sein, die Folter lässt sich anhand der Vokabeln, die für diese Handlungen kreiert oder neu semantisiert wurden, nachspüren, d.h. in den Korpus der argentinischen Variante des Spanischen hat sich die Folter auf jeden Fall eingeschrieben. b. Die Unsichtbarkeit der Folter und die Sicherung ihrer sprachlichen Spur Als Marguerite Feitlowitz Anfang der 90er Jahre Argentiniens Postdiktatur sprachlich erforschte, stellte sie ein Lexikon des Terrors zusammen, das die Spuren der Folter in der Sprache nachweist. Neben dem erwähnten folgenschweren Diskurs der Zensur zeichnet die Sammlung von Wörtern, mit denen interviewte Menschen auf die Fragen »What words can you no longer tolerate? What words do you not longer say?« geantwortet haben, die Spuren der Abwesenheit geliebter Menschen. Davon zeugt u. v.a. folgende Antwort von Matilde Mellibovsky:209 »There are so many«, she says, not to me, but to a large photo of her daughter, Graciela, who in September 1976 was disappeared, tortured and murdered. »Parsley«, she says, perejil. [sic!]That’s what they called our children. Parsley is so abundant here, so cheap, greengrocers traditionally give it away. No,

208 García, 2000, S. 49, aus dem Span. von MLS. 209 In ihrem Buch Círculo de amor sobre la muerte aus dem Jahr 1990 schildert Matilde Mellibovsky die Entstehung der Bewegung der Madres de Plaza de Mayo anhand der eigenen und der kollektiven Erinnerungen von zwanzig Müttern an ihre verschleppten und verschwundenen Kinder. 165

Erinnerung und Intersektionalität I always tell them, no. I won’t say it, I won’t have it. That’s how they thought of our children – cheap little leaves made for throwing away.« 210

Die Feststellung von Matilde Mellibovsky bezeugt eine Zeit, in der an die Desaparecidxs noch in Alteritätskategorien gedacht wurde. Die Erinnerung an sie wurde zur Zeit des Aufenthalts von Marguerite Feitlowitz in Argentinien von den Politiken des Vergessens beherrscht. Vor dem Hintergrund eines hinsichtlich der Aufarbeitung feindseligen Klimas in der Gesellschaft, die Verdrängen und Vergessen von oberster Stelle angeordnet bekam, herrschte in der familiären Erinnerung die Tendenz, die Opfer zu entpolitisieren – um eben jeglichen »Makel« angesichts des großen Verbrechens, das an ihnen begangen wurde, zurückzuweisen. Als »perejil« wurden in den Jugendorganisationen politischer Parteien und bewaffneter Gruppen die sehr jungen Menschen bezeichnet, die noch keinen festen Platz in den Strukturen hatten und an der Peripherie des Organisationsnachwuchses standen. Sowohl den Führungsriegen der Montoneros, insbesondere im Fall der sogenannten »Gegenoffensive« von 1979, als auch denen der Kommunistischen Partei Argentiniens wurde vorgeworfen, junge Adhärenten hohen Risiken, darunter der nackten Lebensgefahr, leichtfertig auszusetzen. Einen besonders tragischen Fall unter den Verschwundenen bilden die Schüler, extrem junge Mitglieder schulischer Vertretungen, die Forderungen wie ein günstiges Nahverkehrsticket oder das Tragen von Hosen für Schülerinnen mit ihrer Verschleppung »bezahlen« mussten.211 Im Lunfardo, dem durch den Tango international bekannten Zungenschlag von Buenos Aires, verwendet man »perejil« für jemanden Unbedeutenden, ein Dummerchen, einen Niemand − also das polare Gegenteil eines gefährlichen Gegners. Die »perejiles« traf die Furie der Repression stark, Berichte über geschändete und getötete Teenager sind zahlreich. Auch wenn das Durchschnittsalter der großen Mehrheit der Desaparecidxs mit zwischen 20 und 35 Jahren eindeutig über dem Teenageralter lag, werden etwa 200 Desaparecidxs gezählt, die unter 18 Jahre alt waren. Beim Bekanntwerden der Menschenrechtsverletzungen sorgten insbesondere die Fäl210 Feitlowitz, 1998, S. 48f. 211 Damit sind die Ereignisse der sog. »Noche de los lápices« [Nacht der Bleistifte] gemeint, in der in La Plata (Bezirk Buenos Aires) zehn Oberstufenschüler verschleppt, gefoltert und ermordet wurden. Das jüngste Mitglied des Schülerbeirats war María Claudia Falcone, 16 Jahre alt. Die Journalisten María Seoane und Héctor Ruiz Nuñez trugen die Fakten in ihrem gleichnamigen Buch aus dem Jahr 1986 zusammen, das Grundlage für den stark rezipierten Film des Regisseurs Hector Oliviera wurde. Unter den Schülern waren politische Aktivisten. 166

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le von sehr jungen Opfern der Staatsrepression für große Empörung und trugen in der Postdiktatur zum Prozess der »angelización« [Verengelung] der Desaparecidxs und zum Bild des »unschuldigen Opfers«, frei vom politischen »Makel« des revolutionären Engagements der 70er Jahre, bei. Bereits Anfang der 70er Jahre waren »apremios ilegales« [illegale Zwangsmittel] ein offenes Geheimnis. Und dennoch waren die Mitglieder der revolutionären Organisationen nicht (ausreichend) auf die Folter vorbereitet, denn ihr Befehl sah vor, sich nicht lebendig festnehmen zu lassen. Im August 1975, bevor die Verfolgung massiv wurde, hatte das revolutionäre Tribunal von Montoneros beim Hinrichtungsurteil gegen einen »Verräter«, der unter der Folter »geplaudert« hatte, wie folgt argumentiert: Die Folter kann man durchaus ertragen […]; sie ist keine Frage des körperlichen Standhaltens, sondern der ideologischen Festigkeit, was einige Kameradinnen und Kameraden mit geringer körperlicher Stärke in der Vergangenheit bewiesen haben, die diese Situation problemlos bewältigten.212

Die ernüchternde Erfahrung bei der Verschleppung des hochrangigen Offiziers der Montoneros Roberto Quieto,213 der nach seiner Festnahme am 28.12.1975 unter der Folter wider Erwarten Informationen preisgab, hatte die Führungsriege gelehrt, dass auch Kader von der Wirkung der Folter nicht verschont blieben; sie führten ab dann eine Cyanidkapsel für den Ernstfall mit.214 Darüber hinaus schützten die Kontrollmechanismen der Untergrundorganisationen ihre Mitglieder, indem sie vorsahen, 24 bis 48 Stunden nach einer Festnahme die Wohnungen zu verlassen und Verabredungen zu streichen.215 Schweigen unter 212 Zit. in Gillespie, [1986] 2008, S. 319. 213 Der Fall von Roberto Quieto erschütterte die Anhänger der Montoneros, als der Offizier – während er verschleppt-verschwunden war − von einem revolutionären Gericht zum Tode verurteilt wurde. Ihm wurde vorgeworfen, gegen den Verhaltenscodex der Organisation verstoßen zu haben, weil er sich lebendig »festnehmen ließ« und Informationen preisgab, was viele dazu zwang, in den Untergrund abzutauchen. Gillespie erklärt, dass die Anhänger mit Befremden auf die Härte des Urteils reagierten; sie zeigte ihnen die Ausweglosigkeit ihrer eigenen Situation (vgl. Gillespie, 2008, S. 317-326). Weitere Reflexionen zum Fall Quieto liefert u.a. Lila Pastoriza (vgl. Pastoriza 2006). 214 Gillespie, [1986] 2008, S. 320. 215 Die evangelische Theologin Dorothee Sölle hat diese »Fristen« in ihrem Gedicht Bericht aus Argentinien (1977) festgehalten; es ist der deutschen Entwicklungs167

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der Folter, die bewundernswerte Vorstellung heldenhafter Haltung, entpuppte sich vielmals als eine Illusion. Zum Mythos der Folter gehörte die Vorstellung, dass Verfechter echter Überzeugung die Folter bestehen. Sie hat ihre direkten Grundlagen in den Annahmen der Inquisition: Nur echte Gläubige vermochten die Qualen zu ertragen. Viele Führungskräfte der Guerillaorganisationen hielten an ähnlichen Ideen fest, die Resistenz gegen die Tortur ging für sie mit ideologischer Festigkeit einher, und sie glaubten, das Überzeugtsein von der Richtigkeit des Klassenkampfes und die soziale Herkunft der Mitglieder würden sie mit »Immunität« versorgen. Erschöpft durch das Leben im Untergrund und weitestgehend unvorbereitet fielen die aktiven Mitglieder bewaffneter Organisationen in die Hände gut trainierter Folterknechte.216 Diese hatten ein minuziöses Training durch Fachleute absolviert und wendeten erprobtes Wissen an, das gezielt darauf ausgerichtet war, durch physische und psychische Qualen alle Widerstände zu brechen. Die Entführungen während des Staatsterrors, die Nachschub für die Foltermaschinerie lieferten, verliefen nach einem festgelegten Schema: Festnahme helferin Elisabeth Käsemann gewidmet, die am 23./24. Mai 1977 nach Verschleppung und Folterung ermordet wurde: D sagt mir/es ist eine regel im untergrund/dass du zwei tage schweigst unter der folter/das gibt den genossen zeit/zwei tage heißt frage ich auch zwei nächte/ja sagt sie, sie arbeiten schicht O gott sag ich wenn ich allein bin/falls du der erinnerung fähig bist/geh zu denen unter der folter/für zwei tage und zwei nächte/mach sie stark/und erbarm dich derer/die früher sprechen O jesus sag ich wenn wir zusammen sind/du warst donnerstag und freitag unter der folter/du hast keinen namen preisgegeben/du bist lieber gestorben Du hast die großtechnologie des großgottes/nicht angewandt/sonst wären/alle unsere namen verraten/und macht noch immer allmacht/technologie noch immer alltechnologie D sagt mir/es ist eine regel im untergrund/dass du zwei tage schweigst unter der folter/und was tun wir frage ich mich/zwei tage und zwei nächte/in gethsemane/ und was/tun wir (Koalition gegen Straflosigkeit, 2007, S. 5). Am 05.06.2014 um 22:45 h zeigte die ARD eine sehr positiv rezipierte Dokumentation des mehrfachen Grimmepreisträgers Eric Friedler über den Fall Käsemann: »Das Mädchen – Was geschah mit Elisabeth K.?« (›www.daserste.de/ information/reportage-dokumentation/dokus/sendung/ndr/dokumentarfilm-dasmaedchen-100.html‹, 10.07.2014). 216 Gillespie, [1986] 2008, S. 375f. 168

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zuhause, bei der Arbeit oder auf offener Straße, »Blindmachen« des Opfers durch das Überziehen einer Kapuze oder mit einer Augenbinde, Verschleppung zum Folterlager, täglich mehrere Foltersitzungen in den ersten Tagen, in den darauf folgenden Wochen und Monaten etwas weniger Folter. Nach einer unterschiedlich langen Phase, die sich von wenigen Tagen bis zu Monaten (in der Regel zwei Monate) hinziehen konnte – und für Einzelne sogar Jahre dauerte −, wurden einige Verschleppte-Verschwundene »legalisiert« [»blanqueados«]. Das Verb »blanquear« [weißen, weiß machen], das zugehörige Partizip »blanqueado« und das entsprechende Substantiv »blanqueamiento« werden für Geld, Waffen und Waren benutzt, wenn diese illegal beschafft wurden und dann in den legalen Handelskreislauf geschleust werden. Das heißt, die VerschlepptenVerschwundenen tauchten in den Fällen des »blanqueamiento« irgendwann in offiziellen Gefängnissen auf oder wurden auf der Straße einfach freigelassen. Wem keine Chance auf Leben eingeräumt wurde, was für die Mehrheit leider zutraf, wurde umgebracht; die Körper wurden – teilweise lebendig, wie bei den Todesflügen über dem Rio de la Plata – auf unterschiedliche Weise »entsorgt«. Vielen Zeugenaussagen nach hätten gequälte Menschen den Tod dem Martyrium vorgezogen, doch im Lager das eigene Sterben herbeizuführen war eine Sache der Unmöglichkeit. Norberto Liwsky erinnert seinen Wunsch nach dem Tod als Erlösung von der Marter: Die lebhafteste und entsetzlichste Erinnerung aus dieser ganzen Zeit ist, daß ich fortwährend im Angesicht des Todes lebte. Ich hatte das Gefühl, nicht mehr klar denken zu können. Ich versuchte verzweifelt, meine Gedanken mit irgend etwas zu beschäftigen, um zu spüren, daß ich noch am Leben und noch nicht verrückt geworden war. Gleichzeitig wünschte ich sehnlichst, daß sie mich so schnell wie möglich umbringen würden. (…) Die Erinnerung an diese ganze Zeit ist so anschaulich und so vertraut, daß sie mir wie ein Stück meines Innersten erscheint, das wirklich vorhanden ist.217

Das Herbeisehnen des Todes nährte offensichtlich das Gefühl der Peiniger, über Leben und Tod zu herrschen, denn nur sie bestimmten den Zeitpunkt des »traslado«, der sogenannten »Verlegung«. Der Tod als Auflösung des eigenen und kollektiven Entführungsdramas indes blieb vielen Lagerinsassen bis zum Schluss verborgen, hinter dem Wort »Verlegung« steckte für viele die Hoffnung eines anderen Ausgangs:

217 Zit. in CONADEP, 1987, S. 23. 169

Erinnerung und Intersektionalität Viele Desaparecidos fanden sich mit Zahnbürste und persönlichen Gegenständen für die Verlegung ein, mit einem Gefühl der Erleichterung, das den unmittelbar bevorstehenden Tod nicht ahnte. Andere nicht; sie verabschiedeten sich beim Verlassen des Lagers von ihren Kameraden und waren sich ihres Endes bewusst.218

Das Klima, das die Massaker − die »Verlegungen« (auch »cochecitos« [Kinderwagen] oder »ventiladores« [Ventilatoren] genannt) − umwob, und die Nervosität mittwochs ab 17 Uhr in der ESMA, wenn die Totgeweihten zur Krankenstation geführt wurden, sorgten nach und nach für ein Wissen der Gefangenen um das weitere Vorgehen. Einige wussten bereits im Lager von den Injektionen von »pentonaval«, dem von Mitgliedern der Marine verabreichten Barbiturat Pentothal, das bei den Todesflügen als Betäubungsmittel eingesetzt wurde.219 »Boleta« [Lunfardo für Totenschein] zu werden, in die Grube geworfen220,221, nach oben befördert, auf dem Meeresboden versenkt, den Fischen zum Fraß vorgeworfen oder zu Seife gemacht zu werden222 waren Drohungen während der Foltersitzungen, die ahnen ließen, das der Schluss tödlich sein würde. Die Entsorgung der gepeinigten Körper wurde zu einer ausgewachsenen logistischen 218 Calveiro, [1998] 2008, S. 51, aus dem Span. von MLS. 219 Vgl. »Der Tod als politische Waffe. Die Vernichtung« (CONADEP, 1987, S. 123-133). 220 »Sos boleta, David« [Du bist tot, David], meinte der Schriftsteller und Literaturwissenschaftler David Viñas, war die wiederholte Drohung, die ihn 1976 ins Exil − und zur Aufgabe seiner Bibliothek − zwang. Viñas verlor durch die Diktatur zwei Kinder (Invernizzi /Gociol, [2002] 2007, S. 383). 221 »Die Zeugenaussagen der Überlebenden berichten über die Furcht vor den »Verlegungen«, die regelmäßig in einem düsteren »Mercedes Benz« durchgeführt wurden. Der Wagen kehrte wenig später zurück – ohne die Verschleppten. Die Überlebenden bringen das mit den wiederholten Drohungen ihrer Kerkerknechte, sie in den »Brunnen« zu schicken, in Verbindung. Diese Berichte – es ist schmerzlich, darüber zu sprechen – erwähnten die Vernichtung vieler Häftlinge durch Erschießung am Rand einer tiefen Grube, die man vorher zum Eingraben der Körper ausgehoben hatte« (CONADEP, 1987, S. 123). 222 Nora Strejilevichs Zeugenaussage auf einer Seite des Israelischen Außenministeriums lautet: »[J]udía de mierda, vamos a hacer jabón con vos y aunque no hayas hecho nada las vas a pagar por judía« [Scheißjüdin, aus dir machen wir Seife, egal, wenn du nichts getan hast, du bist Jüdin und deswegen bist du jetzt dran] (vgl. ›www.mfa.gov.il/desaparecidos/pdfspen/StrejilevichNora.pdf‹, 12.10.2010). 170

Teil II – Nation und die Subjekte/Körper der Rebellion

Aufgabe, bei der oftmals bewaffnete Auseinandersetzungen fingiert wurden, um die Desaparecidxs dann als N. N. zu beerdigen.223 Tausende von Menschen wurden aus Flugzeugen abgeworfen, und sie fielen, nach der perfiden Bezeichnung in einer Enthüllung neueren Datums, wie »hormiguitas« [Ameislein]224 in das zum Massengrab gewordene Meer vor der Küste Argentiniens. Der Zweck der spurlosen Beseitigung wurde von den Verfassern des Nunca-Más-Berichts so resümiert: Deswegen denken wir, daß diese Toten ohne Namen in den Rahmen jener Logik passen, die für das Verschwinden der Personen verantwortlich war: Indem man die Identität der Leichen ausradierte, wuchs der Schatten, der Tausende von Verschwundenen verbarg, deren Spur von dem Zeitpunkt an verloren ging, zu dem sie verhaftet und entführt wurden.225

Bei der Verschleppung sprach man von »operación« [Eingriff], das Opfer war »paquete« [Paket] oder »mercadería« [Ware], die Täter die »patota« [Schlägertruppe]. Die bei den »Eingriffen« geraubten Gegenstände wurden in Räumen wie »bodega« [Weinkeller] oder »pañol«226 [Schiffskeller] aufbewahrt. Zu »botín de guerra« [Kriegsbeute] zählten auch Immobilien, deren Übertragung an die Folterer vielfach erzwungen wurde, doch die wertvollste aller Kriegsbeuten waren die Babys der Verschleppten. Ihr Raub wurde gleichzeitig zu einer extremen Form der Folter, sowohl für die Eltern als auch für die restliche Familie. Ältere Kinder verschleppter Eltern wurden manchmal an die Familien zurück- oder in Kinderheimen abgegeben. Zeugenaussagen über ihren Aufenthalt in den Folter223 »Ein Illegaler, Guillermo López, Medizinstudent aus dem Westen der Bundeshauptstadt, wurde an dem Morgen, an dem wir, eine große Gruppe, nach Villa Devoto verlegt wurden, ebenfalls aus seiner Zelle geholt und kam niemals dort an. Einige waren seit ungefähr 80 Tagen (in der Oberaufsicht) in Gefangenschaft und einer sagte, früher hätten sie Leute abgeholt, um sie zu ermorden. Einer bezeugte mir gegenüber auch, daß sie in der Nacht vor der Entdeckung der 30 Leichen in Pilar 30 Gefangene aus der Bundeskoordinationszentrale abgeholt hätten« (CONADEP, 1987, S. 123). 224 Vgl. den Fall Emir Sisul Hess in der Berichterstattung der Online-Tageszeitung Bariloche 2000 vom 05.10.2009, in: ›http://bariloche2000.com/noticias/leer/siniestro/42812‹, 14.05.2013. 225 CONADEP, 1987, S. 133. 226 Der Ausdruck »pañol« ist in der Alltagssprache ungewöhnlich und gehört zum spezifischen Vokabular der Seefahrt und der Marine. 171

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zentren sowie über ihren Einsatz als Erpressungsmittel in den Foltersitzungen der Eltern sind ebenso zahlreich. Ihre Körper bevölkerten ebenfalls die Massengräber. Babys wurden Objekt eines Aneignungsplans für Militärangehörige und Gesinnungsgenossen, die sich, in Wartelisten eingetragen, bis zur Geburt der Kinder »gedulden« mussten. Zu diesem Aneignungsplan gehörten nicht nur die Personen, die sich des Lebens und der Identität der Kinder bemächtigten, sondern auch das medizinische Personal, Ärzte, Hebammen, sowie Justizbeamte, die durch die maskierte Eintragung ins Melderegister die familiäre Spur nachhaltig verwischten. Schwangere Frauen wurden ebenso gefoltert wie andere Verschleppte, in den letzten Wochen vor der Geburt wurden sie jedoch meistens unter besseren Bedingungen untergebracht. Darauf folgten in der Regel, meistens nach 48 Stunden, die Trennung des Neugeborenen von seiner Mutter und der Tod der Mutter. Von den über 500 verschwundenen Babys, die der familiären Identität beraubt wurden, konnten bis Dezember 2014 nur 116 dem Vergessen entrissen und für die so lang gequälten Angehörigen zurückgewonnen werden. Die übrigen, die um die 40 Jahre alt sind, sind immer noch Desaparecidas und Desaparecidos. Aber sie sind auch Desaparecidas und Desaparecidos, die leben. Die hitzige öffentliche Debatte um die Frage der Grenzen des staatlichen Interesses an der Aufklärung der familiären Zugehörigkeit und um den unterschiedlichen Umgang der »restituidos« (derjenigen Kinder und Enkelkinder, denen die familiäre Identität nach ihrer Aufspürung anhand von DNA-Tests vom argentinischen Staat zurückgegeben werden konnte) selbst mit der eigenen Identitätsfrage macht dieses Thema fast 30 Jahre nach dem Ende der Diktatur zu einem der in der Gegenwart am meisten diskutierten.227

227 Beispielhaft für diese besonders heikle Debatte war der Streit um die angeblich zwangsadoptierten Kinder der Verlegerin der Tageszeitung Clarín und Medienmogulin Ernestina Herrera de Noble, die sich erst weigerten, weitere Proben zur Festlegung ihrer familiären Identität zu liefern. Das mit der Frage der Identität sich öffnende Spannungsfeld zwischen Aufklärung und Selbstbestimmung wird im Buch De vuelta a casa – historias de hijos y nietos restituidos von Analía Argento (Buenos Aires 2008) anhand acht sehr unterschiedlicher Biographien facettenreich dargestellt. Die durch das Programa Sur des argentinischen Staates geförderte Übersetzung ins Deutsche wurde im Rahmen eines studentischen Projektes des FTSK Germersheim der Universität Mainz angefertigt. Paula, du bist Laura! – Geraubte Kinder in Argentinien erschien im Oktober 2010 im Christoph Links Verlag. (Für eine Darstellung des Projekts und eine Reflexion über den Übersetzungskontext vgl. A brego/Müller, 2011.) 172

Teil II – Nation und die Subjekte/Körper der Rebellion

Während der Zeit der stärksten Ausprägung der Repression im Jahr 1976 erreichte das Netz illegaler Haft- und Folterzentren, »chupaderos« genannt (von »chupar« = einziehen, einsaugen, also die Orte, an denen die »Eingezogenen«, chupadas y chupados, festgehalten wurden), bis zu 610 Orte228 des Grauens, womit eine echte Kartographie der Folter geschaffen werden musste, um die Vorgehensweise der »grupos de tareas«, der mit der Aufgabe der Verschleppung, Folterung, Tötung und Entsorgung der Körper betrauten Arbeitsgruppen der Streitkräfte und der Polizei, zu rekonstruieren.229 Innerhalb der »Arbeitsgruppen« bestand eine Arbeitsteilung zwischen den nach außen wirkenden »patotas« und dem Personal innerhalb des Lagers, den Folterknechten und Aufpassern230, die die Drecksarbeit, »trabajo sucio«, in einem dreckigen Krieg, »guerra su228 Im CONADEP-Bericht vom September 1984 werden 340 Haftzentren angegeben, im Laufe der Jahre addierten sich spätere Rekonstruktionen zu dieser aktuelleren Zahl. 229 Durch die fehlende Freigabe der Dokumentation umfasst die Arbeit der Erinnerung und die der Gerichte die räumliche Rekonstruktion der Folterzentren. Der Architekt Gonzalo Conte widmete sich in der NGO »Memoria Abierta« der Rekonstruktion einer Topographie der Folter. Anlässlich der Gerichtsverhandlung um das Haftzentrum »El Vesubio« wurde er als Experte befragt: »Haus Nummer zwei war das Folterzentrum. Ein großer Teil der ursprünglichen Aufteilung dürfte im Takt der Dynamik der Repression verändert worden sein, wie es auch in anderen Folterzentren der Fall war. Die Eingangstür lag ursprünglich zum Camino de Cintura hin und war durch eine Öffnung im hinteren Teil ersetzt worden. Eine Verteilungshalle verband diesen Zugang mit einem Bereich, an den sich die Zeugen deutlich als Folterwarteraum erinnern. Die Rekonstruktion dieses Gebäudeteils war eines der heftigsten Bilder der Präsentation: Der Saal, den man beinahe berühren konnte, war ein Raum mit Dutzenden im Abstand von 35 bis 45 Zentimetern nebeneinander an der Wand befestigten Fußfesseln, die nur teilweise ein wenig Abstand von der Wand boten; unterhalb jeder Fessel zeigte der aufgezeichnete Umriss einer Decke oder Schaumstoffmatratze die Anwesenheit der Gefangenen an. In einem der Seitenflügel lag der erste Foltersaal mit einer Bahre. Und dann gab es noch, was Conte als eine Erweiterung des Hauses darstellte: Zwei Räume waren angebaut worden, als zusätzliche Folterräume, mit Gurten und Betten« (Dandan, 2010, aus dem Span. von MLS). 230 Pilar Calveiro unterstreicht ein gemeinsames Vorgehen bei Aktionen, die dazu dienten, diese Alltagsunterscheidungen aufzuheben. Dadurch wurde das Kollektiv mit derselben Schuld beladen. »Innerhalb der Streitkräfte tendierte die allgemeine Politik der Einbeziehung auch zu einer Verteilung der Verantwortung mit 173

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cia«231, machten. Die Tatsache, dass sich die geheimen Haft- und Folterräume größtenteils als parallele Welt neben dem Behördenalltag in Polizei- oder Armeerevieren befanden, verschärfte die Schwierigkeit der Aufspürung der Verbrechen in der Postdiktatur. Anders als z.B. in den von den Alliierten aufgefundenen Konzentrations- und Vernichtungslagern des Dritten Reichs mit ihren schaurigen Bergen von wohl dokumentierten Körpern, Kleidungsstücken und Alltagsobjekten hinterließ die Vernichtung der Körper und der Gegenstände des Alltags keine eindeutigen Spuren an diesen argentinischen Orten des Grauens. Erst spätere Zeugenaussagen von Nachbarn und vor allem von Überlebenden belegten ihre Existenz. Mit Namen wie »El Olimpo« [Der Olymp], »El Vesubio« [Der Vesuv], »La Perla« [Die Perle], »Mansión Seré« [Villa Seré], »La Escuelita« [Die kleine Schule], »La Casita« [Das Häuschen], »Pozo de Bánfield« [Der Brunnen von Banfield], »Pozo de Quilmes« [Der Brunnen von Quilmes], »La casa de los mudos« [Das Haus der Stummen] (als makabrer Scherz über die Folterschreie), »Sheraton« u. v.a. wurden für die Repression hundertfach Orte der Entmenschlichung gegründet und später gleichsam zunichtegemacht. Das erfolgreiche Verwischen der Spuren der Vernichtung ließ die Folterknechte spotten, wie z.B. Armeekommandeur Luciano Benjamín Menéndez, als er sich im März 1984, also nach der Rückkehr der Demokratie, gegenüber der Zeitschrift Revista Gente abfällig äußerte: »La Perla, gab es so etwas? Ja, es war ein Gefangenensammelort, kein geheimes Gefängnis … die Subversiven waren dort besser vor ihresgleichen geschützt …«232 Die Folterknechte ließen sich viele euphemistische, vor allem aber zynische Namen einfallen: »pecera« [Aquarium] für die verglasten Räume der ESMA (wo eine Reihe ausgesuchter Überlebender, der »staff«, bis 1983 Büroarbeiten leistete und in der Postdiktatur wesentlich zur Rekonstruktion der Namen der Verschwundenen und der Vorgänge der Vernichtung beitrug); »Avenida de la Felicidad« [Straße der Glückseligkeit] für die Strecke zur Folterkammer; »huevera« [Eierschachtel] und »quirófano« [Operationssaal] für die Foltersäle, in denen ein »tratamiento« [Behandlung] oder eine »terapia intensiva« [Intensivbehandlung] angewendet wurde, um nur einige zu nennen. Es gab enge Zellen, 80 cm breite »tubos« [Schläuche], durch dünne Holzwände (»tabiques« [Trennwände], ein Wort, das auch die obligatorischen Augendem Ziel, letztendlich keine Verantwortung zu tragen« (Calveiro, [1998] 2008, S. 43, aus dem Span. von MLS). 231 Siehe hierzu die Aussage des Folterknechtes Raul David Vilariño in Calveiro, [1998] 2008, S. 40. 232 CONADEP, 1987, S. 359. 174

Teil II – Nation und die Subjekte/Körper der Rebellion

binden bezeichnete) getrennt, aber auch mit einer einfachen Matratze versehene Liegeplätze auf dem Boden, die »cuchas« [Hundeliegeplätze]. Die Entführten konnten einzeln oder mit mehreren Gemarterten zusammen in sog. »leoneras« [Löwenkäfige] liegen; diese Räume sollten zum »ablandamiento« [Weichkochen] und dann zum »quiebre« [Bruch] beitragen. Sobald die Gefangenen das Konzentrations- und Folterlager betraten, verloren sie ihren Namen und wurden lediglich mit einer Zahl aufgerufen: Sie waren nur noch »bultos« [Bündel]. Die systematischen Folterungen schufen »quebrados«, gebrochene Menschen, deren Willen durch die Peinigung zerstört worden war, die weit entfernt von jenen Heldenanwärtern waren, die eine »vanguardia iluminada«, eine aufgeklärte Vorhut der Revolution, werden wollten. Den Verschleppten wurden die Augen mit einem »tabique« [Augenbinde] verbunden oder man stülpte ihnen eine »capucha« [Kapuze] über. »Capucha« hießen außerdem sowohl die Räume als auch die Situation im Lager während der langen Zeit der Blindheit und Isolation in der ESMA; »capuchitas« [kleine Kapuzen] waren die Räume unter dem Dach der ESMA, die nicht von der dort operierenden »Arbeitsgruppe 3« genutzt wurden, sondern für die Gefangenen von auswärtigen »Arbeitsgruppen« wie dem Marinenachrichtendienst und der Marineluftwaffe reserviert waren. Die Augenbinde, die die Desaparecidxs in große Dunkelheit versetzte, war die unmittelbare Grenze zur Außenwelt. Mit verbundenen Augen ist der sonst sehende Mensch desorientiert, isoliert, hilflos. Kapuze oder Binde anonymisierten den Menschen und reduzierten ihn für Folterknechte und Aufpasser zum Körper des Feindes. In den Worten der Überlebenden Pilar Calveiro eröffnete die »Kapuze« eine weitere Dimension des Identitätsverlustes – die des absoluten Ausgeliefertseins: Die Kapuze und der damit verbundene Verlust des Sehvermögens vergrößern die Unsicherheit und die Orientierungslosigkeit, aber sie nehmen dem Menschen auch sein Gesicht: Sie radieren es aus. Das ist der Teil des Entmenschlichungsprozesses, der den Desaparecido untergräbt und gleichzeitig seine Bestrafung erleichtert. Die Folterer sehen die Gesichter ihrer Opfer nicht; sie bestrafen gesichtslose Körper; sie bestrafen Subversive, nicht Menschen. Darin liegt eine doppelte Negierung des Opfers: gegenüber dem Opfer selbst und gegenüber denjenigen, die es quälen.233

Das Abnehmen der Augenbinde sowie jeder Versuch der Kontaktaufnahme mit den Schicksalsgefährten waren streng untersagt und wurden mit Peinigungen 233 Calveiro, [1998] 2008, S. 62, aus dem Span. von MLS. 175

Erinnerung und Intersektionalität

bestraft, die bis zur Wiederaufnahme einer beendeten Folterphase gehen konnten. Zeugen berichten über die Dunkelheit, die Stille, die Bewegungslosigkeit. Die Zeugin Ana María Careaga erinnert sich, dass Gefangene des »El Atlético« befürchteten, diese Umstände niemals vermitteln zu können: »Es war für uns unvorstellbar, jemals erzählen zu können, wie es war, immer in der Zelle eingesperrt zu sein, im Dunkeln, ohne etwas zu sehen, ohne reden zu dürfen, ohne umherlaufen zu können.«234 Das Wissen über den Aufenthalt und die Folterung der Desaparecidxs in den Haft- und Folterzentren, von der CIDH (Comisión Interamericana por los derechos humanos – Interamerikanische Menschenrechtskommission) im Jahr 1979 »centros clandestinos de detención« [geheime Haftzentren] getauft, fand bereits in den CIDH-Bericht235 vom 14.12.1979 Eingang236, wurde allerdings erst nach der Wiederkehr der Demokratie bekannt gemacht. Als die Kommission Argentinien besuchte, bekam sie keinen Zugang zu den geheimen Haft- und Folterzentren, obwohl deren Existenz der Anlass des Besuches war. Die Auflistung der Foltermethoden im Bericht der CIDH umfasst die in den Folterzentren angewandten Praktiken237 und lässt den vorgeschalteten Aufenthalt der Gefangenen in den Folterlagern vermuten. 234 Zit. in Ebd., S. 48. 235 Für die Zeit des Besuchs der CIDH wurde ein Großteil der Gefangenen in Buenos Aires auf die Insel »El silencio« im Tigre-Delta in der nahen Umgebung der Hauptstadt gebracht. Die Tatsache, dass die Insel der argentinischen Kurie gehörte, ist ein Beweis mehr dafür, wie sehr die argentinische Kirche in die Verbrechen der Diktatur verstrickt war (Granovsky, 2010, o. S.) 236 Inter-A merican Commission on Human R ights, 1980, Chapter V, A. General Considerations. 237 a) Brutal beating of inmates, which on several occasions has resulted in broken bones and partial disablement; in the case of pregnant women it has caused miscarriages and according to some allegations, has even resulted in the death of several persons. This type of beating is carried out with different kinds of metal, rubber, wooden and other weapons, and with fists and kicks. Denunciations have been made claiming rupture of the bladder, fractured ribs and sternum, or other serious internal injuries; b) Confinement in punishment cells for several weeks, for trivial infractions, under conditions of desperate isolation and with the application of coldwater baths; c) The chaining of inmates to the headboards of beds, or to the seats of airplanes, or other vehicles in which they are transferred from one place to another, while being subject to beatings and insults; d) Mock executions, and, in some cases, the actual execution of inmates in the presence of other pris176

Teil II – Nation und die Subjekte/Körper der Rebellion

Auch wenn die Folter als repressive Praxis nicht neu war, erschütterte das Offenlegen ihrer methodischen und ausnahmslosen Anwendung im Bericht »Nunca Más« der CONADEP im September 1984 die argentinische Gesellschaft. Detaillierte Zeugenaussagen über die Methoden sind in Teil C des ersten Kapitels nachzulesen und sie sind um den Abschnitt D mit der Beschreibung der Haftzentren ergänzt. Zum Gruselkabinett des zivilisatorischen Abgrunds, von dem der Bericht der CONADEP zeugt, gehörte die »picana«, der in Argentinien erfundene Elektroschocker, der dort euphemistisch »la máquina« [die Maschine] genannt wird. 1930 vom Sohn des Schriftstellers Leopoldo Lugones, der während der Diktatur von José Felix Uriburu Polizeichef war, kreiert, oners and relatives, as has occurred according to denunciations in Córdoba, Salta and in the Death Wing in La Plata, among others; e) Immersion by means of the so-called submarine, where the victim’s head is covered with a cloth hood and intermittently forced into a vessel containing water, in order to induce asphyxiation as a means of obtaining information from the prisoner; f) The systematic application of the so-called picana eléctrica (electric rod), whereby the victim is tied to the metal parts of the bed and is subjected to currents of high voltage electricity on various parts of the body, such as the head, the temples, the mouth, the hands, the legs, the feet, the breasts and genitalia; furthermore the body is doused with water so as better to conduct the electrical charges. According to complaints received, in some cases the picana is applied while a physician checks on the victim’s condition after each series of »shocks« administered; g) Burning various parts of the inmates body with cigarettes until they are covered with ulcerous wounds; h) The application of pins and other similar pointed instruments under the finger and toenails; i) The threat or consummation of rape of both women and men; j) Placing prisoners in pens with vicious dogs trained by the captors, until they are almost dismembered; k) Keeping prisoners prostrate and hooded for several weeks, with hands and feet tied while they are beaten; l) Suspending inmates from the ceiling with their hands handcuffed or tied; they are tied to metal or wooden bars, and their feet are kept a few inches off the floor, which is covered with pieces of broken glass. There are also cases where the victims are suspended from their hands or feet, causing fractures of their hips or other bones; […] n) Giving drugs, serum or injections to detainees while they are unconscious as a result of the lengthy torture; o) Meticulous searches of the prisoners, abusing all parts of the body, causing the corresponding humiliation; p) The use of the so-called bucket, which consists of immersing the feet in very cold and then very hot water for long periods of time (vgl. Inter-A merican Commission on Human R ights, 1980, Chapter V, D. Unlawful Use of Force and Torture). 177

Erinnerung und Intersektionalität

zählte er zu den bevorzugten Instrumenten bei den »Verhören«, so die euphemistische Bezeichnung für die Foltersitzungen. Der Elektroschocker wurde vornehmlich auf »parrillas« [Grills]238, Metallrosten von Betten, angewendet, um die Wirkung der Stromzufuhr zu intensivieren.239 Der inzwischen international bekannte »submarino mojado« [Waterboarding] − in Argentinien auch als »mojarrita«240 bekannt − war eine weitere der eingesetzten Prozeduren. Beim »submarino seco« [trockenes Waterboarding] wurde dem Opfer ein Nylonsack über den Kopf gestülpt. Alle eingesetzten Methoden hatten die gemeine Eigenschaft, den Menschen an den Rand des Erträglichen zu bringen, bei handwerklichen Fehlern oder entsprechender Entscheidung darüber hinaus nicht selten bis zum Tode. Carlos Pussetto, Desaparecido in »La Perla«, beschreibt seine Lage so: Wir Desaparecidos harrten in einem Areal von etwa 20 auf 70 Metern aus. Auf Strohmatten geworfen. Die Augen verbunden. Sprechen und sich bewegen verboten. Von der Nationalgendarmerie bewacht. Unterernährt. Krank. Ohne Vorstellung davon, wann der Tag begann oder endete. Permanent in Furcht durch die Schreie der Gefolterten oder das Todesstöhnen der Sterbenden […]. Isoliert, allein. In der Dunkelheit des Horrors, in völliger Ungewissheit, unterwegs zum Wahnsinn. Zu Sachen, zu Gegenständen mit einer Nummer gemacht (meine war 538). Wir rechneten täglich mit dem Tod durch

238 Marguerite Feitlowitz erkannte mit Entsetzen, dass »parrilla« [Grill] auch die Beseitigung der Körper durch Feuerhaufen verbrämt und vom Folterinstrument und dem Gegenstand, auf dem die Folter stattfand, zu den beliebten Grillrestaurants bzw. -imbissen der Argentinier eine sarkastische Umdeutung stattgefunden hatte. Sie deutete diese als das Unbehagen, das u. v.a. zum Anlass wurde, das Vergessen zu beschleunigen (Feitlowitz, 1998, S. 49). 239 »Auf dem Grill bäumt man sich auf, soweit es die Fesseln zulassen, man krümmt und windet sich und versucht den Kontakt mit den glühenden Eisen zu vermeiden. Die Anwendung der Elektroschocks wurde mit der Genauigkeit eines Seziermessers gehandhabt, und der ›Spezialist‹ wurde von einem Arzt angeleitet, der ihm sagte, ob ich noch mehr aushalten konnte« (aus der Zeugenaussage von Antonio Horacio Miño Retamozo, in: CONADEP, 1987, S. 25). 240 Die »mojarrita«, ein zur Familie der Sardinen gehörender kleiner Süßwasserfisch Südamerikas, ist essbar und in den Flüssen reichlich vorhanden. Er gehört durch seine geringe Größe lediglich zum Speiseplan der äußerst Armen. Für die perverse Praxis der erzwungenen Erstickung wurde dieser niedliche Fisch, der heftig an der Angel rüttelt, als zynischer Versuch der Verharmlosung ausgemacht. 178

Teil II – Nation und die Subjekte/Körper der Rebellion Erschießen oder in einer der vorgetäuschten Kampfhandlungen in irgendeiner Straße. So harrten wir aus. Tot, aber lebendig, wie die Militärs sagten.241

Neben dem körperlichen Martyrium bediente man sich in den Haft- und Folterlagern aller möglichen Formen psychologischen Drucks durch Maßnahmen, die erst mit dem Tod – oder, in wenigen Fällen, durch die Freilassung − aufhörten. So beschrieb Pilar Calveiro den Aufenthalt im Lager nach dem Ende der Foltersitzungen als eine Phase der stillen Folterung, in der das Leben, die Dunkelheit und die fortwährende Isolation von allgemeinem Misstrauen, Misshandlungen und Demütigungen sowie schlechtem Essen begleitet waren.242 Durch die Eigenheit des geheimen Vorgehens und durch den langen und politisch beschwerlichen Weg der Justiz wurden, um den Verbleib der Menschen aufzuklären, eine große Menge an testimonios benötigt und gesammelt. Diese Zeugenaussagen, die zunächst das Ziel hatten, zur Rekonstruktion des Geschehenen beizutragen und damit die Überführung der Verantwortlichen und Täter zu ermöglichen, wurden allmählich zur Kernmasse eines Konterdiskurses, der sich gegen die Politik des Vergessens formierte und dieser den Boden entzog. Für die Menschenrechtspolitiken der argentinischen Regierung ab 2003 sind sie – als Puzzleteil des entfesselten sozialen Protests von November und Dezember 2001 − eine der zentralen Voraussetzungen. c. Folterdiskurs und -praxis – Eine effiziente Produktion von Wahrheit? Das Verbot untersagt die Folter nicht etwa, weil sie ein untaugliches Mittel zur Erreichung wünschenswerter Zwecke sei, sondern weil sie taugt,

schrieb Friedrich der Große bereits 1740 als Begründung seines Verbotes, und der Kölner Medienwissenschaftler Lutz Ellrich fragt mit Blick auf diese Worte zu Recht – anhand der Vergleiche zwischen den Folterungen in den DDRGefängnissen und der damals veröffentlichten Liste amerikanischer Mittel der »Verhörvorbereitung« −, ob die westliche Kultur überhaupt die nötigen moralischen Ressourcen mobilisieren kann243, um die gängigen Effizienzargumente 241 Zit. in Espacio para la Memoria y Promoción de DDHH ex CCDTyE »La Perla«, 2009, S. 1, aus dem Span. von MLS. 242 Calveiro, [1998] 2008, S. 70. 243 Auch hier sind Jean Amérys Worte aus dem Jahr 1966 zutreffend: »Das Eingeständnis der Tortur, das Wagnis – aber ist es denn noch ein solches? −, mit derartigen Fotos vor die Öffentlichkeit hinzutreten, ist erklärlich nur unter der Annahme, 179

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zu entkräften.244 Die Frage könnte allerdings auch lauten: Wie kann der westliche Humanitätsdiskurs, der eine grenzenübergreifende Ethik des Mitgefühls in der Kernfrage der Menschenrechte teilt, durch den die Folter begleitenden Diskurs des privilegierten Zugangs zur Wahrheit aufgehebelt werden? Dieses Relikt aus voraufklärerischer Zeit, das die Folter ist, beschäftigt immer wieder zeitgenössische Chronisten. Die Machttechnologie der peinlichen Strafe scheint im Hinblick auf die argentinische Staatsrepression jedoch paradoxerweise ausgerechnet in den aufgeklärten Zivilgesellschaften des Westens perfektioniert worden zu sein. Die gegenmenschliche Praxis der Folter wird durch die internationale Gemeinschaft zwar grundsätzlich geächtet, aber gleichzeitig weltweit ambivalent gewertet und gelebt und bleibt dort, wo sie zur Anwendung kommt, wie eine nicht wahrzuhabende Realität auf der Schattenseite der gesellschaftlichen Wahrnehmung. Über die Praxis der Folter öffentlich zu debattieren wiederum hieße eben, die Techniken, die dabei zur Anwendung kommen (können), bekannt zu machen. »Doch nichts unterminiert aber mehr die Tauglichkeit der Folter als die Transparenz ihrer Verfahren.«245 Die Effizienz der Folter in den argentinischen Lagern vollzog sich im Bruch des Widerstands des Einzelnen und im konsequenten Verrat der Freundschaften, Kameradschaften und Loyalitäten, letztlich der gesamten Identifizierungswelten der jungen Sozialrevolutionäre. Dadurch erstickte jeglicher Widerstand der Basisorganisationen, da ihre Mitglieder nach und nach ausgeschaltet wurden und wie in einer Kettenreaktion Compañeros und Freunde mitrissen.246 Die absolute Unterwerfung des Menschen vor dem Tod, dessen Heimlichkeit und der Entzug der Möglichkeit, dem Sterben eine Bedeutung im Zeichen des Widerdaß eine Revolte der Gewissen nicht mehr befürchtet wird. Man möchte meinen, daß diese Gewissen sich an die Praxis der Tortur gewöhnt haben« (A méry, [1966] 2008, S. 48f.). 244 Ellrich, 2010, S. 51. 245 Ebd., S. 50. 246 Gillespie berichtet, dass die Führung der Montoneros erst nach 1977 begriff, dass ihre anfangs mit Stolz verkündeten Zahlen, 90 % der Verschleppten hätten die Aussage verweigert und wurden deswegen getötet, 10 % hätten etwas gesagt, aber nur 1 % habe compañeros verraten (indem sie z.B. mit den Streitkräften die Treffpunkte patrouillierten und auf Mitglieder zeigten), sehr ernst waren: »Ein einzelner Verräter konnte 20 bis 30 Mitglieder denunzieren, von denen 3 oder 4 unwissentlich weitere 8 oder 10 denunzieren konnten, von denen wiederum einer zu einem ›Zeiger‹ werden konnte (der bereit war, durch die Straßen zu ›spazieren‹ und auf Montoneros, die er kannte, zu ›zeigen‹)« (Gillespie, 2008, S. 375, aus dem Span. von MLS). 180

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stands zu geben, tragen das Zeichen einer Bürokratie der absoluten Auflösung, die − mit den Worten von Hannah Arendt − die »systematische Zerstörung der menschlichen Körper zum Zwecke der Zerstörung der menschlichen Würde«247 als Ziel hatte. Liest man Pilar Calveiros Analyse über die Effizienz der Folter, so unterscheidet sie zwischen einer inquisitorischen Folter, die Bestrafung und Leiden verfolgte, und einer emotionsfreien Folter: »eine wirksame, kalte, aseptische und effiziente Technologie des Verschwindenlassens«248, die dem dafür ausgebildeten Personal die Illusion vermittelte, eine Arbeit zu erledigen, und ihnen den eigenen Prozess der Enthumanisierung verbarg.249 Diese professionellen Folterknechte erschwerten nicht nur die Transition und die Demokratisierung der Streitkräfte, sie bildeten seitdem einen ungemein gefährlichen Pool von Gewalttätern, die euphemistisch »mano de obra desocupada« [unbeschäftigte Arbeitskräfte] genannt wurden; dazu gezählt wurden auch diejenigen, die in der Postdiktatur vielfach in die Gefährdung der zivilen Sicherheit durch den sog. »gatillo rápido«, die Bereitschaft, schnell auf einen Menschen zu schießen, oder in den kriminellen Drogenhandel verwickelt wurden.250 Die Ablösung der inquisitorischen Folter durch das mechanisierte Foltern und Morden ist nach Hannah Arendt das, was den Übergang von Handlungen des perversen, aber noch individuell geprägten Sadismus der SA zum durchorganisierten kalten System der SS kennzeichnet, das Massen erfasste.251 Jean Améry erklärt seinerseits die Folter gar zur Essenz des Nationalsozialismus252 und erkennt sie als die Praxis, in der sich das Dritte Reich in seiner ganzen Bestandsdichte verwirklichte: Denn der Nationalsozialismus, der zwar keine Idee gebot, wohl aber ein ganzes Arsenal verworrener Mißideen besaß, hatte bislang als einziges politisches System dieses Jahrhunderts die Herrschaft des Gegenmenschen nicht nur praktiziert, wie andere rote und weiße Terror-Regime auch, sondern ausdrücklich als Prinzip statuiert. Das Wort Humanität war ihm verhaßt wie 247 A rendt, [1955] 2009, S. 933. 248 Calveiro, [1998] 2008, S. 70. 249 Ebd., S. 71. 250 Ihre Figurationen bevölkern die argentinische Literatur der Postdiktatur. Im vorliegenden Buch kommen sie in den Narrationen Contraluz von Sara Rosenberg, Un secreto para Julia von Patricia Sagastizábal und El lugar perdido von Norma Huidobro vor. 251 A rendt, [1955] 2009, S. 933. 252 A méry, [1966] 2008, S. 59. 181

Erinnerung und Intersektionalität dem Frommen die Sünde, und darum sprach er von Humanitätsduselei. Er rottete aus und versklavte, das bezeugen nicht nur die Corpora delicti, sondern ausreichende theoretische Bekräftigungen. Die Nazis folterten, so wie andere, weil sie sich mittels der Tortur in den Besitz staatspolitisch wichtiger Informationen setzen wollten. Daneben aber folterten sie mit dem guten Gewissen der Schlechtigkeit. Sie marterten ihre Häftlinge zu bestimmten, jeweils genau spezifizierten Zwecken. Aber sie folterten vor allem deshalb, weil sie Folterknechte waren. Sie bedienten sich der Folter. Inbrünstiger aber noch dienten sie ihr.253

In den argentinischen Lagern folgte die Luftwaffe, aus deren Lagern die geringste Anzahl an Überlebenden bekannt ist, aber auch die Polizei vor allem den Formen inquisitorischer Folter. Beide vollzogen die Bestrafung ihrer Opfer in erster Linie in »Reinigungsritualen«, die den Zweck hatten, sichtbare Spuren an den Körpern zu hinterlassen. Während der Folterung steigerten sich die Folterer bewusst in eine Art Blutrausch; sofern der/die Gefolterte diese Peinigung überlebte, dienten seine/ihre sichtbaren Folterspuren als weiteres Exempel und zur Abschreckung.254 Die Anwendung der Folter durch die Marine und das Heer, durch deren Hände der größte Teil der Desaparecidxs lief, unterschied sich durch eine »Professionalität«, die auf das Gewinnen von Informationen konzentriert war und dadurch »aseptischer« wirkte, sich jedoch stärker des psychologischen Drucks durch die Konfrontation mit dem Leiden anderer bediente.255 Das völlige Ausblenden ihrer eigenen Humanität ermöglichte den Folterknechten in allen Lagern offensichtlich, an die Illusion zu glauben, etwas anderem als der Folter zu dienen. Sowohl die inquisitorische wie die aseptische Folter bezweckten, aus den »subversivxs« Wahrheit zu extrahieren, den Menschen auszuleeren und überflüssig zu machen, um dann nur noch seine Hülle zu entsorgen: Und darin besteht der ganze Horror: dass sie uns ausgeleert haben, dass sie bis auf den Grund unseres Selbst vorgedrungen sind, dass sie uns völlig entblößt haben, körperlich und seelisch, dass sie sehen und fühlen konnten, wo unsere Grenze war, wie weit wir gehen konnten, wo der Bruchpunkt unserer Würde lag.256

253 Ebd., S. 61. 254 Calveiro, [1998] 2008, S. 66f. 255 Ebd., S. 69. 256 Fainstein, [2006] 2007, S. 78, aus dem Span. von MLS. 182

Teil II – Nation und die Subjekte/Körper der Rebellion

Die Anwendung der Folter wurde nach Pilar Calveiro zum Initiations- und Aufnahmeritual der argentinischen Lager, das zwischen einer Zeit davor und danach unterschied: Das Ritual schuf eine Zäsur zum Leben außerhalb des Lagers und zur eigenen Biographie. Dem Eintritt in die parallele Realität des Lagers entsprach ein absolutes Ausgeliefertsein, dessen Singularität in der Grenzenlosigkeit der Anwendung der Folter bestand, so die Beschreibung von Graciela Geuna: Ich war meilenweit von der Aktivistin entfernt, die ich am Tag zuvor gewesen war. Mein Mann war jetzt tot und ich fühlte, dass ich keine Widerstandskräfte hatte. […] Wenn sie dich nicht innerhalb von Stunden brachen, dann hatten sie Tage, Wochen, Monate. »Wir haben es nicht eilig«, warnten sie uns. »Hier existiert die Zeit nicht.«257

Für die Produktion der Wahrheit verfügten die »Verhöroffiziere« über die unbegrenzte Zeit des totalen Ausnahmezustandes einer klandestinen Realität. In einem Schwebezustand zwischen Leben und Tod angehalten, pendelte die parallele Realität des Lagers zwischen Folter und Sterben. Dabei löschte die Tortur das aus, was Hannah Arendt das moralische Individuum nennt, denn in erster Linie der »Informationsbeschaffung«, d.h. dem Verrat, gewidmet, hob die Folter das Selbst aus allen seinen Angelpunkten heraus. Gebrochen zu werden hieß für den Einzelnen, Freunde, Ideale und letztlich sich selbst zu verraten: Wenn der Entführte dort auf andere Gefangene traf, denen er seine Verhaftung zu verdanken hatte, die Informationen über ihn darboten oder, schlimmer noch, die ihn dazu drängten, sich ohne Widerstand zu ergeben, oder die ihm zeigten oder gar vorgaukelten, dass er selber kollaboriert hatte, dann wuchs das Gefühl der Niederlage und drängte den Gefangenen in eine Situation, in der er der Folter völlig schutzlos ausgeliefert war.258

Diese Reflexionen verweisen des Weiteren auf Michel Foucaults Feststellung, dass die Marter Teil eines Rituals ist, ein Element einer zweiteiligen Strafliturgie, bestehend aus der Brandmarkung des Opfers und der Fixation der Qualen und Schmerzen im Gedächtnis der Menschen:

257 Zit. in Calveiro, [1998] 2008, S. 63, aus dem Span. von MLS. 258 Ebd., S. 99, aus dem Span. von MLS. 183

Erinnerung und Intersektionalität Sie ist eine differenzierte Produktion von Schmerzen, ein um die Brandmarkung der Opfer und die Kundgebung der strafenden Macht herum organisiertes Ritual – und keineswegs das Außersichgeraten einer Justiz, die ihre Prinzipien vergessen und jedes Maß verloren hätte. Im »Übermaß« der Martern ist eine ganze Ökonomie der Macht investiert.259

Das »Übermaß der Martern« ist in den Formulierungen »se nos fue« [er/sie ist uns hopsgegangen] oder »se le fue la mano« [ihm ist die Hand ausgerutscht] der argentinischen Folterknechte festgehalten, die den Exitus bedeuteten. Dieser als handwerkliches Ungeschick geltende Fehler, mit dem sich die Knechte das Subjekt ihrer Aufgabe zunichtemachten, korrelierte außerhalb des Lagers mit den »excesos«, dem »Übermaß«, dem Euphemismus der Streitkräfte für die eigenen Verbrechen, der das Verschwindenlassen zum kollateralen Schaden eines Krieges erklärte und den Verantwortlichen über lange Jahre die Straflosigkeit sichern sollte. »Übermaß« impliziert darüber hinaus die Vorstellung, Folter ließe sich auf ein vernünftiges Maß begrenzen. Für Slavoj Žižeks ist das »die verwerflichste legalistische Illusion«260 in der Debatte über die Legalisierung einer moderaten Form der »Rettungsfolter« bzw. der »selbstverschuldeten Rettungsbefragung«261. Im argentinischen Folterdiskurs bringt die Denkfigur des vernünftigen Foltermaßes die Vorstellung mit sich, die Streitkräfte hätten im Kern »das Richtige« getan, sie hätten für eine übergeordnete Aufgabe ihr Opfer mit der Pflichterfüllung dargebracht. So lautet jedenfalls das Kernargument der Verteidigung bei den Gerichtsverhandlungen gegen die Beschuldigten der Staatsrepression. Wem war aber die Brandmarkung des Opfers im geheimen argentinischen Lager vorbehalten? Anders als in Europa bis zum 18. Jahrhundert, in der der öffentlichen Bestrafung von möglichst vielen – vom Mob – beigewohnt werden sollte, damit die Herrschaft des Terrors auf eine breite Basis gestellt werden konnte, war die Brandmarkung in der geheimen Realität der Lager zwei stillen Adressaten gewidmet: jenen, die über die geheime Realität der systematischen Folterungen extra muros erfuhren, und denjenigen, die die Folterungen anderer über das Gehör nachvollziehen konnten:

259 Foucault, [1975] 2008, S. 47. 260 Zit. in Ellrich, 2010, S. 55. 261 Nach Rainer Trapps Begriff, entstanden nach der Entführung des elfjährigen Jakob von Metzler am 27.09.2002 (vgl. Trapp 2006). 184

Teil II – Nation und die Subjekte/Körper der Rebellion Eine der grausamsten und effektivsten Formen der Erniedrigung bestand darin, die Personen zu zwingen, der Folterung anderer beizuwohnen, ohne irgendeine Reaktion zu zeigen: Das war der Abgrund der Hilflosigkeit.262

In den testimonios findet sich wiederholt die Aussage, dass die Schreie anderer Gefolterter schwer zu ertragen waren. In der angeordneten Stille war dies ein zusätzliches psychologisches Druckmittel, denn dass das Leiden von Mitmenschen sich stärker auf die »Kooperationsbereitschaft« auswirken kann als der eigene Schmerz, ist eine Tatsache, wie die Literatur schon lange vor den argentinischen Erfahrungen dokumentiert.263 Über die gesamtgesellschaftliche Wirkung der Folter, als konstitutiver Bestandteil des Verfahrens des Verschwindenlassens, gibt es zahlreiche Thesen. Auch wenn das Wissen darüber vor allem in politisch aktiven Kreisen und betroffenen Familien verbreitet war, reproduzierte die enorme Anomalität, die die Verschleppung und danach das Fehlen der jungen Menschen für die Allgemeinheit bedeutete, den Terror und löste, neben wenigen Solidarisierungen, eine Art »Ansteckungshemmung« bei Angehörigen und Bekannten aus. Die wenigen Überlebenden wurden nicht alle auf einmal freigelassen, wie es für politische Gefangene nach einer Amnestie üblich wäre. Vielmehr tropften sie nach systematischer Folterung und unterschiedlich langem Lageraufenthalt willkürlich aus der Gefangenschaft heraus, worüber einige − vornehmlich im Exil − vor Menschenrechtsorganisationen Zeugnis ablegten. Neben den eigenen Schuldgefühlen, überlebt zu haben, wurden Überlebende mit großem Misstrauen konfrontiert, da sie überlebt hatten: Wenn einer, der aus einem Konzentrationslager flieht, schon verdächtig ist, ist es der Überlebende tausendmal mehr. Sein Widerstand, das Geschick, mit dem er seine Häscher austrickste oder täuschte, die Akte aus Solidarität, das alles zählt nicht. Die Gesellschaft will verstehen, warum er überlebt hat, und er kann es nicht erklären, so dass er quasi automatisch zum Ausschluss verurteilt und sein Weiterleben zum sichtbaren Beweis seiner Schuld wird, worin diese auch immer besteht.264

262 Calveiro, [1998] 2008, S. 102, aus dem Span. von MLS. 263 Vgl. als Beispiel den von Thomas Weitin analysierten Fall Nickel List aus dem Jahr 1699 (Weitin, 2010a, S. 111-144). 264 Calveiro, [1998] 2008, S. 160. 185

Erinnerung und Intersektionalität

Daher wird die Annahme, dass die Freilassungen dazu dienten, den Terror durch die Erzählungen der Überlebenden zu verstärken, von vielen geteilt. Denkbar, dass diese Erzählungen auch dem Spektakel der Folter dienten, d.h. dem Festhalten der Qualen und Schmerzen im Gedächtnis der Menschen. Man kann als Aporie der Narration der Folter die simultane und widersprüchliche Manifestation nennen, die sich daraus ergibt, dass die Folter – als extreme Erfahrung des Körpers und der Psyche – sich der Narrativität entzieht, während sie gleichzeitig wahres Zuhören, ein durch die Überwindung der Abwehr gegen Leiden gekennzeichnetes Zuhören, erfordert. Und dennoch fixiert sich just in dem Augenblick, in dem die Schwellen des »Unbezeugbaren«265 und der Abwehr anfangen, überwunden zu werden, eine Vorstellung der Qualen und Schmerzen der Mitmenschen im Gedächtnis des Zuhörers. Einen zentralen Aspekt der Art und Weise, wie die Tortur über das Lager hinaus auf die Gesellschaft wirkte, sollten die testimonios, als klare Intervention gegen die Straflosigkeit und das Vergessen, zum Ausdruck bringen. Nicht selten in der Postdiktatur haben belastende Zeugenaussagen alte Praktiken neu zu Tage gefördert. Die Aussagen von Überlebenden, die bei nicht-konformem Verhalten ex custodia bedroht und geschlagen wurden, sind zahlreich. Der Extremfall traf am 18.09.2006 den Maurer Jorge Julio López, der nach seiner Verschleppung und Folterung zwischen Oktober 1976 und Juni 1979 durch den Leiter des Nachrichtendienstes der Polizei, Miguel Etchecolatz (die rechte Hand des Polizeichefs der Provinz von Buenos Aires, dem als Neonazi berüchtigten Ramón Camps), am Tag der Verkündung einer lebenslangen Haftstrafe für den Menschenrechtsverbrecher erneut verschleppt wurde und bis heute verschwunden ist. Der testimonio von Jorge Julio López war es, was Etchecolatz definitiv belastet hatte. Vernichtung durch Folter, die Standardpraxis der argentinischen Lager, intendierte die Reduktion des Menschen auf sein körperliches Dasein. In der Zerstörung der menschlichen Würde inbegriffen war daher die Verfleischlichung des Menschen Voraussetzung. Eine Erfahrung der Folter, über die Jean Améry mit messerscharfen Worten referiert: Der Gefolterte hört nicht wieder auf, sich zu wundern, daß alles, was man je nach Neigung seine Seele oder seinen Geist oder sein Bewußtsein oder seine Identität nennen mag, zunichte wird, wenn es in den Schultergelenken kracht und splittert. […] Daß man aber den lebenden Menschen so sehr ver-

265 Agamben, 2003, S. 34. 186

Teil II – Nation und die Subjekte/Körper der Rebellion fleischlichen und damit im Leben schon halb und halb zum Raub des Todes machen kann, dies hat er durch die Tortur erfahren.266

Die Folter umfasste Handlungen, die Scham erzeugten und sich der Vertierung, der Verdinglichung und der Verfleischlichung des Individuums bedienten. In allen Lagern wurden Menschen zur Nacktheit gezwungen, um sie zu demütigen. Beschämende und groteske Behandlungen, beispielsweise Menschen wie Hunde an einer Leine zu führen267, hatten vielfach die Absicht, Menschen regelrecht zu vertieren. Jüdischen Häftlingen war allerdings die grauenvollste Praxis der Erniedrigung und sicherlich eine der schmerzvollsten der Folterung vorbehalten: die Einführung von Ratten in anale bzw. vaginale Körperöffnungen mit Hilfe eines »rectoscopio« [Rektoskops], damit diese sich in die Eingeweide reinfraßen.268 Die antisemitische Rassentheorie setzte Juden mit Ratten gleich; dass die Nager in den Lagern der argentinischen Juntas als »Foltergehilfen« eingesetzt wurden, ist ein makabrer Höhepunkt der Perversität. Auch der Einsatz von Hunden bei Folterungen ist aus zahlreichen Zeugenaussagen bekannt. Verhundene Rituale in Guantanamo und später in Abu-Ghraib mögen auf die Politik der Beschämung von Arabern speziell ausgerichtet gewesen sein269, die einprägsamen Fotos aus dem Jahr 2008 haften allerdings wie Abziehbilder auf ähnlichen Berichten aus Argentinien zwischen 1976 und 1981. Die arbiträre Steuerung grundsätzlicher Bedürfnisse (Schmerz, Hunger, Schlaf, Ausscheidungen, Körperhygiene), die den Menschen im Lageralltag bis auf sein Dasein als Kreatur erniedrigte, während ihm dadurch das Menschsein als Kulturwesen bis ins Detail abgesprochen wurde, dürfte allerdings die beschämendste aller Praktiken des Lagers gewesen sein.270 Die Folter in ihrer Unausweichlichkeit, Unbegrenztheit und Willkür bewirkte in den argentinischen Lagern das Aufgeben des Widerstands. Diese Momente gewährleisteten den Nachschub an Verdächtigen und damit die Fortsetzung der entfesselten Maschinerie des Terrors. Das absolute Ausgeliefertsein reduzierte Menschen auf ihren Schatten, auf Erscheinungen, wie folgende Berichte von Lagerüberlebenden – die Zeit überspringend – veranschaulichen:

266 A méry, [1966] 2008, S. 73. 267 Calveiro, [1998] 2008, S. 100-102. 268 CONADEP, 1984, S. 74. 269 Mladek, 2010, S. 251. 270 Calveiro, [1998] 2008, S. 101; Mladek, 2010, S. 251. 187

Erinnerung und Intersektionalität Sie, die Muselmänner, die Verlorenen, sind der Nerv des Lagers: sie, die anonyme, die stets erneuerte und immer identische Masse schweigend marschierender und sich abschuftender Nichtmenschen, in denen der göttliche Funke erloschen ist, und die schon zu ausgehöhlt sind, um wirklich zu leiden. Man zögert, sie als Lebende zu bezeichnen; man zögert, ihren Tod, vor dem sie nicht erschrecken, als Tod zu bezeichnen, weil sie zu müde sind, ihn zu fassen.271 Die Gefangenen, die glaubten, sie hätten die Seiten gewechselt und wären nun ein Teil der Militärmacht, wurden verwüstet. Die, die zu Henkern ihrer eigenen Kameraden wurden, ebenso. Der totale »Bruch« des Menschen, der jedwede Reaktion verhindert, der ihn bewegungslos macht, ist eine weitere der Formen dessen, was ich Verwüstung der Persönlichkeit nenne. Wenn der Mensch verwüstet ist, gehört der Sieg dem Lager: Der Widerstandswille erlischt; das Subjekt ist terrorisiert, es gibt auf und möchte nur noch, dass alles ein Ende hat.272

Auch wenn die juristische Aufarbeitung vieler Fälle nur durch die Aussagen von Überlebenden möglich wurde, hüllten sich einige von ihnen für immer in Schweigen. Das Wort »Traumatisierung« für den Zustand der Apathie und Hoffnungslosigkeit, in den die Gemarterten nach der Folter fielen und der psychologisch gesehen mit einer ganzen Reihe von Symptomen einhergeht, benutzen Überlebende wie Pilar Calveiro nie. Sie spricht von Benommenheit und Lähmung. Ein Zustand, der auf die gesamte Gesellschaft extrapoliert wird: Die Lähmung, die selbst Ergebnis des Tötungsdispositivs des Lagers ist, sucht sowohl die Gesellschaft angesichts des erzwungenen Verschwindens wie auch die Lagerinsassen heim. Die langen Schlangen von Juden, die ohne Widerstand die »Duschräume« von Auschwitz betraten, die angereihten Insassen der argentinischen Lager, die auf die »Verlegung« warteten und fügsam die Spritze und damit den Tod akzeptierten, können nur durch die innere Verwüstung, die der Terror in ihnen verursachte, erklärt werden.273

Jean Améry lehrt uns, dass die Unterbrechung, die die Folter in der Realität des Betroffenen darstellt, sich für die Überlebenden nicht mit dem Ende der An271 Levi, [1958] 2007, S. 108. 272 Calveiro, [1998] 2008, S. 105, aus dem Span. von MLS. 273 Ebd., S. 53. 188

Teil II – Nation und die Subjekte/Körper der Rebellion

wendung erschöpft. Die Spur der Folter wirkt als ein Mal, das immer wieder auf sie verweist und sie in der Gegenwart aktualisiert. Wie die Worte bezeugen, die Améry 1966 für den Zustand der immerwährenden Qualen nach der Peinigung gefunden hat und die in vielen Zeugenaussagen über die argentinischen Lager genau so nachgelesen werden können, wird das Erlebte für das Opfer der Folter immer wieder aufs Neue gegenwärtig: Es war für einmal vorbei. Es ist noch immer nicht vorbei. Ich baumele noch immer, zweiundzwanzig Jahre danach, an ausgerenkten Armen über dem Boden, keuche und bezichtige mich. Da gibt es kein »Verdrängen«. Verdrängt man denn ein Feuermal?274

Eine ähnliche Wahrnehmung dieser Erfahrung in den argentinischen Folterlagern kommt in den folgenden Aussagen zum Ausdruck: Wenn man mich bei meiner Entlassung aus der Gefangenschaft gefragt hätte: ›Haben sie dich stark gefoltert?‹, hätte ich geantwortet: ›Ja, die ganzen drei Monate hindurch, unaufhörlich.‹ Wenn mir heute jemand diese Frage stellt, kann ich ihm sagen, dass die Folter seit bald sieben Jahren andauert.275 Der Zeittunnel, in den man sich begeben muss. Während einiger Jahre der Diktatur hatte ich die Augenbinde unten in meiner Tasche immer dabei. Ich versuchte zu vergessen, mich zu reparieren, damit ich mich wiederaufbauen konnte. Das war sehr schwer, weil man selbst heute noch den Klang der Fußfesseln im Kopf hat, die Stimmen in der »Kapuze« [dem Gefangenenraum der ESMA]. Was mir passierte, ist, dass ich nicht erzählen konnte, was mir passiert war. Nicht so sehr wegen meiner eigenen Angst, sondern wegen der Angst, die es dem Zuhörer bereitete. Ich habe eine ganze Weile gebraucht, um zu begreifen, dass ich eine Überlebende war. Dass wir alle Überlebende einer völkermordenden Diktatur waren, die den Terror gesät hatte.276 274 A méry, [1966] 2008, S. 68. 275 Zeugenaussage von Miguel D’Agostino in: CONADEP, 1987, S. 21. 276 Aussage der Zeugin Adriana Bello in der Megacausa ESMA, in: CELS, 2010a, aus dem Span. von MLS. Adriana Bello wurde als 20-Jährige zusammen mit dem 22-jährigen Lázaro Gladstein in die ESMA verschleppt. Sie berichtete über ihre Verschleppung, die Folterungen, die sie erleiden musste, und die Folterung anderer, die von ihr übers Gehör vernommen wurden. Bello war in der ESMA für den »pañol«, also den Lagerraum für die den Verschleppten geraubten Gegenstände, 189

Erinnerung und Intersektionalität

Betroffene erklären ihre Erfahrung als Zäsur, die ihr Leben in ein Davor und ein Danach trennt und durch die sie in eine gewisse Distanz zur Allgemeinheit versetzt werden, da diese ihre extremen Misshandlungen zugelassen hat. Noch einmal Jean Amérys radikal offene Worte dazu: Wer der Folter erlag, kann nicht mehr heimisch werden in der Welt. Die Schmach der Vernichtung läßt sich nicht austilgen. Das zum Teil mit dem ersten Schlag, in vollem Umfang aber schließlich in der Tortur eingestürzte Weltvertrauen wird nicht wiedergewonnen. Daß der Mitmensch als Gegenmensch erfahren wurde, bleibt als gestauter Schrecken im Gefolterten liegen: Darüber blickt keiner hinaus in eine Welt, in der das Prinzip Hoffnung herrscht […].277

Zu der bekannten Tatsache, dass die unter Folter gewonnene Information nicht zuverlässig ist, kommt die in vielen Berichten hervortretende Aussage hinzu, dass die Folter selbst das Unterbrechen des Denkens verursacht. Die psychische Aktivität des Menschen wird durch Folter bis zu einem Zustand der Leere zurückgedrängt. Daran knüpft Pilar Calveiro an, wenn sie beschreibt, dass auch wenn der Mensch im Lager, am Ort des gesellschaftlichen Vergessens, sich erinnern sollte, er unter der Folter sich vielfach nicht präzise erinnert konnte. Namen, Gesichter, Zahlen oder Adressen verloren sich in ein Nirgendwo, das die Lagerdynamik sabotierte. Diese psychische Spaltung wird von Pilar Calveiro als einer der Fluchtwege aus dem Lager gedeutet, als eine Form des Widerstandes gegen die absolute Vereinnahmung des Menschen in der Folter. Die Folterknechte haben den Subjekten die Grenzen ihres Willens vorführen wollen, im Angesicht der Unfähigkeit des Körpers, Schmerz auszuschalten, und der Psyche, Beschämung grenzenlos zu ertragen, ist ihnen jedoch ihre Aufgabe offensichtlich nie vollständig gelungen: Dennoch ist die Unterwerfung niemals vollständig; das Lager versuchte, die Persönlichkeit und jede Form von Widerstand durch die systematische, unbegrenzte, grenzenlose Folter, die Schmerzen, Terror, Lähmung verursachte, auszulöschen, schaffte das aber nicht unbedingt. Keine Technik ist

zuständig, bevor sie in das »Aquarium« versetzt wurde. Erstaunlich erscheint die Tatsache, dass sie, damals immer noch als Desaparecida, sogar eine Zeit lang tagsüber im Wohlfahrtsministerium arbeitete. 277 A méry, [1966] 2008, S. 73. 190

Teil II – Nation und die Subjekte/Körper der Rebellion unfehlbar, und die Folter war es auch nicht. Allen Bemühungen zum Trotz hatten es die Befrager mit Menschen zu tun, nicht mit Modelliermasse.278

Auf den Spalt der Biomacht, auf diesen feinen Lichtblick der Würde und des Widerstands inmitten der Tragödie, konzentriert sich heute zunehmend die Bezugnahme der Argentinier auf die Zeit der Repression. Auch wenn die Folter für den Einzelnen nie vollkommen zu heilende Wunden zu hinterlassen vermochte, für die Gesellschaft, die sich jener bediente, drängt sich die Aufgabe der Würdigung der Opfer auf, um den Überlebenden die Möglichkeit zu geben, den tieferlittenen Vertrauensbruch zumindest ansatzweise zu relativieren. Die gesellschaftliche Anerkennung der Opfer der argentinischen Repression war jedoch in den letzten 30 Jahren eine auf der politischen Tagesordnung eng fixierte und deshalb hart umkämpfte Aufgabe. d. Geschlechtsspezifische Folter – Die Pein der Frauen Vor dem Hintergrund der Gültigkeit der Straflosigkeitsgesetze, der offenen Fragen über den Verbleib der Desaparecidxs und ihrer Kinder sowie der fehlenden gesellschaftlichen Anerkennung der Überlebenden der Folterlager haben seit September 1998 die »Juicios por la Verdad« [Verfahren für die Wahrheit] erst in La Plata und später in weiteren Städten Argentiniens einen wichtigen Raum eröffnet, in dem persönliche Interventionen und Erzählungen das erlittene Unrecht öffentlich gemacht haben. Menschenrechtsinitiativen, u. v.a. Memoria Abierta, haben weitere Räume erobert und testimonios in einem Archiv für oral history ablegt, mit der Absicht, den Opfern Gehör zu verschaffen und diese Zeugnisse der jüngeren argentinischen Geschichte für spätere Generationen aufzubewahren. Diesem Archiv und seinen Betreuer_innen ist es zu verdanken, dass die testimonios sechzig weiblicher Personen nach Formen geschlechtsspezifischer Gewalt untersucht und diese herausgearbeitet wurden. Sie stellten dabei fest, dass die Frauen unmittelbar Bezug auf spezifische Formen der Gewalt gegen sie und ihre Gefährtinnen nahmen, insbesondere bei der Belästigung, betatscht und begrabscht zu werden, sowie bei der Erfahrung, obszönen Rufen und erzwungener Nacktheit ausgesetzt zu sein. Im Mittelpunkt ihrer Narrationen und Sorgen standen immer wieder Schwangere, Wöchnerinnen, die eigene Mutterschaft und der Verbleib der eigenen Kinder sowie der der anderen Opfer. Insbesondere die Folgen der Folterungen für ungeborene Kinder bildeten eine Quelle enormen Kummers.279 In ihrer Dokumentationsarbeit ordneten die Archivar_innen des 278 Calveiro, [1998] 2008, S. 73, aus dem Span. von MLS. 279 Bacci u.a., 2012, S. 33. 191

Erinnerung und Intersektionalität

kommunikativen Gedächtnisses die testimonios nach den verschiedenen Formen geschlechtsspezifischer Gewalt und ermöglichten dadurch einen differenzierten Blick auf Handlungen, die z.T. nach langer Zeit erstmals in dieser Form explizit gemacht wurden und die heute als misogyne Verfolgung wahrgenommen werden können. In ihren Erzählungen wiesen die Zeuginnen rekurrierend auf den gewaltsamen Umgang mit ihnen hin, der sich bereits auf sprachlicher Ebene manifestierte und schwere psychische Schäden zur Folge hatte. Desaparecidas wurden in ihrer Körperlichkeit erniedrigt, auch wenn sie nicht angefasst wurden. Beschimpfungen, anstößige Witze, gemeine Spottnamen, obszöne Rufe und schlüpfrige Kommentare waren übliche Aggressionen verbaler Natur, die den Körper verdinglichten und zum Objekt erniedrigten. Das Gleiche galt für die Androhung von Vergewaltigungen und sexueller Nötigung oder für Drohungen im Zusammenhang mit dem Schicksal der geborenen und ungeborenen Kinder, die ebenfalls eine extreme, wenn auch »nur« verbale Gewalt darstellten. Denn die Gefahr war real und es blieb bekanntlich nicht immer bei den Drohungen. Als körperlicher Missbrauch standen Handlungen wie erzwungene Nacktheit, schikanöse Leibesvisitationen und Begrabschungen auf der Tagesordnung. Bei den systematischen Vergewaltigungen kam es immer wieder zu unerwünschten Schwangerschaften. Auch vor Schwangeren wurde kein Halt gemacht; ihre Vergewaltigung und Folterung stellt einen schwerwiegenden kulturellen Tabubruch dar, der in seiner letzten schrecklichen Konsequenz die Folterung von Ungeborenen bedeutete. Neben der damit verbundenen unvorstellbaren Angst der Desaparecidas, das ungeborene Kind zu verlieren – was infolge der Folterung oft geschah –, erlitten schwangere Frauen andere extreme Formen der Folter, wie die Einleitung von Geburtsvorgängen ohne medizinische Notwendigkeit und den Raub ihrer neugeborenen Babys. Mütter wurden auch von ihren (Klein-) Kindern getrennt, vielfach ohne Auskunft über deren Verbleib. Fälle von sexueller Sklaverei und gezielter Folter an den Geschlechtsorganen gehören ebenfalls zum Register misogynen Terrors und der Unterwerfung, dem Frauen in den Folterlagern ausgesetzt waren.280 In Teil III werden mögliche Deutungen für diese Praktiken besprochen und insbesondere wird eine Interpretation geschlechtsspezifischer Folterungen vor dem Hintergrund genozidaler Praktiken vorgenommen; Teil IV widmet sich den Narrationen zweier Überlebender der argentinischen Folterlager und zwei fiktionalen Texten von Autorinnen, die Desaparecidas als Protagonistinnen haben. Möge der Leser/die Leserin sich den testimonios und den fiktionalen Texten zuwenden, um Schilderungen über die

280 Ebd., S. 32. 192

Teil II – Nation und die Subjekte/Körper der Rebellion

Pein der Frauen während der argentinischen Staatsrepression Gehör zu verleihen.

2.3 Verkörperter Widerstand: Die Intervention der Mütter und Großmütter der Plaza de Mayo Die Inthronisierung der Familie und der Mutterschaft im offiziellen Diskurs der Streitkräfte erscheint heute von einem unfassbaren Zynismus durchfärbt. Der große Widerspruch zwischen diskursiver Herstellung von Realität und der Tatsache der desapariciones forzadas führte zu einem Riss im hegemonialen Diskurs, den die Mütter281 und Großmütter282 der Plaza de Mayo offenlegten. Sie baten Streitkräfte, Gerichte und Polizei darum, im Namen der Institution der Mutterschaft und der Großmutterschaft den Verbleib ihrer Kinder und Enkelkinder erfahren zu dürfen. Neben den Aufrufen des ersten Zusammenschlusses der Familiares de Desaparecidos y Detenidos por Razones Políticas (der Angehörigen von aus poli281 Die Asociación de Madres de Plaza de Mayo um Hebe de Bonafini und die Madres de Plaza de Mayo Línea Fundadora beschreiben ihre umfangreichen Aktivitäten und ihre bewegte Geschichte in ihren Internetportalen: ›www.madresfundadoras. org.ar/‹ und ›www.madres.org/navegar/nav.php‹. Ausführliche Kollektivbiographien der Madres de Plaza de Mayo sind erschienen, beispielsweise: Agosin, Marjorie, The Mothers of Plaza de Mayo, New York 1990; Bousquet, Jean Pierre, Las locas de Plaza de Mayo, aus dem Franz. von Jacques Despres, Buenos Aires 1984; Colectivo Cultural Entreletras, Memoria, Verdad y Justicia. A los 30 años x los treinta mil, Buenos Aires 2006; Gorini 2006; Ders., La otra lucha. Historia de las Madres de Plaza de Mayo. Tomo II. 1983-1986. Buenos Aires 2008; Sarti, Aída /Sánchez, Cristina (Hg.), ¡Presentes! ¡Ahora y Siempre!, Buenos Aires 2007. Als eine der schreibenden Mütter hat Matilde Mellibovsky mit Círculo de amor sobre la muerte ein Werk mit den Testimonien vieler Mütter verfasst. Auch die Mutter Laura Bonaparte legte mit El mundo guarda silencio. La tragedia de Cañuelas (Buenos Aires 1993) Zeugnis ab, und die Mutter Carmen Lorefice (Madre de Plaza de Mayo Línea Fundadora) veröffentlichte ihr Werk Poemas para vos im Jahr 2007 in Buenos Aires. Einzelbiographien wurden über Hebe de Bonafini, Graciela Fernandez Mejide, Laura Bonaparte und María Isabel Chorobik de Mariani geschrieben. 282 Die Abuelas de Plaza de Mayo unterhalten eine Internetplattform mit umfassenden Informationen über ihre Arbeit: ›www.abuelas.org.ar/‹. 193

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tischen Gründen Verschwundenen und Festgenommenen) ab 1976, die sich u.a. für bessere Haftbedingungen einsetzten, fanden sich die Mütter der Desaparecidxs ab April 1977 zu gemeinsamen Aktionen zusammen. Sie forderten direkt von den Verantwortlichen, ihnen in ihrer vom offiziellen Diskurs so hochgepriesenen Rolle als Mütter Auskunft über ihre Kinder zu geben. D.h. sie bezogen sich auf die gleichen diskursiven Bilder, mit denen die Streitkräfte die Staatsrepression legitimierten, um ihrem Anliegen Nachdruck zu verleihen. Ihre so unpolitisch vorgetragene Bitte war jedoch politisch hochbrisant, denn als sie die klandestine Vorgehensweise der Regierung öffentlich machten, gaben sie dem Widerstand ihre Gestalt. Hebe de Bonafini, Vorsitzende der Asociación de Madres de Plaza de Mayo, gibt Auskunft über den Ausgangspunkt ihrer Bewegung: Das Verschwinden ist ein Ereignis, das man nicht erklären kann […], das man nicht erzählen kann, das man sehr schwer mit jemandem teilen kann. Weil das Verschwinden eine Leere ist, ein Loch, eine Qual, ein Wirbelsturm, der zerstört, der alles mitnimmt, alles mitreißt und den man zu halten, zu erhalten und durchzuhalten versuchen muss. Es ist nicht leicht, wenn das Kind nicht mehr da ist, weder zu Hause noch auf der Arbeit, nicht am Tisch, nicht im Bett. […] Dieses Wort, Verschwinden oder Verschwundener, diese Erfindung – zuerst sagten wir Entführte, dann Verschwundene und später Verschleppte-Verschwundene –; wir mussten uns ein Bild davon machen, was ›verschwunden‹ bedeutete. […] Mit dieser naiven Frage, mit dieser politischen Naivität, voller Unschuld oder Unwissenheit machten wir Mütter uns auf die Suche nach den Kindern. Ich glaube, dass keine von uns darüber nachgedacht hat, wo oder wie oder was überhaupt wir tun würden. Jede kam an diesem Tag, wie sie es einrichten konnte. Manche kamen nicht aus dem Sessel hoch und andere waren wie von einem Motor angetrieben, der uns nicht anhalten ließ. Kaum eine wusste, was ein Habeas Corpus283 war, kaum eine brachte einen Anwalt dazu, etwas für uns zu tun, kaum eine ahnte, dass wir sie nicht wiedersehen würden, kaum eine von uns dachte, dass die Folter so grausam war. Das alles mussten wir ohne Wissen lernen.284

Erstes Ziel der Mütter war es, ihre Bemühungen zu bündeln, denn bis zu dem Zeitpunkt hatte jede Mutter alleine für sich versucht, den Aufenthaltsort des 283 Als Habeas Corpus wird die gerichtliche Anzeige bezeichnet, die die Überprüfung eines richterlichen Beschlusses für die Haft anordnet sowie das Haftprüfungsverfahren selbst einleitet. 284 Zit. in Gorini, 2006, S. 82f., aus dem Span. von MLS. 194

Teil II – Nation und die Subjekte/Körper der Rebellion

Sohnes oder der Tochter zu ermitteln, und war auf den Rat und die Unterstützung von Dritten angewiesen, die für sie in Vertretung agierten, wie es Menschenrechtsorganisationen wie die Liga de los Derechos del Hombre oder die Asamblea Permanente por los Derechos Humanos bereits taten. Der Kontakt zu diesen Organisationen sowie das Einleiten eines Habeas Corpus waren mit Unsicherheiten verbunden, denn man befürchtete, damit die Lage der Verschleppten-Verschwundenen eventuell zu verschlechtern.285 Die Mütter empfanden allerdings auch das Bedürfnis, selbst aktiv zu werden, und wählten damit eine Strategie der Traumabewältigung, die ihre Position der Ohnmacht zunehmend und nachhaltig in eine Vorbildrolle transformierte. Die Mütter lernten sich teilweise bei ihren individuellen Suchen nach Information vor den geschlossenen Türen der Behörden, in Wartezimmern und auf Fluren kennen. Nach einem mehrmonatigen Streifzug durch Polizeidienststellen, Krankenhäuser und Leichenschauhäuser drängte Azucena Villaflor die wartenden Mütter vor dem Empfang des Marinevikars Emilio Grasselli286 dazu, gemeinsam auf der Plaza de Mayo auf ihre Not aufmerksam zu machen. Zu einer ersten Kundgebung riefen die Mütter für einen Samstag Ende April 1977 auf und bald danach etablierte sich die Runde vor dem Regierungspalast an den Donnerstagen um 15:30 h, an einem Tag und zu einer Uhrzeit, da die Plaza de Mayo gut bevölkert war. Die Mütter der Plaza de Mayo, meistens in den 20er und 30er Jahren geboren, waren mehrheitlich Hausfrauen ohne politische Bildung bzw. bisheriges Engagement: Wir waren so verwirrt, gesteht María Adela [Gard de Antokoletz]. Was der Prozess war und inwiefern Videla verantwortlich war, das war uns ebenso wenig klar wie das starke wirtschaftlich-soziale Motiv, das zum Putsch führte und zu den furchtbaren Maßnahmen zur Stützung der Theorie der Nationalen Sicherheit. Keine der Mütter in der Bewegung war politisch aktiv oder beispielsweise Stadträtin; nichts. Wir waren Frauen aus unterschiedlichen Gesellschaftsschichten, die ihre Häuser verließen, um auf der Straße zu kämpfen. Und die Straße war unser Lehrer. Manche von uns hatten etwas mehr Informationen, weil die Kinder mit ihnen gesprochen haben. Andere wussten einfach nichts. Wenn sie argumentierten oder vor Leuten aus dem 285 Gorini, 2006, S. 74. 286 Emilio Grasselli führte ein Archiv mit 2.500 Namen von Desaparecidxs und den Daten der Angehörigen, die sich hilfesuchend an ihn wandten (›www.desaparecidos.org/nuncamas/web/juicios/laplata/1999/110599.htm‹, 28.06.2015; Ginzberg, 1999, o. S.). 195

Erinnerung und Intersektionalität Ausland aussagten, dann hieß es ›Mein Kind hat nichts mit Politik zu tun‹; und auch wenn sie irgendetwas ahnten, dann dachten sie, dass es die Lage der Kinder erschweren würde, wenn sie es zugaben.287

Ihr Zusammenschluss sprach sich unter den zahlreichen auskunftsuchenden Verwandten herum und so wuchs die Anzahl demonstrierender Frauen von Woche zu Woche. Um sich in der Menge wiederzuerkennen, trugen sie jene erste Windel ihrer Kinder um die Haare gebunden, die Mütter in Argentinien traditionell ein Leben lang aufbewahren; sie ließ sich leicht losbinden, so dass man bei Gefahr schnell in der Menge untertauchen und wieder unsichtbar werden konnte. Die Windel, später aus praktischen Gründen durch ein mit dem Namen der vermissten Tochter oder des vermissten Sohnes besticktes weißes Kopftuch ersetzt, wurde zum Emblem der Mütter. Aufgrund des Ausnahmezustandes, der beim Zusammenstehen von mehr als drei Personen deren Festnahme vorsah, waren sie gezwungen zu laufen – und sie liefen um die Plaza, hintereinander und zu zweit, um Neuigkeiten auszutauschen und als Gruppe besser wahrgenommen zu werden. Ihre Runden, wie traurige Ringelreihen, gingen um die Welt. Der erste Rückschlag erfolgte schon bald, als drei Gründungsmütter, die erste Vorsitzende, Azucena Villaflor288, die Mütter Esther Ballestrino de Careaga und María Eugenia Ponce de Bianco mit zwei französischen Menschenrechtsaktivistinnen, den Nonnen Alicia Domen und Léonie Duguet, sowie weitere sieben Verwandte und Unterstützer289 zwischen dem 8. und 10. Dezember 1977 verschleppt wurden und verschwanden.290 Trotz des Rückschlags setzten die Mütter unbeirrt ihre 287 Zit. in Gorini, 2006, S. 73, aus dem Span. von MLS. 288 Azucena Villaflors Überreste wurden erst im Jahr 2005 vom EAAF identifiziert, nachdem ein Massengrab in General Lavalle, Bezirk von Buenos Aires, untersucht worden war. Ihre Asche liegt seit dem 08.12.2005 symbolträchtig am Obelisk auf der Plaza de Mayo begraben. 289 Die Desaparecidxs aus der Kirche von Santa Cruz, in der sich die Mütter einst trafen, waren Raquel Bulit, Patricia Oviedo, Ángela Auad de Genovés, Gabriel Horacio Horane, Remo Berardo, Horacio Elbert und José Julio Fondevilla. In die Kirche eingeladen hatte eine Gruppe junger Menschen aus der maoistischen Vanguardia Comunista, die die Mütter unterstützen wollte. 290 Die Gruppe wurde durch den Fregattenleutnant Alfredo Astiz alias Gustavo Niño infiltriert, der auch der Verschleppung der Mütter vorstand. Er unterschrieb die erste Anzeige der Mütter, die in der Zeitung La Nación vom 10.12.1977 erschienen ist. Der Journalist Uki Goñi recherchierte für sein Buch Judas. La verdadera historia de Alfredo Astiz, el infiltrado im Detail die Umstände, wie Alfredo Astiz 196

Teil II – Nation und die Subjekte/Körper der Rebellion

Runden um die Plaza fort. Ausländische Korrespondenten, die im Juni 1978 zur Berichterstattung über die Fußballweltmeisterschaft in Argentinien angereist waren, informierten zunehmend über die Runden der Mütter auf der Plaza. Die erste Reise einer Delegation von Müttern zur OAS, nach Kanada, in die USA, nach Italien und in den Vatikan verschaffte ihnen im Oktober 1978 Solidarität und Schutz. Während der Runde des 20. Dezember 1978 vertrieb die Regierung Tausende Mütter mit Gewalt von der Plaza und zäunte wenig später den Platz hermetisch ein. Im Jahr 1979 konnten die Mütter dort ihren Protest nicht fortführen und beschlossen, ihren losen Verband als juristische Person zu formalisieren. Sie gründeten am 14.05.1979 den Verein »Asociación de Madres de Plaza de Mayo«, der erst drei Monate später, am 22.08.1979, eingetragen werden konnte. Den Platz auf der Plaza konnten sie allerdings erst 1980 zurückerobern. Kurz vor der Verschleppung der Gründungsmütter, im Oktober 1977, hatten sich die Abuelas, die Großmütter, der Plaza de Mayo zusammengefunden, um gezielt nach den Babys ihrer schwangeren Töchter und Schwiegertöchter und nach den älteren Kindern zu suchen. Einige der Gründungsmitglieder der Abuelas sind auch Mütter der Plaza de Mayo. Ein erstes Anliegen der Abuelas war, zusammen mit den Madres dem Staatssekretär des neugewählten US-Präsidenten Jimmy Carter, Cyrus Vance, der im November 1977 Buenos Aires besuchte, eine Liste mit den Namen der Enkelkinder und der von den Müttern zusammengetragenen namentlich bekannten Desaparecidxs zu übergeben. Von den Madres und Abuelas gab es so am 21.10.1977 zum ersten Mal ein Foto in der Presse. Ihre Gegenwart und ihre Interventionen prägten die demokratische Transition und die Postdiktatur; ihr Kampf, den die folgende Aussage zusammenfasst, ist heute noch ungebrochen: Wir arbeiten für unsere Enkelkinder – die heute Männer und Frauen sind –, für unsere Urenkelkinder – deren Recht auf Identität ebenfalls verletzt

sich in die Gruppe der Madres eingeschleust und insbesondere das Vertrauen von Azucena Villaflor, seinem prominentesten Opfer, gewonnen hat (vgl. Goñi 1996). Neben Villaflors Engagement wird das von Esther Ballestrino de Careaga herausgestellt, die sich nicht vom Widerstand zurückzog, obwohl sie ihre Tochter zurückerhalten hatte. Mütter und Nonnen wurden gefoltert und offensichtlich am 18.12.1977 in einem Todesflug über dem Rio de la Plata lebendig begraben (A buelas de Plaza de Mayo, [2007], S. 22). Die Überreste wurden an Land geschwemmt und vom EAAF im Jahr 2005 identifiziert. 197

Erinnerung und Intersektionalität ist – und für alle Kinder künftiger Generationen, um ihre Wurzeln und ihre Geschichte zu wahren, die Grundpfeiler einer jeden Identität.291

Neben der strafrechtlichen Verfolgung der Verantwortlichen war ein Schwerpunkt ihrer ebenfalls ununterbrochen andauernden und akribischen Rekonstruktionsarbeit die Erarbeitung von Grundlagen für die anhaltende Suche nach den geraubten Kindern. Dazu zählen der Gesetzentwurf für eine Nationale Gendatenbank (1989), die Etablierung eines »Großelternschaftsindexes«292 und der Anstoß für die Gründung der Nationalen Kommission für das Recht auf Identität (CONADI, 1992). Auch der Aufbau eines biographischen Archivs − mit einer für jedes vermisste »Kind« vorbereiteten Akte − mit Interviews, Fotos etc. von Angehörigen, die zur Rekonstruktion der Biographien der VerschlepptenVerschwundenen beitragen, führt die Absicht der Rekonstruktion fort, so wie die psychoanalytische Assistenz für jedes wiedergefundene »Kind« es tut, die bei der Wiederherstellung familiärer Bande unterstützend wirken soll. Die Abuelas de Plaza de Mayo widmeten sich der enorm wichtigen Aufgabe, zerstörte familiäre Netze neu zu knüpfen, wie sie selbst formulierten: »die unaufschiebbare kollektive Antwort zum Wiederaufbau des sozialen Gewebes, den sich die argentinische Gesellschaft als Gemeinschaft schuldig ist«.293 Bis Dezember 2014 gelang ihnen die Aufklärung von 116 der vermuteten etwa 500 Fälle von geraubten Kindern; die übrigen gelten heute noch als Desaparecidxs und leben mit einer vertauschten familiären Identität. Zusammen mit ihrer langjährigen Vorsitzenden Estela de Carlotto sind Rosa Roisinblit, Elsa Oesterheld und Buscarita Roa u. v.a. bekannte Großmütter. Bei der Entgegennahme einer ihrer letzten internationalen Anerkennungen, dem UNESCO-Preis der Friedensstiftung294, fasste Carlotto das Selbstverständnis der Gruppe zusammen und machte gleichzeitig auf die Leere, die Abwesenheit, die Enteignung und den erweiterten Kampf der Gruppe der Großmütter aufmerksam. In einer Geste der Bescheidenheit gab sie die Hommage an alle Abuelas weiter und rief den Zuhörern ins Bewusstsein, dass jede Frau ähnlich gehandelt hätte und ähnlich handeln würde, dass die Abuelas und Madres also keine außergewöhnlichen Frauen und keine Heldinnen sind:

291 A buelas de Plaza de Mayo, o.J., o. S., aus dem Span. von MLS. 292 Vgl. »índice de abuelidad« in: A buelas de Plaza de Mayo, [2007], S. 47. 293 Filc, 1997, S. 82. 294 Für weitere Informationen über die Vergabe des UNESCO-Preises an die Abuelas de Plaza de Mayo: ›www.onu.org.ar/View.aspx?100‹, 24.04.2013. 198

Teil II – Nation und die Subjekte/Körper der Rebellion Wir sitzen nicht im Sessel, der ist so leer wie die Arme. Auf einer permanenten Pilgerfahrt durch die Welt auf der Suche nach unseren Kindern und Enkeln wurde der gemeinsame Kampf der Mütter, Großmütter und Verwandten geboren, die ihre geliebten Angehörigen zurückforderten. […] Wir haben die Verpflichtung, den Kampf nicht aufzugeben. Und die Warnung, dass dieser Raubzug sich an keinem Ort der Welt wiederholen kann, weil es Frauen gibt wie uns, die sich erheben werden, um ihre Kinder zu verteidigen. Es wird friedlich gekämpft, damit so ein Raub nie wieder möglich ist. Wir sind keine Heldinnen und wir sind auch nicht anders, wir sind nur Frauen, Mütter, Großmütter.295

Die Relevanz, die die Arbeit der Mütter für die individuelle und gesellschaftliche Aufarbeitung der Krise des Todes ohne Leichnam (s. Teil I) hatte, kann nicht hoch genug geschätzt werden. Im August 1982 veröffentlichten Diana Kordon und Lucila Edelman eine Reflexion über die Arbeit der Madres, die deutlich macht, wie sehr die ausgesprochen individuelle Arbeit des psychoanalytischen Gesprächs von der Ungewissheit des sozialverursachten Todes herausgefordert wurde. Vor diesem von der Ambivalenz der Anwesenheit/Abwesenheit der geliebten Angehörigen geprägten Szenarium fassen sie ihre Beobachtungen aus der Perspektive erfahrener Psychoanalystinnen zusammen und beschreiben die Haltung und Vorgehensweise der Madres als Strategie der Selbstermächtigung: Aktive Position gegenüber dem Trauma, im Allgemeinen der Versuch, sich mit anderen zu verbinden, die die gleiche Situation durchlebt haben, und die Entwicklung von unterschiedlichen Graden der gesellschaftlichen Teilhabe. Das Miteinanderteilen ermöglichte die Entwicklung von Identifikationsmechanismen und von wechselseitiger Empathie, die mithalfen, das narzisstische Einschließen zu verhindern und schwesterliche Verbindungen aufzubauen. Wir haben oft gehört, dass Mütter von Verschwundenen diese Situation als die Entsprechung einer »Gruppenpsychotherapie« beschrieben. Möglichkeit zur Aufrechterhaltung einer positiven inneren Verbindung mit dem Verschwundenen, soweit es nicht erforderlich war, das Gebot des Schweigens oder Verbergens zu achten. Erweiterung der Ichkapazitäten, Sublimierungs- und Reparaturmechanismen zu entwickeln. Frauen, die bis zu diesem Moment Hausfrauen waren, übernehmen eine aktive Rolle in juristischen, gesellschaftlichen und politischen Bereichen, und diese Verände-

295 Ginzberg, 2011, o. S., aus dem Span. von MLS. 199

Erinnerung und Intersektionalität rung bestimmt die Umsetzung von Lernprozessen, die die mit der Symbolisierung verknüpften Fähigkeiten verstärken. Einbeziehung des Interesses für unmittelbare Objekte in eine Perspektive der Sorge um mittelbare Objekte. Üblicherweise hört man von vielen dieser Frauen Feststellungen wie »Anfangs ging es mir nur um mein Kind, dann ging es mir um die Kinder von uns allen« oder »Ich will, dass das, was ich tue, auch dazu beiträgt, dass so etwas nicht noch einmal passiert«.296

Für ihre Art und Weise der Schockbewältigung, die im Wesentlichen in der Fähigkeit bestand, die jeweils persönliche Tragödie durch gemeinsames Handeln zugunsten der übergeordneten Ebene des Gemeinwohls zu verarbeiten, findet sich in der Psychologie der Begriff der Resilienz.297 Die Intervention der Mütter und Großmütter gab der durch die Diktatur weitestgehend ent-solidarisierten Gesellschaft Argentiniens einen zentralen Impuls und es war nicht zuletzt ihr Wirken, das Jahrzehnte später die krisengebeutelten Argentinier zum Widerstand gegen menschenfeindliche Wirtschaftsmaßnahmen inspirierte. Aktuell gilt die argentinische Gesellschaft als resilient.298 Wie sehr die langjährige Arbeit der Mütter und Großmütter sich um die Anwendung des Begriffs auf Argentinien verdient gemacht hat, stellt ein noch nicht erforschtes Gebiet dar. Während der demokratischen Transition wurden die parteipolitischen Sympathien und die Meinungen innerhalb der Gruppe der Mütter so gravierend unterschiedlich, dass einige Mütter sich gezwungen sahen, die Asociación zu verlassen. Neben der Kritik an einem sehr stark an die Person Hebe de Bonafini gebundenen Kommunikationsstil und an einer Struktur, die nach ihrer Auffassung nicht mehr basisdemokratisch war, gab es Divergenzen bei zentralen Politiken zur Ausrichtung des weiteren Kampfes; deshalb verließen 1986 die Mütter der Línea Fundadora Renée Epelbaum, Adela de Antokoletz, Nora de Cortiñas, Taty Alemida, Laura Conte u.a. die Asociación. Beide Gruppen setzten dann mit unterschiedlichen Schwerpunkten ihre Arbeit unermüdlich fort. Die Madres von Hebe de Bonafini, die in der Asociación blieben, knüpften an den Leitspruch »Aparición con vida« [Erscheinen, und zwar lebend!] aus dem Jahr 1980 das Ziel, das Schicksal eines jeden Einzelnen zu erfahren. Dies brachte sie dazu, die von der Regierung Alfonsín angebotenen Pensionen für Verwandte der Verschleppten-Verschwundenen abzulehnen, denn implizit hätten sie damit 296 Kordon/Edelmann, 1982, S. 33, aus dem Span. von MLS. 297 Zuckerfeld/Zonis Zuckerfeld, 2011, insb. S. 115. 298 Vgl. die 5. Tagung des internationalen Katastrophennetzwerks KatNet (2009) unter: ›www.tagung.katastrophennetz.de/index.php‹, 31.07.2015. 200

Teil II – Nation und die Subjekte/Körper der Rebellion

deren Tod anerkannt. Auch den Ausgang der Rechtsprozesse gegen die Juntas akzeptierten sie nicht und kündigten die Zusammenarbeit mit der CONADEP und anderen Menschenrechtsorganisationen auf. Sie lehnten es ebenfalls ab, die in Sammelgräbern entsorgten Verschwundenen zur Exhumierung freizugeben, da sie befürchteten, dadurch die Chance, politischen Druck auszuüben und eine umfassende Auskunft über den Verbleib aller zu erhalten, zu verringern. Die Asociación de Madres de Plaza de Mayo hat im Laufe der letzten 35 Jahre zahlreiche Aktivitäten entfaltet. Ihre Stiftung verlegt eine Zeitschrift und Bücher, sie betreibt einen Verlag, eine Buchhandlung, eine Universität, das Kulturzentrum »Centro Cultural Nuestros Hijos« auf dem Gelände der ehemaligen ESMA, den Radiosender »La voz de las Madres« sowie das soziale Wohnungsbauprogramm »Sueños Compartidos«299; sie erhält für ihre Arbeit neben Spenden und Mitgliedsbeiträgen gegenwärtig staatliche Mittel und Subventionen. Im Jahr 1986 suchten die Mütter der Línea Fundadora, im Gegensatz zu den Müttern von Hebe de Bonafini, die Zusammenarbeit mit anderen Menschenrechtsorganisationen und gaben grünes Licht für die Exhumierung der Überreste. Sie erhofften sich davon neben persönlicher Gewissheit auch die Chance, die von den Streitkräften oft vorgeschobene Lüge des Todes der Vermissten bei bewaffneten Auseinandersetzungen zu entlarven. Vermutete Erschießungen aus kurzer Entfernung sollten dadurch belegt und öffentlich gemacht werden, um Stück für Stück den Verteidigungsdiskurs der Streitkräfte demontieren zu können. Sie stellten den Umgang eines jedweden Angehörigen mit dem Gesetz 23.466, das eine Entschädigung für Eltern, Ehegatten und Kinder von Verschleppten-Verschwundenen vorsah, nicht in Frage und wussten um die Not mancher Mutter und Großmutter aufgrund der erschwerten finanziellen Lage durch den Verlust. Die Mütter der Línea Fundadora interpretierten das Gesetz als staatliche Anerkennung des Verbrechens und betonten, dass daraus nicht unbedingt ein verwaltungstechnischer Schritt zur Anerkennung des Todes folgen sollte. Ein weiteres und für die Bildung des sozialen Gedächtnisses fundamentales Argument war die Haltung der Línea Fundadora, eine Vielfalt von Mani-

299 Im Mai 2011 warf der sog. Skandal Schoklender einen Schatten auf die langjährige Arbeit von Hebe de Bonafini. Dem Verwalter der Asociación, Sergio Schoklender, wurde vorgeworfen, sich an den Fonds des Bauprojekts »Sueños Compartidos« persönlich bereichert zu haben. Er bestritt die Vorwürfe und präsentierte der Öffentlichkeit eine angeblich erschütternde Schattenseite von Hebe de Bonafini, die sich wenige Tage davor von ihm distanziert hatte. 201

Erinnerung und Intersektionalität

festationen der Erinnerung300 zuzulassen; sie präzisierten in ihrer Gründungserklärung des Jahres 1986, wie sehr sie die Hommagen an die Desaparecidxs in Bildungseinrichtungen, Krankenhäusern und auf öffentlichen Plätzen als Zeichen der Solidarität und des Aufbegehrens gegen Ungerechtigkeit begrüßten. Im gleichen Atemzug formulierten sie den Wunsch nach Anerkennung der Ideale ihrer Kinder und sehnten eines herbei: »eine Gedenktafel mit den eingravierten Namen [der Verschwundenen] und dem vermutlichen Grund für die Verschleppung, in der Absicht, nicht zu vergessen und weiterhin für eine bessere Welt zu kämpfen«.301 Die Mütter der Línea Fundadora zeichnen sich durch ihre horizontale basisdemokratische Struktur und eine Vielfalt von Personen aus, die sie in den Medien repräsentieren. Sie sind heute weiterhin auf Spenden und Mitgliedsbeiträge angewiesen und arbeiten mit anderen Menschenrechtsorganisationen in der Organisation »Instituto Espacio para la Memoria« [Institut Raum für die Erinnerung]. Madres und Abuelas sind 30 Jahre nach dem Ende der letzten Diktatur Ikonen des Widerstands und die Schlüsselfiguren in der postdiktatorischen Konfiguration der Erinnerung an die desapariciones forzadas. »Incansable« [unermüdlich] und »inclaudicable« [unnachgiebig] sind oft gelesene Adjektive für ihr Engagement. Ihnen gelingt es, durch die Generationen hindurch amalgamierend zu wirken302, und zu ihrem Kreis gehören heute Menschen aller Altersgruppen und Hintergründe. Mögen die Fotos der vermissten Angehörigen, die bei den Kundgebungen getragen werden, so deutlich aus einer anderen Zeit stammen, viele der Menschen, die sie hochhalten, sind noch sehr jung und laufen Seite an Seite mit allen Altersklassen. Mütter und Großmütter der Plaza de Mayo scheinen mit ihrer Gegenwart und ihrem langwährenden Widerstand ethische Grundwerte wie Mut, Aufrichtigkeit, Solidarität und Mitgefühl zu aktualisieren und in einem ansonsten als korrumpiert wahrgenommenen öffentlichen Raum Hoffnung zu stiften. Nicht zufällig erklärte der 2003 neugewählte Präsident Néstor Kirchner in einem Gestus der Umarmung, der sich positiv auf ihn 300 203 Gedenkorte wurden 2009 allein in Buenos Aires gelistet (Memoria abierta, »Índice«, 2009). Der Erinnerungsdiskurs wurde pädagogisiert und ist Bestandteil der Curricula von Bildungseinrichtungen aller Ebenen. 301 Madres de Plaza de Mayo Línea Fundadora, 1997, o. S. 302 Im Zentrum dieser Wirkungskreise stehen die von Filc beschriebenen extendierten Ersatzfamilien, die »nuevas familias«, die in den Menschenrechtsbewegungen entstanden sind (Filc, 1997, insb. S. 61-99). Der Zusammenhalt der Mitglieder basiert nicht auf Blutsverwandtschaft, sondern auf dem täglichen Ringen für die Ziele der Menschenrechtsbewegung. 202

Teil II – Nation und die Subjekte/Körper der Rebellion

selbst auswirken sollte, ein Kind der Mütter und Großmütter zu sein, als er nach der Regierungs- und Glaubwürdigkeitskrise von 2001 die Regierungsgeschäfte übernahm und vor den Vereinten Nationen sagte: »Somos hijos de las Madres y las Abuelas de Plaza de Mayo«303 [Wir sind Kinder der Mütter und der Großmütter der Plaza de Mayo]. Mehrere aufeinander aufbauende Kristallisationsmomente lassen sich in der Arbeit der Frauenorganisationen erkennen, die Kern der sozialen argentinischen (Menschenrechts-)Bewegungen und heute relevante politische Akteurinnen sind. Auf eine erste Phase der gemeinsamen Suche nach den eigenen verschleppten-verschwundenen Kindern bzw. Enkelkindern, die durch den humanitären Appell gekennzeichnet ist, folgte eine zweite, in der sich aus der Wahrnehmung des persönlichen Schicksals der Kampf für kollektive politische Ziele herausbildete, in einem Schritt, den sie »Vergesellschaftung der Mutterschaft« nennen. In der dritten Phase wandten sie sich den sozialen, ökonomischen und politischen Anforderungen der Gegenwart zu und, während sie dabei Vergangenheit und Gegenwart miteinander verbanden, etablierten sich als politische Bewegung für die Wahrung aller Menschenrechte. Für die erste Phase ist die betont unpolitische Formulierung der Ziele charakteristisch. Die Frauen gründeten ihre Suche anfänglich auf Rollenselbstverständnisse, die im autoritären Diskurs der 60er und 70er Jahre sowie im diktatorischen Diskurs verankert waren. Sie maßen sich dabei auch selbst an den Tugenden − Beharrlichkeit, Selbstlosigkeit und Selbstaufopferung −, die diese Diskurse hochhielten, und verkörperten diese in beispielhafter Weise.304 Ihre entschlossenen und mutigen Handlungen waren Ersatzhandlungen für den gestörten »natürlichen« Gang des Lebens − das Sichkümmern um die Familie, die Freude an den Enkelkindern −, ein Territorium, aus dem sie mit dem Verlust der Kinder und der wachsenden Gewissheit ihrer andauernden Abwesenheit für immer verbannt waren. Für diese Phase sind die Beobachtungen von Diana Taylor zutreffend, wenn sie von einer Performance von Mutterschaft305 spricht und auf die offensichtlichen Entleihungen aus der christlichen Marienverehrung hinweist. Die öffentlichen Auftritte der Mütter in Zeiten des entfesselten Staatsterrors zielten darauf, neben Entschiedenheit auch Einfachheit und Harmlosigkeit zu vermitteln, und so trat Hebe de Bonafini z.B. in Hauskittel und Pantoffeln auf. Die Mutterschaft war zwar eine der wenigen positiv belegten Rollen, die Frauen in jenen Zeiten patriarchalischer Extreme in der Öffentlichkeit blieben, 303 K irchner, 2003, o. S. 304 Filc, 1997, insb. S. 74-91. 305 Vgl. »Performing Motherhood«, in: Taylor, 1997, S. 193-207. 203

Erinnerung und Intersektionalität

doch sich auf sie zu berufen war auch eine List, die der Diktatur einen diskursiven Strick drehte. Der Eintritt der Mütter und Großmütter in den öffentlichen Raum war (selbst)bewusst, aber nicht Ergebnis eines Plans; die Art und Weise, wie die Madres politische Akteurinnen wurden, war durch die Geschlechterdifferenz und ihre geltende Ordnung bedingt. Sie waren sich im Klaren darüber, dass protestierende Männer unmittelbar als Feind wahrgenommen werden würden und dadurch stark gefährdet waren – und sie wollten sie protegieren: »Wir wollten nicht, dass Männer, Söhne oder Ehemänner mit uns liefen, weil das Militär mit ihnen aggressiver war«306, erinnerte sich María del Rosario de Cerruti, die Tochter republikanischer Flüchtlinge aus Galicia.307 Auch bei dieser Geste waren sie also selbstaufopfernd und setzten ihre Frauenkörper der Gefahr aus. Der Übergang vom individuellen Anliegen der Suche nach den eigenen Verwandten zu einem kollektiven Kampf für alle Betroffenen bildete einen zweiten Schritt in ihrer Entwicklung und ist distinktiv für diese soziale Bewegung. Die Madres Línea Fundadora erklärten ihn im Jahr 2003 auf ihrer Internetseite mit folgenden Worten: Uns wurde klar, dass jede von uns nicht nur ihren Sohn oder ihre Tochter suchte; wir alle, gemeinsam, kämpften darum, alle unsere Söhne und Töchter zu finden, und wir kämpften gegen die Diktatur.308 306 Den Erkenntnissen der Genocide Studies nach hätte sich diese Einschätzung sehr wahrscheinlich als richtig erwiesen (s. auch Teil III). 307 Memoria A bierta, 2009, S. 8. 308 Zit. in Borland, 2006, S. 133, aus dem Span. von MLS. Ana Longoni beobachtete diesen Übergang auch in Verbindung mit dem Medium Fotografie und mit der künstlerischen Performance des Siluetazo im öffentlichen Raum. Es sind zwei Ereignisse des Jahres 1983 − am 30.04. die erste Massenkundgebung am Ende der Diktatur und am 21.09. die dritte Marcha de la Resistencia −, die diesen Übergang dokumentieren und ein Korrelat zwischen Bildern im öffentlichen Raum und der Sozialisierung der Mutterschaft bilden. Während im ersten Moment die Fotos der eigenen Verwandten emporgehoben werden, beginnen auch andere Personen, etwas standardisierte Fotos bei den Kundgebungen zu tragen. Dies konnte erst stattfinden, nachdem Sergio Mellibovsky angeregt hatte, die Bilder aller Vermissten in eine einheitliche Größe zu bringen und zentral zu archivieren. Daraus ergab sich die Möglichkeit, sie auf Demos auch von anderen Menschen als den Verwandten tragen zu lassen, was mit einer gewissen Anonymisierung der Forderungen einherging: Nicht nur mein Desaparecido ist mir wichtig, sondern jeder Desaparecido ist für mich von Bedeutung. Auch der Weg zum Siluetazo zeigt die Emergenz 204

Teil II – Nation und die Subjekte/Körper der Rebellion

Diese kollektive Umdeutung der Mutterschaft309 haben die Madres zu einer Selbstdefinition ihrer politischen Rolle erhoben. Damit setzten sie in der Tat patriarchalische Vorstellungen außer Kraft und kurbelten eine Form politischen Handelns an, die dem individualisierenden Drang neoliberaler Prägung diametral entgegengesetzt war. Darauf ist das heutige Engagement der Mütter begründet, die sich für die Gültigkeit der sog. Menschenrechte der zweiten und dritten Generation310 einsetzen, wenn sie z.B. für die gleichgeschlechtliche Ehe Partei dieser Politik als eine Bewegung zwischen Anonymisierung und Identifikation im Umgang mit den Silhouetten, den Umrissen (Longoni, 2010, o. S.). Julio Flores, neben Rodolfo Aguerreberry und Guillermo Kexel einer der Initiatoren des Siluetazo, erinnert sich an die Gespräche, die er während der Performance auf der Plaza geführt hat und die den Aspekt der Identifikation illustrieren: »Ein Kind an der Hand seiner Mutter sagte zu mir: – Mach meinen Papa für mich. – Wie sah er aus? – Wie du, mit Schnurrbart und die Haare hingen ihm ins Gesicht, oder, Mama? […] Ein Paar aus dem Norden kam zu mir. Er sagte, langsam: – Können Sie für mich meinen Sohn machen? Er sah aus wie ich, aber in Ihrem Alter. […] Ich war in Gedanken, aber da kamen schon drei rothaarige Geschwister mit ihrer Mutter. – Machen Sie unsere Cousins und Onkel. – Wie sahen sie aus?, fragte ich, resigniert. – Wie wir. Ich mach den Körper, sagte die Älteste, und legte sich entschlossen hin. Die beiden anderen Kinder taten es ihr nach und dann die Mama« (Flores, 2006, S. 28, aus dem Span. von MLS). Den Künstlern war anfangs nicht klar, welches Identifikationspotential in diesen zum ersten Mal öffentlich gemachten Umrissen steckte. 309 Die Prämissen an sich waren aus der israelischen Kibbuzimbewegung bzw. der argentinischen ERP-PRT bekannt. Die Kraft, die sie aus dieser Idee schöpften, ist jedoch für die sozialen Bewegungen in Lateinamerika innovativ. 310 Die Menschenrechte der zweiten »Generation« umfassen die lange Zeit vernachlässigten wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte, wie das Recht auf Arbeit, soziale Sicherheit, Ernährung, Wohnraum, Wasser, Gesundheit und Bildung. Seit den 90er Jahren wurden der Inhalt und die Verletzungstatbestände dieser Rechte erheblich konkretisiert. Inzwischen werden sie weithin politisch eingefordert und gelten ihrem Wesen nach auch als einklagbar. Die Rechte 205

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ergreifen, die Rechte von Transvestiten zu stärken suchen oder Grundsteine für den Bau von Frauenhäusern legen. Nora de Cortiñas fasste im Jahr 2000 das Selbstverständnis und die Entwicklung der Madres so zusammen: Wir nahmen die Kampfflaggen unserer Kinder und lernten, dass wir alle Menschenrechte verteidigen mussten … Wir kamen aus unterschiedlichen Gesellschafts- und Bildungsschichten, doch uns Mütter vereinte, dass die Ideale unserer Kinder dieselben waren. Heute verstehe ich, dass Menschenrechte alle Rechte bedeutet, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, zivile und politische Rechte, die Rechte der Frauen, der Ureinwohner, der Homosexuellen, der Behinderten.311

Die Deutung ihrer Arbeit innerhalb des Rahmens feministischer Primate ist eine Herausforderung für manches Prinzip, das auf Antinomien aufgebaut ist und aus dem ein Verlust der Autonomie der Frauen in der Mutterschaft abgeleitet wird. Sie wollten – wie sie unablässig betonten − Mütter und Großmütter sein und mussten den aufgrund ihrer Erziehung vornehmlich für Frauen reservierten Raum des Privaten unfreiwillig verlassen. Als sie gerade durch ihre schlichte Absicht, die Rolle der Mutter und Großmutter zu erfüllen, Mütter und Großmütter der Plaza de Mayo wurden, reiften sie zu zentralen politischen Akteurinnen der Transition und der Postdiktatur. Sie erfüllten dann diese Rollen in einem extendierten und rebellischen Sinn. Chantal Mouffe kritisierte aus feministischer Sicht, dass die Argumentationsgrundlage ihres Kampfes nicht unproblematisch ist, insofern sie das Risiko einer Reifikation des Weiblichen birgt, wenn suggeriert wird, dass Mutterschaft eine solide Basis für die politische Aktion sei,312 was unter dem Konzept »maternalistischer Feminismus« tatsächlich auch getan wird. Mutterschaft als Form, »in der Welt zu sein«, kann aus feministischer Sicht zwar bemächtigend und stärkend sein, der Rückfall in idealisierte Charakteristiken, die den Frauen wesentlich sein sollten313, ist jedoch als Argumentader dritten »Generation« sind jüngeren Datums und bezeichnen allgemeine, noch kaum in Vertragswerken konkretisierte Rechte wie etwa das Recht auf Entwicklung, Frieden oder eine saubere Umwelt. Das ideelle Fundament der Rechte der dritten Generation ist die Solidarität und sie umfassen kollektive Rechte von Gesellschaften oder Völkern (›www.bpb.de/internationales/weltweit/menschenrechte‹, 24.04.2013). 311 Zit. in Borland, 2006, S. 142, aus dem Span. von MLS. 312 Mouffe, 1995, S. 321. 313 Zarco, 2011, S. 230-233. 206

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tionsgrundlage dafür überflüssig, wird doch mit der Bezeichnung Mutterschaft genau genommen ein relationales Netz aktiviert. Die mexikanische Feministin Marcela Lagarde y de los Ríos beschreibt in ihrer großen Studie über weibliche Rollenmuster Los cautiverios de las mujeres aus dem Jahr 1990 die ideologische Repräsentation der Mutterschaft als in der betont biologisch sozio-kulturellen Aufgabe der Zeugung und Fortpflanzung angesiedelt, so dass das Mütterlich-Symbolische vornehmlich mit der körperlichen Pflege von Säuglingen und Kindern und selten mit der Beziehung zwischen erwachsenen Personen in Verbindung gebracht wird.314 Sie macht dabei auf die oftmals okkludierte, verantwortungsvolle und lebenslange Aufgabe der Elternschaft aufmerksam. Diese Verantwortung, die sie über ein enges Verständnis von Familien hinaustransportierten, stellen die Madres in den Mittelpunkt ihrer Mühen. Sie selbst äußerten sich mehrmals öffentlich gegen eine mögliche Zuordnung ihres Tuns zum Feminismus315, als stünde ihnen nichts ferner, als für ihre Rechte als Frauen zu kämpfen. Und doch taten sie genau das. Denn welche Frauenrechte sind elementarer als das Recht auf Leben und auf Selbstbestimmung? Der anerkannte portugiesische Sozialtheoretiker Boaventura de Sousa Santos stellt den Kampf der Frauen in den sozialen Bewegungen perspektivisch mit folgenden Worten dar: Wenn die Frauen in die Kämpfe eingreifen, werden das Alltagsleben, das Familienleben, die Qualität der Ernährung und des Wassers auf die Agenda gesetzt. Weil sie auf der Agenda der Frauen stehen. Ich glaube, dass die Frauen mit ihrer Einmischung die Agenden verändern. Gleichzeitig bringen sie die Saat der Solidarität aus, damit sie sich morgen, wenn es um eine feministische Agenda geht, wenn beispielsweise das Recht auf Abtreibung in Gefahr ist, an andere Bewegungen wenden können, die sich für die Ureinwohner, für die Umwelt, für die Menschenrechte einsetzen, damit sie sich auch für sie starkmachen.316

314 Lagarde y de los R íos, [1990] 2011, S. 266-275. 315 Der Feminismus verliert in Argentinien nach und nach sein schlechtes Image und wird mit der Akzeptanz der Gay-, Lesben- und Queerbewegung inzwischen positiver gewertet. Nicht nur der Konservatismus wertete den Feminismus in der Diktaturzeit negativ. Der Peronismus hatte zwar die Forderungen der Suffragetten umgesetzt, das Frauenbild war aber nicht zuletzt in den Aussagen des Vorbildes Evita Perón festgehalten, wie sie in Der Sinn meines Lebens (1952) zu finden sind. 316 Zit. in Carbajal, 2012, o. S., aus dem Span. von MLS. 207

Erinnerung und Intersektionalität

Elizabeth Borland belegt in ihrer Studie aus dem Jahr 2006 die politische Dynamik, die in dieser Bewegung von Frauen steckt, und bezeichnet die Frauen heute als erfahrene Akteurinnen des öffentlichen Raums und entschiedene Kritikerinnen neoliberaler Politiken. Die Mütter haben während und nach der Krise der argentinischen Institutionen 2001 eine wichtige Rolle als ethische Instanz eingenommen: »Der Fall der Mütter erinnert uns daran, dass die Ausweitung des Ziels nicht nur einer strategischen Mobilisierung dient, sondern dass sie durch eine moralische Autorität geleitet wird, die sich den sich verändernden Umständen anpasst.«317 Sie bieten aktuell dem System die Stirn, wenn sie sich einer Lektüre der Außenverschuldung Argentiniens anschließen, die deren Entstehungsgeschichte während der Repression ansiedelt und daher als illegitim einstuft und sie mit der Situation marginalisierter armer Bevölkerungsschichten und den langanhaltenden wirtschaftlichen Krisen Argentiniens verbindet. Die Mütter und Großmütter der Plaza de Mayo verleihen der im argentinischen Spanisch so hoch gewerteten Metapher »poner el cuerpo« [den Körper einsetzen] Gestalt, wenn sie durch körperliche Präsenz und trotz der Gefahren für ihre Unversehrtheit Widerstand leisten. So lösten enorme Empörung Situationen aus, in denen die Mütter tatsächlich geschlagen wurden, wie bei der Auflösung der Kundgebung gegen die Reform des Universitätsgesetzes 1996 in La Plata, beim Aufstand vom 20./21.12.2001 oder im März 2012, als Nora Centeno, Madre aus La Plata, vor dem Hintergrund der laufenden Strafverfahren privat angegriffen wurde. Die Mütter von Hebe de Bonafini stehen heute für die Aufwertung eines Kampfes, den sie in die Tradition der Siebziger für die »nationale Volksbefreiung« und für die Revolution stellen. Sie meinen damit, das Erbe ihrer Kinder anzutreten, wie Hebe de Bonafini in ihrer Rede vom 30. Mai 1998 darlegte: Wir übernehmen die Verantwortung, unsere über alles geliebten Kinder der Revolution zu rehabilitieren, unsere geliebten Guerilleros, alle, die ihr Leben gaben, damit wir heute hier sein können. Die so großzügig ihr Leben gaben. […] Es ist sehr schön, Schmerz in Kampf umzumünzen. Es ist sehr schön, dass aus uns Frauen, die wir vor zwanzig Jahren keine Ahnung hatten, die Seite an Seite standen, weil wir nicht wussten, was passieren würde, dass aus uns das geworden ist, was wir heute sind: eine Gruppe von Frauen, deren Stimmen um die Welt gehen. Es macht nichts, dass die Medien schweigen, denn wir können schreien, wir haben ein riesiges Herz und wir

317 Borland, 2006, S. 145. 208

Teil II – Nation und die Subjekte/Körper der Rebellion sind wild entschlossen, die Revolution zu machen, von der unsere Kinder geträumt haben. Es lebe die Revolution!318

In dieser Lektüre der Vergangenheit deutet Hebe de Bonafini die Trauer um und erhebt die Opfer der Repression quasi zu Märtyrern, die großzügig ihr Leben für die Revolution gaben. Diese Einschreibung der Desaparecidxs in die Narrative der Nation bildet einen Schritt zur Mythenbildung der Desaparecidxs und aktiviert indirekt die Semantik des Krieges (vgl. Teil III). Sie ist jedoch nicht unproblematisch, da sie einen Prozess der heroisierenden Vereinnahmung belegt und eine Verdrängung der Negativität der Umstände und der Fakten der desapariciones forzadas nach sich zieht. Hebe de Bonafini stellt das eigene Engagement der Madres innerhalb dieser Koordinaten und weist auf die öffentliche Wahrnehmung ihrer Rolle mit folgenden Worten hin: »Wir Mütter wurden stets als bemitleidenswerte Frauen behandelt, aber ich erwiderte: Nicht mein Schmerz soll verstanden werden, sondern mein Kampf.«319 Die Madres der Línea Fundadora ziehen ihre verlorenen Kinder als Grund für ihren Mut, ihr Engagement und ihre Prinzipien ebenfalls heran. Darin liegt eine erfolgreiche Strategie der Bewältigung der Krise, die das erzwungene Verschwinden des Kindes bedeutet. Diese Umkehrung des Chronogramms des Lebens stellt »natürliche« Ordnungen auf den Kopf, die einerseits vom Bruch der Kontinuität zeugen, aber auch den Raum für die Frage öffnen, ob nur die Elterngeneration der Kindergeneration etwas zu sagen hat: Stolz auf die Jahre, die ich dem Kampf [mit den Müttern der Plaza de Mayo] gewidmet habe. Stolz auf den Sohn, den ich hatte, den sie mir genommen haben. Denn er war ein wunderbarer Mensch, er lebte nach seinen Prinzipien, obwohl er noch sehr jung war, als sie ihn mitnahmen. Er war erst 23. Er hat mich einiges gelehrt. Ich glaube, ich habe gelernt zu kämpfen, weil ich es bei ihm gesehen habe, er war überzeugt von dem, was er tat. Er hat immer betont, dass es ein gerechter Kampf ist. Und jetzt bin ich hier, um es zu erzählen.320

Nach ihrem Biographen, dem Schriftsteller und Rechtsanwalt Ulises Gorini, verkörpern die Mütter die Beziehung zwischen Menschenrechten und Rebel-

318 Bonafini, 1999, Hervorh. von V. A., aus dem Span. von MLS. 319 Bilbao, 2008, o. S. 320 Memoria A bierta, 2006, 00:54-01:31, aus dem Span. von MLS. 209

Erinnerung und Intersektionalität

lion, insofern sie mit ihrer Intervention aus der oftmals bloß rhetorischen Erklärung der Menschenrechte die Umsetzung effektiver Rechte fordern: Die Mütter symbolisieren ein weites Menschenrechtskonzept, das das Recht auf Leben und Freiheit umfasst, aber auch ganz allgemein das Recht auf eine gerechtere Gesellschaft und sogar das Recht, sich zu widersetzen, zu rebellieren, um mehr Gerechtigkeit zu schaffen. Die Vorstellung einer Verflechtung zwischen Rebellion und Menschenrechten wird im Zusammenhang mit den Müttern oder der Theorie der Menschenrechte kaum erwähnt. […] Folglich werden sie, günstigstenfalls, zu lediglich erklärten Rechten. Angesichts dieser Heuchelei machen die Mütter das, was sie auch angesichts des Staatsterrors gemacht haben: Sie verflechten die Verteidigung der Menschenrechte mit dem Recht auf Rebellion. Die Mütter sind die Verkörperung schlechthin dieser grundlegenden Verflechtung zwischen Menschenrechten und Rebellion.321

Die Intervention der Mütter und Großmütter und ihr Anliegen, früher für »castigo a los culpables« [Bestrafung der Schuldigen], heute für »cárcel a los genocidas« [Inhaftierung der Völkermörder], für die strafrechtliche Verfolgung der Verbrecher gegen die Menschlichkeit einzutreten, die lebendige Erinnerung an die Desaparecidxs wachzuhalten und dem Imperativ von »memoria, verdad, justicia« [Erinnerung, Wahrheit, Gerechtigkeit] nachzukommen, die Option auf das Recht auf familiäre Identität unter dem Motto »identidad, familia, libertad« [Identität, Familie, Freiheit] zu wahren, aber auch eine Gegenwart mitzugestalten, in der die Menschenrechte Gültigkeit haben, bestimmen in großem Maße die Art und Weise der gegenwärtigen Bezugnahme auf die Verbrechen der letzten argentinischen Diktatur. Die heute hochbetagten Frauen, die seit über 35 Jahren ein stetiges Beispiel für Zivilcourage sind, tragen durch ihre Intervention dazu bei, dass ein Diskurs der Erinnerung gebildet wird, der gleichermaßen durch die Negativität der Ereignisse wie durch den Widerstand, den sie gegen die Verletzung von Menschenrechten und gegen das Vergessen leisten, geprägt ist. Er bietet nicht nur eine Lektüre der Vergangenheit, sondern er bildet einen Referenzdiskurs für Entwicklungen und Transformationsbemühungen, die soziale Bewegungen in der Gegenwart vorantreiben. ***

321 Friera, 2011, o. S., aus dem Span. von MLS. 210

Teil II – Nation und die Subjekte/Körper der Rebellion

Im Mittelpunkt dieses zweiten Teils standen die diskursiven und kulturhistorischen Voraussetzungen der Verfolgung rebellischer Frauen während der argentinischen Staatsrepression. Bei der Untersuchung wurde zunächst deutlich, dass dieses Ereignis nur vor dem Hintergrund des Kalten Krieges angemessen betrachtet werden kann: ein Krieg zweier Hegemonialmächte, die dessen zahlreiche Schauplätze nach außerhalb Europas verlegten und mit ihrer binären Zuordnungslogik den Deutungsspielraum für lateinamerikanische Realitäten, Prozesse und Geschehnisse radikal verschmälerten. Zwei hier dokumentierte Maßnahmen untermauern diese These. Erstens: Bereits seit Ende der 50er Jahre wurde das Öffentliche mittels der Zensur durch eine diskursive Färbung geprägt, die sich gegen eine vermeintliche Unterwanderung der Kultur durch linksrevolutionäres Gedankengut wandte und sämtliche kulturellen Manifestationen außerhalb des etablierten Spektrums als kommunistische Unterwanderung interpretierte. Und zweitens: Die Instruktion der Streitkräfte gegen den Kommunismus begann ab 1957 und in Foltermethoden schon ab dem Jahr 1967, d.h. noch bevor die argentinische Guerillabewegung im Jahr 1970 öffentlich auftrat. Der Kalte Krieg fand in Argentinien einen fruchtbaren Resonanzboden. Bereits bei der Gründung der Nation sahen sich die Kreise, die einst die autochthone Bevölkerung als Störfaktor für die Entwicklung Argentiniens wahrgenommen und sie entsprechend (quasi) hatten ausrotten lassen, zur Lenkung der nationalen Schicksale im Sinne konservativer Werte prädestiniert. Fast im selben Atemzug, in dem sie zum Ausrottungszug gegen die ursprünglichen Völker ausholten, riefen sie eine große Einwanderungswelle hervor und bewirkten damit, dass die Bevölkerung des Landes um die Wende zum 20. Jahrhundert auf das Sechsfache anstieg. Unter den zahlreichen eingewanderten Europäer_innen waren auch viele, die anarchistische, sozialistische und kommunistische Überzeugungen verteidigten und in Argentinien den Traum des gelebten Kommunitarismus umsetzen wollten. Durch die lang anhaltende Verwehrung des Wahlrechts, danach durch einen ausdauernden Wahlbetrug und später durch die Zunahme militärischer Interventionen wurde ihre demokratische Beteiligung lange hinausgeschoben. Als die multikulturelle Bevölkerung Argentiniens sich mehrheitlich hinter dem Generalleutnant Juan Domingo Perón und seiner Frau Evita einordnete, entstand eine derart imposante Protestbewegung für soziale Gerechtigkeit, dass ihr machtvoller Anführer dazu gezwungen wurde, sich fast drei Jahrzehnte im Ausland aufzuhalten. Indem sie förmlich an seinen Lippen hing, verlieh diese Bewegung dem Strategen Perón jedoch eine lähmende Macht über sich; am Ende kehrte er seiner revolutionären Anhängerschaft den Rücken und setzte damit die Maschinerie der Repression gegen eine in die Sozialrevolution verliebte Jugend in Gang. Mit-Protagonistinnen jener rebellischen Jugend der Siebziger waren zum ersten 211

Erinnerung und Intersektionalität

Mal in der Geschichte Argentiniens zahlreiche Frauen, die sich dadurch gleichzeitig (mehr oder weniger) bewusst für die Emanzipation von selbstverständlichen Geschlechterrollen einsetzten. Die Irritation, die von dem Lebenswandel der vorpreschenden Guerillafrauen ausging, bedingte nicht nur ihren subordinierten Platz in den revolutionären Hierarchien, später schöpfte die Repression daraus ihre Legitimation für eine geschlechtsspezifische Folterpraxis. Das Foltern zielte im Wesentlichen darauf, das moralische Individuum durch den Verrat an sich selbst, an Freunden und an Idealen zu zerstören. Die Peinigung wurde bei der Staatsrepression zur Technik der Wahl und fütterte die entfesselte Maschinerie der politischen Säuberung mit verzweifelten Akten der Selbsterhaltung. Gegen die Vorstellung allerdings, die Folter hätte jede Form von Widerstand erstickt, wehren sich Lagerüberlebende wie Pilar Calveiro und zeigen, dass der zu Tode terrorisierte und animalisierte Mensch im Rahmen seiner Möglichkeiten durch Mitmenschlichkeit versucht hat, seine Würde zu erhalten. Außerhalb des Lagers, inmitten der zum Schweigen verdammten argentinischen Öffentlichkeit, wurde dasselbe Ringen um die Menschenwürde durch die weiblichen Mitglieder der älteren Generation von Angehörigen ausgefochten. Seitdem trägt der Widerstand gegen die Staatsrepression in Argentinien die Antlitze der Mütter und Großmütter der Plaza de Mayo. Während der Diktatur bekämpften sie das Verschweigen der Militärs mit deren eigenen diskursiven Waffen und pochten auf ihr Recht auf Information in ihrer Rolle als liebende Mütter. Mit dieser damaligen List als Legitimationsgrundlage forder(te)n sie allerdings nicht nur die mächtigen Regierenden, sondern auch jene heraus, die das Recht der Frauen auf Selbstbestimmung – und ging es um das Recht, Kinder zu gebären, sie zu erziehen, eine lebenslange Beziehung zu ihnen zu pflegen – auf einige der von ihnen anerkannten Tugenden reduzier(t)en. Nicht nur während der Diktatur, sondern über die langen Jahre der Postdiktatur setzten sie die asymmetrische Auseinandersetzung gegen das öffentliche Vergessen fort und wurden erst 2004 mit der politischen Wende der Regierung Kirchner im Umgang mit der Aufarbeitung offiziell anerkannt. Die Mütter und Großmütter der Plaza de Mayo setzen sich heute, hochbetagt, nach wie vor mit ihrem leuchtenden Beispiel für die sogenannten Menschenrechte der zweiten und dritten Generation ein. Ihnen entgegengesetzt im Schatten der öffentlichen Anerkennung standen jedoch lange jene wenigen Lagerrückkehrer_innen, die dafür, überlebt zu haben, nicht selten von ehemals Freund und Feind verabscheut wurden. Ihre diffizile Position wird vor dem Hintergrund der Debatte um die Deutung der argentinischen Staatsrepression als Krieg oder Genozid deutlicher. Die Eckpfeiler dieser Debatte stecken den Rahmen des folgenden Teils III ab, in dem jene Ereignisse diskursanalytisch in Augenschein genommen werden, die den Wandel der Erinnerungspolitik im Argentinien der Postdiktatur belegen. 212

CARLOS ALONSO. Manos Anónimas [Anonyme Hände], Diptychon | 1984 | Pastell auf Papier | je 70 x 50 cm Roxana Olivieri | RO Galería de Arte, Buenos Aires | www.roart.com.ar/

Teil III Staatsrepression und diskursiver Wandel

Als der renommierte Schriftsteller Ricardo Piglia am 25.04.2008 die argentinische Buchmesse in Buenos Aires mit einer Apologie der Lyrik und einer Laudatio auf das Werk des Poeten Juan Gelman eröffnete, sprach er, um an die systematischen Menschenrechtsverletzungen während der letzten Militärdiktatur zu erinnern, mit Selbstverständlichkeit von einem »kleinen Auschwitz«.1 Der Bezug auf die Shoah im Diskurs über die Menschenrechtsverletzungen, insbesondere die Verwendung des Begriffs Genozid für die Verbrechen gegen die Menschlichkeit, ist in den letzten Jahren im täglichen Sprachgebrauch der Argentinier, in den Medien und den Geisteswissenschaften weit verbreitet. Der Fall Argentiniens wurde bisher jedoch kaum Gegenstand von Studien der internationalen Völkermordforschung.2 Im deutschen Rezeptionskontext wirkt der Begriff Genozid für die argentinischen Ereignisse im ersten Moment befremdlich, unangemessen, in der historischen Dimension und vor dem Hintergrund

1

2

Ricardo Piglia erinnerte an Adornos Aussage, nach Auschwitz sei es unmöglich (im deutschen Original: barbarisch), Poesie zu schreiben. Die Erfahrungen in Russland und in Argentinien hatten in seinen Augen diese Wirkung nicht. Obwohl beide Länder laut Piglia ihr »kleines Auschwitz« erlebt hatten, wurde dort weiterhin Poesie geschrieben (vgl. Friera, 2008, o. S.). Auf die Frage nach der Darstellbarkeit/Undarstellbarkeit von Leid als Denkfigur der Kulturkritik und Auschwitz als ihrem Referenzpunkt wird in Teil IV bei der Besprechung von Graciela Fainsteins Detrás de los ojos eingegangen. Als Ausnahmen gelten die Arbeiten von Rudolph Joseph Rummel (zum Begriff des Demozids) und Barbara Harff (die von Politizid spricht), die in ihren Betrachtungen die argentinischen Ereignisse berücksichtigen. 215

Erinnerung und Intersektionalität

des deutschen Resonanzkörpers der Massenvernichtung durch die Nationalsozialisten mindestens inadäquat, wenn nicht gar wie ein Tabubruch. Welche Beziehung wird durch diesen Sprachgebrauch zwischen der Vernichtung der europäischen Juden durch Nazideutschland und den Verbrechen des argentinischen Staatsterrors hergestellt? Handelt es sich dabei um eine fragwürdige Universalisierung des Holocausts, die die spezifischen historischen Umstände des in Bezug gestellten Ereignisses verwischt und ein Erinnerungsbild aufruft, das nicht mehr in einem angemessenen Verhältnis zu den Tatbeständen steht? Oder wird dadurch grundsätzlich auf die politischen und juristischen Prozeduren und Standards hingewiesen, die noch unter dem Eindruck des Holocausts durch die internationale Völkergemeinschaft zur Vermeidung und Bestrafung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit eingerichtet wurden? In der argentinischen Gesellschaft standen die Verletzungen der Menschenrechte während der letzten Diktatur in den 30 Jahren seit ihrem Ende immer wieder im Mittelpunkt der öffentlichen Debatte. Das Ende der Diktatur markierte keinesfalls einen sofortigen Wendepunkt in den Diskursen, die die Gewaltherrschaft der Streitkräfte auf dem argentinischen Territorium ausgelöst und sieben Jahre lang begleitet hatten. Vielmehr verwandelte sich der Machtdiskurs der einstigen Machthaber in den Diskurs der Rechtfertigung ihrer Taten und entlarvte im Laufe der Jahre oftmals ihr noch vorhandenes Machtbegehren. Durch die Zensur, durch die Logik der paramilitärischen, heimlichen Vorgehensweise und vor allem durch den Terror sind die Spuren der Verbrechen als vermittelte Rekonstruktionen nach und nach an die Öffentlichkeit gelangt. Die Aussagen der Zeugen, das Schweigen der Täter und Verantwortlichen, die Bilder der Massengräber, die Präsenz von Angehörigen und Freunden der Verschwundenen im öffentlichen Raum gaben bruchstückhaft Auskunft über Geschehnisse, die rechenschafts- und interpretationsbedürftig waren und sind. Konstitutiv für die demokratische Ordnung und als Paradigma für das Verhältnis zwischen Individuum und Staatsmacht stellen das Recht des Einzelnen auf Leben und die Rechte, die daraus erwachsen und durch den Staat garantiert werden, eine Deutungsmasse dar, über die die argentinische Gesellschaft, in den Konstruktionen der Vergangenheit und insbesondere in den Narrationen über die Gewaltverbrechen der Staatsrepression, in den letzten Jahren verhandelt hat. In dieser Debatte wird das Paradoxon der Menschenrechte evident, ein Versprechen, das sich in der Beziehung zwischen Menschen und Staat einlösen soll, aber gerade im repressiven Argentinien, und auch während der (Nicht-)Aufarbeitung der Verbrechen jener Zeit, sowie in den zahlreichen Krisen der letzten Jahre vom doublebind und von Inkongruenz charakterisiert zeigte und somit die Zerbrechlichkeit menschlichen Lebens offenbarte. So steht der aktuelle Sprach216

Teil III – Staatsrepression und diskursiver Wandel

gebrauch für die massiven Verbrechen als Ergebnis einer Diskursentwicklung, deren Beobachtung einen Einblick in die Auseinandersetzung um Deutungen, Figurationen und Re-Mediationen der Zeit des »Prozesses der Nationalen Reorganisation« gibt. Der Diskurs über die Menschenrechte wurde in den letzten 30 Jahren allmählich Grundkonsens und fand entsprechend einen institutionellen Niederschlag. Die Beobachtung der Transformation der allgemeinen Meinung fördert die inhärenten Schwierigkeiten und Hindernisse im Umgang mit den Menschenrechtsverletzungen zu Tage. Insbesondere die Debatten über die Deutung der Staatsrepression bildeten das Feld, auf dem die Frage nach der (Nicht-)Verfolgung der Verbrechen durch die argentinische Justiz ausgefochten wurde, und machen das Erbe der Diktatur sichtbar. In diesem Streit lassen sich Schwerpunkte erkennen, die von einer symbolischen gesellschaftlichen Prozessierung zeugen und die rechtsstaatliche Verfolgung der Verbrechen und eine umfassende offizielle Erinnerungspolitik veranlasst haben. So ist die Zahl der Personen, die verdächtigt wurden, die Verbrechen im Rahmen der illegalen Repression begangen zu haben, das unmittelbare Korrelat zu der gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit diesem Erbe. Die Verfahren gegen die Militärjuntas machten kurz nach der demokratischen Transition unter der Regierung von Raúl Alfonsín im Jahr 1985 lediglich den verantwortlichen Kommandanten der Militärjunta den Prozess. Jorge Rafael Videla und Emilio Eduardo Massera wurden zu lebenslanger Haft verurteilt, Roberto Eduardo Viola bekam 17 Jahre, Armando Lambruschini acht und Orlando Ramón Agosti vier Jahre Gefängnisstrafe; Omar Graffigna, Leopoldo Galtieri, Jorge Isaac Anaya und Basilio Lami Dozo wurden aus Mangel an Beweisen freigesprochen. Vier Jahre später, als der demokratisch gewählte Präsident Carlos Menem in den Jahren 1989/1990 die Amnestieerlässe unterschrieb, waren bereits 1.200 Personen im Zusammenhang mit diesen Verbrechen inkriminiert, was eine Erklärungsgrundlage für die Dekrete liefert.3 Erst Präsident Néstor Kirchner schenkte dem langen Kampf der Menschenrechtsorganisationen Gehör und so wurde die Straflosigkeit bekämpft und die Gerichte setzten sich allmählich mit den offenen Fragen auseinander. Seitdem der Oberste Gerichtshof Argentiniens am 15.06.2005 die sog. Straflosigkeitsgesetze für nichtig erklärte und somit die (Wieder-)Aufnahme der strafrechtlichen Verfolgung der Verbrechen der Staatsrepression ermöglichte, verzeichnen die von der Menschenrechtsorganisation CELS (Centro de Estudios 3

1.195 Militärs, die unter der Junta aktiv waren, profitierten von diesem Zustand der Straflosigkeit: 730 durch das Schlussstrichgesetz, 379 durch das Gesetz über die Gehorsamspflicht, 49 durch vom Obersten Gericht ausgesprochene Amnestien und 42 durch Gnadenerlasse (TRIAL, 2012, o. S.). 217

Erinnerung und Intersektionalität

Legales y Sociales) geführten Statistiken eine stetige Zunahme der Zahl der in die illegale Repression involvierten Zivilisten und Mitglieder der Sicherheitskräfte: Im Jahr 2005 wurden 500 Personen4 Menschenrechtsverbrechen zur Last gelegt, im Jahr 2010 waren es 1.4225 und aktuell, mit Stand August 2015, sind es 2.6436. Vor Gericht gestellt wurden davon im Jahr 2005 1997, im Jahr 2010 6288 und im Jahr 2015 4169. Während 38 Inkriminierte 2005 flüchtig waren, sind es 2015 43 Personen10. Die lange Gültigkeit der Amnestiegesetze (1989-2005) hatte jedoch ihren Tribut gefordert, so dass 2005 7911, im Jahr 2010 243 (Gerichtsunfähige inklusive)12 und im Jahr 2015 40213 Verdächtigte bereits gestorben waren. Mit Stand August 2015 sind 589 Menschen verurteilt und 51 freigesprochen worden14, allerdings hat der Oberste Gerichtshof (die letzte Appellationsinstanz Argentiniens) bis zu diesem Zeitpunkt nur 21 Fälle und das Strafmaß von 48 endgültig verurteilten Verbrechern bestätigt.15 In Teil III werden die diskursiven Bedingungen für die Strafverfolgung untersucht, um herauszuarbeiten, wodurch sie begünstigt bzw. wie sie verhindert wurde. Da ihre rechtlichen Grundlagen eng mit der Einstufung der Verbrechen als Krieg oder Genozid zusammenhängen, wird zunächst eine historisierende Begriffsklärung vorgenommen. Von Genozid oder schmutzigem Krieg im argentinischen Kontext zu sprechen, hat Implikationen, die auf den folgenden Seiten näher beleuchtet werden. Nach der Distinktion der Begriffe folgt ein Einblick in die wissenschaftlich-juristische Auseinandersetzung über den Genozidbegriff sowie in die Rechtsgrundlagen für die Anwendung des Tatbestands des Genozids auf die Verbrechen in Argentinien. Bevor darauf folgend die Debatte um die Deutung der Vergangenheit und insbesondere die Meinung argentinischer 4

5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 218

CELS, 2005b, S. 52. Relevant erscheint heute der Fakt, dass 6 der im Jahr 2005 inkriminierten Personen damals nicht vom Dienst suspendiert waren, sondern weiterhin ihren Dienst ableisteten (Ebd.). CELS, 2010c, S. 85. CELS, 2015, o. S. CELS, 2005b, S. 52. CELS, 2010c, S. 86. CELS, 2015, o. S. Ebd. CELS, 2005b, S. 52. CELS, 2010c, S. 86. CELS, 2015, o. S. Ebd. Ebd.

Teil III – Staatsrepression und diskursiver Wandel

Militärs oder ihnen nahestehender Personen, die heute noch von »guerra contra la subversión« [Krieg gegen die Subversion] bzw. von Antiterrorkrieg sprechen, untersucht wird, soll der Frage nachgegangen werden, nach welchen Kriterien und internationalen Standards das massenhafte Verschwindenlassen und Töten während der Militärdiktatur als Krieg oder als Genozid eingestuft werden kann. Dann werden anhand einiger Schlüsseltexte und -ereignisse die Konstellationen herausgearbeitet, die charakteristisch für die Diskurstransformation in Argentinien waren. Für ihre Untersuchung liefert u.a. die (kritische) Diskursanalyse16 ein theoretisches Gebäude und nützliche Werkzeuge, die Vorstellungen, Zuschreibungen, Bewertungen, die rekurrieren und ein mehr oder weniger festes Wissen und ein mehr oder minder deutlich konstruiertes Bild der diskursiven Kontrahenten ergeben, identifizieren lassen. Im Fokus der Untersuchung werden dann die Konzepte des Krieges und des Genozids und ihre Anwendung stehen, da damit zwei Voraussetzungen für die strafrechtliche Aufarbeitung der Verbrechen gegen die Menschlichkeit eng zusammenhängen: der Platz der Akteure im Erinnerungsdiskurs und das soziale Gehör, das zum wichtigen Impulsgeber der Diskurstransformation wird.

1. Zwischen »kleinem Auschwitz« und »schmutzigem Krieg« So wie Ricardo Piglia von »kleinem Auschwitz« sprach oder wie generell in Argentinien im Zusammenhang mit der Vorgehensweise der Streitkräfte gegen die eigene Bevölkerung zwischen 1975 und 1983 von »Genozid« die Rede ist, so findet sich in der Literatur und im allgemeinen Sprachgebrauch der Begriff schmutziger Krieg. Ob unpräzise oder gezielt angewendet, von Krieg oder Genozid zu reden ruft unterschiedliche Inhalte auf. Wer von Krieg spricht, stellt zumindest zwei mehr oder weniger gleichwertige Gegner in den Raum, die sich mehr oder weniger gut ausgerüstet für einen länger anhaltenden Kampf gegenüberstehen. Der Denker des Krieges Carl von Clausewitz, der in seinem Buch Vom Kriege den bekannten Aphorismus »Krieg ist die Fortsetzung der 16 Herauszustellen als Zugang für die hier vorliegenden Textanalysen sind die in den folgenden Werken vorgestellten Methoden: Jäger /Link, 1994; Jäger, Siegfried, [1999] 2009; Jäger /Jäger, 2007. Als wichtige Referenzen sind ebenfalls zu nennen: Warnke, Ingo H. (Hg.), Diskurslinguistik nach Foucault. Theorie und Gegenstände, Berlin/New York 2007, und Landwehr, Achim, Historische Diskursanalyse, Frankfurt a.M. 2008. 219

Erinnerung und Intersektionalität

Politik mit anderen Mitteln« prägte, definierte Krieg als einen erweiterten Zweikampf.17 Michel Foucault nahm das geflügelte Wort in seinen Vorlesungen In Verteidigung der Gesellschaft am Collège de France (1975-76) auf und kehrte dabei Clausewitz’ Aussage in den Satz »Politik ist die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln«18 um. Damit zeigte er auf, dass Krieg auf einem binären Prinzip beruht, das die gesamte Gesellschaft durchzieht und vom Individuum reproduziert wird. Der moderne Staat agierte eine Form der friedlichen Austragung ebendieses Krieges aus.19 Nach Foucaults Analyse fand das binäre Prinzip des Krieges im Staatsrassismus und in der Vernichtung der europäischen Juden durch die Nazis seinen Paroxysmus.20 In diesem Sinne kann die durch die Nationalsozialisten angestoßene rassenhygienisch motivierte Massenvernichtung als eine auf das Höchste gesteigerte Folge dualistisch konstruierter diskursiver Diskriminierungspraktiken angesehen werden. Wer heute von Genozid spricht, aktiviert nicht nur ein kulturphilosophisches Konzept, sondern beruft sich gleichzeitig auf einen festdefinierten Tatbestand des Völkerrechts, der, allein durch die Entstehungsgeschichte des Begriffs, sofort den Bezug zur Shoah herstellt. Man evoziert extreme Verfolgung aufgrund zugewiesener Gruppenzugehörigkeit, absolute Ohnmacht und totales Ausgeliefertsein des Einzelnen sowie die abgrundtiefe Ungleichheit der Kräfte mit, die mit der Ausrottung einer Kategorie von Menschen einhergeht.

2. Krieg oder Genozid – Eine begriffliche Distinktion im Rückblick auf die desapariciones forzadas Nach der Zäsur, die das Kriegsgeschehen im Nationalsozialismus einleitete, transformierten sich seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs die Austragungsformen von Gewaltkonflikten wesentlich, so dass die Vorstellung Clausewitz’ nicht nur bereits für das Vorgehen Nazideutschlands unangemessen, sondern auch insgesamt für die Friedens- und Konfliktforschung anachronisch wurde. Ein theoretisches Gebäude zu zeichnen, das dazu beiträgt, die Komplexität des Phänomens Krieg zu beschreiben sowie empirisch anwendbare Erklärungsansätze zu formulieren, beschäftigte mit besonderem Nachdruck die Forschung seit dem Ende des Kalten Krieges. Doch bereits nach dem Zweiten Weltkrieg 17 18 19 20 220

Clausewitz, 1827, S. 10. Foucault, [1999] 2001, S. 32. Ebd., S. 106. Ebd., S. 308.

Teil III – Staatsrepression und diskursiver Wandel

veränderte die tatsächliche Kriegsführung die Vorstellungen vom Krieg als staatlich sanktionierte Gewalt nach dem westfälischen Staatensystem und seinen Prinzipien (Souveränität, Territorialität, Legalität), denn Kriege wurden seitdem zunehmend innerstaatlich ausgetragen und immer stärker wurden Zivilisten ihre Opfer. Die Ausgaben für »Verteidigung« und die Anzahl von Kriegen sowie von Kriegstoten und -flüchtlingen nahmen nach den Studien der Wirtschaftsexpertin des US State Department Ruth Leger Sivard, die zwischen 1974 und 1996 einen jährlichen Bericht über weltweite Verteidigungs- und Sachausgaben, den World Military and Social Expenditures, verfasste, stetig zu. Bis 1996 zählte sie die Kriege des 20. Jahrhunderts auf 250 zusammen, während nach ihren Feststellungen die Anzahl der Toten mit 109.746.000 der Bevölkerungsgröße von Frankreich, Belgien, den Niederlanden, Dänemark, Finnland, Norwegen und Schweden zusammen entsprach. Machten Zivilisten in der ersten Hälfte des Jahrhunderts 50 Prozent der Kriegstoten aus, so wurde ihre Zahl in den 60er Jahren bereits auf 63 Prozent geschätzt, in den 80er Jahren auf 74 Prozent und für die 90er Jahre sogar noch höher.21 Diese deutlichen Zahlen stehen jedoch nicht in direktem Zusammenhang mit der Bezeichnung der Ereignisse, die sie verursachten, denn was als Krieg oder als Genozid eingestuft wird, hängt von einem ihnen zugrunde liegenden theoretischen Gebäude ab. So wird der Begriff »Krieg« von PRIO (Peace Research Institute Oslo) für Konflikte verwendet, die mehr als 1.000 Tote im Jahr verursachen.22 Aufgenommen in dieser Statistik und entsprechend als Kriegshandlungen gewertet sind für Argentinien bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen der argentinischen Armee und den Guerillas des ERP und der Montoneros in den Jahren 1974 und bis 197723; die Staatsrepression wird aus definitorischen Gründen nicht erwähnt, noch werden ihre Opfer in diese Statistik aufgenommen.24 Konflikt- und Kriegsdaten bekannter 21 Sivard, 1996, o. S. 22 UCDP/PRIO, 1946-2014a, S.  7. Eine Übersicht über Kriegsdefinitionen und Konflikttypologien bietet das Informationsportal Krieg und Frieden der Bundeszentrale für politische Bildung unter: ›http://sicherheitspolitik.bpb.de/index. php?page=kriegsdefinitioen-und-konflikttypologien‹, 02.08.2015. 23 UCDP/PRIO, 1946-2014b, o. S. 24 Auch die von UCDP/PRIO im Dataset angeführte Anzahl der Toten in bewaffneten Auseinandersetzungen sollte hinterfragt werden, denn sie beruht sehr wahrscheinlich auf offiziellen Angaben der argentinischen Streitkräfte, die sich der Körper der Folteropfer dadurch entledigten, dass sie illegal verhaftete Oppositionelle in simulierten Gefechten ohne Gegenwehr erschossen und sie so indirekt als Tote legalisierten. 221

Erinnerung und Intersektionalität

Forschungsinstitute wie der Hamburger Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung (AKUF), des Heidelberger KOSIMO-Projekts oder des Correlatesof-War-Projekts (COW) variieren in ihren Definitionen und Konflikttypologien so stark, dass sie zu unterschiedlichen »Welten der Gewalt« führen.25 Nach dem Ende des Kalten Krieges vertiefte sich diese Krise der Begrifflichkeiten mit dem Aufkommen von Konflikten, die ohne Beachtung der Regeln des Kriegsrechts und in einer Überlappung von privaten und öffentlichen Interessen eine Massenviktimisierung von Zivilpersonen immer mehr in Kauf nahmen.26 Im Zusammenhang mit diesen bewaffneten Konflikten entstand ein gesetzloser Raum, der die Straflosigkeit begangener Verbrechen begünstigte. Nach Kiza et al. sind die Ad-hoc-Tribunale, die von den Vereinten Nationen für das ehemalige Jugoslawien und Ruanda eingerichtet wurden, sowie die Etablierung des Internationalen Strafgerichtshofes basierend auf dem Rom-Statut von 1998 Ausdruck einer Politik, die eben der Straflosigkeit dieser Kriege ein Ende setzen will.27 Der 25 Eberwein/Chojnacki, 2001, S. 8. 26 Mary Kaldor definiert diese Kriege durch ihre Qualität des »Neuen«: »Im Verlauf der 80er und 90er Jahre hat sich v.a. in Osteuropa und Afrika ein neuer Typus organisierter Gewalt herausgebildet, der als Bestandteil unseres gegenwärtigen globalen Zeitalters gelten muss« (K aldor, 2000, S. 5). Die Kriege sind dadurch charakterisiert, dass sie in ein Geflecht transnationaler Verbindungen eingebettet und durch die Untergrabung des staatlichen Gewaltmonopols entstanden sind. Kaldor erklärt diese Entwicklung mit der Transnationalisierung des Militärs und der militärischen Integration in Verteidigungsbündnisse sowie mit der Internationalisierung der Rüstungsindustrie und des Waffenhandels. Besonders problematisch ist ihre Ursachensuche bei der Vertiefung kultureller Gegensätze (Ebd., S. 5). Herfried Münkler widerspricht diesem Argument und gibt an, ethnisch-kulturelle sowie religiöse Unterschiede können maßgeblich zur Verstärkung der Konflikte beitragen, sind jedoch oftmals nicht ihre Ursache. In seiner Analysegrundlage unterscheidet er die Entstaatlichung und Privatisierung kriegerischer Gewalt, die strategische »Asymmetrisierung« des Krieges und die Verselbständigung der Gewaltformen, in deren Folge reguläre Streitkräfte die Kontrolle über das Konfliktgeschehen verlieren (Münkler, 2002, S. 10). Sven Chojnacki stellt fest, dass die These der »neuen« Kriege überzogen bzw. unterspezifiziert geblieben ist. Als besonders problematisch erweisen sich seines Erachtens die unscharfe diachrone Typenbildung (alte vs. neue Kriege), die fehlenden operationalen Kriterien zur Erfassung einzelner Fälle sowie die dürftige und teilweise falsch interpretierte empirische Basis (Chojnacki, 2008, S. 7). 27 K iza u.a., 2006, S. 15. 222

Teil III – Staatsrepression und diskursiver Wandel

deutsche Experte für Friedens- und Konfliktforschung Sven Chojnacki schlägt entsprechend eine neue Typisierung vor, die den vielfältigen Formen, wie bewaffnete Konflikte ausgetragen werden, Rechenschaft trägt, denn [w]eil Krieg immer auch mit den Strukturen und dem Wandel interner und externer gesellschaftlicher Rahmenbedingungen verkoppelt ist, unterliegt er als soziale und politische Praxis vielfältigen, historisch kontingenten Veränderungsprozessen und ist zugleich auch selbst ein Motor des Wandels.28

Die von ihm vorgeschlagene Typologie orientiert sich explizit an der Vergesellschaftungsform bzw. am politischen Status der Akteure, wonach sich vier Kerntypen kriegerischer Gewalt ergeben: (1) zwischenstaatliche Kriege (zwischen mindestens zwei souveränen Staaten); (2) extrastaatliche Kriege (zwischen Staaten und nichtstaatlichen Akteuren jenseits bestehender Staatsgrenzen); (3) innerstaatliche Kriege (zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren innerhalb bestehender Grenzen), die wiederum in zwei Subtypen unterteilt werden: a) Kriege, die den Sturz des Regimes und/oder den politischen Systemwandel herbeiführen sollen (Antiregimekriege), b) Kriege, die einen autonomen Status oder die Abspaltung vom bestehenden Staat verfolgen (Autonomie- und Sezessionskriege); (4) substaatliche Kriege (zwischen nichtstaatlichen Gewaltakteuren innerhalb oder jenseits formaler Staatsgrenzen).29 Nach Chojnackis Schema fallen die argentinischen Ereignisse – auch wenn sie seiner Meinung nach zweifellos ein hohes Gewaltniveau besaßen30 − nicht unter die genannte Kriegsdefinition. Entsprechend dem, was in der argentinischen Jurisprudenz Konsens ist und von den Menschenrechtsbewegungen seit 1983 vertreten wird, legt auch diese Einschätzung nahe, im Begriff des Genozids den Definitionsund Erklärungsrahmen für die Vorgehensweise der argentinischen Staatsrepression der 70er und 80er Jahre zu suchen.

2.1 Zur Geschichte des Genozidkonzepts Seit der Jurist Raphael Lemkin 1944 den Begriff genocide für das Verbrechen prägte, das Churchill schon 1941 als »a crime without a name« bezeichnet hatte31, wird die Anwendung des Genozidkonzepts auf massenhafte Verbrechen in 28 29 30 31

Chojnacki, 2008, S. 6. Ebd. Persönliche Mitteilung vom 16.03.2012. Lemkin, 1946, S. 227-230. 223

Erinnerung und Intersektionalität

der Fachliteratur kontrovers diskutiert. Lemkin hatte auf das griechische Wort genos (Herkunft, Stamm, Geschlecht) und das lateinische Suffix -cide vom Verbum caedere (töten) zurückgegriffen, um die Schaffung eines internationalen Straftatbestandes anzustoßen, dem in seinen Augen mit dem Wort »Massenmord« nicht mehr Rechnung getragen werden konnte. Es kann nur darüber spekuliert werden, ob sein Expertenwissen über den armenischen Völkermord bzw. die Umstände des Jahres 193332, aus der Perspektive eines polnisch-jüdischen Rechtswissenschaftlers gesehen, ihn dazu bewogen haben, sich dafür einzusetzen. Tatsache ist, dass Raphael Lemkin bereits im Oktober 1933 in Madrid der fünften Konferenz zur Vereinheitlichung des Strafrechts einen ersten Entwurf für ein internationales Verbot der Barbarei und des Vandalismus unterbreitet hatte, das anschließend in nationale Gesetze umgewandelt werden sollte. Das von ihm vorgeschlagene Verbot der Barbarei umfasste Taten, die aus Hass oder zum Zweck der Ausrottung gegen Leben, Gesundheit, Freiheit, Würde oder wirtschaftliche Existenz einer rassischen, religiösen oder sozialen Gruppe begangen wurden; das Verbot des Vandalismus galt der Vernichtung der Kulturgüter dieser Gruppen.33 Der Entwurf fand damals nicht die erforderliche Resonanz; zu spät stellte sich heraus, dass eine Zustimmung bessere Voraussetzungen für die Ahndung der millionenfachen Verbrechen des NS-Regimes geschaffen hätte.34 Durch die fehlende Rechtsgrundlage konnte der Unrechtsgehalt des »Noch-nieDagewesenen«35 bei den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen nicht angemessen erfasst werden.36 Mit der Zuspitzung der Situation in Europa verstärkte Lemkin seine Bemühungen, den Tatbestand der Ausrottung ganzer Gruppen in das internationale Recht aufzunehmen, was erst nach Beendigung des Krieges gelang. Lemkin erkannte einen neuen Tatbestand in Handlungen, die dem geltenden Kriegsrecht – der Rousseau-Portalis-Doktrin – widersprachen und die er als Genozid beschrieb. Die Doktrin, die auf Jean-Jacques Rousseaus Definition in Le contrat social (1762) basiert und in dem Satz »Der Krieg ist keineswegs eine Beziehung von Mensch zu Mensch, sondern eine Beziehung von Staat zu Staat« zusammengefasst ist, wird heute wie damals als Fundament des Kriegsrechts betrachtet. Das geltende Kriegsvölkerrecht, wie fast alle mit dem Krieg befassten völkerrechtlichen Verträge, stützt sich auf das Prinzip der Gleichheit 32 33 34 35 36

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1933 ereignete sich neben Hitlers Aufstieg der ukrainische Holodomor. Paul, 2008, S. 23. Lemkin, 1946, S. 227-230. A rendt, [1964] 2007, S. 397. Die deutsche Übersetzung der Anklageschrift spricht von vorsätzlichem systematischen Massenmord (Egbert, 1947, S. 47).

Teil III – Staatsrepression und diskursiver Wandel

von Staaten, die sich als solche und als Gegner gegenseitig anerkennen. Während sich in zwischenstaatlichen Konflikten Gegner gegenseitig Legalität und Legitimität zusprechen und damit Kriegsabkommen wie die Haager Kriegskonvention Wirkung und Gültigkeit erhalten, kann die Anerkennung eines Gegners in den innerstaatlichen oder transnationalen Konflikten seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs Teil einer gezielten Strategie sein, die zur Legitimierung der Gruppe auf dem internationalen Parkett führen soll.37 Der Aspekt der Anerkennung des Gegners im Krieg ist für die Auslegung der Staatsrepression in Argentinien von Belang: Der argentinische Staat hat es in den Jahren der Repression tunlichst vermieden, einen Krieg zu erklären. Nicht nur, dass das weite Feld der Guerillas jederzeit zu zersplittert gewesen wäre, um ihre Definition als Gegner des Staates glaubhaft international vertretbar zu machen. Die Guerilleras und Guerilleros als Kriegsgegner anzuerkennen, hätte bedeutet, der allgemeinen Bevölkerung und speziell den Kriegsgefangenen die schützenden Maßnahmen der Haager Konvention zukommen lassen zu müssen. Der Anerkennung wären humanitäre Hilfe und Helfer, z.B. seitens des Roten Kreuzes, sowie Beobachter gefolgt, die Einblicke in das Geschehen hätten gewinnen können. Das Wissen über die Gräueltaten hätte vielleicht die internationale Öffentlichkeit viel früher erreicht und mobilisiert, doch die regierende Junta entschied sich bewusst für die Geheimhaltung, denn bei einer Offenlegung der Vorgehensweise hätten die Standards der internationalen Gemeinschaft illegale Praktiken wie das Verschwindenlassen von Personen und deren systematische Folterung niemals toleriert, Praktiken, die aus argentinischer militärischer Sicht offensichtlich unerlässlich für den konterrevolutionären Krieg waren. Lemkin stellte in seinem Vorschlag eines völkerrechtlichen Tatbestands des Genozids die Gewalt gegen Mitglieder einer nationalen Gruppe in den Mittelpunkt: »Genocide is directed against a national group as an entity and the actions involved are directed against individuals, not in their individual capacity but as members of the national group«38, und betonte, dass sich − anders als im modernen Krieg, der Zwischenstaatlichkeit voraussetzt − die Angriffe nicht gegen einen Staat, sondern gegen »subjects and civilians« richten.39 Mit seiner vorweggeschickten Untersuchung der Territorialexpansion Nazideutschlands und der Maßnahmen zur Germanisierung der besetzten Gebiete fixierte Lemkin in Axis Rule in Occupied Europe. Laws of Occupation – Analysis of Government – Proposals for Redress (1944) den Tatbestand des Genozids in der Vernichtung 37 Deutsches Rotes K reuz, 2005, S. 170. 38 Lemkin, [1944] 2005, S. 79. 39 Ebd., S. 80. 225

Erinnerung und Intersektionalität

einer Nation oder nationalen Gruppe und unterschied ihn vom Vernichtungskrieg durch einen zugrundeliegenden Kriegsbegriff der Moderne. Es sei eine Errungenschaft der Moderne, dass Krieg, anders als in der Antike und im Mittelalter, sich auf Staaten und Armeen beschränke.40 Nach Lemkin vollzog sich der nationalsozialistische Genozid politisch, sozial, kulturell, wirtschaftlich, biologisch, physisch, religiös und moralisch nach einer ersten Phase der Zerstörung der Besonderheiten unterdrückter Gruppen in einer zweiten Phase, in der dem eroberten Territorium unter Duldung oder nach Vertreibung der unterdrückten Gruppe die nationalen Besonderheiten der Eroberergruppe auferlegt wurden.41 Lemkin knüpfte an sein Plädoyer für die Aufnahme des Tatbestands des Genozids in das Völkerrecht die Bedingung seiner Gültigkeit sowohl in Kriegs- wie in Friedenszeiten, sowohl bei inter- wie bei innerstaatlichen Verbrechen, geahndet nach dem Prinzip der internationalen Verfolgung, als delicta juris gentium bzw. Weltrechtsprinzip, das damals bei Verbrechen wie Menschen- und Kinderhandel, Piraterie, Drogenhandel u.a. bereits Gültigkeit hatte.42 Der Tatbestand des Genozids konnte vom Internationalen Kriegstribunal allerdings nicht rückwirkend als Grundlage für die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse verwendet werden. Stattdessen fanden dort die Rechtsfiguren Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Verbrechen gegen den Frieden und Kriegsverbrechen Anwendung. Die Rechtsprechung stützte sich auf das Londoner Statut vom 08.08.1945, in das die USA, die Sowjetunion, Großbritannien und die provisorische Regierung der Französischen Republik diese neuen Tatbestände aufgenommen hatten. Als Verbrechen gegen den Frieden wurden in Artikel 6 der das Statut ergänzenden Charta die Planung und Vorbereitung des Angriffskriegs sowie eine Mittäterschaft daran festgelegt, während als Verbrechen gegen die Menschlichkeit die Tötung, Ausrottung, Versklavung und Deportation der Zivilbevölkerung sowie ihre politisch, rassisch oder religiös motivierte Verfolgung im Zusammenhang mit der Jurisdiktion des Tribunals galten.43 Mit dem Londoner Statut als Rechtsgrundlage konnten die Verbrechen gegen die Menschlich40 41 42 43

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Ebd. Ebd., S. 82-90. Ebd., S. 90-94. »[…] namely, murder, extermination, enslavement, deportation, and other inhumane acts committed against any civilian population, before or during the war; or persecutions on political, racial or religious grounds in execution of or in connection with any crime within the jurisdiction of the Tribunal, whether or not in violation of the domestic law of the country where perpetrated« (International Military Tribunal, 1945, Art. 6).

Teil III – Staatsrepression und diskursiver Wandel

keit ausschließlich im Zusammenhang mit anderen Tatbeständen wie Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen den Frieden behandelt werden. Als Berichterstatterin des späteren Kriegsverbrecherprozesses gegen Adolf Eichmann in Jerusalem kritisierte Hannah Arendt die deutsche Übersetzung von »crimes against humanity« mit »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« als »das Understatement des Jahrhunderts« und argumentierte, diese seien »Verbrechen an der Menschheit«, da »die völkerrechtliche Ordnung der Welt und die Menschheit im ganzen dadurch aufs schwerste verletzt und gefährdet sind«. Sie führte an, das Londoner Statut habe diese Verbrechen als »unmenschliche Handlungen« definiert, und stellte ihre begriffliche Unterscheidung plastisch heraus: »als hätten es die Nazis lediglich an Menschlichkeit fehlen lassen, als sie Millionen in die Gaskammer schickten«.44 Mit der Anwendung des Tatbestands »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« als Kriegsverbrechen blieben viele der Untaten, die von den Angeklagten vor dem Kriegsausbruch gegen die eigene Bevölkerung begangen wurden, unbestraft. Zwei wichtige Neuerungen veränderten dennoch das internationale Recht nach Nürnberg 1946 nachhaltig: Einzelne Personen konnten nach dem Völkerrecht, unabhängig von der innerstaatlichen Gesetzesauffassung, für schwere Verstöße gegen Frieden und Menschlichkeit haftbar gemacht werden. Und zweitens: Die Prämisse der innerstaatlichen Souveränität hatte danach nicht mehr uneingeschränkt und unabhängig von der Art und Weise, wie ein Staat seine Bevölkerung behandelt, Gültigkeit.45 Im Rahmen der Nürnberger Verfahren gelangte der Nacht-und-Nebel-Erlass vom 07.12.1941 an die Öffentlichkeit, ein Führererlass, der offiziell »Richtlinien für die Verfolgung von Straftaten gegen das Reich oder die Besatzungsmacht in den besetzten Gebieten« betitelt war und als historische Präzedenz des Tatbestands des Verschwindenlassens und als Vorstufe der »Endlösung« nach der Wannseekonferenz gesehen wird. Der Erlass zielte darauf, den Widerstand in den besetzten Gebieten, wie Frankreich, Belgien, Niederlande und Norwegen (die Situation in Polen war gesondert geregelt), zu ersticken. 6.639 Personen wurden im Zusammenhang mit dem Erlass nachweislich als »NN-Sachen« bzw. »NN-Häftlinge« nach Deutschland verschleppt. Auch wenn damals nach den Akten der zuständigen Sondergerichte ihre Unschuld erwiesen war, sind sie danach spurlos verschwunden, ohne dass ihre Angehörigen je Nachricht über ihren Verbleib erhielten.46 Staatsanwalt Julio Strassera stellte 1999 eine Analogie zwischen der argentinischen Staatsrepres44 A rendt, [1964] 2007, S. 397-400. 45 Paul, 2008, S. 32. 46 Gruchmann, 1981, S. 342-396. 227

Erinnerung und Intersektionalität

sion und der Wirkung der von Hitler erlassenen Anweisung her: »[A]ngewendet wird die Methode […] von Hitlers Nacht-und-Nebel-Dekret aus dem Jahr 1941. Das bedeutet, dass die Familie, die Freunde und die gesamte Bevölkerung nichts über den Verbleib der verschleppten und beseitigten Menschen wissen.«47

2.2 Die Handlungsgrundlage: Die Genozidkonvention der Vereinten Nationen Auf das Wirken von Indien, Kuba und Panama hin eröffnete die Weltstaatengemeinschaft mit der UN-Resolution 96 vom 11.12.1946 die Debatte über die redaktionelle Festlegung des Genozids als Tatbestand des Völkerrechts. Raphael Lemkin wurde zusammen mit zwei weiteren Völkerrechtswissenschaftlern, Donnedieu de Vabres und Vespasian de Pella, vom UN-Sekretariat damit beauftragt, einen ersten Vorschlag zu entwerfen. Mit der Absicht, die Ausrottung von ethnischen, nationalen, sprachlichen, religiösen oder politischen Gemeinschaften zu unterbinden, wurde in Artikel I der ersten vom Generalsekretär unterbreiteten Fassung der Tatbestand des Genozids wie folgt definiert: I. [Protected groups] The purpose of this Convention is to prevent the destruction of racial, national, linguistic, religious or political groups of human beings. II. [Acts qualified as Genocide] In this Convention, the word ›genocide‹ means a criminal act directed against any one of the aforesaid groups of human beings, with the purpose of destroying it in whole or in part or of preventing its preservation or development.48

Der Entwurf definierte auch Ausprägungen des physischen, biologischen und kulturellen Genozids: [Physical genocide] Causing the death of members of a group or injuring their health or physical integrity by: (a) group massacres or individual executions; or (b) subjection to conditions of life which, by lack of proper housing, clothing, food, hygiene and medical care, or excessive work or physical exertion are likely to result in the debilitation or death of the individuals; or (c) mutilations and biological experiments imposed for other than curative purposes; or (d) deprivation of all means of livelihood, by confiscation of 47 Garzón R eal, 1999, S. 146. 48 United Nations, 1947, o. S. 228

Teil III – Staatsrepression und diskursiver Wandel property, looting, curtailment of work, denial of housing and of supplies otherwise available to the other inhabitants of the territory concerned. [Biological genocide] Restricting births by: (a) sterilization and/or compulsory abortion; or (b) segregation of the sexes; or (c) obstacles to marriage. [Cultural genocide] Destroying the specific characteristics of the group by: (a) forcible transfer of children to another human group; or (b) forced and systematic exile of individuals representing the culture of a group; or (c) prohibition of the use of the national language even in private intercourse; or (d) systematic destruction of books printed in the national language or of religious works or prohibition of new publications; or (e) systematic destruction of historical or religious monuments or their diversion to alien uses, destruction or dispersion of documents and objects of historical, artistic, or religious value and of objects used in religious worship.49

Bereits im ersten Entwurf spielten für den Tatbestand des Genozids weder die Anzahl der Opfer noch der Grad der Grausamkeit des Vorgehens eine Rolle; vielmehr bildeten die Identität der Opfer als Gruppe, die Absicht der Ausrottung und die Planmäßigkeit ihrer Durchführung den Kern der Definition. Im ersten Vorschlag wurde auch zwischen Genozid und Völkermord unterschieden. Diese Distinktion ist für den deutschen Sprachraum von Bedeutung, weil hier oftmals ein Verständnis des Begriffs vorherrscht, das von der Wortbildung herrührt. Im Deutschen werden »Genozid« und »Völkermord« synonym verwendet, zumal die Vokabel »Völkermord« einen elementaren Bezug zum Wort »Volk« herstellt und damit zwei unmittelbare Assoziationen hervorruft: den (speziellen) Fall des ethnisch motivierten Genozids und die historische Begebenheit der Shoah. Dabei ist der Begriff »Genozid« – wie dargelegt − weder mit dem Alltagsgebrauch von »Völkermord« noch mit »Massenmord« synonym, sondern ein Tatbestand des internationalen Rechts. Es waren Nationen wie Panama, Indien, Kuba, Ägypten, China, Libanon, Venezuela und Brasilien, d.h. periphere Staaten, die die Verhandlungen über die zahlreichen Entwürfe und die Vollversammlungen bis zum endgültigen Beschluss trugen. Bedenken gegen den Wortlaut der Konvention wurden hauptsächlich von Frankreich und dem Vereinigten Königreich vorgebracht und hingen mit der Verbindung zwischen Krieg und Genozid zusammen. Die Sowjetunion beantragte, im Wortlaut zu vermerken, dass der Genozid mit dem Faschismus und dem Nationalsozialismus und ähnlichen Ideologien organisch verbunden sei. Frankreich regte erst an, Genozid als einen Sonderfall der Ver49 Ebd. 229

Erinnerung und Intersektionalität

brechen gegen die Menschlichkeit und ausschließlich als Kriegsverbrechen zu behandeln; später schlug der Vertreter Frankreichs vor, in der Präambel einen Bezug zu den Nürnberger Tribunalen herzustellen. Vor dem Hintergrund des beginnenden Kalten Kriegs lässt sich in den zahlreichen Anträgen und Gegenanträgen nachspüren, wie dünn das diplomatische Eis damals war. Denn Genozid in Friedenszeiten anzuerkennen, brachte die Möglichkeit mit sich, innerstaatliche Politiken im Umgang mit der eigenen Bevölkerung in die Beobachtung aufzunehmen. Dies war für die führenden Länder selbst jedoch eine enorme Herausforderung, man bedenke insbesondere die ersten Berichte über die Gulags von Gustaw Herling, die zu jener Zeit in die Öffentlichkeit drangen. Das Konsensergebnis nahm weder Bezug auf Nürnberg noch auf die Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Der Tatbestand des Genozids wurde 1948 als distinktes Verbrechen in das Völkerrecht einbezogen, jedoch zu dem Preis, dass die Definition sehr eng gefasst wurde. Hinzu kam, dass nach dem Territorialitätsprinzip Artikel 6 die Gerichtsbarkeit so definierte, dass diese den Tribunalen des Landes obliegt, in dem der Genozid begangen wurde. Diese für das Verständnis der Staatssouveränität zentrale Tatsache birgt jedoch fundamentale Probleme in sich. So wird nicht nur vorausgesetzt, dass nach den Verbrechen und bis zum Regimewechsel ausreichende gerichtlich verwertbare Beweise zur Überführung der Täter vorhanden bzw. übrig geblieben sind, was im Falle der argentinischen Repression, wie oben dargestellt, nicht der Fall war, sondern auch, dass bis dorthin eine radikale diskursive Umkehrung stattgefunden hat, die eine Rechtsprechung dort legitim machen kann, wo bis kurz davor massives Leiden möglich war. Diese Schwierigkeiten werden im Fall Argentiniens klar zu Tage gefördert, betrachtet man die tiefe Verankerung diskriminierender diskursiver Praktiken und den langen Schatten gesellschaftlicher Angst, die Staatsterror hinterlässt. Die Definition des Tatbestands des Genozids schließt die totale oder partielle Ausrottung rassischer, ethnischer, nationaler und religiöser Gruppen ein, lässt aber politische Gruppen genauso aus wie Maßnahmen zur Unterwerfung einer Gruppe, die massives Töten in Kauf nehmen, denen aber die Absicht der partiellen oder totalen Ausrottung nicht nachgewiesen werden kann.50 Die Genozidkonvention trat am 12. Januar 1951 in Kraft und definiert bis heute in Artikel II Genozid als eine der folgenden Handlungen, begangen in der Absicht, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe ganz oder teilweise zu zerstören: das Töten von Angehörigen der Gruppe; das Zufügen von schweren körperlichen oder seelischen Schäden; das Stellen unter Lebensbedingungen, die auf die völlige oder teilweise physische Zerstörung abzielen; die Anordnung 50 Schabas, 2008, S. 35-55. 230

Teil III – Staatsrepression und diskursiver Wandel

von Maßnahmen zur Geburtenverhinderung; die gewaltsame Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe.51 Als besonders problematisch für die Anwendbarkeit der Konvention stellte sich heraus, die Absicht der Tötung nachzuweisen. Das Außerachtlassen von politischen und sozialen Gruppen in der Definition schränkte die Anwendung des Tatbestands auf die zahlreichen Fällen der nachfolgenden Jahre weitgehend ein.

2.3 Der Handlungsbedarf: Die Anwendbarkeit des Genozid-Tatbestands Auch wenn die Singularität der Verbrechen der Deutschen während der nationalsozialistischen Herrschaft außer Zweifel steht und die gründliche und systematische, mit der Logik industrieller Präzision verfolgte Auslöschung der jüdischen Bevölkerung europaweit und im eigenen Land beispiellos ist, so kann die Tötung von etwa einer Viertelmillion Angehöriger der Sinti und der Roma sowie die systematische Verschleppung und Ermordung von über 10.000 Homosexuellen und mehr als 70.000 psychisch Kranken und Behinderten – neben der blutigen Verfolgung von (Links-)Oppositionellen – nicht vergessen werden. Die Vernichtung nach den Prinzipien der rassischen Hygienelehre des Nationalsozialismus bildet ein singulär entmenschtes, noch nicht da gewesenes Ereignis, sie ist aber nicht die erste grausame Massentötung des 20. Jahrhunderts. Um die Divergenz zwischen der konzeptuellen Anwendbarkeit des Genozidbegriffs und den historischen Ereignissen zu illustrieren, werden auf den folgenden Seiten andere Ereignisse des Jahrhunderts in Erinnerung gerufen. Im Zuge der deutschen Kolonialherrschaft in Südwestafrika verübte Preußens kaiserliche Armee unter der Leitung von Lothar von Trotha bereits 1904 einen Völkermord an den Herero und Nama im heutigen Namibia. Die Kenntnis darüber ist heute in Deutschland wenig präsent; vielmehr herrscht im Allgemeinen die Meinung, Deutschland hätte keine koloniale Vergangenheit und die Shoah sei der erste ethnisch motivierte Massenmord der eigenen Geschichte.52 Das korreliert mit der Tatsache, dass die Bundesregierung die Massaker bis heute immer noch nicht als Völkermord anerkennt.53 Mit dem Großbrand der Staatsarchive in Brüssel im Sommer 1908 wurden jene Dokumente beseitigt, die Auskunft über die blutrünstige Kolonialherrschaft 51 Vereinte Nationen, 1948, Artikel II. 52 Vgl. u.a. Barth, 2006, S. 128-136; Benz, 2006, S. 27-53; Böttger, 2004, S. 185215; Brehl, 2004, S. 216-231. 53 Vgl. Munzinger, 2015, o. S. 231

Erinnerung und Intersektionalität

von König Leopold II. in Belgisch-Kongo hätten geben können, bei der zwischen 1888 und 1908 geschätzte 10 Mio. Menschen für die Profitoptimierung der Kautschukgewinnung durch Sklaverei und Zwangsarbeit starben, während Millionen Überlebende die Brandmarkungen der menschenverachtenden Behandlung durch die Kolonialherren davontrugen. Die Anwendung der Rechtsfigur des Genozids auf den Völkermord an den Armeniern durch die Jungtürken 1915/16 ist historisch gesehen weitgehend anerkannt. Für den Zeitraum von März 1915 bis Dezember 1916 geht die Genozidforschung von etwa 1,1 Mio. Todesopfern aus. Bis heute jedoch stuft die offizielle türkische Geschichtsschreibung die Ereignisse als bürgerkriegsähnliche Zustände ein. Grund dafür ist, dass die Homogenisierungsbestrebungen, die zu den Massakern geführt hatten, gleichzeitig als Gründungsmythos der modernen Türkei in den jetzigen Grenzen gelten. Dieser Umstand sorgte im Jahr 2015, als sich der Beginn des Völkermords zum 100. Mal jährte, für eine kontroverse Debatte in den Medien und große Aufregung in der europäischen Diplomatie.54 Ebenfalls im Zeichen der Prozesse der Nationenbildung haben in China Warlords (1916-28) und Nationalisten (bis 1949) die Bevölkerung um geschätzte 950.000 bzw. 10 Mio. zivile Opfer dezimiert; außerdem tötete die japanische Armee am Rande des Chinesisch-Japanischen Kriegs Ende der 30er Jahre wahllos chinesische Zivilisten, darunter im Massaker von Nanking 1937. Dabei wurden schätzungsweise 200.000 Menschen im ersten als solchen erkannten Genderzid, der geschlechterdifferenzierten gezielten Massentötung, grauenvoll umgebracht.55 Zu den Massenverbrechen, die den Tatbestand des politischen Massenmordes erfüllen, aber nicht als solche bekannt sind, zählen auch der ukrainische Holodomor56, die verheerende Hungerkatastrophe von 1932/33, und 54 Es gibt auch Bemühungen, den vernichtenden Zug der Jungtürken gegen das Assyrer-Suryoye-Volk (mit 500.000 Opfern) und gegen christlich-orthodoxe Griechen aus Pontos, Kleinasien und Thrakien als Genozid anzuerkennen (vgl. das Portal der Arbeitsgruppe Anerkennung gegen Völkermord und für Völkerverständigung e.  V. unter: ›www.aga-online.org/aboutus/index.php?locale=de‹, 27.07.2015). 55 Vgl. Jones, o.J.b, o. S. 56 Holodomor (ukrainisch holod »Hunger« und mor »auslöschen«) wird der systematisch geplante und herbeigeführte Hungertod von, je nach Einschätzung, zwischen 3,5 und 15 Mio. sogenannten Kulaken und Anhängern Symon Petljuras in der Ukraine genannt, der von Stalin im Rahmen der Kollektivierung und Entkulakisierung der Sowjetunion Anfang der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts angeordnet wurde (vgl. u. v.a. ›www.holodomorct.org/index.html‹, 27.07.2015). 232

Teil III – Staatsrepression und diskursiver Wandel

die Ermordung von über einer Million Parteimitgliedern in der Zeit des stalinistischen großen Terrors 1937/38 in der damaligen Sowjetunion. In den 60 Jahren ihrer Gültigkeit war die Genozidkonvention keine wirksame Abschreckung vor der Verfolgung und Auslöschung ganzer Menschenkategorien. In diesen Jahren, die für die führenden Länder der Erde als Friedenszeiten gelten, wurden erschreckend viele Zivilisten Opfer massiver Tötungen. Barbara Harff beziffert ihre Zahl für die Zeit von 1945 bis heute auf mindestens 12 und bis zu 22 Millionen.57 Mit 80 Mio. zivilen Opfern übertrifft Rudolph Rummels Einschätzung um einiges Harffs Zahlen, wenn er betont: The low estimate for twentieth century mass murders, 80,000,000 comes mainly from sources sympathetic to the governments that carry out the murders! […] From a moral standpoint I doubt if it matter much whether the number is 80,000,000 or 170,000,000 or 300,000,000. It’s an unprecedented human and moral catastrophe.58

Die extrem unterschiedlichen Zahlen, mit denen diese beiden anerkannten Genozidexperten operieren, illustrieren mit großer Deutlichkeit, dass die Anzahl ausgelöschter Menschenleben sowohl für den gesamten Zeitraum als auch bei jeder einzelnen der hier angesprochenen Massenvernichtungen nicht durch eindeutig dokumentierte Zahlen belegt, sondern nur durch (grobe) Schätzungen bezifferbar ist. Fest steht jedoch, dass in den bis heute fast 50 als Genozid oder Politizid (politisch motivierter Massenmord, der aber nicht Bestandteil der Genozidkonvention ist) definierten Ereignissen mehr Menschen umgebracht wurden, als in allen inter- und innerstaatlichen Konflikten und Kriegen dieser Zeit zusammen. Seit dem Zweiten Weltkrieg gelten lediglich die Massentötungen in Ruanda im Jahr 1994 als ein eindeutiger Fall von Genozid.59 Nachdem Tutsi und moderate Hutu aus ihrem ugandischen und burundischen Exil zurückgekehrt waren, wohin sie nach dem Politizid von Dezember 1963 bis Juni 1964 mit seinen 20.000 Opfern geflohen waren, sollten sie an der neuen Regierung des Heimatlandes beteiligt werden. Dies wurde jedoch von Hutu-Extremisten kategorisch abgelehnt. Die feindselige Einstellung stützte sich auf einen Diskurs ethnischer Überlegenheit, der auch die Massaker unterschiedlicher Grö57 Harff, 2003, S. 57. Wenn nicht anders vermerkt, sind die in diesem Kapitel erwähnten Ereignisse und genannten Zahlen Barbara Harffs im Auftrag der US Naval Academy durchgeführten Arbeit entnommen. 58 Rummel, 2002, S. 165. 59 Barth, 2006, S. 62-127. 233

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ßenordnungen rechtfertigte, die auf beiden Seiten vorausgegangen waren. Die ethnisierte Gewalt, die als Erbe der rassischen Segregationspolitik der belgischen Kolonialzeit über 30 Jahre eskaliert war60, schlug sich dann angesichts der Friedensbestrebungen erbarmungslos in einem Genozid nieder. Zwischen April und Juni 1994 starben innerhalb von 100 Tagen rund 800.000 Menschen61, wobei Boris Barth von 950.000 namentlich Identifizierten62 spricht. Kurz vor dem Ausbruch der Gewalt waren die Blauhelmsoldaten, die den Friedensprozess beobachten sollten, abgezogen worden; die Staatengemeinschaft verfolgte das Massensterben untätig und weigerte sich konsequent, darin einen Genozid zu erkennen, um in der Folge nicht intervenieren zu müssen.63 Misst sich die Konvention an diesem Ereignis, so muss sie spätestens dann die Absicht eines »Nie wieder!«, die die Prämisse ihrer Entstehung war, für gescheitert erklären. Aber nicht erst Ruanda 1994 zeigte die fehlende Abschreckungswirkung der Völkerrechtsregelung. Schon jene Ereignisse, die bereits 30 Jahre früher stattgefunden hatten, hätten die internationale Völkergemeinschaft über die Plausibilität der Anwendung des Genozidtatbestands nachdenken lassen müssen. Denn die erste verheerende unter Genozidverdacht stehende Massentötung nach dem Zweiten Weltkrieg ereignete sich 1965 unter General Suharto in Indonesien. Die kommunistische Partei des bevölkerungsreichen Staats galt als die drittgrößte weltweit, bevor zahlreiche ihrer Mitglieder sowie Sympathisanten durch putschende Teile der Armee abgeschlachtet wurden. So starben zwischen Oktober 1965 und Januar 1966 in der »Musim Parang«, der Saison der Hackmesser, eine halbe bis eine Million Menschen und weitere 750.000 wurden über viele Jahre hinweg in Gefängnissen und Konzentrationslagern inhaftiert. Nach ihrer Freilassung wurden sie durch eine entsprechende Kennzeichnung in ihren Personalausweisen, die die Wiedereingliederung erschwerte, nachhaltig stigmatisiert. Ähnlich massiv war das Vorgehen Suhartos im kleinen östlichen Teil der Insel Timor nach seinem Einmarsch in die damalige portugiesische Kolonie im Dezember 1975. Bis 1979 wurden rund 200.000 Menschen getötet und Suharto zwang sich durch Inhaftierungen, fehlende ärztliche Betreuung und Mangelernährung der Bevölkerung auf.64 Osttimor ersuchte im Jahr 1999 um seine Unabhängigkeit, durfte sich aber nicht ohne weiteres von Indonesien ablösen, denn als die Osttimoresen in einem Referendum für die Unabhängigkeit stimmten, 60 61 62 63 64 234

Ebd., S. 114. Harff, 2003, S. 60. Barth, 2006, S. 112. Für eine journalistische Zusammenfassung der Ereignisse siehe Bitala, 2008. Chomsky, 1999, S. 123-135.

Teil III – Staatsrepression und diskursiver Wandel

schlugen paramilitärische Truppen indonesischer Herkunft zu und hinterließen bis zu 3.000 tote Zivilisten. Ebenfalls im Rahmen der strategischen Grausamkeit des Kalten Krieges kann die Virulenz des Versuchs der kommunistischen Regierung von Pol Pot, einen ethnisch homogenen Bauernstaat zu etablieren, geortet werden. Zwischen April 1975 und Januar 1979 verloren in Kambodscha 2 Mio. Menschen ihr Leben, unter ihnen Buddhisten, Geistliche und Mönche, die Angehörigen des Volkes der Cham und anderer Ethnien sowie, und vor allem, Menschen, die mit Bildung in Verbindung gebracht wurden.65 Das erste Urteil des aus dem Römischen Statut von 1998 entstandenen Internationalen Strafgerichtshofs galt den Verantwortlichen der kambodschanischen Roten Khmer und wurde erst im Juli 2010 verkündet.66 Nach Harff haben im asiatischen Raum weitere Politizide stattgefunden, die nicht dem Tatbestand des Genozids zugeordnet werden können: Südvietnam (1/65-4/75) mit bis zu 500.000 Opfern, Philippinen (9/726/76) mit 60.000 Toten sowie Sri Lanka (Ende 1989) mit bis zu 30.000 Opfern. In Burma/Myanmar verursachte im Jahr 1978 eine rassistische, religiöse und politische Stigmatisierung einen Teilgenozid am Rohingya-Volk mit 5.000 Opfern sowie die darauffolgende Massenflucht von Überlebenden ins benachbarte Bangladesch mit dem konsequenten humanitären Notstand in der Region, der bis heute andauert. Genozidforscher Rudolph Rummel bescheinigt den Einwohnern des Vielvölkerstaats China, im letzten Jahrhundert so sehr kaltblütigen Massenmorden ausgesetzt worden zu sein wie kein anderes Volk außer den Sowjetbürgern.67 Neben der tödlichen Hungersnot zwischen 1958 und 1961, deren Ursprung im Zusammenwirken von Dürren und von Fehlplanungen im Programm »Großer Sprung nach vorn« auszumachen ist und die bis zu 45 Mio. Menschen das Leben gekostet haben soll, fanden 1959 in China ein Genozid an Tibetern mit 65.000 Opfern und ein Politizid an Regimegegnern statt. Unter den Aufrufen zur Revolution und zur Errichtung einer »neuen Welt« ereignete sich bei der grausamen Erstickung jeglichen Dissenses im Rahmen der Kulturrevolution (1966-75) ein weiterer Politizid, den Harff mit fast 850.000 Opfern68 und Rummel mit 1,6 Mio.69 beziffert.

65 Barth, 2006, S. 148-163. 66 Für einen fotojournalistischen Rückblick siehe: ›www.spiegel.de/fotostrecke/fotostrecke-57514.html‹, 02.08.2015. 67 Rummel, [1994] 2003, S. 79. 68 Harff, 2003, S. 57. 69 Rummel, [1994] 2003, S. 84. 235

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Schon vor Ruanda 1994 gab es in Afrika Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Für die Etablierung seiner autokratischen Regierung bediente sich der ugandische Diktator Idi Amin von 1971 bis 1979 der Verfolgung und Ermordung von über 300.000 und bis zu 400.000 Menschen, während infolge seines Afrikanisierungsprogramms alle Einwanderer asiatischer Herkunft des Landes verwiesen wurden. Sein Vorgehen wurde durch die Völkergemeinschaft weder geächtet noch zumindest durch das Verhängen eines Waffenembargos eingedämmt. Noch weitgehend unbekannt scheinen die Politizide und ethnisch orientierten Massaker zu sein, denen in Uganda im Anschluss an Amins Regime (zwischen 1980 und 1986) bis zu einer halben Million Menschen zum Opfer fielen.70 Auf dem seit Jahrhunderten stark gebeutelten Kontinent bleiben zahlreiche Politizide und Genozide den hier bisher erwähnten hinzuzurechnen: Im Sudan sind zwischen Oktober 1956 und März 1972 bis zu 600.000 Opfer und von September 1983 bis heute weitere 2 Mio. zu verzeichnen. In Kongo-Kinshasa (ehemals Zaire) starben 1964/65 in einem Politizid bis zu 10.000 Menschen, 4.000 fielen einem weiteren zwischen 1977 und 1979 zum Opfer. In Burundi wurde in den Jahren 1965 bis 1973 das Blut von 140.000 Zivilisten vergossen, seit 1993 wurden dort im Schatten des Ruanda-Genozids laut Harff 50.000 Zivilisten71, laut der Süddeutschen Zeitung bis zu 300.00072, Opfer des rassistischen Hasses zwischen Hutu und Tutsi. In Angola starben zwischen 1975 und 2001 eine halbe Million Menschen in den Händen der UNITA und der Regierungskräfte, während Äthiopien 10.000 Menschenleben im Politizid 1976-79 verlor und in Somalia staatliche Truppen zwischen 1988 und 1991 wahllos fast 50.000 wehrlose Zivilisten ermordeten. In Nordafrika sowie im Nahen und Mittleren Osten erlebten Zivilisten in diesen Jahren des europäischen Friedens ebenfalls das Grauen des schutzlosen Massensterbens. Nach den Aufzeichnungen der Genozidforscherin Barbara Harff starben in Algerien im Jahr 1962 bis zu 30.000 Zivilisten. In Bezug hierzu steht das Massaker an den Harkis, dem andere Autoren bis zu 150.000 Opfer bescheinigen.73 Diese algerischen Moslems, die im Algerienkrieg74 auf der Seite der französischen Kolonialherren gekämpft hatten, ergriffen danach in großer Zahl mit anderen »pied-noirs« die Flucht nach Frankreich. Die während des 70 71 72 73 74

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Harff, 2003, S. 60. Ebd. Vgl. R aupp, 2010, o. S. Vgl. K rusche, 2001, o. S. Im Algerienkrieg (1956-62) starben 1 Mio. Zivilisten auf algerischer, 28.000 Soldaten und 5.000 Zivilisten auf französischer Seite.

Teil III – Staatsrepression und diskursiver Wandel

grausamen Unabhängigkeitskrieges mit der Losung »La valise ou le cercueil« [Koffer oder Sarg] ausgesprochene Warnung an die Kollaborateure wurde nach Beendigung des Konflikts von Juli bis Ende des Jahres 1962 eingelöst: Den der Kollaboration verdächtigten Algeriern wurde ihr französischer Nationalismus mit Folterungen und Ermordungen heimgezahlt. Im Nordirak verübte die Baath-Partei in der Zeit zwischen 1963 und 1975 einen Genozid mit bis zu 60.000 Opfern, als sie die Unabhängigkeitsbestrebungen der Kurden zu verhindern versuchte. Das Morden erzielte das Gegenteil der erwarteten Wirkung und führte 25 Jahre später zur Al-Anfal-Operation (März 1988 bis Juni 1991). Bei dieser durch Saddam Hussein geleiteten Operation starben in Giftgasbombardements, Massakern und Konzentrationslagern laut Harff 180.000 Zivilisten. In einer als Genozid an der kurdischen Bevölkerung des eigenen Landes einzustufenden Kampagne wurden im Irak ganze Familien und Dörfer ausgelöscht, wobei Männer im kampffähigen Alter besonders im Fadenkreuz standen und Opfer eines Genderzids wurden. Auch im Iran wurden kurdische Zivilisten auf Befehl der Islamischen Revolution (1981-92) zusammen mit Mujaheddin und Angehörigen der Bahais umgebracht, insgesamt bis zu 20.000 Personen. Im Zuge der Entstehung des Staates Bangladesch, früher Ostpakistan, und bevor die Heere (West-)Pakistans erst durch die offene Unterstützung Indiens von den Bengalen ließen, wurden im Jahr 1971 zwischen 1 und 3 Mio. wehrlose Zivilisten umgebracht.75 Das Vorgehen der pakistanischen Armee gegen Frauen jeden Alters wird inzwischen als Genderzid gedeutet.76 Pakistan taucht in den Statistiken mit weiteren bis zu 10.000 Opfern zwischen März 1973 und Juli 1977 auf, als zwischen der pakistanischen Armee und den Unabhängigkeitskämpfern der Belutschen Krieg um die bevölkerungsarme und bodenschatzreiche Provinz Belutschistan herrschte. In der Zeit der Demokratischen Republik von Afghanistan (1978-92) und des über das ganze Land zerstreuten Widerstands der Mujaheddin gegen die Sowjets und die Zentralarmee stiegen die Zahlen eines Politizids am eigenen Volk auf 1,8 Millionen. In Syrien erstickten die Soldaten von Hafez al-Assad zwischen April 1981 und Februar 1982 den Aufstand der Muslimbruderschaft in den Städten Hama und Aleppo und begingen einen Politizid mit bis zu 30.000 toten Zivilisten. Im Rahmen des »Arabischen Frühlings« (Dezember 2010) wurde Bezug auf jene Wunden genommen, die Gewalt eskalierte. Bis Ende 2014 schätzten die Vereinten Nationen etwa 200.000 Toten in dem Konflikt. Die Zahl der Binnenflüchtlinge lag bei 7,6 Mio., weitere rund 4 Mio. Menschen waren in andere Länder ge75 Rummel, [1994] 2003, S. 277. 76 Vgl. Jones, o.J.a, o. S. 237

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flohen. Laut Amnesty International verüben bei diesem bürgerkriegsähnlichen Konflikt mit unterschiedlichen Akteuren und sich wandelnden Allianzen Regierungskräfte und nichtstaatliche bewaffnete Gruppen weitreichende Kriegsverbrechen und schwere Menschenrechtsverstöße, die nicht geahndet werden.77 Die einzigen – aber nicht weniger grausamen − Massenmorde, die nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa begangen wurden, sind die Pogrome der serbischen Soldaten und Paramilitärs, die sich zwischen Mai 1992 und November 1995 gegen rund 225.000 bosnische Muslime in Exjugoslawien richteten, unter ihnen das Massaker vom Juli 1995 in Srebrenica. Mit dem Zerfall Exjugoslawiens wurde die Gruppe bosnischer Muslime durch Folter, Vergewaltigung und Mord zur Umsiedlung gezwungen; ihre Unterkünfte wurden zerstört, ihr Eigentum geraubt. Die UN-Generalversammlung übernahm die euphemistische Bezeichnung der »ethnischen Säuberungen« aus dem Balkan und stufte in der Resolution 780 des Sicherheitsrats die Verbrechen als »eine Form von Völkermord« ein.78 Serbische Milizen töteten während des Kosovo-Kriegs zwischen Dezember 1996 und Juli 1999 um die 10.000 Zivilisten, die meisten von ihnen Kosovo-Albaner. Lateinamerika bildet keine Ausnahme in der langen Liste blanker Ohnmacht durch Geno-/Politizide seit dem Zweiten Weltkrieg.79 Den Bürgerkrieg, der von 1960 bis 1996 in Guatemala tobte, versuchten regierungsnahe Truppen des Paramilitärs für sich zu gewinnen, indem sie ab Juli 1978 und bis Dezember 1996 zu systematischen und breitangelegten Massakern an vermuteten Linken bzw. an der indigenen Mayabevölkerung griffen. 96 % der Opfer waren Angehörige der 22 Mayavölker. Mehr als 626 Mayadörfer wurden dabei zerstört, 150.000 Menschen nachweislich ermordet, weitere 50.000 gelten heute noch als verschwunden.80 Dem Genozid an den Maya folgte die Vertreibung von über einer Million 77 A mnesty International, 2015, o. S. 78 Cherif Bassiouni /Manikas, 1994, o. S. 79 Im Folgenden werden lediglich Ereignisse erwähnt, die in einem um Politizid erweiterten Genozidkonzept als Genozide eingestuft werden können. Unterstrichen sei dennoch, dass nur wenige Länder Lateinamerikas (Mexiko, Costa Rica, Ecuador) von den Folgen von Bürgerkriegen und blutigen Diktaturen verschont wurden, die seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs Lateinamerika erschüttert haben. 80 Die zufällige Entdeckung des Archivs der Nationalpolizei Guatemalas (AHPN) nach einer Explosion in einem Nebengebäude der aktuellen Polizeischule weckte im Juli 2005 große Erwartungen bei der Aufklärung der illegalen guatemaltekischen Staatsrepression. Das Archiv beinhaltet knapp 80 Mio. Dokumente, die bis ins Jahr 1882 zurückreichen und die lange Historie repressiver Maßnahmen durch 238

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Menschen. Die Schwierigkeiten der Überlebenden in einer Gesellschaft, die die junge Vergangenheit verdrängt, werden durch die noch andauernde Diskriminierung der indigenen Bevölkerung verstärkt, zumal die rassistische Gewalt mit dem Ende der Diktatur nicht beendet war.81 Im April 2010 schätzte die Gesellschaft für bedrohte Völker die Zahl von Mayafrauen, die seit dem Jahr 2000 Opfer eines Feminizids wurden, auf 4.867.82 Für Chile rekonstruierte Barbara Harff 10.000 Fälle von wehrlosen Zivilisten, die in Verbindung mit dem Sturz der demokratischen Regierung von Salvador Allende getötet wurden. Die Verbrechen der Repression in Chile erreichten in der Zeit zwischen September 1973 und Dezember 1976 ihren Höhepunkt, als die Sicherheitskräfte unter dem Befehl von General Pinochet Allendes Anhänger festnahmen, folterten, verschwinden ließen, hinrichteten, ins Exil zwangen. Die Zahl der Ermordeten/Hingerichteten wird auf 2.095 geschätzt, während 1.102 Menschen verschleppt wurden und bis heute spurlos verschwunden sind. Die politischen Gefangenen, die meistens auch zu den Gefolterten zu rechnen sind, werden auf zwischen 11.000 und 95.000 beziffert, wobei die Comisión Ética contra la Tortura von bis zu 500.000 Folteropfern83 spricht. Diese letztere Schätzung erscheint plausibel, wenn bedacht wird, dass Verhaftete in Chile nicht nur in den circa 1.200 Haftzentren und Gefängnissen, sondern auch in den Kellern der eigenen Häuser gefoltert wurden (darauf bezieht sich z.B. der Schriftsteller Roberto Bolaño in seinem Nocturno de Chile). Fast 100.000 Personen verloren ihre Beschäftigung aufgrund politischer Verfolgung, andere wurden in abgelegene Regionen verbannt, während bis zu 600.000 Personen den Weg ins Exil beschreiten mussten. Bis zum Ende der Diktatur Pinochets im März 1990 wurden vom Friedenskomitee und von der Vicaría de la Solidaridad 45.000 Fäl-

die inzwischen aufgelöste Nationalpolizei (PN) belegen. Unter dem Titel Del Silencio a la memoria – Revelaciones del Archivo histórico de la Policía Nacional fasste das AHPN die vorgefundenen Informationen zusammen und veröffentlichte sie im Jahr 2011 (das Buch ist online abrufbar unter: ›www.albedrio.org/htm/ documentos/DelSilencioalaMemoria-AHPN.pdf‹, 28.07.2015). Eine filmische Aufbereitung der Entdeckung des Archivs und seines Inhalts sowie eine Darstellung der Erwartungen der von der Repression betroffenen Familien zeigt der deutsche Filmemacher Uli Stelzner in seinem Dokumentarfilm La Isla – Archives of a Tragedy (Deutschland/Guatemala 2009). 81 Garrard-Burnett, 2001, S. 68-78. 82 Hantzsche, 2010, o. S. 83 Strassner, 2007, S. 233. 239

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le von Menschenrechtsverletzungen in über 85.000 Dokumenten84 registriert. Am 28.11.2004 stellte Präsident Lagos der Öffentlichkeit den Abschlussbericht der Comisión Nacional sobre Prisión Política y Tortura vor, in dem die Namen von 27.153 Personen aufgeführt werden, die die Folter als Staatspraxis erlitten haben. Ein zweiter Bericht der sogenannten Comisión Valech beziffert die Opfer der Repression auf 40.018 Personen, darunter 3.065 Tote und Verschwundene zwischen September 1973 und März 1990.85 Eine Entschädigungspolitik für die Opfer der Repression unter Pinochet findet seit 2004 statt. Im Jahresbericht 2011 stellte die Comisión Ética Contra la Tortura allerdings ein Weiterbestehen der Folterpraxis in Chile fest, aktuell in der Kriminalisierung und Repression des Volkes der Mapuche zu finden, das im Süden Chiles um Anerkennung und den Erhalt seines Lebensraumes kämpft.86 El Salvador wurde von Januar 1980 bis November 1989 Schauplatz eines Politizids, bei dem Menschenrechtsaktivisten von mindestens 75.000 zivilen Todesopfern und 8.000 Verschleppten-Verschwundenen ausgehen.87 In diesem Bürgerkrieg, der durch die Beteiligung der USA in Form von Beratern, Trainings und militärischen Etats schon als »zweites Vietnam«88 bezeichnet wurde, versuchte die Guerilla Frente Farabundo Martí para la Liberación Nacional (FMLN) dem Militär nach fast 40 Jahren Alleinherrschaft die Kontrolle des Landes abzuringen. Die Verankerung des FMLN in der Landbevölkerung, nicht zuletzt bereits im Namen – der an den Führer des Aufstands von 1932, Farabundo Martí, und somit gleichzeitig an das Massaker an etwa 30.000 indigenen Kleinbauern und -bäuerinnen erinnert89 −, versuchten die regierungsnahen Trup84 A rzobispado de Santiago, o.J. 85 Vgl. Délano, 2011, o. S. 86 Für ausführliche Informationen vgl. Comisión Ética Contra la Tortura, 2011. 87 Fingscheidt, 2007, S. 1. 88 El Salvador – Another Vietnam ist der Titel des Dokumentarfilms von Glenn Silber, der im Jahr 1981 für den Oscar der amerikanischen Academy of Motion Picture Arts and Sciences als »Best Documentary Feature« nominiert wurde. 89 General Hernández Martínez schlug den Aufstand der Kleinbauern im Zeichen der kommunistischen Revolte nieder, indem er alle der Teilnahme am Kampf verdächtigten Männer über 18 Jahren in den Bezirken von Ahuachapán, Sonsonate und La Libertad ohne Gerichtsverfahren erschießen ließ (Genderzid); dieses Massaker, »La matanza«, war eine beispiellose Bluttat, die zur Folge hatte, dass die indigene Bevölkerung der Pipil von ihren Traditionen und ihrer Sprache (Nawat) abließ und jahrzehntelang nicht wagte, sich zu reorganisieren (Fingscheidt, 2007, S. 2). 240

Teil III – Staatsrepression und diskursiver Wandel

pen durch Flächenbombardements und Massaker zu kappen. Die Todesschwadronen wurden von Militär, Nationalgarde, Finanzpolizei und ausgewählten Zivilisten gebildet; sie schreckten nicht davor zurück, auch wehrlose Geistliche90 zu erschießen. Die Guerillas suchten in den Armenvierteln und den Dörfern Deckung, was die Zivilbevölkerung in hohem Maße gefährdete und in der Folge die Zahl der zivilen Toten anwachsen ließ. Fast eine Million Menschen flohen in die Flüchtlingslager entlang der Grenze nach Honduras. Im Anschluss an das Friedensabkommen von Chapultepec (16. Januar 1992) setzte die UN eine Wahrheitskommission ein, die in ihrem Bericht91 vom Mai 1993 die Verantwortlichen für zahlreiche Fälle von Menschenrechtsverletzungen namentlich auflistete. Die Regierung von El Salvador amnestierte wenige Tage später alle Kriegsverbrecher. Als verschwunden gelten bis heute mindestens 8.000 Personen. Auch wenn der inzwischen als politische Partei antretende FMLN seit 2009 die Regierung stellt, hatten erwiesene Kriegsverbrecher im August 2011 immer noch nichts von der Justiz zu befürchten.92 Wenn politische Einstellungen bzw. Zuordnungen als Differenzkategorie bei der Ausgrenzung und als Beweggrund für Ausrottungszüge anerkannt würden, wären die hier knapp angeführten Ereignisse unschwer als Genozide einzustufen. So aber bedarf die Anwendbarkeit des Tatbestands des Genozids auf die Ereignisse in Argentinien, wie diese lange Liste als solcher nicht anerkannter Genozide deutlich macht, einer entsprechenden juristischen Konstruktion und der internationalen Anerkennung. Das größte Problem dabei, wie in fast allen hier skizzierten Fällen, besteht in der (fehlenden) Konsistenz des Begriffs »Genozid«, da nicht die Art und Weise oder der Umfang des Verbrechens Genozid vom Mord unterscheidet, sondern das Ziel dieses Verbrechens: die beabsichtigte Zerstörung einer fest definierten religiösen, ethnischen oder nationalen Gruppe. Damit stellt Genozid ein Verbrechen dar, das von seinem objektiven Tatbestand praktisch losgelöst und lediglich in der Absicht der kompletten Auslöschung der Gruppe festgemacht ist. Angesichts der zahlreichen hier aufgeführten ungesühnten Verbrechen wird offensichtlich, wie schwer die Absicht totaler Vernichtung zu beweisen ist. Auch in Argentinien war der Beweis für die Absicht der Aus90 Zu den international stark rezipierten Fällen getöteter Geistlicher werden die Hinrichtung von Erzbischof Óscar Romero und die Exekution der Jesuitenpater der Zentralamerikanischen Universität UCA (der sechs sog. Jesuitenmärtyrer) sowie von zwei Frauen ihres Hauspersonals gezählt (vgl. IDHUCA, 2005). Óscar Romero wurde am 23.05.2015 von Papst Franziskus seliggesprochen. 91 Betancur u.a., 1993, o. S. 92 Vgl. K eppeler, 2011, o. S. 241

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löschung von Dissidenten eine Hürde auf dem Weg zur Anerkennung der Staatsrepression als Genozid. Weitere Barrieren sind sowohl auf definitorischer wie auf prozeduraler Ebene zu finden. Die schwerwiegendste definitorische Barriere ist die Außerachtlassung von politischen Gruppen. Für viele der im Vorhergehenden aufgeführten Verbrechen der letzten 60 Jahre ist dieser Aspekt das zentrale Hindernis. Sobald jene Taten berücksichtigt werden, die z.B. von Barbara Harff als »Politizid« eingestuft werden, wird der Tatbestand des Genozids von vielen Ereignissen erfüllt, die ansonsten im Wesentlichen wie Kriegsdesaster dargestellt werden. Ein entscheidender Aspekt bei den Schwierigkeiten der Einstufung der Verbrechen als Genozid ist des Weiteren die Prozesshaftigkeit der Genozide, da sich diese nicht selten über einen längeren Zeitraum hinziehen, oftmals flankiert von Bürgerkriegsereignissen im Rahmen gesellschaftlicher Krisen93, die das Ziehen klarer definitorischer Grenzen erschweren. Darüber hinaus zielt die Genozidkonvention darauf ab, die Verantwortung an Personen auszumachen. Auch wenn es für jeden Massenmord zweifelsohne Verantwortliche gibt, blendet dies oftmals die Tatsache aus, dass Genozide erst durch ein Geflecht von Voraussetzungen möglich werden. Konsenshafte Diskurse, endogene Faktoren und geopolitische Interessen im internationalen Kontext waren es, die überall massive Menschenrechtsverletzungen ermöglichten94 und die Rede von »extrem gewalttätigen Gesellschaften«, so der Titel von Christian Gerlachs Buch aus dem Jahr 2011, aufkommen ließen. Diese Diskurse, Faktoren und Interessen lösen sich nicht über Nacht in Luft auf. Im Gegenteil. Sie tragen wesentlich dazu bei, dass über das ungeheuerliche Unrecht schnell ein Deckmantel des Vergessens gebreitet wird. Auch in Argentinien sind die diskursiven Voraussetzungen, die eine Einstufung der Verbrechen als Genozid ermöglichten, das Ergebnis einer langen gesellschaftlichen Debatte, in der nach den Maximen des Krieges andere Schlussfolgerungen gezogen werden sollten. Prämissen wie der Schutz der Demokratie und des sozialen Friedens, gestützt durch eine Erklärungsformel wie die der »zwei Dämonen«, die die Asymmetrie der Ereignisse verfälschte und gleichwertige Kontrahenten darstellte, sollten in Argentinien zum sozialen Schweigen beitragen. Erst der Staatsbankrott 2001/02 und der damit verbundene totale Vertrauensverlust der Bürger in die Regierenden kurbelten den Prozess aus der Straflosigkeit an, der unter der Regierung Kirchners angestoßen wurde. Ein weiteres wesentliches Hindernis auf prozeduraler Ebene ist die Maxime der innerstaatlichen Gerichtsbarkeit. Denn obwohl Verbrechen gegen die 93 Gerlach, 2011, S. 21. 94 Ebd., S. 9f. 242

Teil III – Staatsrepression und diskursiver Wandel

Menschlichkeit, Völkermord und Kriegsverbrechen nach dem »Weltrechtsprinzip« vor allen Strafgerichtshöfen der Welt angeklagt werden können, sieht die Genozidkonvention nach dem Grundsatz der staatlichen Souveränität die Zuständigkeit des Landes vor, in dem der Genozid stattgefunden hat. Dies stellt ein fast nicht aufzulösendes Paradoxon dar, denn Gerichte und Richter sind nicht selten Komplizen oder stumme Beipflichter genozidaler Ereignisse. Erst der Fall Pinochet leitete hier im Jahr 1998 eine Wende ein, als der spanische Richter Baltasar Garzón für eine andere Lektüre des Völkerrechts und eine universalmenschliche Vorgehensweise eintrat, die diese Verbrechen so versteht, als seien sie nicht an der Bevölkerung eines einzelnen Landes, sondern an der Menschheit, also der Weltbevölkerung begangen worden. Das Fehlen eines Internationalen Strafgerichtshofs, der über die Umsetzung der Genozidkonvention wachen konnte, stellte sich in diesen Jahren als großes Manko heraus. Erst 1998 mit der Verabschiedung des Römischen Statuts und der nachfolgenden Gründung des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) mit Sitz in Den Haag95 im Jahr 2002 gelang es der internationalen Gemeinschaft, Taten wie Genozid, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit weltweit zu ächten und unter Strafe zu stellen. In das Römische Statut von 1998 wurde die Rechtsfigur zwangsweises Verschwindenlassen von Personen (Artikel 7, Absatz 1) aufgenommen und damit die völkerrechtliche Grundlage für die Strafverfolgung derjenigen geschaffen, die an der argentinischen Repression der 70er Jahre beteiligt waren. Der Internationale Strafgerichtshof ist kein Organ der Vereinten Nationen, sondern das Ergebnis der im Römischen Statut verankerten freiwilligen Selbstverpflichtung der Unterzeichnerstaaten. Er unterscheidet sich wesentlich von Institutionen, die vom UN-Sicherheitsrat per Resolution ins Leben gerufen wurden, wie den Nürnberger Gerichten der Siegermächte oder den Sondergerichten für Ruanda und Exjugoslawien. Der Gerichtshof arbeitet selbständig, ein Kooperationsabkommen räumt dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen jedoch gewisse Befugnisse ein. Seine Zuständigkeit umfasst »schwerste Verbrechen, welche die internationale Gemeinschaft als Ganzes« berühren. Nationale Gerichte können sich weiterhin in Fällen nicht verjährter Menschenrechtsverletzungen für zuständig erklären und haben, soweit sie existieren und fähig und willens sind, die Verbrechen zu verfolgen, gegenüber dem IStGH Vorrang. Die Mehrzahl der Staaten ist dem IStGH beigetreten, einige Schlüsselländer jedoch nicht. Opposition kommt vor allem aus den USA und der Volksrepublik China, 95 Seinen Sitz in Den Haag hat auch der Internationale Gerichtshof, das leicht mit dem IStGH zu verwechselnde Hauptrechtsprechungsorgan der Vereinten Nationen. 243

Erinnerung und Intersektionalität

ferner aus Indien, Irak, Iran, Israel, Kuba, Nordkorea, Pakistan, Russland, Syrien, Saudi-Arabien, Sudan und der Türkei. Hauptkritikpunkte dieser Länder sind u.a. das Fehlen eines Normenkontrollverfahrens für das Gericht (ein Vorbehalt, der im Völkerrecht bisher nie umsetzbar war), die Fähigkeit des Gerichtes, sich selbst für zuständig zu erklären (das Gericht ist weisungsfrei), und die noch ausstehende Definition des Tatbestands der Aggression.96

2.4 Anwendbarkeit und Reformulierungen Um als Genozid eingestuft zu werden, müssen Verbrechen die von der UNKonvention festgelegten Tatbestandsmerkmale des Völkerrechts erfüllen. Dazu legen führende Rechtswissenschaftler die Genozidkonvention aus und untermauern ihre Begründung durch eine soziologische und politologische Analyse97 der Ereignisse. Aus diesem Grund und angesichts der Grenzen der weiterhin gültigen Definition von 1951 war bisher das Ringen um einen zutreffenden Umriss des Genozidkonzepts eine wichtige Aufgabe der Genozidforschung, die als Disziplin hauptsächlich in den USA zuhause ist. Sie bemüht sich darum, universale Gesetzmäßigkeiten auszumachen, die gleichzeitig Aufschluss über die Ursachen und den Verlauf der Ereignisse geben könnten. Das erklärte Forschungsziel, die Erstellung von Prognosen, die Genoziden vorbeugen und ihre Folgen eindämmen könnten, blieb bisher eine Utopie. Die Grenzen der Disziplin, die wissenschaftstheoretisch dem bevorzugten nomothethischen Modell (bzw. dem auf Galileo Galilei zurückzuführenden Prinzipienmodell) der Naturwissenschaften geschuldet ist, liegen offensichtlich in ihrer bisherigen größtenteils theoretischen Ausrichtung.98 Die Wissenschaftler_innen streben in der Hauptsache an, eine allgemeingültige Theorie des Genozids zu skizzieren, und vergleichen dafür Ereignisse, die in unterschiedlichen Ländern unter unterschiedlichen Bedingungen stattgefunden haben. In Bezug auf die argentinische Staatsrepression dreht sich die Debatte im Wesentlichen um drei Kernfragen: um die Anwendbarkeit des Genozidbegriffs auf politische Gruppen, um die Ge96 Huhle u.a., 2011, o. S. 97 Zentrale Erklärungsmodelle für die Genozidforschung sind in der Politikwissenschaft und der Soziologie zu finden u.a. mit den Analysen des totalitären und autoritären Staates wie in Hannah Arendts Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft aus dem Jahr 1955 und in den kontrovers diskutierten Theorien von Juan José Linz in Totalitarian and Authoritarian Regimes (Linz 2000). (Kritisch Stellung zu Linzʼ Position nimmt u.a. Vicenc Navarro, vgl. Navarro, 2009, S. 3). 98 Moses, 2008, S. 2. 244

Teil III – Staatsrepression und diskursiver Wandel

wichtung der Anzahl der Opfer und um die Anwendbarkeit eines Begriffs, der die Shoah sofort in Erinnerung ruft und sie als unmittelbare Referenz hat, auf andere menschengemachte Katastrophen. Dabei erweitern sie die argumentativen Grenzen der Genoziddefinition der UN-Konvention, die, wie oben dargestellt, auf einem minimal möglichen Konsens errungen wurde. Um die drei Kernfragen näher zu erläutern, werden im Nachfolgenden einige erweiterte Definitionen mit unterschiedlichen Schwerpunkten vorgestellt. Leo Kuper99 (1981) und Jack Nusan Porter100 (1982) schlossen in ihren Genoziddefinitionen politische Gruppen ebenso ein wie Helen Fein. Wenn Fein argumentiert, dass politische Zugehörigkeit ähnlich identitätsstiftend ist wie die Zugehörigkeit zu einer religiösen oder ethnischen Gruppe, betrachtet sie die Frage der Zugehörigkeit in Bezug auf die Opfer und übersieht dabei, dass Zugehörigkeit nicht nur Identifikation, sondern auch Identifizierung – und damit Teil der Zuschreibung durch die Tätergruppe – sein kann. D.h. politische Identität kann nicht nur performiert, sondern auch zugewiesen werden, unabhängig davon, inwiefern eine bestimmte Person sich tatsächlich mit einer Gruppe identifiziert. Auch Helen Fein legt den Schwerpunkt ihrer Definition auf die Absicht der Zerstörung – Genocide is sustained purposeful action by a perpetrator to physically destroy a collectivity directly or indirectly, through interdiction of the biological and social reproduction of group members, sustained regardless of the surrender or lack of threat offered by the victim101 –,

99 Kuper argumentiert: »I shall follow the definition of genocide given in the [UN] Convention. This is not to say that I agree with the definition. On the contrary, I believe a major omission to be in the exclusion of political groups from the list of groups protected. In the contemporary world, political differences are at the very least as significant a basis for massacre and annihilation as racial, national, ethnic or religious differences« (Kuper, 1981, S. 39). 100 Porter führt aus: »Genocide is the deliberate destruction, in whole or in part, by a government or its agents, of a racial, sexual, religious, tribal or political minority. It can involve not only mass murder, but also starvation, forced deportation, and political, economic and biological subjugation. Genocide involves three major components: ideology, technology, and bureaucracy/organization« (Porter, 1982, S. 12). 101 Fein, 1993, S. 24. 245

Erinnerung und Intersektionalität

schließt jedoch bewaffnete Gruppen aus: This definition would cover the sustained destruction of nonviolent political groups and social classes as parts of a national (or ethnic/religious/racial) group but does not cover the killing of members of military and paramilitary organizations – the SA, the Aryan Nations and armed guerrillas.102

Obgleich Helen Feins Unterscheidung angesichts der zahlreichen wehrlosen zivilen Opfer der Genozide im ersten Moment einleuchtend ist, lässt sie außer Acht, dass unter genozidalen Bedingungen Individuen von den Tätern zu Gruppen subsumiert werden. Vor dem Hintergrund genozidaler Ereignisse werden die Frage der Zulässigkeit und der Grenzen von Widerstand und die damit verbundene Differenzierung zwischen wehrlosen und wehrhaften Opfern zu einer kniffligen Aufgabe. Für eine Betrachtung der Opfer der argentinischen Staatsrepression ist Feins Vorbehalt besonders relevant, weil sie eine Qualifizierung von Opferidentitäten höher einschätzt als die Art und Weise der Verfolgung. Während der argentinischen Staatsrepression waren humanitäre Organisationen wie Amnesty International vor die Aufgabe gestellt, zu entscheiden, wer Hilfe wert war. So waren manche Organisationen z.B. nicht bereit, Repressionsopfern zu helfen, wenn sie Mitglieder bewaffneter Organisationen waren103, unabhängig davon, unter welchen Umständen ihre Verschleppung stattgefunden hatte und welcher Behandlung sie in den Folterlagern ausgesetzt waren. Übergangen wurde dabei die Tatsache, dass die Zuordnung zu den bewaffneten Organisationen pauschal seitens der Täter erfolgte bzw. aus der Denunziation durch verängstigte Menschen herrührte, die unter Folter aussagten. Die Repressionskräfte haben nie den Beweis dafür erbringen müssen, dass die Verschleppten tatsächlich an bewaffneten Aktionen beteiligt waren. Eine persönliche Schuld zu beweisen hätte Formen von Gerichtsbarkeit vorausgesetzt und die wurden ja durch die Militärs systematisch umgangen. Auf diskursiver Ebene hatte diese qualitative Wertung der Opfer durch die Hilfsorganisationen Folgen: Nicht zuletzt der so gesetzte Rahmen trug dazu bei, ein zu den Vorstellungen der humanitären Organisationen passendes Profil der Desaparecidxs zu schneiden bei dem u.U. ihre politischen Biographien verschwiegen wurden und damit auch nachhaltig ihr Widerstand. Auch Barbara Harff und Ted Gurr erweiterten den Genozidbegriff um politische Gruppen und führten dabei den neuen Begriff des Politizids ein, bei dem 102 Ebd. 103 Crenzel, 2010a, S. 72. 246

Teil III – Staatsrepression und diskursiver Wandel

ausschlaggebend ist, welche Position die verfolgte Gruppe gegenüber einem totalitären Staat bzw. den ihn dominierenden Gruppen hat: By our definition, genocides and politicides are the promotion and execution of policies by a state or its agents which result in the deaths of a substantial portion of a group. The difference between genocides and politicides is in the characteristics by which members of the group are identified by the state. In genocides the victimized groups are defined primarily in terms of their communal characteristics, i.e., ethnicity, religion or nationality. In politicides the victim groups are defined primarily in terms of their hierarchical position or political opposition to the regime and dominant groups.104

Die Beteiligung eines Staates an der massiven Vernichtung von Gruppen wird sowohl von den Genozidforschern Isidor Wallimann und Michael N. Dobkowski (1987) in ihrer Definition »[g]enocide is the deliberate, organized destruction, in whole or in large part, of racial or ethnic groups by a government or its agents«105 als auch von Frank Chalk und Kurt Jonassohn für wesentlich gehalten: »Genocide is a form of one-sided mass killing in which a state or other authority intends to destroy a group, as that group and membership in it are defined by the perpetrator.«106 Auch im von Rudolph Joseph Rummel 1994 eingeführten Begriff des »Demozids« ist die Täterschaft der totalitären oder autoritären Regierung eines Staates das wesentliche Unterscheidungsmerkmal: »[Democide is] [t]he murder of any person or people by a government, including genocide, politicide, and mass murder.«107 Neue Ansätze wie die von Mark Levene und Christian Gerlach stellen gerade diese Fixierung auf eine nationalstaatliche Perspektive zugunsten einer multiplen Perspektivierung in Frage, um die Komplexität der bei der Entstehung von Massengewalt wirkenden Faktoren besser zu erfassen. Ein weiterer Punkt, der in der Genozidkonvention kein Gewicht erhielt und oftmals für die Unangemessenheit der Anwendung des Wortes »Genozid« auf die Untaten in Argentinien angeführt wird, ist die Anzahl der Opfer. Die Zahl von 30.000 Detenidxs-Desaparecidxs, diese politisch und emotionell relevante Zahl von symbolischer Größe, die sich die Menschenrechtsbewegung in Argentinien auf ihre Fahnen schrieb, erscheint vor dem Hintergrund der Millionen, die 104 Harff/Gurr, 1988, S. 360. Für eine ausführliche Beschreibung der Umstände der Entstehung dieser Definition siehe Harff, 2002, insb. S. 106f. 105 Wallimann/Dobkowski, [1987] 2000, S. X. 106 Chalk /Jonassohn, 1990, S. 23. 107 Rummel, [1994] 2003, S. 36. 247

Erinnerung und Intersektionalität

während der Shoah und insgesamt im Zweiten Weltkrieg starben, verschwindend gering. Darüber hinaus ist sie auch nicht statistisch fundiert. Sie lässt sich vielmehr auf den berühmten Offenen Brief an die Militärjunta des Journalisten und Schriftstellers Rodolfo Walsh zurückführen, der damit ein Jahr nach der Machtübernahme der Junta zum ersten Mal Informationen der Untergrundnachrichtenagentur ANCLA über die staatliche Repression in den wichtigsten Zeitungen Argentiniens veröffentlicht hat. Der Brief konfrontierte die Militärregierung öffentlich mit einer konkreten Dimension ihrer Verbrechen: »15.000 Verschwundene, 10.000 Gefangene, 4.000 Tote, Zehntausende, die aus dem Land vertrieben worden sind – dies sind die nackten Zahlen dieses Terrors.«108 Erst sieben Jahre später wurde eine offizielle Zahl für die Opfer des erzwungenen Verschwindens bekannt gegeben. Die von der demokratischen Regierung einberufene CONADEP bezifferte im am 20. September 1984 veröffentlichten Bericht Nunca Más die Desaparecidxs auf 8.961 Personen, 30 Prozent davon Frauen, darunter drei Prozent Schwangere.109 Eine Studie des argentinischen CONICET (Consejo Nacional de Investigaciones Científicas y Técnicas) mit Datum vom 19.04.2008 ermittelte für den Zeitraum zwischen Mai 1969 und Dezember 1983 insgesamt 12.205 Opfer der Repression, darunter 10.082 Desaparecidxs und davon 703 Überlebende, die nach Verschleppung und Folter freigelassen worden waren.110 Man zählte im Jahr 2009 für den Zeitraum 5/196912/1983 also 9.379 Personen, die von den Streitkräften verschleppt wurden und seitdem verschwunden sind, wobei im Allgemeinen vermutet wird, dass die Dunkelziffer aufgrund nie registrierter Opfer höher liegt. Weitere 192 Fälle von Verschleppungen, die innerhalb von zwei Jahren nach Veröffentlichung der CONICET-Studie bekannt wurden, geben dazu Anlass, diese Annahme zu bestätigen. So konnten bis 2011 die biographischen Daten von nur 9.571 Personen der angenommenen 30.000 rekonstruiert werden.111 Bereits Raphael Lemkin schätzte bei der Definition von Genozid die Anzahl der Opfer als keinen gewichtigen Aspekt ein und sie gilt laut Genozidkonvention tatsächlich als nicht maßgebend. Israel Charny sieht darin jedoch ein wesentliches Merkmal eines Genozids und setzt die »beträchtliche Anzahl« an wehrlosen Zivilisten als Schwerpunkt seiner Definition aus dem Jahr 1994 ein, wobei gleichwohl hervorgehoben wird, dass es sich um wehrlose Opfer handelt:

108 109 110 111 248

Walsh, R., 1977b, o. S. CONADEP, 1984, Víctimas. Izaguirre, 2009, S. 93. Izaguirre, 2011, S. 30f.

Teil III – Staatsrepression und diskursiver Wandel Genocide in the generic sense means the mass killing of substantial numbers of human beings, when not in the course of military action against the military forces of an avowed enemy, under conditions of the essential defencelessness of the victims.112

Auch für Irving Horowitz sind massenhafte Opfer entscheidend für diese Art Verbrechen, wobei im Mittelpunkt seiner Beobachtung die ethnische Gruppe steht: »Genocide means the physical dismemberment and liquidation of people on large scales, an attempt by those who rule to achieve the total elimination of a subject people.«113 Obgleich die Anzahl der Opfer bei der von der UN verabschiedeten Definition von Genozid nicht relevant ist, scheint eine substantielle Dimension von Opfern mit einer Qualität der Verbrechen einherzugehen: Vorstellungen von unwertem Leben werden durch die Zuteilung von Individuen zu einer Menschengruppe realisiert, die es erlauben, dass der Mensch nicht mehr als Individuum wahrgenommen wird. Steven Katz vertrat eine umstrittene Position, als er zwar weitere Gruppen als die in der Genozidkonvention berücksichtigten in seiner Definition anerkannte und früh Genderzid als mögliche Form von Genozid benannte – the actualization of the intent, however successfully carried out, to murder in its totality any national, ethnic, racial, religious, political, social, gender or economic group, as these groups are defined by the perpetrator, by whatever means114 –,

allerdings einzig die Shoah als Genozid gelten ließ, da seiner Meinung nach historisch gesehen ausschließlich die Vernichtung der europäischen Juden durch das Naziregime die Absicht der totalen Zerstörung eines Volkes verfolgte: »Never before a state set out, as a matter of intentional principle and actualized policy, to annihilate physically every man, woman, and child belonging to a specific people.«115 Als Einwand gegen Katz’ These bringt A. Dirk Moses die Rezeption

112 113 114 115

Charny, 1994, S. 76. Horowitz, [1980] 2002, S. 83. K atz, 1994, S. 131. Ebd., S. 28. Katz’ Überlegungen nehmen auf die Debatte um die Einmaligkeit der Shoah Bezug. Diese Debatte wurde nicht nur in Deutschland ausgetragen, führte hier jedoch 1985/86 zum sog. Historikerstreit bzw. zur Habermas-Kontroverse 249

Erinnerung und Intersektionalität

von Yehuda Bauers Forschung vor.116 Bauer veröffentlichte im selben Jahr wie Katz seine Arbeit Jews for Sale? Nazi-Jewish Negotiations: 1933-1945, in der er auf den Umstand hinwies, dass während des nationalsozialistischen Regimes das Überleben von jüdischen Bürgern in den besetzten Gebieten Gegenstand von Verhandlungen wurde. Auf jüdischer Seite waren diese Bemühungen der Betrachtung geschuldet, trotz der Massenvernichtung jedes einzelne Leben als einen Kosmos zu sehen, der zähle und den es zu retten gälte. Auf der Seite der Nazis waren die Erwägungen strategischer Natur; ihr Ziel war die absolute Welthegemonie und sie waren sich des Endsiegs sicher. Die Verhandlungen brachten das Nazikader zwar nicht dazu, von der Absicht der Umsetzung der »Endlösung« zu lassen, aber in einzelnen Fällen bewirkten sie, dass der temporäre Aufschub der totalen Vernichtung in Betracht gezogen wurde.117 Steven Katz’ Argumentation wurde laut Moses von Genozidforschern »roundly condemned« und als fragwürdig und gar chauvinistisch eingeschätzt.118 Mit dem Einzug der Historiker in das Forschungsfeld des Genozids veränderte sich seit den 90er Jahren die Begriffsfindung zugunsten einer idiographischen Annäherung, d.h. nach dem Indizienparadigma der Geisteswissenschaften stehen seitdem konkrete, zeitlich und räumlich eingegrenzte Ereignisse im Mittelpunkt des wissenschaftlichen Interesses. Ein entscheidender Aspekt der Untersuchungen ist die Unterscheidung zwischen endogenen und exogenen Faktoren für die Entwicklungen in den jeweils untersuchten Gesellschaften. Die Beteiligung des Staates an zahlreichen Massenvernichtungen des letzten Jahrhunderts hatte dazu beigetragen, dass die Gründe für Genozide schwerpunktmäßig innerhalb der festdefinierten Grenzen des Nationalstaates gesucht wurden, d.h. für die Entstehung von Genoziden wurden endogene Thesen priorisiert. Die Berücksichtigung globaler Interdependenzen und internationaler Beziehungen, d.h. exogener Faktoren, vervollständigt bei neueren Arbeiten die Analyse der Umstände, die zur Genese der Fälle extremer Gewalt führten. Der wichtigste Beitrag zu diesem paradigmatischen Wechsel in der Forschungsperspektive ist Mark Levenes Genocide in the Age of the Nation State (2005). In seiner Arbeit stützt sich Levene auf Immanuel Wallersteins Weltsystemtheorie (1974) und unternimmt den Versuch, Genozide in einen Kontext von systemischen Krisen einzuordnen, die den Nationalstaat betreffen. Er gründet seine These auf das um die gegenwärtige Gewichtung der Interpretationen der Naziverbrechen (vgl. u. v.a. Schilling, 2002, S. 168-190). 116 Moses, 2008, S. 2. 117 Bauer, 1994, S. 252. 118 Moses, 2008, S. 2. 250

Teil III – Staatsrepression und diskursiver Wandel

Aufkommen des Nationalstaates als internationales Ereignis des 20. Jahrhunderts: Only after the Second World War and, more specifically, in the era of European post-colonial retreat did genocide become a truly global phenomenon, most obviously facilitated through the extension of the Western-created concept of the nation-state to all hemispheres, and with it of the embrace of the entire world’s population as citizens of such states within its international nation-state framework.119

In der europäischen Herkunft des Konzepts des Nationalstaats sieht Levene auch seine Ausprägung als Verbindung zwischen politischer Macht und christlich-religiöser Legitimation, die auf die Entstehung Westeuropas nach dem Zerfall des Römischen Reichs im Mittelalter zurückgeht. Das System kleiner europäischer Königreiche und Stadtstaaten übernahm ein Denksystem, in dem Kriegserklärungen von Schismen und Häresien, von der Spannung zwischen Freiheit und Uniformität, begleitet waren. Der im vormodernen Europa vorherrschende Imperativ der Uniformität wurde im 19. Jahrhundert säkularisiert und Vorstellungen von Rasse und Klasse ersetzten dann die bindende Funktion der Religion. Sowohl liberale koloniale Eliten wie totalitäre Führer teilten für die Zukunft der modernen Nation die Vorstellung von der Erneuerung eines territorialgebundenen sozialen Organismus, von der schnellen Modernisierung des Staates im Sinne des Schutzes seiner politischen und ökonomischen Souveränität. Unter der Prämisse der Uniformierung reduzierte sich in Krisenzeiten die Wahrnehmung von Minoritäten auf die Rolle der externen Feinde, die in einer Art historischer Genealogie in der Gegenwart erneut eine Gefahr für die nationale Sicherheit und Entwicklung darstellen konnten. Diese Minoritäten, die für die Verursacher der aktuellen Probleme gehalten wurden, gerieten dadurch in Lebensgefahr.120 Levenes Darstellungen liefern zahlreiche Aufschlüsse für die Deutung der argentinischen Ereignisse in Bezug auf Stichworte wie: die Mär der Neugründung des Staates durch die Mili119 Levene, 2005, S. 164. 120 Ebd., S. 187-199. Arbeiten, die solch große Stunden für die Nießbraucher sozialer Ängste psychosozial untersuchen, wie die von Martin Shaw What is genocide? (2007) und Jacques Semelin Purify and Destroy: The Political Uses of Massacre and Genocide (2007) werden als wertvolle Beiträge zu einer Disziplin gesehen, die durch die Beiträge von Historiker_innen zunehmend ein tieferes Verständnis für partikuläre Ereignisse gewinnt, bevor komparative Thesen aufgestellt werden (Moses, 2008, S. 14). 251

Erinnerung und Intersektionalität

tärs im sogenannten »Prozess«; Verteidigung einer angeblich in Gefahr geratenen nationalen Souveränität gegen einen inneren Feind; Vorstellung einer historischen Bedrohung; Spannung zwischen Uniformität und Freiheits- und Vielfaltsbestrebungen junger Menschen; Minoritäten, die von den Eliten als Vertretungen ausländischer Interessen gesehen und als ausgemachte innere Feinde verfolgt werden. Seine Analyse macht auch darauf aufmerksam, dass Genozide in ein internationales Denksystem eingebettet sind, in dem endogene und exogene Faktoren entscheidend interagieren können. Diese Erkenntnis ist für die argentinischen Ereignisse relevant, denn durch die Einbeziehung des Kalten Krieges und seines binären Denksystems als exogene Faktoren gewinnen u. v.a. interne Politiken wie das Wirken der Zensur, regionale Handlungen wie die Operation Condor und z.B. die überregionale Indoktrinierung gegen den aufständischen Kampf an Sinn. Neben der historisierenden Wende in den Genocide Studies ist die Visualisierung der Genderthematik ein weiterer relevanter Aspekt, der in den letzten Jahrzehnten, und insbesondere seit den Ereignissen in Bosnien-Herzegowina und Ruanda, deutlicher wahrgenommen wird. Da Genozid als ein Verbrechen gegen Gruppen definiert ist, erschien eine nach Geschlechtern differenzierte Betrachtung der Opfer lang von geringer Bedeutung.121 Bedenkt man die Relevanz der gesellschaftlichen Signifikationen, die an der reproduktiven Beschaffenheit der menschlichen Körper festgemacht werden, und die Bedeutung dieser Signifikationen bei der Organisation der Machtbeziehungen zwischen den Geschlechtern, eröffnet die analytische Kategorie des Geschlechts weitere Facetten bei der Untersuchung genozidaler Prozesse. Raul Hilberg macht in seinem Buch Perpetrators, Victims, Bystanders auf die Tatsache aufmerksam, dass die Formen der direkten und indirekten Gewalt während der Shoah geschlechtlich differenziert waren: »[T]he road of annihilation was marked by events that specifically affected men as men and women as women.«122 In den ersten Phasen der Nazibesetzung Osteuropas trieb der Hunger die in den Ghettos lebenden Männer schneller in den Tod als die Frauen und sie erlagen öfter den Krankheiten, die die extreme Ausbeutung ihrer Arbeitskraft hervorrief.123 Jüdische Männer wurden auch häufiger Opfer von Massakern, weil sie stärker als Gegner wahrgenommen wurden. Mit der Einrichtung der Gaskammern und Gaswagen kam es zu einem »reversal of fortunes«, denn es wurde 121 Joeden-Forgey, 2010, S. 61. 122 Hilberg, 1993, S. 126. 123 Herzkrankheiten, [Organversagen als Folge von] Hunger und Lungentuberkulose – in dieser Reihenfolge – waren laut Hilberg die Haupttodesursachen bei den Männern im Ghetto von Lodz (Hilberg, 1993, S. 128). 252

Teil III – Staatsrepression und diskursiver Wandel

unpersönlicher und entsprechend leichter, Frauen zu töten. Frauen wurden bei der Ankunft in den Vernichtungslagern viel öfter direkt in die Gaskammer geschickt als Männer. So überlebten weniger jüdische Frauen als jüdische Männer die Shoah, obwohl sie vor dem Krieg die Mehrheit der jüdischen Bevölkerung Europas darstellten und in den ersten Jahren mehr Männer starben. Die Überlebenden von Auschwitz waren nur zu einem Drittel Frauen; Sobibor und Treblinka überlebten nur ganz wenige Frauen, Belzec und Kulmhof keine einzige.124 Für die Verfolgung von Gruppen zeigt sich die biologische und soziale Reproduktionskraft der Menschen als zentrales Merkmal des Lebens und ist daher fast zwangsläufig ein Aspekt in der Konfiguration der Ausrottungsmaßnahmen. Dies betrifft insbesondere die Institution, die diese Kraft verkörpert: Since the family is the basic unit of the reproduction of groups, and since perpetrators so often find their victims in family situations, the family and the roles that adhere to it are prime theatres for the enactment of genocidal intent.125

Adam Jones zeigt, dass Männer im kampffähigen Alter ein prioritäres Ziel in genozidalen Prozessen sind, nicht nur durch ihre Rolle als mögliche Gegner, sondern vor allem durch ihre Position als Kopf von Familien, deren Enthauptung eine große Destabilisierung der Gesellschaft bedeutet. Auch das Töten von Minderjährigen und Babys, ihr Raub, ihr Missbrauch als Druckmittel gegen die Eltern sind Handlungen, die auf die konsequente Zersplitterung und Zerstörung familiärer Bande innerhalb der Gruppe ausgerichtet sind.126 Jones’ Überlegungen bauen auf Mary Anne Warrens Untersuchung Gendercide: The Implications of Sex Selection auf, in der der Infantizid erforscht wird und dabei die spezifische Form von Tötungsgewalt gegen Mädchen-Kinder127, die hier zum ersten Mal als »anti-female gendercide«128 beschrieben wird. Spätestens der Genozid in Ruanda, bei dem Frauen in großem Maße nicht nur zu Opfern, sondern auch Hilberg, 1993, S. 126-130. Joeden-Forgey, 2010, S. 78. Jones, 2004a, S. 1-38. Warren berichtet, dass nicht nur im alten Griechenland, in arabischen Ländern oder in Indien die Geburt eines Mädchens beschämend war, auch im Westeuropa des 19. und frühen 20. Jahrhunderts war »the murder of girl children (and sometimes boys) […] publicly condemned but practiced covertly, in ways that made it appear accidental or inadvertent« (Warren, 1985, S. 39). 128 Warren, 1985, S. 32. 124 125 126 127

253

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zu Täterinnen wurden129, stellt jeden Versuch der empirischen Untermauerung einer angeblichen Friedfertigkeit der Frauen, der letztendlich ein weiterer Essentialisierungsversuch ist, in Frage. Mit dem Konzept des Genderzids wird deutlich, dass der Faktor Geschlecht zu einer ausdifferenzierten Betrachtung genozidaler Prozesse beitragen kann, um auch die Ideen besser zu fassen zu bekommen, die mit distinkten Formen der Zerstörung einhergehen. So werden Vorstellungen sichtbar, die z.B. auf einer Vermännlichung des Feindes aufbauen und die Massentötung von Jungen und Männern im kampffähigen Alter (battle aged) zur Folge haben. Øystein Holter insistiert allerdings auf dem relationalen Charakter dieser Vorstellungen: »Often, gender makes sense only as a relationship between that which is stated and that which is not, or as a pattern of discourse shifting between the gendered and the neutral«130, und unterstreicht ebenfalls die Intersektionalität, in der sich diese Vorstellungen manifestieren: »Analyzing gender and conflicts usually means understanding how gender and other forces interact.«131 Massengewalt erschöpft sich nicht in ihrer Realisierung, sie wirkt im Leiden der Davongekommenen lange nach. Unter Berücksichtigung einer ganzen Reihe von Studien beschreibt Joeden-Forgey die Situation von überlebenden Frauen als partikulär empfindlich: Particular attention will need to be paid to women survivors who experience enormous structural vulnerability in post-genocidal societies in the form of social ostracism, impoverishment, and homelessness due to discriminatory customs of inheritance and limited occupational options. Many are forced to raise children alone, including children born of wartime rape and war orphans. Many are suffering from disabilities and illness related to genocidal violence. Many are unable to conceive or carry children, which can interfere with their ability to marry and thereby condemn them to a lifetime of economic hardship. Furthermore, studies indicate that violence against women increases in postwar contexts.132

Gewalt gegen Frauen, ausgeübt im Rahmen der Staatsrepression, ist in Argentinien erst seit 2005 überhaupt eine Kategorie in der Aufarbeitung der Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Körperliche Einschränkungen und Behinderungen, 129 130 131 132 254

Jones, 2004b, S. 98-137. Holter, 2004, S. 66. Ebd., S. 67. Joeden-Forgey, 2010, S. 79.

Teil III – Staatsrepression und diskursiver Wandel

ungewollte Mutterschaften, aber auch Unfruchtbarkeit durch Traumata als Folge der Massenvergewaltigungen sind bisher wenig dokumentierte physische Folgen der Gewalt gegen Frauen. Der starken Verwurzelung der Psychoanalyse in Argentinien ist zweifellos zu verdanken, dass Überlebende und Angehörige von Opfern der Repression therapeutische Unterstützung erhielten und dass mit der Reflexion über die Auswirkungen des sozialen Verschweigens ein neues Paradigma in der Behandlung von Opfern sozialer Gewalt entstanden ist.133 Allerdings ist die gesellschaftliche Diskriminierung der Überlebenden ein wichtiges Merkmal der argentinischen Postdiktatur. Bemerkenswerterweise erhielten eher die Mütter und Großmütter der getöteten Desaparecidxs, die hochverdienten Madres und Abuelas de Plaza de Mayo, Zustimmung und Anerkennung für ihr Engagement und sind inzwischen Symbole des Widerstandes gegen die lang angeordnete Staatspolitik des Vergessens. Ihre Bemühungen im postgenozidalen Argentinien, familiäre Beziehungen wiederherzustellen, insbesondere durch die Suche nach den geraubten Kindern und die Aufdeckung ihrer Ursprungsidentität, können nicht hoch genug geschätzt werden. Doch diese Politik der Anerkennung hat eine Schattenseite, denn die Überlebenden selbst rückten dabei nicht selten in den Hintergrund der Aufmerksamkeit. Anders als nach dem Eichmann-Prozess, der eine Aufwertung der Zeugnisse der Überlebenden mit sich brachte134 und Annette Wieviorka von einer Era of the Witness (so der Buchtitel) nach der Shoah sprechen ließ, wurden die argentinischen Zeugen durch den Verdacht des Verrats als Grund für ihr Überleben gesellschaftlich stigmatisiert. Auch wenn sie durch ihre Aussagen vor Gericht – aber auch durch Öffentlichkeitsarbeit – einen unschätzbaren Beitrag zur Aufarbeitung der Vergangenheit leisten, war ihre Situation in der Postdiktatur prekär. Diese Tatsache, zusammen mit den von Joeden-Forgey oben genannten erschwerten Lebensbedingungen von überlebenden Frauen in postgenozidalen Gesellschaften, bildeten einen Anlass für die Bemühungen um soziales Gehör durch sie selbst und die Menschenrechtsorganisationen und nicht zuletzt auch für die literarische Erinnerungsarbeit von Autorinnen, die ein feines Gespür für diese Situation entfalten, wie bei der Besprechung von María Teresa Andruettos La mujer en cuestión in Teil IV dargestellt wird.

133 Vgl. Kordon u.a., 2005. 134 Wieviorka, 2006, S. 56. 255

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3. Krieg, Genozid und Staatsrepression in Argentinien Den unermüdlichen Bemühungen von Menschenrechtsaktivisten, allen voran der argentinischen Madres und Abuelas der Plaza de Mayo, ist es zu verdanken, dass die Rechtsfigur des zwangsweisen Verschwindenlassens von Personen zunächst im Jahr 1983 von der OAS, 1998 dann in das Römische Statut und damit in das internationale Völkerrecht aufgenommen wurde. Nachdem die Präsidentenerlasse von Carlos Menem in Kraft getreten waren, die die Straflosigkeit der Verantwortlichen bedeuteten und einen Untersuchungsstopp in Argentinien bewirkten, der alle Bemühungen zur Aufklärung der massiven Verbrechen der Staatsrepression und zur Bestrafung der Täter zunichtezumachen drohte, fanden die Menschenrechtsorganisationen einen Weg aus dem angeordneten Stillstand. Folteropfer und Verwandte von Desaparecidxs italienischer, französischer, schwedischer und deutscher Zugehörigkeit leiteten gemeinsam mit den argentinischen Menschenrechtsgruppen und in Zusammenarbeit mit lokalen Organisationen und Juristen Verfahren in ihren Herkunftsländern ein. Die dortigen Gerichte veranlassten Untersuchungen, die den Druck auf die argentinische Regierung wachsen lassen sollten. Im Völkerrecht und speziell nach dem internationalen Strafrecht sollen Straftaten – nicht nur Genozide − von dem Staat geahndet werden, in dessen Territorium sie begangen wurden. Staatliche Souveränität − und somit staatliche Rechtsetzung und Verfügungsgewalt − hat grundsätzlich einen gebietsbezogenen Charakter.135 Als der spanische Untersuchungsrichter Baltasar Garzón mit der Einleitung eines Verfahrens gegen Chiles Militärdiktator Augusto Pinochet jedoch erstmals das Weltrechtsprinzip anwandte und dessen Festnahme im Oktober 1998 veranlasste, kam Kritik gegen ihn auf, dass er damit seinem Land Sonderrechte gegenüber anderen einräume.136 Im Jahr 1997 hatte die spanische 135 Volkmann, 2007, S. 57. 136 Nicht nur Baltasar Garzón wandte 1998 die universelle Gerichtsbarkeit an. Auf der Grundlage des Weltrechtsprinzips bemüht sich seit 1998 auch Giancarlo Capaldo, Staatsanwalt in Rom, die brasilianischen Mitverantwortlichen in den Fällen argentinischer Detenidxs-Desaparecidxs italienischer Herkunft zu überführen. Mit der Frage nach dem Verbleib von über 20 italienischstämmigen Bürgern, die in den 70er und 80er Jahren in Argentinien, Brasilien und Uruguay verschleppt wurden, nahm die Brasilianische Wahrheitskommission, einberufen durch Präsidentin Dilma Rousseff, selbst ein Folteropfer, ihre Arbeit auf. Sollte ein Uniformierter für schuldig erklärt werden, wäre er der erste Brasilianer, der für die Menschenrechtsverletzungen der 80er Jahre belangt wird. Klar beschreibt 256

Teil III – Staatsrepression und diskursiver Wandel

Justiz in Madrid nach der Intervention von Menschenrechtsorganisationen ebenfalls unter Anwendung des Weltrechtsprinzips ein Gerichtsverfahren gegen eine Reihe von argentinischen Militärs wegen »Staatsterrorismus und Genozid« eröffnet. Die Besonderheit dieser Bemühungen lag darin, dass spanische Untersuchungsrichter − anders als in Staaten wie Deutschland − die Verantwortung für die Aufnahme und Fortführung von Ermittlungsverfahren übernehmen können und selbst für die Erforschung des Sachverhalts verantwortlich sind. Die Gerichtsbarkeit der spanischen Justiz im Fall Argentinien hing allerdings von der Typisierung der Verbrechen als Genozid ab, was Garzón – wie Daniel Feierstein zusammenfasst – auf folgender Grundlage tat: The requirement that victimized national groups be defined in terms of ethnicity in order to prove that genocide has taken place is unconstitutional under Spanish law […]; The extermination of »political groups« may be termed genocide in spite of the explicit exclusion of such groups under Spanish law […]; The term »national group« is appropriate to classify victims in Argentina […]; The term »religious group« is also appropriate to classify victims, bearing in mind the ideological nature of religious belief and the Argentine military’s explicit aim of establishing a »Western and Christian« order […]; Racist thinking is essentially political in nature. »Racial groups« are imaginary constructions that always refer in fact to »political groups« […]; The term »ethnic group« is also appropriate to classify the victims given the specific nature of the »special treatment« given to the Judeo-Argentine population and its symbolic nature […].137,138

Giancarlo Capaldo die Rechtslage in Italien in Bezug auf die Amnestiegesetze, die seit 1979 in Brasilien Gültigkeit haben und den Initiator selbst, Joaõ Baptista Figueireido, »beschützen« sollten: »Das Amnestiegesetz kommt nur in Brasilien zur Anwendung, Italien hat kein Begnadigungsgesetz zugunsten der Verantwortlichen im Fall des Verschwindens von zwei italienischen Staatsbürgern gebilligt, die 1980 in Brasilien entführt wurden, beide Opfer der Operation Condor; in Italien sind wir nicht verpflichtet, den Schuldigen zu vergeben« (Pignotti, 2012, o. S., aus dem Span. von MLS). 137 Feierstein, D., 2010a, S. 51f. 138 Für den (spanischen) Gesamttext siehe Garzón R eal, 1999. 257

Erinnerung und Intersektionalität

Richter Garzón folgte bei seiner Begründung einer doppelten Argumentationsstrategie. Zum einen stellte er heraus, welche Unterschiede die spanische Gesetzgebung im Vergleich zum Wortlaut der UN-Konvention aufweist: Den spanischen Gesetzen nach ist es verfassungswidrig, eine nationale Opfergruppe als ethnische Gruppe zu betrachten, politische Gruppen wiederum können für die Typisierung als Genozid zulässig sein. Zum anderen erarbeitete er die Kriterien, wonach die UN-Konvention für das spanische Recht zutreffend ist. Gemäß der Auffassung des Richters hatte die argentinische Repression das Ziel verfolgt, eine Teilgruppe der Gesellschaft auszurotten, d.h. hier griff die definitorische Prämisse des Genozids als partielle Ausrottung einer nationalen Gruppe. Darüber hinaus erkannte Garzón eine religiös motivierte Vorgehensweise in den Handlungen der argentinischen Sicherheitskräfte. In seiner Begründung stellte er fest, dass den Militärs daran gelegen war, im Zeichen religiöser Gesinnung einen Gegner auszuzeichnen, der die christlich-westliche Welt bedrohte und den es abzuwehren galt. Diesem Gegner wurde eine »Seinsweise« zugeschrieben, was dem Muster rassistischer Opferbildung gleichkam, d.h. die Annahme einer spezifischen »Seinsweise« der subversivos beruhte auf der Vorstellung eines Vorhandenseins von Rassen und entsprach der Argumentationsweise des Rassismus. Für die abschließende Begründung, die in Punkt 7 ausgeführt wird, rief Garzón die Sonderbehandlung der jüdischen Bevölkerung Argentiniens in Erinnerung, da überdurchschnittlich viele Opfer jüdischer Herkunft zu verzeichnen waren.139 Als Grund für diese Sonderbehandlung nannte Garzón die Stigmati139 »Zusammenfassend können wir anhand der Beweise kategorisch behaupten:1) Inhaftierten jüdischer Herkunft wurde eine besonders schlechte Behandlung zuteil; 2) Der Prozentsatz der Opfer jüdischer Herkunft, sowohl unter den Inhaftierten als auch unter den Toten und Verschwundenen, liegt weit höher als der Anteil der jüdischen Bevölkerung an der argentinischen Gesamtbevölkerung während der Diktatur; 3) Es sind mehrere Fälle dokumentiert, in denen das einzige Motiv für die Inhaftierung oder die Verschleppung und Folterung das Jüdischsein des Opfers war; 4) Klar erwiesen sind nazistische und antisemitische Äußerungen vonseiten der Repressoren sowie die Zurschaustellung von Nazisymbolen in den geheimen Haftzentren und das unmissverständliche und bewundernde Prahlen vonseiten zahlreicher Repressoren in Bezug auf die Nazi-Ideologie; 5) Die Verfolgung der Juden fand systematisch statt und entsprach einer antisemitischen Indoktrinierung, die bei den Streitkräften sehr verbreitet war und sich als Teil des von den Militärjuntas angestoßenen Prozesses zur Nationalen Reorganisation auf das ganze nationale Territorium Argentiniens ausweitete« (Garzón R eal, 1999, S. 184f.). 258

Teil III – Staatsrepression und diskursiver Wandel

sierung der Mitglieder einer ethnischen Gruppe, aus der besondere Handlungen folgten. In seinem öffentlichen Plädoyer für die Zuständigkeit seines Gerichts unterstrich Garzón die doppelte »Verwandtschaft« der Vorgehensweise der argentinischen Militärs mit zwei historischen Ereignissen: der deutschen Nazizeit und dem Raub tibetischer Kinder durch die chinesische Besatzungsmacht. Für den Vergleich mit dem Kinderraub in Tibet sprach die ebenfalls von ihm angestrengte Suche nach geraubten und damals in Spanien vermuteten Kindern argentinischer Desaparecidxs. Das Hauptargument für den Vergleich mit der Nazizeit war die Ähnlichkeit mit dem Nacht-und-Nebel-Erlass von 1941, der aus Garzóns Warte die Grundlage für die illegalen Aktionen der argentinischen Streitkräfte war. Ziel der besagten systematischen Aktion (der illegalen Repression) war die Schaffung einer neuen Ordnung – wie sie in Deutschland Hitler anstrebte –, in der für bestimmte Personengruppen kein Platz war, genauer gesagt für alle, die nicht für ein ultranationalistisches Gesellschaftskonzept faschistischer Prägung eintraten.140

Die argentinische Justiz verweigerte damals die Auslieferung der 46 Militärs, die Garzón als Menschheitsverbrecher eingestuft hatte. Erst im August 2003 und auf Initiative von Präsident Néstor Kirchner hob der Senat die Amnestiegesetze auf und stellte die Militärs zur Auslieferung bereit. Ihnen räumte das Gesetz jedoch das Recht ein, vor ein argentinisches Gericht gestellt zu werden, so dass sie mehrheitlich erst seit 2010 (in Argentinien) vor Gericht stehen.141 Anders erging es dem Korvettenkapitän Adolfo Scilingo, der in Spanien vor Gericht gestellt und verurteilt wurde. Der Tatbestand des Genozids wurde erstmals 2006 im Prozess gegen den Leiter des Nachrichtendienstes der Polizei in Buenos Aires, Miguel Etchecolatz, zur Sprache gebracht und danach 2007 im Prozess gegen den katholischen Priester und Polizeikaplan Christian von Wernich. Die ihnen angelasteten Straf140 Página /12, 1998, o. S., aus dem Span. von MLS. 141 2003 hatte Domingo A. Bussi, der während der Diktatur gefürchtete Militärverwalter der Provinz Tucumán, der sehr wahrscheinlich für Hunderte von Verschleppungen und Tötungen verantwortlich ist, gerade die Wahl zum Gouverneur gewonnen. Luis Abelardo Patti, Folterknecht aus der Provinz Buenos Aires und Schützling von Carlos Menem, kandidierte damals dort ebenfalls bei den Gouverneurswahlen. 259

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taten wurden nicht als Genozid, sondern als im Rahmen eines Genozids begangene Verbrechen gegen die Menschlichkeit eingestuft. International gesehen erweist sich der Begriff des Genozids selbst zunehmend als Rahmen für die intellektuelle und wissenschaftliche Debatte, während die Rechtsfigur der Verbrechen gegen die Menschlichkeit eher das Werkzeug für die Strafverfolgung der Untaten und die Mobilisierung gegen sie darstellt.142 Diese Rechtsfigur findet zurzeit in den in Argentinien verhandelten Fällen von Menschenrechtsverletzungen durchgängig Anwendung. Erstmals seit der Wiederaufnahme der Ermittlungen wurden durch das Rechtsurteil in den Verhandlungen im Bundesgericht 1 von La Plata in der Sache »Circuito Camps«143 die Verbrechen gegen die Menschlichkeit in den Rahmen eines Genozids gestellt, der an einer nationalen Gruppe in der Absicht ihrer Auslöschung begangen wurde. Mit dem Urteil vom 19.12.2012144 fasste das Gericht die Verbrechen neu und führte damit eine neue Lektüre der von Raphael Lemkin geprägten Kategorien ein.

3.1 Zwei Deutungsansätze für die argentinische Staatsrepression Neben dem Zusammenwirken juristischer Modelle des internationalen Völkerrechts und des nationalen Strafrechts spielt die gesellschaftliche Deutung der Massengewalt eine signifikante Rolle bei der strafrechtlichen Verfolgung genozidaler Gewalttäter. Sie ist von Diskursen abhängig, die im Mittelpunkt gesellschaftlicher Debatten auf internationaler und nationaler Ebene stehen. Wenn es darum geht, die Bezeichnung »Genozid« vom »Krieg« zu differenzieren und die damit verbundenen Implikationen anhand konkreter Ereignisse zu reflektieren, wirken sich diese Debatten wiederum stark auf die Diskurse der Rechts- und der Geisteswissenschaften aus. Um den Blick auf den Referenzrahmen der argentinischen Debatte stärker zu schärfen, werden nun zwei Thesen besprochen, 142 Jones, 2006, S. 25. 143 Der »circuito Camps«, das Folterlager-Netzwerk unter dem Kommando von General Ramón Camps, umfasste die Polizeistation Nr. 5 der Stadt La Plata, die Außenstelle Arana (auch »Pozo de Arana« genannt), die Ermittlungsbrigade von La Plata, die Unterstation des Bezirks Don Bosco (auch »Puesto Vasco« genannt), das technische Einsatzkommando l in Martínez in der Provinz Buenos Aires (COT I Martínez), die Brigade von San Justo und das Haus des (verschlepptenverschwundenen) Ehepaares Teruggi Mariani. 144 Vgl. Á mbito financiero, 2012, o. S. 260

Teil III – Staatsrepression und diskursiver Wandel

die den Schwerpunkt ihrer Argumentation jeweils auf einen der beiden Pole der Hauptdeutungsparadigmen für die argentinische Staatsrepression setzen: auf »Krieg« oder auf »Genozid«. a. Inés Izaguirres Ansatz eines argentinischen Klassenkrieges Neben dem offiziellen Diskurs der Streitkräfte, die Repression in der Notwendigkeit eines kontrarevolutionären Krieges zu begründen, liefert die Sozialwissenschaftlerin der Universität von Buenos Aires und langjährige Menschenrechtsaktivistin bei der Asamblea Permanente por los Derechos Humanos Inés Izaguirre145 ein Deutungsangebot, das ebenfalls auf der Grundlage eines Krieges, eines Klassen- und Zivilkrieges, verfasst ist. Izaguirre interpretiert die argentinische Repression als die genozidale Auflösung eines Akkumulationsprozesses146, der zwischen 1973 und 1976 eine Proliferation von Mobilisierung, Arbeitsplatzbesetzungen, Straßenkämpfen und repressiven Handlungen verzeichnete. Zu der Zeit trugen zwei Fronten in den täglich durchschnittlich 7,6 sozialen Konflikten und 8,2 bewaffneten Gefechten einen Kampf aus, der in insgesamt 8.502 bewaffneten Auseinandersetzungen 1.543 Tote und annähernd 1.500 Verwundete verursachte.147 Mit der Machtübernahme der Streitkräfte am 24.03.1976 wurde der Prozess, der noch während der demokratischen Regie145 Anlässlich des mündlichen Strafverfahrens im Fall ABO (Zusammenarbeit der Folterlager Atlético/Banco/Olimpo) wurde Inés Izaguirre als Expertin vor Gericht geladen (vgl. Izaguirre, 2011, S. 30). 146 Inés Izaguirre beruft sich dabei auf die 1996 wiederaufgelegte Studie von Juan Carlos Marín aus dem Jahr 1978 Los hechos armados. Argentina 1973-1976. La acumulación primitiva del genocidio. Juan C. Marín stellte die These eines argentinischen Zivilkrieges auf und nannte die Vorgehensweise bei der Repression von revolutionären Kräften einen Akkumulationsprozess von Genozid. Sein Schwerpunkt lag auf dem Sichtbarmachen der Beteiligung ziviler Interessen an der Zerstörung der revolutionären Gruppen (weshalb er die Diktatur von 1976 bis 1983 »zivil-militärisch« nennt) und darauf, herauszustellen, dass bei der Verwendung des Begriffs »Staatsrepression« die Teilnahme ziviler Kreise an der Umsetzung der Vernichtung überdeckt wird. Die Verfasserin vertritt dagegen die Position, dass der Begriff »Staatsrepression« einerseits das Machtmonopol des Staates bei der Ausübung von Gewalt deutlich zum Ausdruck bringt und, darüber hinaus, den damit verbundenen repressiven Legitimationsdiskurs, der die genozidalen Praktiken untermauerte und in der Mitte der argentinischen Gesellschaft lang davor, währenddessen und danach wirk(t)e. 147 Izaguirre/A ristizábal, 2000, S. 40. 261

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rung von María Estela Martínez de Perón mit dem »Operativo Independencia« [Operation Unabhängigkeit] in der Provinz Tucumán initiiert worden war, von einem Genozid gefolgt.148 Ihrer Analyse legt Izaguirre die marxistische Polarität des Klassenkampfes und die Annahme zugrunde, dass die Auseinandersetzungen dieser Phase gesellschaftlicher, und nicht lediglich bewaffneter Natur waren. Sie waren die Folge der Bildung zweier Fronten: einer, die sich hinter den sichtbaren exekutiven Streitkräften verbarg und aus einer Gruppe von Großunternehmern, Richtern, kirchlicher Hierarchie und einem Teil der Bevölkerung bestand. Ihnen gegenüber stand eine breite Fraktion von Personen aus unterschiedlichen sozialen Hintergründen und verschiedenen Beschäftigungsverhältnissen, die sich den Maßgaben der bestehenden Ordnung widersetzten und die revolutionären Gruppen bildeten. Diese in zwei Fronten organisierten sozialen Kräfte lieferten sich einen Krieg, der sich nicht nur auf dem materiellen Feld abspielte: Die Kämpfe, die sich beide gesellschaftlichen Kräfte liefern, implizieren nicht zwangsläufig das Vorhandensein von großen bewaffneten Auseinandersetzungen, die kann es geben oder nicht, aber sie setzen große gesellschaftliche Blockbildungen rund um eine Streitachse voraus – ein Staatsmodell beispielsweise, bei dem es zur Parteinahme oder Mobilisierung der unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppierungen kommt, die dazu neigen, sich in zwei großen Kräften mit entgegengesetzter Klassenstrategie zu äußern.149

In ihrer Kartographie des von den Politiken der Vernichtung betroffenen sozialen Feldes ordnet Izaguirre die dem Genozid vorgelagerten sozialen Auseinandersetzungen in eine Genealogie von Arbeiterkämpfen ein, die teilweise innerhalb des Peronismus ausgetragen wurden und dort die gesamtgesellschaftlichen Kontroversen um das Modell der argentinischen Nation als Flügelkämpfe reproduzierten. Die politische Identität der Getöteten und Verschleppten ist nach Izaguirre bezeichnend für einen Prozess, der sich aus der politischen Debatte heraus zu einer immer offeneren Konfrontation zwischen reaktionären und revolutionären Kräften entwickelte und zum Bürgerkrieg wurde.150 Während in der Phase vor dem 24.03.1976 die politische Identität der Toten in 57,3 % der Fälle bekannt war (55 % von ihnen waren Mitglieder politischer Gruppen), war 148 Izaguirre, 2009, S. 112-114. 149 Izaguirre, 2004, S. 8f., aus dem Span. von MLS. 150 Izaguirre, 2009, S. 73-117. 262

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schon damals nur in 12,5 % der Fälle von Verschleppten-Verschwundenen ihre politische Zugehörigkeit bekannt. Dieser geringe Prozentsatz blieb für die Phase nach der Machtergreifung konstant151 und wird von Izaguirre als deutlicher Hinweis für die absichtsvolle Verfolgung einer Politik des Verschwindenlassens interpretiert, die nicht nur die Körper verschwinden ließ, sondern auch das Ziel hatte, politische Biographien, Zugehörigkeiten und Ideen auszulöschen. D.h. die Umsetzung dieser Politik der geheimen Beseitigung der Körper sollte auch das Enigma der sozialen Zugehörigkeit und politischen Identifizierung der Verschleppten-Verschwundenen vertiefen. In ihrer anerkennungswürdigen, über 25 Jahre dauernden Rekonstruktionsarbeit fügte Izaguirre die Daten der in der Repression Getöteten und Verschleppten zu einem Puzzle zusammen, das sie als Grundlage für ihre Interpretation nützte. So lieferten ihre 2011 aktualisierten Daten über den gesellschaftlich-wirtschaftlichen Status der Verschleppten-Verschwundenen (der höheren Mittelschicht zugehörig: 1,5 %; Kleinunternehmer und Selbständige: 29,6 %; Angestellte mit mittlerem Einkommen in urbanem Umfeld: 29,3 %; Angestellte mit geringem Einkommen in ruralem oder urbanem Umfeld: 39,6 %152) die Basis für die Feststellung, dass quasi 70 % der Desaparecidxs Gehalts- bzw. Lohnempfänger waren. Aus dieser Tatsache konkludierte sie, dass diese Menschen eine radikalisierte soziale Kraft bildeten, die, den sozialistischen Idealen zugewandt, im Klassenkampf durch die reaktionäre Kraft beseitigt wurde. Das Vorhandensein einer linksgerichteten Orientierung begründete Izaguirre mit detaillierten Zahlen über die politische Zugehörigkeit der Desaparecidxs. In 42,3 % der Fälle war sie nicht bekannt, die übrigen Verschleppten waren alle Mitglieder linker Gruppen: 10,1 % Aktivisten des linken Peronismus; 5,1 % Aktivisten in Syndikaten; 8,1 % dem linken PRT-ERP zugehörig; 2,1  % Mitglieder der kommunistischen und sozialistischen Parteien; 32,2 % Linksaktivisten ohne spezifische Zugehörigkeit. Aus diesen Daten schlussfolgerte sie: Es handelte sich also um die genozidale Auslöschung einer volksnahen und linksgerichteten Kraft, die große moralische und kämpferische Stärke besaß; nur die wenigsten darunter waren »Bewaffnete« im eigentlichen Sinn, hatten also Feuerwaffen, weil ihre Hauptbewaffnung moralischer Natur war. Die Mehrheit waren politische, gewerkschaftliche, studentische und Stadtviertelaktivisten, also Kämpfer für den gesellschaftlichen Wandel.153 151 Ebd., S. 130. 152 Vgl. Izaguirre, 1992, S. 46-48. 153 Izaguirre, 2011, S. 39, aus dem Span. von MLS. 263

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Inés Izaguirre zeigt in ihrer Untersuchung mit großer Genauigkeit die Prozesshaftigkeit der Vernichtung von Personen, die, vom sozialen Konflikt betroffen, eine nicht systemkonforme Haltung vertraten und immer stärker als Gruppe ausgemacht und zum Ziel der Ausrottungspolitik der Machthaber wurden. Sie spannt den Bogen zwischen den Ereignissen eines ganzen Jahrhunderts und postuliert dabei ein Deutungsschema, das auf einem Kriegsverständnis im Sinne marxistischer Klassenlehre basiert und zutreffend für die Begebenheiten der argentinischen Politik der 70er Jahre zu sein scheint. Fundamentale Kritik an dieser Perspektivierung ergibt sich jedoch aus der Frage, ob diese Aufteilung des sozialen Feldes in zwei Fronten nicht genau jene Ordnung reproduziert, die diese Politik generiert hat. Izaguirre rekonstruierte die Daten von Menschen, die anhand von biographischen Merkmalen eben zu einer Gruppe subsumiert und pauschal zum Feind erklärt wurden. Eine andere Lektüre ist jedoch möglich. Wissenschaftler wie Pilar Calveiro de-konstruieren genau dieses Gebilde und den Prozess, der aus heterogenen Gruppen einen einzigen (homogenen) Feind macht.154 Bezeichnend für die Darstellung Izaguirres ist jedoch der von ihr herausgestellte Aspekt der Moral, der in den Formulierungen »große moralische Stärke« und »ihre Hauptbewaffnung war moralischer Natur« zwar auf das wesentliche Merkmal des Nicht-Bewaffnet-Seins der getöteten Zivilisten hinweist, aber auch anders interpretiert werden kann. Zweifellos war das Engagement breiter Schichten der jungen Generation der 70er Jahre in hohen moralischen Werten verankert und nichts liegt dieser Darstellung ferner, angesichts des großen gesellschaftlichen Unrechts jener Zeit, als ihren anerkennungswürdigen Kompromiss mit der sozialen Transformation zu schmälern; doch Izaguirres verabsolutierender und vereinnahmender Geste wird schlicht durch die Fakten der Repression widersprochen. Die systematische Folter zielte genau darauf, das moralische Individuum zu brechen; die Ketten der Denunziation und die zahlreichen Desaparecidxs zeigen, wie zerbrechlich es in der Tat sein kann. Gleichzeitig lassen Izaguirres Worte eine Überhöhung vermuten, deren Kehrseite einen reduktiven Umgang mit der Individualität eines jeden Opfers darstellt und u.U. zu einer einseitigen Deutung der Biographien dieser Individuen zugunsten einer Verabsolutierung des politischen Engagements führt − und genau das war der Umstand, der die Mehrheit der Desaparecidxs das Leben kostete. Die Überhöhung der Opfer, die auf den schwierigen Umgang mit der negativen Erinnerung und dem Verlust hindeutet, zeigt sich als wesentlicher Beitrag zu einer nationalen Mythenbildung, in der die Desaparecidxs als heroische Märtyrer des Kampfes für die soziale Befreiung gedeutet werden. 154 Calveiro, [1998] 2008, S. 152. 264

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b. Daniel Feiersteins Ansatz der genozidalen Gesellschaftspraktiken Um die konzeptuelle Erarbeitung der Grundlagen für eine Einstufung der Staatsrepression als Genozid hat sich der argentinische Soziologe Daniel Feierstein verdient gemacht. Er beschäftigte sich mit der Aufgabe, den Genozid an der jüdischen Bevölkerung Europas zusammen mit der massiven Repression im Argentinien der letzten Diktatur zu reflektieren. Dabei postulierte er das Konzept der »genozidalen Gesellschaftspraktiken«, ein Typisierungsmuster, das die Ergebnisse der Holocaustforschung und die Deutung der argentinischen Ereignisse miteinander verbinden soll. Kern seiner Argumentation ist die Diagnose eines Verbrechenstypus, der beiden historischen Ereignissen gemeinsam ist. In seiner Untersuchung stellte er fest, dass ihnen eine Machttechnologie eigen ist, die darauf zielte, einen (als solchen konstruierten) Anderen zu negieren und ihn sowohl in seinem materiellen wie in seinem symbolischen Dasein zu vernichten. Die Vernichtung vollzog sich im argentinischen Fall auf zwei Ebenen: in einer Politik des Verschwindenlassens der Körper der »subversiven Straftäter« und im Vergessen ihrer Existenz als Systemgegner. Unterschiedlich ist nach Feierstein die Ausprägung, in der diese Technologie der systematischen Vernichtung wirkte: Anders als in der Shoah, in der sie nach industriellen Maßstäben angewendet wurde, materialisierte sie sich in Argentinien in einer »handwerklichen« Form.155 Für Feierstein liegt das Kriterium für die Unterscheidung zwischen Genozid und Krieg in der relationalen Ausrichtung der Handlungen, denn genozidale Praktiken beschränken sich seiner Ansicht nach nicht auf die physische Vernichtung des Gegners, sie verfolgen darüber hinaus auch ein symbolisches Ausradieren der Erinnerung an diese Vernichtung aus der sozialen Ordnung, um die überlebende Gesellschaft nachhaltig zu domestizieren: Eine spezifische Machttechnologie, die ich als »genozidale Gesellschaftspraxis« bezeichnet habe und in der, im Unterschied zu früheren Kriegen oder auch zur modernen Kriegsführung, dieses Verschwinden eine Auswirkung auf die Überlebenden hat: die Negierung ihrer eigenen Identität, als Synthese eines Seins und eines Tuns, das Verschwinden einer bestimmten Ausdrucksform genau am Schnittpunkt zwischen einer Form des Seins und einer des Tuns (ein besonderer Identitätstypus, der, wie alle Identitäten, durch eine besondere Lebensweise definiert ist).156

155 Feierstein, D., 2007, S. 86. 156 Ebd., aus dem Span. von MLS. 265

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Daniel Feierstein fokussiert die Erweiterung der Genoziddefinition um die politischen Gruppen, ohne dabei die Singularität der Shoah zu relativieren. Seine Reflektionen münden in eine Reformulierung des gängigen Begriffes von Genozid zum Konzept der »genozidalen Gesellschaftspraktiken«, in eine produktive Vorstellung, die nicht bei den Vollstreckern bleibt, sondern die Wirkung der Massengewalt auf die postgenozidale Gesellschaft berücksichtigt.157 Feierstein erkennt, dass die ethnisch betonten Kriterien, die für die Vernichtung der jüdischen Bevölkerung Europas ausgemacht werden und die maßgeblich für eine Typisierung anderer Ereignisse als Genozid sind, einen möglichen Vorbehalt zu einem Konzept der »genozidalen Gesellschaftspraktiken« darstellen, insbesondere in Bezug auf die Unterscheidung von Opferidentitäten. In diesem Zusammenhang kritisiert er die Vorstellung einer Art »ontologischer Differenz«, eines charakteristischen Seins jüdischer Individuen jenseits der Alltagspraxen, sozusagen durch Geburt und aufgrund genetischer Übertragung. Er dekonstruiert ebenfalls eine Argumentation, die für die Shoah ein irrationales Moment in der Anwendung rassischer Gewalt an »unschuldigen Opfern« feststellt und dadurch indirekt die Vernichtung politischer Gegner, wie im Falle der »subversiven Straftäter« in Argentinien, »verstehbar« macht, als sei politische Zugehörigkeit in einer rationalen Handlung begründet und dadurch auch schuldtragend. D.h. ein solches Verständnis geht davon aus, dass eine politische Identität Ergebnis eines Willens und nicht eines »Seins« ist und somit grundsätzlich die Möglichkeit bereithält, sich als Opfer für die massive Ausrottung »schuldig«

157 In diesem Zusammenhang spricht Daniel Feierstein von »sobrevivientes« [Überlebende] dieser genozidalen Praktiken und schließt dabei die Gesamtheit der Bevölkerung ein, die diese Zeit überlebt hat. Dieser undifferenzierte Umgang mit dem Begriff »sobrevivientes« mag ein Versehen in der sonst so einleuchtenden These Feiersteins sein. Obwohl dieser Sprachgebrauch eine empathische Komponente gegenüber den Opfern hat, verführt sie einen unachtsamen Leser dazu, die zivile Postdiktaturgesellschaft insgesamt als Opfer hochzustilisieren und dabei die damalige Rolle vieler als Denunzianten, aber auch als stumme Beipflichter, zu vergessen. Mit Vehemenz weist Christian Gerlach auf die unentbehrliche aktive oder passive Teilnahme breiter Gesellschaftsschichten an Massengewalt hin und stellt in seiner Studie über extrem gewalttätige Gesellschaften die Existenz von »Zuschauern/Bystander« generell in Frage. Sein Fazit lautet: »Zuschauer sind Akteure« bei solchen Ereignissen der Massengewalt (Gerlach, 2011, S. 384). Unbeabsichtigt verdeckt der durchaus mitfühlende Gebrauch von »sobrevivientes« durch Feierstein einmal mehr den Platz der tatsächlichen Überlebenden. 266

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zu machen.158 In Argentinien verweist dies auf das allgemeine »etwas werden sie schon gemacht haben«, das für die Gründe des erbarmungslosen Umgangs mit den Desaparecidxs heute noch bemüht wird und im Legitimationsdiskurs der Diktatur seine Wurzeln hat. Auf diese Floskel der Opfer-Täter-Umkehrung reagieren Diktaturkritiker_innen empfindlich, weil in ihr die ganze Perfidie der Verfolgung zum Tragen kommt. Indem Feierstein beide Ereignisse vergleicht, schließt er sich solchen Argumentationen an, die die Singularität der Shoah in Frage stellen, insofern dafür auf ethnische bzw. rassische Prämissen zurückgegriffen wird.159 Wohlwissend, dass die Differenzen zwischen den Ereignissen enorm sind und es nicht die Absicht wissenschaftlicher Arbeit sein kann, sie für den Vergleich zu reduzieren, betont er die Notwendigkeit der Festlegung einer Begrifflichkeit, die auf beide Ereignisse anwendbar ist, um diese gleichzeitig zu berücksichtigen. Es geht ihm um »die Möglichkeit, beide [Ereignisse] auf epistemischer, philosophischer und, schließlich, auf politischer Ebene zusammen zu artikulieren.«160 Feierstein arbeitet entsprechend die parallelen Charakteristiken genozidaler Praktiken heraus und unterstreicht, dass sie in beiden historischen Fällen gezielt für eine Reorganisation der Gesellschaft verwendet wurden, die insbesondere auf die Zerstörung und Reorganisation der sozialen Beziehungen ausgerichtet war. Für Argentinien diagnostiziert er das gegenseitige Misstrauen, den Bruch der auf Gegenseitigkeit basierenden Beziehungen, den Terror und die Skepsis gegenüber kritischen bzw. Protesthaltungen, die sich in der postgenozidalen Gesellschaft der 80er und 90er Jahre als die am weitesten verbreiteten Merkmale dieser Zeit konstituiert haben, als Folge jener genozidalen Praktiken der späten 70er und der frühen 80er Jahre.161 Mit seiner These der »genozidalen Gesellschaftspraktiken« aktiviert Feierstein ein umfangreiches Netz von Bezügen und illustriert mit präziser und detaillierter Argumentation seine vergleichende Annäherung an die Shoah und die argentinischen Ereignisse. Die Darstellungen von Zeugen, die durch die individuelle Erfahrung den Vergleich 158 Feierstein, D., 2007, S. 85. 159 Im Grunde bleiben exklusive ethnisch zentrierte Betrachtungen indirekt in der Logik des Nationalsozialismus bzw. der Prämisse nationalstaatlicher Uniformität gefangen. Feierstein bezieht seine Reflexionen auf den Aufsatz »Genocide in the Non-Western World« von Robert Cribb (in: Jensen, Steven (Hg.), Genocide: Cases, Comparisons and Contemporary Debates, Kopenhagen 2003). Zur Kritik an der »uniqueness« der Shoah durch Daniel Feierstein siehe Feierstein, D., 2007, insb. S. 151-166. 160 Feierstein, D., 2007, S. 84. 161 Ebd., S. 391. 267

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naheliegend machen, liefern ebenfalls wichtige Perspektiven.162 Die Einbettung der argentinischen Ereignisse in den Rahmen der Doktrin der nationalen Sicherheit in Lateinamerika zeigt die politische Absicht der Vernichtung und der Reorganisation der gesellschaftlichen Beziehungen in einem breiteren Rahmen als dem nationalen.163 Mit seiner Begründung eines vollzogenen Genozids in Argentinien schließt sich Feierstein einer Reihe von Genozidforscher_innen an, die sich für ein Verständnis der Prozesse massiver Ausrottung einsetzen, ohne diese auf religiöse oder ethnische Prämissen einzuschränken. Er macht auf das Verso dieser limitierten Wahrnehmung aufmerksam: Maybe if the collective memory of genocide is one of definitively differentiated groups annihilating one other, the strategic aims of genocide will be fulfilled. Jews and Sinti and Roma will never be seen again as Germans; Serbs, Croatians, and Bosnians will never again be Yugoslavs; »Communist Indians« will never again be Guatemalans; and »subversive delinquents« will never be Argentineans again.164

Ein aktualisiertes Verständnis genozidaler Gesellschaftspraktiken, das ethnische oder rassische Zuweisungen als gesellschaftliche Legitimierungskonstruktionen für gegenmenschliche Gewalt enttarnt und sich für die relationalen Aspekte historischer Begebenheiten öffnet, so das daraus zu ziehende Fazit der Verfasserin, stellte den politischen Charakter genozidaler Ereignisse geradezu in den Vordergrund.

3.2 Die Produktion identitärer Figuren: »genocidas«, unschuldige Opfer und heroische Märtyrer Von Krieg oder Genozid zu sprechen beeinflusst den Blick auf die von massiver sozialer Gewalt betroffenen Individuen wesentlich. Denn das Ausmaß des humanitären Desasters, das das massive Töten von Zivilisten bedeutet, verändert die Wahl der Bezeichnung involvierter Personen. Statt der kriegsüblichen Figuren wie Sieger und Besiegter kennt man dann vor allem Täter und Opfer. Aleida Assmann betont, dass sich das Verhältnis zwischen Siegern und Besiegten und zwischen Tätern und Opfern fundamental unterscheidet, denn obwohl 162 Ebd., insb. S. 350-353. 163 Feierstein, D., 2010b, S. 489-508. 164 Ebd., S. 507. 268

Teil III – Staatsrepression und diskursiver Wandel

die Begriffe Täter und Opfer kriminalistischer Natur sind, haben sie mit der Zerstörungswucht genozidaler Gewalt Einzug in die Darstellung von Geschichte erhalten: Wo gar nicht gekämpft wird, sondern es in einer schrecklichen Asymmetrie von überrumpelnder Macht und ausgelieferter Ohnmacht nun Verfolgung und Vernichtung gibt, kommen auch keine politischen Ziele, Motive oder Werte ins Spiel, die die Verfolgten hätten gegen die Zerstörungskraft aufbieten können.165

Das deutsche Wort »Opfer« bezeichnet gleichzeitig die Handlung des Opferns und das Geopferte selbst. Es leitet sich vom lateinischen »operari« (zunächst: »eine Arbeit verrichten«, dann: »ein religiöses Opfer darbringen«) ab und wird sprachgeschichtlich als eine Rückbildung aus »opfern« aufgefasst.166 Mit dem spanischen Wort für das Geopferte »víctima« (aus der lateinischen Wortbildung der Wurzel vig-, vigere − ehrenhaft oder kraftvoll sein – und der Superlativendung -tismus) war die Gabe an die Götter gemeint, die rituelle Darbringung eines Tieres oder Menschen als Zeichen der Götterverehrung. Für die zweite Bedeutung, die Opferhandlung, spricht man auf Spanisch eher von »sacrificio«. In der reflexiven Verbform »sacrificarse« [sich opfern] tritt der selbstbestimmte Charakter des Einsatzes des eigenen Lebens für einen höheren Zweck als syntaktische Differenzierung hervor und weist auf die Beziehung des im Verb implizit handelnden Subjektes zu den semantischen Feldern der Religion (Heilige und Märtyrer) und der Nation (Helden und Märtyrer) geradezu hin. In Argentinien überlappten sich diese aus der religiösen Erziehung stammenden und den nationalen Mythen beiwohnenden Vorstellungen und nährten gleichzeitig sowohl den bereits erwähnten Ethos der Siebziger der Sozialrevolutionäre als auch die Legitimation der kontrarevolutionären Kräfte. Während und nach der Staatsrepression reklamierten die Streitkräfte öffentlich die Rolle der Selbst(auf) opferung für sich, in dem Versuch, sich nach der Semantik des Nationalstaates als heldenhaft − und damit des Nationalerbes würdig − zu inszenieren. Gesellschaftlich jedoch erhielten sie die Rolle der Täter und wurden zunehmend abkürzend und zusammenfassend »genocidas«, Völkermörder, genannt. Geprägt durch Negativität und Sinnlosigkeit findet das massive persönliche Leid der Opfer asymmetrischer Gewalt schwer Eingang in die kollektiven Ge-

165 Assmann, A., 2006, S. 74. 166 Botz, 1997, S. 226. 269

Erinnerung und Intersektionalität

dächtnisse, wie Aleida Assmann ausführt.167 Diese Schwierigkeit wird in Argentinien im Umgang mit den Überlebenden des Staatsterrors beispielhaft illustriert. Entgegengesetzt verhält es sich allerdings mit dem Gedenken an heroische Opfer, an Märtyrer, das einen positiv belegten Gedächtnisakt darstellt, ist ihr Tod doch von Sinn durchdrungen. Daher scheint die Versuchung groß, dem sinnlosen massiven Sterben nachträglich nach religiösen oder nationalen Semantiken Sinn zu verleihen.168 Doch genau in diesem menschlichen Bedürfnis der Überhöhung und Huldigung, ja der Heroisierung, um sich der Negativität und Sinnlosigkeit dieser extremen Erfahrung der Mitmenschen nicht stellen zu müssen, liegt auch die Gefahr verborgen, einer Form der Enthebung menschlicher Eigenschaften Vorschub zu leisten und von den Opfern sozialer Gewalt angesichts des Todes Übermenschliches wie Widerstand gegen die Folter oder totale Aufopferung bis zur Selbstaufgabe zu erwarten. Denn der Gegenpart eines Helden ist nicht einfach sein Gegner, sondern vielmehr der Verräter, derjenige, der an der übermenschlichen Aufgabe scheitert und sich, seine Gefährten und seine Ideale aufgibt. Darin fußt teilweise das allgemeine Verdachtsmoment gegenüber Überlebenden in der argentinischen Postdiktatur (neben der vielleicht bedrohlichen Erinnerung, die diese an das eigene Verhalten während der Verfolgung beisteuern). Das Bild des Opfers eines Genozids und seiner Passivität ist ebenfalls problematisch. Angelehnt an die Passion Christi verleiht das erlittene Leid dem Opfer die Aura absoluter moralischer Autorität, und anstelle der benötigten Anerkennung bringt es Verehrung, Pietät und eine Überhöhung der Opferrolle mit sich, die betroffene Individuen nicht gerade menschlicher macht.169 In der Wahrnehmung des argentinischen Staatsterrors verhüllt das Bild der Passivität des Opfers womöglich gerade jene Gesten des Widerstands und der Menschlichkeit von Individuen, die unter den extrem unmenschlichen Bedingungen des Lagers dagegen ankämpften, ihre Menschlichkeit zu verlieren. Pilar Calveiro fand dafür klare Worte: Auch wenn die Verschwindenlasser es nicht wahrhaben wollten, waren unter den Kapuzen Augen, die alles aufnahmen, was sie sehen konnten, und Menschen, die sich dagegen wehrten, so einfach zu Bündeln reduziert zu werden.170

167 168 169 170 270

Assmann, A., 2006, S. 75. Ebd., S. 74. Ebd., S. 80f. Calveiro, [1998] 2008, S. 109, aus dem Span. von MLS.

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Die Vorstellung eines passiven Opfers begünstigt einen Umgang mit den vom Staatsterror betroffenen Personen, der sie erneut und nachhaltig auf den Umstand des Verfolgt-Gewesen-Seins fixiert. In Argentinien manifestierte sich dieses Bild in einem auf sein nacktes Leben reduzierten unpolitischen Homo sacer. Der entrechtete, aber auch vom »Makel« des politischen Engagements gereinigte Mensch wurde durch den humanitären Diskurs der Menschenrechtsbewegung in seiner blanken Menschlichkeit in einem Prozess reproduziert, der heute als »Verengelung« der Desaparecidxs bezeichnet wird. Emilio Crenzel zeigt, dass bedingt durch die Anforderungen internationaler Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International die Angaben über die Desaparecidxs hauptsächlich sozio-demographisch und beschäftigungstechnisch verfasst werden mussten und dieser Umstand zu einer Wahrnehmung der Verfolgten als unpolitische Opfer beitrug. Hinzu kam eine Art punitive Bedrohung, weil Amnesty sich weigerte, jenen Opfern zu helfen, die Mitglied der Guerillaorganisationen waren.171 Aus der hier vorgestellten Kontroverse um die Deutung der Staatsrepression als Krieg oder Genozid ergeben sich im Zusammenhang mit den desapariciones forzadas und ihren Opfern unterschiedliche identitäre Figurationen. Diese unterschiedlichen Einschätzungen stehen im Mittelpunkt des Kampfes um das Gedächtnis und zeigen einen Prozess auf, in dem die Erinnerung an die Desaparecidxs im Begriff ist, ein Mythos für die argentinische Nation zu werden. Ein genaueres Hinschauen auf die Erlösungsbilder und identitären Konstruktionen von Helden und Heldinnen, Märtyrern und Märtyrerinnen, Verrätern und Verräterinnen in den Narrationen über die Staatsrepression kann also wichtige Informationen über den Anlass des Erinnerungsaktes und darüber hinaus über eine Verortung der jeweiligen Sprecherin/Verfasserin bzw. des jeweiligen Sprechers/Verfassers im diskursiven Feld liefern. Besondere Brisanz erhalten diese Einschätzungen, wenn sie für die Taxierung identitärer Figurationen verfolgter Frauen angesetzt werden, womit sich das nachfolgende Kapitel beschäftigt.

3.3 Die Staatsrepression und ihre genderspezifische Gewalt Im Rahmen der Aufarbeitung der argentinischen Repression wurde geschlechtsspezifische Gewalt bisher wenig berücksichtigt, so die Menschenrechtsgruppe Memoria Abierta in einer Veröffentlichung des Jahres 2012. Memoria Abierta konstatierte, dass obwohl genderspezifische Gewalt ein zentraler Aspekt der 171 Crenzel, 2010a, S. 72f. 271

Erinnerung und Intersektionalität

Repression war, diese weder im rechtswissenschaftlichen Diskurs noch in der juristischen Auseinandersetzung und auch nicht in der sozialen Debatte während der demokratischen Transition zum Thema wurde. Die CONADEP schenkte den Anprangerungen der Zeuginnen und Zeugen über die erlittene sexuelle Gewalt keine besondere Beachtung, und obwohl Vergewaltigung nicht zum Umfang der Straflosigkeitsgesetze gehörte und gegen diese Verbrechen hätte ermittelt werden können, wurden keine Schritte in dieser Richtung unternommen.172 Erst mit der Wiederaufnahme der Rechtsverfahren im Jahr 2005 erhielt Gewalt gegen Frauen stärkeres Gehör und konnte im Juni 2010 im Prozess gegen Gregorio Molina zur Anwendung kommen.173 Die rechtliche Grundlage dafür lieferten die Rechtsverfahren in Exjugoslawien und Ruanda und der damit verbundene Eingang der Rechtsfigur der Vergewaltigung als Verbrechen gegen die Menschlichkeit in das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs.174 Die diskursive Untermauerung dieser Wende ist auf die langjährige akademische Arbeit von Frauenrechtler_innen zurückzuführen und auf eine gesamtgesellschaftliche Entwicklung, die auch in Argentinien die Rechte und den Platz der Frauen insgesamt stärker bedenkt. Trotz zunehmender Aufmerksamkeit für den Aspekt der politischen und misogynen bzw. genderspezifischen Diskriminierung im Rahmen der letzten argentinischen Diktatur bestehen weiterhin Hemmnisse, die einen Fortschritt in der Wahrnehmung geschlechtsspezifischer Gewalt und ihre Strafverfolgung erschweren. Manche Erschwernisse sind prozeduraler Natur, andere in den Schwierigkeiten begründet, Schmerz und Scham in Worte zu fassen. Eine Zeugin beschrieb ihre Empfindungen so: »Erst vor kurzem konnte ich es aussprechen. Ich hatte es noch nie in Worte gefasst. Wir haben es unseren Verwandten nicht gesagt, um ihnen Leid zu ersparen«175, und machte auf den wichtigen Aspekt der Notwendigkeit eines individuellen, aber auch gesellschaftlichen Gehörs aufmerksam, damit über diesen schambeladenen Aspekt der damaligen Verfolgung gesprochen werden kann. Aber nicht nur die Emotion der Scham wird mit dem langen Schweigen über sexuelle Gewalt in Verbindung gebracht. Während in den Verfahren gegen die Militärjuntas und den Folgeverfahren die Aussagen der Überlebenden darauf zielten, das Geschehene zu dokumentieren, den systematischen Charakter der Repression zu belegen und zur Gewissheit über den Verbleib der Desaparecidxs beizutragen, bekamen die von den Repressionskräften begangenen Sexualdelikte deswegen kaum Berücksich172 173 174 175 272

Bacci u.a., 2012, S. 91. Valente, 2011, o. S. Balardini u.a., 2011, S. 184f. Zeugenaussage vom 02.10.2010, in: Ebd., S. 176.

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tigung, weil den Ex-Desaparecidas und Ex-Desaparecidos diese intimen Verletzungen angesichts des Überlebthabens inmitten der großen Tragödie nebensächlich vorkamen: Inmitten des Horrors in den Konzentrationslagern kam einem eine Vergewaltigung wie etwas Zweitrangiges vor. Der Tod meines Mannes und alles, was da drinnen passierte, da trat das in den Hintergrund.176

Die Anerkennung von Vergewaltigung als Verbrechen gegen die Menschlichkeit schaffte die Voraussetzung dafür, dass dieses Unrecht auch nach so langer Zeit als solches verfolgt werden konnte. Ähnlich wie geheime Folterungen kann Vergewaltigung höchstens teilweise von Zeugen bestätigt werden, die Schreie hörten oder später Verletzungen feststellten. Aber vollzogen im Rahmen massiver Menschenrechtsverletzungen sind auch hier die Aussagen der Opfer der maßgebende Beweis für Vergewaltigung. Doch trotz der Gültigkeit einer Rechtsprechung, die sich auf die Ratifizierung des Rom-Statuts durch Argentinien und − nach der Reform des Strafgesetzbuches von 1999 − auf das individuelle Recht auf sexuelle Unversehrtheit stützen kann, scheuen Ermittlungsrichter heute nach wie vor die explizite Verfolgung der sexuellen Gewaltverbrechen außerhalb der Figur der Folter und geben vor, Vergewaltigungen seien Delikte der privaten Sphäre.177 Die Weigerung der Mehrheit der Untersuchungsrichter, gegen die im Rahmen der Repression begangenen Sexualdelikte als solche zu ermitteln, ist ein Fakt, der vom Team der Menschenrechtsorganisation CELS als symptomatisch für die Strafverfolgung von Vergewaltigung in Argentinien sowie für die Reproduktion der asymmetrischen Geschlechterordnung durch die Judikative gesehen wird. Daher kreist die aktuelle Forderung von CELS darum, an Frauen und Männern begangene Sexualdelikte im Rahmen der massiven Menschenrechtsverletzungen als eigenständiges Verbrechen anzuerkennen. Nach Balardini et al. entsprechen diese Delikte einer eigenen Rechtsfigur innerhalb des systematischen Plans der Repression und sollten nicht unter dem umfassenderen Register der Folter subsumiert werden, um ihrer erneuten Unsichtbarkeit vorzubeugen bzw. dazu beizutragen, dass in den Beziehungen zwischen den Geschlechtern Gewalt gesamtgesellschaftlich stärker verurteilt und bestraft wird.178

176 Zeugenaussage im Fall Molina, Tribunal Oral Federal de Mar del Plata, Juni 2010, in: Ebd., aus dem Span. von MLS. 177 Balardini u.a., 2011, S. 196f. 178 Ebd., S. 197. 273

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Die »Nation der Männer« und der »Verrat der Frauen« Wenn Gesetze Auskunft über konkrete Verhaltensweisen geben, die sich in bestimmten Kulturkreisen durchgesetzt haben und gesellschaftlicher Konsens sind, so gibt die bis 1999 geltende Definition von Vergewaltigung als Delikt gegen die Ehrbarkeit (delito contra la honestidad) einen Einblick in den Wandel der Geschlechterbeziehungen in Argentinien. Vor der Einführung des Gesetzes 25.087 über die Delikte gegen die sexuelle Unversehrtheit des Menschen im Jahr 1999 verwies die Rechtsfigur der Vergewaltigung auf die geschändete Lauterkeit oder Keuschheit der Frauen und somit auf eine Schändung ihrer Ehrbarkeit. Sie wurde ebenfalls als eine Schande für die Ehre des Mannes (des Vaters oder des Ehemannes) interpretiert, unter dessen Obhut Frauen noch ideell gesehen wurden. Vor diesem Hintergrund suchten ermittelnde Richter nach Andeutungen und Beweisen, die die (Nicht-)Ehrbarkeit des Opfers untermauerten. Nichtehrbarkeit deswegen, weil die Beweisführung gleichzeitig den Konterpart zur Ehrbarkeit konstruierte, indem die Suche nach Indizien für eine Vergewaltigung den Frauen indirekt unehrenhaftes Verhalten unterstellte. In diesem Sinne mussten Beweise für den Widerstand und für den gewaltsamen Charakter der Unterwerfung erbracht werden, ohne zu berücksichtigen, dass sowohl in öffentlichen wie in privaten Räumen Macht- und Autoritätsbeziehungen ähnlich wie rohe Gewalt wirken und nicht die blinde Wucht, sondern ein einschüchterndes Klima zusammen mit Macht- bzw. Vertrauensmissbrauch eher der Realität sexueller Aggressionen entsprechen.179 In der Rechtsfigur der Vergewaltigung und im vaginalen bzw. rektalen Zugang als ausschließliches Kriterium für ihre Definition kristallisierten sich der prioritäre Schutz der Nachkommenschaft und ein Verständnis von (Vor-)Rechten derer, die die patriarchalische Macht im häuslichem Raum ausüben können, d.h. des Vaters und des Ehemannes180, als Bestandteile einer Ordnung heraus, die gewahrt werden sollte.181 Die Axiome dieser Ordnung sind in einer vermännlichten Vorstellung der Nation begründet. Die Ausgestaltung der Rechtsfigur der Vergewaltigung, wie sie vor der Reform von 1999 bestand, verwies auf eine Ordnung der Geschlechter, die ein System der Differenzierung und Hierarchisierung ist, in dem die Oberhand der Männer geschützt und legiti-

179 Rodríguez/Chejter, 1999, S. 7. 180 Daher die langjährige schiere Unmöglichkeit, Vergewaltigung in der Ehe zu ahnden, denn der Beischlaf wird nach biblischer und kanonischer Auffassung als ein Vorrecht des Ehemannes und eine Ehepflicht der Frau verstanden (Balardini u.a., 2011, S. 182). 181 Balardini u.a., 2011, S. 182. 274

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miert wird. Auch die Rhetorik der Nation befolgt und wiederholt diese Ordnung, um die Regierung der Männer und durch die Männer zu legitimieren: In nationalen Rhetoriken werden kollektive Identitäten hergestellt, territoriale, ethnische und/oder kulturelle Grenzen gezogen und das äußere und innere Fremde identifiziert und ausgeschlossen. Idealerweise fließen Nation und Subjekt zu einer Textfigur und damit in einer affektiven Wahrnehmung zusammen: als männliches Subjekt der Selbstbehauptung.182

Das Subjekt, das mit der Nation bestenfalls zu einer einzigen Textfigur verschmilzt, ist ein heroisches männliches Individuum, das die eigene und die Integrität der Nation verteidigt und idealerweise von der Nationalarmee verkörpert wird. Heldenhaftes Verhalten und die Prämissen der Askese und der Opfergabe an das Vaterland wurden von den Mitgliedern der revolutionären nationalen und sozialen Befreiung ebenfalls für sich beansprucht. Das militarisierte Leben der Guerillas sah für Frauen zwar einen sekundären Platz vor, für konservative Kräfte zeichnete diesen Platz dennoch eine unerhörte Rebellion aus, die offensichtlich als doppelte Herausforderung verstanden wurde. Frauen hatten die bestehende Ordnung nicht nur umstürzen wollen: Indem sie sich in die Lage versetzten, wehrhaft zu sein, hatten sie diesen radikalen Wechsel bereits vollzogen. Dies bedeutete eine gravierende Transgression tradierter gesellschaftlicher Rollen, die für Frauen die passive Haltung des Schützlings vorsahen und in der relativen Schwäche und der daraus geschlussfolgerten Wehrlosigkeit der Frauenkörper ein zentrales Legitimierungsargument patriarchalischer Machtverhältnisse darstellten. Im Gegenzug dazu »kontaminierte« die Präsenz von Frauen die Performance von Männlichkeit bewaffneter Männer, daher ist anzunehmen, dass sie eine noch nicht da gewesene Form von Effeminierung durch »Ansteckung« abwehrten. Klaus Theweleit weist darauf hin, dass eine Gesellschaft, deren Sinnproduktion von Männern dominiert wird, die Attraktion durch »das Männliche« verordnet und »das ›Weibliche‹ entwertet, alle Bedrohungen für das ›männliche‹ Ich […] mit dem Weiblichen codiert«.183 Auch wenn die Repressionskräfte sich im Rahmen des Staatsterrors generell und bezeichnenderweise der Körper bemächtigten, die systematischen Vergewaltigungen entsprachen diesem »Ungefährlichmachen« und aktualisierten alte, gar biblische Rituale der Kriegsführung, die mit der Vereinnahmung der Körper der Frauen die Feinde bezwangen. Die Tatsache, dass bei der Vergewaltigung das Opfer 182 K ämper, 2008, S. 347. 183 Theweleit, [1978] 2009, S. 330. 275

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die Kontrolle über das Verhalten des eigenen Körpers verliert und es durch den Peiniger sozusagen des eigenen Leibes enteignet wird, schafft eine Situation extremer und unmittelbarer Ohnmacht. Die Vergewaltigung von männlichen Verschleppten-Verschwundenen mit phallusartige Objekten quälte Desaparecidos nicht nur, sondern erniedrigte sie zusätzlich durch ein Effeminieren184, das auch dem »Ungefährlichmachen« diente. Diese Entwicklung »an der Front« stand vor dem Hintergrund einer Jugendkultur des »Unisex«, die ebenfalls das doing gender und das stetige Markieren der Grenzen zwischen den Geschlechtern in der Performance von Maskulinität und Femininität verwischte. In der ESMA wurde ein als weiblich identifiziertes Äußeres (Make-up, Minirock etc.) unter Umständen als Bestätigung der Einschätzung, eine Frau sei »ungefährlich«, verstanden und charakterisierte Gefangene eventuell als umerziehbar, wie u.a. folgende Worte von Miriam Lewin, Überlebende der ESMA, illustrieren: Die Kameradinnen hatten mir gesagt, dass ich mich gut anziehen sollte, dass es den Marineangehörigen gefiel, wenn wir uns zurechtmachten, wenn wir weiblich aussahen. Negrita, die Gefährtin von Ramiro, hatte mir einen blauen Samtblazer geliehen und jemand anderes eine weiße Bluse.185

Miriam Lewin bezieht sich in ihrer Darstellung auf einen von vielen Anlässen, bei denen die Offiziere der Marine mit den Verschleppten-Verschwundenen in Cafés und Ausgehlokale gingen und dort Normalität mimten. Angesichts des Lageralltags wurden diese Anlässe u.U. von den verschleppten Frauen als besondere Behandlung im positiven Sinne verstanden, wie die Menschenrechtsanwältin Carolina Varsky beschreibt.186 Es bedurfte einer langen Aufarbeitungszeit, bis die Übergriffe angezeigt wurden, denn die ehemals Verschleppten hatten Schwierigkeiten, diese an ihnen begangenen Verbrechen in einen anderen Rahmen zu stellen. Varsky betont, dass langjährige Arbeit notwendig war, um bei den Überlebenden ein Gefühl des Unrechts für Praktiken wiederherzustellen, die sie zu jener Zeit als einen Vorteil gegenüber anderen Gefangenen erlebt hatten. Gerade in dieser Wahrnehmung liegt für sie eine Falle bereit, denn aufgrund der Einschätzung, sie könnten dem zugestimmt haben, werden sie als Verräterinnen gesehen:

184 Calveiro, [1998] 2008, S. 65. 185 Actis u.a., 2006, S. 231, aus dem Span. von MLS. 186 Bacci u.a., 2012, S. 28. 276

Teil III – Staatsrepression und diskursiver Wandel Ich glaube, dass es eine Menge wichtige und vorbereitende Arbeit mit den Opfern gibt. Zunächst müssen sie begreifen, dass es nichts ändert, dass ihnen eine »andere Behandlung« zuteilwurde, weil sie die Möglichkeit hatten, das Lager zu verlassen, weil sie in Restaurants gehen konnten, weil sie sich entsprechend anziehen konnten, um abends auszugehen, das alles ändert nichts daran, dass sie vergewaltigt wurden und dass an ihnen Verbrechen begangen wurden, […] damit sie sich als Opfer begreifen, nicht als bevorzugt Behandelte, vor allem mit Blick auf ihre Mitgefangenen, für die es ebenfalls schwer ist, gibt es doch eine Menge Diskussionen darüber, ob sie Opfer waren oder nicht, ob sie dieser Beziehung zugestimmt hatten.187

Bei diesen »Ausflügen aus dem Lager« lag die Souveränität über Leben und Tod nach wie vor in den Händen der Peiniger; der Sex, den sie sich mit der stummen Drohung der »Verlegung« (in ein wie auch immer geartetes Grab) nahmen, war schlicht und einfach erzwungen. In diesem Zusammenhang sind die Überlegungen der argentinisch-brasilianischen Sozialforscherin und Anthropologin Rita Segato aufschlussreich, die den Diskurs von Gewaltverbrechern anhand von Interviews mit Sexualstraftätern in den Gefängnissen von Rio untersuchte und die Ergebnisse u.a. auf den Feminizid in Ciudad Juárez anwandte. Der diskursive Gestus der Vergewaltigung, so Segato, soll als kommunikative Handlung entlang zweier Achsen der Sinnkonstitution entschlüsselt werden.188 Einerseits bezieht er einen Vergewaltiger ein, der sein Opfer zensiert, korrigiert, diszipliniert und die Funktion des Souveräns verkörpert, der über das Leben und den Tod entscheidet, aber andererseits »spricht« der Aggressor mit seiner Handlung seinesgleichen an. Durch seine Aggressivität und seine letale Macht zeigt er ihnen im Wettstreit, dass er einen Platz in der Gesellschaft der Männer verdient, einen herausragenden Platz in einer Bruderschaft, die nur die Sprache einer pyramidalen hierarchischen Organisation anerkennt.189 Bei der Anwendung ihrer Erkenntnisse auf die Analyse der Frauenmorde in Ciudad Juárez gelangte Segato zu der Deutung, dass die auf offener Straße hinterlassenen teilweise verstümmelten Leichname »Ausschuss« im internen Machtkampf der Männer waren.190 Nicht nur Frauen bildeten in Argentinien diesen »Ausschuss«, worauf Segato hinweist. Eine ähnliche Wortwahl trifft Pilar Calveiro in einem Artikel neueren

187 188 189 190

Ebd., aus dem Span. von MLS. Segato, 2008, S. 85. Ebd., S. 89 Ebd. 277

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Datums, um eine der distinktiven Eigenschaften der desapariciones forzadas zu beschreiben: Durch die – zeitlich und im Ausmaß – unbegrenzte und grenzenlose Folterung des Häftlings extrahiert man Informationen aus ihm, man setzt ihn allen Arten von sensorischer Deprivation aus, man entleert ihn der Menschlichkeit und man wirft ihn weg, wie eine unnütze Sache, indem man jede Spur der Person verschwinden lässt und, zum Schluss, seine Überreste.191

Rita Segato macht darauf aufmerksam, dass mit dem Nachlassen der konventionellen Kriegsformen sich im Umgang mit den Frauenkörpern etwas zum Negativen verändert hat. Aus ihrer Perspektive hatte der kriegerische Umgang in den kollektiven Repräsentationen von Frauenkörpern im Patriarchat bisher den Charakter der Konquista eines Territoriums und seiner Annexion, der Besitzergreifung durch individuelle und kollektive Vergewaltigungen, der Sklaverei für sexuelle Dienste und war an der Ehre des männlichen Feinds ausgerichtet. Das Foltern bis zum Tod bezweckt die Destruktion und nicht die Annexion der Frauenkörper und ist ein Novum in einem neuen kriegerischen Szenarium.192 Wie charakteristisch für die repressiven Praktiken waren die Vergewaltigungen im Rahmen der argentinischen Staatsrepression? In der legalen Aufarbeitung der Verbrechen stand anfänglich die Frage im Raum, inwieweit tatsächlich von einer Vergewaltigungssystematik gesprochen werden kann. Die Handlungen in den argentinischen Lagern unterscheiden sich von der Vorgehensweise in anderen Ländern wie Guatemala und Peru, Ruanda und Exjugoslawien, in denen die Massenvergewaltigungen im Rahmen eines Angriffs auf die zivile Bevölkerung von Siedlungen stattfanden. Eine Untersuchung der Vorgehensweise in den »illegalen Haftzentren« stellte ein systematisches − kein zufälliges oder vereinzeltes − Vorgehen aller Streitkräfte heraus.193 Als Handlungen, die im Prozess der Herabwürdigung individueller Subjektivität Menschen zu »desechos«, zu Abfall, Ausschuss, zu bloßen Körperhüllen machten, waren die systematischen Vergewaltigungen in den centros für die Opfer auch durch das streckenweise lange Zwangszusammenleben mit den Vergewaltigern im Lager eine extreme Belastung. Eine Überlebende erläuterte in ihrer Aussage während der öffentlichen Verhandlungen über die ESMA, wie sie in die sexuelle Sklaverei gezwungen wurde: 191 Calveiro, 2011, S. 118, Hervorh. von V. A., aus dem Span. von MLS. 192 Carbajal, 2010, o. S. 193 Balardini u.a., 2011, S. 189. 278

Teil III – Staatsrepression und diskursiver Wandel In diesem Sinne wurde auch ich sexuell missbraucht. Während der ersten Monate machten zwei Offiziere mir gegenüber sexuelle Anspielungen, als wäre es eine normale Situation. Mit der Zeit allerdings, das war schon 1977, ließ A. mich vom Unteroffizier M. bei verschiedenen Gelegenheiten in eine Abteilung bringen, zu der er nachkam und wo er mich zu sexuellen Beziehungen zwang. Ich hatte keine Möglichkeit, mich zu widersetzen, weil ich wusste, dass A. meine Verlegung befehlen konnte, wenn ich mich weigerte. Die sexuelle Sklaverei hat mich gedemütigt und moralisch zerstört, weil sie mir meine Würde und meine Integrität als Person genommen hat und weil ich in einem Zustand der Entfremdung lebte, aus dem ich erst vor kurzem entkommen bin, als ich freigelassen wurde und mit Hilfe der Therapie und der Zeit.194

Eine extremere Situation von Verletzlichkeit und Ohnmacht als die Gefangenschaft im Folterlager ist kaum vorstellbar, und dennoch: In der Reflexion darüber, wie über diese spezifischen Formen der Gewalt gegen Frauen gesprochen und gesellschaftlich verhandelt wird, unterstreichen Balardini et al. die Tatsache, dass mit dem Hinweis auf die (theoretische) Möglichkeit der Verweigerung sexueller Dienste bzw. des Widerstands gegen die Vergewaltigung überlebende Frauen oft mit der Beschuldigung des Verrats konfrontiert werden.195 Auch in der Literatur treten diese Figurationen auf (vgl. La mujer en cuestión von María Teresa Andruetto), die nach Ana Longoni die gedankliche Fortsetzung von »Prinzipien« darstellen, die aus dem ethischen Kodex der bewaffneten Gruppen der Siebziger stammen.196 Nach den obigen Ausführungen spricht das unreflektierte Festhalten an diesen Prinzipien für eine Deutung der Staatsrepression als Krieg und integriert die Figuren von Verrätern erneut in die Rhetorik der Nation. Frauen spielen in dieser Semantik der vermännlichten Vorstellung der Nation 194 Ebd., S. 190, aus dem Span. von MLS. 195 Ebd., S. 179. 196 Longoni, 2007, S. 206. Ana Longoni analysiert in ihrem Buch die Beschaffenheit dieser Vorstellung von Verrat in den Figurationen von Verrätern in drei literarischen Werken der Postdiktatur (Miguel Bonassos Recuerdo de la muerte, Rolo Diez’ Los compañeros und Liliana Hekers El fin de la historia). In der Widmung ihrer Analyse macht Longoni auf die niederschmetternde Wirkung des Verdachts des Verrats aufmerksam, als sie ihr Buch Marina Kurlat und Daniel Retamar mit folgenden Worten widmet: »Überlebende nicht nur ihrer Verschleppung und der ihrer Eltern, sondern auch der Geschichten, die danach geschrieben wurden« (Longoni, 2007, S. 9). 279

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eine subalterne Rolle. Sie liegt in der Idee ihrer Ehrenhaftigkeit begründet, die, als sexuelle Integrität gefasst, als Sinnbild, Verkörperung und Übertragung der Ehre des Vaters oder des Mannes begriffen wird. Einer heroischen oder Märtyreridentität haben Überlebende generell und überlebende Frauen insbesondere daher nie entsprechen können: Vor dem Hintergrund der tabuisierten, aber allseits bekannten Massenvergewaltigungspraktiken hat die blanke Tatsache ihres Überlebens sie des Verrats verdächtig gemacht. Der argentinische Staatsterror hat Tausende von Frauen zu Opfern gemacht, offensichtlich systematisch vergewaltigt und zu Tode gequält bzw. auf vielfache Weise ermordet; einige wenige durften überleben. Die Tatsache, dass mehr Frauen als Männer den Staatsterror überlebt haben, scheint ein Hinweis mehr dafür zu sein, sie selbst seien eine Botschaft an den Feind gewesen. Überlebende Frauen wurden allerdings vom Feind und vom (früheren) Freund verachtet. Der Umgang mit ihnen wurde erst 2010 zum Thema in den strafrechtlichen Verhandlungen; der sexuelle Missbrauch wurde von den Überlebenden selbst nicht selten verschwiegen, aus Scham und wahrscheinlich, weil ihnen nicht bewusst war, dass sie sich selbst zu einer trügerischen sexuellen Moral verpflichtet fühlten. Rita Segato betont, dass es eine fundamentale Aufgabe ist, Sexualität von Moral zu trennen, um zu erkennen, dass diese Aggressionsformen mit den und durch die Genitalien geschehen und einer kriegerischen Ordnung geschuldet sind. Wenn die Sexualität zum Privaten erklärt wird, entzieht sich uns der politische und kriegerische Charakter der Handlungen, so Rita Segato in einem Interview aus dem Jahr 2010: Wenn das Patriarchat nicht das Bedeutungs- und Sinnnetz wäre, in dem wir gefangen sind, hätte Sexualität keine der Bedeutungen, die sie für uns hat. Sie hätte beispielsweise nicht den Zweck, den anderen zu demoralisieren. Wir Frauen müssen klarmachen, dass Sexualität, die auf so verletzende Art ausgeübt wird, körperlich schmerzt. Aber der seelische Schmerz entsteht durch die Ordnung, die Atmosphäre, die patriarchalische Luft, die wir atmen und die in die Intimität diese Aggression einbringt, die schmerzt und die ganz einfach eine Aggression ist, so als würde man mit dem Messer auf mich einstechen oder auf mich schießen. Die Dimension des Schmerzes, die wichtigste von allen, geht vollständig verloren. Sie wird privatisiert, und diese Aggression wird dem Bereich der Moral zugeordnet. Also spricht man nicht darüber.197

197 Carabajal, 2010, o. S., aus dem Span. von MLS. 280

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Ihrer Meinung nach geht der Umstand, dass in der Moderne Sexualität dem Privaten zugeordnet ist, bemerkenswerterweise mit einer Zunahme der Gewalt im häuslichen Bereich einher. Aber auch diese Schattenseite der Moderne bestimmt die Art und Weise, wie Frauen als Opfer der Staatsrepression gesellschaftlich wahrgenommen werden, auch wenn die Sphäre, in der diese Verbrechen stattgefunden haben, keineswegs als privat bezeichnet werden kann. Einige Überlebende stellten sich der Aufgabe, das Unsagbare zu nennen, und beteiligten sich am Aufbau eines sozialen Gehörs. »In unsere Körper sind alle Erinnerungen eingekerbt«198, formulierte Graciela Daleo, Mitglied der Asociación de Ex-Detenidos Desaparecidos, und machte auf ein körperverankertes Wissen aufmerksam, das in der eigenen Wahrnehmung nicht verdrängt werden kann. Auf ihrem Internetportal geben Ex-Desaparecidxs Auskunft über die empfindliche Situation, in der sie sich als Überlebende einer menschengemachten Katastrophe befinden, und über den Prozess, den sie gesellschaftlich anstoßen wollen: Uns Überlebenden wurden zwei Dinge klar: Wenn wir erzählten, was wir durchgemacht hatten, verbreiteten wir Schrecken, womit wir ein ganzes Stück weit genau dieses Ziel der Repressoren erreichten; und wenn wir schwiegen, trugen wir zum Vergessen eines der tragischsten Abschnitte unserer Geschichte bei. Wir tauchten also in unsere Kämpferidentität ein, und mit Gestrauchel, mit viel Hilfe und auch mit vielen Zurückweisungen integrierten wir den durchlebten Horror und die Gründe für unser politisches Engagement vor der Entführung in unser Selbst. Seitdem bedeutet erzählen Zeugnis ablegen, um die Erinnerung wachzuhalten und Gerechtigkeit zu schaffen. Horrorerzählungen sind unsere Geschichten ohne Zweifel.199

Vor diesem Hintergrund ist es bemerkenswert, dass gerade die körperlich und seelisch Verwundeten diejenigen sind, die in den letzten Jahren wesentlich zur Klärung des Unrechts beigetragen haben. Ihr gesellschaftlicher Beitrag endet allerdings nicht mit dem Kampf vor den Gerichten. Die Präsenz der Überlebenden im öffentlichen Raum vergegenwärtigt jene negative Vergangenheit, die lieber verdrängt und vergessen werden will, weil sie wiederholt und hartnäckig die Frage aufwirft, ob und wie der Einzelne zur Repression und zum Verschweigen der Verbrechen beigetragen hat. Durch diese »Horrorerzählungen« wird die argentinische Gesellschaft mit den offenen Wunden der desapariciones forzadas 198 AEDD, o.J., o. S. 199 Ebd., aus dem Span. von MLS. 281

Erinnerung und Intersektionalität

konfrontiert und dazu aufgefordert, Überlebende als einen Teil von sich anzuerkennen und sich so der eigenen Positionierung in der Frage der Menschenrechte gewahr zu werden. Den Überlebenden hat die argentinische Gesellschaft daher die Chance zu verdanken, jenseits von Voyeurismus und Sensationslüsternheit die Abwehr, die diese Erzählungen des erlebten Horrors hervorrufen, zu überwinden und sich in Empathie üben zu können. Indem ihnen und ihren Erzählungen Gehör verschafft und geschenkt wird, kann jener negative Teil der Geschichte Argentiniens in ein kollektives Gedächtnis integriert werden und somit das erhoffte Nie Wieder! wahrscheinlicher machen.

4. »Guerra« und »genocidio« – Umkämpfte Begriffe für den politischen Massenmord in Argentinien Wie eben dargestellt hängt das soziale Gehör unmittelbar mit dem Platz zusammen, den die von massiver sozialer Gewalt betroffenen Individuen im Erinnerungsdiskurs erhalten. Von Krieg oder Genozid zu sprechen macht nicht nur auf intersubjektiver Ebene den Unterschied: Ob sie als Helden, Mörder, Verräter oder schlicht als Opfer und Überlebende gesehen wurden, bestimmte die Notwendigkeit der (Nicht-)Aufarbeitung der an ihnen begangenen Verbrechen. Im Nachfolgenden wird die diskursive Wandlung in der Deutung der Staatsrepression für einen Zeitraum von annähernd 30 Jahren umrissen. In dieser Zeit wurden die Erklärungsansätze des Kriegs und des Genozids nicht nur bemüht, um vergangene Ereignisse zu interpretieren, sondern auch, um gegenwärtige Handlungen zu legitimieren. Die Veröffentlichungen zum Gesetz zur Nationalen Befriedung ermöglichen die Rekonstruktion der Personenkonstellationen, Fakten und Diskurse am Ende der letzten argentinischen Diktatur. Die Voraussetzung für dieses Gesetz vom 24.09.1983, das auch als Autoamnestiegesetz bekannt ist, war der Schlussbericht der Militärjuntas vom 28.04.1983; das Amnestiegesetz bildete die Grundlage für das Schlussstrichgesetz (Ley de Punto Final), das Gesetz über die Gehorsamspflicht (Ley de Obediencia Debida) und die präsidentiellen Gnadenerlasse (leyes de impunidad) Menems.200 Im Schlussbericht wird der Rahmen definiert, innerhalb dessen die Mitglieder der Streitkräfte in der Postdiktatur argumentierten, während der Diskurs der Anklage, durch die Präsenz der Menschenrechtsorganisationen in den Massenmedien, allmählich hörbarer wird. Die sogenannten Straflosigkeitsgesetze leisteten dem gesellschaftlichen Verschweigen und Vergessen Vorschub. In den Gnadenerlassen Menems, 200 Ageitos, 2002, S. 96. 282

Teil III – Staatsrepression und diskursiver Wandel

die zehn am 07.10.1989 und am 29.12.1990 verabschiedete Dokumente umfassen, kristallisiert sich das Ringen mit dem Erbe eines der demokratischen Ordnung trotzenden Militärs heraus. Nach dem Staatsbankrott Argentiniens, den volksaufstandsähnlichen Ereignissen am 20. und 21. Dezember 2001 und der Glaubwürdigkeitskrise der demokratischen Institutionen markiert die Übergabe der Gebäude der ESMA an die Menschenrechtsorganisationen durch Präsident Néstor Kirchner am 24.03.2004 einen neuen Umgang mit dem Erbe der Staatsrepression und gibt über die gegenwärtige Ausrichtung der Politiken der Erinnerung Aufschluss. Doch bevor die Geschichte der (Nicht-)Verfolgung der Verbrechen durch die argentinische Justiz fokussiert wird, soll hier eine Reflexion angeregt werden, die die methodische Notwendigkeit, von sozialen Phasen der Erinnerung zu sprechen, im Wechselspiel mit der Qualität der persönlichen Zeiten der Erinnerung betrachtet.

4.1 Phasen der Erinnerung an den Staatsterror Die Erinnerung an die Gewaltverbrechen der letzten Diktatur artikulierte sich in der argentinischen Gesellschaft der Postdiktatur in sich verändernder Art und Weise. Nach den argentinischen Historiker_innen Daniel Lvovich und Jaquelina Bisquert lassen sich dabei vier unterschiedliche Phasen feststellen: 1) die Phase der demokratischen Transition (1983-86), in der sich der offizielle Deutungsdiskurs in der Zwei-Dämonen-Theorie kondensierte, d.h. in der Annahme, dass der institutionalisierte Staatsterror von rechts die Antwort auf den revolutionären Terror von links darstellte; 2) die Phase der offiziellen Politiken des Schweigens und Vergessens (1987-95), die von den sog. Straflosigkeitsgesetzen Raúl Alfonsíns sowie den Gnadenerlassen von Präsident Menem besiegelt wurden; 3) die Phase des Booms der Erinnerung (1995-2003), eingeleitet durch die öffentlichen Aussagen des Korvettenkapitäns Adolfo Scilingo zu den Todesflügen und geprägt durch das Erscheinen der Organisation H.I.J.O.S. (Hijos e Hijas por la Identidad y la Justicia contra el Olvido y el Silencio; Söhne und Töchter für die Identität und die Gerechtigkeit, gegen das Vergessen und das Schweigen) auf der politischen Bühne; 4) die seit 2003 andauernde Phase, in der der argentinische Staat den Diskurs der Menschenrechtsorganisationen zur offiziellen Politik Argentiniens erklärt hat.201 Die deutsche Politikwissenschaftlerin Ruth Fuchs erkennt ebenfalls vier Phasen in den politischen Beziehungen der Argentinier zur Vergangenheit, die sie geringfügig abweichend datiert und aus der Perspektive ihrer Disziplin bespricht. Nach einer Phase der Konfrontation mit der Ver201 Lvovich /Bisquert, 2008, S. 12-14. 283

Erinnerung und Intersektionalität

gangenheit (1983-89), gezeichnet vom Versprechen des demokratischen Neuanfangs, folgt in ihrer Betrachtung eine regressive Wende unter dem Diktat der Befriedung; die Vergangenheit wird dann unter der Verheißung der Versöhnung (1990-95) verdrängt und erwirkt unter dem Eindruck des »Scilingo-Effekts« zwischen 1995 und 2003 ihre Rückkehr. Seit 2003 dokumentiert die Autorin die Annäherung an die Vergangenheit und die Suche nach der juristischen Wahrheit und sieht diese im Zeichen politischer Inszenierung.202 Die in Deutschland lebende argentinische Soziologin Estela Schindel ihrerseits stellt drei Phasen der Erinnerung fest. Sie fasst die Übergangszeit zur Demokratie und die Gleichgültigkeit der Menem-Ära zu einer Phase nicht geglückter Politiken der Strafverfolgung zusammen (1983-99), während die Wiederaufnahme der öffentlichen Debatte mit den Bekenntnissen Scilingos (1995-2003) sowie eine Phase der Erinnerungspolitik als Staatsdiskurs von 2003 an ähnlich periodisiert sind.203 Für die Analyse des umkämpften diskursiven Feldes, auf dem sich die Transformationen und Re-Signifikationen des 30-jährigen Prozesses abzeichnen und auf dem aus der »Autoamnestie« der Militärs die juristische Verfolgung der Verbrechen der illegalen Repression vor zivilen Gerichten möglich wurde, werden zentrale juristische Ereignisse als Ausgangspunkt genommen. Nimmt man allerdings Interviews mit und testimonios von Überlebenden sowie literarische und wissenschaftliche Werke mit in die Betrachtung, ist die klare Distinktion in Zeitabschnitte nicht mehr so deutlich: Zeiten eines gesellschaftlichen Prozesses können durch unterschiedliche persönliche Zeiten verstärkt, ignoriert und auch in Frage gestellt werden. So ergibt sich eine etwas andere Chronologie aus der Perspektive der Überlebenden, deren öffentliche Interventionen für die Bildung eines Gedächtnisses zweifellos relevant sind, aber paradoxerweise − wie Ana Longoni analysiert − eine geringe soziale Hörbarkeit finden, obwohl die Überlebenden Mitglieder der Generation sind, die auf eine politische Veränderung gesetzt hatte204 und dafür dezimiert wurde. Die Überlebenden hatten bisher Prioritäten, die weniger mit ihnen selbst als mit ihrem Beitrag zur Klärung der Verbrechen zu tun hatten: Anfangs erzählten wir von den Kameraden, die wir im geheimen Lager lebend gesehen hatten und die jetzt Verschwundene waren, dann kam die Zeit,

202 Fuchs, R., 2009, S. 15. 203 Schindel, 2007, o. S. 204 Longoni, 2010, o. S. 284

Teil III – Staatsrepression und diskursiver Wandel in der wir die Repressoren benannten, die wir identifizieren konnten, jetzt ist es an der Zeit, über jeden Einzelnen von uns zu reden.205

Diese Worte erinnern daran, dass 1984 die Aussagen von Zeugen für die gerichtliche Verfolgung der desapariciones forzadas während der Verfahren gegen die Militärjuntas zentrale Relevanz hatten und sie die Suche nach den Verschleppten-Verschwundenen überhaupt erst möglich machten. Denn eine fundamentale Grundlage der Jurisprudenz besteht darin, Verbrechen nur dann zu verfolgen, wenn sie in dem Augenblick, in dem sie begangen werden, nach geltendem Recht auch als solche eingestuft sind (nach dem sog. Rückwirkungsverbot, nullum crimen sine lege). Ähnlich wie bei den Verbrechen der Nazis gegen die eigene Bevölkerung während der Shoah, die aufgrund fehlender Rechtsgrundlage ungeahndet blieben, gab es auch in Argentinien nach dem Ende der Diktatur kein gesetzliches Fundament für die Verfolgung des Delikts des Verschwindenlassens. Es konnte lediglich die Figur der illegitimen Freiheitsberaubung geahndet werden, und da diese kein Kapitalverbrechen war, verjährte sie nach argentinischem Recht nach sechs Jahren. Aus diesem Grund waren die Angaben, wann und wo eine verschleppte Person zum letzten Mal lebend gesehen worden war, extrem wichtig, damit ihre Abwesenheit seit diesem Zeitpunkt einem der verantwortlichen Junta-Mitglieder angelastet werden konnte. Erst im Dezember 1992 verabschiedete die UN-Generalversammlung eine Erklärung über das Verschwindenlassen von Personen, das 1994 von der interamerikanischen Konvention zum Verbrechen gegen die Menschlichkeit deklariert wurde. Diese Vorlage wurde in Argentinien durch das Gesetz 24.556 ratifiziert und dann mittels des Gesetzes 24.820 vom 29.05.1997 zur verfassungsähnlichen Norm erhoben. Angesichts der fehlenden Corpora Delicti, die nicht nur den Leichnam des Gewaltopfers, sondern auch die (verwischten) Spuren des Verbrechens einbeziehen, und der Tatsache, dass die Beweislast für politische Morde bei der Staatsanwaltschaft lag, waren es vor allem die Aussagen der Zeugen, die Jorge Rafael Videla und Konsorten belasteten. Das Erwähnen der Namen der VerschlepptenVerschwundenen und die Auskunft, sie während der Regierungszeit der Junta lebend im Lager gesehen zu haben, trugen wesentlich zu den Strafurteilen gegen die Junta-Mitglieder bei. Wenn der Überlebende auf die Aufgabe des Benennens der Folterknechte hinweist, nimmt er auf die lange Phase der Straflosigkeit Bezug. Von Begegnungen zwischen Überlebenden und ihren einstigen Folterern auf der Straße 205 Aussage eines anonymisierten Überlebenden bei einer Veranstaltung des CELS, in: Balardini u.a., 2011, S. 171, aus dem Span. von MLS. 285

Erinnerung und Intersektionalität

und in öffentlichen Verkehrsmitteln ist oft berichtet worden; die Realität der in aller Freiheit lebenden Täter war eine unfassbare Tatsache für Überlebende, Verwandte und zunehmende Teile der argentinischen Gesellschaft. Zwei Jahre nach der Gründung der Organisation H.I.J.O.S., am 30.04.1995, führte das Nennen und Wiedererkennen der Folterer zur ersten der oft karnevalistisch anmutenden öffentlichen H.I.J.O.S.-Aktionen der Anprangerung, die als »escraches« bekannt wurden. Die Academia Argentina de Letras beschreibt sie als »öffentliche Anklage gegen Menschen, denen Menschenrechtsverletzungen oder Korruption zur Last gelegt wird«; sie äußern sich beispielsweise in Sitzblockaden, Gesängen und Graffitis.206 Der erste »escrache« galt Jorge Magnacco207, Gynäkologe bei der ESMA, der kürzlich für seine Mittäterschaft beim Kinderraub zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt wurde und der damals zwischen seiner regulären Stelle im Militärkrankenhaus und seinem Job in einer Privatklinik im Zentrum der Hauptstadt pendelte. Der »escrache« endete mit der Entfernung des Arztes aus der Privatklinik. Die Aktionen im öffentlichen Raum entlarvten die Repressoren innerhalb ihrer Nachbarschaft als etwas anderes als den »netten Herrn von nebenan«. Die H.I.J.O.S. nahmen den öffentlichen Raum mit kleinen und gezielt bunten und lauten Scharmützeln in Beschlag und machten evident, dass in Argentinien kein Recht und keine Gerechtigkeit herrschten, solange Menschen-

206 Academia A rgentina de Letras, 2003. 207 Das Verhalten von Jorge Magnacco war Anfang Februar 2013 Gegenstand öffentlicher Empörung, als er trotz Hausarrest von seinem damals angeeigneten Kind − inzwischen eine junge Frau − beim sorglosen Einkaufen in einer Luxusmall gesichtet wurde (Meyer, 2013). Die tatsächliche Inhaftierung von verurteilten Tätern ist eine Prämisse des aktuellen Kampfes der Menschenrechtsorganisationen. Trotz der schwerwiegenden Verbrechen werden viele Verurteilte lediglich unter Hausarrest gestellt. So informiert der Blog der Causa ESMA [betrieben von Asociación de Ex-Detenidos Desaparecidos (AEDD) – Asociación de Profesionales en Lucha (APEL) – Comité de Acción Jurídica (CAJ) – Centro de Profesionales por los Derechos Humanos (CeProDH) – Comisión por los DDHH de Trenque Lauquen Pcia. Bs. As. – Coordinadora Antirrepresiva por los Derechos del Pueblo (CADEP) – Equipo Argentino de Trabajo e Investigación Psicosocial (EATIP) – Liberpueblo – Liga Argentina por los derechos del Hombre (LADH) – Vecinos de San Cristóbal contra la Impunidad – Andrea Bello (Klägerin) – Patricia Walsh (Klägerin)], dass mit Stand März 2013 40 % der 788 für Verbrechen im Rahmen der Staatsrepression Verurteilten ihre Zeit zuhause absitzen (›http://juicioesma. blogspot.de/2013/06/basta-de-privilegios-para-los-genocidas.html‹, 29.07.2015). 286

Teil III – Staatsrepression und diskursiver Wandel

rechtsverbrecher frei waren.208 Zwar war für die H.I.J.O.S. der Anlass ihres Zusammenschlusses, die schmerzhafte Abwesenheit ihrer Eltern gemeinsam zu erinnern, doch bald ging es nicht nur darum. Die Organisation bildete sich als Kollektiv heraus, das mit einer horizontalen Struktur konsensbasiert agierte und als Gruppe den Verlust und die Niederlage der Elterngeneration unter einem anderen Vorzeichen umdeutete, wie Emiliano Quinteros im Interview mit Victoria Ginzberg darstellt: Wichtiger, als dass auf der anderen Seite das Militär war, waren wir hier, auf dieser Seite. Es wurde kein neues Kapitel aufgeschlagen. Es war keine Katharsis der Tränen, sondern der Freude. Sie sollen nicht denken, dass sie uns getötet haben, wir leben, die Mütter, die Kinder, alle.209

In La Plata entstanden dann die »Rechtsverfahren [auf der Suche nach] der historischen Wahrheit«, die ab dem Jahr 1998 die Gesetze der Straflosigkeit zwar nicht außer Kraft setzen konnten, aber die Aufklärung konkreter Fälle vorantrieben und damit einem weiteren Verwischen der Spuren entgegenwirkten. Auf das Recht auf Trauer und zur Beerdigung der Toten berief sich Emilio Fermín Mignone, um die Ermittlungen über den Verbleib seiner Tochter anzustoßen. Das Recht auf Wahrheit wurde exemplarisch von der Mutter der Plaza de Mayo Carmen Aguiar de Lapacó vor der Menschenrechtskommission der OAS eingefordert und von der argentinischen Bundeskammer bestätigt. Damit wurde der argentinische Staat dazu gebracht, die Aufklärung der Fälle wieder aufzunehmen, wie die Cámara Federal de Apelaciones selbst im Fall »Lapacó Carmen Aguiar de s/presentación causa Nro. 450« formuliert hatte: Das Recht auf Wahrheit bedeutet in diesem Fall nichts anderes als die Verpflichtung des Staates, alles in seiner Macht Stehende zu tun, um das letztendliche Schicksal der zwischen 1976 und 1983 Verschwundenen aufzuklären.210

Der lange Weg der Justiz war in diesen Jahren auch die lange Wartezeit im Vorzimmer einer Erinnerungsarbeit, die neue Dynamiken und Bedeutungen zulassen sollte. Erst mit der Wiederaufnahme der Strafverfahren können Überlebende 208 Ginzberg, 2005, o. S. 209 Ebd., aus dem Span. von MLS. 210 Asamblea Permanente por los Derechos Humanos de La Plata, 1998, o. S., aus dem Span. von MLS. 287

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die eigenen − vielleicht immer wieder eiternden − Wunden betrachten. Wie die von Memoria Abierta aufgenommenen Zeugnisse von Frauen zeigen, werden sie für die lang überfällige gesellschaftliche Wahrnehmung benötigt. Wie willkürlich eine Vorstellung von Phasen einer Vergangenheit, die abgeschlossen sein soll, für den Einzelnen sein kann, stellen die Mütter der Plaza de Mayo mit ihren Runden dar. Auch wenn (erst) seit 2006 die Mütter von Hebe de Bonafini nicht mehr jeden Donnerstag um 15:30 h mitlaufen, da sie meinen, gegen die Regierung nicht mehr opponieren zu müssen, betrachten die Mütter der Línea Fundadora ihre Anklage immer noch als berechtigt. Dieses Kreisen, das zirkuläre Gehen, das nirgendwohin führt211, zeigt sich hier als Sinnbild einer Zeit, die erinnert wiederkehrt, solange der argentinische Staat seiner Pflicht nicht nachgekommen ist. »Zeitrechnungen in Zwist« nennt Nelly Richard die Willkür der Chronologie, die Außen und Innen, den langen Weg der Justiz und die geronnene Zeit des Traumas, das Öffentliche und das Private nach dem Staatsterror nicht immer homologieren lässt und sich weiterhin der vollständigen Synchronisierung persönlicher mit den gesellschaftlichen Zeiten widersetzt: Instead, the past is a field of citations, crisscrossed as much by continuity (the various forms of supposing or imposing an idea of succession) as by discontinuity (by cuts that interrupt the dependence of that succession on a predetermined chronology). It simply takes certain critical junctures to unleash that heterodox reformulation, for memories bound by history to undo the knots of their discordant temporalities.212

Die Geschichte erweist sich im Alltag nach der Staatsrepression als eine Narration, die nicht nur in der Vergangenheit angesiedelt ist, sondern als eine Begebenheit, die sich in den aktuellen Bezugnahmen vergegenwärtigt und dadurch zum Scheidepunkt für die Zukunft wird.

4.2 Diskursiver Wandel – Illustriert anhand von drei Bestandsaufnahmen Auf den folgenden Seiten werden drei entscheidende Momente der Aufarbeitung der Staatsrepression historisch kontextualisiert und anhand des jeweiligen Pressespiegels diskursanalytisch untersucht.

211 Taylor, 1997b, S. 205. 212 R ichard, 2004, S. 2; spanisches Original in R ichard, 1994, S. 14. 288

Teil III – Staatsrepression und diskursiver Wandel

Der von der scheidenden Junta verabschiedete Schlussbericht213 vom 28.04.1983 regelte den Umgang der Militärs mit der Vergangenheit; er wurde zur Grundlage für die Selbstamnestie und die Verteidigungsstrategie vor den Gerichten der nachfolgenden demokratischen Regierung. Er ist allerdings auch ein Deutungsmanifest, das mit der Metapher der »zwei Dämonen« die Aufarbeitungsdebatte der demokratischen Transition hegemonisiert hat. Unter den »zwei Dämonen« wurde die Mär vom Kampf zwischen linken und rechten Gruppierungen zusammengefasst, die Mitte der Siebziger das argentinische Volk als Geisel nahmen, was die Intervention der Streitkräfte erforderlich machte. Nach der Veröffentlichung des Junta-Schlussberichts verwenden die Menschenrechtsorganisationen zum ersten Mal das Wort »Genozid«, um den massenhaften politischen Mord zu bezeichnen, der erst dadurch gewiss wurde. Ausgehend vom Schlussbericht wird also bereits vor dem Ende der Diktatur das Deutungsmuster »Krieg« versus »Genozid« aufgestellt, innerhalb dessen sich die Aufarbeitungsdebatte der folgenden Jahre abspielen sollte. Die Erlasse, die Carlos Menem am 07.10.1989 und am 30.12.1990 verabschiedete, amnestierten die Mitglieder der drei Militärjuntas, die an der Staatsrepression beteiligten Zivilisten und die Verantwortlichen des ERP und der Montoneros. Die Politik des Vergessens, die die sog. Straflosigkeitsgesetze möglich machte, wurde durch zahlreiche Unruhen aufständischer Militärs am Ende der Regierung Raúl Alfonsín erpresst. Als die Justiz damals sich nicht mit den Junta-Generälen begnügte und Täterschaften genauer nachging, sahen sich die unteren Ränge bald mit den Konsequenzen ihrer Taten vor Gericht konfrontiert und revoltierten. Während jener Dekade des Verschweigens spreizte sich die soziale Schere immer stärker und immer mehr Menschen wurden in eine Wirtschaftskrise gezogen; die Unzufriedenheit der argentinischen Bevölkerung mit den Regierenden wuchs und mit ihr die Anerkennung für das sozialrevolutionäre Engagement der Siebziger. Nachdem am 19. und 20. Dezember 2001 der wirtschaftliche Zusammenbruch sich in einem Volksaufstand, dem Argentinazo, niederschlug und die Glaubwürdigkeit der politischen Klasse Argentiniens den Tiefpunkt erreichte, vollzog sich eine entscheidende Wende bei der Aufarbeitung der Staatsrepression im Sinne der Opfer. Am 24.03.2004 ließ der neugewählte Präsident Néstor Kirchner die Porträts von Junta-Generälen in der ESMA abhängen, bat die Bevölkerung im Namen des argentinischen Staates für die Amnestie um Entschuldigung und öffnete für 213 Der vollständige Text des Berichts ist in Ageitos (2002, S. 97-114) und Mántaras (2005, S. 23-24) zu finden. Der Schlussbericht wurde als offizielles Kommuniqué über alle Fernsehsender ausgestrahlt; die Ausstrahlung ist verfügbar unter: ›http:// commons.wikimedia.org/wiki/File:Informe.final.dictadura.1983.ogv‹, 29.07.2015. 289

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die allgemeine Bevölkerung die Tore dieses einst größten Konzentrations-, Folter- und Vernichtungszentrums Lateinamerikas. Durch ihre spezifischen zeitlichen und diskursiven Koordinaten liefern die folgenden drei Bestandsaufnahmen aufschlussreiches Material, um eine Entwicklung im Detail zu betrachten, in der die Desaparecidas und Desaparecidos Argentiniens im Diskurs der Erinnerung vom sozialen Rand in die Mitte der Gesellschaft zurückgeholt wurden. a. Bestandsaufnahme 1: Militärische Selbstamnestierung und demokratische Transition Auch wenn weder das Abgeben der Macht seitens der Streitkräfte freiwillig geschah, noch die einsetzende Demokratisierung des Landes den Machthabern abgetrotzt wurde, konnten die FF.AA. nach dem unrühmlichen Debakel im Krieg gegen die Briten um die Falklandinseln (Malwinen) schon vor Juni 1982 nicht mehr von der internen Niederlage ablenken. Die Zerbröckelung des Regimes, die sich seit Ende 1981 durch verstärkte Machtkämpfe innerhalb der Streitkräfte ausweitete, wurde durch das militärische Scheitern im Falklandkrieg und den konsequenten Rückzug der internationalen Handelspartner besiegelt. In der von den Gewerkschaften veranstalteten Demonstration vom 31.03.1982 überwand die Bevölkerung die Angst vor der Repression und gab die enorme Unzufriedenheit kund, die in der Schuldenkrise und der starken Abwertung des Peso ihre Ursache hatte. Der argentinische Philosoph León Rozitchner interpretiert in seiner 1985 erschienenen Sammlung Las Malvinas: de la guerra ›sucia‹ a la guerra ›limpia‹ die Möglichkeit, den Krieg gegen den externen Aggressor zu gewinnen, als Chance für die Militärs, den »schmutzigen« Krieg gegen die eigene Bevölkerung »reinzuwaschen«. Die Nachricht von der »Rückeroberung« der Inseln hatte in allen politischen Lagern, darunter sogar bei exilierten Argentinier_innen, die der blutigen Repression entkommen waren, Zustimmung hervorgerufen. Das Anrecht Argentiniens auf die Falklandinseln, das die Militärs mit Gewalt umsetzen wollten, baute auf einer seit Jahrzehnten andauernden Kampagne auf, die unter dem Leitmotiv »Die Malwinen sind argentinisch« den Territorialanspruch Argentiniens auf das Archipel jährlich am 10. Juni bedachte und ihn u.a. zum Gegenstand des Schulunterrichts machte. Die Argumente für eine Zugehörigkeit der Bevölkerung des Archipels zum Königreich Großbritannien sind angesichts der großen Entfernung zwischen Inseln und Mutterland (8.000 Seemeilen) den Argentiniern heute noch schwer zu vermitteln. In der allgemeinen Adhäsion zum Falklandkrieg der Militärregierung kam 1982 eine stark verbreitete antiimperialistische Einstellung zum Ausdruck, die auf die Idee von Nationalstaaten als Ergebnis des gemeinsamen Kampfes der lateinamerika290

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nischen Völker gegen die koloniale Herrschaft zurückgeht. Diese Idee etablierte sich in den 50er Jahren als allgemein gültige Antwort auf die tiefen wirtschaftlichen und sozialen Unterschiede in den lateinamerikanischen Gesellschaften und kann sowohl in den national-populistischen Regierungen, aber auch im guevaristischen Revolutionskonzept festgestellt werden.214 Die Erkenntnis, dass der Nationalismus von den Herrschenden auch als Ablenkungsideologie benützt wurde, wird erst im Zusammenhang mit den Diktaturen, wie bei León Rozitchner, vertreten. Mit ihrem Manöver zur »Rückeroberung« der Inseln versuchten die Militärs, sich in die Tradition der Armee des Befreiers José de San Martín zu stellen: Eine ruhmreiche Armee sollte die allgemeine Anerkennung zurückerlangen, die wahre Hüterin der Nation zu sein. Dieser Schachzug hätte den Machthabern eine Legitimationsgrundlage für eine weitere Regierungszeit geliefert, doch das Empire holte − aus der Sicht der FF.AA.-Oberhäupter völlig unerwartet − aus und eroberte das fern vom Mutterland gelegene Überbleibsel kolonialer Zeit mit Leichtigkeit zurück. Im Konflikt verloren 255 britische Soldaten das Leben, auf der Seite Argentiniens starben 645 Soldaten, 1.300 Diensthabende wurden verwundet, darunter vor allem argentinische Wehrdienstleistende.215 Unter den wenigen Stimmen, die sich wie Rozitchner gegen den Krieg erhoben, waren die Madres der Plaza de Mayo mit der Devise »Die Malwinen sind argentinisch, die Verschwundenen auch«. Bevor sie von der Regierung zurücktraten, gaben die Streitkräfte im Schlussbericht vom 28.04.1983 der Öffentlichkeit in ihrem Sinne Auskunft über den Verbleib zehntausender Menschen, die »spurlos verschwunden« waren. Der Inhalt des Berichts bildete eine Wende im Interpretationsmuster ihrer Handlungen und sein Wortlaut ist eine wichtige sprachliche Dokumentation der Denkfiguren, auf die sich die Streitkräfte in der Folge gebetsmühlenartig beziehen würden. 214 Werz, 1991, S. 143. 215 Die Asociación de Ex-Combatientes de las Malvinas wandte sich am 19.06.2013 erneut an die Öffentlichkeit, um auf die Tatsache aufmerksam zu machen, dass Wehrdienstleistende im Krieg um die Falklandinseln wie die Desaparecidxs behandelt wurden und die Folterpraxis und die willkürliche Tötung durch Militärs erleiden mussten. Anpflocken, Aushungern bis zum Tode und Erschießungen von Soldaten während des Krieges sind Tatbestände, in denen die argentinische Justiz erst seit 2007 ermittelt. Die Organisation setzt sich für eine Einstufung der Verbrechen als Verbrechen gegen die Menschlichkeit ein, um ihrer Verjährung entgegenzuwirken. Laut ihren Angaben haben sich seit dem Ende des Konflikts 400 Ex-Soldaten das Leben genommen, nicht zuletzt aufgrund des fehlenden sozialen Gehörs für ihre Situation (vgl. Vales, 2013, o. S.). 291

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Die sprachliche Normierung sah bis zu dem Zeitpunkt vor, das Vorgehen gegen Verdächtige auf keinen Fall als Krieg zu bezeichnen. Begründet war sie im Reglement RC-9-1 vom August 1975, d.h. sie wurde noch während der demokratisch gewählten Regierung von María Estela Martínez de Perón verabschiedet und stellte eine Umsetzung des Gesetzes 20.840 vom 30.09.1974216 dar. Durch die Bezeichnung »Krieg« wären festgenommene Guerillakämpfer nach dem von Argentinien 1956 ratifizierten Genfer Rotkreuz-Abkommen von 1949 wie Kriegsgefangene zu behandeln gewesen. Es sollten diesmal jedoch keine politischen Gefangenen gemacht werden, da die Meinung vorherrschte, diese hätten sich während des Verbots der peronistischen Partei – nicht zuletzt durch die extremen Maßnahmen während des Freiheitsentzugs − im Strafvollzug radikalisiert und ihren Aufenthalt zur weiteren internen Schulung genutzt.217 Nach ihrer Freilassung im Zuge der Amnestie zu Beginn der Übergangsregierung von Hector J. Cámpora sind viele Exgefangene den Weg des bewaffneten Aufstands mit dem Ziel gegangen, eine sozialistische Regierung zu errichten. Die Meinung, Gewalt sei ein legitimes Mittel der politischen Auseinandersetzung, hatte vor dem Hintergrund der »Fokustheorie des Che Guevara«218 immer mehr Anhänger gewonnen, mit der resultierenden Eskalation der Kämpfe durch die bewaffneten Gruppen des ERP und der Montoneros. Bei fortschreitender körperlicher und geistiger Schwäche des Generalleutnants Juan D. Perón lieferten sich nach seiner Rückkehr polarisierte Flügel des Peronismus heftige Kämpfe um sein Erbe. So hatte José »Daniel« López Rega im Wohlfahrtsministerium die Antikommunistische Argentinische Allianz, die Triple A, gegründet, um gegen Linke und insbesondere gegen den linken Flügel der Partei vorzugehen, da Letzterer in der Transition einige Stellungen in der Partei- und Regierungsstruktur belegt hatte. Nach Peróns Tod und unter dem Vorzeichen der Institutionalisierung der Triple A verabschiedete die Regierung von Peróns Witwe das Gesetz 20.840. Es wurde zur Grundlage einer Reihe von Verfügungen, darunter die Nr. 265, die die Durchführung des »Operativo Independencia« in Tucumán 216 Senado y Cámara de diputados de la Nación A rgentina, 1974, o. S. 217 Seveso, 2009, S. 165. 218 Die Einrichtung von »befreiten« Stellungen, sogenannten »revolutionären Fokussen«, würde den Weg zur sozialistischen Revolution bahnen, so die Vorstellung von Ernesto Che Guevara in La Guerra de Guerrillas (1960; dt.: Guerilla – Theorie und Methode, 1968), die vom prominenten französischen Philosophen und Guerillakämpfer Régis Debray in Révolution dans la Révolution ? Lutte armée et lutte politique en Amérique latine (1967) und La Guérilla du Che (1974) ausgearbeitet wurde. 292

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einleitete, wo die Guerillagruppe ERP mit geschätzten 120 bis 180 Personen Fuß gefasst hatte.219 Während der Operation, die heute als erste Schlacht des »schmutzigen Krieges« gesehen wird, wurden die ersten illegalen Straflager für Festgenommene eingerichtet und die Praxis des Verschwindenlassens nahm mit 656 Opfern220 ihren Anfang.221 Das Reglement RC-9-1, als Folge des o.g. Gesetzes 20.840, schrieb in seinem Absatz 1.025 mit dem »Encuadramiento legal de los elementos subversivos« [Gesetzliche Eingruppierung der subversiven Elemente] die legalen und sprachlichen Grundlagen nieder, die die Staatsrepression begleiteten.222 Im Text des Reglements wurde zwischen den Kategorien »klandestine« und »offene« Subversion unterschieden223, wobei die erste Kategorie nicht näher definiert war; es wurde lediglich festgehalten, dass diese Personengruppe nicht unter dem Schutz des Völkerrechts stand. Die fehlende Beschreibung eines Tatbestands der »subversión« und die bloße Annahme der Zugehörigkeit zu einer »subversiven« Gruppe als Grundlage für die Verfolgung machten jede und jeden potentiell verdächtig. Es ist genau diese weite Auffassung eines nicht qualifizierten Verdachtsmoments einer wie auch immer erkannten Gesinnung, die an keiner konkreten Handlung auszumachen war, die der Blankoscheck für die sich ausdehnende Verfolgung der Bevölkerung war. Die Teilnehmer der »offenen Subversion« durften nicht mehr als Guerillakämpfer bezeichnet werden und wurden wie gewöhnliche Verbrecher behandelt. Diese diffuse pseudo-legale Unterscheidung verschwamm in den Repressionsjahren zunehmend und eine immer beliebigere Wahl der Opfer kann ebenfalls konstatiert werden. 219 Vgl. Comisión Bicameral, 2007, Informe Político. 220 Vgl. Comisión Bicameral, 2007, Anexo VIII. Listado de Personas desparecidas en Tucumán. 221 Vgl. Comisión Bicameral, 2007. 222 Mántaras, 2005, S. 179. 223 a) Diejenigen, die sich an der klandestinen Subversion beteiligen: Die Individuen, die sich an der Subversion beteiligen, haben unter keinen Umständen einen legalen Status, der sich aus dem Internationalen Öffentlichen Recht herleitet. Folglich steht ihnen nicht das Recht zu, wie Kriegsgefangene behandelt zu werden; sie gelten als Verbrecher und werden als solche, in Übereinstimmung mit der nationalen Gesetzgebung, vor Gericht gestellt und verurteilt.b) Diejenigen, die sich an der offenen Subversion beteiligen: Die Bezeichnung Guerilla oder Guerillero gibt es nicht. Wer sich an ihren Aktionen beteiligt, gilt als herkömmlicher Verbrecher (Subversiver). Die Organisationen, die sich bilden, werden als subversive Verbrecherbanden eingestuft (Mántaras, 2005, S. 179, aus dem Span. von MLS). 293

Erinnerung und Intersektionalität

Parallel zu diesen Kategorien von offenen und illegalen/versteckten Systemgegnern wurden Begriffe besetzt, die die diskursiven Voraussetzungen für deren Aussonderung schufen. Das Wort »Guerilla«, mit der Symbolik der nationalen Befreiung der 60er und 70er Jahre verbunden, hätte sich nicht leicht umbesetzen lassen. Das Wort »Subversion« dagegen, das im Spanischen zwar zur Bildungssprache gehört, aber selbst wenn man die genaue Bedeutung nicht kennt durch das Präfix sub- Assoziationen wie Untergrund, illegal, unterhalb aufruft, passte genau durch die Formulierungen »subvertir el orden« [die Ordnung zerrütten] und »subvertir la moral y los valores« [die Moral und die Werte unterwandern] zu der – angesichts der Schreckensbilder der Gewalteskalation − zunehmend ablehnenden Haltung breiter Schichten der Bevölkerung gegenüber politischer Gewalt. Daher ist keine andere Wortgruppe wie die der »subversión« bis heute so stark von der Repression markiert, dass sie ein ähnlich geprägtes semantisches Erinnerungsfeld aktivieren kann. »Subversion« und die damit verbundenen Begriffe gehören zu den Wörtern, die – analog zu den von Victor Klemperer gesammelten Vokabeln in der Nazizeit und zu seinem Ruf »LTI!« – charakteristisch für den Diskurs der Staatsrepression sind. Für die Archäologen der Sprache sind diese Wörter wie Knochen: Im Sinne eines kommunikativen Gedächtnisses sind sie verdichtete Träger der Erinnerung, die den Diskursstrang rekonstruieren lassen. Sie rufen den Alltag der Diktatur auf und belegen ihren begleitenden Diskurs. Die sprachliche Reglementierung umfasste weitere Formulierungen und veränderte die Terminologie sämtlicher militärischer Dokumente der Dekade.224 »Subversion« wurde zur einzig zugelassenen Bezeichnung für Aufstand, Extremismus, ideologischer Krieg, revolutionärer Krieg, Guerillakrieg. Das Wort »Guerilla« sollte ausdrücklich nicht mehr benutzt und durch »Verbrecherbande« ersetzt werden; entsprechend wurde aus dem »gefangenen Guerillero« der »festgenommene Verbrecher«. So wurde die Gruppe der Subversiven sprachlich abgegrenzt, durch die Prägung der Delinquenz marginalisiert und später zur Gruppe der Nicht-Argentinier deklariert, wie Junta-General Videla öffentlich mitteilte: »[D]ie Repression richtet sich gegen eine Minderheit, die wir als nicht argentinisch betrachten.«225 Den Mitgliedern dieser aus der Gemeinschaft der Nation diskursiv ausgegliederten Gruppe wurde der Schutz des Staates nicht mehr gewährt. Synonyme Bezeichnungen für Subversive wucherten und präsentierten ein ganzes Spektrum abnormen sozialen Verhaltens. In diesem Sinne wurde »abnorm« auch mit psychischer Krankheit identifiziert: Sich der Festnah224 Mántaras, 2005, S. 179. 225 Zit. in Ageitos, 2002, S. 58. 294

Teil III – Staatsrepression und diskursiver Wandel

me widersetzende Opfer wurden zu »Verrückten« erklärt, die demonstrierenden Mütter als »Verrückte von der Plaza de Mayo« bezeichnet. Die Bezeichnung »Subversive« und die synonym verwendeten Begriffe »Terroristen, Nicht-Argentinier, Staatenlose, Sozialkranke«226 zeichneten das unbestimmte Bild eines Gegners, dem eine ganze Reihe negativer Attribute angehängt werden konnte. Diese Attribute konnten ad hoc von den repressiven Kräften festgelegt werden. Die Historiker und Soziologen Vicente Palermo und Marcos Novaro unterstreichen: Für den Prozess [der Nationalen Reorganisation] ergab sich das Anrecht auf Rechte nicht aus der Staatsangehörigkeit oder aus dem Menschsein, sondern daraus, »gute Argentinier« zu sein, wie es die ideologisch-organische Gemeinschaft mit den Postulaten des Regimes verlangte, woraus sich ablesen lässt, dass die Subversiven keinerlei Rechte hatten.227

Nachdem innerhalb der Armee der bewaffnete Kampf Ende 1976 als beendet galt und die »offene Subversion« reell vernichtet war, wurde die Gefahr für alle, die der »versteckten Subversion« verdächtigt wurden, immer größer. Das berühmte Zitat Niemöllers (»Als die Nazis die Kommunisten holten …«), das rückblickend das Schweigen der Kirche bei der Verfolgung immer weiterer Kreise in Nazideutschland einprägsam zeichnete, wandelte sich 40 Jahre später in Argentinien zu einer Ankündigung. Das Vorhaben, genau so mit immer beliebiger werdenden politischen Gegnern umzugehen, wurde durch den Gouverneur der Provinz von Buenos Aires, General Ibérico Saint Jean, in der International Herald Tribune vom 16.05.1977 im Voraus erklärt: »Zuerst werden wir alle Subversiven töten, dann werden wir alle töten, die ihnen geholfen haben, danach … ihre Sympathisanten, danach … diejenigen, denen es egal war, und zum Schluss werden wir die Ängstlichen töten.«228

226 Bravo, 2003, S. 111-113. 227 Novaro/Palermo, 2003, S. 169, aus dem Span. von MLS. 228 Zit. in Goñi, 1996, S. 34, aus dem Span. von MLS. 295

Erinnerung und Intersektionalität

1) Weichenstellung für die Postdiktatur: Der Schlussbericht229 vom 28.04.1983 Mit ihrem Bericht vom 28.04.1983 wollten die FF.AA. einen Schlussstrich ziehen und ein für alle Mal die Tausenden von Anfragen von Angehörigen und Institutionen im In- und Ausland abschließend »beantworten«, die sich in den vorangegangenen sieben Jahren angehäuft hatten.230 Die 45-minütige Inszenierung des Schlussberichtes, zeitgleich von allen Radio- und Fernsehanstalten ausgestrahlt, wurde eingeleitet durch das laute Pfeifen eines Störungssignals und war durch sachliche Stichworte wie Einleitung, Fakten, Prinzipien und Vorgehensweise, Folgen des Konflikts und Schlussbemerkungen strukturiert. Währenddessen warb bei der TV-Ausstrahlung eine Bilderabfolge für die Intervention der Militärs, indem sie ein vergangenes Chaos wieder heraufbeschwor (Straßenkämpfe, Debatten in den von den Studierenden besetzten Universitäten) und die Streitkräfte als Ordnungs- und Normalitätsbringer zeigte. Der Ton des Berichts war alles andere als martialisch; der Text wurde freundlich, stellenweise bedrückt-emotional, ja versöhnlich, von ausschließlich männlichen Stimmen gesprochen. Aus einer Wir-Perspektive, in der die Grenzen zwischen »wir«, »das Volk der Nation«, »die argentinische Gesellschaft« und »die argentinischen Streitkräfte« fließend waren, vollzog sich die Konstruktion eines Anderen, der Terror verbreitete und gesellschaftliche Grundwerte destabilisierte. Der Schlussbericht differenzierte zwischen »Subversiven« und »Terroristen« und machte damit eine zu jenem Zeitpunkt wieder notwendig gewordene Unterscheidung. Die Bedrohung durch Subversive, nach all der Vernichtung, erschien in dieser Darstellung noch immer allgegenwärtig. Die Täter-Opfer-Umkehrung fand in Aussagen wie dieser am Ende des Berichts immer noch statt: »Auch wenn die tiefste Verachtung der Menschenrechte die tragischste aller Manifestationen des Phänomens der Subversion ist, ist der Terrorismus nur eine der Vorgehensweisen.«231 Die FF.AA. präsentierten sich im Bericht in einer Vermittlerrolle 229 Der vollständige Text des Berichts ist in Ageitos (2002, S. 97-114) und Mántaras (2005, S. 23-24) zu finden. Der Schlussbericht wurde als offizielles Kommuniqué über alle Fernsehsender ausgestrahlt; die Ausstrahlung ist verfügbar unter: ›http:// commons.wikimedia.org/wiki/File:Informe.final.dictadura.1983.ogv‹. 230 Im Schlussbericht heißt es: »Auf der Grundlage des zuvor Gesagten erklärt die Militärjunta: 1) Die in diesem Dokument dargelegten Informationen und Erläuterungen sind alles, worüber die Streitkräfte verfügen und was sie hinsichtlich der Ergebnisse und Konsequenzen des Krieges gegen die Subversion und den Terror an die Nation weitergeben können […]« (Presidencia de la Nación, 1983b, S. 15, aus dem Span. von MLS). 231 Presidencia de la Nación, 1983b, S. 14. 296

Teil III – Staatsrepression und diskursiver Wandel

zwischen der Gewalt von links und der von rechts und zeichneten den sozialen Protest einmal mehr als einen bedrohlichen Feind der Nation. Im Bericht war der Krieg ein Erbe der vorhergehenden demokratischen Regierung: »Die Nation befand sich im Krieg: Davon zeugten die bewaffneten Auseinandersetzungen, die sich gegnerische Gruppen im Vorort Ezeiza [wo sich der internationale Flughafen befindet] am 20. Juni 1973 [dem Tag von Juan D. Peróns Rückkehr] lieferten«232; er wurde von den Streitkräften als »apokalyptischer Rahmen«233 vorgefunden und erfolgreich beendet. In der Beschreibung des eigenen Tuns machten die Sicherheitskräfte aus dem, was sie bis dato als »antisubversiven Kampf« bezeichnet hatten, bereits in der Überschrift einen »Krieg gegen die Subversion und den Terrorismus«, die Schlachten dieses Krieges wurden zu »Diensthandlungen«234. In diesem Kontext seien – wie in jeder kriegerischen Auseinandersetzung − »Fehler« passiert. In einer Haltung zwischen pathetischer Demut und Überheblichkeit definierten die FF.AA. im Bericht die Instanz, vor der sie bereit waren, Rechenschaft abzulegen, nämlich einzig die Geschichte: »[N]ur das Gericht der Geschichte wird mit Genauigkeit festlegen können, wer für ungerechte Methoden oder unschuldige Tote direkt verantwortlich ist.«235 Der Bericht endete mit der Selbstabsolution der argentinischen Streitkräfte und ihrer dumpfen Drohung, jederzeit und nach eigenem Ermessen die politische Bühne wieder zu betreten, denn sie erklärten, »[d]ass die Streitkräfte in treuer Erfüllung eines Befehls der nationalen Regierung gehandelt haben und es nötigenfalls jederzeit wieder unter Nutzung ihrer ganzen unter diesen schmerzhaften Umständen des nationalen Lebens gesammelten Erfahrungen tun werden.«236 An die Nachhaltigkeit dieser Drohung sollten die Destabilisierungsversuche der Armee in der ersten Dekade der Postdiktatur immer wieder erinnern. Als 1983 die Vernichtung des Gegners vollbracht war und die Sichtbarkeit der Detenidxs-Desaparecidxs immer größer wurde und der humanitäre Diskurs immer lauter, schien die sprachliche Konvention innerhalb der Armee für die Außenkommunikation »Krieg« zu lauten. Es gab ja keine Gefangenen mehr, die den Schutz der Genfer Konvention für sich reklamieren konnten. Von Krieg hatte General Videla bereits im Dezember 1977 vor japanischen Journalisten in seiner Antwort auf die Frage nach der Situation der Menschenrechte gesprochen: »In jedem Krieg gibt es Personen, die überleben, andere, die sterben, und 232 233 234 235 236

Ebd., S. 3. Ebd., S. 9. Ebd., S. 15. Ebd. Ebd. 297

Erinnerung und Intersektionalität

wieder andere, die verschwinden.«237 Einige Jahre später äußerte er sich zum »schmutzigen Krieg«: »Für mich gibt es keine schmutzigen Kriege. Es gibt gerechte und ungerechte Kriege. Das Christentum glaubt an gerechte Kriege. Und der, den wir führten, war ein gerechter Krieg.«238 Die Bezeichnung »guerra sucia« stammte jedoch nicht von den Streitkräften; nach Auskunft von General Camps waren der Vietnam- und der Algerienkrieg die Methodengeber für das argentinische Militär und auch sie waren als schmutzige Kriege bezeichnet worden.239 Die inzwischen gängige Bezeichnung für die Vorgehensweise während der Diktatur war zum ersten Mal in Historia de la guerra sucia en Argentina des ermordeten Schriftstellers und Journalisten Rodolfo Walsh aufgetaucht.240 Darin fügte Walsh die zusammengetragenen Informationen über die illegale Repression zu einem sinnstiftenden Puzzle zusammen, das das Vorgehen in einem Geflecht historischer und wirtschaftlicher Zusammenhänge ansiedelte. Seine Quellen waren das den Montoneros nahestehende Informationsnetzwerk ANCLA (Agencia de Noticias Clandestina) und die Aussagen von Mario Galli und Sergio Tarnopolsky241, die 1977 ermordet wurden. Eine durch die Zensur und die Ermordung vieler Kollegen eingeschüchterte Presse, die sich laut Insidern auch gerne durch die Junta verführen ließ242, schwieg bis auf wenige Ausnahmen.243 Rodolfo Walsh, über dessen Tod die argentinischen Gerichte 34 Jahre Calle, 1977, o. S. A res, 2001, o. S. La Prensa vom 04.01.1981, zit. in Avellaneda, 1986, S. 207. Anguita /Caparrós, 2006, S. 270-294. Die Ehefrau und die Eltern von Sergio Tarnopolsky, damals 21 Jahre alt, wurden ebenfalls ermordet. Sein kleiner Bruder Daniel überlebte und wurde zum Menschenrechtsaktivisten; noch heute hofft er, dass seine damals 15 Jahre alte Schwester ebenfalls überlebt hat. Ihr hat er sein Buch Betina sin aparecer (Buenos Aires 2012) über die Suche nach ihr und seine Arbeit für die Menschenrechte gewidmet. 242 Goñi, 1996, S. 188. 243 Dazu zählt, neben dem Buenos Aires Herald mit dem Journalisten Robert Cox und u.a. Uki Goñi, die unabhängige Zeitschrift Humor. Der Fall Jacobo Timerman, Chef der Zeitung La Opinión, erreichte Anfang 1977 viel internationale Beachtung und trug zur »anti-argentinischen Kampagne« bei, wie die Militärs sie nannten. Nachdem er 1977 verschleppt wurde und drei Tage verschwunden war, ertrug Robert Cox im Dezember 1979 die anhaltenden Drohungen nicht mehr und verließ Argentinien. Cox’ in Argentinien geborener Sohn David, auch Journalist, schrieb 2009 die Erinnerungen an diese Zeit in Dirty War, Dirty Secrets – the life of Robert Cox nieder. Ein Interview mit Robert Cox führte der Schriftsteller und 237 238 239 240 241

298

Teil III – Staatsrepression und diskursiver Wandel

später einen Urteil fällten, wurde in den letzten Jahrzehnten zur Symbolfigur des Widerstands gegen die Diktatur.244 Die Veröffentlichung seines berühmten »Offenen Briefs eines Schriftstellers an die Militärjunta«, den er zum ersten Jahrestag der Machtergreifung durch die Junta an die Redaktionen aller Zeitungen gesendet hatte, kostete ihn am 25. März 1977 das Leben. Durch seine mutige Intervention inspiriert begründete eine Generation von Journalisten den sog. Aufklärungsjournalismus, der einen entscheidenden Beitrag zur Klärung der von der argentinischen Justiz ad acta gelegten Fälle leistete. Die von Walsh formulierte Anklage, die FF.AA. führten einen pietätlosen, unfairen Vernichtungskrieg, die im Attribut »schmutzig« enthalten war, deuteten die zurückgetretenen Streitkräfte in das makabre Bild eines unvermeidlichen Übels um, das ihren Anteil an den Verbrechen verstecken sollte. Im Schlussbericht wurde die Existenz von geheimen Haftorten ausdrücklich verneint: » [E]s gibt keine geheimen Haftorte.« »Verschwundene« Personen wurden in Anführungszeichen gesetzt, da es Derartiges angeblich nicht gab − »all dies ist nur eine für politische Zwecke erfundene Unwahrheit« −, und als tot eingestuft: »[W]er auf den Listen von Verschwundenen erscheint und weder im Exil noch im Untergrund ist, wird juristisch und verwaltungstechnisch für tot erklärt.« Für die in NN-Gräbern verscharrten Überreste, die bereits Ende der Diktatur auftauchten, lieferte der Bericht eine Erklärung: Angesichts der drohenden Gefangennahme begingen andere Terroristen Selbstmord, in der Regel mit Zyankalikapseln. Da in diesen Fällen niemand Anspruch auf die Toten erhob und da sie nicht identifiziert werden konnten, wurden sie legal als Namenlose bestattet. Wann immer möglich entfernten die Terroristen die Körper ihrer Toten vom Ort einer Auseinandersetzung. Die Leichen und die Verwundeten, die in Folge der Aktion starben, wurden von ihnen unkenntlich gemacht oder heimlich begraben.245

Journalist Luis Bruschtein in der Tageszeitung Página/12 vom 14.05.2001 (vgl. Bruschtein, Luis, 2001a, o. S.). 244 Bezeichnend für den Symbolcharakter des Schriftstellers ist z.B., dass im auf die Urteilsverkündung in der Megacausa ESMA wartenden Publikum Plakate mit dem Antlitz des Schriftstellers hochgehalten wurden (›http://tn.com.ar/policiales/ una-sentencia-historica_070703‹, 30.07.2015) bzw. unmittelbar auf Walshs Offenen Brief an die Militärjunta Bezug genommen wurde (Dandan, 2011, o. S.). 245 Presidencia de la Nación, 1983b, S. 12, aus dem Span. von MLS. 299

Erinnerung und Intersektionalität

Die Existenz von Desaparecidxs wurde vonseiten der Regierung als das Vorhandensein von Personen zugegeben, die während des Krieges unter unbekannten Umständen ums Leben gekommen waren. Sie tauchten zum ersten Mal im Dezember 1977 in General Videlas Darstellung des Krieges auf; Emilio Crenzel registrierte Videlas Worte vor Journalisten: In jedem Krieg gibt es Personen, die überleben, andere, die fortan Versehrte sind, andere, die sterben, und andere, die verschwinden. […] Dass manche Personen verschwinden, ist eine zufällige Konsequenz dieses Krieges. Wir verstehen den Schmerz einer Mutter, die ihr Kind, oder einer Ehefrau, die ihren Mann verloren hat, über deren Verbleib wir keine Auskunft geben können, weil sie sich heimlich den Reihen der Subversion angeschlossen haben, von Feigheit gepackt und unfähig, zu ihrer subversiven Haltung zu stehen, oder weil sie unter neuem Namen heimlich das Land verlassen haben, oder weil ihre Körper bei einer Kampfhandlung durch Explosionen, Feuer oder Geschosse so schwer entstellt wurden, dass sie nicht identifiziert werden konnten, oder durch Exzesse bei der Repression.246

Im zitierten Abschnitt mit der starken Kontextualisierung des Krieges ist das »Verschwinden« eine Art Kollateralschaden. Durch den Euphemismus »Exzesse bei der Repression« als Begründung offenbarte sich der Sprecher 1977 als Mitwisser und durch seine Rolle letztlich als Mittäter. Die Begriffe »das Verschwinden, verschwinden, verschwunden sein« waren bis zur Diktatur in der argentinischen Varietät des Spanischen übliche bildungssprachliche Euphemismen für das Sterben. Während sich die Institutionen in ihren Antworten zu den ab 1976 zahlreichen Habeas-Corpus-Anträgen ahnungslos stellten, gewann die Bezeichnung »Verschwundene« im allgemeinen Sprachgebrauch die Dimension von Opfern eines systematischen Vorgehens. »Verschwundene« wurden 1979 in den öffentlichen Worten Videlas zu Wesen zwischen Leben und Tod: Solange es so ist, ist der Verschwundene eine unbekannte Größe. Wenn er wieder auftauchen würde, nun, dann bekäme er die Behandlung X. Und wenn sich herausstellt, dass er nicht verschwunden ist, sondern tot, bekommt er die Behandlung Z. Aber solange er ein Verschwundener ist, kann er keine besondere Behandlung bekommen. Er ist eine unbekannte Größe, ein Ver-

246 Crenzel, 2008, S. 37, Hervorh. von V. A., aus dem Span. von MLS. 300

Teil III – Staatsrepression und diskursiver Wandel schwundener, ein Körperloser, er existiert nicht, weder tot noch lebendig, er ist verschwunden.247

Um die Zeit vor dem Besuch der CIDH im September 1979 stießen die Madres die Debatte innerhalb der APDH um die Bezeichnung »Verschwundener« an. Sie regten an, statt von »Verschwundenen« von »Verschleppten-Verschwundenen« zu sprechen, um der Tatsache Rechnung zu tragen, dass die Angehörigen lebend festgenommen wurden und seitdem wie verschwunden waren, d.h. um die zu beantwortende Frage des Verbleibs zu unterstreichen, denn niemand löst sich einfach in Luft auf.248 Der Schlussbericht vom 28.04.1983 blieb nicht unwidersprochen. Auf ihn antwortete postwendend u. v.a. der Jurist Alfredo Galletti, der die zentralen Argumente der Auseinandersetzung um die Wahrheit über den Verbleib der Desaparecidxs bereits Anfang Mai 1983 skizziert und die Verbrechen als nicht verjährbar, als Verbrechen gegen die Menschlichkeit eingestuft hatte. Galletti betonte, das Dokument würde die Verschwundenen für tot erklären wollen, was nicht hinnehmbar sei: »Wenn es so wäre, wurde ein Genozid begangen, der als solcher verurteilt werden muss.«249 Die Frage der Anerkennung der Mitteilung des Militärs, die VerschlepptenVerschwundenen seien tot, beschäftigte nachhaltig die Menschenrechtsbewegung. Sie bildete 1986 die Kernfrage bei der Spaltung der Madres de Plaza de Mayo in zwei Organisationen, die Asociación de Madres de Plaza de Mayo, bis heute von Hebe de Bonafini geleitet, und die Asociación de Madres de Plaza de Mayo − Línea Fundadora. Während die Organisation von Hebe de Bonafini sich weigerte, die Erklärung anzuerkennen, weil dies bedeutet hätte, den Tod der Angehörigen zu akzeptieren und die Frage nach den Umständen der Verschleppung ad acta zu legen, unterstützte die Línea Fundadora die Bemühungen, anhand forensischer Proben Fälle von Hinrichtungen zu beweisen und so die damals aktuellen Angaben im Schlussbericht zu entkräften. Die Línea Fundadora erkannte das Wiedergutmachungsgesetz 24.411 an und ihre Mitglieder akzeptierten die finanzielle Entschädigung für Angehörige der Verschleppten-Verschwundenen. Sie billigten auch das Gesetz 24.231 zur Rechtsfigur des »erzwungenen Verschwindens«, das die offensichtliche Tatsache beschrieb, dass die Menschen nicht einfach so verschwunden, sondern illegalen Prozeduren zum Opfer gefallen waren. 247 Videla, 1979, aus dem Span. von MLS. 248 Gorini, 2006, S. 327. 249 Zit. in Ageitos, 2002, S. 115. 301

Erinnerung und Intersektionalität

Die Analyse des Schlussberichts zeigt, dass bereits vor Ende der De-facto-Regierung die Argumente der offiziellen Interpretation der Verbrechen der Staatsrepression festgelegt waren. Die diskursive Auseinandersetzung um ihre Deutung als kollaterale Schäden eines Krieges oder als verübter Genozid sowie die ganzen Implikationen für die strafrechtliche Verfolgung der Verantwortlichen und Täter knüpfte also an diese Grundlage an, die in das Amnestiegesetz vom 24.09.1983 einfloss. Der strategische Schachzug der Streitkräfte, ihren Ausrottungszug außerhalb der Grenzen der Legalität durchgeführt zu haben, erforderte von denjenigen, für die die Wiedererlangung der Rechtsstaatlichkeit nur auf der Basis der Aufklärung der Verbrechen erfolgen konnte, die enorme Anstrengung der Rekonstruktion und des Belegens. Der Schweigepakt der Folterknechte sowie die Vernichtung bzw. das gelungene Verstecken der Akten der Repression, zusammen mit der Tatsache, dass auf dem »Schlachtfeld« Tabula rasa gemacht worden war, verfolgten die Absicht, die Spur der Verbrechen für immer zu verwischen. Die Politiken des Vergessens, eingeleitet durch das Amnestiegesetz, belegen die Umsetzung dieser Absicht. Die ersten Fissuren im Schweigen ließen über 10 Jahre auf sich warten, sie traten erst auf, als Adolfo Scilingo zusammenbrach. Die Arbeit der Rekonstruktion begann allerdings sofort nach der Wiedererrichtung der demokratischen Institutionen. 2) Analyse der Presseberichterstattung zum Amnestiegesetz vom 24.09.1983 Lediglich fünf Wochen bis zu den Wahlen vom 30.10.1983 fehlten noch, als die Junta das Gesetz zur Nationalen Befriedung verabschiedete, in dessen Namen auf Wunsch einer Gruppe der FF.AA. das Wort »Amnestie« vermieden werden sollte. In der Berichterstattung der Zeitung La Prensa vom 24.09.1983 wurde das Gesetz im Wortlaut veröffentlicht.250 Das Bild der »zwei Dämonen« wird darin durch die Gleichung von »actividades subversivas« [subversive Aktivitäten] und »accionar antisubversivo« [antisubversiv handeln] konstruiert, um die Bestrafung beider aufzuheben. Eine Ausnahme dabei sollten die Personen sein, die vom Militärgericht zu jenem Zeitpunkt bereits verurteilt waren. Der Bericht nannte sie nicht, aber damit gemeint waren die politischen Gefangenen der Diktatur. Die völlige Unterstützung der Generäle für den Gesetzestext war bereits Thema der Coverseite der internationalen Ausgabe Nr. 453 von Clarín vom 15.21.08.1983. Ebenfalls auf der Seite befand sich die Berichterstattung über die erste Massenkundgebung gegen die geplante Amnestie, die 35.000 Demonstranten gegen das Gesetz bereits im Vorfeld seiner Verabschiedung auf die Straße trieb. Das wichtigste Thema der Woche waren dennoch die niedrigen Reallöhne 250 La Prensa, 1983a, S. 1f. 302

Teil III – Staatsrepression und diskursiver Wandel

und die entsprechenden Forderungen der Gewerkschaften: Der wirtschaftliche Plan des »Proceso« hatte den Industriearbeitern, der politischen Klientel des Peronismus, am stärksten zugesetzt. In der Berichterstattung zum Gesetz hatte Clarín Internacional Nr. 441 (23.-29.05.1983) das Schlüsselwort, mit dem die Streitkräfte ihre Verbrechen zu verstecken und bagatellisieren versuchten, »Exzesse«, noch in Anführungszeichen gesetzt; bald danach sollte die Vorstellung, die Menschenrechtsverletzungen seien eine »Übererfüllung der Pflicht« gewesen, ein Allgemeinplatz in den Apologien der Verbrechen werden, wodurch die Anführungszeichen in den Zeitungsberichten verschwanden. In den 90er Jahren erfuhren die »Exzesse« eine Umwandlung, als sie zu »Kompetenzüberschreitungen« und »irrigen Taten« wurden.251 Es dauerte lange Jahre, bis in der allgemeinen Rechtsauffassung nicht mehr von »Exzessen«, »Kompetenzüberschreitungen« oder »irrigen Taten«, sondern von Verbrechen gesprochen wurde und die Täter wegen Völkermord angeklagt wurden. Für die Oberhäupter der Streitkräfte gab es im Vorfeld des Gesetzes Grund zu lächeln: Die Bildberichterstattung in Clarín (nationale Ausgabe) zeigte zehn Tage vor der öffentlichen Bekanntmachung des Amnestiegesetzes Rubén Oscar Franco und Augusto Hughes, Oberhäupter der Marine bzw. der Luftwaffe, die 1997 vom spanischen Richter Baltasar Garzón zusammen mit weiteren 45 Militärs wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt werden sollten, an prominenter Stelle auf Seite 2, nach der Verabschiedung des Gesetzes durch die Junta mit lächelnden Gesichtern.252 Auf der gleichen Seite wurden eine Reform des Kodex der Militärjustiz sowie eine Aussetzung der Beförderungsroutinen innerhalb der Streitkräfte, die auf die Vorbereitungen der zu erwartenden punktuellen Verhandlungen des Militärgerichts hinwiesen, angekündigt. In der Berichterstattung von Clarín wurde dargestellt, dass alle politischen Parteien das Gesetz zur Nationalen Befriedung abgelehnt hatten. Diese Ablehnung artikulierte sich im »Widerstandsmarsch«253, einer für den Mittwoch, 22. September, von den Müttern der Plaza de Mayo anberaumten 24-stündigen 251 Lvovich /Bisquert, 2008, S. 55. 252 Clarín, 1983a, S. 2. 253 Als »Marchas de la Resistencia« [Widerstandsmärsche] werden die Kundgebungen bezeichnet, die von den Madres de Plaza de Mayo zwischen 1981 und 2006 meistens um den 10.12. herum (Tag der Menschenrechte und Jahrestag der Verschleppung der Gründungsmütter Azucena Villaflor, Esther Ballestrino de Careaga und María Ponce de Bianco) organisiert wurden. Für eine Dokumentation der Widerstandskundgebungen siehe Vázquez u.a., 2007, und Instituto Espacio para la M emoria, 2006. 303

Erinnerung und Intersektionalität

Kundgebung, die mit der gewohnten Donnerstagsrunde der Madres enden sollte. Die Tageszeitung Clarín erwähnte die Widerstandskundgebung gegen das Amnestiegesetz auf Seite 14 ihrer nationalen Ausgabe vom 22.09.1983 und auf Seite 4 der Ausgabe vom 23.09.1983. Mit dem Widerstandsmarsch trat die Menschenrechtsbewegung zum ersten Mal mit einer Reihe von Persönlichkeiten, die bis dato keinen nennenswerten Platz in den großen Zeitungen gefunden hatten, als politischer Akteur in der Berichterstattung auf. Ein Jahr zuvor, Anfang Oktober 1982, hatte sich die Menschenrechtsbewegung mit dem »Marsch für das Leben« über das polizeiliche Verbot hinweggesetzt und sich mit 10.000 Teilnehmern zur Berichterstattung vorgekämpft. Diese wachsende mediale Aufmerksamkeit der Menschenrechtsorganisationen (MRO) ging mit der zunehmenden Sichtbarkeit der Verschleppten-Verschwundenen einher.254 Gegen Ende der Diktatur hatte sich ein humanitärer Diskurs konstituiert255, der die Detenidxs-Desaparecidxs allmählich aus der Ausgrenzung in die Mitte der Gesellschaft zurückholte. Für seine Beschreibung dieses Diskursmomentes knüpfte Crenzel an die Überlegungen des Kulturhistorikers Thomas Laqueur an, der in der detaillierten Beschreibung körperlichen Leidens und der konsequenten Erzeugung von Mitgefühl die Entstehung eines moralischen Imperativs für humanitäre Handlungen sieht. Die Tatsache, dass dieses Narrativ oftmals keine moralische Antwort, sondern in einer Art »party of humanity« vielmehr das Gegenteil davon erzeugte256, kann in der sogenannten »Horrorshow« am Ende der Diktatur beobachtet werden. Als die Massengräber geöffnet wurden und die Berichterstattung über die Verbrechen die Medien beschäftigte, entstand eine Form der Abwehr, die nicht in die zu erwartende humanitäre Handlung, die konsequente Verfolgung der Verbrechen, mündete, sondern eher in eine Abkehr vom Thema – vielleicht auch, um der Konfrontation auszuweichen, die die Frage aufgeworfen hatte, wie der eigene Standpunkt zur Zeit der repressiven Handlungen war. Neben den Fotos von einer gut besuchten friedlichen Kundgebung wurde der Friedensnobelpreisträger von 1980, Adolfo Pérez Esquivel, Hand in Hand mit Hebe de Bonafini abgebildet. Clarín betonte mit Fettschrift Pérez Esquivels Einschätzung der politischen Szene im Zusammenhang mit den VerschlepptenVerschwundenen: Den politischen Parteien fehlen die Stärke und die Klarsicht, das Thema der Verschwundenen anzugehen. Bedauerlicherweise betrachten sie es nur 254 Schindel, 2004, S. 288. 255 Crenzel, 2008, S. 51. 256 Laqueur, 1989, S. 202. 304

Teil III – Staatsrepression und diskursiver Wandel als einen weiteren Aspekt ihres Programms, während wir davon überzeugt sind, dass es sein Dreh- und Angelpunkt ist. Schließlich geht es um die Verteidigung des Lebens und die Stabilität der nächsten demokratischen Regierung.257

Diese Worte beruhten auf der während der Jahre der Repression mit den politischen Parteien gemachten Erfahrung. Sie waren keine zuverlässigen Partner der Menschenrechtsbewegung, die erklärte Ablehnung der Amnestie seitens sämtlicher politischer Parteien wirkte auf die MRO alles andere als vertrauenswürdig. In einer politischen Landschaft, die damals vom Partido Justicialista (Peronismus) und der Unión Cívica Radical (Radikale) dominiert war, hatte der rechte Flügel des Partido Justicialista die alten Parteistrukturen übernommen und hegte kein Interesse daran, sich für die einstigen Gegner und mehrheitlichen Opfer der Repression, den linken Flügel des Peronismus und darunter insbesondere die Montoneros, einzusetzen. So positionierte sich der Kandidat Ítalo Argentino Luder im Vorfeld der Wahlen zwar gegen das Amnestiegesetz, weil inopportun258, aber auch gegen eine gründliche Aufklärung der Verbrechen der FF.AA. Die UCR ihrerseits hatte während der Diktatur mit ihrer Leitfigur, Ricardo Balbín, eine Haltung unausgesprochener Zustimmung zum Regime verkörpert. Balbín hatte General Videla sogar explizit als »General der Demokratie« bezeichnet. Erst nach 1981 hatte Raúl Alfonsín viele der Forderungen der Menschenrechtsbewegung in das Wahlprogramm der UCR aufgenommen; die Abwesenheit von Alfonsín bei der Kundgebung der Madres wurde jedoch vom politischen Gegner, dem langjährigen Junta-Oppositionellen Oscar Alende, als Gelegenheit genutzt, Alfonsíns viel zu zögerlichen Einsatz für die Politik der Menschenrechte zu kritisieren. Im Sinne einer politischen Antwort auf Pérez Esquivels Stellungnahme brachte die Berichterstattung am folgenden Tag die Worte des Vizepräsidenten des CELS Augusto Conte, Vertreter von »Humanismus und Befreiung« und Kandidat der Christdemokraten für die Bundesversammlung, der die Systematik der Verbrechen der Repression wie folgt zusammenfasste: Unter Videlas Führung und mit der Unterstützung von Massera und Agosti wurden die Dokumente gebilligt und unterzeichnet, die über die Ausübung des Staatsterrors in Form einer repressiven Maßnahme entschieden. Also […] begannen die massenhaften Entführungen, die geheimen Gefangenenlager wurden errichtet, die uneingeschränkten Foltermaßnahmen eingeführt 257 Zit. in Clarín, 1983b, S. 14, aus dem Span. von MLS. 258 La Prensa, 1983b, S. 2. 305

Erinnerung und Intersektionalität und es wurden tausende Menschen, ohne Gerichtsverfahren, eliminiert. Zu diesem Zeitpunkt […] traten die Immobilienfirmen auf den Plan, die im Schatten der geheimen Gefangenenlagern agierten und die Besitztümer vermarkteten, die den Verschwundenen und ihren Familien genommen worden waren.259

Die Berichterstattung über den Widerstandsmarsch in Clarín umfasste die Forderungen der Menschenrechtsorganisationen, die damals noch »Aparición con vida« [Erscheinen, und zwar lebend!] riefen und auf eine Rückkehr der in der Vorstellung vieler noch lebenden Verschleppten-Verschwundenen aus geheimen Gefängnissen hofften sowie auf Auskunft über das Schicksal der geraubten Kinder. Die Ab-/Anwesenheit der Verschwundenen wurde erst auf dem Platz und von dort aus in weiteren Bezirken der Stadt durch »El siluetazo« greifbar gemacht. Das Kunstkollektiv von Rodolfo Aguerreberry, Julio Flores und Guillermo Kexel hatte die Kampagne initiiert, an der die noch verbotenen Studentenorganisationen der Kunstakademie und verschiedener Fakultäten der UBA sowie Demonstranten und Fußgänger teilnahmen. Sie liehen die Konturen ihrer Körper aus, um Tausende von Silhouetten auf Papier zu zeichnen, die an Wände, Türen und Schaufenster in der Stadt geklebt wurden. Parolen der Kundgebung wie »No hubo errores, no hubo excesos, son todos asesinos los milicos del proceso« [Es gab keine Fehler, keine Exzesse, sie sind alle Mörder, die Militärs des ›Prozesses‹], »Ahora se hace indispensable, aparición con vida y castigo a los culpables« [Es ist jetzt unerlässlich, dass sie erscheinen, und zwar lebend! Die Schuldigen bestrafen] oder »Madres de la Plaza, el Pueblo las abraza« [Mütter der Plaza, das Volk umarmt euch] wurden im Wortlaut in der Berichterstattung zitiert. La Nación setzte am 23. September im oberen linken Eck der dritten Seite eine Überschrift der ersten Seite fort und gab eine sicherheitspolitische Meldung bekannt: Während der Kundgebung war es zu keinen Zwischenfällen gekommen.260 Der Autor nutzte den Platz in der konservativen La Nación, um ein weiteres Argument in der Frage der illegalen Repression vorzutragen. Er schrieb, dass während der Kundgebung Polizeiagenten ihre sonst auf der Brust zu findenden Identifikationsmarken nicht trugen.261 So fügte er in die ansonsten karge und ordnungsbetonte Berichterstattung eine Information ein, die für den durch die Zensur sensibilisierten Leser eine klare Kritik an der Art und Weise 259 Clarín, 1983d, S. 4, aus dem Span. von MLS. 260 La Nación, 1983a, S. 3. 261 Ebd. 306

Teil III – Staatsrepression und diskursiver Wandel

war, wie die Sicherheitskräfte agierten und wie sich die einschüchternde Asymmetrie in der Begegnung mit Zivilisten konstituierte, die die Bereitschaft zur Repression implizit zeigte. Kurioserweise illustrierte ein Foto von der Umarmung von Hebe de Bonafini und dem Gewerkschaftsvorsitzenden Saúl Ubaldini den Artikel. Im Leitartikel (traditionsgemäß vom Direktor der Zeitung selbst, Dr. Bartolomé Mitre, geschrieben) zum Amnestiegesetz, mit dem typischen euphemistischen Gestus der Presse der Diktatur − die zensurbedingt suggeriert und nicht sachlich informiert −, war lediglich die Rede von »Ereignissen auf der Plaza de Mayo« anstatt von einer Massenkundgebung, das Wort »desaparecidos« kam kein einziges Mal vor. Dem geübten Leser wurde schnell klar, dass im Satz »Die dunkelste Vergangenheit hinterließ ihre Spuren auf den Monumenten, damit die Bürgerschaft mit Kummer bemerkt, was ihr am schwersten zu lösendes Problem sein könnte«262 die »Spuren« auf den siluetazo anspielten. Die Einstufung der Problematik als ernst (»am schwersten zu lösendes Problem«), die im Wort »Bürgerschaft« zusammengefassten (vor den Wahlen gewonnenen) Meilen auf dem Weg zur Demokratie und der »Kummer«, den die Verbrechen inzwischen der Mehrheit der Gesellschaft bereitete, wiesen auf eine einschneidende Entwicklung hin: Die führenden Wirtschaftskreise – die bevorzugte Leserschaft der Zeitung − begannen nach einer langen Tradition der Unterstützung militärischer Regierungen, sich von autoritären Strategien zu distanzieren und der Demokratie zuzuwenden.263 In den Jahren des Terrors hatte die industrielle Produktion mehr als 20 % an Volumen verloren und war auf das Niveau der 60er Jahre zurückgefallen, die Beschäftigungsquote war durch 400.000 Entlassungen um 35 % gesunken, aufgrund der Verschiebung des Schwerpunktes von der Produktion zum Dienstleistungssektor bildete die lokale Industrie anstatt 28 % lediglich 22 % des BIP ab, 20 % der größeren Wirtschaftsbetriebe mussten schließen, die Investitionen in Produktionsanlagen waren auf jährlich 5 % geschrumpft und die Gewinnumverteilung hatte sich für Arbeiter und Angestellte von 49 % im Jahr 1975 auf 32,5 % im Jahr 1982 reduziert.264 Wenn man diese Daten betrachtet, ist es naheliegend, dass in der Postdiktatur vielfach eine ökonomisierende Begründung als Deutungsansatz für den Militärputsch priorisiert wurde, die die Ursache für die Einrichtung der diktatorischen Regierung und ihrer internationalen Anerkennung in der Umsetzung eines Wirtschaftsplans fand, der im revolutionären Klima Anfang der 70er Jahre und bei funktionierenden demokratischen Institutionen nicht umsetzbar gewesen wäre. 262 La Nación, 1983b, o. S. 263 Acuña, 1995, S. 231-284. 264 Ebd., S. 243. 307

Erinnerung und Intersektionalität

Am Anfang dieses Umstellungsprozesses führender Wirtschaftskreise in Richtung Demokratie wurde die Präsenz des Gewerkschaftlers Saúl Ubaldini auf der Plaza de Mayo jedoch noch als Ausdruck einer destabilisierenden Autarkie gedeutet. Denn der Peronismus stellte zur Präsidentschaftswahl als Vizekandidaten einen anderen Gewerkschaftler auf, Lorenzo Miguel, der sich wie Ítalo Luder gegen die strafrechtliche Verfolgung der Verbrechen aussprach. Bis dorthin hatten sich die Gewerkschaftler in der Frage der Menschenrechte bedeckt gehalten. So wurde beim Besuch der CIDH im September 1979 zwar die Situation einzelner gefangener Gewerkschaftler, unter ihnen Lorenzo Miguel selbst, angefragt, doch zunächst hatten die Gewerkschaftsfunktionäre nicht die Politik der Menschenrechte, sondern die Subversion öffentlich geächtet, die in den letzten Jahren verschiedene Opfer in den Reihen der Gewerkschaftler hinterlassen hatte.265 Daher muss die Besorgnis, mit der der Verfasser des Leitartikels die Massenkundgebung auf der Plaza de Mayo wahrnahm, im Zusammenhang mit einer jahrelang gepflegten Haltung, die Verschwundenen einfach zu ignorieren, betrachtet werden. Die Kundgebung sei »eine der zukünftigen verfassungsmäßigen Regierung zuarbeitende Aktion, angeführt von Sektoren, die zu keiner der aktuellen politischen Strömungen gehören, die die Regierung bilden werden«266, so der Journalist weiter. Die Einschätzung, zu der Kundgebung hätten politische Außenseiter aufgerufen, artikulierte die Wahrnehmung der Menschenrechtsbewegung in den konservativen Kreisen und offenbarte eine für die etablierten Ansprechpartner der Militärregierung unabsehbare Rolle des an Gewicht gewinnenden neuen politischen Akteurs, der Menschenrechtsorganisationen, die hartnäckig versuchen sollten, die Gewerkschaftler an vergangene Handlungen zu erinnern. Niemand ahnte im September 1983, dass das »Eiserne Gesetz«, die bekannte Einschätzung, dass in freien Wahlen der Peronismus immer und leicht an die Macht kommen würde, in den kommenden Wahlen nicht zutreffen sollte. Das siegessichere Futur der Berichterstattung »die die Regierung bilden werden« sprach für ein Setzen auf den Kandidaten des Peronismus. Ebenfalls interessant war die Bewertung des Leitartikels dieser konservativen Zeitung, die anhand der vorgenommenen Gleichung zwischen Opfern und Tätern im Amnestiegesetz die Instrumentalisierung der »Subversion« durch die FF.AA. für den Eigenzweck der Autoamnestie zukunftsweisend interpretierte: [M]it dieser Amnestie annullierte die Militärregierung das, was einige als ihr hauptsächliches – oder einziges – Ziel betrachteten: die Zerschlagung 265 Vgl. CELS, 1979. 266 La Nación, 1983b, o. S. 308

Teil III – Staatsrepression und diskursiver Wandel der Subversion. Ohne Zweifel erwies sich die Amnestierung der Terroristen als unabdingbares Gegengewicht, um die eigene Amnestierung zu ermöglichen.267

Nach Meinung des Herausgebers war die Staatsrepression – implizit − ein geringes Übel bei der erfolgreichen Erreichung des – explizit − größten und einzigen Ziels der Militärregierung: der Niederlage der »Subversion«. Im Amnestiegesetz stellten die FF.AA. aus ihrer Perspektive Täter und Opfer gegenüber und machten aus beiden in versöhnlichem Ton gleichzeitig Opfer und Täter, mit dem Ziel, die eigene Straflosigkeit zu erreichen. Dieses Bild, das den Geschehnissen undifferenziert übergestülpt wurde, erwies sich als nachhaltig und besonders heikel. Die von den entmachteten Streitkräften aufgestellte Illusion gleicher »Schuld« auf beiden Seiten sowie die einer über sieben Jahre währenden bewaffneten Auseinandersetzung verdichtete sich bald danach zu einem Diskurs und wurde nicht mehr mit dem Amnestiegesetz identifiziert, sondern mit der Argumentation der demokratischen Regierung Alfonsín. Diese Darstellung, die im Amnestiegesetz zusammengetragen wurde, hatte sich bereits so tief eingeprägt, dass selbst der Schriftsteller Ernesto Sábato, der während der Militärregierung zu den wenigen zählte, die deutlich Position dagegen bezogen, in der Einführung zum Nunca Más-Bericht der CONADEP sie übernahm und als »Zwei-Dämonen-Theorie« ausformulierte. Das diskursive Bild der zwei Dämonen fixierte die Gewalt von rechts als Antwort auf die Gewalt von links weiterhin als sein zentrales Element. Indessen war die Bevölkerung einer Situation von »Schutzlosigkeit« gegenüber dem Staatsterror ausgesetzt, in der jede/r verschleppt werden konnte, während die »desaparecidos« zu wehrlosen Opfern herabstilisiert wurden. Trotz dieser Argumentation, die das Interpretationsparadigma des Krieges weiterspinnt, verdichtete sich zeitgleich aus einer humanitären Perspektive heraus um den moralischen Imperativ der Menschenwürde herum der Diskurs der Anklage. In der Darstellung der Einzelheiten der Verschleppung und Folterung, der Verortung der Gefangenenlager sowie der Identifizierung von Mitgefangenen und Folterern malte dieser Diskurs ein Bild der Ereignisse, das darauf zielte, Empathie mit den Desparecidxs zu generieren.268 Diese für die Verfolgung der Verbrechen notwendige Voraussetzung fokussierte das Geschehene auf die Körpererfahrung der Überlebenden. Damit rückte zwar das fundamentale Recht auf Leben in den Mittelpunkt, doch gleichzeitig wurde ein völliges Entblößen der Opfer performiert. Wurde ihnen zehntausendfach in den Lagern jeg267 Ebd., aus dem Span. von MLS. 268 Crenzel, 2008, S. 44. 309

Erinnerung und Intersektionalität

liches Recht entzogen und wurden die Verschleppten-Verschwundenen dann für den Diskurs der okzidentalen christlichen Gesellschaft zu Opfern gemacht, so hatte der Diskurs der Anklage aus dem unerwünschten Homo politicus einen Homo sacer gemacht. Die Identität der Opfer, nicht nur im Sinne einer Geburtsurkunde oder eines Totenscheins, wurde just nach der Erfahrung des massiven Staatsterrors durch die Annahme, politische Gewalt befürwortet zu haben, entschieden verkürzt wahrgenommen und dargestellt. Die Rekonstruktion der politischen Identität der Detenidxs-Desaparecidxs setzte erst im Jahr 1995 nach den gemeinsamen Bemühungen der H.I.J.O.S. ein, das Engagement der Eltern in einen historischen Kontext zu stellen, um an sie als ganze Persönlichkeiten zu erinnern. Diese diskursive Handlung der Entpolitisierung der Biographien und der Reduktion der Wahrnehmung der Opfer auf ihr nacktes Leben zeugte 1983 davon, wie sehr sich der Ausgrenzungsdiskurs des Krieges gegen die Subversion ausgewirkt hatte: Das Feindbild des Subversiven hatte die Desaparecidxs so stark dehumanisiert und marginalisiert, dass es eines Aufrufs zu grundsätzlicher Menschlichkeit bedurfte, um öffentlich nach dem Verbleib der Menschen zu fragen, denen Subversion unterstellt worden war. b. Bestandsaufnahme 2: Carlos Menems Politik des Verdrängens und Vergessens ab 1989 Carlos Menem verabschiedete am 07.10.1989 und am 30.12.1990 in zwei Verwaltungsakten Erlasse, die Strafurteile gegen die Mitglieder der drei Militärjuntas, gegen an der Staatsrepression beteiligte Zivilisten und gegen die Verantwortlichen des ERP und der Montoneros außer Kraft setzten. Auf 1.200 Personen werden die Täter geschätzt269, die von der Politik der Straflosigkeit und Präsident Menems Erlassen profitierten. Um eine angeblich noch ausstehende »Versöhnung« bzw. »nationale Befriedung« zu erzielen, revidierte Menem damit Urteile, die sein Vorgänger Raúl Alfonsín angestoßen hatte und die den Prozess der Demokratisierung vorantreiben sollten. 1) Rechtsprechung als Perspektive und die Realität der Straflosigkeit In den Jahren nach der Rückkehr der Demokratie hatte die Regierung von Raúl Alfonsín einen Spagat versucht: Der Zivilbevölkerung hatte der damals als verdienter Menschenrechtsanwalt wahrgenommene Alfonsín eine erschöpfende Untersuchung der Verbrechen versprochen, den ehemaligen Machthabern der 269 TRIAL, 2012, o.  S. Profitiert haben 730 Militärs vom Schlussstrichgesetz, 379 vom Gesetz über die Gehorsamspflicht, 49 durch vom Obersten Gericht ausgesprochene Amnestien und 42 mittels des Erlasses von Gnadenakten. 310

Teil III – Staatsrepression und diskursiver Wandel

FF.AA. jedoch gleichzeitig eine schonende Behandlung in Aussicht gestellt. Alfonsín stieß die Aufklärung der Verbrechen der Staatsrepression gleich zu Beginn seiner Funktion als Präsident an. Die schwerwiegenden Beweise, die die Ermittlungen über die Verbrechen zu Tage förderten, machten die Strafverfolgung unabdingbar. Als die Folgeermittlungen zunehmend weitere Personen als nur die Kommandanten betrafen und die Zivilgerichte von der Absicht der Verfolgung nicht abließen, griffen die Streitkräfte auf eine Strategie der Destabilisierung zurück. Das Parlament hatte am 29.12.1983, also gleich nach dem Beginn der Demokratiephase, das Autoamnestiegesetz der FF.AA. für ungültig erklärt. Davor und nur fünf Tage nach seiner Ernennung zum Präsidenten hatte Raúl Alfonsín am 15.12.1983 mit den Verwaltungsakten 157 und 158 die strafrechtliche Verfolgung der Menschenrechtsverletzungen durch die Militärjustiz angeordnet und mit der CONADEP zwar den Wunsch der MRO nicht erfüllt, eine parlamentarische Untersuchungskommission mit der Klärung der Menschenrechtsverletzungen zu beauftragen, aber immerhin eine Institution geschaffen, die bis zum 20.09.1984 auf etwa 50.000 Seiten 9.000 Fälle von Menschenrechtsverletzungen dokumentierte und so die Grundlage für die Verfahren gegen die Militärjuntas ausarbeitete. Durch die Verweisung der Fälle an die Militärgerichte hatte die Regierung versucht, die Risiken und Folgen der Ermittlungen innerhalb der FF.AA. zu belassen, um sich nicht die Feindschaft der Streitkräfte zuzuziehen. Aber die doppelte Strategie Alfonsíns, die Selbstläuterung der FF.AA. zu veranlassen und dafür die rechtlichen Folgen der Verfahren gegen ihre Mitglieder kontrollierbar zu halten, scheiterte, als die Fristen verstrichen und die Bundeskammer unter Richter D’Alessio feststellen musste, dass die Militärgerichte weder in der Lage noch gewillt waren zu ermitteln. Der Bericht Nunca Más, dem Präsidenten am 20.09.1984 durch die Mitglieder der CONADEP in Begleitung von 70.000 Demonstranten feierlich übergeben, und die Gerichtsverhandlungen gegen die Juntas, die durch die Ziviljustiz zwischen dem 04.10.1984 und dem 09.12.1985 vorangetrieben wurden, brachten die ganze Grausamkeit der Staatsrepression ans Licht und setzten jene »Horrorshow« fort, die mit der Entdeckung der Massengräber noch vor dem Ende der Diktaturzeit begonnen hatte. Ausschnitte aus den Verhandlungen wurden im Fernsehen – ohne Ton – einer großen Öffentlichkeit vorgestellt und die Verlesung des Urteils wurde live – mit Ton – im Fernsehen und im Radio übertragen. Dadurch wurde die historische Bedeutung des Prozesses unterstrichen und der im Urteil vorgetragenen Erklärung für die Staatsrepression nachhaltig Eindringlichkeit verliehen. Laut Claudia Feld prägte die Übertragung der Gerichtsverhandlungen die Erinnerung an die Staatsrepression wesentlich. Sie 311

Erinnerung und Intersektionalität

entsprach einem Drama in drei Phasen: Zu Beginn wurden die Schmerzen der Überlebenden dargestellt, danach folgte die Auseinandersetzung mit der Wahrheit durch die Vorstellung mehrerer Interpretationen der Vergangenheit und am Ende wurde die institutionelle Entscheidung öffentlich gefällt und eine Wahrheit mit performativem Charakter durch die Richter hergestellt.270 Drei Aspekte erwiesen sich nach Feld als besonderes Ergebnis der Gerichtsverhandlungen als wichtig: Erstens wurde das Geheimnis der desapariciones forzadas gelüftet271 und Täter und Opfer bekamen Namen und Gesichter. Zweitens wurde die Wahrhaftigkeit der Fakten der desapariciones forzadas in einer Art und Weise erbracht, dass sie ab dem Zeitpunkt nie wieder – auch von der Verteidigung der Streitkräfte nicht – geleugnet wurden.272 Und drittens wurde die Deutungsperspektive der Juristen dadurch als Erklärungsversuch der Staatsrepression maßgeblich und verdrängte andere Interpretationen der Fakten. Insbesondere die politische Dimension der Staatsrepression in Bezug auf die revolutionären Ideen der Opfer verschwand aus der allgemeinen Wahrnehmung beim Priorisieren rechtlicher Erwägungen.273 Nicht zuletzt dieser Aspekt etablierte eine Form von Politik, die grundsätzlich um gerichtliche Ereignisse kreiste und heute von einer »Justizialisierung der Politik« in dieser Periode sprechen lässt.274 Die Argumentation der Verteidigung entsprach der Begründung, die die Streitkräfte in der Autoamnestie und dem Schlussbericht geliefert hatten, und zielte darauf, die Staatsrepression als einen Krieg erscheinen zu lassen275, in dem zugegebenermaßen »Exzesse« (s.o.) nicht zu vermeiden gewesen waren. Die Verteidigung versuchte, den Ausnahmezustand plausibel zu machen, der diesen besonderen Krieg erfordert hatte: Einige Verteidiger und mehrere Angeklagte haben vorgebracht, dass im Krieg das Recht außer Kraft gesetzt ist, das Landesrecht, das internationale Recht, das natürliche Recht. Im Krieg gibt es schlicht keine Regeln. Und noch weniger, wenn man ihn gewonnen hat. […] Von einem solchen Standpunkt aus betrachtet entfesselte die terroristische Aggression einen Krieg, in dem sich die Streitkräfte zum Einschreiten gezwungen sahen. Dieser Krieg wurde gewonnen, so dass für ihn weder Recht noch Mäßigung noch ethi270 Feld, 2002, S. 63. 271 Ebd., S. 60. 272 Ebd., S. 61. 273 Ebd. 274 Bietti, 2008, S. 7. 275 Vgl. Poder Judicial de la Nación, 1985, Teil 2, Kap. III, IV, IX. 312

Teil III – Staatsrepression und diskursiver Wandel sche, religiöse oder moralische Prinzipien Gültigkeit haben. Im Krieg ist alles zulässig. Der Krieg kann nicht vor Gericht gestellt werden. Und wenn er es könnte, dann könnte man nur den Siegern den Prozess machen.276

Der argentinische Poder Judicial de la Nación untersuchte und widerlegte die von der Verteidigung vorgetragenen Argumente des Krieges zur Rechtfertigung der Handlungen der Hauptverdächtigen in Teil 6 seines Verdikts vom 09.12.1985.277 Staatsanwalt Julio Strassera trug die wesentlichen Ergebnisse dieser Prüfung öffentlichkeitswirksam in seinem Schlussplädoyer vor: Besonders inkonsistent ist das Argument des »schmutzigen Krieges«, das bis zum Exzess als Rechtfertigung angeführt wurde. […] Zunächst einmal möchte ich ganz klar feststellen, dass es hier keinen solchen Krieg gegeben hat. Ich habe sehr gute Argumente zur Untermauerung dieser Einschätzung, und ich werde nur einige davon anführen. Keines der Begleitdokumente des Prozesses [der Nationalen Reorganisation] spricht von einem Krieg, und das ist im Übrigen bezeichnend, […] denn schon 1981, als die Repression quantitativ abgenommen hatte, begann die argentinische Regierung damit, in internationalen Foren davon zu sprechen, dass es einen »nicht erklärten Krieg« gegeben hatte. […] Aber darüber hinaus: Was für eine Art Krieg ist das, in dem die verschiedenen Operationen nicht dokumentiert sind? […] [W]as für eine Art Krieg ist das, in dem die Schlachten simuliert sind und bei dem in allen Kampfhandlungen die Verluste einzig auf Seiten der Feinde der legalen Kräfte lagen, die nicht einen einzigen Mann verloren haben? […] Die Entführung von wehrlosen Bürgern im Morgengrauen und durch anonyme Banden, kann man das wirklich als Kriegshandlung bezeichnen? Und auch wenn man einmal davon ausgeht, dass einige oder ein großer Teil der so Gefangengenommenen wirkliche Feinde waren, war es eine Kriegshandlung, sie zu foltern und sie zu töten, ohne dass sie Widerstand leisten konnten? […] Das waren schlicht kriminelle Handlungen, die nichts mit Krieg zu tun haben.278

276 Ebd., Teil 6 – Examen de las causas de justificación alegadas, Punkt 4), Abschnitt a), aus dem Span. von MLS. 277 Ebd., Teil 6 – Examen de las causas de justificación alegadas, Punkt 5). 278 Zit. in Lvovich /Bisquert, 2008, S. 35f., aus dem Span. von MLS. 313

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Laut Lvovich und Bisquert wurden Strasseras Argumente in Bezug auf das von der Verteidigung vorgetragene Konzept der »guerra sucia« als eine Art demokratische Vernunft von der Allgemeinheit übernommen.279 Für die Staatsanwaltschaft war die Staatsrepression auf gar keinen Fall ein Krieg, auch kein »schmutziger« Krieg. Wie aber wurden dann die Verbrechen eingestuft? Strassera sprach damals vom systematischen Verschleppungs- und Tötungsplan des Oberkommandos und von allgemeinen Verbrechen. Er griff argumentativ jedoch nicht auf den Tatbestand des Genozids zurück. Und in der Tat wurden die Kommandanten lediglich in 19 Fällen von Tötung und 468 Fällen von illegitimer Freiheitsberaubung verurteilt, d.h. für sehr konkrete Fälle, aber für einen minimalen Umfang der an den etwa 8.900 Personen, die damals von der CONADEP als Opfer der Staatsrepression registriert worden waren, begangenen Verbrechen. Die Presse informierte im Anschluss an das Urteil, dass das Verschwindenlassen von Personen keine Figur der argentinischen Jurisprudenz war.280 Gegen dieses heute als Verbrechen gegen die Menschlichkeit eingestufte Delikt, das nicht verjährt, konnte damals nicht ermittelt werden. Illegitime Freiheitsberaubung konnte geahndet werden, aber da sie kein Kapitalverbrechen ist, verjährt sie nach argentinischem Recht nach sechs Jahren. Die systematische Vorgehensweise der Streitkräfte wurde damals nicht als Genozid eingestuft, was durchaus möglich gewesen wäre, da Argentinien die Genozidkonvention von 1951 am 05.06.1956 ratifiziert hatte. Erst 16 Jahre später sollte der spanische Richter Baltasar Garzón in diesem Sinne argumentieren. Die Presse berichtete damals über kontroverse Stellungnahmen zum Urteil und trug eine große Bandbreite von Reaktionen zusammen, die von Enttäuschung und Unzufriedenheit aufseiten der MRO bis zur Ablehnung des Urteils als Akt der Willkür bei der Verteidigung der Kommandanten ging und auch das Erstaunen über die Milde und das Begrüßen dieser Neuerung in der Geschichte Lateinamerikas seitens der ausländischen Presse umfasste.281 Zeitgleich drangen mögliche Maßnahmen in die Öffentlichkeit, die die Reichweite der Urteile wesentlich einschränken sollten, nämlich die Vorüberlegungen zum Gesetz über die Gehorsamspflicht282 und zum Schlussstrichgesetz283. Das Versprechen einer baldigen Amnestie erklärt die relative Gelassenheit, mit der die Mitglieder der Juntas die Prozess-

279 280 281 282 283 314

Ebd., S. 35. Bruschtein, León, 1985, S. 17. La R azón, 1985a, S. 16. La R azón, 1985c, S. 13. La R azón, 1985b, S. 16.

Teil III – Staatsrepression und diskursiver Wandel

tage hinnahmen.284 Am 12.12.1985 demonstrierten 15.000 Menschen auf Einladung der Madres de Plaza de Mayo gegen das Urteil der Bundeskammer mit der fünften Auflage des Widerstandsmarsches und Hebe de Bonafini bekundete die Meinung der Madres: »Wir vertrauen keiner Justiz, die sich zum Komplizen des Unrechts macht.«285 Mit dem Gesetz 23.492, dem Schlussstrichgesetz, versuchte Alfonsíns Regierung just vor den Sommerferien der Justiz am 23.12.1986, den Folgeermittlungen nach den Verfahren gegen die Militärjuntas, die immer weitere Personen in allen Rängen betrafen, ein Ende zu setzen, und zwar mittels der Verjährung möglicher Straftaten. Das Gesetz wurde ohne Debatte286, aber mit Protesten innerhalb und außerhalb des Parlamentsgebäudes287 verabschiedet.288 Aus dem Parlamentsgebäude wurden sogar die dort anwesenden Madres de Plaza de Mayo verbannt. Bei der Berichterstattung zum Gesetz bezeichnete La Nación die Staatsrepression – nach der alten Sprachregelung während der Diktatur – als »Kampf gegen die Subversion« und zitierte die Worte der spanischen Tageszeitung El País: »schmutziger Krieg gegen Dissidenten«.289 In der Schlagzeile, die das Gesetz verkündete, lautete es bei Clarín auch nach diktatorischem Duktus »antisubversiver Krieg«.290 Héctor Ríos Ereñú, damals Oberhaupt der Armee, hatte ein paar Tage vorher – ungeachtet des ein Jahr zuvor vorgetragenen Schlussplädoyers Strasseras und des vom argentinischen Staat verurteilten systematischen Plans – von »Krieg gegen die Subversion« gesprochen und weitere Schritte zur Entlastung der Streitkräfte in Aussicht gestellt.291 Diese Wortwahl in der Presse zeugt vom ideellen Fortbestand des Konzeptes der »Subversion«, das trotz Junta-Verurteilung nicht gründlich genug in Frage gestellt zu sein scheint, während die Vokabel »Krieg« bezeichnenderweise vom Armeeoberhaupt verwendet wird und zeigt, dass die Streitkräfte nicht von ihrer Position abwichen. Der Vorsitzende der argentinischen Bischofskonferenz, Juan Acuña /Smulovitz, 1995, S. 160-164. Zit. in Clarín, 1985, S. 14. Clarín, 1986a, S. 4. La Nación, 1986c, o. S.; 1986d, o. S. Zeitgleich beschloss die demokratische Vertretung in Uruguay ebenfalls die Verabschiedung des Amnestiegesetzes, allerdings mit großen Protesten vor dem Parlamentsgebäude in Montevideo (siehe R epública Oriental del Uruguay, 1986, Absatz »7, 9, 11 y 13«.) 289 La Nación, 1986e, o. S. 290 Clarín, 1986b, S. 1. 291 La Nación, 1986b, S. 1. 284 285 286 287 288

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Erinnerung und Intersektionalität

Carlos Aramburu, rief zu »Versöhnung« auf292, aber die MRO bezeichneten das Schlussstrichgesetz als verdeckte Amnestie. Zahlreiche Bundeskammern (Córdoba, Bahía Blanca, Tucumán, Rosario, Mendoza, Comodoro Rivadavia und La Plata) arbeiteten jenen Sommer durch, damit unter anderem gegen 300 hohe Offiziere Anzeige erstattet wurde und die Verfahren bis zum 23.02.1987, der Frist des Schlussstriches, eingeleitet werden konnten.293 Damit setzte die Regierung ihr mittelfristiges Ziel der Entlastung der FF.AA. zwar durch, kurzfristig aber beschleunigte sie so eine für die Militärs schwer abzuschätzende Entwicklung. Die Weigerung der Offiziere, den im Zusammenhang mit den Menschenrechtsverbrechen stehenden Gerichtsvorladungen Folge zu leisten, sollte sich dann Ostern 1987 (17.-20. April) zu einer Rebellion in Campo de Mayo auswachsen. Die »Carapintadas« unter Aldo Rico, Veteranen der Staatsrepression und des Falklandkriegs, zeigten der zivilen Staatsmacht als selbsternannte Vertretung der Offiziere die Grenzen ihrer Gehorsamkeit auf.294 Mit der Bezeichnung »Carapintadas« wiesen die Aufständischen auf die Kriegsbemalung mit Teer hin, die sie bei den Aktionen auf ihre Gesichter auftrugen. Die Geste sollte als politisches Zeichen gedeutet werden: Die Ungehorsamen wollten damit die Existenz einer Zwei-Klassen-Gesellschaft innerhalb der Streitkräfte verdeutlichen, in der Soldaten an der Front kämpften, während Generäle an den Schreibtischen der Militärbürokratie (falsche) Entscheidungen fällten. Auch wenn Raúl Alfonsín öffentlich angab, nicht mit den Rebellen zu verhandeln, nannte der Präsident nach »Gesprächen« in Campo de Mayo die Aufrührer »Helden der Malwinen« und schlug einen Monat später das zweite der Straflosigkeitsgesetze vor: das Gesetz über die Gehorsamspflicht. Am 23.06.1987 wurde das Gesetz als verfassungskonform eingestuft und zahlreiche Mitglieder der Streitkräfte kamen auf freien Fuß.295 Das Gesetz befreite alle Ränge unterhalb des eines Oberleutnants von strafrechtlichen Ermittlungen im Zusammenhang mit der Staatsrepression. Man sprach dann von »Nicht-Prozessieren«, von der Aufhebung der Strafprozesse.296 Ausnahmen bildeten die Fälle von Kindesraub, Identitätsberaubung sowie Übertragung von Immobilien unter Zwang. Zehn Jahre später beschrieb Julio Strassera im Zuge des von Richter Baltasar Garzón veranlassten Prozesses gegen 98 Mitglieder der argentinischen Streitkräfte vor dem Madrider Gericht die Situation, die die Verabschiedung der Straflosigkeitsgesetze begleitet hatte: 292 293 294 295 296 316

Clarín, 1986c, S. 4. Acuña /Smulovitz, 1995, S. 167. Ebd., S. 168. Clarín internacional, 1987b, S. 1; 1987c, S. 3. Andrada, 1987, S. 3.

Teil III – Staatsrepression und diskursiver Wandel [Die Gesetze] wurden erlassen, weil sie aufgrund vieler Faktoren notwendig waren: aufgrund der schieren Angst angesichts des unerträglichen Drucks, aufgrund der Inhaftierungen, aufgrund der bewaffneten Aufstände, aufgrund der drohenden Zerschlagung der verfassungsmäßigen Ordnung und der daraus resultierenden Tötungswelle in der Bevölkerung; notwendig für genau die Militärs, denen für die Ereignisse, die im vorliegenden Fall Untersuchungsgegenstand sind, der Prozess gemacht wurde oder noch gemacht würde.297

Ab der Oster-Rebellion der »Carapintadas« und bis zur vorzeitigen Abgabe der Regierungsmacht verschärften sich im Land die Maßnahmen zur Destabilisierung von Raúl Alfonsíns Regierung. Im Untergrund agierende Streitkräfte wurden für Attentate (wie auf Richter Andrés D’Alessio am 19.03.1987298) oder Bomben (wie in den Büros der Radikalen am 24.06.1987299) verantwortlich gemacht. Nach der Rebellion wurden drei weitere, kleinere Auflehnungsversuche registriert: in Aeroparque (Stadtflughafen von Buenos Aires) und Monte Caseros im Januar 1988 und in Villa Martelli im Dezember 1988, letzterer durch Colonel Mohamed Alí Seineldín. Als besonders heikel wurde die Tatsache eingeschätzt, dass die mit der Unterdrückung des Aufstands beauftragten Kräfte, Militärs und Polizei, sich weigerten, die Befehle der zivilen Regierung gegen die Uniformierten umzusetzen.300 Die Lage war insgesamt sehr angespannt. Die Gewerkschaften, traditionsgemäß durch den oppositionellen Peronismus repräsentiert, prangerten in diesen Jahren das schwierige soziale Klima an und trugen mit mehreren Tausend Streiks und 13 Generalstreiks auch zu seiner Verschärfung bei. Die während der Diktatur enorm gewachsene Außenverschuldung stellte 297 298 299 300

Zit. in Garzón R eal, 1999, S. 188, aus dem Span. von MLS. Clarín internacional, 1987a, o. S. Clarín internacional, 1987d, o. S. Erst das Einrücken der loyalen Truppen von Generaloberleutnant José Caridi, Chef der Armee, beschwichtigte die Rebellen von Villa Martelli nach drei Tagen. Colonel Mohamed Sineildín stellte seine Forderungen: die Absetzung Caridis, eine merkliche Gehaltserhöhung, eine Politik der Anerkennung gegenüber den Streitkräften für ihren Einsatz im Antiterrorkampf der 70er Jahre, die Gültigkeit des Befehlsnotstandsgesetzes für das gesamte Militärpersonal mit Ausnahme der Junta-Mitglieder und eine Amnestie für die rebellierenden Militärs, die auch seine Truppen berücksichtigen solle. Nur seine Person als Kommandoinhaber dürfe disziplinär belangt werden. Alfonsín gab nach und erhöhte außerdem die Gehälter der Streitkräfte um 42 Prozent (Acuña /Smulovitz, 1995, S. 175). 317

Erinnerung und Intersektionalität

eine scheinbar unüberwindbare Herausforderung dar, die neben dem rauen sozialen Klima instabile Wechselkurse und industrielle Stagnation zur Folge hatte. Nach dem Scheitern der heterodoxen Vorgehensweise gegen die Inflation mit dem »Plan Austral« 1988 wuchs der Druck der Finanzmärkte auf die Regierung Alfonsín. Den Finanzmärkten wird angelastet, absichtlich eine unbändige Hyperinflation verursacht zu haben, und man spricht in diesem Zusammenhang vom »Putsch des Marktes« gegen Alfonsín. Der Präsident wurde durch den Druck der Finanzmärkte und eine Preisspirale, die durch das Realeinkommen nicht mehr einzuholen war, aus dem Amt gejagt und praktisch zur Übergabe der Regierung an den demokratisch gewählten Nachfolger Carlos Menem gezwungen. Inmitten dieser unwirtlichen Umstände verübte die ultralinke Gruppierung »Todos por la Patria« [Alle für das Vaterland] (gebildet von Überlebenden der Staatsrepression und radikalisierten Studenten unter Ex-ERP Enrique Gorriarán Merlo) am 23.01.1989 einen bewaffneten Überfall auf das Militärregiment von La Tablada, der von der Armee rasch und blutig beendet wurde. Die Streitkräfte sahen in dieser Aktion das Wiederaufflammen der Gewalt von links. Sie fühlten sich in ihrer vergangenen Politik der Vernichtung bestätigt und apologisierten öffentlich die Staatsrepression. Auch die Presse ließ den Topos der Terrorismusgefahr wiederaufleben, und so bediente sich Clarín Internacional der alten Sprachregelung im Leitartikel mit dem Titel »Die Rückkehr der Subversion«.301 Besonders brisant war, dass zwei der Toten von La Tablada bekannte Aktivisten der MRO waren.302 Laut Maristella Svampa geriet durch diese Aktion das soziale linksrevolutionäre Projekt der 70er Jahre endgültig ins Zwielicht und eine Form des politischen und gesellschaftlichen Engagements endete damit.303 2) Analyse der Presseberichterstattung zu den Gnadenerlassen vom 07.10.1989 und 31.12.1990 Carlos Menems Strategie gegenüber den unruhestiftenden Streitkräften wurde bald nach seinem Regierungsantritt am 09.07.1989 deutlich. Auch wenn Menem die Diktaturgefängnisse aus eigener Erfahrung kannte und viele nicht zuletzt aus diesem Grund auf ihn gesetzt hatten (zumal er während des Wahlkampfs angab, eine Amnestie abzulehnen304), hatte sich Menem im Vorfeld seiner Wahl bereits die Unterstützung der Militärs gesichert. Carlos Acuña und Katarina Smulovitz führten die Daten von Menems Strategie gegenüber den Streitkräften 301 302 303 304 318

Clarín Internacional, 1989, S. 1. Lvovich /Bisquert, 2008, S. 49. Svampa, 2005, S. 28. Vgl. z.B. Clarín Internacional, 1988, S. 4.

Teil III – Staatsrepression und diskursiver Wandel

zusammen und deuteten sie als eine Form von Tauschgeschäft im Sinne der Machtsicherung: Menem bot den Streitkräften Straferlass und forderte sie zum Gehorsam auf.305 Die erste Gruppe von amnestierten Personen war heterogen und so konnte die erste Begnadigungswelle am 07.10.1989 zunächst nicht eindeutig als Politik des Verdrängens und Vergessens identifiziert werden. Nicht konform mit der Wirkungsbreite der Maßnahme stieß Colonel Mohamed Sineildín am 03.12.1990 den vierten und letzten Aufstand der »Carapintadas« aus dem Gefängnis heraus an, wo er nach dem Aufstand von Villa Martelli eine Strafe verbüßte, zu der ihn ein Militärgericht verurteilt hatte. In seinem nationalistisch geprägten Diskurs nahm Sineildín die Forderungen der »Carapintadas« unter Alfonsín auf und gab an, im Namen der gesamten FF.AA. zu sprechen, während er die Streitkräfte zwischen Befehlsempfängern und Generalstab horizontal aufteilte. Er deutete die rechtliche Verfolgung aller Ränge unterhalb der Befehlshaber als einen Angriff auf die Kleinen, während die Verantwortlichen von den Erlassen profitierten und laufen gelassen wurden. Ihm hatten sich viele der von der ersten Begnadigungswelle Begünstigten angeschlossen: 174 der 277 Personen, die vom ersten Erlass Menems profitierten, rebellierten mit Sineildín mit.306 Die Auflehnung gegen Menems Führungsgewalt wurde diesmal innerhalb der Streitkräfte zügig und blutig bekämpft; 13 Menschen starben, 350 wurden verletzt. Ein Militärgericht verurteilte Sineildín rasch zu einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe. Die Einsicht, dass das Überleben der Institution selbst auf dem Spiel stand – und nicht die Hinwendung zur demokratischen Werteordnung unter Carlos Menem –, wird als Grund für die Transformation innerhalb der FF.AA. eingeschätzt.307 Die stramme Beendigung der Krise und die speditive Bearbeitung der Fälle durch die Militärjustiz wurden wenige Tage später mit der zweiten Welle von Begnadigungen durch den Präsidenten belohnt. »Nationale Befriedung« war die Wortwahl, die Carlos Menem am vorletzten Dezembertag des Jahres 1990 traf, um das Ziel seiner zweiten Gruppe von Straferlassen bekannt zu geben.308 Sieben Jahre nachdem die Militärregierung unter diesem Namen ein Gesetz zur Autoamnestie verabschiedet hatte, die seine Partei damals abgelehnt hatte, erfüllte der demokratisch gewählte Präsident den Wunsch der FF.AA. nach Amnestie, allerdings am Parlament vorbei. Als Hauptgründe für diesen Schritt wurden auf Seite 6 und 7 der Clarín-Ausgabe vom 31.12.1990 u.a. Menems Worte »nationale Versöhnung aller Argentinier« und 305 306 307 308

Acuña /Smulovitz, 1995, S. 180-194. Ebd., S. 186. Ebd., S. 192. Clarín, 1990g, S. 6f. 319

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»Konsolidierung der Demokratie« zitiert.309 Dieselbe Tageszeitung veröffentlichte am gleichen Tag auf ihrer Titelseite und auf den ersten zwei Innenseiten mit noch größerer Wirkung als die Aussagen des Präsidenten einen Brief von Jorge R. Videla mit der Forderung nach einem Ausgleich für den an der Institution der Armee begangenen Schaden und nach Versöhnung. Man beachte, dass sowohl Menem als auch Videla das Wort »Versöhnung« verwendeten, eine für diese Zeit extrem relevante Vokabel. Ein Jahr nach der deutschen Wiedervereinigung aktivierte die Vorstellung von Versöhnung über die argentinischen Ereignisse und über den entsprechenden Diskurs des argentinischen Klerus hinaus ein positiv belegtes semantisches Feld, das beide Akteure zu nutzen versuchten. Wiedervereinigung stand damals für das Ende des Kalten Krieges und die Hoffnung auf Frieden, zwei auch für Argentinien relevante Aspekte. Ein weiteres diskursives Element sticht in der Berichterstattung von Clarín heraus, nämlich der Rückgriff auf die – im Schlussbericht von 1983 textlich und bildlich begründete – Zwei-Dämonen-Theorie. Die Berichterstattung in Clarín wurde am Tag nach dem Erlass, am 31.12.1990, durch einen lächelnd grüßenden Videla und eine Gruppe ihm applaudierender Menschen auf der Titelseite bebildert und auf den Innenseiten durch eine kleine Sonderillustration mit den schwarz-weiß kontrastierten Konterfeis von Jorge R. Videla und Mario Firmenich und der Überschrift »Nach dem Straferlass« ausgestaltet.310 Die Zeitung hatte bereits in der Ausgabe des Vortags auf der Titelseite die Freilassung aller vom Erlass begünstigten Inhaftierten mit einer Fotografie eines offen lächelnden Mario Firmenich auf dem Rücksitz eines Autos illustriert.311 Der Exchef der Montoneros, der der einzige nicht Militärangehörige war, der vom Straferlass profitiert hatte, war wenige Tage vorher vom Staatsanwalt Luis Moreno Ocampo bezichtigt worden, sich mit großen Geldsummen bei Carlos Menems Wahl engagiert zu haben.312 Clarín brachte durch die Aufmachung der Titelseiten sowie durch die Sonderillustration der Ausgaben vom 30. und 31.12. rein optisch die Zwei-Dämonen-Theorie zum Ausdruck, die Präsident Menem als Grundlage für die Erlasse und als Anlass für Befriedung und Versöhnung bemühte. Auch im Leitartikel vom 30.12.1990 warb Clarín für die Koordinaten der nationalen Versöhnung und die Entscheidung Menems. Die argentinische Zeitung erklärte der Öffentlichkeit einmal mehr, wie es sich mit der Staatsrepression und der Begnadigung der Kontrahenten zugetragen hatte: 309 Ebd. 310 Clarín, 1990c, S. 1; 1990d, S. 2f. 311 Clarín, 1990b, S. 1. 312 Clarín, 1990a, S. 4. 320

Teil III – Staatsrepression und diskursiver Wandel Der Kampf gegen die Subversion war unvermeidlich. Keine Gesellschaft nimmt bereitwillig die Zerstörung ihrer Institutionen hin. Die Zivilgewalt stand den Streitkräften bei und diese handelten in Übereinstimmung mit ihren Kampfregeln in einer außergewöhnlichen Situation. Dann übernahmen sie die Macht. Es kam zu Grenzüberschreitungen und ausufernden Handlungen. Die subversiven Handlungen führten zur Repression, und der eiserne Ring wurde stärker, dessen finale Logik nichts anderes war als das Töten unter Brüdern. […] Es ist müßig, darüber nachzudenken, dass der Nutzen der Maßnahme auf einige hätte beschränkt werden können, auf andere nicht.313

In diesem Abschnitt wird exemplarisch sichtbar, wie die Vorstellung von Versöhnung und Befriedung mit der Deutung der Staatsrepression als Krieg, insbesondere als Bürgerkrieg, zusammenhängt. Auch hier wird von einem Vorhandensein von Kontrahenten auf gleicher Augenhöhe (»unter Brüdern«) ausgegangen, das nicht mit der Realität und den nach den Gerichtsverhandlungen bereits in allen Details bekannten Umständen der repressiven Handlungen der Streitkräfte übereinstimmt. 1990 entfaltete das Deutungsparadigma des Krieges in den Erlassen und im Leitartikel der auflagenstärksten Zeitung des Landes noch immer seine Wirksamkeit. Das Wort Genozid kommt in keiner der Zeitungen vor, auch nicht in den Interviews mit politischen oder sozialen Akteuren. Die Argumente der MRO werden verschwiegen. Eindeutige Worte der Ablehnung zu den Begnadigungen in ausländischen Zeitungen und von Persönlichkeiten u.a. aus Spanien, Mexiko, Frankreich werden am 31.12. von Clarín auf Seite 6 zitiert.314 Umfragen der Zeit zeigen, dass 70-75 % der argentinischen Bevölkerung damals die Erlasse ablehnten.315 Diese Ablehnung manifestierte sich deutlich in einer Massendemo am Sonntag, dem 30.12.1990, die nach Angaben der Bundespolizei 20.000, nach Clarín 40.000 und nach der Nachrichtenagentur dpa 90.000 Demonstranten316, vornehmlich schwarz gekleidet oder Trauerflor tragend317, auf die Plaza de Mayo getrieben hatte, um dem Präsidenten ihre Empörung zu zeigen318. Die Berichterstattung von La Nación war sichtlich bemüht, professio313 Zit. in Lvovich /Bisquert, 2008, S. 55, Hervorh. von V. A., aus dem Span. von MLS. 314 Clarín, 1990h, S. 6. 315 Cerruti /Ciancaglini, 1992, S. 238; Lvovich /Bisquert, 2008, S. 54. 316 Clarín, 1990f. S. 4f. 317 Urien Berri, 1990, S. 4. 318 Jaquelin, 1990, S. 4. 321

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nelle Ausgewogenheit walten zu lassen. Der Hintergrundartikel, der die sachliche Titelschlagzeile »Präsident Menem begnadigte die ehemaligen Befehlshaber des ›Prozesses‹«319 auf Seite 18 fortsetzt, gibt ebenso sachlich Auskunft über die Kernpunkte der Maßnahme und betont das fehlende Verstreichen der Schuld und das Vorhandensein von Anträgen auf Begnadigung der Verurteilten.320 Der professionellen Haltung wird in der nüchternen Zeile »Die Präsidentengnade«, die die ausführliche Berichterstattung begleitet, Rechnung getragen, aber auch in der graphischen Darstellung am folgenden Tag, als La Nación ihre Montagsausgabe mit »Die Unmutsbekundungen gegen den Straferlass wachsen« betitelt und mit zwei etwa gleich großen Bildern ergänzt, die die Massenkundgebung auf der Plaza de Mayo neben Videlas Abbild zuhause zeigen.321 Auf Seite 3 erscheinen die Dekrete und ihre offizielle Legitimierung im Originalwortlaut.322 Ausführlich und sachlich sind insgesamt die Auskünfte zu Menems Erlassen in dieser Zeitung, die in Diktaturzeiten nicht selten zur Verbreitung der Meinung der Repressionsbefürworter diente und sich jetzt bestrebt zeigt, aus einer merklich sachlich-rechtlichen Perspektive heraus zu informieren. Página/12 hatte im Vorfeld der Erlasse einen offenen Brief des Menschenrechtlers und Friedensnobelpreisträgers Adolfo Pérez Esquivel veröffentlicht, der die Worte »Versöhnung« und »Befriedung« aufnahm, um einen seinem Ermessen nach existierenden Geheimpakt zwischen dem Präsidenten und den Streitkräften zu denunzieren und das Recht auf Wahrheit und Gerechtigkeit der Argentinier, aber auch auf Arbeit, Bildung, Gesundheit und einen gerechten Lohn einzuklagen323, in einer Geste, die die genannten Rechte in einen engen Zusammenhang stellt und eine Erweiterung des Menschenrechtsverständnisses antizipiert. Am Tag der Verabschiedung des Erlasses selbst, am 30.12.1990, stellte Página/12 die Auskünfte des Wirtschaftsministers in den Vordergrund und machte mit einer markigen Schlagzeile im oberen Fünftel der Coverseite, die bezeichnend für den Tenor der gesamten Berichterstattung ist, auf die Straferlasse aufmerksam: »Es werde Ungerechtigkeit!«324 Die Zeitung, von den Journalisten Jorge Lanata und Horacio Verbitsky sowie dem Schriftsteller Osvaldo Soriano gegründet und mit hommes de lettres wie Juan Gelman, Osvaldo Bayer und Eduardo Galeano unter ihren Kolumnisten, wurde zum Organ der deut319 320 321 322 323 324 322

La Nación, 1990a, S. 1. Carrasco Quintana, 1990, S. 18. La Nación, 1990c, S. 1. La Nación, 1990d, S. 3. Página /12, 1990b, S. 7. Página /12, 1990c, S. 1.

Teil III – Staatsrepression und diskursiver Wandel

lichen Opposition zu Carlos Menems Politik des Vergessens und bewies Ausdauer und Engagement im Aufbau eines Gegendiskurses der Erinnerung. Die Begnadigung einer Person erhielt in allen hier zitierten Medien am 30.12.1990 besondere Berücksichtigung: die des Exwirtschaftsministers José Alfredo Martínez de Hoz.325 Ihm war 1985 »wirtschaftliche Subversion« für die Aushöhlung des Vermögens des YPF zur Last gelegt worden, des argentinischen Erdölunternehmens in Staatsbesitz, das von General Suárez Mason während der Diktatur geleitet wurde.326 Auch aufgrund der fehlenden Konsistenz in den Kosten der Verstaatlichung des Energieerzeugers Compañía Italo Argentina de Electricidad und des anschließenden Verschwindens eines damit befassten kritischen Beamten wurde gegen Martínez de Hoz ermittelt.327 Die Begnadigung durch Carlos Menem hatte 1990 aber den Exwirtschaftsminister von einer Gefängnisstrafe befreit, die er seit 1988 für seine Mittäterschaft bei der Verschleppung des Textilunternehmers Federico Gutheim und seines Sohns Miguel Ernesto absaß. Martínez de Hoz’ Name wurde zur Zielscheibe der großen Frustration infolge der damals akuten Wirtschaftskrise und stand für die enorme Zunahme der Außenverschuldung Argentiniens unter seinem Management als Wirtschaftsminister, nämlich von 13 auf 46 Milliarden Dollar. 3) Von »Menems Fiesta« zum »Sie sollen alle abhauen!«: Neoliberalismus, Straflosigkeit und das prekäre Leben der Frauen Die Krise und der weitverbreitete Wunsch nach Stabilität waren die wichtigen Themen im Hintergrund der Erlasse Menems. Dem Stabilitätswunsch kam Menem nach, indem er auf eine wirtschaftspolitische Allianz setzte, die – ähnlich wie Martínez de Hoz seinerzeit – sich auf große wirtschaftliche Gruppen stützte. In Argentinien, wie in den meisten lateinamerikanischen Ländern, wurden nach 1990 die Maßnahmen des sogenannten »Konsenses von Washington« umgesetzt: »Es handelte sich um ein einzigartiges Rezept, das vom Zentrum für die ganze Welt kreiert und von Lateinamerika mit Begeisterung und fast einhelliger Zustimmung begrüßt wurde.«328 Die Regierung Menem, und insbesondere Wirtschaftsminister Domingo Cavallo, befolgte den empfohlenen Maßnahmenkatalog: Kürzung der Staatsausgaben, Abwertung der Währung, Liberalisierung der Handelspolitik, Deregulierung der Märkte, Abschaffung von Subventionen (auch für Grundbedarfsartikel), Kürzung der öffentlichen Haushalte, Privatisie325 Vgl. Página /12, 1990a, S. 6; Clarín, 1990c, S. 2; La Nación, 1990b, S. 18. 326 La R azón, 1985c, S. 1. 327 La Gaceta, 2008, o. S. 328 Sanchís, 2011, S. 38. 323

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rung öffentlicher Unternehmen und Einrichtungen und Entbürokratisierung des Staats. Insbesondere zwei Bündel von Maßnahmen bestimmten die Wirtschaftspolitik der Zeit: der Konvertibilitätsplan und die Reform des Staates. Der Konvertibilitätsplan umfasste u.a. einen von der Zentralbank garantierten stabilen Wechselkurs von 1:1 zwischen Dollar und Peso, die Reduzierung der Zölle und die Liberalisierung der Außenwirtschaftsbeziehungen mit einer kompletten Öffnung des argentinischen Markts für Importerzeugnisse. Die Staatsreform zielte darauf, die Staatsausgaben (und darunter die für militärische Zwecke) zu reduzieren, und so setzte eine Welle radikaler Privatisierungen öffentlicher Unternehmen und Leistungen ein. Der Privatisierung der Staatsunternehmen für Telekommunikation (ENTEL) und Luftfahrt (Aerolíneas Argentinas) folgten u.a. die von Leistungen wie Energie und Abwasser, des U-Bahn-Netzes von Buenos Aires und des Bundesbahnnetzes Argentiniens, von 200 Gebäuden und auch der Sozialversicherungskasse. Auch die Aufgaben öffentlicher Verwaltungen wurden umgeschichtet, so dass z.B. Gesundheit und Bildung aus dem Bundeshaushalt in die provinziale und kommunale Ebene übertragen wurden. Diese Wirtschaftspolitik sollte die Zunahme der Produktivität bewirken und die Maßnahmen waren in den ersten Jahren von Erfolg gekrönt: Die Inflation gab nach, die Armutsraten sanken. Mit seiner Wirtschaftspolitik hatte Präsident Carlos Menem das Selbstverständnis des Peronismus verändert und den Primat einer auf der Adhäsion der Gewerkschaften basierenden Macht verlassen. In einem spannungsgeladenen Gleichgewicht bemühte sich die peronistische Partei, die sich schon mit ihrem Namen auf soziale Gerechtigkeit (Justizialismus) berief, während der Regierung Menem sowohl um die Interessen der wirtschaftsstarken Sektoren als auch um die der von den neoliberalen Maßnahmen am stärksten Benachteiligten, so dass Menems Popularität lang keinen Schaden davontrug und dem Präsidenten eine zweite Regierungszeit gegeben wurde. Als die neoliberalen Maßnahmen aber zunehmend weitere Bevölkerungsgruppen trafen und ab 1998 ein Prozess tiefer Rezession begann, hofften die Argentinier auf Lösungen aus dem Oppositionslager, angeführt von Fernando de la Rúa, der jedoch die Wirtschaftspolitik seines Vorgängers bis zum Staatsbankrott von 2001 fortsetzte. 2002/2003 erlebten Argentinierinnen und Argentinier die tiefste Krise der Geschichte. Maristella Svampa analysiert, dass während Menems Regierungszeit Argentinien das Prädikat verliert, eine Ausnahme im lateinamerikanischen Kontext zu sein. Das bis dorthin geltende Ausnahmemodell der sozialen Inklusion – das zwar während der Diktatur ziemlich strapaziert worden war – wurde unter Carlos Menem ein für alle Mal hinfällig und damit das Fundament, auf dem ein (zwar mit Einschränkungen) funktionierender Wohlfahrtsstaat gründete, der die Rechte der unteren Schichten sowie die Rolle der Mittelschichten als 324

Teil III – Staatsrepression und diskursiver Wandel

Agent und Garant für große wirtschaftliche Beweglichkeit anerkannte.329 Für die Mehrheit der Bevölkerung Argentiniens verschlechterten sich in den 90er Jahren die Arbeitsbedingungen; Arbeitsstätten und Geschäfte schlossen ihre Türen und es entstanden kaum neue Stellen. Die wirtschaftsaktive Bevölkerung wuchs um 20 %, die Arbeitslosigkeit um 156,3 % und die Unterbeschäftigung um 115,4 %.330 Die konsequente Verarmung betraf nicht nur die sogenannten »strukturellen Armen« (Menschen, die den Armutskreis, in den sie hineingeboren werden, nur mit großer Mühe durchbrechen können) oder die unteren Schichten industrieller Arbeiter, die von der De-Industrialisierung und der Rückbesinnung Argentiniens auf den priorisierten Anbau und Export von Agrarrohstoffen, die sog. »reprimarización«, extrem getroffen wurden. Ab der zweiten Hälfte des Jahrzehnts wurde eine neue Form von Armut sichtbar, die auch die mittleren Schichten in einer Form erreichte, die als »zwischenräumlich« bezeichnet wird: Bildungsstand und Familienstruktur waren dann keine Garantie mehr für geregelte Einnahmen bzw. auch kein Hinweis auf das Vorhandensein von Gesundheits- und Sozialversicherungen. Die verarmte Mittelschicht machte Kapriolen, um nach außen hin den Schein gewohnten Wohlstandes zu wahren. Bei den im Großraum Buenos Aires lebenden 8 Mio. Menschen stieg die Armut am Ende des Jahrzehnts auf 67 %.331 Die Bewegung der »piqueteros« wurde ab 1997 deutlich sichtbar: Die Marginalisierten des neoliberalen Modells, nicht selten ganze Wohnviertel, unterbrachen den Verkehrsfluss auf Straßen und Bahnlinien mittels Straßensperren (»piquetes«), um Medien und politische Verantwortliche auf ihre Situation aufmerksam zu machen. Nach langen Sitzblockaden und Kämpfen, die Verwundete und u.a. in den Massakern von Corrientes und Avellaneda sogar Todesopfer gefordert haben, wurden Maßnahmen und Pläne zur Linderung extremer Not eingerichtet. Während der Krise von 2002 erreichte die Armut dennoch 54,3 % der argentinischen Haushalte.332 Die Krise am Ende der Regierung Alfonsín und ihre Wahrnehmung als Ausnahmesituation Anfang der 90er Jahre räumte der Wirtschaftslage das größtmögliche Gewicht ein und unterwarf die Politik dem Diktat der Ökonomie.333 Eine Phase enormer Personalisierung mit großer Medienpräsenz und hoher Machtkonzentration beim Regierungsoberhaupt begann und manifestierte sich in der Praxis des »decretismo« (Dekretismus, also das Regieren über den Er329 330 331 332 333

Svampa, 2005, S. 47. Ebd., S. 34. Ebd., S. 141f. Ebd., S. 294. Ebd., S. 56. 325

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lass von Dekreten). Nicht das Parlament beriet Gesetze, sondern der Präsident selbst machte Politik oft zur Chefsache und erließ Dekrete, wie Menem bei den Gnadenerlassen, die nur 10 von insgesamt 545 Erlassen seiner gesamten Regierungszeit sind. Diese Vorliebe für präsidentielle Entscheidungen am Parlament vorbei sollten auch seine Nachfolger Fernando de la Rúa (73 Erlasse in den zwei Regierungsjahren 1999-2001) und Néstor Kirchner (140 Erlasse in den ersten zwei Regierungsjahren) weiter pflegen. Die Philosophin Susana Murillo postuliert, dass die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungen der 90er Jahre zu einer Form von Demokratie beitrugen, die im fehlenden Interesse an politischen Beziehungen begründet war. Die Lücke an politischer Partizipation, die eine allgemeine Zustimmung durch Gleichgültigkeit (»consenso por apatía«) und eine Rückbesinnung auf die Individualität (»ensimismamiento en la individualidad«) öffnete, wurde durch die sogenannte Entscheidungswucht (»neodecisionismo«) Menems geschlossen. Das Fundament für diese Entwicklungen sieht Murillo im Staatsterror der 70er Jahre angesiedelt, als der Staat nicht das Leben, sondern den Tod verwaltete.334 Seitdem würden Argentinier_innen Politik mit dem Tod in Verbindung bringen, so dass die mangelnde politische Partizipation der 90er Jahre mit dem Wunsch der Mehrheit erklärt werden kann, den Tod aus dem Alltag zu verbannen. Nach Murillos Auffassung kehrte der Tod trotz des Wunsches nach Verdrängung in drei Dimensionen zurück: in der strukturellen Gewalt der Massenarbeitslosigkeit (mit der fehlenden sozialen Absicherung und dem schlichten Hunger versetzte sie Menschen in existentielle Not), in der punktuell auftretenden repressiven Gewalt des Staates (der die sozialen Proteste unterdrückte und dabei Leben aufs Spiel setzte) und in der Gewalt in den zwischenmenschlichen Beziehungen.335 Die Entwertung der Politik und der Politiker sollte mit der Krise am 19. und 20. Dezember 2001 einen Höhepunkt erreichen, als die Gruppe der Politiker als eine vom Rest der zivilen Gesellschaft abgehobene Kaste wahrgenommen336 und der Ruf »Que se vayan todos« [Sie sollen alle abhauen!] allgemeiner Konsens wurde. Nach 2001 stellt Murillo eine Wende fest: Mit dem Widerstand auf den Straßen wuchsen die Interventionen eines repressiven Staates, aber auch die mediale Berichterstattung über die Gewalt, die den Tod wie etwas Natürliches in den Alltag installierte und »die durch wirtschaftliche Transformationen verursachten Wunden und die Taubheit der politischen Machtkreise gegenüber dem Schmerz der Be-

334 Murillo, 2008, S. 99. 335 Ebd., S. 331. 336 Ebd., S. 90. 326

Teil III – Staatsrepression und diskursiver Wandel

völkerung« vertiefte.337 Die Kirchner-Regierungen werden großen Wert darauf legen, die sozialen Proteste nicht gewaltsam zu unterdrücken, was anscheinend nicht immer gelingt und (nicht nur) diskursiv maskiert wird.338 Die neoliberale Politik mit einer starken Präsidentenfigur gestaltete unter Menems Regierung ein kulturelles Klima, das nach dem Philosophen Ricardo Forster durch seine Alternativlosigkeit und Naturalisierung geprägt war: Naturalisierung des Marktes als erstes und letztes Vorbild aller sozialen Beziehungen; Naturalisierung einer Wertestruktur, die den Bürger-Konsumenten ins Rampenlicht stellte, also genau den, der das soziale und demokratische Leben wie einen Einkaufsbummel in einer Shoppingmall auffasste, der, selbstverständlich, mit einer Zufriedenheitsgarantie versehen sein musste; Naturalisierung einer extremen Form des Individualismus, der aus der sozialen Fragmentierung und der Vertiefung des Grabens zwischen Reich und Arm hervorging; Naturalisierung auch der Armut, die dem Regen, einem Naturphänomen gleichgesetzt wurde und die nur aus philanthropischer Perspektive behandelt werden konnte; Naturalisierung des Journalismus und der Medienunternehmen als Rückversicherung der Demokratie, weil die Belange, für die ebendiese Unternehmen sich einsetzen, mundtot gemacht wurden; Naturalisierung des Rückzugs der Politik und der Politiker angesichts der Ansprüche der neuen TV-Ästhetik. Alle diese Naturalisierungen dienten zur Verschleierung eines Dominanzsystems, das im Verlauf mehrerer Jahrzehnte zu einer Konzentration des Reichtums in immer weniger Händen führte, in skandalösem Ausmaß, und zu einer Aushöhlung der Beziehung zwischen Demokratie, Politik und dem Kampf für Gleichheit.339

Ein auf privater Sicherheit basierender Lebensstil veränderte nachhaltig das Verhalten der oberen und mittleren Schichten und sorgte für ihre Autosegregation aus den Städten in private Wohnsiedlungen.340 In Buenos Aires wurden Häuser, die oft als Wochenendzuflucht der Besserverdienenden aus der Stadt geplant waren, zu ständigen Wohndomizilen und so entstand im Nordosten der Hauptstadt eine neue Infrastruktur von privaten Wohnsiedlungen, Einkaufszentren, Schulen und Universitäten, die auch eine verstärkte territoriale Begren-

337 338 339 340

Ebd., S. 164. Kordon/Edelman, 2013, o. S. Forster, 2009, o. S., aus dem Span. von MLS. Svampa, 2005, S. 139. 327

Erinnerung und Intersektionalität

zung der Lebenswelten mit sich brachte.341 Die zunehmende Verarmung wurde mit der Gefahr für die persönliche Sicherheit und mit dem Slumjungen (»villero«) oder dem kriminellen Straßenkind (»pibe chorro«) identifiziert, die im Griff der Drogen waren und sich der sozialen Kontrolle entzogen. Die Reichen, die Mittelschichten gewöhnlich als Referenzgruppe dienen, hatten inzwischen jedoch oft auch »Plebejer«-Hintergrund: Erfolgreiche Unternehmer, Vertreter der politischen Klasse, des Fernsehens und des Sports, die neue Gewinner der sozialen Entwicklung waren, stammten nicht mehr ausschließlich aus den traditionellen Kreisen Argentiniens. Gerade die politische Klasse, ideologisch in einer Volkspartei mit sozialem Engagement wie dem Justicialismo zuhause, hatte eine 180°-Wendung vorgenommen: Eine von der Belanglosigkeit frivoler Sendungen inspirierte Attitüde, die durch prunkhaften Konsum und exzessive Ausgaben gekennzeichnet war, hatte an Akzeptanz gewonnen und ist für diese Zeit bezeichnend. Sie wird heute mit dem Geschmacksdiktat der Promis (»farandulización de los gustos«)342 und durch das Sinnbild »Pizza mit Champagner« (»pizza con champán) als »Menems Fiesta« (»fiesta menemista«) apostrophiert. Ihren emblematischen medialen Vertreter haben die 90er Jahre im heute noch extrem erfolgreichen Fernsehmoderator Marcelo Tinelli gefunden, der aus seiner diskriminierenden Haltung Minderheiten und Frauen gegenüber keinen Hehl macht. Frauenkörper standen bei »Menems Fiesta« im Mittelpunkt sozialer Aufsicht. Ein wichtiges Merkmal davon war, dass Frauenkörper, in geringen Maßen aber auch prominente Männerkörper (wie beim Präsidenten selbst, der dem Jugendkult durch zahlreiche Haarimplantationen und Gesichtsliftings seinen Tribut zollte), zur Perfektion hin modifiziert und diszipliniert werden sollten. Der Boom ästhetischer chirurgischer Eingriffe führte zu der paradoxen Situation, dass die Zahl der Schönheitskliniken wuchs, während die gesundheitliche Grundversorgung stark abbaute.343 Eine Form diffuser Segregation – die sich u.a. auf die Berufschancen auswirkte344 – wird anhand dieses hoch im Kurs stehenden Kriteriums des Aussehens (die Kategorie Körper der Intersektionalitätstheorie) sichtbar, bei dem eine Form des typischen doing gender der Mittel- und Hochschichten, ein weiß-europäisches Schönheitsideal – und seine Kehrseite, die rassistische Diskriminierung von Personen indigener, afrikanischer und asiatischer Abstammung – sowie die finanzielle Situation zusammentreffen:

341 342 343 344 328

Ebd., S. 121. Ebd., S. 120. Sutton, 2010, S. 71. Ebd., S. 73.

Teil III – Staatsrepression und diskursiver Wandel Feminine beauty has always been about class as much as about gender, but growing economic problems made this intersection more evident. Without mounting economic difficulties, one way for middle-class women to differentiate themselves from the working class was through bodily appearance. Because of overwork and/or lack of money, fewer women could afford to maintain previous bodily looks or to access expensive treatments.345

Barbara Suttons Studie über die Spuren der Krise in den Frauenkörpern betrifft vor allem die Jahre 2002/2003, doch der Prozess massiver Verarmung hatte, wie oben erwähnt, schon in den 90er Jahren begonnen. Am Ende des Jahrzehnts, im Juli 1999, hatte eine Studie der Weltbank festgestellt, dass 36,1 % der argentinischen Bevölkerung bereits unterhalb der Armutsgrenze lebte und nicht in der Lage war, Grundbedürfnisse zu decken.346 Mit der Verschärfung der Krise konnte der hohe Wert weiblichen Aussehens nicht mehr so leicht gegen finanzielle Stabilität, die Männer erbringen sollten, getauscht werden.347 Ein neues Krankheitsbild, die männliche Depression, wurde bei vielen festgestellt. Neu, weil Gemütsstörungen bisher kulturell gesehen eher ein Thema der Frauen waren und psychische Gesundheitspflege bei Männern im Allgemeinen abgewehrt wurde. Doch das Selbstwertgefühl argentinischer Väter und Ehemänner kriselte durch den Verlust der Arbeitsplätze ernsthaft und massiv.348 Die Arbeit von Frauen indessen bildete die Kehrseite dieser Entwicklung. Neuentstandene Formen der Unterbeschäftigung begünstigten den Eintritt von Frauen in die Arbeitswelt und die Sicherung des familiären Überlebens machte ihn auch nötig. Die Arbeitsstunden der Frauen nahmen zu, da sie einen doppelten Arbeitstag bestritten, indem sie weiterhin den größten Anteil an nicht bezahlter Reproduktions- und Pflegearbeit erbrachten, aber jetzt zusätzlich zur (häufigen) Mehrfachbeschäftigung.349 Auch die Anzahl alleinerziehender Frauen und von Frauen ohne soziale Absicherung wuchs.350 Die Gewalt innerhalb der Paarbeziehungen stieg und (nicht nur) Barbara Sutton postuliert, dass eine enge Beziehung zwischen der rechtlichen Willkür der Gnadenerlasse Menems und der Gewalt gegen Frauen in der neoliberalen Gesellschaft weiter bestand: »The authoritarian culture and moral thinking of society members who condoned, trivialized or denied such violence 345 346 347 348 349 350

Ebd., S. 79. Montenegro, 1999, o. S. Hasanbegovic, 2001, S. 43. Murillo, 2008, S. 183f. Berger, 2010, S. 125; Espino u.a., 2011, S. 8. Espino u.a., 2011, S. 8. 329

Erinnerung und Intersektionalität

still exist in different institutions and individual practices.«351 Die Tötung von María Soledad Morales (08.09.1990) sowie von Leyla Bashier Nazar und Patricia Villalba (06.02.2003), aber auch der Fall der verschleppten-verschwundenen Marita Verón (03.04.2002), die illegale Freiheitsberaubung als verbreitete Praxis des großflächig agierenden Netzes des Frauenhandels aufdeckten, belegen u.a. mit punktueller, aber bitterer Anschaulichkeit diese Verbindung. Mit »Menems Fiesta« als Hintergrundklima kämpften die MRO weiterhin gegen die Straflosigkeit. Ein ziemlich befremdliches Klima für Angehörige der Repressionsopfer und Überlebende, wie u.a. der in den 90er Jahren angesiedelte Roman Memorias del río inmóvil (2001) von Cristina Feijóo deutlich zeigt: Das Fest der Gewinner hatte Dissidenten der Straflosigkeit und Überlebende der Staatsrepression in eine Form des inneren Exils verbannt, die ihnen nach außen hin jedoch eine Maske der Normalität aufzwang. In diesem Umfeld geltender Rechtswillkür und in Anbetracht der Ohnmacht der demokratischen Institutionen, Gerechtigkeit herzustellen, sowie vor dem Hintergrund einer sich verschärfenden Wirtschaftskrise, die neue tiefe Ungerechtigkeiten geschaffen hatte, wird die Erinnerung an die Detenidxs-Desaparecidxs re-signifiziert. Inmitten der ent-solidarisierten Gesellschaft der 90er Jahre und angesichts der fehlenden Auflösung des politischen Massenmords wird das soziale Engagement der Jugend der 70er Jahre – allen voran durch die Madres und die H.I.J.O.S. – aufgewertet und die Detenidxs-Desaparecidxs werden zum leuchtenden Beispiel der quasi verlorenen Tugenden der Gemeinschaft, gar zu Märtyrern einer blutig verhinderten und als Alternative zur düsteren Realität ersehnten sozialen Revolution. »Resistir« [nicht aufgeben/sich wehren] heißt dann die Haltung, mit der die Mehrheit der Argentinier_innen, und mit der »feminization of resistance«352 allen voran die argentinischen Frauen, den Alltag bewältigen. c. Bestandsaufnahme 3: Wendepunkt zur Zeit der Kirchner-Regierung – der 24. März 2004 Als der langjährige Gouverneur der patagonischen Provinz Santa Cruz am 25.05.2003 die Regierungsgeschäfte Argentiniens nach demokratischen, aber sehr knapp gewonnenen Wahlen übernahm, ahnte noch niemand, dass er der einschneidenden Veränderung des argentinischen Staates im Umgang mit den Verbrechen der letzten Militärdiktatur und mit der Erinnerung an die Staatsrepression den wesentlichen Impuls geben sollte. Denn weder Néstor Kirchner noch seine Frau Cristina Fernández de Kirchner, die damalige Senatorin für 351 Sutton, 2010, S. 138. 352 Ebd., S. 1. 330

Teil III – Staatsrepression und diskursiver Wandel

die Provinz Santa Cruz, hatten sich bis dorthin als entschiedene Anhänger der Menschenrechtsbewegung hervorgetan. Als wichtiges Datum der Wende wird hier der 24. März 2004 festgehalten, der Tag, an dem Präsident Kirchner zwei bedeutungsvolle Schritte tat: Er ließ im Colegio Militar die Porträts von Jorge R. Videla und Reynaldo Bignone abhängen und er bat im Namen des argentinischen Staates in einer Kundgebung der MRO vor der ESMA öffentlich um Entschuldigung für die Staatsrepression der 70er Jahre. Bald nach seiner Ernennung hatte Kirchner reinen Tisch mit Schlüsselpositionen im Erbe seiner Vorgänger gemacht: Alle Militäroberhäupter wurden entlassen und den Richtern am Obersten Gerichtshof wurde die Abdankung nahegelegt. Letztere hatten nach Menems Reform der Corte Suprema den Präsidenten stets ihre Gunst bewiesen. Mit der Ernennung von Eugenio Zaffaroni wurde 2003 ein Experte für die juristische Aufarbeitung von Genozidverbrechen in das Richteramt geholt; die international anerkannten Carmen María Argibay und Elene Highton folgten ab dem Jahr 2004 und sollten ebenfalls für die Unabhängigkeit der Justiz und eine ausgewogenere Vertretung der Geschlechter im höchsten Gericht Argentiniens sorgen. Kirchners Positionierung und die sich daraus ergebenden Maßnahmen läuteten die Entwicklung ein, die eine Umkehrung der angeordneten Staatspolitik des Vergessens bedeuten sollte. Am 06.03.2001 hatte der Bundesrichter Gabriel Cavallo die Straflosigkeitsgesetze für nichtig erklärt, gefolgt von der Erklärung des argentinischen Kongresses am 03.09.2003, der einem Antrag der Izquierda Unida (u.a. Rodolfo Walshs Tochter Patricia Walsh) stattgab. Die Corte Suprema schloss sich dieser politischen Kundgabe der Mandatare am 14.06.2005 mit einem Rechtsbeschluss endgültig an.353 Die Verbrechen der Staatsrepression wurden mit dem Fall Ernesto Enrique Lautaro Arancibia Clavel am 24.08.2004 zu nicht verjährenden Verbrechen gegen die Menschlichkeit deklariert.354 Der Richter Carlos Rozanski, mit dem Fall Miguel Etchecolatz beauftragt, sprach in seiner Urteilsbegründung im Tribunal Oral Federal von La Plata am 19.09.2006 zum ersten Mal vom Tatbestand des Genozids.355 Als Folge dieser Entwicklung stehen seitdem die Verantwortlichen und Vollstrecker des Staatsterrors der Militärdiktatur vor Gericht. Ein Meilenstein in dieser Wende war Néstor Kirchners folgenreiche Botschaft, für deren Verkündung er in seinem ersten Amtsjahr einen höchst emblematischen Termin, den 24. März, gewählt hatte.

353 Vgl. CELS, 2001, o. S.; 2003, o. S.; 2005, o. S. 354 Vgl. Corte Suprema de Justicia de la R epública A rgentina, 2004, o. S. 355 Clarín.com, 2006, o. S. 331

Erinnerung und Intersektionalität

1) Der 24. März als symbolträchtiges Datum der argentinischen Geschichte »¿De quién es el 24 de marzo?« [Wem gehört der 24. März?], fragt Federico Lorenz im von Elizabeth Jelin 2002 herausgegebenen Band Las conmemoraciones: Las disputas en las fechas »in-felices«. Darin wird die Bedeutung von Gedenk- und Jahrestagen im Zusammenhang mit den Diktaturen des Cono Sur untersucht und ihre Eignung als Gradmesser des Zustandes kollektiver Erinnerungskulturen. Lorenz’ Artikel verdeutlicht Jelins These, wonach öffentliche Erinnerungsrituale wiederkehrend den Bezug zur Gegenwart herstellen, Emotionen erneut aktivieren und bestehende Signifikationen hinterfragen.356 Mit großem Interesse werden die Transformationen beobachtet, die sich an solchen Tagen vollziehen, denn die umgekehrte Bewegung der Erinnerung kann ebenfalls festgestellt werden: Aus der Gegenwart heraus wird der Vergangenheit eine Bedeutung beigemessen, die sich immer wieder erst neu konstituiert. Der 24. März hat in Argentinien aktuell immer noch Symbolcharakter als Erinnerungstag an den Militärputsch von 1976. Im Jahr 2002 wurde er zum landesweiten Gedenktag für Wahrheit und Gerechtigkeit erklärt, 2005 wertete ihn das Abgeordnetenhaus zum gesetzlichen Feiertag auf. Die Transformationen und Umdeutungen der Erinnerung lassen sich anhand des Gedächtnistages 24. März ablesen und ein Blick durch die Jahre hindurch offenbart die jeweils gegenwärtige Konjunktur der Erinnerung sowie die Verschiebung der Bezugspunkte. Wurde der 24. März von der Junta bereits ein Jahr nach der Machtübernahme instituiert, um das Militär während des »Proceso« mit Truppenparade und Dankgottesdienst durch den Militärvikar öffentlich zu feiern, und zur öffentlichen Kommunikation militärischer Errungenschaften genutzt, so deuteten ihn 1984 die Menschenrechtsorganisationen – maßgeblich die Madres de Plaza de Mayo – um und erklärten ihn zum Tag des »Nie wieder!«. Er dient seitdem als Erinnerungstag, als Widerstandstag gegen die Politik des Vergessens, an dem nach wie vor der Ruf nach Gerechtigkeit laut wird. Lorenz periodisiert die Erinnerung am Gedenktag 24. März nach der Rückkehr der Demokratie bis 2001 in drei Phasen: Zwischen 1984 und 1989 wird das Spannungsverhältnis zwischen Regierbarkeit und Justiziabilität in der Artikulation der Erinnerung sichtbar; die Phase ist von der Wahrnehmung gekennzeichnet, die demokratischen Institutionen seien instabil und die FF.AA. noch zu mächtig, um Wahrheit und Gerechtigkeit in Bezug auf den Staatsterror zuzulassen. In den Jahren 1989-95 haben sich vor dem Hintergrund der Politik des Vergessens die Menschenrechtsorganisationen fragmentiert und neu geordnet. In der Phase ab 1996 erkennt die

356 Jelin, 2002b, S. 1-8; Lorenz, F., 2002, S. 97f. 332

Teil III – Staatsrepression und diskursiver Wandel

Memoria den politischen Wert der Vergangenheit.357 Die nachfolgenden Unterkapitel liefern einen zusammenfassenden Einblick in die Berichterstattung über den Erinnerungstag 24. März zwischen 1984 und 2004. Das Reden darüber, wie und ob die Handlungen als »Krieg« oder »Genozid« eingestuft werden, bietet einen aufschlussreichen Anhaltspunkt für die Beobachtung der Transformationen des Diskurses über die Staatsrepression in diesen 20 Jahren. a) Der 24. März in der Phase der demokratischen Transition Der 24. März fiel im Jahr 1984 mit dem Jubeltag der ersten 100 Tage der wiedergewonnenen Demokratie zusammen und Präsident Raúl Alfonsín rief aus diesem Anlass zu einer Massenkundgebung auf der Plaza de Mayo auf. Die politische Absicht ist deutlich zu erkennen: Der bis dorthin militärisch geprägte Tag sollte im Sinne der Demokratie und der Zivilgesellschaft belegt werden. Im Mittelpunkt seiner Ansprache standen das düstere Panorama der argentinischen Wirtschaft und insbesondere die Armut. Präsident Alfonsín verwendete in seiner Rede das Wort »Holocaust«, um auf die latente Gefahr durch »eine politische, ideologische und wirtschaftliche Auseinandersetzung zwischen Ost und West« hinzuweisen, die für Argentinien wirtschaftliche Verwundbarkeit bedeuten würde und »aus der offensive und defensive Strategien entstehen, die die ganze Menschheit gefährlich nah an einen Holocaust bringen.«358 Alfonsín forderte damals die Opposition auf, sich am demokratischen Wiederaufbau des Landes zu beteiligen, hatten doch zuvor bedeutende Oppositionsführer der Regierung die Unterstützung verweigert und »diese Regierung ist nicht die unsere«359 verkündet. Auch die Situation der Kommandanten und Offiziere, die sich vor dem Militärgericht für »excesos de represión« [Repressionsexzesse] verantworten sollten, waren Thema der Berichterstattung am 25.03.84.360 Kommentare des Präsidenten zu den laufenden Ermittlungen und sich häufenden Anzeigen gegen Beteiligte der Militärdiktatur am (erst später emblematischen) Tag 24. März wurden nirgendwo festgehalten. Am Jahrestag 1985 gab es keine nennenswerten Meldungen, alle Erwartungen schienen sich auf die laufenden Gerichtsverhandlungen zu konzentrieren. Die Runden der Madres trugen die Politik der MRO. Zum Abschluss des Widerstandsmarsches am 11. und 12.12.1985 haben 30.000 Personen gegen die milden Urteile im Junta-Prozess demonstriert und ihren Unmut gemeinsam mit 357 358 359 360

Lorenz, F., 2002, S. 53-100. La Nación, 1984a, S. 1. La Nación, 1984b, o. S. La Nación, 1984c, o. S. 333

Erinnerung und Intersektionalität

den MRO öffentlich artikuliert. Die später durch lange Jahre hindurch wiederholten Forderungen »No al Punto Final« [Nein zum Schlussstrichgesetz] und »Cárcel a los genocidas« [Gefängnis für die Völkermörder] treten bei dieser Kundgebung zum ersten Mal als Losungsworte in Erscheinung.361 1986 jährt sich die Machtübernahme durch die Streitkräfte zum zehnten Mal und die politische Wahrnehmung des Tages wird deutlicher. Im Namen der Regierung erklärt sich der Staatssekretär als Vertreter der zivil-demokratischen Ordnung, während etwa 1.000 Menschen unter dem Motto »Castigo a todos los culpables por las violaciones a los derechos humanos« [Bestrafung aller Schuldigen für die Menschenrechtsverletzungen] gemeinsam mit den Madres der Verbrechen der Staatsrepression gedenken.362 Die bereits vollzogene Spaltung der Madres kann in den Äußerungen Hebe de Bonafinis in Bezug auf die Exhumierungen nachgelesen werden: »Die Organisation, deren Vorsitzende ich bin, akzeptiert die Exhumierung von Leichen nicht; wir wollen nicht wissen, wer die Toten sind, sondern wer ihre Mörder waren.«363 Ein Jahr später, am 24.03.1987, platziert La Nación auf ihrer Titelseite klare Statements von Präsident Alfonsín und seinen Verdacht einer Konspiration gegen die Demokratie und eines Wirken von »auf der Lauer liegenden NaziGruppierungen« innerhalb der FF.AA.364 In seiner Rede rekurriert Alfonsín einmal mehr auf das Bild der zwei Dämonen: auf der einen Seite die Armeeangehörigen – »[sie] kämpfen gegen die Subversion und gleichzeitig legen sie Bomben und bedrohen Bürger« –, auf der anderen Seite Gruppen, die versuchen, den »subversiven Terrorismus« und seine »widerlichen Methoden« zu rechtfertigen.365 Diese rhetorische Figur der zwei Fronten scheint für den Präsidenten zwingend notwendig zu sein, um im gleichen Atemzug die Destabilisierungsaktionen der Militärs überhaupt erwähnen zu können. Sie ist ein klares Indiz einerseits für den Fortbestand des Subversionsdiskurses trotz der Verfahren gegen die Juntas und andererseits für die starke politische Präsenz der Streitkräfte in der Transition. Die Ergebnisse einer 10-stündigen Strategiesitzung hoher Offiziere der Armee werden ebenfalls auf der ersten Seite der Ausgabe vom 25.03.1987 öffentlich gemacht und darin wird deutlich sichtbar, wie machtvoll die an der Repression beteiligten Personen institutionell noch waren. In dieser Sitzung einigten sich die Generäle auf Ziele, die sich über die rechtliche Aufklärung der 361 Vgl. Vázquez u.a., 2007, S. 35 und S. 37. 362 La Nación, 1986a, o. S. 363 Ebd. 364 La Nación, 1987a, S. 1. 365 Ebd. 334

Teil III – Staatsrepression und diskursiver Wandel

Fälle hinaus auswirken sollten und die Anerkennung geleisteter Dienste während der Repression – für die Generäle nach wie vor ein Krieg – bezweckten: »Ziel ist das Bekenntnis zum durchgeführten Krieg und zu denjenigen, die darin gekämpft haben.«366 Die Madres haben im Jahr 1987 zu einer Kundgebung aufgerufen, an der laut Polizei 3.500 Menschen teilnahmen, die sich mit dem Motto »El punto final no pasará« [Das Schlussstrichgesetz wird nicht durchkommen] gegen das Gesetz stellten. Über die Kundgebung wurde auf Seite 18 der Tagesausgabe von La Nación Bericht erstattet.367 Am selben Tag werden Morddrohungen gegen den obersten Richter Andrés D’Alessio368 und den Wirtschaftsminister Juan Sourrouille369 sowie die Meldung über die Anweisungen des zivilen Verteidigungsministers an die Militärjustiz370 veröffentlicht. Damit zeigt sich am und um den 24.03.1987 ein gutes Stück Panorama der Zeit: die im Untergrund destabilisierenden Militärkräfte und die große Mühe der Zivilregierung, die Unterordnung der Militärs unter die zivile Macht zu erreichen. Die Instabilität der Demokratie und die sich ausbreitende Angst vor einem neuen Putsch kommen bei einer weiteren Meldung zum Ausdruck: Als »angebliche Exzesse im Kampf gegen die Subversion« bezeichnet La Nación die Verbrechen, die General Acdel Vilas, Chef des »Operativo Independencia« in Tucumán 1975 und späterer Kommandant in Bahia Blanca, zur Last gelegt werden.371 Die Berichterstattung erweckt so den Eindruck, die Verbrechen wären nicht bekannt und die Junta-Kommandanten noch nicht verurteilt gewesen. Wenige Tage später, Ostern 1987, sollten die »Carapintadas« zum ersten Mal meutern. Immerhin deutlich von »Missbrauch in der Terrorismusabwehr« spricht La Nación 1988 und informiert über die Anwendung des Schlussstrichgesetzes auf Personen, die in die Geschehnisse in der ESMA involviert waren.372 Am selben Tag schaltet der Nochgouverneur von La Rioja Carlos Menem eine seitengroße Anzeige, um für seine Kandidatur innerhalb des Justicialismo zu werben: »Carta Abierta a la Esperanza« [Offener Brief an die Hoffnung]. Er macht dabei ausdrücklich auf seine Situation als damaliges Opfer des Peronismusverbots und der Repression aufmerksam und betont u.a.: »Jetzt heißt es, gemeinsam voranzu-

366 367 368 369 370 371 372

La Nación, 1987c, S. 1. La Nación, 1987d, S. 18. La Nación, 1987b, S. 1. La Nación, 1987f, S. 18. La Nación, 1987e, S. 18. La Nación, 1987g, S. 18. La Nación, 1988, S. 1. 335

Erinnerung und Intersektionalität

schreiten, um eine Phase von Gerechtigkeit und wahrer Freiheit einzuleiten.«373 Die Berichterstattung von Página/12 am 25.03.1988 zeigt Hebe de Bonafini und Adolfo Pérez Esquivel gemeinsam in Großaufnahme bei der Kundgebung zur Ablehnung des Militärputsches von 1976 auf der Plaza de Mayo. Hebe nennt die Anwesenden »das Gewissen der Gesellschaft« und den »Proceso« einen Plan, der die Basisorganisationen um jedweden Preis zerstören sollte.374 Der Kundgebung der Madres von Hebe de Bonafini am 24.03.1989, die von Página/12 als »Widerstandsmarsch« bezeichnet wurde (obwohl der üblicherweise um den 10. Dezember stattfindet), schlossen sich im ersten Jahr der Menem-Regierung zehntausende Menschen an, doch zahlreiche Gruppierungen der MRO und der Linken blieben weg.375 Die Sozialisten von MAS (Movimiento al Socialismo) gaben an, der Grund für ihr Fernbleiben wäre das Fehlen des Mottos »Gefängnis für die Völkermörder«. Hebe de Bonafini sprach mit deutlichen Worten über die blutige Beendigung des Überfalls von La Tablada durch die Streitkräfte: »Wie schon während der Diktatur waren auch jetzt die Militärs die Herrscher über Leben und Tod.«376 Acuña und Smulovitz interpretieren die fehlende Präsenz anderer Gruppen bei dieser Kundgebung als Indiz für eine Fragmentierung innerhalb der MRO als Folge der Ereignisse von La Tablada.377 Zwei weitere Beweggründe lassen sich annehmen: erstens die evidente Tatsache, dass die Anklagebewegung mit Menems Amnestie auf dem Tiefpunkt war. Hatte man der Regierung Alfonsín Schwäche vorgeworfen, so setzte die frisch gewählte Regierung des Justicialismo, der bisher in der Opposition war, die offizielle Politik des Vergessens fort und hatte durch die Amnestie den Eindruck der Sinnlosigkeit der langjährigen Anklagen der MRO sogar vertieft. Ein neuer Weg im Kampf gegen die Straflosigkeit sollte mit Hilfe ausländischer Gerichte gefunden werden, die sich in den Fällen ausländischer Desaparecidxs für zuständig erklärten. Ein zweiter Aspekt lässt sich in der diskursiven Wende annehmen: Das Erinnern selbst wird jetzt diskreditiert. Carlos Menem beschwört fortwährend die Zukunft und den nach vorne gerichteten Blick. Schriften, die die Folgen der Straflosigkeit und die Notwendigkeit des Erinnerns darstellen, werden in vielen Disziplinen verfasst und zeugen vom Versuch, einen Konsens für die Auseinandersetzung mit den offenen Fragen der nahen Geschichte zu schaffen und die Wiederaufnahme der Ermittlungen zu ermöglichen. 373 374 375 376 377 336

Menem, 1988, o. S. Página /12, 1988, o. S. Página /12, 1989, o. S. Ebd. Acuña /Smulovitz, 1995, S. 177.

Teil III – Staatsrepression und diskursiver Wandel

b) Der 24. März in den Zeiten von »Menems Fiesta« und des staatlich angeordneten Vergessens Am 24.03.1990, nach der ersten Welle von Erlassen, gehen die Zeitungen kaum auf den Gedächtnistag ein. In Página/12 erinnern zwei Annoncen an die Staatsrepression: »En un día como hoy fueron detenidos y desaparecidos [Namenliste]/No a la impunidad/Juicio y castigo a los culpables« [An einem Tag wie heute wurden verschleppt und verschwanden [Namenliste]/Nein zur Straflosigkeit/Gerichtliches Eingreifen und Bestrafung der Schuldigen] von Angehörigen der Desaparecidxas und »Nunca más/A 14 años del golpe/Nosotros nunca olvidaremos« [Nie wieder!/14 Jahre seit dem Putsch/Nie werden wir vergessen] von Kindern und Enkelkindern der Desaparecidxs. Página/12 widersetzt sich ab dem Jahr 1989 auf ihre Weise dem Vergessen und veröffentlicht an jedem Jahrestag Hintergründe des Putsches. Im Rahmen der journalistischen Rückblende »15 Jahre nach dem Putsch« erscheint am 24.03.1991 ein Kommentar von Graciela Fernández Meijide, inzwischen prominente Madre eines verschleppten Jugendlichen und langjähriges Mitglied der Asamblea Permanente por los Derechos Humanos (APDH) und der CONADEP (und ab 1993 Politikerin der ersten Reihe). Sie widerspricht der Vorstellung einer pauschalen Schuld der Argentinier an der Staatsrepression, prangert die Versäumnisse der argentinischen Justiz an und stellt die offiziellen Versionen der Staatsrepression im Hinblick auf eine pauschale Komplizenschaft der Bevölkerung in Frage: »Nach der Diktatur gab es zwei offizielle Haltungen. 1991 lautet die eine ›wir alle sind korrupt‹. 1983 hieß es ›wir alle sind schuldig‹. Doch eigentlich ging es darum, die Völkermörder vor Gericht zu stellen.«378 Sie beklagt so die Vereinnahmungen durch die Regierenden und die Instrumentalisierung der Bevölkerung für die Verweigerung, die Verbrechen aufzuklären und die Verantwortlichen zu verurteilen. In den zur Verfügung stehenden Zeitungen finden sich in den Jahren 1992 bis 1994 keine Hinweise auf bedeutende Aktionen zum Jahrestag des Putsches. Zu diesem Zeitpunkt der Krise der Gedächtnisfeiern lässt sich jedoch eine Transformation in der Art und Weise der Bezugnahme auf die Detenidxs-Desaparecidxs feststellen, insbesondere bei den Madres von Hebe de Bonafini: Die Desaparecidxs werden nicht mehr aus dem Schmerz heraus erinnert und nicht ihr Tod wird bedacht, sondern ihr Leben und insbesondere ihr politisches Engagement werden zunehmend und für alle zusammenfassend in den Vordergrund gestellt; sie werden zu Kämpfern der sozialistischen Revolution deklariert.379 Hatte die

378 Fernández Meijide, 1991, S. 10. 379 Lorenz, F., 2002, S. 80. 337

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Sozialwissenschaftlerin Inés González Bombal für die Zeit der demokratischen Transition beobachtet: Die positive Grundeinstellung zur Thematik der Menschenrechte ging nicht mit einer epischen Wiederherstellung der Opfer einher, sondern mit einer Ablehnung der illegalen Methoden sowohl der politischen Gewalt als auch der illegalen Repression380,

so werden die Opfer ab jetzt doch eher im Sinne des Epos der Nation erinnert, auch wenn die Verachtung von Gewalt in den Handlungen der Madres beibehalten wird. Diese Transformation war bereits ab 1990 hörbar, als Hebe de Bonafini bei der Widerstandskundgebung sprach: »Die Pyramide381 gehört uns, weil sie für Freiheit und Revolution steht, das heißt für all das, wofür unsere Kinder gekämpft haben und wofür wir kämpfen. […] Es ist nicht die produktive ›Revolution‹382, sondern diejenige, die unsere Kinder wollten.«383 Ein Jahr später, beim elften Widerstandsmarsch, sagten die Madres von Hebe: »Wir bekennen uns zu den sozialrevolutionären Zielen unserer Kinder. […] Alle unsere Kinder, heute auf unserer Plaza anwesend, alle 30.000, begleiten uns in diesem Kampf.«384 Die MRO waren 1990 gespalten und so rief die Asociación de Madres für die Kundgebungen am 23.03. auf, während die Gruppen von APDH, Abuelas, Madres Línea Fundadora, CELS, MEDH, LADH und SERPAJ am 24. März auf ihre Weise Gedenken feierten. Die Losungsworte der Kundgebungen bezogen sich aufgrund der anhaltenden Wirtschaftskrise – und durch ein sich öffnendes Verständnis der Menschenrechte – nicht mehr ausschließlich auf die DetenidxsDesaparecidxs. Die Madres integrierten damals die sogenannten Rechte der »zweiten Generation« in ihre Forderungen, d.h. das Recht auf Arbeit, soziale Sicherheit, Ernährung, Wohnraum, Wasser, Gesundheit und Bildung. Mit der Ablehnung des Gnadenerlasses des Präsidenten und dem Gedenken an die Ver380 González Bombal, 1995, S. 205f., aus dem Span. von MLS. 381 Damit ist die Pyramide auf der Plaza de Mayo gemeint, die an die Mai-Revolution von 1810 erinnert und als nationales Symbol für den Mythos der Gründung der argentinischen Nation fungiert. 382 Mit den Schlagworten »revolución productiva« (die kräftige Ankurbelung der Produktion und damit eine industrielle Renaissance) und »salariazo« (eine schlagartige und kräftige Gehaltserhöhung) identifiziert man die Kampagne von Carlos Menem für seine Wahl 1989. 383 Zit. in Vázquez u.a., 2007, S. 62f. 384 Zit. in Ebd., S. 68. 338

Teil III – Staatsrepression und diskursiver Wandel

brechen wird der Rahmen abgesteckt, in dem für die MRO Hoffnung möglich ist: »Justicia, memoria, no al indulto a torturadores y genocidas. Nunca más terror y sangre. Nunca más impunidad. Sí a la esperanza«385 [Gerechtigkeit, Gedenken, Nein zur Begnadigung von Folterern und Völkermördern. Nie wieder Terror und Blut. Nie wieder Straflosigkeit. Ja zur Hoffnung]. Ein Jahr später wird auf die Dringlichkeit von Wahrheit und Gerechtigkeit und auf die Notwendigkeit des Gedenkens hingewiesen, damit die Gefahr der Wiederholung abgewehrt werden kann: »Heute verlangen wir mehr als jemals Wahrheit und Gerechtigkeit, damit der Horror, den wir erlebt haben, sich niemals wiederholt.«386 Die Forderungen im Jahr 1992 beziehen sich hingegen vollständig auf die Gegenwart: »Por la vigencia de los derechos humanos de todos los ciudadanos«387 [Für die Gültigkeit der Menschenrechte aller Bürger]. Im Jahr 1993 steht erneut die erforderliche Erinnerung an die politischen Massenermordungen im Vordergrund: »Por verdad y justicia, para que la memoria del genocidio no se pierda. Por la investigación exhaustiva de nuestros 30.000 detenidos-desaparecidos. Condenamos el indulto y la impunidad«388 [Für Wahrheit und Gerechtigkeit, damit die Erinnerung an den Genozid nicht stirbt. Für umfassende Untersuchungen in den Fällen unserer 30.000 Verschleppten-Verschwundenen. Wir verurteilen Begnadigung und Straflosigkeit], während die Mottos des Jahres 1994 eindeutig die Gegenwart zum Gegenstand der Forderungen machen: »Por Justicia. No a la violencia institucionalizada. Salarios y vivienda digna. Salud al alcance de todos. Protección a la escuela pública«389 [Für Gerechtigkeit. Nein zur institutionalisierten Gewalt. Angemessene Löhne und würdigen Wohnraum. Medizinische Versorgung für alle. Erhalt der öffentlichen Schulen]. Drei Ereignisse des Jahres 1995 haben einschneidenden Charakter für die weitere Entwicklung der argentinischen Memoria: die Eröffnungen des Korvettenkapitäns Adolfo Scilingo am 09.03. (in der Fernsehsendung des ehemals diktaturnahen Mariano Grondona), die öffentliche Entschuldigung des Oberhauptes der Streitkräfte Martín Balza für das fehlerhafte Verhalten der Institution während der Diktatur am 25.04. (in der Abendsendung des früher diktaturnahen Fernsehmoderators Bernardo Neustadt) und der erste öffentliche Auftritt der H.I.J.O.S. Die zwei Fernsehereignisse aktualisierten unerwartet bekannte, aber gegenwärtig verdrängte Gewalttaten und brachten die Straflosigkeit vor einer 385 386 387 388 389

Instituto Espacio para la Memoria, 2006, S. 3. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. 339

Erinnerung und Intersektionalität

breiten Medienkulisse zurück auf die Tagesordnung.390 Der Aufruf der Asociación de Madres de Plaza de Mayo zur Gedächtniskundgebung anlässlich des 19. Jahrestages des Militärputsches erfolgte just zwei Wochen nach Scilingos Eröffnungen und als Ort wurde gezielt die ESMA ausgesucht. Wie aufgeheizt die Stimmung damals war, lässt sich an dem Versuch der versammelten Personen ablesen, sich Zutritt zum Gelände der ESMA zu verschaffen; die Polizei hielt sie mit Wasserwerfern davon ab. Nachdem wenige Wochen vorher Korvettenkapitän Scilingo vor laufenden Kameras reuevoll (aber von keinem Gericht verfolgt) seine Mittäterschaft an den Verbrechen eingestanden und der vor dem Fernsehen versammelten Nation detaillierte Auskünfte über die Todesflüge gegeben hatte, sorgten eine Liste mit 1.000 Namen von Desaparecidxs, die nicht im CONADEP-Bericht Nie wieder! erwähnt waren391, sowie eine Bekanntmachung des Präsidenten über eine Verfügung des letzten Junta-Generals Reynaldo Bignone (datiert auf den 15.10.1983) zur Vernichtung der Dokumentation über verschleppte Personen392 ebenfalls für große Unruhe. Einen Tag später war für die Berichterstattung nicht nur die friedliche Kundgebung der anderen MROGruppe vor der ESMA relevant, sondern auch ein Zwischenfall, der sich zufällig an jenem Tag ereignete und das Klima der allgemeinen Empörung zeigte: Alfredo Astiz, »blonder Todesengel«, wird am 24.03.1995 beim entspannten Kaffeetrinken mitten in Bahia Blanca gesichtet und eine immer größer werdende Menge aufgebrachter Passanten bekundet ihm ihre Verachtung durch Worte und Gesten.393 Einen Monat später, am 25.04., wird das Oberhaupt der Streitkräfte, Martín Balza, im Fernsehen eine Entschuldigung vortragen, die u.a. das Ziel verfolgt, einer unkontrollierbaren Welle von Eröffnungen im Nachgang zu Scilingos Einlassungen vorzubeugen. Am Tag zuvor hatte nämlich der Gefreite Víctor Ibáñez im Fernsehen eröffnet, nicht nur Marine und Luftwaffe hätten die Detenidxs-Desaparecidxs lebend über dem Río de la Plata abgeworfen, sondern auch die Armee.394 Die FF.AA. selbst hatten damals bereits ihre Umstrukturierung auf den Weg gebracht. Ihr Anteil am öffentlichen Haushalt war nicht zuletzt durch die anhaltenden Staats- und Wirtschaftskrisen immer geringer geworden. Die staatlichen Unternehmen stellten keine Waffen mehr her bzw. wurden aufgrund der Krise privatisiert. Nach dem Tod des Wehrdienstleistenden Omar Carreño unter menschenverachtenden Umständen im Jahr 1994 war auch 390 391 392 393 394 340

Feld, 2002, S. 101-112. La Nación, 1995a, S. 1; 1995b, S. 4. Antognoni, 1995, o. S. La Nación, 1995c, S. 4. Barcelona, 1995, o. S.

Teil III – Staatsrepression und diskursiver Wandel

die Wehrpflicht abgeschafft worden.395 Die Eröffnungen von Adolfo Scilingo bedeuteten eine weitere Schlappe für das öffentliche Bild der bereits entmachteten FF.AA. In dieser Konstellation versuchte das Oberhaupt der Streitkräfte, den Schaden zu begrenzen, und lud zu einem Dialog ein: zu einem »schmerzhaften Dialog über die Vergangenheit«.396 Das Mea Culpa Balzas bezog sich auf die Streitkräfte, die sich »in manchen Fällen die Informationen mit rechtswidrigen Methoden verschafften, bis hin zur Auslöschung von Leben«397. Diese Praxis verurteilte Martín Balza mit eindeutigen Worten: »Eine Straftat begeht, wer zur Erreichung eines ihm gerecht erscheinenden Ziels auf ungerechte und unmoralische Mittel zurückgreift.«398 Diese Botschaft ist die relevanteste der Rede, denn damit widerspricht das Oberhaupt der argentinischen Streitkräfte der Argumentation, die dem Gesetz über die Gehorsamspflicht zugrunde liegt. Nach dessen Maximen machte es die militärische Disziplin für den Einzelnen erforderlich, nichtethische Befehle umzusetzen, woraus geschlussfolgert wurde, dass die meisten Beschuldigten zu Unrecht für Menschenrechtsverletzungen zur Rechenschaft gezogen werden sollten, hatten sie doch nur Befehle befolgt. Martín Balza zog damit eine Grenze in der Selbstwahrnehmung der FF.AA. und verwies auf einen deutlichen Unterschied zwischen der Institution selbst und den Personen, die Verbrechen begangen und Schuld auf sich geladen hatten. Diese im Allgemeinen positiv aufgenommene Rede griff allerdings an mehreren Stellen auf die so oft bemühte Figur des Krieges zurück: »diese Vergangenheit mit dem Kampf zwischen Argentiniern, mit dem Brudermord« oder »die Auseinandersetzung zwischen Argentiniern«399. Auch die bekannte »Versöhnung« fehlte hier nicht, aber sie wurde mit der Einschätzung thematisiert, dass der Schmerz der Opfer dafür noch zu frisch sei: » [E]s werden Generationen nötig sein, um die Verluste zu lindern, um einen Sinn in der ehrlichen Versöhnung zu finden.«400 Denkwürdig ist, wie Balza das Gewicht der Schuld für die Verbrechen auf die gesamte Gesellschaft abwälzte: »[L]etztendlich steckt die Schuld im Unbewussten der ganzen Nation«, und weiter: »[W]ir sind fast alle schuldig, durch Handeln oder Nichthandeln, durch Abwesenheit oder Exzess, durch Einverständnis oder Rat.«401 Dieses öffentliche Schuldbekenntnis, das sich vor 395 396 397 398 399 400 401

Acuña /Smulovitz, 1995, S. 193. Balza, 1995, o. S. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. 341

Erinnerung und Intersektionalität

allem auf die Anwendung unlauterer Mittel bezog, stellte die illegalen Handlungen als Folge einer Überforderung der in »herkömmlichem Krieg« trainierten Streitkräfte dar. Das vordergründige Schuldeingeständnis kann daher als ein symbolischer Akt der Entschuldung gesehen werden. Ähnlich verhält es sich mit dem Wunsch nach einem Dialog, der vor allem eine Feststellung des Generals darlegte: Der gravierende Riss zwischen dem Militär und dem Rest der Gesellschaft war seiner Wahrnehmung nach so tief, dass zu seiner Überwindung vermutlich Generationen benötigt werden würden. Der 15. Widerstandsmarsch am 07.10.1995 zeugt von einem Einblick in diesen Riss, der sich in besonderer Art und Weise in der Bezugnahme aktualisiert. Sandrey, ein Arbeitsloser aus dem stark geschrumpften Industriegebiet von San Lorenzo, einem Vorort von Buenos Aires, ergriff auf der Kundgebung das Wort und zog einen Vergleich zu den Desaparecidxs: »Sie versuchen, uns verschwinden zu lassen, indem sie uns aus dem Produktionsprozess verdrängen, und setzen damit schlicht und einfach den Genozid der Mörder der Militärherrschaft fort, die diese Regierung mit der Begnadigung geehrt hat.«402 Für diesen Verlierer des neoliberalen Modells stand das Wort »Genozid« für das Entfernen von unerwünschten Personen aus dem sozialen Netz, eine Vorgehensweise, die er in der wirtschaftlichen Entwicklung fortgesetzt sah, die ihn direkt betraf. Eine ähnliche Ansicht vertritt die Soziologin Barbara Sutton, wenn sie schreibt: Human bodies apparently disappear under the neoliberal logic, just as the last military dictatorship in Argentina disappeared the real, material bodies of many people who opposed precisely the preview of that kind of socioeconomic organization. Bodily disappearance, both from the economic analysis and from the real world, is never innocent, for the discursive and material disappearance of bodies hides both bodily suffering and resistance. A very different kind of analysis and society may emerge when bodies are taken into account, when they are integral parts of our ways of theorizing, doing politics, making culture and organizing economies.403

In ihrer bemerkenswerten Analyse über die Effekte der Krise in den Frauenkörpern schließt sich Barbara Sutton der in Argentinien weitverbreiteten Meinung an, es bestünde eine Kausalität zwischen Repression und Wirtschaftspolitik der FF.AA. während der Militärdiktatur. Demnach war es im Argentinien der 70er Jahre nur durch die massenhaften Tötungen von Aktivisten von Basisorgani402 Zit. in Vázquez u.a., 2007, S. 84. 403 Sutton, 2010, S. 39, Hervorh. von V. A. 342

Teil III – Staatsrepression und diskursiver Wandel

sationen der Gewerkschaften, Parteien, Nachbarschaften und der Kirche (und nicht nur durch die Erstickung der Stadtguerilla) überhaupt möglich, ein wirtschaftliches Modell zu etablieren, das die Interessen großer Wirtschaftsgruppen privilegierte und sich gegen die wirtschaftliche Existenz der Mehrheit wandte. Sutton geht in ihrer Analyse weiter und fasst zusammen: Die Desaparecidxs hätten gegen die Vorläufer des Neoliberalismus Widerstand geleistet.404 Bei der Kundgebung der Madres von Hebe de Bonafini im Dezember 1995 treten die H.I.J.O.S. zum ersten Mal öffentlich auf. Die Rede des Vertreters der Organisation, Andrés, stellt – neben der Perspektive der einstigen Kinder auf das ihnen geschehene Unrecht – das Handeln der Gruppe in die Genealogie, die die Madres von Hebe seit Beginn der Straflosigkeit und vor allem seit der Amnestie Menems diskursiv herstellten: »Lange Jahre wollten sie aus uns Niemandskinder machen. Heute sagen wir mit Stolz, dass wir Kämpfer sind, Kinder von Kämpfern, Kinder eines Traumes, der nicht verschwunden ist.«405 Auch die weiteren MRO stimmen ihre Losungsworte des Jahres 1995 im Zeichen des Widerstandes gegen die Politik des Vergessens und die Wirtschaftspolitik der Menem-Regierung ab: Weil wir uns dem Vergessen und der Straflosigkeit widersetzen. Weil wir uns der [wirtschaftlichen] Anpassung und der Arbeitslosigkeit widersetzen. Weil wir politische Verfolgung und jedwede Einschränkung der Volksbeteiligung ablehnen. Weil unser Lebensgrund der Kampf unserer verschlepptenverschwundenen Kinder ist, der Kampf unseres Volkes.406

Das Klima der Arbitrarität – die Straflosigkeit erwiesener (und sogar im Fernsehen erscheinender) Menschenrechtsverbrecher, die sich bereits als erdrückend zeigende soziale Ungerechtigkeit und die polizeiliche Repression der Sozialproteste – weckte auch bei den Müttern der Línea Fundadora, wie ihre Formulierung »unser Daseinsgrund ist der Kampf unserer verschleppten-verschwundenen Kinder« im Aufruf zum Widerstandsmarsch belegt, das Bedürfnis, die zunächst teilweise geleugneten und dann in Vergessenheit geratenen politischen Profile der Verschleppten-Verschwundenen bewusst werden zu lassen und sie dann als Gegenbeispiel für die ent-solidarisierte Gesellschaft hochzuhalten. In dieser Konstellation wird deutlich sichtbar, dass auf die Desaparecidxs unterschiedlich Bezug genommen wird und sie zunehmend zu einer Projektionsflä404 Ebd. 405 Zit. in Vázquez u.a., 2007, S. 84. 406 Instituto Espacio para la Memoria, 2006, S. 3, aus dem Span. von MLS. 343

Erinnerung und Intersektionalität

che verschiedener Inhalte werden. Das ist ein eindeutiger Hinweis darauf, dass sie ab da im Begriff sind, ein Mythos zu werden. Diese Entwicklung wird sich in den folgenden Jahren vertiefen. 1996 jährte sich der Militärputsch zum zwanzigsten Mal. Die Gedächtnisfeiern, die sich fast durch den ganzen Monat März erstreckten, zeigten die tiefe gesellschaftliche Verankerung der Themen der MRO.407 In diesem Jahr des Booms der Erinnerung sollte eine frisch gegründete »Comisión por la Memoria, la Verdad y la Justicia« [Kommission für die Erinnerung, die Wahrheit und die Gerechtigkeit], in der die MRO – mit Ausnahme der Madres von Hebe de Bonafini – vertreten waren, die Veranstaltungen koordinieren. Der Kommission schlossen sich später rund 70 Gruppierungen wie Gewerkschaften, politische Parteien, Künstler, Studentenorganisationen und viele andere an.408 Die Comisión veröffentlichte eine »Öffentliche Erklärung«409, die einerseits die damals aktuelle wirtschaftliche Krise in einen Zusammenhang mit dem von der Diktatur instaurierten Wirtschaftsmodell stellte und andererseits eine Kontinuität des Kampfes und des Widerstandes postulierte410: »los compañeros en nuestro corazón/la lucha en nuestras manos/el futuro en nuestro pueblo«411 [die Kameraden in unseren Herzen/der Kampf in unseren Händen/die Zukunft in unserem Volk]. Die Berichterstattung am 24.03.1996 zeigte eine Massenkundgebung vom Vorabend, die mit einem Rockkonzert endete und eine große Präsenz jüngerer Menschen verzeichnete. Die Schlagzeile von La Nación lautete entsprechend: »Massive Ablehnung auf der Plaza de Mayo«.412 Am nächsten Tag wird die Schlagzeile »Eine Volksmasse verurteilte den letzten Militärputsch«413 die auf 50.000 bis 100.000 geschätzten anwesenden Menschen festhalten. Auf Seite 12 ihrer Ausgabe vom 24.03.1996 zeigte La Nación ein Foto von Hebe de Bonafini und Lucía García, Tochter von Desaparecidxs, während Clarín und Página/12 einen Auszug aus Lucías Rede abdruckten:

407 Lorenz, F., 2002, S. 89. 408 Ebd., S. 83. 409 Bei der Namensgebung erscheint es naheliegend, zu berücksichtigen, dass die »Erklärung« die bevorzugte Kommunikationsform des mexikanischen EZLN war, der ab 1993 aus Selva Lacandona in dieser Form die Meinung der Zapatisten kundgab. 410 La Nación, 1996c, S. 5. 411 Lorenz, F., 2002, S. 88. 412 La Nación, 1996a, S. 1. 413 La Nación, 1996b, S. 1. 344

Teil III – Staatsrepression und diskursiver Wandel Kameraden! Vor zwanzig Jahren haben sich die Militärs für uns, die Kinder derer, die sie verschwinden ließen und ermordeten, eine Zukunft in ihren Händen und mit ihren Ideen erdacht, wir waren ihr Sieg. Aber heute, zwanzig Jahre später, sind wir hier, gemeinsam; möge es Probleme bereiten, wem es Probleme bereitet, weil wir die Wahrheit auf unserer Seite haben. Wir sind stolz auf unsere alten Revolutionäre und wir geben unser Versprechen, bis zum Äußersten weiterzumachen für die Erinnerung und die Gerechtigkeit. Vor zwanzig Jahren, Kameraden, haben sich unsere Eltern für uns entschieden. Sie wussten, dass sie den Sieg nicht sehen würden, nicht das Land, das sie erbauten, aber sie wollten, dass wir es sehen. Kameraden! Wie könnten wir sie nicht rehabilitieren? Heute sind unsere Eltern auf diesem Platz lebendiger denn je, weil wir alle hier sind, die Mütter, die H.I.J.O.S., ihr, weil das Volk hier ist, das sich jeden Tag widersetzt. Denn Widerstand bedeutet Sieg, Kameraden: Sie haben uns nicht besiegt.414

Wie bereits erwähnt und hier klar erkennbar, nahmen die H.I.J.O.S. das Deutungsangebot der Madres von Hebe de Bonafini in Bezug auf eine kollektive revolutionäre Vergangenheit der Desaparecidxs an. Zeilen wie »Sie wussten, dass sie den Sieg nicht sehen würden, nicht das Land, das sie erbauten, aber sie wollten, dass wir es sehen« oder »Kameraden! Wie könnten wir sie nicht rehabilitieren?« machen auf emotionale Weise deutlich, wie sehr die schmerzhafte Abwesenheit der Desaparecidxs einen Deutungsraum öffnete, auf den aktuelle Inhalte projiziert wurden, und wie wichtig es für diese Generation ist, dem politischen Massenmord einen anderen Sinn zu geben. Die enorme Sehnsucht nach dem Leben der Eltern, nach den Menschen, die die Desaparecidxs vor ihrer Verschleppung und Ermordung waren, steht auch in den Worten der oben zitierten Hija Lucía García im Vordergrund. Während Hebe de Bonafini aus der Unmöglichkeit der Aufklärung der Verbrechen ein Mandat zur Vervollständigung von Lebensplänen ableitete und die herbeigesehnte Sozialrevolution zu ihrer Aufgabe machte, stellten die H.I.J.O.S. als Ziel der eigenen Bemühungen Gedenken an und Gerechtigkeit für die Eltern in den Vordergrund. Lucía García deutete die Präsenz der H.I.J.O.S. im öffentlichen Raum zu einem Sieg der Elterngeneration um; mit den H.I.J.O.S. in der Öffentlichkeit und dem Engagement junger Menschen in den MRO veränderte sich auch die Form des Gedenkens wesentlich. Das Rockkonzert am 23.03.1996 war ein erstes Zeichen dafür; ab diesem Zeitpunkt sollte die Stimmung auf der Plaza festlich sein. Hebe de Bonafini wird im Dezember, im Rahmen des 16. Widerstandsmarsches, betonen: 414 Zit. in Lorenz, F., 2002, S. 87, aus dem Span. von MLS. 345

Erinnerung und Intersektionalität

»[S]eit 20 Jahren bewohnen wir diesen Platz; zu Beginn war er ein Platz voller Schmerz, aber heute ist er ein Platz des Festes für denjenigen, der widersteht, der kämpft, der nicht aufgibt.«415 Auch Präsident Carlos Menem nahm 1996 am Gedächtnistag teil und erinnerte im Namen der argentinischen Regierung mit einer Rede an den letzten Militärputsch. Er nannte den Putschtag »Tag des Horrors«416 und Clarín zitierte am 25.03.1996 die Passage der Rede, in der der Präsident das Interpretationsmuster des Krieges erneut aufrief und von massiven Konfrontationen und schmutzigem Krieg sprach: »Der Horror war dauerhaft, eine massive Konfrontation, eine Art schmutziger Krieg, der unsere Erde mit dem Blut junger Argentinier getränkt hat.«417 Ein Bericht und eine Rezension in La Nación vom 24.03.1996 deuteten allerdings auf die umfassende gesellschaftliche Auseinandersetzung mit der Staatsrepression hin. In beiden Artikeln war von Genozid die Rede, dem Schlüssel für die Wiederaufnahme der Ermittlungen. Die Rezension der New York Times über die auf Englisch frisch erschienene Autobiographie des Holocaust-Überlebenden Elie Wiesel wurde für La Nación übersetzt und dort veröffentlicht418; Julio Crespo besprach in seinem Artikel »El genocidio y la conciencia del siglo XX« [Der Genozid und das Bewusstsein des 20. Jahrhunderts] die Zuständigkeit ausländischer Gerichte in Fällen von Genozid und machte darauf aufmerksam, dass bis zu jenem Zeitpunkt ausschließlich in Ruanda und Ex-Jugoslawien ein internationales Tribunal eingerichtet worden war.419 Der Artikel brachte Optionen für die ausstehende Gerichtsbarkeit zum politischen Massenmord in Argentinien ins Spiel. Am 24.03.1997 machte La Nación auf einen Fall von Korruption und Verdunkelung aufmerksam, der als ein Auswuchs der Straflosigkeit wahrgenommen wurde und das Land erschütterte: Der Fotoreporter José Luis Cabezas war am 25.01.1997 tot aufgefunden worden, nachdem seine Aufnahme des Drogenbosses Alfredo Yabrán und seiner Ehefrau auf dem Cover der Zeitschrift Noticias veröffentlicht worden war.420 Ein weites Netz von mafiaähnlichen Machenschaften, das Polizei, Drogenmilieu und Politiker verband und eine Zusammenarbeit bis in die Zeit der Diktatur zurückverfolgen ließ, soll im Hintergrund der Tat gestanden haben.421 Die Gedächtniskundgebung 1997 stand daher im Zeichen 415 416 417 418 419 420 421 346

Zit. in Vázquez u.a., 2007, S. 88. La Nación, 1996c, S. 5. Zit. in Lvovich /Bisquert, 2008, S. 66f. Merkin, 1996, o. S. Crespo, 1996, S. 10. La Nación, 1997, o. S. Campanari, 2013, o. S.

Teil III – Staatsrepression und diskursiver Wandel

der Tötung des Fotoreporters und in der Berichterstattung wurde die Relevanz dieses Verbrechens für die Menschenrechte im Wortlaut des Gesangs der Anwesenden vorgetragen: »Mafia es Menem, mafia es Duhalde, mafia es Yabrán, es la yuta y la justicia patronal…«422 [Mafia ist Menem, Mafia ist Duhalde, Mafia ist Yabrán, Mafia die Polizei und die Rechte der Arbeitgeber …]. Die Gegenwart stand im Visier des Dokuments »Basta de impunidad y represión« [Schluss mit Straflosigkeit und Repression], in dem die MRO eine Zunahme der Gewalt gegen Jugendliche und protestierende Arbeiter anprangerten.423 1998 wurde der Gedächtnistag von der Politik deutlich wahrgenommen und die Unterhausdebatte über die Straflosigkeitsgesetze fand genau an diesem Tag statt. Beantragt worden war, die Gesetze für nichtig zu erklären, aber erreicht wurde lediglich ihre Aussetzung. Über die Bedeutung der Maßnahme wurde spekuliert und sie wurde schon damals nur als Geste für bedeutsam gehalten, denn zunächst waren keine rechtlichen Folgen zu erwarten. Erst die Entscheidung des Bundesrichters Gabriel Cavallo am 06.03.2001, die Gesetze für nichtig zu erklären, eröffnete die Möglichkeit der Wiederaufnahme der Ermittlungen. Der Hauptartikel und die Titelseite der Zeitung Página/12 vom 24.03.1998 wurden von Lila Pastoriza geschrieben: Die Journalistin und ESMA-Überlebende beschreibt darin ihre Begegnung mit dem 14-jährigen Pablo Míguez Ende August 1977, der wie sie in »Capuchita« in der ESMA festgehalten wurde. Pablo – »dessen Ende sich in der Nacht und dem Nebel des Schweigens und der Straflosigkeit verliert« – war am 12.05.1977 mit seiner Mutter nach »El Vesubio« verschleppt und über Umwegen nach »Capuchita« und danach wahrscheinlich in die Unidad Penitenciaria Nº 9 verlegt worden.424 In den Mittelpunkt des Gedächtnistages stellte Página/12 die Fragen, die gesamtgesellschaftlich noch gestellt werden: »Über Pablo wurde nichts mehr bekannt. An Fragen fehlt es nicht: Wenn er tatsächlich dort war, warum wurde er nicht befreit? Gab es einen Gegenbefehl? Oder wurde er von der ESMA bereits in einem ihrer Flüge ›verlegt‹? Diese und weitere wichtige Fragen warten seit über 20 Jahren auf eine Antwort.«425 In seinem Kommentar zum 22. Jahrestag des Militärputsches widmete sich Horacio Verbitsky der Komplizenschaft der politischen Parteien an und während der Diktatur426, die an dem Tag auch Thema im Unterhaus war. Der Sprecher der Armee gab indessen an, die Institution sei von der Außer422 423 424 425 426

La Nación, 1997, o. S. Ebd. Pastoriza, 1998, o. S. Ebd. Verbitsky, 1998, o. S. 347

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kraftsetzung der Straflosigkeitsgesetze nicht tangiert: »Die Betroffenen, nicht wir, sollten über ihre Meinung bezüglich der Aufhebung der Gesetze befragt werden«427, und betonte, dass die FF.AA. sich in einer neuen Phase befänden, in der zwischen Institution und Menschenrechtsverbrechern deutlich unterschieden wird. Der Journalist Esteban Schmidt von Página/12 bezeichnete die Verbrechen als »abartige Verbrechen der letzten Diktatur« und den Gegenstand der Debatte als »Staatsterror«.428 Clarín sah im Putsch den Beginn »[einer] der blutigsten Phasen der argentinischen Geschichte«429 und veröffentlichte an diesem emblematischen Tag einen Bericht des spanischen Korrespondenten, der sich mit der Zuständigkeit des Richters der Audiencia Nacional, Baltasar Garzón, in den argentinischen Fällen von Menschenrechtsverletzungen befasste.430 Die Zeitung kommentierte die Absicht des damaligen Gouverneurs von Buenos Aires und Menem-Kontrahenten innerhalb des Justicialismo, Eduardo Duhalde, sich im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen vom Kurs des Vorsitzenden und der gesamten Partei politisch absetzen zu wollen, indem er die Intervention des spanischen Richters Baltasar Garzón begrüßte.431 Diese Absicht Duhaldes, junge Wählerkreise mit einer familiären Geschichte der Parteizugehörigkeit an den Justicialismo zu binden, wurde später auch Néstor Kirchner als strategisches Kalkül unterstellt. Bemerkenswert ist die Tatsache, dass Clarín in einem der drei Leitartikel vom 24.03.1998 auf die zunehmende Diskriminierung aufgrund der Gesundheit, der Herkunft und des Geschlechtes hinweist432. Damit wird nicht nur diese bedenkliche Entwicklung deutlich, sondern in steigendem Maße auch die Tatsache, dass der Gedächtnistag 24. März über die Plaza de Mayo hinaus als Konjunktur der Erinnerung wahrgenommen wird, indem die Gelegenheit zur Anprangerung offener Missstände genutzt und so an die abgrundtiefe Ungerechtigkeit des politischen Massenmordes erinnert wird. Eine Konjunktur, die inzwischen nicht mehr nur für die MRO relevant ist. Im Mittelpunkt des Gedächtnistages 1999 steht die Grundsteinlegung für das Denkmal für die Opfer des Staatsterrors in Costanera Norte am La-PlataFluss in Buenos Aires. Die Idee eines Denkmals war von Marcelo Brodsky aus der Gruppe Buena Memoria an die Stadträte von Buenos Aires herangetragen worden, doch bei der Grundsteinlegung bekundeten H.I.J.O.S., Asociación de 427 428 429 430 431 432 348

Schmidt, 1998b, o. S. Ebd. Clarín.com, 1998a, o. S. Algañaraz, 1998, o. S. Clarín.com, 1998b, o. S. Clarín, 1998c, o. S.

Teil III – Staatsrepression und diskursiver Wandel

Madres de Plaza de Mayo, Correpi (Corriente contra la Represión Policial e Institucional) und Ex Detenidos Desaparecidos por Razones Políticas ihre Missbilligung.433 Die Ablehnung wurde mit der Angst begründet, mit dem Monument zu einer »Versteinerung« der Erinnerung beizutragen, während die konkreten Schicksale der Menschen zum größten Teil noch ungeklärt waren. Diese Position wurde von der Asociación de Madres seit 1984 vertreten und war damals einer der Gründe für die Spaltung der Madres. Die mit dem Monument beauftragte Kommission aus Vertretern der Regierung, des Parlaments und der MRO hatte intern auch Schwierigkeiten bei der Konsensfindung über die Art und Weise, wie erinnert werden sollte. Der Vorschlag für eine Hinweistafel »Hier wird das Monument zum Gedenken an die Opfer des Staatsterrors errichtet als Anerkennung ihrer Kämpfe und ihrer Überzeugungen« war hinsichtlich der Bezeichnung »Staatsterror« konsensfähig, doch über den Aspekt der Geltendmachung der Kämpfe und Ideale der Opfer wurde so sehr gestritten, dass am Schluss ganz auf eine Tafel verzichtet wurde.434 Die in Página/12 zitierte Begründung der Notwendigkeit eines Monuments bezog sich daher direkt auf die Bedenkenträger, wie die Worte von Mabel Gutiérrez, Mitglied von Familiares de Detenidos Desaparecidos, erkennen lassen: »Das Monument wird nicht erbaut, um irgendjemandes Tod anzuzeigen oder um den Kampf für Gerechtigkeit einzufrieren, der ein Kampf für die Bestrafung der Genozidverbrecher ist und sein wird. Es wird errichtet, damit jeder weiß, dass unsere Vergangenheit unserer Gegenwart Wunden zufügt.«435 An jenem Tag befassten sich die Zeitungen auch mit der Entscheidung der englischen Lords über die Fortsetzung der Haft von General Augusto Pinochet, der aufgrund des Antrags von Richter Baltasar Garzón in England inhaftiert war. Die Frage war deswegen für Argentinien extrem relevant, weil die Justiz unter Carlos Menem bisher alle Ersuchen von Richter Garzón abgewiesen und der Präsident noch im Oktober 1998 seine Ablehnung einer Untersuchung der Menschenrechtsverletzungen der chilenischen Regierung unter General Pinochet durch außerterritoriale Gerichte erklärt hatte.436 Menems Menschenrechtspolitik wird ab dem 10.12.1999 von seinem in freien Wahlen bestimmten Nachfolger Fernando de La Rúa weiterverfolgt und mit dem Dekret 1581/01 sogar gesetzlich verankert. Im Vorfeld hatten sich Menschenrechtler_ innen von einem Regierungswechsel viel versprochen, da de la Rúa der Kandidat der Alianza war, einer Koalition seiner Partei (UCR) mit dem linken Frente 433 434 435 436

Página /12, 1999a, o. S. Página /12, 1999b, o. S. Ebd. Algañaraz, 1998, o. S. 349

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País Solidario (Frepaso), bei der u.a. die anerkannte Menschenrechtsaktivistin Graciela Fernández Meijide die Menschenrechtspolitik (sowie die Korruption und die Wirtschaftspolitik) der Regierung Menem anprangerte. Doch die Alianza schwieg und setzte diese Politiken fort. Der von Frepaso gestellte Vizepräsident Carlos Álvarez verdächtigte bald die Regierung de la Rúa der Korruption und gab sein Amt auf.437 Die Vergangenheit galt damals als verriegelt.438 Erst im Juli 2003 wird Néstor Kirchner die Hürden des Dekrets 1581/01 durch eine Präsidentenentscheidung beiseiteräumen.439 Das Schlüsselwort in der Berichterstattung am Gedächtnistag 1999 war auf jeden Fall »escrache«, das zunächst noch mit Anführungszeichen verwendet wurde.440 An den Militärputsch wurde am 24.03. in den drei hier berücksichtigten Zeitungen unterschiedlich erinnert. Clarín berichtete sehr knapp über die Etablierung des Erinnerungstages in den Schulcurricula der Hauptstadt und der Provinz von Buenos Aires (aber am folgenden Tag ausführlich) und erwähnte die Grundsteinlegung nur kurz. Auffällig war die Berichterstattung am 25.03.: Neben den Kundgebungen zur Ablehnung der Militärdiktatur ging es um die Absetzung von Isabel Perón und die Tatsache, dass die CONADEP (nur) 10.000 Desaparecidxs registriert hatte. La Nación erinnerte den Grund für den Gedächtnistag als abruptes Ende der Regierung von Isabel Perón, erwähnte die Militärdiktatur jedoch mit keinem Wort. Mit Bezug auf Menems Ansprache fand sich ein in der Berichterstattung inzwischen selten gewordenes Wort: »Er hat auch die Begnadigung von Militärs und Subversiven verteidigt.«441 In seinem Rückblick hielt der Präsident immer noch an der gewohnten Gleichung fest und relativierte damit die Verbrechen: »[Ich begleitete] die Angehörigen der Terroropfer jener Zeit in ihrem Schmerz, welcher Fahne oder Gruppierung die Opfer auch angehört haben. Der Terror kommt weder von rechts noch von links.«442 Die Verabschiedung des Gesetzes zum 24. März als »Día Nacional de la Memoria y del Nunca Más« [Nationalgedenktag der Erinnerung und des Nie Wieder] durch die Parlamentarier der unteren Kammer wird in einem Nebensatz erwähnt. Die Tageszeitung Página/12 berichtet erneut ausführlich über die Hintergründe des Gedächtnistages und bietet in diesem Jahr eine von der Menschenrechtsanwältin Mirta Mántaras verfasste Sonderbeila-

437 La Nación, 2000c, o. S. 438 Lvovich /Bisquert, 2008, S. 67. 439 Hauser, 2003, o. S. 440 Clarín.com, 1999b, o. S.; Página /12, 1999a, o. S.; keine Erwähnung in La Nación. 441 La Nación, 1999, o. S., Hervorh. von V. A. 442 Ebd. 350

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ge443 an. An der so unterschiedlichen Berichterstattung im Jahr 1999 lässt sich ablesen, dass in der Frage des Gedächtnisses die Menschen Welten trennten. Dem Gedächtnistag 2000 widmet La Nación am Tag selbst keinen Artikel. Am Vortag hatte sich ein Artikel mit dem verabschiedeten General Martín Balza beschäftigt, der in einer Befragung durch Richter Adolfo Bagnasco bestätigte, dass der Kinderraub in Campo de Mayo nach seinem Wissen Teil eines Plans war und gewiss mit Kenntnis der Befehlshaber vor Ort, Santiago Omar Riveros und Domingo A. Bussi, stattgefunden hatte. Am Ende des Artikels wurde sachlich, aber knapp über den Gedächtnistag informiert und angegeben, dass die Kommandanten im Dezember 1985 verurteilt und vom Militär abgesetzt worden waren, in einer Geste, die den Eindruck eines abgeschlossenen Kapitels bestätigen sollte. »Allgemeine Verurteilung der antisubversiven Repression« betitelt La Nación einen Tag später den sachlichen Bericht über die Massenkundgebung gegen die Militärdiktatur vom Vortag und lässt durch die Überschrift immer noch deutlich die diskursive Spur der Ausgrenzung gelten. In der Berichterstattung trat in den Worten des Gewerkschaftlers Hugo Moyano das wirtschaftlich betonte Deutungsmodell für die Staatsrepression hervor, als er einmal mehr eine Kontinuität sowohl ihrer Schattenseite (durch den aktuellen neoliberalen Wirtschaftsplan) als auch des Widerstandes gegen sie herstellt: »Ziel des [Militär-]Putsches war es, ein neues Modell wirtschaftlicher Abhängigkeit aufzuzwingen, ähnlich dem, das Argentinien aktuell erlebt. Unsere beste Hommage an die 30.000 Verschwundenen ist die Fortsetzung des Kampfes gegen dieses ungerechte Modell, das für Arbeiter Hunger bedeutet.«444 In Página/12 gibt es am 24.03.2000 eine Sonderbeilage mit mehreren Beiträgen zum Gedächtnistag und einer langen Liste mit Aktivitäten und Kundgebungen. Ein Video, in dem der Asociación de Madres de Plaza de Mayo als Hommage zu ihrem 20-jährigen Bestehen Gedichte vorgetragen wurden, war ebenfalls beigelegt.445 20.000 mehrheitlich junge Menschen sollen nach den Informationen von Página/12 am 25.03.2000 die Gedächtniskundgebung vom 24. März besucht haben. Wie gewohnt hatten alle MRO außer den Madres von Hebe (die für den Nachmittag eine politische Demonstration am Obelisk organisierten und die Anstiftung der Putschisten durch die Parteien akribisch durch Zeitungsartikel darlegten) dazu aufgerufen.446 Neu ab diesem Jahr war eine 80 Meter lange Fahne mit den Bildern von 2.000 Desaparecidxs, die von der Menschenmenge getra443 444 445 446

Mántaras, 1999, o. S. La Nación, 2000b, o. S. Bonasso, 2000, o. S.; Bruschtein, Luis, 2000, o. S.; Viau, 2000, o. S. Yapur, 2000, o. S. 351

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gen wurde. Das Motto der Abendkundgebung fasste die Themen zusammen, die nach 100 Tagen der neuen Regierung der Alianza bereits politische Kontinuität vermuten ließen: »Otro gobierno, la misma impunidad. Cárcel a los genocidas y sus cómplices. No a las leyes de mano dura. No a la reforma laboral«447 [Eine andere Regierung, dieselbe Straflosigkeit. Gefängnis für die Völkermörder und ihre Komplizen. Nein zu den Gesetzen des harten Durchgreifens. Nein zur Änderung des Arbeitsrechts]. Hebe de Bonafinis Mütter werden dieses Jahr beim 19. Widerstandsmarsch im Dezember mit Losungsworten mit eindeutigem Gegenwartsbezug auftreten: »El futuro llegó… ayúdennos a cambiarlo«448 [Die Zukunft ist da … Helft uns, sie zu verändern]; die Aktualität des Engagements der Asociación de Madres wurde von Hebe bereits in der Kundgebung vom 24. März mit mächtiger Stimme vorgetragen: »Wir lieben sie, wir träumen von ihnen, wir halten unsere Kinder als Revolutionäre hoch. Wir werden sie nicht sterben lassen, weil wir sie alle in uns tragen und weil sie uns auf dem Weg zur Freiheit unverhüllt und unvermindert inspirieren und begleiten.«449 In diesem »sie nicht sterben lassen« wird einmal mehr deutlich zusammengefasst, wie sehr die Mütter rund 25 Jahre nach deren Verschleppung noch immer um ihre Kinder trauern; die Madres von Hebe konstruieren aus den Desaparecidxs entsprechend das Bild von ewig lebenden revolutionären Helden. 30.000 Menschen, so der Bericht von La Nación, hatten das Musikfestival der Madres Línea Fundadora im Fußballstadion besucht, mit dem sie am Vorabend die Gedächtnisakte zum 25. Jahrestag des Militärputsches eingeläutet hatten.450 Die MRO starteten eine Kampagne, die zwei Schlüsselkonzepte des Gedächtnisses zu ihrem Motto machte: »Terrorismo de Estado/Nunca Más« [Staatsterror/Nie wieder!].451 Clarín informierte dieses Jahr auch über die Hintergründe des Putsches und bezog in der Überschrift deutlich Position: »Eine Nacht, die 2.818 Tage dauerte«.452 Auch La Nación wagte einen sachlichen und angemessenen Rückblick und gab gleichzeitig den Militärs Gelegenheit, ihre aktuelle Position zu erläutern. Generalleutnant Juan Carlos Mugnolo gab an, die FF.AA. ständen seit 18 Jahren grundlos unter Verdacht, und brachte eine andere Konjunktur für das Gedächtnis des 24. März innerhalb der FF.AA. aufs Tapet: »Wir erinnern uns daran, wie wir umgebracht wurden, an die Angst, die 447 448 449 450 451 452 352

Ginzberg, 2000, o. S. Vázquez u.a., 2007, S. 109. Yapur, 2000, o. S., Hervorh. von V. A. La Nación, 2001, o. S. Ginzberg, 2001, o. S. Clarín.com, 2001a, o. S.

Teil III – Staatsrepression und diskursiver Wandel

wir um unsere Kinder hatten.«453 Am folgenden Tag, neben der Berichterstattung zur Kundgebung, führte La Nación interessante Daten an: Beschuldigte Menschenrechtsverbrecher waren inzwischen nur noch in Argentinien vor ihrer Auslieferung sicher, die von Gerichten in Spanien, Italien, Frankreich, Deutschland, der Schweiz und den USA für Verbrechen wie Folter, erzwungenes Verschwinden und Genozid gefordert wurde, während Israel eine parlamentarische Sonderkommission zur Klärung des Verbleibs von 200 jüdischen Desaparecidxs gegründet hatte.454 Die Kundgebung am Abend des 24.03.2001 gehörte mit zwischen 50.000 und 100.000 Adhärenten auf der Plaza de Mayo zu den bis dorthin am besten besuchten. Antworten auf die Frage, warum die Veranstaltungen der Madres und der MRO in diesem Jahr so viele Menschen ansprachen, ließen sich in vielen Zeitungsinterviews lesen, zwei davon seien hier beispielhaft erwähnt: Eine junge Frau gab an, die Stimmung im Alltag sei wirklich miserabel und sie käme zur Kundgebung, um Menschen mit etwas Würde zu treffen und daraus Mut zu schöpfen455; ein Mann im Alter der Verschleppten sagte, er sei tief bewegt, wenn die Namen der Desaparecidxs öffentlich ausgesprochen werden und er die hochbetagten, aber unaufhörlich kämpfenden Mütter von der Plaza de Mayo reden hört (»Mir kommen jedes Mal die Tränen, wenn die Namen der Verschwundenen aufgerufen werden und mit ›Anwesend!‹ geantwortet wird, weil ich sie mir hier vorstelle, wie sie mit uns singen, oder wenn ich manche der Mütter sprechen höre, die schon so alt sind und nicht aufgeben«456). Vergangenheit und Gegenwart standen bei diesen Kundgebungen in engem Bezug zueinander. Hinter der Bühne hatten die Veranstalter ein Transparent platziert, das die aktuelle Lektüre der Vergangenheit, den engen Zusammenhang zwischen vergangenen Menschenrechtsverletzungen und gegenwärtiger wirtschaftlicher Krise, illustrierte: »Die Wirtschaftsmacht und die jeweiligen Regierungen sind Garanten dafür, dass der unbestrafte Genozid der Vergangenheit im heutigen Genozid fortgesetzt wird. Schluss mit dem Hunger, dem Ausverkauf, der Arbeitslosigkeit und der Unterdrückung. Schluss mit der Straflosigkeit.«457 Nach Ansicht der MRO und – wie anzunehmen – der adhärierenden Menschenmenge setzten sich die ungesühnten Verbrechen der Staatsrepression (»der unbestrafte Genozid der Vergangenheit«) in der Weise in der Gegenwart (»im heutigen Genozid«) fort, 453 454 455 456 457

Zit. in Gallo, 2001, o. S. Zommer, 2001, o. S. Aussage von Julieta Risso, zit. in Casciero/D’Addario, 2001, o. S. Aussage von Cristian Sayegh, zit. in Ebd. Gutma /Szvalb, 2001, o. S. 353

Erinnerung und Intersektionalität

dass Menschenleben massiv verachtet und zerstört wurden. Die Anklage der MRO richtete sich 2001 gleichzeitig gegen das Vergessen vergangener Verbrechen gegen die Menschlichkeit und gegen aktuelle Wirtschaftsmaßnahmen, die das nackte Leben vieler betrafen und die in den Zentren entschieden und durch die Regierungen der Peripherie angewendet wurden.458 Zwei weitere Nachrichten waren in diesen zwei Tagen relevant: die Entlassung von Mitgliedern der Polizeispitze im Norden der Hauptstadt, die dem seit 1998 in der öffentlichen Wahrnehmung sehr präsenten Thema der Sicherheit, des »gatillo fácil« [schneller Abzugsfinger], und der Korruption Rechnung trug459, und die erneute Ernennung von Domingo Cavallo zum Wirtschaftsminister. Der damalige Minister von Carlos Menem und Autor des »Konvertibilitätsplans« versprach, mit dem »Gesetz zur Wettbewerbsfähigkeit« das Rezept aus der Rezession und der tiefen Wirtschaftskrise zu kennen.460 Als im Dezember 2001 das mit dem IWF vereinbarte Haushaltsziel unerreicht blieb, griff Cavallo zu einer Extremmaßnahme: zum »corralito« – Spar- und Girokonten wurden eingefroren, um den Bargeldumlauf zu beschränken, panischen Dollareinkäufen vorzubeugen und die Kapitalflucht zu bremsen. Diese Maßnahme markierte den Zusammenbruch des Finanzsystems und das Ende der Glaubwürdigkeit des argentinischen Staates, auch in den Augen der Bürgerinnen und Bürger. Der Sozialprotest sollte massiv werden und sich landesweit erstrecken. Der »wichtigste Ausdruck zivilen Ungehorsams der letzten 50 Jahre in der Stadt von Buenos Aires«461 trug jedoch trotz seiner Tragik die Hoffnung auf einen »unpolitischen«462 Neuanfang in sich, wie Sandra Russo zusammenfasst: Erstaunt über sich selbst, erstaunt, so viele zu sein, so eins zu sein mit der harmlosen, aber ohrenbetäubenden Waffe ihrer Gabeln und Topfdeckel, erstaunt über ihre Zugehörigkeit, jetzt ja, endlich, zu nichts mehr und nichts weniger als zu einem Volk, das »Schluss!« gesagt hat, zu einem Volk, das die Revolution atmet, das sich von den Dieben, den Scharlatanen, den Schurken befreit. Ein Volk, das genug hat von den kleineren Übeln. Denn mit dieser Geschichte tun sie uns seit Jahren Gewalt an. Diese spontanen Menschenmengen, die sich über das ganze Land ergießen, sind immer noch von ihrer eigenen Magie überrascht: Ohne Abzeichen, ohne Flaggen, ohne Anführer, 458 459 460 461 462 354

Vgl. u. v.a. Sanchís, 2011, S. 32-44. Clarín, 2001b, o. S. Cortina, 2001, o. S Bruschtein, Luis, 2001b, o. S. Murillo, 2008, S. 97f.

Teil III – Staatsrepression und diskursiver Wandel nur mit dieser ohrenbetäubenden Präsenz auf der Straße bildete sich allmählich das Wort »wir« heraus. Wenn wir uns retten, dann weil wir »wir« sagen.463

In diesem kurzen Abschnitt manifestierte sich die Wahrnehmung eines vorhandenen mehrheitlichen »nosotros/wir« gegenüber einer als abgehoben und entfremdet angesehenen Politikerklasse. Die von der demokratischen Regierung angeordnete Repression des Volksaufstandes (Argentinazo) hinterlässt 26 Tote und Hunderte von Verletzten. Die Wirtschaftskrise wird Mitte 2002 ihren Höhepunkt erreichen. »Abertausende« nach Página/12464, »etwa 3.000 Menschen« bei La Naci465 ón bzw. undefinierte »Tausende« bei Clarín466 waren am 24.03.2002 dem Ruf der MRO gefolgt und hatten auf der Plaza de Mayo in einem Klima des allgemeinen Sozialprotestes an den Militärputsch von 1976 erinnert. Die Worte »Genozid« und »neue Verschwundene« standen im Krisenjahr 2002 als Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart bereits in der Einladung zu den Kundgebungen durch die Dozentengewerkschaft CTERA: »Dieser Genozid war die Initialzündung und die Triebfeder für die Umsetzung eines sozialen und wirtschaftlichen Modells, das heute noch gültig ist und die neuen ›Verschwundenen‹ in Argentinien zur Folge hat: 15 Millionen Bürger unterhalb der Armutsgrenze, ohne Gegenwart und ohne Zukunft.«467 Zwischen 1999 und 2002 sind Unzählige zu »neuen Armen« geworden und ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung stieg in dieser Zeit von 23,7 auf 45,4 %468, was bei einer Bevölkerung von 36,2 Mio. Mitte November 2001469 mehr als 16 Mio. Menschen bedeutete. Inmitten dieses desolaten Krisenumfelds hatten die Streitkräfte eine neue Aufgabe gefunden, und die Armee unterstützte die Caritas bei der Verteilung von Lebensmitteln in der Flussstadt Concordia. Neben vielen solidarischen Maßnahmen wie der Gründung von Nachbarschaftsversammlungen und Tauschbörsen hatte die Krise jedoch ein raues gesellschaftliches Klima und ein hartes repressives Vorgehen der Polizei etabliert, bei dem z.B. die sog. kriminellen Straßenkinder (»pibes chorros«) von der Polizei der Provinz von Buenos Aires so hart verfolgt und 463 464 465 466 467 468 469

Russo, 2001, o. S., aus dem Span. von MLS. Ginzberg, 2002, o. S. La Nación, 2002, o. S. Fernández Moores, 2002, o. S. Colombo, 2002, o. S. Crocoll/Steiner, 2009, S. 5. INDEC, 2001, o. S. 355

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bestraft werden durften, dass bei Gewaltexzessen seitens der Polizisten im Zeitraum 2001/2002 erwiesenermaßen 60 Kinder und Teenager hingerichtet wurden – ohne strafrechtliche Folgen.470 Die Berichterstattung wird am 24.03.2002 mit der Wiedergabe des von der Schauspielerin Cecilia Rosetto während der Kundgebung vorgetragenen Textes der MRO zum ersten Mal die Tatsache der massiven Vergewaltigungen während der Diktatur enthalten. Die Vergewaltigungen werden neben Folter und Tod bezeichnenderweise in einem Atemzug mit der aktuellen Verletzung des Rechts auf menschenwürdige Lebensbedingungen genannt, während einmal mehr eine Parallele zwischen der Gewalt der Vernichtung und der Gewalt existentieller Not hergestellt wird: »[Wir müssen] dafür kämpfen, dass die Folterer, Mörder und Vergewaltiger des ›Prozesses‹ da sind, wo sie hingehören, und ebenso diejenigen, die für Verstöße gegen das Recht eines jeden Menschen auf würdige Lebensbedingungen verantwortlich sind.«471 Im ganzen Land gab es an diesem Gedenktag zahlreiche Aktivitäten, in Buenos Aires liefen Nachbarschaftsgruppen mit Fackeln durch die Straßen, machten »escraches« und bemalten Wände.472 In der Berichterstattung tauchte in La Nación diesmal auch das Wort »escrache« (mit Anführungszeichen) auf, um über die Aktion der MRO vor der ESMA zu berichten, mit der bereits am Morgen die Aktivitäten des Tages begannen. La Nación veröffentlichte die Worte von Hebe de Bonafini, mit denen sie inzwischen den Guerillakampf verteidigte: »Hier sind wir und bejahen den Kampf unserer über alles geliebten Guerilleros, unserer Kinder, der vielen Tausend, die in ganz Lateinamerika kämpfen, wie es die Kameraden der FARC tun. Ein Hoch auf die Kameraden der FARC, die für ihr Kolumbien kämpfen.«473 Lvovich und Bisquert behaupten indessen, dass die revolutionäre Vergangenheit der Desaparecidxs von einigen Sprechern der MRO zu einer Grundsatzhaltung avanciert war, die keine abweichenden Meinungen tolerierte bzw. diese mit dem Verhalten der Menschenrechtsverbrecher gleichsetzte.474 Die Parolen zum 27. Jahrestag des Militärputsches brachten das Gedenken an die Staatsrepression, die inzwischen bekannten Klagen über die Folgen der Wirtschaftskrise und den damals brandneuen Anlass des Irak-Kriegs zusammen. Die Veranstalter zogen einen weiten Bogen, als sie vom lokalen Bezugspunkt der Repression und der Straflosigkeit über die Armut bis hin zum Einmarsch 470 471 472 473 474 356

Dillon, 2002, o. S. Página /12, 2002, S. 1. Fuertes, 2002, o. S. La Nación, 2002, o. S. Lvovich /Bisquert, 2008, S. 74.

Teil III – Staatsrepression und diskursiver Wandel

der amerikanischen und britischen Truppen im Irak einen globalen Bezugspunkt fanden. Tausende von Menschen aus unterschiedlichen sozialen und politischen Gruppierungen, aber auch unabhängige Personen bildeten am 24.03.2003 einen Demonstrationszug, der 12 Blocks entlang der mehrspurigen Avenida de Mayo umfasste und ein »ausgesprochen festliches Klima« hatte.475 Neben dem auf einem 250 Meter langen Banner mit den Fotos von 4.000 Desaparecidxs zusammengefassten Appell hatten die Demonstranten eine ganze Bandbreite von Forderungen auf ihre Transparente geschrieben: »Anulación de las leyes de Obediencia Debida y Punto Final y de los decretos de Indulto. Restitución de la Identidad a los 500 jóvenes apropiados por el terrorismo de Estado. El pueblo se une en la lucha y dice: Basta de impunidad, hambre y represión. No a la guerra imperialista contra Irak«476 [Aufhebung des Gesetzes über die Gehorsamspflicht und des Schlussstrichgesetzes sowie der Straferlassverordnungen. Wiederherstellung der [familiären] Identität der 500 jungen Menschen, die der Staatsterror geraubt hat. Das Volk vereint sich im Kampf und sagt: Schluss mit der Straflosigkeit, dem Hunger und der Repression. Nein zum imperialistischen Krieg gegen den Irak]. Die Ankündigungen zu den Aktivitäten am Gedächtnistag wurden in allen drei hier berücksichtigten Zeitungen in ähnlichem Wortlaut vorgenommen, wenn auch Página/12 ausführlicher berichtete.477 Die Berichterstattung in La Nación am Tag danach zeigte diesmal die Divergenz bei der Zahl der Demonstranten zwischen Veranstalter (100.000 Menschen) und Polizei (10.000 Menschen).478 Auch Lucio Fernández Moores von Clarín machte darauf aufmerksam und schätzte die Teilnehmer am als »zahlenstark und bunt« bezeichneten Aufmarsch auf 30.000.479 Victoria Ginzberg und Miguel Bonasso von Página/12 brachten die antihegemonische Kritik der MRO an diesem Krieg und die Einschätzung, um die es vielen am 27. Gedächtnistag ging, auf den Punkt: Zwischen der vergangenen Hinterhofpolitik der USA gegenüber Argentinien und dem gegenwärtigen Krieg im Irak bestehen Parallelen.480 »Staatsterror« und »Genozid« lauteten 2003 die gängigen Bezeichnungen für die Repression durch den argentinischen Staat während der letzten Militärdiktatur.

475 476 477 478 479 480

Sued, 2003, o. S. Vázquez u.a., 2007, S. 109. Página /12, 2003, o. S.; Clarín.com, 2003a, o. S.; La Nación, 2003, o. S. Obarrio, 2003, o. S. Fernández Moores, 2003, o. S. Ginzberg, 2003, o. S.; Bonasso, 2003, o. S. 357

Erinnerung und Intersektionalität

2) Die Presseberichterstattung über den 24. März Bewusst ausgesucht und naheliegend gewählt wurde also der 24. März von Präsident Néstor Kirchner, um dem symbolischen Charakter zweier Akte Nachdruck zu verleihen: das Abnehmen der in der Ahnengalerie der Militärschule von Campo de Mayo noch hängenden Portraits von Jorge R. Videla und Reynaldo Bignone und die Übergabe der ESMA an die Stadt von Buenos Aires, mit der Auflage, auf dem 17 Hektar umfassenden Gelände eine Gedenkstätte zu errichten. Am 28. Jahrestag des Militärputsches sollte sich eine Wende in der Menschenrechtspolitik des argentinischen Staates vollziehen. Die symbolischen Gesten Kirchners waren für seine eigene Partei, den Justicialismo (PJ), eine Zäsur. Die Zeitungen informieren bereits im Vorfeld der Ereignisse über den ausdrücklichen Wunsch der MRO und Kirchners selbst, dass einige PJ-Gouverneure – als personae non gratae angesehen – den Aktivitäten fernbleiben, und deuten das als Krise zwischen Kirchner und seiner Partei.481 Entsprechend werden die bekannten Argumente für das Vergessen u.a. von der Abgeordneten Hilda Duhalde, der Ehefrau von Kirchners Vorgänger und innerparteilichem Gegner Eduardo Duhalde, vorgetragen. Die Abgeordnete betont die Notwendigkeit einer zukunftsorientierten Perspektive: »[Es ist an der Zeit,] dieses Kapitel der Geschichte zu schließen und nach vorne zu blicken.«482 Der Journalist Walter Curia wird am Ende seines Berichtes über den Gedächtnistag in der Tageszeitung Clarín dieser Meinung widersprechen: »Nach fast dreißig Jahren sind die Wunden noch immer offen.«483 Diese zwei Aussagen fassen die Positionen zusammen, die neben politischer Konvenienz auf der einen Seite und familiärbiographischer bzw. humanitärer Forderung nach Wahrheit und Gerechtigkeit auf der anderen Seite auch die zwei grundverschiedenen Haltungen im Umgang mit der Vergangenheit untermauern, die für diese langen Jahre symptomatisch waren. Das Vergessen und die Straflosigkeit werden 2004 jedoch mit den gravierenden Folgen von Korruption und Willkür sowie mit dem verlorenen Vertrauen der Argentinier_innen in ihre Institutionen und Politiker in Zusammenhang gebracht. Darauf nimmt Néstor Kirchner Bezug und markiert einen konsequenten Neuanfang in Argentiniens Politik der Menschenrechte. Die MRO werden dabei zum wichtigen Partner und die Madres de Plaza de Mayo von Hebe de Bonafini484 sollten in Kirchner einen respektvollen und offenen Ansprechpartner 481 482 483 484

358

La Nación, 2004, o. S.; Clarín.com, 2004, o. S. Zit. in Serra, 2004, o. S. Curia, 2004, o. S. Anlässlich Kirchners Tods ließ Hebe am 28.10.2010 einen Brief an ihn veröffentlichen, in dem sie ihn mit »mein Sohn« anredete: »Als du in mein Leben getreten

Teil III – Staatsrepression und diskursiver Wandel

finden. Néstor Kirchner, der sich seit dem Jurastudium in La Plata beim Peronismus engagierte und trotz seiner zahlreichen Ämter in und für Santa Cruz kein Profil auf nationaler Ebene hatte, hatte bei den Wahlen am 27.04.2003 nur 22,24 % der abgegebenen Stimmen erhalten; er kam an die Regierung, nachdem sein ebenfalls aus dem Justicialismo stammender Kontrahent Carlos Menem einer als sicher geltenden Wahlschlappe bei der Ballotage auswich und ihm damit den Weg ins Präsidentenamt ebnete. Die Suche nach Partnerschaften bei relevanten politischen Akteuren und die Abgrenzungen innerhalb der Partei waren für den neugewählten Präsidenten – über seine damals vielleicht nicht so bekannten bzw. erprobten Überzeugungen in Sachen Menschenrechte hinaus – strategisch wichtig. Die ausgeladenen peronistischen Gäste an diesem 24. März waren mächtige Landesfürste, wie bis vor kurzem der Präsident selbst, denen angelastet wurde, sich gegen die Militärdiktatur nicht ausreichend abgegrenzt zu haben. An der ersten Veranstaltung des Tages sollten allerdings weitere Kritiker aus den Reihen der FF.AA. Anstoß nehmen. Generalleutnant Roberto Bendini führte mit versteinerter Miene den Befehl des Präsidenten aus, die Portraits der Junta-Kommandanten485 und ehemaligen Lehrer der Militärschule abzuhängen.486 An der Veranstaltung hatten das ganze Kabinett Kirchners, aber auch 27 Generäle und 5 Oberste sowie die Kadetten teilgenommen. Kirchner traf eine bedeutsame Wortwahl, als er sich auf den Putsch bezog: »Nunca más tiene que volver a subvertirse el orden institucional«487 [Nie wieder soll die institutionelle Ordnung subversiv unterwandert werden]. Dabei verwendete er die Schlussworte des Plädoyers von Staatsanwalt Jorge Strassera bei den Verfahren gegen die Militärjuntas und die so lange Jahre von den MRO hochgehaltene Mahnung »Nunca más«. Dazu knüpfte er mit dem Verb »subvertir« an die für den Diskurs der Militärdiktatur höchst repräsentative Wortgruppe »subversión« an, um eine semantische Verschiebung in der historischen Perspektive vorzunehmen und den FF.AA. anzulasten, sie hätten mit der letzten Diktatur »Subversion« bist, kehrte die Freude zurück; ich fühlte mich stärker, begleitet, verstanden und respektiert« (La R azón, 2010, o. S., aus dem Span. von MLS). Sie schloss so den Kreis, den Kirchner mit seiner Rede vor der UN am 25.09.2003 geöffnet hatte: »Wir sind die Kinder der Mütter und der Großmütter der Plaza de Mayo« (K irchner, 2003, o. S.). 485 Eine Woche vorher war das Portrait von Jorge R. Videla aus dem Ehrenraum der Militärschule von Unbekannten entfernt worden und musste für den 24. März durch eine vergrößerte Fotografie ersetzt werden. 486 Veiras, 2004a, o. S.; Gallo, 2004, o. S. 487 Gallo, 2004, o. S., Hervorh. von V. A. 359

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betrieben. Diese Aussage ist ebenfalls im folgenden Satz enthalten, der auch die Deutung der letzten Militärdiktatur als »Staatsterror« durch das Staatsoberhaupt festhält: »Zum Staatsterror befähigt nichts und am wenigsten die Verwendung der Streitkräfte.«488 Beobachter interpretierten die Stellungnahme des Präsidenten als die Absicht, seine Version der Vergangenheit zur offiziellen zu machen und seine Ablehnung der bisher von der Regierung vertretenen Zwei-DämonenDichotomie deutlich zu zeigen.489 Diese diskursive Intervention geschieht nicht zufällig, denn der postdiktatorische Kausalitäts- und Untermauerungsdiskurs der Repression bestand, wenn auch nuanciert, nach wie vor, wie der Kommentar von Joaquín Morales Solá in der Zeitung La Nación zeigt. Der Journalist betont: »Der Staatsterror zerstört die letzte Grenze zwischen Zivilisation und Barbarei«, bemüht jedoch für den Blick auf die Vergangenheit die strapazierte Metapher der zwei Dämonen: »Es war, das sollten wir zugeben, eine Geschichte, die durch das Scheitern der Politik gekennzeichnet war und dadurch, dass die Gesellschaft zur Geisel bewaffneter Gruppen wurde, die sich ohne Maß und ohne Gesetz feindlich gegenüberstanden«, um dem Präsidenten schließlich vorzuwerfen, Anhänger der Ideologie der 70er Jahre zu sein (des sog. »setentismo«): »[D]ie Nostalgie nach den Siebzigern ist weder gut noch schlecht, sie ist hoffnungslos veraltet.«490 Kirchners Positionierung wurde innerhalb der Armee teilweise als unnötig und erniedrigend empfunden und zwei Generäle und ein Oberst verlangten daraufhin ihre Ablösung.491 Doch die Geste selbst fand außerhalb der Militärinstitution eine ganz andere Resonanz, wie weiter unten ausgeführt wird. Zukunftsweisend für die Menschenrechtspolitik Kirchners wird eine Aussage sein, die der Präsident als Programm artikulierte und die von den Beobachtern an jenem Tag wenig Aufmerksamkeit erhielt: »[I]ch bin überzeugt, dass unsere Armee zu dieser Entwicklung beitragen wird, um der Hölle zu entkommen und wieder an ihr Erbe von José de San Martín anzuknüpfen.«492 Seinem Statement nach vertrat Präsident Néstor Kirchner an jenem 24. März 2004 die Überzeugung, die Armee verharre noch in einer Vergangenheit, die er als »Hölle« (und die Militärs als Dämonen?) wertete, als einen Ort, aus dem die Institution noch nicht herausgefunden hatte. Warum die Unterstützung der FF.AA. in diesem Prozess zur »Rückbesinnung auf das Erbe von José de San Martín« benötigt wurde, erklärte sich u.a. durch Auskünfte, die Jahre später als Grund für die 488 489 490 491 492 360

Ebd. Gallo, 2004, o. S.; Vieira, 2004a, o. S. Morales Solá, 2004, o. S. Veiras, 2004b, o. S. Veiras, 2004a, o. S.

Teil III – Staatsrepression und diskursiver Wandel

Verzögerungen der Arbeit der Gerichte angegeben werden, wie Bundesrichter Daniel Rafecas, mit den Ermittlungen im Fall »Primer Cuerpo del Ejército« beauftragt, berichtet: Wenn man sich das Zusammentragen von Beweisen anschaut, dann ergeben sich die Hauptschwierigkeiten aus den Maßnahmen, die die Repressoren ergriffen, um in der Zukunft nicht identifizierbar zu sein, um straffrei davonzukommen. Die Täter verwendeten Decknamen, die Gefangenenlager waren absolut geheim und klandestin. Viele Opfer wissen nicht, wo sie gefangen gehalten wurden. Auch wurden während all dieser Jahre alle Beweise systematisch vernichtet. Es gilt der Grundsatz eines ordnungsgemäßen Prozesses. Wir brauchen eine Fülle von Beweisen, um zu prozessieren und zu verurteilen.493

Diese Information wurde durch die Angaben von Alicia Calvo de Laborde von der AEDD (Asociación de Ex-Detenidos Desaparecidos) bestätigt und durch ein ernüchterndes Panorama über die Möglichkeiten der Justiz ergänzt: Für den Genozid sind die juristischen Instrumentarien völlig unangemessen. Je nach Gericht werden diese Verbrechen wie herkömmliche Verbrechen behandelt. Der Prozess wird ausschließlich denjenigen gemacht, die zur Führungsriege gehörten, und davon leben nicht mehr viele, und denjenigen, die von den Überlebenden identifiziert wurden. Und das ist das Fürchterlichste, weil sich der Genozid klandestin verewigte. Die Überlebenden trugen Augenbinden, und dass sie die Repressoren identifizieren können, ist die absolute Ausnahme. […] Dass nur diesen wenigen der Prozess gemacht wird, begrenzt die Zahl der Verantwortlichen auf einen minimalen Anteil. […] Wir haben eine Liste des Personals, dass im Kommissariat 5 von La Plata arbeitete, es gibt Beweise, wer die Personen waren, die uns den ganzen Tag bewachten, schlugen, folterten und demütigten. Wir wissen, wer es war. Trotzdem gibt es in diesem Fall nur zwei Angeklagte, und zwar die einzigen zwei, die Julio López [der Zeuge, der während des Prozesses gegen Etchecolatz verschwand] identifizierte.494

190 Organisationen hatten für den 24. März 2004 dazu aufgerufen, sich vor der ESMA zu versammeln, die Aktivitäten wurden in Absprache mit den MRO 493 Zit. in K rell, 2010, o. S., aus dem Span. von MLS. 494 Zit. in Ebd., aus dem Span. von MLS. 361

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jedoch direkt vom Büro des Präsidenten selbst organisiert.495 Vor einigen Zehntausend Demonstranten und vor den Toren der ESMA unterschrieb Kirchner am frühen Nachmittag das Dekret zur Übergabe der Gebäude und des Grundstücks der Marineschule an die Stadtverwaltung von Buenos Aires. Seine Worte erinnerten an die Verantwortung des argentinischen Staates für die Aufklärung der Verbrechen. Der 24.03.2004 fühlte sich nach der Perzeption des bekannten Musikers und Menschenrechtlers Victor Heredia an wie »ein Tag, der alles veränderte« [»un día bisagra«, wörtlich: ein Scharnier-Tag].496 Néstor Kirchner rief mit rauer Stimme: »Im Namen des Nationalstaates möchte ich um Vergebung für die Schande bitten, dass in 20 Jahren der Demokratie so viele Gräuel verschwiegen wurden.«497 Die Geste machte nicht nur für Heredia, den Bruder einer schwangeren Desaparecida und Onkel eines noch vermissten Kindes, einen signifikanten Unterschied, sondern für »eine ganze Gesellschaft«.498 In besonderem Maße wurde sie zu einer überfälligen Geste der Wiedergutmachung für die Überlebenden, wie Lila Pastoriza ausführt: Auf dem seit jenen Jahren zurückgelegten Weg erscheint der Besuch der von Landesvertretern und vom Präsidenten begleiteten Überlebenden in der ESMA wie ein bedeutender Wendepunkt. Er bedeutet, dass der Staat sich um das kümmert, was er zu einem früheren Zeitpunkt verursacht hat. Dieses sehr starke Signal zum Aus der Straffreiheit beflügelt nicht nur die Hoffnung, das Ziel von Wahrheit und Gerechtigkeit zu erreichen. Mit dem Museo de la Memoria, das dem Wunsch, Zeugnis abzulegen, zu erinnern und zu verstehen, was hier vorgefallen ist, einen konkreten Ort gibt, kann es auch die nationale Debatte neu entfachen, die alles umfassen muss: eine Debatte, die ohne Heranziehung der Theorie der zwei Dämonen zu erklären versucht, wie diese Etappe unserer jüngeren Geschichte möglich war, in der, wie es in der ESMA geschah, tausende von Menschen, die die Gesellschaft verändern wollten, mehrheitlich junge Erwachsene und Jugendliche, gefoltert, massakriert und verschwinden gelassen wurden.499 [E]s war eine Geste der Wiedergutmachung, wie wir sie nie zuvor erlebt hatten; nicht einmal vonseiten der Justiz sind wir eingeladen worden, den Ort 495 496 497 498 499 362

Página /12, 2004, o. S. Blejman, 2004, o. S. Rodríguez Yebra, 2004, o. S. Russo, 2004, o. S. Pastoriza, 2004, o. S., aus dem Span. von MLS.

Teil III – Staatsrepression und diskursiver Wandel unserer Verschleppung aufzusuchen. Ganz unabhängig von Entschädigungen und anderen Versuchen der Wiedergutmachung war es für uns alle ein sehr wichtiges Ereignis, zusammen mit dem Präsidenten als Repräsentant des Staates, der an diesem Ort tat, was er tat, in die ESMA zu gehen.500

Eine weitere Überlebende der ESMA, Adriana Clemente, bestätigt Jahre später mit sehr persönlichen und erschütternden Worten diesen Eindruck einer äußerst bedeutsamen und wiedergutmachenden Erfahrung, als sie während ihrer Aussage in der Megacausa ESMA am 06.08.2010 vor Gericht den Tag erinnert: »Ich schäme mich sehr dafür, am Leben zu sein … und das änderte sich, als ich mit einem Präsidenten in die ESMA ging. Ich schäme mich nicht mehr dafür, am Leben zu sein.«501 Am 24. März 2004 ergriff jedoch eine andere Generation von Überlebenden der ESMA auf der Bühne das Wort. Drei H.I.J.O.S., Emiliano Hueravillo, María Isabel Prigione Greco und Juan Cabandié Alfonsín, sollten sich daran erinnern, dass sie unter schlimmsten Bedingungen das Licht der Welt erblickt hatten. Juan Cabandié, der einige Jahre nach seiner wahren Identität gesucht hatte und damals erst seit zwei Monaten als 77. »wiedergefundener Enkelsohn« galt, begann mit der Erinnerung an seine Mutter: »An diesem Ort wurde meine Mutter ihres Lebens beraubt. Sie ist verschwunden.«502 Mit diesen zwei klaren und präzisen Sätzen machte Cabandié auf zwei Schlüsselaspekte der Debatte aufmerksam. Erstens auf die Tatsache, dass anders als im gängigen heroisierenden Reden diese Frau, seine Mutter, die damals gerade entbunden hatte, ihr Leben nicht opferte, sondern des Lebens beraubt wurde, und zweitens darauf, dass diese Tatsache ein Zustand ist (»está desaparecida/ist verschwunden«), der immer noch andauert und auch von der nächsten Generation nicht akzeptiert wird. Cabandié ergänzte wenig später: »Ich bin meine Eltern, Damián und Alicia«503, und aktualisierte die Metapher der verschwundenen Eltern, die in ihren Kindern weiterleben, und vergegenwärtigte damit die Forderung nach Wahrheit und Gerechtigkeit. Der Präsident fokussierte in seiner Rede die Tatsache, dass die Teilnehmer_ innen der Kundgebung auch Mitglieder von Familien sind, die von den desapariciones forzadas betroffen waren, bzw. der Generation der Detenidxs-Desaparecidxs angehören. Er sprach die Menschen in ihren Rollen als Familienmitglie500 501 502 503

Zit. in Lvovich /Bisquert, 2008, S. 82f., aus dem Span. von MLS. CELS, 2010, o. S. Cabandié Alfonsín, 2004, o. S. Ebd. 363

Erinnerung und Intersektionalität

der an, als Großmütter, Mütter und Kinder, und gleichzeitig als Mitglieder der MRO Abuelas y Madres de Plaza de Mayo sowie H.I.J.O.S. Néstor Kirchner redete auch die getöteten Detenidxs-Desaparecidxs an, als seien sie tatsächlich auf dem Platz. Er knüpfte damit an das Ritual an, bei den Kundgebungen die abwesenden compañeras und compañeros zu evozieren, teilweise namentlich zu nennen und »¡Presente!« zu rufen. Er redete alle als »Schwestern und Brüder«, »Kameradinnen und Kameraden« an, lobte eine Generation, der sowohl die Detenidxs-Desaparecidxs als auch er selbst angehören, und reihte sich als Mitglied dieser Generation in das Erbe eines Projektes gesellschaftlicher Transformation ein: [A]ls ich kürzlich beim Singen der Hymne die Hände sah, sah ich die Arme meiner Kameraden, die Arme der Generation, die an uns, die wir noch hier sind, glaubte und weiterhin glaubt und daran, dass man dieses Land verändern kann. […] Deshalb, anwesende Schwestern und Brüder, anwesende Kameradinnen und Kameraden, auch wenn ihr nicht unter uns weilt, […] sollen in diesem Argentinien wieder diejenigen zurückgeholt werden, erinnert werden und als Beispiel dienen, die bereit sind, für ihre Werte alles zu geben. Und in Argentinien gab es eine solche Generation, die es getan hat, die ein Beispiel gegeben hat, die den Weg bereitet hat, die ihr Leben gegeben hat, die ihre Eltern, ihre Großmütter und ihre Kinder zurückgelassen hat, und sie alle sind heute in diesen Händen anwesend.504

An jenem Tag berichten Augenzeugen von einem zu Tränen gerührten Präsidenten505, doch Néstor Kirchner und seiner Frau wird später vorgeworfen, die Erinnerung an die Detenidxs-Desaparecidxs zu vereinnahmen und sie politisch zu instrumentalisieren506. Neben Patricia Walsh, Tochter des ermordeten Rodolfo Walsh und langjährige Menschenrechtsaktivistin, die der Gebrauch des Namens ihres Vaters seitens der Regierung erzürnt, übt u. v.a. der Schriftsteller Martín Caparrós Kritik und spricht von »Missbrauch des Gedenkens« und »großem Betrug« gerade in Bezug auf die Erinnerung an die Detenidxs-Desaparecidxs, wobei er den Kirchners vorwirft, vorher »niemals auch nur das mindeste Interesse an diesem Thema gezeigt« zu haben. Nach Caparrós Meinung betrieben die Kirchners eine Aushöhlung des Inhalts und der politischen Ziele der revolutionären Aktivisten, um sie »als Ursprungsmythos einer Regierung« zu benutzen, 504 Casa Rosada, 2010, o. S., aus dem Span. von MLS. 505 Bruschtein, Luis, 2004, o. S. 506 Majul, 2010, o. S. 364

Teil III – Staatsrepression und diskursiver Wandel

»die den bürgerlichen Staat in Argentinien rekonstruieren und auf seine Rolle innerhalb des globalisierten Kapitalismus ausrichten wollte«, und das sei so, als »machten sie merkwürdige sozialdemokratische Aktivisten aus ihnen«.507 Die Kirche kritisierte ein Jahr später in sehr deutlicher Form die Menschenrechtspolitik der Regierung, da diese sich in keiner Weise mit den von den Guerillaorganisationen begangenen Verbrechen auseinandersetzte.508 Die Demonstranten sangen an jenem 24. März 2004 mittags im Anschluss an die offizielle Veranstaltung in der ESMA und abends zu Beginn des Protestzugs vom Parlament zur Plaza de Mayo den Satz, der einen Bogen zur Vergangenheit der Deutschen schlägt, auf die die argentinische Gegenwart immer noch Bezug nimmt: »Como a los nazis, les va a pasar, a donde vayan los iremos a buscar« [Wie den Nazis wird es ihnen ergehen: Wir werden sie suchen, wohin sie auch gehen].509 Die Seitentore der ESMA standen offen und Tausende von Menschen liefen in einer nicht alltäglichen Stimmung über das gespenstische Gelände und durch die nur teilweise verlassenen Gebäude: »Die Menschenmenge lief ohne zu rufen, ohne zu feiern; sie ging ohne Eile, in respektvoller Stille, während sie überall hinschaute und sich vielleicht den Tag vorstellte, als das Kind, der Enkel, der Vater, die Mutter, der Mann dorthin gebracht wurde und für immer verschwand.«510 Diese Besichtigungstour bedeutete für einige Überlebende ein Wiedersehen, für viele Besucher eine räumliche Ergänzung der so zahlreichen Berichte der vergangenen 28 Jahre. Sie war aber vor allem ein Akt der Wiedereroberung eines Raumes, der ein emblematischer Kristallisationspunkt der Erinnerung war und ist. Auf diesen Tag hatten viele gewartet, denn die ESMA, einst größtes Konzentrations-, Folter- und Vernichtungszentrum Lateinamerikas, war das sichtbare Emblem der Repression und der Straflosigkeit inmitten der Hauptstadt. An diesem Erinnerungsort kondensierten sich nicht nur die gemeinsamen Assoziationen in Bezug auf Tortur, erzwungenes Verschwinden und Massentötungen und wurden als Topographie fassbar, sondern auch die lange Straflosigkeit, das angeordnete Vergessen und das Verschweigen. Bereits am 06.01.1998 hatte Carlos Menem per Dekret versucht, die ESMA abreißen zu lassen und dort einen Park als »Symbol der nationalen Einigkeit« zu errichten, um mit dem Tatort auch die Erinnerung an die Verbrechen zu tilgen; doch die MRO intervenierten, die Gerichte bremsten und stuften die Maßnahme 2001

507 508 509 510

Caparrós, 2010, o. S. La Nación, 2005, o. S. Bruschtein, Luis, 2004, o. S. Ferreyra, 2004, o. S. 365

Erinnerung und Intersektionalität

als verfassungswidrig ein.511 Mit der Übergabe dieser Bastion des Vergessens und der Willkür für ihre zivile Nutzung stellte sich die Frage, wie die Ereignisse in der und um die ESMA zu erinnern seien; sie war512 und ist Gegenstand der Debatte. Das Offizierscasino, Ort der Gefangenschaft, Folter und Vernichtung513, wurde erhalten, in den weiteren Gebäuden bietet die ESMA heute Raum für Reflexionen über die Geschichte und für die Arbeit verschiedener MRO. Die AEDD sprach sich für die möglichst intakte Erhaltung des Areals und der Gebäude der ESMA514 aus, verweigerte eine Musealisierung der Erfahrung des erzwungenen Verschwindens und wehrte sich gegen eine Re-Signifikation ihrer eigenen Erfahrung als Verschleppte-Verschwundene im Sinne einer domestizierten Erinnerungspolitik.515 Am Abend des 28. Jahrestages des Militärputsches rief die AEDD als Mitglied der Dachorganisation Encuentro Memoria, Verdad y Justicia mit weiteren 230 Organisationen, darunter auch die Asociación de Madres von Hebe de Bonafini, zur Kundgebung auf. Zehntausende (Página/12 spricht von 60.000516, Clarín von 50.000517) bildeten den Demonstrationszug zwischen Kongress und Plaza de Mayo, der, wie seit einigen Jahren, in seiner Mitte eine Fahne mit den Bildern von Tausenden von Detenidxs-Desaparecidxs trug. Die Losungsworte der Kundgebung führten vergangene und gegenwärtige Forderungen zusammen: »Cárcel efectiva a los genocidas de ayer y de hoy. Restitución de su identidad a los 500 jóvenes apropiados. Anulación de los indultos a los genocidas. Amnistía o desprocesamiento a los luchadores populares. No al pago de la deuda. No al acuerdo con el FMI. No al ALCA«518 [Tatsächliches Gefängnis für die Völkermörder der Vergangenheit und der Gegenwart. Wiederherstellung der [familiären] Identität der 500 geraubten jungen Menschen. Auf511 Memoria A bierta, 2005-2011, o. S. 512 Zum Projekt, einen Raum der Erinnerung in der ESMA zu schaffen, und den damit verbundenen Überlegungen siehe Brodsky, M arcelo, Memoria en construcción: el debate sobre la ESMA, Buenos Aires 2005. 513 Für persönliche Erinnerungen an die Funktion des Casinos während des Staatsterrors siehe Dema, 2004. Für eine Übersicht über die räumliche Aufteilung der ExESMA siehe Espacio Memoria y Derechos Humanos [ex-ESMA], 2011. 514 Osvaldo Barros, Enrique »Cachito« Fukman, Carlos »Sueco« Lordkipanidse und Andrea Bello von der AEDD führen in einem Dokumentarfilm durch die ESMA (AEDD/CeProDH, 2010). 515 Vgl. AEDD, 2013. 516 Vales, 2004, o. S. 517 Fernández Moores, 2004, o. S. 518 Ebd. 366

Teil III – Staatsrepression und diskursiver Wandel

hebung der Straferlasse für die Völkermörder. Amnestie für die Volkskämpfer oder Ende ihrer strafrechtlichen Verfolgung. Nein zur Rückzahlung der [Staats-] Schulden. Nein zur Vereinbarung mit dem IWF. Nein zur FTAA]. Der 24. März, seit 2006 offizieller Gedenktag, wurde im Jahr 2013 mit Massenkundgebungen begangen, in denen nach wie vor der Bezug zur Vergangenheit nach der Agenda der Gegenwart hergestellt wurde. *** »Die Narration der Geschehnisse in unserem Land ist ein heißes Eisen«519, so brachte die Journalistin und ESMA-Überlebende Lila Pastoriza in einer Publikation aus dem Jahr 2005 die postdiktatorische Debatte um die Deutung der argentinischen Staatsrepression und die Strafverfolgung der Verbrechen auf den Punkt. In der unmittelbaren Postdiktatur setzten sich die politischen Eliten im demokratischen Argentinien nicht gegen die Amnestie-Interessen militärischer Kreise durch und in der zweiten Demokratiedekade stellten sie sich sogar gegen die Strafverfolgung der Täter. Erst ab dem Jahr 2004 folgte die Regierung den Imperativen des gewachsenen Konsenses über die Menschenrechte und dem daraus entstandenen enormen Druck vonseiten der Bevölkerung. Teil III des Buches fokussierte den gesellschaftlichen Wandel in der Wertung der Gewaltereignisse von 1975 bis 1983, der im Laufe der 30 Jahre seit dem Ende der letzten Diktatur schließlich doch zum mehrheitlichen gesellschaftlichen Konsens und zur Strafverfolgung der Täter führte. Diese Entwicklung war und ist in eine internationale Debatte eingebettet, in der auf gesellschaftlicher und wissenschaftlicher Ebene die Grenzen des Krieges und des Genozids ausgefochten und die Begriffe und der Rechtsrahmen für die Verfolgung der damit verbundenen Verbrechen gesetzt wurden und werden. Ob die argentinischen Gewaltereignisse als Kollateralschäden von Kriegshandlungen oder als der beabsichtigte und gezielt begangene Massenmord an einer Bevölkerungsgruppe, und somit als nicht verjährende Verbrechen gegen die Menschlichkeit, eingeschätzt werden, bedingte die Möglichkeiten und das Wie der Strafverfolgung argentinischer Täter. Verbrechen gegen die Menschlichkeit sind eng mit dem Begriff des Genozids verwandt, doch aus historischen Gründen werden im Deutschen damit vornehmlich ethnisch motivierte Völkermorde und die Shoah in Verbindung gebracht. Allerdings fallen die argentinischen Ereignisse nicht unter die Kriegsdefinition; andererseits ließe sich, wenn politische Gruppen in die Definition mit einbezogen werden, der völkerrechtliche Tatbestand des Genozids auf 519 Pastoriza, 2005, S. 89. 367

Erinnerung und Intersektionalität

zahlreiche politische Massenmorde des 20. Jahrhunderts anwenden. Bis 2005 nicht als Tatbestand im Rahmen der genozidalen Praktiken erfasst waren auch die systematischen Vergewaltigungen, die im Fall Argentiniens verfolgte Frauen (und punktuell auch Männer) betrafen. In den Erzählungen der Opfer oftmals aus Scham versteckt und umschrieben, wurden sie durch die Stigmatisierung der Überlebenden in der Postdiktaturgesellschaft als Tatsache überhört; im Allgemeinen fehlten das Gespür und das Bewusstsein dafür, dass die Anwendung von sexueller Gewalt bei der Repression von Frauen charakteristisch ist. Angesichts der Negativität der erinnerten Ereignisse – was, wie in Teil I dargelegt, ein besonderes Merkmal der Aufarbeitung darstellt – standen bei der Untersuchung der diskursiven Wandel in Argentinien drei Aspekte im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit: erstens, zu welchen Verschiebungen und Überschreibungen von Sinn es in den letzten Jahren gekommen ist; zweitens, wie die Dringlichkeiten der Gegenwart die Erinnerung verändert haben; und drittens, wie sich die allgemeine Wahrnehmung der Opfer der Staatsrepression transformierte. Im Rückblick vom 24. März 2004 aus lässt sich behaupten, dass sich die Art und Weise, wie in den vorangegangenen 21 Jahren auf die Gewaltverbrechen Bezug genommen wurde und wie jeweils die negativen Ereignisse artikuliert wurden, zweifellos signifikant verändert hat. Die Beobachtung der Wandlungen in der Verwendung von Konzepten wie Krieg und Genozid und die Perzeption der damit verbundenen identitären Figurationen von Opfer/Täter und Freund/ Feind lieferten einen ergiebigen Ausgangspunkt. Die gängigen Bezeichnungen für die Ereignisse illustrieren die Spannbreite dieser Transformation: von »guerra sucia« [schmutziger Krieg] bzw. »lucha contra la subversión« [Kampf gegen die Subversion] zu »terrorismo de estado« [Staatsterror]; von »errores« [Fehler] und »excesos de represión« [Repressionsexzesse] zu »plan sistemático« [systematischer Plan] und »genocidio« [Genozid]; die Täter wurden zu »genocidas« [Völkermörder], die Opfer von »delincuentes subversivos« [subversive Straftäter] zu »víctimas inocentes« [unschuldige Opfer], »compañeras y compañeros detenidos-desaparecidos« [verschleppte-verschwundene Kameradinnen und Kameraden] oder zu »héroes revolucionarios« [revolutionäre Helden]. Der Begriff »genocidio« wurde vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Krise, die im Argentinazo, dem Volksaufstand im Dezember 2001, ihren Höhepunkt hatte, zum Inbegriff gegenmenschlicher Politiken, zu einem »genocidio de ayer y hoy« [Genozid der Vergangenheit und der Gegenwart]. Die Narration der Gewaltverbrechen der Staatsrepression war 2004 (und darüber hinaus) eine akute Angelegenheit, um die im Argentinien der Gegenwart gesellschaftlich weiter verhandelt wird. Zehn Jahre nach Néstor Kirchners Besuch in der ESMA, nach Pastorizas Worten und nach zahlreichen erfolgreich 368

Teil III – Staatsrepression und diskursiver Wandel

bestrittenen Gerichtstagen stehen bei der Abfassung dieser Zeilen die diskursive Auseinandersetzung um die Deutung der Vergangenheit und die Suche nach Wahrheit und Gerechtigkeit nach wie vor auf der Tagesordnung der Gerichte und der Gesellschaft Argentiniens.

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Teil IV Eine von Frauen geschriebene Literatur der desapariciones forzadas

Ser víctima no es un honor. [Opfer zu sein ist keine Ehre.] 1 So, »the subaltern cannot speak« means that even when the subaltern makes an effort to the death to speak, she is not able to be heard, and speaking and hearing complete the speech act.2

In ihrer Textpraxis flechten Autorinnen, die sich der Erinnerung an die argentinische Staatsrepression aussetzen, verschiedene Geschichts- und Gegenwartsstränge dicht zu literarischen Texten. Soziale und individuelle Zeiten, vergangene und aktuelle Diskurse kondensieren sich in Handlungen und Figuren und werden zusammen mit den Impulsen verschiedener Kontexte und Orte des Schreibens in die Texte verwoben: Eine Pluralität von Erinnerungen, aktuelle Fakten, Vorstellungen und Emotionen hinterlassen Spuren und konstruieren die sprachliche Materialität einer Literatur der desapariciones forzadas, die um Wörter ringt und sich Gehör verschafft. Widmeten sich die vorausgegangenen Kapitel den theoretischen Grundlagen der Intersektionalität, der persönlichen und sozialen Erinnerung, dem diskursiven Boden für die Menschenrechtsverletzungen der argentinischen Staatsrepression sowie der Transformation der Diskurse in der Postdiktatur und ließen sie nicht außer Acht die internationalen Debatten um die 1 2

Susana Romano Sued in einem Interview, s. Engler, 2009, o. S. Spivak, 1993, S. 292. 371

Erinnerung und Intersektionalität

Begriffe Krieg und Genozid, so fließen in diesem Buchteil all diese Aspekte in einer analytischen Vorgehensweise zusammen, die die literarischen Texte in den Vordergrund stellen will. In einer doppelten Lektüre zur intersektionellen und erinnerungsdiskursiven Analyse werden nun vier Texte bearbeitet, die exemplarisch für relevante Facetten einer Schreibpraxis stehen, die darauf zielt, die Subjektivität des massenhaften Einzelnen vor der Auslöschung und dem Vergessen zu retten. Mit Poder y desaparición, einer wissenschaftlichen Abhandlung über die argentinischen Folter- und Konzentrationslager, hat Pilar Calveiro Theorie geschrieben, die tief in der (eigenen) Körpererfahrung verwurzelt ist. In einer reflektierten Bestandsaufnahme des Lagers und seiner Akteure prangert Calveiros Testimonio-Essay mit sezierender und unverkennbarer Stimme die anhaltende Diskriminierung der Lagerüberlebenden in der postdiktatorischen Gesellschaft an. Nicht aus einer wissenschaftlichen Reflexion über das Soziale heraus, sondern aus der eigenen entblößten und zerrütteten Subjektivität schreibt ihrerseits Graciela Fainstein. Eine durch Panikattacken paralysierte Körperlichkeit zwang sie zur Auseinandersetzung mit jenen 30 Jahre zurückliegenden Ereignissen und drängte sie so zur Arbeit am Text. Detrás de los ojos ist ein in intimster Sprache verfasstes testimonio, voller unbequemer Fragen an die Gesellschaft, die Fainsteins lang latentes und nun ausgebrochenes, ganz persönliches Leiden verursacht hat. Auch die zwei von Zeitgenossinnen der Desaparecidas geschriebenen und hier besprochenen Fiktionen könnten nicht unterschiedlichere Erzählperspektiven einnehmen. Während María Teresa Andruettos La mujer en cuestión die Frage zu beantworten versucht, wer diese Ex-Desaparecida namens Eva Mondino Freiberg war und ist, und dabei ein nüchternes Bild der argentinischen Gesellschaft als Puzzle verschiedener Meinungen und brüchiger Gewissheiten von Angehörigen, Freunden und Bekannten malt, konfrontiert Manuela Fingueret ihre Leserschaft mit den immer schwächer werdenden Überzeugungen einer Lagerinsassin und Desaparecida in Hija del Silencio, einem Text, der in der ersten Person die transgenerationale Bürde der Shoah und das daraus entstandene radikalpolitische Engagement der Kindergeneration erzählt. Auch wenn diese vier Texte intersektionell und erinnerungsdiskursiv betrachtet werden, liegt dieser Lektüre nichts ferner, als sie auf ihre Rückbindung an das Sozialpolitische zu reduzieren. Vielmehr veranschaulicht diese Form der Annäherung in aller Deutlichkeit − über die Zerstörungswucht sozialpolitischer Ereignisse wie der argentinischen Staatsrepression hinaus −, welche Kraft Literatur in Wirklichkeit als Theorielabor für Diskurse und Gegendiskurse hat, als Feld individueller Manifestation und gesellschaftlicher Verhandlung, als freiheitlicher Raum ästhetischer Artikulation. Bevor die Texte im Detail besprochen werden, soll zunächst einen Augenblick lang über die Konstellationen der Textproduktion 372

Teil IV – Eine von Frauen geschriebene Literatur der desapariciones forzadas

selbst nachgedacht werden. Die Standortbestimmung der Autorinnen als Frauen, die in ihrer Schreibpraxis Erinnerungsarbeit leisten, aber auch der Kontext der Entstehung der Werke sowie die Umstände ihrer Reproduktion, Zirkulation und Rezeption werden auf den folgenden Seiten kurz reflektiert.

1. ›Dichte Verwobenheit‹ als Autorisierungsstrategie in faktualen und fiktionalen Texten Die offenen Fragen nach dem Verbleib der Verschleppten-Verschwundenen und der lange Weg der argentinischen Justiz stießen in entscheidendem Maße die literarische Erinnerungsarbeit in der argentinischen Postdiktatur an. Doch auch vereinfachende postdiktatorische Diskurse und die sich darin fortsetzenden Dichotomien von Freund und Feind, die verharrenden Vorstellungen von Helden, Märtyrern und Verrätern sowie die Diskriminierung Überlebender befeuerten die Schreibpraxis der Autorinnen. Es waren allerdings nicht zuletzt gewaltsame Ereignisse wie der Anschlag auf die AMIA, der Verdacht eines aufflammenden Antisemitismus und die immer wieder präsenten unüberwundenen Asymmetrien der Geschlechterordnung und der anhaltenden Gewalt gegen Frauen, die in den letzten Dekaden dazu beitrugen, die Erinnerung an die argentinische Staatsrepression auf die Tagesordnung intellektueller Arbeit zu setzen. Denn nicht nur die Vergangenheit rief zur Textarbeit auf, vielmehr ist der Anlass der Erinnerungsarbeit stets in der Gegenwart zu finden: Die darin fußende Schreibpraxis nimmt Bezug auf laufende Entwicklungen, während sie, aus der Gegenwart heraus, eine Lektüre der Spur von Vergangenem bietet. Auf eine Besonderheit, die die Entstehungsgeschichte der testimonios der Repression in Lateinamerika ausmacht und ihre Rezeption stark beeinflusst, hat der Lateinamerikanist John Beverley hingewiesen: Testimonios berichten über Ereignisse und ihre Folgen, die im Kontext und nach der Logik des Kalten Krieges stattfanden, ihre Lektüre und Debatte geschehen allerdings in einer Gegenwart, die von den Dynamiken der Globalisierung bestimmt ist.3 Auch wenn seine Reflexionen hauptsächlich um die Auseinandersetzungen in Mittelamerika und die durch Elizabeth Burgos Debray vermittelte Erzählung Rigoberta Menchús Me llamo Rigoberta Menchú y así me nació la conciencia kreisen, lassen sich an diesen von Beverley festgestellten Aspekt eine Reihe von weiteren Überlegungen anschließen, die nicht nur die testimonios betreffen, sondern auch die fiktionalen Narrationen, die sich mit der argentinischen Staatsrepression befassen. 3

Beverley, 2004, S. X. 373

Erinnerung und Intersektionalität

Das viel zitierte Ende der großen historischen Erzählungen und die damit hinfällig gewordene Vorstellung, das Subjekt würde einen bestimmten Platz in der Vergangenheit und in der Zukunft einnehmen4, ist für die gesellschaftliche Einbettung der Praxis der Repression sowie für die heutige Lektüre der politischen Protest- und Emanzipationsbewegungen der 70er Jahre ausschlaggebend. Anthony Giddens stellte heraus, dass der Verlust des teleologischen Rahmens, den die großen Erzählungen geboten haben, mit der Unmöglichkeit einhergeht, eine Welt von Ereignissen zur Gänze zu verstehen, so dass sie sich gewissermaßen unserer Kontrolle entziehen.5 Durch das Fehlen dieses Rahmens wird die symbolische Einordnung von Erfahrungen unter komplexere Rahmenbedingungen gestellt, zumal sie auch die charakteristischen Verschiebungen erinnerter Zeit bewältigen muss. Für die Lektüre unserer Texte impliziert die Zeitverschiebung eine bedeutende Diskontinuität: Der Eiserne Vorhang fiel 1989 zu einer Zeit, in der in Lateinamerika eine Phase von sozialrevolutionären Bewegungen und ihren Gegenbewegungen zu Ende ging. 1990 besiegelte die Wahlschlappe der Sandinistas nach dem zermürbenden Contra-Krieg eine Reihe von Ereignissen, die sich bis zum Putsch gegen João Goulart am 31.03.1964 und zur blutigen Vertreibung der Regierung Salvador Allendes am 11.09.1974 zurückverfolgen lässt und in fast allen Ländern jene Politiken des Staatsterrors installierte, die das blutigste Kapitel lateinamerikanischer Diktaturen kennzeichnen. Auch wenn seit 1994 die Bewegung der Zapatisten in Mexiko, die Regierung von Evo Morales in Bolivien sowie die Präsidentschaft von Hugo Chávez in Venezuela für viele einen neuen Bezugspunkt emanzipatorischer Ansätze darstellen mag, lässt sich feststellen, dass seit den 80er und insbesondere seit den 90er Jahren die Internationalisierung der Wirtschaft und die neoliberale Ordnung weitestgehend Einzug in die wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Beziehungen und Politiken lateinamerikanischer Staaten gehalten haben. Mit ihnen wurde ein Zeitenbruch instituiert, der − wie die Kultur- und Literaturexpertin Josefina Ludmer betont − den Bewohnern jene irreversible Lücke aufzwingt, die Homi Bhabha »time-lag« oder Perspektive des »Zuspätkommens« genannt hat.6 In Bezug auf die Geschichte des Kapitalismus und des Empire wird Lateinamerika, so Ludmer, von den Zentren ausgehend immer wieder in eine Vorzeitigkeit zu dem gestellt, was als Zivilisation, Moderne, Fortschritt und Entwicklung erzählt wird.7 Diese Vorzeitigkeit, die u.a. Walter Mignolo als einen Aspekt der »kolo4 5 6 7 374

Lyotard, [1979] 1986, S. 53. Giddens, [1995] 1996, S. 10. Bhabha, [2000] 2007, insb. S. 353-384; Ludmer, 2010, S. 27. Ludmer, 2010, S. 27.

Teil IV – Eine von Frauen geschriebene Literatur der desapariciones forzadas

nialen Differenz« postuliert8, deplatziert die Narrationen der Protagonisten jener Bewegungen – sowie die der Opfer ihrer Repressionen – und stellt sie in ein asymmetrisches Rezeptionsverhältnis, so dass sie gegenwärtig allein durch diese Tatsache als entwertete Erzählungen gedeutet werden können. Die asymmetrische Ausgangssituation dieser Erzählungen, die aus den veränderten Vorzeichen ihrer Rezeption und den Eigenschaften ihrer Zirkulation erwächst, wird von den Umständen begleitet, die ihre Lektüre bereithält. Diese setzt die Bereitschaft voraus, sich vielfach einer schmerzerfüllten Erzählung, einer dolorösen Erinnerung auszusetzen, ein zwar individualpsychologischer, aber dennoch zentraler Aspekt der Rezeption dieser Werke in einer Zeit, die andere Dringlichkeiten hat und in der vielleicht andere, »zeitgemäße« Lektüren bevorzugt werden. Speziell aus der Perspektive Deutschlands lässt sich behaupten, dass es einen Resonanzboden für diese Erzählungen gibt, die sympathetische Lektüren nahelegen und die eigene Erinnerung an die nationalsozialistische und die DDR-Vergangenheit wachrufen.9 Allerdings sind im Westen der Republik den heute jüngeren Generationen von Aktiven eigene Lebenserfahrungen mit politischer Ohnmacht kaum vertraut und machen ein Sicheinfühlen in diese Narrationen generell herausfordernd bzw. »unnötig« unangenehm. Denn auch generationell findet eine Verschiebung statt, die einen direkten Bezug zu den Ereignissen in Argentinien erschwert. Aleida Assmann macht in ihrem Text »Verkörperte Geschichte – Zur Dynamik der Generationen« auf diesen Punkt bei der Wahrnehmung von Geschichte aufmerksam, insbesondere hinsichtlich der langen negativen Gegenwart des letzten Krieges der Deutschen.10 Mit dem Abschied der Deutungshoheit zweier Generationen, der 45er und der 68er,11 setzt A. Assmann die Neuverhandlung des Geschichtsbildes ins Zentrum der deutschen Erinnerungsdebatte. Die Frage, wie sich diese von Assmann aufgestellten generationellen Strukturen auf die Bildung transnationaler Gedächtnisse in Zeiten globaler Medienlandschaften auswirken, erscheint jedoch nicht nur für zukünftige Entwicklungen im deutschen Sprachraum relevant; auch darüber hinaus ist sie von Bedeutung, denn mit ihr hängt unter anderem ein Medienmarkt zusammen, wie die nachfolgenden Zeilen zeigen. Die Ausgestaltung der Erinnerungsarbeit, die Reflexion und die Re-Modulation der Erinnerung an die Staatsrepression finden im postdiktatorischen Argentinien – nicht zuletzt durch die Wirtschaftskrisen, die auch den Büchermarkt tra8 9 10 11

Mignolo, 2011, S. 73. A brego/Müller, 2013, S. 103-107. Assmann, A., 2007, S. 31-69. Ebd., S. 69. 375

Erinnerung und Intersektionalität

fen, sowie durch die dargestellten Umstände der Produktion und Zirkulation von Werken – im gesamten Feld der Kultur statt. Auch wenn die literarische Produktion zweifellos ein herausragendes Medium des Gedächtnisses bildet, sind nicht einzig die Zeitklammer der Rezeption und die menschlichen Abwehrmechanismen gegenüber Leiden Hürden für die Lektüre dieser Texte. Sie müssen ebenfalls als verlagstechnische Erzeugnisse begriffen werden, deren Rezeption und Zirkulation den Regeln globalisierter Büchervermarktung folgen. In Bezug auf die Zirkulation der Literaturproduktion (bzw. des Wissens) unter globalem Vorzeichen stellte der argentinisch-mexikanische Stadtanthropologe Néstor García Canclini in La globalización imaginada zur Jahrhundertwende fest: »Über die Globalisierung der literarischen Produktion, über die Auswahl dessen, was globalisiert wird oder nur im eigenen Land zirkulieren wird, entscheiden die Verlagsriesen.«12 Die amerikanische Literaturwissenschaftlerin Jill Robbins nahm diese Überlegungen auf, um auf die weitreichenden Folgen hinzuweisen, die die Marktstrategien globaler Konzerne haben, die hauptsächlich von New York und Spanien – aber auch Deutschland − aus arbeiten. Robbins unterstrich, dass die gegenwärtige Entwicklung nicht nur das Ende des kleinen Buchladens um die Ecke und den Abbruch der Interaktion zwischen der Leserschaft und den Buchhändler_innen bedeutet, sondern auch die Funktion und den Raum der Literatur für die Kulturen und Gesellschaften Lateinamerikas maßgeblich beeinflusst. Sie betrachtete die Positionierung der globalisierten Verlagsindustrie Spaniens in Bezug auf die spanische Sprache und auf Lateinamerika kritisch: In the new globalized publishing industry, Spain simultaneously claims the Spanish language center for itself, distances itself from any responsibility for the post-colonial struggles still lingering in the Americas, and also claims the international rights to the representation, consumption, marketing and circulation of a timeless, eternalized (and thus, essentialized and neutralized) image of Latin America as the feminized, exoticized trope of perpetual revolution that emerged in the nineteenth century. For Spanish Leftist intellectuals, Latin American economic and ethnic politics thus remain a struggle between the center and the periphery, and, in this struggle, they identify themselves with an idealization of the marginalized indigenous population in an attempt to voice their discontent and resist their erasure –their own marginalization– within the atomized economic, political, and cultural systems of neoliberalism. The new economic Right, on the other hand, deploys a modern image of a philanthropic and democratic Spain to 12 García Canclini, [1999] 2008, S. 152. 376

Teil IV – Eine von Frauen geschriebene Literatur der desapariciones forzadas buy and sell contemporary Latin America as an unfortunate, flawed, but thrilling relative on the global market. To recreate its own image, however, it must erase Spain’s imperial and dictatorial past from the national and international memory, thereby hiding the nation’s past identification with anti-liberal ideologies, as well as its culpability in the post-colonial and neocolonial woes of Latin America.13

Bei den von Robbins genannten Aspekten liegt es auf der Hand zu fragen, wie es um die Beziehung zwischen Verlagswesen und dem Herausgeben von Werken bestellt ist, die sich mit der Erinnerungsarbeit von Autorinnen befassen, insbesondere vor dem Hintergrund der spanischen Erinnerungsdebatte über den Bürgerkrieg und die Franco-Diktatur und der damit verbundenen Schwierigkeiten der Aufarbeitung der eigenen Geschichte. Robbins’ Hinweis darauf, dass die (spanischen) Verlagshäuser ein Bild von Lateinamerika vertreten, das »timeless, eternalized (and thus, essentialized and neutralized)« ist, macht in besonderer Weise auf die Frage nach der Existenz globalisierter Erinnerungsgemeinschaften – aber auch auf die Konditionen der Rezeption der literarischen Produktion von Frauen – aufmerksam. Denn die Prioritäten für die Zirkulation der Werke werden von Personen »wahrgenommen«, »identifiziert« und als solche in Ländern gesetzt bzw. zur Marketingstrategie deklariert, die unter Umständen eine andere Agenda haben. Auch wenn die Erinnerungsarbeit und das Aushandeln der Perspektiven im kommunikativen Gedächtnis und auf lokaler Ebene dringlich sein mögen, wird durch diese Verschiebung der Zusammenhang verzerrt, in dem die Anlässe der Erinnerung mit der Zirkulation und der Rezeption der Werke interagieren und zum Tragen kommen (könnten). Nicht umsonst stellte das Außenministerium Argentiniens im Vorfeld der Frankfurter Buchmesse 2010, deren Ehrengast das Land war, Mittel für einen Übersetzungsfonds zur Verfügung, um gezielt eine Förderungspolitik für die Werke argentinischer Autor_innen zu installieren, die u.a. eine lang ausstehende Erneuerung des Bestands in deutscher Sprache ermöglichte. 77 von insgesamt 400 Werken wurden so im Jahr 2010 im Rahmen des »Programa Sur« ins Deutsche übersetzt.14 13 Robbins, 2003, S. 100. 14 Der fehlende Bestand an übersetzten literarischen Texten über die argentinische Staatsrepression führte am Anfang der Arbeit an diesem Buch dazu, dass der zunächst anvisierte übersetzungswissenschaftliche Schwerpunkt scheiterte. Trotz der Anerkennung, die die Initiative des »Programa Sur« verdient, stimmt ein Blick (unter: ›http://programa-sur.mrecic.gov.ar/obras.html‹, 26.03.2013) auf die Zahl der übersetzten Texte von Autorinnen im Vergleich zur Gesamtanzahl der 377

Erinnerung und Intersektionalität

Die Literarisierung der Erinnerung und ihre Verbreitung haben in Argentinien einen zu den Ereignissen zeitversetzten Charakter. Zu den Werken der Erinnerungsarbeit über die argentinische Diktatur weiblicher Autorenschaft gehören eine Reihe von Büchern, die in Argentinien entstanden sind, aber auch viele, die im Ausland geschrieben wurden. Wurde oben erwähnt, dass es bedingt durch die globalisierten Verlagshäuser eine Verschiebung in der Rezeption und Zirkulation der Erinnerungsliteratur geben kann, so brachte die Tatsache des Exils – und der Migrationsbewegungen − eine anders geartete globale Komponente bei der Entstehung dieser Literatur mit sich: Neben der Vielfalt der geographischen Orte, an denen heute die Reflexion über die Erinnerungsarbeit stattfindet – wie dies bei diesen Zeilen selbst der Fall ist –, entstand mit der erst erzwungenen und später mehr oder weniger freiwilligen Diaspora aufgrund der andauernden sozioökonomischen Instabilität Argentiniens ein erweitertes Netz von Bezügen für die Produktion von literarischen Erinnerungswerken, das den Ausgangsort der Ereignisse zwar in Argentinien ansiedelt, das Erzählen selbst jedoch vielfach in die Kategorie des ZwischenWeltenSchreibens (nach Ottmar Ettes Konzept15) einordnen lässt. Damit findet die Schreibpraxis in Bezug auf die Entstehungsorte der Werke in einem sozusagen multiplen Raum des Erinnerns statt, der sowohl der Vielfalt familiärer Herkünfte der Bevölkerung Argentiniens als auch den transnationalen Orten des Schreibens selbst Rechnung trägt. Durch ihre Internationalisierung findet die Erinnerungsarbeit Nahrung und hat Bestand, denn die Vielfalt der Bezugspunkte wird erhöht und die Intertextualität erweitert, da in diese Texte Lektüren einfließen, die in anderen Sprachen und Kulturen und an anderen Orten stärker rezipiert wurden und durch ihre Interaktion mit dieser Erinnerung an die argentinischen Ereignisse die Reflexion darüber in weitere Kontexte hinausträgt. Zu den in Argentinien stark rezipierten Romanen der Literatur der desapariciones forzadas, die nicht unmittelbar auf der Verfolgungserfahrung der Autorin aufbauen, zählt El fin de la historia (1996) von Liliana Heker, der mit dem Verrat als verstörendem Kern der Erzählung provozierte. Während der Diktatur bzw. unmittelbar danach haben Soy paciente (1980) von Ana María Shua, El agujero en la tierra (1980) von Alicia Dujovne Ortiz, Cambio de armas (1982) und La última conquista de El Ángel (1984) von Elvira Orphée die gewaltsamste Epoche argentinischer Geschichte thematisiert. Werke wie Canon de alcoba (1987) und En estado de memoria (1990) von Tununa Mercado, La rompiente Übersetzungen sowie die weibliche Präsenz bei der Auswahl der Texte, die als »relevant« gekennzeichnet wurden, nachdenklich. 15 Ette, 2005, insb. S. 239-263. 378

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(1987) und El cielo dividido (1993) von Reina Roffé gehören zu den mit der Staatsrepression verbundenen Romanen und Erzählungen, die in Argentinien eine Leserschaft fanden und stark in der Exilerfahrung der jeweiligen Autorin verankert sind. Mit dem zunehmenden gesellschaftlichen Konsens über die Notwendigkeit der Strafverfolgung der Repressionsverbrechen mehrten sich auch die Preise für Werke der Erinnerungsarbeit. Einige der im Nachfolgenden genannten in Argentinien geschriebenen Werke argentinischer Autorinnen erhielten unter dem anerkennenden Schutz kanonisierter Autor_innen Preise, die ihre Sichtbarkeit stärkten, und kamen so in den Genuss, von renommierten Verlagshäusern editiert zu werden. So erschien Patricia Sagastizábals Un secreto para Julia 2000 in Buenos Aires bei Sudamericana, nachdem der Roman 1999 den Preis der Zeitung La Nación gewonnen hatte. Ohne unmittelbaren autobiographischen Hintergrund, aber mit sensibler Feder nähert sich Sagastizábals Roman den Folgen des sexuellen Missbrauchs im Rahmen der desapariciones forzadas. Im Mittelpunkt des persönlichen Dramas des Exils steht dabei der »secreto« der Protagonistin, eine geheime und unaussprechliche Wahrheit zugleich, die in detektivischer Handlung entschlüsselt wird. Zwei weitere Fiktionen argentinischer Autorinnen wurden nicht zuletzt dafür prämiert, dass sie ungewöhnliche Perspektiven einnehmen. Premio Clarín de Novela 2007 war Norma Huidobro mit El lugar perdido; der Roman wurde im selben Jahr von Arte Gráfico Editorial Argentino herausgegeben. Ungewöhnlich für diesen ebenfalls zur detektivischen Gattung zählenden Roman sind die minuziöse Konstruktion der männlichen Täterfigur und der uchronische Charakter der Handlungsauflösung, in der das weibliche »Opfer« sein Schicksal wendet und zur Selbstjustiz greift. Manuela Finguerets Hija del silencio, 1999 von Editorial Planeta verlegt, machte den Weg zu stärkeren Auflagenzahlen und wurde 2006 im Taschenbuchverlag booket herausgegeben. Die Erzählung, die später noch besprochen wird, verfolgt die Absicht, zwei Lagergeographien, Theresienstadt und die ESMA, und zwei Frauenbiographien ihrer Insassinnen, beide Jüdinnen, Mutter und Tochter, inmitten dieser parallel anmutenden Desaster, die mit 30 Jahren Abstand beide zu Opfern gemacht haben, literarisch zu rekonstruieren. Sie steht für einen in der argentinischen Gesellschaft rekurrierenden Erinnerungstopos, der in den Verbrechen der Staatsrepression eine Wiederauflage der Verbrechen des Faschismus und insbesondere des Nationalsozialismus sieht. María Teresa Andruettos La mujer en cuestión, ein Text, der heute als einer der besten Romane über die Diktaturzeit gilt und weiter unten ebenfalls besprochen wird, erhielt 2002 den renommierten Preis Fondo Nacional de las Artes. Der Roman sticht durch einen polyphonischen Aufbau heraus, der ein unnachsichtiges Panorama der argentinischen Gesellschaft zeichnet und die unbequeme Frage nach dem Grad der 379

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Mittäterschaft des Einzelnen an der Denunziation und der massiven Gewalt in den Vordergrund rückt. Er erschien zunächst 2003 im argentinischen Kleinverlag Alción Editora in Córdoba und, nach positiver Rezeption, 2009 in Buenos Aires bei Debolsillo (Random House Mondadori), bevor er von Susanna Mende ins Deutsche übersetzt und 2010 vom Züricher Rotpunkt Verlag als Wer war Eva Mondino? herausgegeben wurde. Cristina Feijóos Memorias del río inmóvil wurde in Buenos Aires bei Clarín/Alfaguara-Aguilar als Premio Clarín de Novela 2001 veröffentlicht; die Autorin wurde 2006 Finalistin des Planetapreises, des höchstdotierten spanischen Verlagspreises, und zwar mit dem Roman La casa operativa, der 2007 in Buenos Aires herauskam. Während La casa operativa eine Rekonstruktion des Kampfes der urbanen Guerilla präsentiert, schreibt Memorias del río inmóvil mit wunderbar nachdenklicher Stimme gegen »Menems Fiesta« an und stellt den teils melancholischen, teils hoffnungsvollen Versuch dar, die geronnene Zeit der Erinnerung in der Gegenwart wieder zum Fließen zu bringen. Nicht zuletzt weil die Autorin für ihre Fiktionen aus der eigenen politischen Erfahrung schöpft, sind ihre Erzählungen, obwohl etwas konventionell aufgebaut, durch ihre Reflektionen prägnant: Für ihr Engagement im linksrevolutionären Teil des Peronismus wurde Feijóo 1971 während der vorletzten Militärdiktatur ins Gefängnis gesteckt; sie verließ 1979 das Land ins schwedische Exil, wo sie bis zum Ende des Regimes 1983 blieb. Zu den außerhalb Argentiniens geschriebenen testimonios von Argentinierinnen, die zentral für die Erinnerungsarbeit über die argentinische Diktatur sind, gehört zweifellos Pilar Calveiros Poder y desaparición; 1996 in Mexiko als Magisterarbeit eingereicht, erschien der Text 1998 in Argentinien nach anfänglichen Schwierigkeiten im damaligen Kleinverlag Colihue. Die unverwechselbare Prosa von Poder y desaparición, ihre Stringenz und das sensible Spiel von Nähe und Distanz zu den Ereignissen und zum impliziten Leser sind wichtige Indizien für die Bedeutsamkeit des Buches und mit ein Grund, warum es im weiteren Verlauf besprochen wird. Relativ früh, von den Kritikern wenig beachtet, aber mit unerfreulichen und unerwarteten Reaktionen außerdiegetischer Akteure wurde 1987 in Buenos Aires Alicia Kozamehs TestimonioRoman Pasos bajo el agua bei Contrapunto veröffentlicht, bevor die Autorin, nach ihrer Gefangenschaft bis 1978 und nach ihrer Rückkehr aus dem darauffolgenden amerikanischen und mexikanischen Exil, dem Land 1988 aufgrund der erneuten Morddrohungen anlässlich der Romanveröffentlichung den Rücken kehrte. In den USA machte Alicia Partnoy mit ihrem frühen Testimonio The Little School: Tales of Disappearance and Survival (San Francisco 1986) auf die Menschenrechtsverletzungen der Staatsrepression aufmerksam und u.a. auf die Diskriminierung der Jüdischstämmigen während der Repression. Die 380

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spanische Version des Textes, La escuelita. Relatos testimoniales, erschien in Buenos Aires (bei Editorial La Bohemia) 2006, 20 Jahre nach seiner Entstehung, und wurde in derselben Veranstaltung wie Nora Strejilevichs Buch Una sola muerte numerosa der argentinischen Öffentlichkeit vorgestellt. Strejilevich hatte früh durch ihre öffentlichen Zeugenaussagen auf ihren verschleppten-verschwundenen Bruder und seine Frau aufmerksam gemacht und ebenfalls dezidiert zur Wahrnehmung der Diskriminierung von Jüdischstämmigen beigetragen, als ihre Testimonio-Erzählung Una sola muerte numerosa 1997 erst in den USA bei North-South Center Press und fast zehn Jahre später in Argentinien bei Alción Editora erschien; auf Deutsch erschien das Werk 2014 unter dem Titel Ein einzelner vielfacher Tod. In Kanada entstanden, erschien 2006 ebenfalls bei Alción Editora die von María del Carmen Sillato zusammengestellte Korrespondenzsammlung Diálogos de amor contra el silencio. Memorias de prisión, sueños de libertad, ein Testimonio über den Aufenthalt der Autorin erst im illegalen Folterlager der Polizei und später im Gefängnis von Villa Devoto. Diálogos besteht aus den Briefwechseln mit ihrem ebenfalls gefangenen Mann, ihrer Familie und später mit ihrem in Gefangenschaft geborenen Sohn, der nach den ersten neun Monaten von ihrer Familie großgezogen wurde; in der Korrespondenz, die der Erzählung zugrunde liegt, mimt Sillatos Schwester die Stimme des fern der Mutter aufwachsenden Kindes. Die allgegenwärtige Un-Zeitlichkeit der Erinnerung wird in Graciela Fainsteins Testimonio Detrás de los ojos spürbar. 2006 in Spanien von dem kleinen Verlag mit feministischem Schwerpunkt Icaria Editorial veröffentlicht und 2007 in Buenos Aires erschienen, bezeugt der Text die untrügliche Erinnerung des Körpers und ihre dringliche Latenz; Detrás de los ojos wird weiter unten in diesem Kapitel thematisiert. Aus ihrem Lebensmittelpunkt in Genf, ähnlich intim verfasst und vergleichsweise spät, veröffentlichte Gladys Ambort erst im Jahr 2011 den Testimonio ihres Gefängnisaufenthalts zwischen Mai 1975 und Januar 1978 unter dem Titel Algo se quebró en mí. De cómo terminó mi adolescencia en una celda de castigo (dt.: Wenn die anderen verschwinden sind wir nichts). Chronologisch und minuziös bezeugt Ambort in der ersten Person die abgrundtiefe Verhältnislosigkeit der Gefängnisstrafe für die gleichsam rebellische wie naive Attitüde des Teenagers, der sie mit 17 Jahren damals war, und die extremen Umstände der Haft in den letzten Jahren der demokratischen Regierung von Isabel Perón und in den ersten Jahren der Militärdiktatur. Auch wenn Sara Rosenberg zu einer ähnlichen Zeit wie Gladys Ambort inhaftiert war, ist ihr Gefängnisaufenthalt kein Gegenstand autobiographischer Erzählung. Die Erinnerungsarbeit bildet jedoch die Basis für eine fiktionale Trilogie über die argentinische Militärdiktatur − El hilo rojo (1998), Cuaderno de Invierno (1999) und La edad de barro (2003): »Mein ers381

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ter Roman handelte von einer verschwundenen Frau, der zweite von den Krisen des Exils und der dritte von der Rückkehr nach Lateinamerika«, so resümierte die Autorin die Hauptthemen der Trilogie in einem Interview.16 In der kriminalistisch anmutenden Handlung von Contraluz, ihrem vierten Roman (2008), beleuchtet Rosenberg das Spannungsverhältnis zwischen Tätern und Opfern und lässt die argentinische Vergangenheit 25 Jahre danach vor dem Hintergrund der Madrider Gegenwart akut werden. Dort hat sich Sara Rosenberg, Dramaturgin und bildende Künstlerin der Universitäten von Tucumán, Quebec (dorthin 1975 ausgewandert) und Mexiko-Stadt (ab 1978), 1981 niedergelassen. In einem über 30 Jahre andauernden Schreibprozess, der mit der Entlassung aus dem Lager begann und teilweise im deutschen Exil stattfand, verfasste die Poetin, Übersetzerin, Philosophin und Literaturprofessorin Susana Romano Sued Procedimiento: Memoria de La Perla y La Ribera, 2010 im argentinischen Córdoba bei El Emporio Ediciones erschienen. Eine subtile, aber kraftvolle Interdiskursivität mit der jüdischen Memoria erfüllt dieses lyrische Prosawerk, das sich im Grenzgebiet zwischen der Dringlichkeit des Testimonio und dem elaborierten Charakter dichterischer Sprache bewegt. Ein raffinierter doppelter Einband mit einem zerrissenen ersten Umschlag spricht visuell und taktil die Leserschaft an, während er sich als unmittelbar relevanter Paratext für eine fragmentarische Erzählung des schmerzvollen Zerreißens, des Verlustes und der Abwesenheit aufdrängt. Ebenfalls in hochpoetischer Sprache, inspiriert und unkonventionell in der Struktur, schreibt die aus Rosario stammende und in New York lebende Literaturwissenschaftlerin María Negroni die Erinnerungsfiktion La Anunciación (2007) als einen inneren und doch polyphonisch bewohnten Monolog. Eine verliebte Stimme spricht Humboldt, den viele Jahre zuvor zum Desaparecido Gewordenen und große Liebe der Jugendzeit, mit seinem Decknamen an und thematisiert in einer Rückblende – die auch stetige Gegenwart ist – das bewaffnete Engagement der 70er, die Trauer über die verschwundenen Freunde, das Exil und das nagende Unbehagen, den Staatsterror überlebt zu haben. Eine weitere Autorin, diesmal aus der Generation der Kinder, widmet sich ebenfalls der autobiographisch verankerten Erinnerungs- und Rekonstruktionsarbeit im transnationalen Raum: die 1968 in Kuba geborene und seit 1978 in Paris lebende Argentinierin Laura Alcoba, Tochter von Desaparecidos, mit ihren auf Französisch geschriebenen Romanen La casa de los Conejos (2007) und Los pasajeros del Anna C (2012). Einen besonderen Fall bildet der in Europa stark rezipierte Roman A veinte años, Luz (1998) von Elsa Osorio, der erst in Spanien und 2006 in Buenos Aires beim Verlag Planeta erschien. Gewinner des Amnesty Interna16 Silió, 2003, o. S. 382

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tional Award for Fiction und nominiert für den Prix Fémina (Frankreich) wurde diese in Spanien geschriebene Fiktion bis zu ihrer Vermarktung in Argentinien in 26 Sprachen übersetzt und es wurden mehr als 450.000 Exemplare verkauft.17 Das zeugt zweifellos davon, dass das Thema ein breites internationales Echo fand. Doch die Autorin hatte in den 90er Jahren keinen argentinischen Verlag für die Publikation gefunden18 und der Roman hatte vor seiner Einführung nicht nur positive Kritiken erhalten.19 Niemand kann mit Gewissheit sagen, ob die Autorinnenschaft der Grund dafür war, warum zahlreiche Bücher über die Staatsrepression im Argentinien der Postdiktatur auf vergleichsweise verhaltene Resonanz stießen. Dennoch lässt sich feststellen, dass gemessen an der erreichten Relevanz und der Rezeption fiktionaler und dokumentarischer Werke argentinischer Autoren die Literatur aus weiblicher Feder, die die desapariciones forzadas als Motiv hat, im postdiktatorischen Argentinien zögerlicher als die der männlichen Autoren rezipiert wird. Vor dem Hintergrund des sozialen Gehörs scheint dies kein Einzelphänomen zu sein. Mit der prominenten Ausnahme des Tagebuchs der Anne Frank und der heute anerkannten Arbeit von Hannah Arendt bilden laut der amerikanischen Wissenschaftlerin Joeden-Forgey Zeugnisse und Reflexionen männlicher Überlebender vornehmlich den literarischen und wissenschaftshistorischen Kanon

17 R einoso, 2006, o. S. 18 Friera, 2006, o. S. 19 Vgl. K ieffer, 1999, o. S. Elsa Osorio rätselte im Interview mit La Nación am 29.12.2006 darüber, wie wenig ihr Werk in Argentinien rezipiert wurde: »Ich verstehe nicht, warum sich die literarische Welt in Argentinien nicht für das interessiert, was einer schreibt, wenn er im Ausland lebt. Bevor ich ging, gab es mich als Schriftstellerin. Aber mit meiner ersten Publikation im Ausland hörte ich hier auf zu existieren. Trotzdem bekomme ich immer wieder bewegende Rückmeldungen von den argentinischen Lesern« (R einoso, 2006, o. S., aus dem Span. von MLS). Auf den Umstand der ausstehenden Anerkennung von Elsa Osorio, nun wieder in Argentinien wohnhaft, macht Mempo Giardinelli in einem Artikel vom 14.07.2009 aufmerksam (vgl. Giardinelli, 2009, o. S.). Bei den enormen Verdiensten des Romans durch seine Wirkung in der Öffentlichkeit und die große Sichtbarkeit, die er dem damals wie heute hochaktuellen Thema der Kinder der Desaparecidxs verschaffte, lassen sich eine gewisse Effekthascherei in der sprachlichen Verfasstheit und eine ausgeprägte Zielstrebigkeit der Handlung im Stil der Autorin nicht ganz von der Hand weisen, die vielleicht durch ihre Tätigkeit als Drehbuchautorin für Fernsehen und Film bedingt sind. 383

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über die Shoah.20 Judith Tydor Baumel stellte allerdings fest, dass in den ersten Jahren nach 1945 Zeugnisse von Frauen die erste dokumentarische Literatur der Shoah waren und sie einen für die Zeit ungewöhnlichen, aber deutlichen Bezug zur Frauenkultur darstellten. Auch wenn persönliche Erinnerungen in den 50er und 60er Jahren weiterhin veröffentlicht wurden, literarisch elaborierte Werke von Autorinnen wie Fania Fénelon, Johanna Reiss, Bertha Ferderber-Salz und Judith Kerr traten ab Mitte der 70er Jahre in Erscheinung, kollektive Zeugnisse wie die von Lore Shelly verfassten Secretaries of Death: Accounts by Former Prisoners who worked in the Gestapo of Auschwitz wurden erst ein Jahrzehnt später bekannt.21 Das in Deutschland am stärksten rezipierte Zeugnis einer Shoah-Überlebenden, Ruth Klügers Weiter leben. Eine Jugend, erschien erst 1992 und bezeugte die eigenartige Zeitlichkeit geteilter Erinnerung. Vor diesem Hintergrund sind die bekannten Reflexionen von Gayatri Chakravorty Spivak bezüglich des Ausspracheortes bzw. der Wahrnehmung der Aussage derer, die als subaltern konstruiert werden, denkwürdig. Denn wenn Spivak in ihrem gleichnamigen, vielkommentierten und unterschiedlich gedeuteten Text Can the Subaltern Speak?22 ebendiese Frage stellt, kommt sie – ähnlich wie bell hooks (1990) − zu der Erkenntnis, dass in der Verflechtung und dem Zusammenspiel der Macht- und Wissensbeziehungen (in denen die Wissenschaft der wirtschaftsstarken Nationen keine geringe Rolle spielt) das fehlende Gehör für die Aussagen jener Menschen die zentrale Hürde für einen echten Austausch bildet. In einem Interview präzisierte Spivak ihre Reflexionen über subalternes Reden: So, »the subaltern cannot speak« means that even when the subaltern makes an effort to the death to speak, she is not able to be heard, and speaking and hearing complete the speech act.23

Zu dem Fakt, dass die Umstände der Zirkulation und Rezeption der Werke der argentinischen Autorinnen der Postdiktatur nicht unbedingt zu ihrer Sichtbarkeit beitragen, können weitere Reflexionen in Bezug auf die Funktion der Sprache als Mittel der Macht und des writing back vorgenommen werden. In das Konzept des writing back brachten Bill Ashcroft, Gareth Griffiths und Helen Tiffin 1989 Salman Rushdies geflügelte Worte »the empire writes back with 20 21 22 23 384

Joeden-Forgey, 2010, S. 63. Baumel, 1998, S. 55-62. Spivak, [1988] 2007. Spivak, 1993, S. 292.

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a vengeance« ein und betonten, dass in der Literatur der Ent-/Dekolonisierten eine alternative Perspektivierung auftaucht, die gegen die Werke hegemonischer Zentren und ihre verzerrten Bilder rebelliert und die eigene Position affirmiert.24 Ashcroft et al. vertreten in ihrem Werk die Meinung, dass die Prozesse europäischer Dominanz, die sich bis in die Gegenwart erstrecken und die Wahrnehmung der Bewohner_innen postkolonialer Länder (immerhin zwei Drittel der Weltbevölkerung) beeinflussen, nicht nur wirtschaftspolitische Auswirkungen haben, sondern auch einen Niederschlag in der Literatur finden. Die von den Zentren kanonisierte Literatur spielt entsprechend eine affirmierende Rolle für hegemonische Vorstellungen. Ehemals Mittel der kolonialen Macht wird die Sprache von den Literaturen der Ent-/Dekolonisierten wiedererobert und für einen Diskurs transformiert, in dem der/die Subalterne andere Versionen der Geschichte aufwirft als die bekannten hegemonischen. Dafür werden im writing back gleichzeitig Strategien der Ablehnung (abrogation) und der Vereinnahmung (appropriation) der Sprache angewendet, die mit der Vorstellung einer »korrekten« Normsprache sowie einer in die Wörter »eingeschriebenen« Bedeutung abrechnen.25 Ein weiterer Aspekt des writing back lässt sich an die Reflexionen von Walter Mignolo und der Gruppe Modernidad/Colonialidad anknüpfen, die ihre Beobachtungen mit der Arbeit anderer lateinamerikanischer Denker verbinden und ein de-koloniales Projekt anstreben, das darauf zielt, das, was als anders und subaltern wahrgenommen wird, auf epistemologischer Ebene zu de-kolonisieren. Angesichts einer modernen Ratio, die aus der Notwendigkeit der eigenen Dominanz heraus nicht-europäischstämmige Subjekte und nicht-europäischstämmiges Wissen herabstuft und unterbewertet, wird Mignolo einer »kolonialen Wunde« gewahr, die in der Klassifizierung nicht-westlicher Regionen und Völker als »mental und wirtschaftlich unterentwickelt« festgestellt werden kann.26 Für die Entkolonialisierung zu optieren heißt demnach, epistemologische Modelle nicht zu beachten, die Positionen einer »modernidad eurocéntrica«27 [eurozentrische Modernität] universelle Gültigkeit verleihen, um damit Raum für eine »universalidad-otra« [ander(sgeartet)e Universalität], für »pluriverselle« und vielfältige Perspektiven als universelles Projekt zu öffnen.28 Die Koordinaten seines Vorschlags sind in einer Geopolitik begründet, die die Geschichte und die Stimmen negierter und entwerteter Subjektivitäten aus 24 25 26 27 28

Ashcroft u.a., 1989, S. 2. Ebd., S. 39. Mignolo, 2001, S. 12. Ebd. Ebd., S. 17. 385

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der Vergessenheit und Unsichtbarkeit herausholt, in die sie die Logik der Kolonisierung entlassen hatte. Darauf fußt auch eine Politik der Leibhaftigkeit, ein Denken mit dem Leib, dem Körper, das solche dichotomischen Vorstellungen europäischer Tradition ablösen soll, die zwischen Körper und Seele/Geist eine Grenze zogen und von der christlichen Religion über die cartesianische Philosophie diese Grenze als weites Autorisierungsfeld für Politiken der Beherrschung nutzten.29 Nach der Shoah und im Rahmen des Kalten Krieges erreichten stark konturierte Feindbilder mit ihrer Schwarz-Weiß-Malerei einen erneuten Höhepunkt und wurden über die Doktrin der nationalen Sicherheit von den lateinamerikanischen Nationalarmeen in unterschiedlicher Ausprägung umgesetzt. Die dekolonisierende Perspektive, angewandt auf die Werke über die argentinische Repression, trägt zur Bildung eines anders gearteten Paradigmas bei, das im Schmerz der kolonialen Differenz seinen Ausgangspunkt hat.30 In Bezug auf die Erinnerungsarbeit erfahren die negierten und entwerteten Stimmen in der Zirkulation und Verbreitung von Literatur und Wissen ihre Vervollständigung und werden hörbar. Diese Standpunkte sind in hohem Maße signifikant für die Prozesse literarischer Kanonisierung sowie für die Wahrnehmung dessen, was und wie erzählt wird bzw. was und wie gelesen werden soll. Die textlichen Artikulationen über die Erfahrung der Folter und des erzwungenen Verschwundenseins erhalten, insofern sie »der Rede wert« sind, ihre Wertigkeit als Literarisierungen von persönlichen und kollektiven Erfahrungen auf argentinischem Territorium im Rahmen der Operation Condor und des Kalten Krieges. Der Zugang der Werke zum nationalen Kanon und die Perspektive, internationale Anerkennung zu er29 Hierzu sei vermerkt, dass auch die europäische Tradition zum cartesianischen Diskurs von Anfang an einen Gegendiskurs hatte, der heute immer stärker in eine neue Medizin einfließt, die ein unauflösliches Herz-Hirn-System im Mittelpunkt hat. Mit dem Gegendiskurs zu Descartes sind die Werke von Baruch de Spinoza aus dem 17. Jhdt. gemeint, der in seiner Ethik Affekte (Motive, Emotionen, Gefühle) als zentralen Aspekt des Menschseins begriff. Seine Reflexionen wurden von dem Neurologen Antonio Damasio als philosophische Referenz für seine neurobiologischen Erkenntnisse genommen, wonach alle Organe des Körpers permanent miteinander und mit dem Gehirn in regem Austausch sind. In seinen Untersuchungen bestätigte er 400 Jahre nach Spinoza dessen Meinung, dass es keinen bewussten Vorgang des Körpers gibt, der nicht zugleich eine Manifestation des Gehirns und des Vibrierens aller Organe des Körpers ist (Damasio, 2003, S. 183-217). 30 Mignolo, 2011, S. 27. 386

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langen, hängen sehr von dieser Bewertung ab, zumal die Literarisierung der Erfahrungen stark in Resonanz (und in wahrnehmender Konkurrenz) mit den Diskursen der gerichtlichen Aufarbeitung der Verbrechen und der Frage nach der historischen Wahrheit steht. Auf internationaler Ebene spielt die Einordnung der Ereignisse eine wesentliche Rolle, denn sobald die Verbrechen der argentinischen Repression in den Rahmen der Operation Condor und des Kalten Krieges eingebettet werden, kann ein anderer Blick auf die Interaktionen der Akteure in den beteiligten Ländern geworfen werden. Dadurch rückt nicht nur die Frage in den Vordergrund, inwiefern diese Verbrechen als Schattenseite der Dominanz integriert werden, sondern auch der prekäre Charakter von Bildern, die auf dichotomische Vorstellungen von Zivilisation vs. Barbarei rekurrieren und die Verbrechen zu fremden Ereignissen stilisieren, die in peripherischen Ländern stattfanden, also weit weg von der Mit-Täterschaft bzw. Mit-Verantwortung der Zentren angesiedelt sind.31 Das »Dagegen-Anschreiben« als Charakteristik der postdiktatorischen Literatur32 artikuliert eine Rebellion gegen die offiziellen Narrative in zwei historischen Phasen der Geschichte Argentiniens: erstens gegen die Praxis des Verschwindenlassens sowie gegen die Disziplinierungsdiskurse des argentinischen Staates während der Diktatur und zweitens gegen die Politik der Straflosigkeit, gegen das Verschweigen der Repression und der Erinnerung, gegen das Verdrängen der seelischen Schmerzen von Überlebenden und Angehörigen der Verschleppten-Verschwundenen in der Demokratie. In beiden Phasen übertönten hegemonische und einseitige Diskurse und Lektüren den Ruf nach Aufklärung der Verbrechen und gaben der Arbeit der Erinnerung im Interesse der Vervielfachung der Perspektiven einen wesentlichen Impuls. In diesem Sinne lässt sich postulieren, dass es ein writing back in der Literatur der desapariciones forzadas gibt, das sich dem sozialen Verschweigen entgegenstellt, Mechanismen der Empathie in Gang setzt und symbolische Artikulationen der Untaten aus der Perspektive subalternisierter Subjektivitäten ermöglicht. Mit der Rückeroberung der Sprache und der Strategie des Erwiderns wirkte die Literatur der 31 Ein bekannter Topos in der Berichterstattung über Diktaturen in der »ersten« Welt besteht darin, diese als barbarisch zu bezeichnen, was sie auch sind, während ihre wirtschaftliche Integration verhüllt wird. Ein brisanter Fall für die deutschargentinischen Beziehungen war die Kooperation von Mercedes-Benz mit der argentinischen Regierung: Während unbequeme Gewerkschafter »verschwanden«, belieferte Mercedes-Benz die Streitkräfte mit Fahrzeugen (vgl. Weber, Gaby, Die Verschwundenen von Mercedes-Benz, Berlin u.a. 2001). 32 Vgl. A brego, 2012, S. 16-43. 387

Erinnerung und Intersektionalität

desapariciones insbesondere (aber nicht nur) in den Testimonios der Überlebenden dem gesellschaftlichen Schweigen entgegen. Diese Literatur ist auch Teil eines intellektuellen Diskurses, der nachhaltig zu einem Wandel im gesellschaftlichen Konsens über die Ereignisse der neuesten Geschichte Argentiniens und zum Ende der Straflosigkeit beitrug. In ihr wird den Diskursen widersprochen, die die Repression begleiteten, doch es kommen auch Niederlage, Verlust und Schmerz zur Sprache, die Narration zerrütteter und subalterner Subjektivitäten, die im writing back eine Strategie der Ermächtigung und Autorisierung finden. In ihr konstituiert sich ein Denken, das der Anziehungskraft des Todes zu widerstehen versucht: »das Denken der Trauer, die Verwendung der Erinnerung und der mnemonischen Wiederholung, um einen Verlust festzustellen und ihn zu überleben zu versuchen, indem man sich seiner sinistren Anziehungskraft widersetzt«.33 Bei diesem »Denken der Trauer« ist die Deutung der Vergangenheit nicht unwesentlich. Wann handelt es sich hier um Narrationen des Krieges und der Niederlage in einer Auseinandersetzung unter Gleichen, und welche Erzählungen artikulieren sich als Narrationen der verbrannten Erde, als Narrationen aus der Perspektive der Überlebenden einer sozial verursachten Katastrophe? Nicht nur die Strategie des Anprangerns und Widersprechens, des Überlebenwollens des writing back kann zwischen den Zeilen rekonstruiert werden, auch ein »embodied writing« tritt hier auf. Hierbei spielt der Anlass der Erinnerung eine weitere Rolle, der ebenfalls ein Gegennarrativ entwickelt und begründet. Denn gesamtgesellschaftlich gesehen erfährt die (intellektuelle) Arbeit von Frauen nicht immer und immer noch nicht denselben Respekt und die gleiche Anerkennung wie die von männlichen Autoren und so verdient die Rezeption von Werken, die aus den Federn von Frauen stammen, sowie ihre Bewertung, ebenfalls zum Thema gemacht zu werden. Es ist anzunehmen, dass das Fortbestehen misogyner Diskurse und Praktiken, die während der Diktatur einen Höhepunkt erreichten, ein Anlass für die Autorinnen sein kann, Figuren nach den Vorstellungen der réécriture féminine zu gestalten. Das Umschreiben aus weiblicher Sicht ist auch hier zweifellos ein Unterwandern bestehender Denk- und Kulturmodelle.34 Nach den persönlichen und gesellschaftlichen Erfahrungen der (systematischen) Folter, der (Massen-)Vergewaltigungen und der geknebelten Mutterschaft sowie nach der allgemeinen stummen Androhung von Gewalt in den repressiven Diskursen und den größtenteils sozial tolerierten Praktiken geschlechtlicher Diskriminierung stellt sich das Körper-Schreiben in den Mittelpunkt dieser Gegennar33 Moreiras, 1999, S. 162. 34 K roll, 2002, S. 335. 388

Teil IV – Eine von Frauen geschriebene Literatur der desapariciones forzadas

rative. In Figurationen der Geschlechterperformanz, der Frauen-/Männerrollen, des öffentlichen und privaten Wirkungsbereichs von Frauen und Männern, der Autorität des Vaters und der Mitverantwortung der Mutter sowie der familiären Genealogien und der Reproduktion bringen Autorinnen asymmetrische Beziehungen zur Sprache. Ist das Körper-Schreiben ein Charakteristikum dieser in der Leiblichkeit verankerten Narrative, so wird in ihnen das Ringen mit einer Sprache sichtbar, in der die Erfahrungen des Schmerzes kaum ausgedrückt werden können. Sowohl das writing back als auch die réécriture féminine beleuchten zentrale Strategien literarischer Texte in der Figuration von historischen und sozialen Ereignissen. Aus dem Verständnis für den dicht verwobenen Charakter der Erinnerung an die politische Verfolgung mit der misogynen Disziplinierung von Frauen während der argentinischen Repression heraus wird es auf den folgenden Seiten darum gehen, eine intersektionelle Leseperspektive für diese Texte zu zeigen, die Strategien aufspürt, die diesem engmaschig verstrickten Erzählen Form geben. Nach dem intersektionellen Ansatz ist anzunehmen, dass Strategien des writing back wie auch das Umschreiben aus verkörperten Perspektiven zusammen auftreten. Politische Abgrenzung und Misogynie, Antisemitismus und sozialer Ausschluss, der Anlass der Erinnerung und die Deutung der Vergangenheit treten nicht getrennt voneinander auf, sondern sind als Konnex zu finden. Den widrigen gesellschaftlichen Umständen zum Trotz begleitet die postdiktatorische Schreibpraxis − und in besonderem Maße die Narrationen des Lagers − die mühevolle Arbeit der Selbstaffirmation. Nach der Erfahrung der Diskriminierung bis hin zur grenzenlosen Ohnmacht und nach den traumatischen (Körper-)Ereignissen der Verfolgung und des Verlustes von Freunden, Familie und Utopien befassten sich Frauen mit den ihnen zugefügten Wunden und beschritten einen Weg des Empowerments. Für die im Korpus referierten Erzählungen erscheinen deswegen die Worte zutreffend, die die Gruppe Memoria Abierta für die autobiographischen Narrationen weiblicher Überlebender gefunden hat: Diese Frauen wollen sich nicht als bloße Opfer präsentieren. Die Gesten des Widerstands, von denen sie sprechen, und die Solidaritätsbezeigungen, auf die sie besonderen Nachdruck legen, sind elementar, um zu verstehen, wie sie mit diesem Trauma weitermachen, wie sie seine Auswirkungen verarbeiten, ohne ihr Leben zu lähmen.35

35 Bacci u.a., 2012, S. 98, aus dem Span. von MLS. 389

Erinnerung und Intersektionalität

Nicht nur Testimonios wie Graciela Fainsteins Detrás de los ojos, sondern auch fiktionale Texte wie La mujer en cuestión von María Teresa Andruetto machen auf die herausfordernde Bewältigung des Alltags im Weiterfließen des Lebens gerade für diejenigen, die von sozialer Gewalt getroffen wurden, aufmerksam. Für die Zwischenräume der Selbstbehauptung der Autorinnen und ihrer Figuren sensibilisiert, stellen die nächsten Seiten vier Texte in intersektioneller und erinnerungsdiskursiver Lektüre in den Vordergrund.

2. Faktuale Erzählungen – Testimonios zwischen Undarstellbarkeit und Dringlichkeit 2.1 Pilar Calveiros Poder y desaparición (1998) – Wider das Denken in Dichotomien Ein Schlüsseltext36 über die argentinischen Folterlager und die Funktion und Wirkung der Folter in ihnen ist der 1998 in Buenos Aires erschienene Essay Poder y desaparición. Los campos de concentración en Argentina [Macht und Verschwinden. Die Konzentrationslager in Argentinien] von Pilar Calveiro.

36 Die CONADEP-Veröffentlichung Nunca Más gilt mit 400.000 verkauften Exemplaren (vgl. San M artín, 2006, o. S.) als die meistverbreitete Narration über die Verbrechen der argentinischen Staatsrepression. Sie ist ein informatives Werk, wobei die Erklärungsnot, die aus der Ungeheuerlichkeit der Daten erwächst, durch die Einleitung gestillt werden soll. Neben den Inkonsistenzen und Auslassungen des Berichts bildet gerade die Einleitung eine strittige politische Aussage, wie Emilio Crenzel in La historia política del Nunca Más (2008) treffend herausstellt. Die Erstversion der Einleitung aus dem Jahr 1984 wurde vom Schriftsteller und CONADEP-Mitglied Ernesto Sábato verfasst und wird heute weitgehend als Niederschrift der Zwei-Dämonen-Theorie verstanden. Im Wortlaut »In den siebziger Jahren wurde Argentinien durch den Terror sowohl der extremen Rechten als auch der extremen Linken erschüttert« (CONADEP, 1987, S. 13) wird ein Deutungsangebot formuliert, das die Erklärungsgrundlage des Antiterrorkrieges wiederaufnimmt, so wie sie die Streitkräfte in ihrem Informe Final darstellten (s. Teil III), und auf eine Darstellung der Staatsrepression als Krieg hinausläuft. Die Ersetzung der Einleitung von Sábato wurde im Mai 2006 kontrovers diskutiert (vgl. Galak, 2006, o. S.). Nicht zuletzt gegen die in Nunca Más vertretene Meinung schreibt Pilar Calveiro in Poder y desaparición an. 390

Teil IV – Eine von Frauen geschriebene Literatur der desapariciones forzadas

Ursprünglich nur ein Teil einer umfangreicheren Masterarbeit37 in Politikwissenschaft, präsentiert sich das Buch als ein vielstimmiges Dokument. In ihm nimmt die Autorin die Testimonios von Überlebenden beiderlei Geschlechts, die in Lagern der verschiedenen Repressionskräfte – Marine, Heer, Luftwaffe, Polizei – festgehalten wurden, als Grundlage für ihre Analyse und verflicht sie mit ihren eigenen Erfahrungen als Gefangene (»Pilar Calveiro: 362«, 47). Das bei Colihue38 erschienene Büchlein, keine 200 Seiten stark und im Format kaum größer als ein DIN-A6-Blatt, das bereits in der sechsten unveränderten Auflage vorliegt, hat eine wachsende Leserschaft gefunden. Calveiros Text dient als vielzitierte Referenz für wissenschaftliche Publikationen, die sich mit den argentinischen Folterlagern beschäftigen. Aber nicht nur das darin vermittelte äußerst relevante Wissen über die Lagerrealität ist diesem prägnanten Werk eigen. Die Stimme dieses Textes ist so singulär, dass sie allein ein Hinweis für den literarischen Wert des Werkes ist. Seit der Veröffentlichung ihres Essays wurde Pilar Calveiro internationale Anerkennung zuteil für ihre wissenschaftlichen Publikationen, deren Schwerpunkte Biopolitik, politische Gewalt und insbesondere die jüngste Vergangenheit Argentiniens und ihre Erinnerungsdiskurse sind; sie ist inzwischen eine gefragte Vortragende bei internationalen Konferenzen. Ihr hybrider Text Poder y desaparición ist keine Autobiographie, kann aber als Testimonio-Essay bezeichnet werden. Er beruht auf Pilar Calveiros anderthalbjähriger Erfahrung der Internierung in den Folter- und Konzentrationslagern der Streit- und Sicherheitskräfte im Bezirk Buenos Aires nach ihrer Verschleppung am 07.05.1977, zunächst in Ituzaingó in der unter der Aufsicht der Luftwaffe befindlichen Mansión Seré, dann in der Polizeistation von Castelar, im ehemaligen Wohnhaus des 37 Der Buchumschlag stellt das Werk als Dissertation dar. Die Autorin berichtigte diese Information in einer persönlichen Korrespondenz im August 2012, die zur Grundlage für den Eintrag »Pilar Calveiro« in der spanischen Wikipedia wurde. 38 Der Verlag Colihue »wagte« 1998, das Buch zu veröffentlichen. Allein die Tatsache dieses Wagnisses zeigt die Entwicklung der Arbeit der Erinnerung von damals bis heute. Die Annahme einer fehlenden Leserschaft war es wohl, was den Editor zunächst davon abhielt, Calveiros Buch zu veröffentlichen, denn Colihue war Ende des letzten Jahrtausends ein in der Herausgabe unbequemer Texte erprobter Verlag. In der Reihe »Puñaladas. Ensayos de punta. Libros para incidir. Relámpago de ideas sobre un cuerpo, deseo de abrir fisuras en el debate argentino«, die später unter der Leitung des Direktors der Nationalbibliothek Horacio González weitergeführt wurde, war im Diktaturjahr 1979 bereits Néstor Perlonghers Prosa Plebeya, Ensayos 1980-1992 erschienen. 391

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damaligen Junta-Mitglieds Admiral Emilio Massera (wo der Nachrichtendienst der Marine Foltersitzungen abhielt)39, und zuletzt in der ESMA. Das Buch wurde von der Autorin in Mexiko verfasst, wohin sie − nach ihrer Freilassung aus der ESMA und nach kurzer Station in Spanien − mit ihren Töchtern 1979 ins Exil ging und wo sie freundlich aufgenommen wurde. Pilar Calveiro lebt heute noch dort, aktuell forscht und lehrt sie als Politikwissenschaftlerin an der Benemérita Universidad Autónoma von Puebla und ist Mitglied im prestigeträchtigen Sistema Nacional de Investigadores de México. Auf den folgenden Seiten wird der Essay, der durch die von Pilar Calveiro exzeptionell nüchtern und präzise geschilderten Inhalte innerhalb der Narrationen über die argentinischen desapariciones forzadas herausragt, auf seine intersektionellen Aspekte und seine Erinnerungsanlässe untersucht. In ihrem Text erstellt Calveiro ein minuziöses Register der Praktiken der Peiniger und des Verhaltens der Verschleppten und reflektiert über das darunter liegende politische Konzept. In der Erkenntnis, dass ein dichotomisches Denken des Sozialen und Politischen der Staatsrepression zugrunde liegt, widmet sie sich dann der Dekonstruktion dieser monolithischen Schwarz-Weiß-Perspektive und schreibt dabei mit messerscharfen Worten ein unvergleichliches Zeugnis über die verborgenen Orte des Terrors. a. Die essayistische Texterfassung und die Anlässe des Schreibens in Poder y desaparición Als das Schreiben eines modernen Ichs begründete Michel de Montaigne 1579 die Gattung des Essays, der sich durch seinen selbstreferenziellen Charakter und seine Hybridität auszeichnet. Akademische Monographien, argumentative Texte und das Hervorbringen einer persönlichen, mehr oder weniger literarischen Perspektive können unter dem Überbegriff des Essays gruppiert werden.40 Mit einem in der Narratologie angesiedelten Gattungsverständnis kann im Essay das gefunden werden, was in anderen literarischen Texten als »Fabel« bezeichnet 39 Wie ungewiss die Kartographie und wie unvorstellbar die schiere Existenz dieser Orte für die Allgemeinheit war, zeigt sich in der Berichterstattung in Página/12 über die »Casa del SIN«, das Gebäude, in dem Pilar Calveiro vom Nachrichtendienst der Marine vermutlich festgehalten wurde (vgl. Gomez, 1998, o. S.). Anstoß für die journalistische Ermittlung, die zur Standortklärung des Hauses des Schreckens beitrug, gab ein Treffen von ehemaligen Wehrpflichtigen, die, 20 Jahre nachdem sie vor dessen Toren Wache schoben, 1998 immer noch darüber rätselten, was sich im Haus wohl abgespielt hatte. 40 Siehe u.a. Pozuelo Yvancos, 2005, S. 180. 392

Teil IV – Eine von Frauen geschriebene Literatur der desapariciones forzadas

und hier durch eine originelle Logik ersetzt wird. Diese Logik greift auf ästhetisch-stilistische Mittel wie die Ironie und die Metapher zurück und in ihr findet sich das eminent künstlerische Merkmal der subjektiven Lektüre von Daten, die für die Persuasion vorgebracht werden.41 Die Hybridität des Essays besteht im spannungsgeladenen Verhältnis zum Objekt des Interesses, das sich in einer Methode niederschlägt, die nicht auf das Definieren ausgerichtet ist, sondern eher das Abenteuer des Denkens aufzeigen will: Das bedeutet, dass die Hybridität des Essays genau in seiner zentralen Position im Verhältnis zur Fiktionalität wurzelt, wobei diese aus einer weiten Perspektive zu verstehen ist (Fiktion bedeutet eine Hypothese zu fingieren), in der das Fingieren in der schiefen Ironie hinsichtlich des Konzepts besteht, in der schwerfälligen Beschreibung (wie Ortega es nannte) der Methode, darin, das Abenteuer des Denkens nicht zu definieren, sondern es aufzuzeigen.42

Pilar Calveiros Essay ist ein solches Abenteuer, insofern ihr Text von einem dekonstruktiven Projekt geleitet wird, das an feststehenden Grundlagen der Deutung der Staatsrepression rütteln will. Er ist auf den ersten Blick durchaus akademisch und wissenschaftlich, die Analyse zeigt aber auch seine literarische Qualität auf. Die kommunikativen Funktionen des Textes, sein informativer und persuasiver Charakter, geben des Weiteren Auskunft über die Anlässe der Erinnerungsarbeit. Mit großer Klarheit und in fast didaktischer Manier wird in Poder y desaparición das Leben in den Folterlagern (»la vida entre la muerte« [das Leben zwischen dem Tod], 44) beschrieben. Für die Existenz der Lager und die Praxis der Folter sowie für die Bezugspunkte der Erinnerung in Argentinien Mitte der 90er Jahre werden Hintergründe geliefert und es werden Zusammenhänge hergestellt, denen der implizite Leser zustimmen soll. In der sachlichen Prosa wissenschaftlicher Abhandlungen tritt die Subjektivität der Erzählenden gattungskonform zurück, ihre sehr persönliche Stimme wird in ihrem unverwechselbaren Stil jedoch immer deutlicher wahrnehmbar. Die Informationsfunktion des Textes wird auf Seite 44 artikuliert: »Ich werde versuchen zu beschreiben, wie die Konzentrationslager waren und wie das Leben des Gefangenen darin war, um die bombastische Militärmacht von jenem versteckten und verneinten Ort aus zu betrachten.« In diesen nüchternen Worten wird der StandPunkt des Gefangenen in der absoluten Asymmetrie zur militärischen Macht 41 Hernández González, 2005, S. 178. 42 Ebd., aus dem Span. von MLS. 393

Erinnerung und Intersektionalität

dargestellt. Diese Position ist jedoch gleichzeitig ein verleugneter und versteckter Aussageort des mit dem Tode ringenden Subjekts. Die Erzählung macht diesen Ort sichtbar und entlarvt die Tatsache, dass das fehlende Wissen darüber anfällig für eine Täuschung über die Deutung der Repressionspraxis macht. Die Darstellung einer »Wahrheit« ist kein ontologischer Platz, sondern der Aufruf an den impliziten Leser, sich mit der konkreten Erfahrung des Lagers und der den Desaparecidxs zugefügten Pein auseinanderzusetzen. Die schlichte Schilderung der Folterpraxis enthält ein Wissen über jenen »versteckten und verneinten Ort«, das dem Leser eröffnet werden soll: »Es ist wichtig zu wissen, was man mit einem Menschen macht, um zu verstehen, wie er terrorisiert und bearbeitet wird. Der Terror gehört zu einem anderen Register als die Angst« (65).43 In seiner persuasiven Funktion stellt der Text eine These über die Wirkung der Biomacht in den totalitären Konzentrationslagern der argentinischen Diktatur in den Mittelpunkt der Argumentation. Die Position der Überlebenden lässt dabei eine Stimme erkennen, die diese ignorierte Realität enthüllt und anprangert. Das, was für immer hätte verschwiegen werden sollen, wird von Pilar Calveiro zur Sprache gebracht und macht ihr Werk zu einem wichtigen Akt des Widerstandes gegen das Vergessen. Ihr Schreiben baut sich zu einem Gegendiskurs auf, zum writing back, zu einem Anschreiben gegen eine Gegenwart, in der Tatsachen verdrängt bzw. verfälscht werden. Die Anlässe für das Schreiben erfassen deshalb nicht nur ein writing-back-Moment der Aneignung der Sprache durch eine Person, die gefoltert und diszipliniert wurde, damit sie für immer schweigt. Die Schreibpraxis als solche ist auch ein Akt der Selbstaffirmation dieses Menschen gegen die Diskreditierung, der er ausgesetzt war und wodurch in der Konsequenz auch seine Worte dazu verdammt wurden, nie ernsthaft Gehör zu finden. Diese Anlässe bilden den Impuls für eine Berichtigung und Umschreibung zirkulierender Versionen der Vergangenheit aus einer in der Erfahrung des Körpers verankerten Sicht. Wenn die Überlebende auf die Ereignisse Bezug nimmt, bringt sie, wie folgendes Zitat von Hannah Arendt zu Beginn des Hauptteils ankündigt, ein

43 Zu dieser Feststellung mögen Hannah Arendts Worte ermutigend beigetragen haben: »Wenn es richtig ist, dass die Konzentrationslager die konsequenteste Institution totaler Herrschaft sind, dann dürfte zu ihrer Erkenntnis ein Verweilen beim Grauen unerlässlich sein« (A rendt, [1955] 2009, S. 912). Arendt nahm damit Bezug auf Georges Batailles Beobachtung in der französischen Zeitschrift Critique vom Januar 1948 und argumentierte so gegen die Vorstellung der Monstrosität der Lager, denn sie erkannte in dieser Vorstellung eine zusätzliche Schwierigkeit der gesellschaftlichen Auseinandersetzung damit. 394

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weiteres Anliegen zum Ausdruck, nämlich nicht nur auf die eigene Situation, sondern auf die kollektive Lage der Überlebenden hinzuweisen: Trotz überwältigender Beweise haftet das Odium der Unglaubwürdigkeit, mit dem Berichte aus Konzentrationslagern zuerst aufgenommen wurden, immer noch jedem an, der davon berichtet; und je entschlossener der Berichterstatter in die Welt der Lebenden zurückgekehrt ist, desto stärker wird ihn selbst der Zweifel an seiner eigenen Wahrhaftigkeit ergreifen als verwechsele er einen Alptraum mit der Wirklichkeit.44

Das Anliegen, zur generellen Aufklärung der Situation des Überlebens beizutragen, bildet einen Argumentationsrahmen, der sich über das gesamte Buch erstreckt und sich gegen die gesellschaftliche Stigmatisierung der Überlebenden richtet. Pilar Calveiros Erzählabsicht wird bereits zu Beginn ihrer Erzählung durch das Zitat von Hannah Arendt eingeleitet und am Ende des Textes von Bruno Bettelheims Beobachtung über das Überleben der Nazi-KZs präzisiert. Tragender Gedanke in Bettelheims Darstellung ist die fehlende Gewissheit des Überlebenden über die Gründe seines Überlebens. Und obwohl diese Unwissenheit naheliegend zu sein scheint, ruht darin eine wesentliche Angabe: Die Entscheidung über das Überleben lag nicht beim Überlebenden, sondern bei seinem Peiniger. Daraus ergibt sich ein anhaltendes Gefühl der Ohnmacht, das von Calveiro als Alptraum beschrieben wird: Das Konzentrationslager und die Gründe für das Hinein- oder Herauskommen unterliegen gänzlich der Lagerlogik, die dem Überlebenden fremd ist. Und trotzdem verwandelt sich die Erklärung dieses Problems in einen wahren Alptraum. (159)45

44 A rendt, [1955] 2009, S. 909, in spanischer Übersetzung bei Pilar Calveiro (23). Arendts Worte sind in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft mit einem Hinweis auf die Werke von David Rousset und Bruno Bettelheim versehen. Bettelheim hat selbst im Angesicht der Gasöfen immer noch nicht an die Realität der Vorgänge glauben können. Arendt nimmt diesen Hinweis auf, um die Tatsache zu besprechen, dass in der Ungeheuerlichkeit der Verbrechen eine Art Schutz für die Mörder liegt, denn die Wahrheit beleidigt so sehr den gesunden Menschenverstand, dass ihr kein Glaube geschenkt werden kann. 45 Aus dem Span. von MLS. 395

Erinnerung und Intersektionalität

Mit deutlichem interdiskursivem und intertextuellem Bezug auf die Shoah erfasst Calveiros Text den Aspekt der Arbitrarität des Überlebens in der argentinischen Tragödie. Verschiedene familiäre und politische Hintergründe, divergierende Rollen in den Guerillaorganisationen, eine bestehende oder keine vorhandene Verbindung zum bewaffneten Kampf, unterschiedliche Verhaltensweisen während der Gefangenschaft – keiner der Gefangenen wusste, was sich positiv auf seine Überlebenschancen auswirken würde. Keiner wusste, was genau das Gegenteil bewirken würde. Diese ambivalente Situation zeigt den aleatorischen Prozess der Auswahl der Überlebenden und ihre Ohnmacht dabei. Calveiro macht auf diese Tatsache aufmerksam und prangert dabei das gesellschaftliche Bild der Überlebenden an. In dem intertextuellen Spannungsbogen zwischen der Shoah und den argentinischen Folterlagern beschreibt sie eine prekäre Lage, die ihr bekannt ist; fein eingewebt liest man zwischen den Zeilen ihre eigene Erfahrung: Wenn einer, der aus einem Konzentrationslager flieht, schon verdächtig ist, ist es der Überlebende tausendmal mehr. Sein Widerstand, das Geschick, mit dem er seine Häscher austrickste oder täuschte, die Akte aus Solidarität, das alles zählt nicht. Die Gesellschaft will verstehen, warum er überlebt hat, und er kann es nicht erklären, so dass er quasi automatisch zum Ausschluss verurteilt und sein Weiterleben zum sichtbaren Beweis seiner Schuld wird, worin diese auch immer besteht. (160)46

Mit der Darstellung, wie unplanbar der Hochseilakt des Überlebens im Lager war, macht Pilar Calveiro deutlich, wie unbegründet der plakative Stempel des Verrats ist, der den Überlebenden nachhaltig aufgedrückt wird. Erst die Anerkennung für die Leistung, die der Beitrag der Überlebenden zur Aufklärung der Menschenrechtsverbrechen bedeutete, veränderte allmählich den Generalverdacht. Aus zeitlicher Distanz wird klar, wie nützlich dieser Verdacht für die Allgemeinheit war. Und wie diese Verallgemeinerung für den Einzelnen der Wirkung einer Schutzbehauptung nahekommt, die von der Frage ablenkt, wie das eigene Verhalten während der Diktatur zu ihrer Einrichtung und Legitimation beigetragen hat. Die Überlebenden vermitteln beunruhigende Einblicke in den bedeutungsinstabilen Raum »des Lebens zwischen dem Tod« und relativieren damit Schwarz-Weiß-Vereinnahmungen dieses Raumes. Ihre Narrationen öffnen einen dritten Raum, in dem allumfassende manichäische Identitätszuschreibungen und plakative Vorstellungen von Zugehörigkeiten in Frage gestellt 46 Aus dem Span. von MLS. 396

Teil IV – Eine von Frauen geschriebene Literatur der desapariciones forzadas

werden. Durch ihre informative und persuasive Funktion erscheint die essayistische Texterfassung von Poder y desaparición in besonderem Maße angemessen, um den Anlässen der Schreibpraxis Gestalt zu geben. Das Schreiben selbst agiert hier gegen ein Gedächtnis der Diktatur, das durch die Diskreditierung der Überlebenden das Weiterbestehen des dichotomisch aufgebauten Diskriminierungsdiskurses gegen die Subversivxs sichern soll. Indem die Narration einen konsistenten Einblick in die der Allgemeinheit verborgene Welt der Lager gibt, wirkt sie auf den postdiktatorischen Diskurs ein und beeinflusst darüber hinaus die Transkription der Staatsrepression ins kulturelle Gedächtnis. In die Lektüre des Buches wird der implizite Leser vom Poeten Juan Gelman eingeführt; er stellt – bedingt durch die Umstände des Schreibens, aber zweifellos auch durch den schlichten Stil – die Verwandtschaft des Textes mit den Narrationen von Primo Levi und Gustaw Herling heraus.47 Gelman unter47 Juan Gelman führt den Text mit folgenden Worten ein: »Es gibt bemerkenswerte Werke über die Lagererfahrung von Überlebenden der Nazi-KZs oder der sowjetischen Gulags – Primo Levi, Gustaw Herling –, in der Ich-Form geschrieben, wie es eine Zeugenaussage erfordert. Dieses Buch ist anders. Seine Verfasserin nutzt die 3. Person, den anderen, um über das Erlebte zu reden. Nur en passant nennt sie sich selbst: ›Pilar Calveiro: 362‹, mit der Nummer, die ihr die Repressoren in der ESMA zuwiesen. Mit Hilfe dieser Distanzierung entfaltet sie ein breites und facettenreiches Feld von Reflexionen über ›das Leben zwischen dem Tod‹ der Gefangenen, die Schizophrenie der Peiniger, die unvermeidlichen Begegnungen der einen mit den anderen. Sie weicht keinem Thema aus, nicht einmal dem auch heute noch in Argentinien brandaktuellen der Verdächtigungen, mit denen man die Lagerüberlebenden überzieht, wie es auch im Nachkriegseuropa der Fall war. Pilar Calveiro demontiert die leichtfertige Einteilung der Gefangenen in ›Helden‹ und ›Verräter‹ und geht der lastenden Komplexität dieser Frage in einem Universum nach, das beherrscht ist von den Folterungen, dem Schweigen, der Dunkelheit, dem brutalen Bruch mit allem außerhalb – gerade mal durch eine Wand getrennt –, der Willkür der Schergen, dieser Gebieter über Leben und Tod, ihrem Willen, aus dem Opfer ein Tier, ein Ding, ein Nichts zu machen. Sie erzählt uns auch von der ›alltäglichen Tugend‹ des Widerstands der ›Desaparecidos‹, diesen kleinen, anonymen Gesten des Muts, die ein großes Wagnis darstellten und gelebte Menschenwürde waren, Menschenwürde, die nicht einmal die totalitärste Macht ersticken kann« (aus dem Span. von MLS). Beachtenswert ist bei Juan Gelman, wie bei Ricardo Piglia, die klare Intervention für die Verbindung der argentinischen Lager sowohl mit den Nazieinrichtungen als auch mit den Gulags. Gelman, auch Führungsmitglied der Montoneros, hat 397

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streicht dabei die Singularität des Werks durch die von Pilar Calveiro gewählte dritte Person sowie durch den Wissenschaftsdiskurs als den von der Autorin gewählten Ort für ihre Aussage. Und in der Tat, die Wahl des Registers, um sich mitzuteilen, die Art und Weise der Bewältigung der Aufgabe des Mitteilens und das Feld für die Diffusion und Rezeption des Textes sind konstitutive Elemente und Konsequenz dieser Standortbestimmung. Die Einschreibung des Textes in den wissenschaftlichen Diskurs stärkt zweifellos seinen Wahrheitsanspruch. Der oben genannten Charakterisierung des Anlasses des Schreibens in Pilar Calveiros Werk als ein »Dagegen-Anschreiben« fügt Juan Gelman eine weitere Facette hinzu. Er misst der Schreibpraxis und dem Text die Bedeutung bei, selbst ein Sieg über die Ziele des Folter- und Konzentrationslagers zu sein: Mit der Arbeit für und durch diesen Text gelingt Pilar Calveiro das Verlassen des Konzentrationslagers, und sie nimmt alle ihre Leidensgenossen, tot oder lebendig, dabei mit. Dieses Buch ist also auch ein Sieg. (6)48

Mit dem bezeichnenden Wort »Sieg« gibt Gelman der Niederlage einer Generation, der sog. setentistas, einen anderen Sinn als den des Verlustes. Mit einer ähnlichen Geisteshaltung schrieb er in »Notas«: ich werde dich töten/niederlage. nie wird es mir an einem geliebten gesicht mangeln, um dich erneut zu töten.49

So lassen sich Gelmans einführende Worte nicht nur als ein Zeichen der Anerkennung lesen, sondern u.a. als der Versuch, dem erlittenen Schmerz einen anderen Sinn zu geben. Schreiben ist hier sinnstiftende Hommage an die Leirelativ früh kritisch Stellung gegenüber der Sowjetunion bezogen und gab im Interview mit Mario Benedetti im Jahr 1972 an, aus der Kommunistischen Partei Mitte der 60er Jahre ausgetreten zu sein, als er ihre Politik als reaktionär bezeichnete (Benedetti, 1972, S. 223-249). Diese Haltung Gelmans stimmt mit den Grundsätzen des peronistischen Denkens überein, das eine dritte Position gegenüber beiden Hegemonialmächten des Kalten Krieges vertrat und sie im bekannten Motto »ni yanquis ni marxistas, peronistas« [weder Yankees noch Marxisten, Peronisten] öffentlich besang. 48 Aus dem Span. von MLS. 49 Aus Nota I (verfasst in Calella de la Costa – Paris – Rom, August-Oktober 1979), in Gelman, 1997, S. 97, aus dem Span. von MLS. 398

Teil IV – Eine von Frauen geschriebene Literatur der desapariciones forzadas

densgenossen und als solche ein grundlegendes Moment der Literatur der desapariciones forzadas, eine Praxis gegen das Vergessen. Das Wort zu ergreifen, um über das Geschehene zu berichten, ist ein persönliches, aber auch ein solidarisches Anliegen, wie die Wahl der Mehrstimmigkeit beweist. Diese Mehrstimmigkeit gibt dem Text Lebendigkeit und Legitimation, denn die Aussagen weiterer Zeug_innen werden in wörtlicher Rede unmittelbar und unverfälscht wiedergegeben. Pilar Calveiro wählt mit dieser Perspektivierung den direkten Blick ins Zentrum des geteilten kollektiven Schmerzes, um darin dem eigenen Schmerz einen Platz zu geben. Die Tatsache, dass sie ihre Erfahrungen und Reflexionen in einem polyphonen Text verfasst hat, sie in Verbindung mit den Erfahrungen und Reflexionen anderer gesetzt und dabei auf eine suggerierte Form des kollektiven Schreibens zurückgegriffen hat, ermöglichte ihr gleichzeitig einen Akt der Solidarität und einen Spagat: sich vom Erlebten bis zu einem gewissen Grad zu distanzieren, um es gleichzeitig aus nächster Nähe erzählen zu können. Auf diese Weise werden die eigene und die fremde Sensibilität in einem Aufdeck- und Versteckspiel geschützt. Diese Leistung der Distanzierung vom Erlebten ist eine Strategie, die der Autorin möglicherweise auch erlaubt, einen gewissen Abstand zur eigenen Erfahrung zu gewinnen, wenn das Erlebte für ihre Theoriearbeit abgerufen wird; sie scheint gleichzeitig das Schreiben überhaupt erst möglich zu machen. Das Erlebte – der erlebte Schmerz – ist zwar unabdingbar als Quelle der Beschreibung präsent. Die damit verbundene Emotionalität scheint jedoch beim Schreiben völlig zurücktreten zu müssen. Die so entstandene Narration ist keine kühle Schrift und schon gar kein kalter Bericht, sondern vielmehr der Versuch, das Erlebte anhand des von anderen niedergelegten Wissens zu überprüfen, um es dadurch artikulieren zu können. Beatriz Sarlo unterstreicht in Tiempo pasado die Notwendigkeit der Reflexion jenseits der akkumulativen Kraft der Testimonios und hebt Pilar Calveiros Text und Emilio de Ípolas La bemba50 aufgrund ihrer erkenntnistheoretischen Perspektiven hervor.51 Der Semiotiker und Soziologe de Ípola stützt sich auf eine ähnlich beschaffene Plattform fürs Schreiben, wenn er in seiner herausragenden Reflexion über die Gerüchte in den Gefängnissen des »Proceso« den Alltag darin beschreibt und Zeugnis darüber ablegt:

50 Nach der ersten Version aus dem Jahr 1978, im mexikanischen Exil geschrieben und dort 1982 veröffentlicht, ist der Text von De Ípola seit 2005 in einer Neuauflage erhältlich. 51 Sarlo, 2005, S. 95-123. 399

Erinnerung und Intersektionalität Mit dieser improvisierten Formulierung spiele ich einfach auf die unerlässliche Distanzierung gegenüber seinem Objekt an, die nichts anderes ist als ein Fokus, den ich zwar nicht als wissenschaftlich, aber durchaus als intellektuell und analytisch bezeichnen würde, zur Behandlung der Phänomene, die sein Interesse wecken.52

De Ípola gewährt in seinem Text einen Einblick in die Szenarien und die Wirkung von Desinformation, Gerüchten und Auslassungen im diktatorischen Gefängnis, einem Ort, den er als politischer Gefangener von innen kennen lernte. Als Mikrostudie einer parallelen Realität gelesen, fokussiert das Buch die Kanäle und Akteure, die den Informationsaustausch im und aus dem Gefängnis vorantrieben. Sie erweist sich als zutreffendes Echo einer Realität, die zensurbedingt außerhalb der Mauern Parallelen aufwies. »In jener Welt, in der die Zeichen verboten sind oder streng kontrolliert werden, ist alles Zeichen und Botschaft: Alles ist unweigerlich und nachdrücklich bedeutsam.«53 Pilar Calveiro nimmt in ihrem Artikel »El testigo narrador« ihrerseits u.a. auf Beatriz Sarlos Text kritisch Bezug und widerspricht der Auffassung, die Testimonios seien für die Bildung einer historischen Wahrheit kontraproduktiv. Calveiro wertet die Rolle der Testimonios auf und weist auf die emotionelle Herausforderung hin, die diese Erzählungen für den Rest der Bevölkerung mit sich bringen; zugleich betont sie die mit ihren Lektüren einhergehende Möglichkeit, »Sinn zu verleihen, nicht nur den erzählten Fakten, sondern den heute vorherrschenden Koordinaten politischer Macht, die uns menschlich, politisch und akademisch herausfordern.«54 Poder y desaparición erschöpft sich nicht in seiner informativen Funktion. Calveiros Zeilen besitzen streckenweise lyrische Qualität und haben einen persönlichen Charakter. Aspekte, die für das wissenschaftliche Schreiben überraschend sind, aber für eine Einordnung des Textes in das Essay-Genre sprechen sowie – trotz aller Distanz – für die Charakteristik eines »situierten Wissens«, eines Schreibens »mit dem Körper« im Diskurs der Überlebenden. Fernando Reati hat bei der Analyse von Nora Strejilevichs Una sola muerte numerosa eine literarisch ästhetisierende Sprache bemerkt, die für die Erzählung des persönlichen und menschlichen Dramas der Viktimisierung charakteristisch ist.55 Diese Beobachtung gilt auch für Calveiros Testimonio-Essay. Mögen die folgenden 52 53 54 55 400

De Ípola, [1982] 2005, S. 10, aus dem Span. von MLS. Ebd., S. 29. Calveiro, 2008a, S. 55. R eati, 2004, S. 112.

Teil IV – Eine von Frauen geschriebene Literatur der desapariciones forzadas

Abschnitte aus Poder y desaparición als Beispiele für diese textliche Qualität dienen: Sterben, aber sitzend auf den Tod warten und in einer bestimmten Position. Sterben, aber davor antworten »Ja, señor«, wenn man mit einem Offizier redet. Sterben ohne Kampf, in einer wohlgeordneten Reihe von mundtot gemachten Gefangenen, in einer dieser »Prozessionen menschlicher Wesen, die wie Marionetten ihrem Tod entgegengehen«, wie sie es schon in den Nazilagern gegeben hatte. Es gibt hier keinen Raum für den Verurteilten, der seine Verfolger beschimpft, es gibt keinen Raum für den Heldentod, keinen Raum für den Freitod im Schoß dieser bürokratischen Macht. (59)56 Im Lager wie im Leben sind die Dimensionen der Solidarität und des Verrats einander Mitbewohner, wobei dieser allerdings zutage tritt, während jene unterirdisch bleibt. Was ich sagen will: Selbst unter solch niederschmetternden Umständen gelingt es der Macht nicht, sich gänzlich durchzusetzen. Selbst inmitten eines Projekts zur Zerstörung und Verwüstung der Persönlichkeit sucht und findet der Mensch seine Würde. Wenn er sich gegen den Schmutz zur Wehr setzt, wenn er einen Mitmenschen schützt, wenn er sich mit seinen Kameraden solidarisiert, wenn er die Folter so weit erträgt, wie er es schafft, wenn er dem Tod mit Haltung entgegengeht, dann bewahrt der Mensch seine Würde. (113)57

Ein genauerer Blick auf das Tempus in diesen Passagen macht den bemerkenswerten Aspekt deutlich, dass sich die transkriptive Bezugnahme vor allem durch die Verwendung des Präsens als Vergegenwärtigung von Vergangenem konstituiert, des historischen Präsens. Auch wenn nicht-historische Erzählungen und allgemeingültige Prinzipien – die im Wissenschaftsdiskurs üblich sind – generell durch das Präsens artikuliert werden, ist die erzählte Zeit der hier ausgewählten Testimonio-Auszüge eine Zeit, die nicht vergeht und nicht vergangen ist: die Zeit erinnerter Schmerzen und Verluste, die durch die Gedächtnispraxis verbal geradezu präsent werden. Die Re-Interpretation gängiger Versionen der Praxis der Staatsrepression, die – ohne die Intervention der Zeugin – bis zu diesem Zeitpunkt Gültigkeit und Eingang in das kollektive Gedächtnis gefunden hatten, findet durch die Herstellung einer engen Verbindung zu der Zeit evozierter Ereignisse statt und transportiert diese zeitliche Nähe in die Gegenwart der Erzählung. 56 Aus dem Span. von MLS. 57 Aus dem Span. von MLS. 401

Erinnerung und Intersektionalität

Die Widmung der Autorin, die das Buch Lila Pastoriza58 – seinerzeit wie sie Desaparecida in der ESMA – zum Geschenk gemacht hat, ist auch bezeichnend für diese der Umdeutung geltenden Perspektive ihres Schreibens: »Lila Pastoriza gewidmet, der lieben Freundin, Expertin in der Kunst, Auswege zu finden und gegen die Macht mit zwei Waffen mit sehr hoher Feuerkraft zu schießen: mit dem Lachen und mit dem Spott« (7). Calveiro rechnet dem Lachen die Fähigkeit zu, Leiden zu lindern, und der Verspottung der Übermächtigen die Chance, ihrer Allmacht zu entfliehen. Es sind »tretas del débil«59, jene Finten des Schwächeren, die den blinden Fleck der Mächtigen aufdecken und karnevalisieren. Diese Strategie bildete im Lager offensichtlich eine korrosive Kraft, einen kleinen destabilisierenden Spalt, den Pastoriza zu öffnen wusste. Gerade die Suche nach jenen Rissen und Spalten in der Lagerrealität, in denen die Biomacht brüchig wurde, bewegt Calveiros Narration. Sie hebt damit hervor, dass es an diesen Orten der Entmenschlichung kleine alltägliche Gesten der Menschlichkeit gab, die Widerstand und Würde unter schlimmsten Bedingungen ermöglichten. Für die Begründung dieses Standpunktes stützt sie sich auf Tzvetan Todorovs Frente al límite (1993)60, in dem der bekannte französische Literatur- und Sprachwissenschaftler bulgarischer Herkunft der Frage nach der gelebten Moral in den Lagern des Totalitarismus nachgeht. Sein Interesse, diesem Thema schreibend näher zu kommen, erwacht während des Besuchs eines fast verlassenen jüdischen Friedhofs in Warschau im Jahr 1987 und wird von den Ereignissen begleitet, die das Ende des sowjetischen Regimes einleiteten. Todorov untersucht die menschlichen Leistungen des Schmerzzufügens und des Mitgefühls unter den extremen Bedingungen des Konzentrationslagers und zeichnet Parallelen zwischen diesen Orten der Repression in totalitären Systemen. Ein besonders bewegender Satz aus Todorovs Buch ist quasi eine Anleitung für Calveiros Schreiben: [D]ie Toten verlangen von den Lebenden: Erinnert euch an alles und erzählt es; nicht nur im Kampf gegen die Lager, sondern auch im Kampf dafür, dass unser Leben seinen Sinn behält, indem es eine Spur hinterlässt. (14)61 58 Lila Pastoriza leitete die 1976 durch Rodolfo Walsh gegründete geheime Nachrichtenagentur ANCLA. Sie wurde verschleppt und eineinhalb Jahre in der ESMA gefangen gehalten. Seit 1985 engagiert sich die Journalistin in unterschiedlichen Initiativen der Menschenrechtsbewegung. 59 Nach Josefina Ludmers bekanntem Artikel »Las tretas del débil« (Ludmer, 1984). 60 Dt.: Angesichts des Äußersten, aus dem Franz. von Wolfgang Heuer und Andreas K nop, München 1993. 61 Vgl. Todorov, 1993, S. 103, hier aus dem Span. von MLS. 402

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Die Bemühungen, dem menschlichen Leben und Sterben (wieder) einen Sinn zu geben, treiben auch hier die Handlung des Bezeugens an. Die schreibende Überlebende erfüllt dabei eine Hoffnung, die von den Lagerinsassen während der Haft als utopisch eingeschätzt und doch kollektiv geteilt wurde, nämlich eines Tages über das Grauen berichten zu können: Im Lager war eine der intensivsten Vorstellungen die, dass jemand es lebend verlassen musste; jemand musste überleben, um Zeugnis abzulegen und zu erzählen; jemand musste die Erinnerung an die Konzentrationslager aufbauen. Diese fixe Idee zeigt den Widerstand gegen einige Lagerziele: das Verschwindenlassen des Unangepassten, das Säen von Terror und die Schaffung von Subjekten und unterwürfigen Gesellschaften. (114)62

Durch die Möglichkeit der späteren Zeugenschaft findet Pilar Calveiro einen Beweis für die Grenzen des Lagers. Sie greift dabei allerdings nicht auf eine Rhetorik der Verklärung des Lagers als Ort des Widerstands zurück, sondern deckt vielmehr die leisen Gesten und die kleinen Fluchten in diesem Raum auf. Sie holt persönliche Momente der Würde und der Menschlichkeit angesichts des Todes aus der Vergessenheit. Etwa diesen, der mit der Idee des Widerstandes den blanken Kampf ums Überleben beschreibt: Ana María Careaga, bei der Gefangennahme 17 Jahre alt und schwanger, schildert es so: »Eines Tages spürte ich zum ersten Mal, dass das Wesen in meinem Bauch sich bewegte. Meine Freude war riesig; ich fühlte, dass es lebte, dass es sich widersetzt hatte … Das kleine Geschöpf gab mir die Kraft zum Überleben. Den ganzen Tag sprach ich mit ihm, sagte ihm Gedichte auf und erzählte ihm Geschichten … Mein Baby hatte dem Tod standgehalten; das war seine Erwiderung auf die Barbarei; ich musste mit ihm und für es standhalten. (107)63

Der Absicht der Zerstörung des moralischen Individuums in den Lagern setzt Calveiro in der Performanz der Erinnerung die Lichtblicke des menschenmöglichen Widerstands des Einzelnen entgegen. Die Aufwertung des Individuums nach seiner Verleugnung durch den Massenmord ist eine These, die Annette Wievorka in ihrer Studie The Era of the Witness postuliert, als sie aus Lʼhomme et la mort (1976) des französischen Philosophen Edgar Morin zitiert. Damit 62 Aus dem Span. von MLS 63 Aus dem Span. von MLS. 403

Erinnerung und Intersektionalität

weist sie auf die Hoffnung hin, die durch die Erstellung von Erinnerungsbüchern nach der Shoah gehegt wurde, Tote dadurch dem Vergessen zu entreißen: »The violence of the trauma produced by a denial of individuality implies a no-less-powerful affirmation of individuality, whether one’s own or that of a loved one. An individuality that balks at death is an individuality that affirms itself against death.«64

Mit der Aufwertung der Menschenrechte in den 70er Jahren bescheinigt Wievorka dieser Absicht der Anerkennung individueller Schicksale eine größere Tragweite: »The individual and the individual alone became the public embodiment of history.«65 Diese Erkenntnis liegt den mannigfaltigen Ton- und Videoaufnahmen der Zeugen der Shoah, die durch die Shoah Foundation (Steven Spielberg) gesammelt wurden, ebenso zugrunde wie der damals Verbreitung findenden und inzwischen etablierten geschichtswissenschaftlichen Methode der oral history. Überlebende wie Pilar Calveiro machen vom Schreiben Gebrauch und weisen auf seine Notwendigkeit hin, um sich der Autorisierung, die daraus erwächst, selbst zu vergewissern. Denn im Schreiben gelingt eine wesentliche Handlung der Ermächtigung nach einer Erfahrung, die von Ohnmacht geprägt ist. Die Schreibpraxis agiert nicht nur das Bedürfnis nach symbolischer Artikulation von Ideen- und Gefühlswelten aus, es stellt eine weitere, ästhetisierende Form dar, Bezug auf den Schmerz zu nehmen. Damit eröffnet es die Möglichkeit der Entlastung vom inneren Leidensdruck durch die Objektivierung des Leidens. Wird das Leiden zum Objekt des Bewusstseins, ist eine Identifizierung damit durchaus möglich, es ist jedoch keine wesentliche, alles andere überdeckende Empfindung des Selbst mehr. Dem Schreiben deswegen eine heilende Wirkung beizumessen bzw. sie herbeizureden, erscheint dennoch unangemessen, denn zugefügtes Leid kann nicht »geheilt« werden, weil es nicht ungeschehen gemacht werden kann. Der Prozess der Integration erlittenen Leids in die persönliche Biographie wird bestenfalls durch das Schreiben unterstützt, da es einen neuen Bezug darstellt, der durch seine Einbettung in das kommunikative Netz den Zugang eröffnet, den eigenen Schmerz in ein übergeordnetes Narrativ zu stellen. Die gelungene symbolische Artikulation ist wohl das künstlerische Objekt, das seine Adressaten bewegt. Sich gesellschaftlich der Frage dieses sozial verursachten und erlittenen Schmerzes anzunehmen, wird durch die Abwehrhaltung, die Leiden erzeugt, 64 Zit. nach Wievorka, 2006, S. 27. 65 Ebd., S. 97. 404

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verhindert. Dieser Widerstand ist auf emotionaler Ebene ein undurchdringlicher Deckmantel, ganz besonders in Bezug auf die Folter. Deshalb ist eine nüchterne Auseinandersetzung, jenseits von Voyeurismus oder Verharmlosung, ein erster Schritt auf dem Weg, den Folteropfern aufrichtig zuzuhören. Pilar Calveiro leistet ihren Beitrag jedenfalls in diesem Sinne, wenn sie den impliziten Leser explizit dazu einlädt, sich damit zu befassen. Es gelingt ihr, mit auffällig sachlichen, ja fast sezierenden Worten ein Szenarium zu erschaffen, das der Leser betreten kann, um sich in Mitgefühl und Empathie zu üben: Wenn man dasitzt und liest, ist der Terror nur ein Begriff, der vage mit einer Art großer Angst verbunden ist, vielleicht mit einem kinematografischen Werk, aber es reicht, irgendeine dieser Techniken auszuwählen, eine, die man persönlich für am erträglichsten hält, und sich vorzustellen, wie es sich am eigenen Leib anfühlt, wenn man sie grenzenlos und unbegrenzt, immer wieder und endlos zu spüren bekommt, um eine annähernde Vorstellung davon zu haben, wie Terror erzeugt wird. Endlos bedeutet im wahrsten Sinne ohne Ende, bis zum Tod oder bis zu einem willkürlichen Ende, auf das man keinen Einfluss hat. (65)66

Dieses Angebot darf nicht mit dem Versuch verwechselt werden, die Schmerzen unter der Folter nachvollziehbar zu machen. Das besagen auch die Worte Jean Amérys, der in seinem Aufsatz »Die Tortur« aus dem Jahr 1966 die Aporie der Beschreibung des Schmerzes folgendermaßen zusammenfasste: Es wäre ohne alle Vernunft, hier die mir zugefügten Schmerzen beschreiben zu wollen. War es »wie ein glühendes Eisen in meinen Schultern«, und war dieses »wie ein mir in den Hinterkopf gestoßener stumpfer Holzpfahl?« – ein Vergleichsbild würde nur für das andere stehen, und am Ende wären wir reihum genasführt im hoffnungslosen Karussell der Gleichnisrede. Der Schmerz war, der er war. Darüber hinaus ist nichts zu sagen.67

Die Erzählabsicht besteht eher in einem Aufruf der Zeugen, sich auf die Narration einzulassen, sich ihnen über ihre Narration anzunähern, sich ihrer Erinnerung – als einer unter vielen anderen – zu stellen. Volkhard Knigge, deutscher Shoah-Forscher und derzeit Direktor der Gedenkstätte Buchenwald, ergänzt

66 Aus dem Span. von MLS. 67 A méry, [1966] 2008, S. 63. 405

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dieses Sicheinlassen durch einen Hinweis auf die notwendige Praxis der Erinnerung: […] sich gegenüber einem wohlwollenden, mitfühlenden, einfühlsamen Anderen zu erinnern, einem Anderen, der tatsächlich sein Ohr leiht und sich der Erinnerung aussetzt, auch wenn sie schmerzt, gerade wenn sie schmerzt, wird und muss eine Form der Würdigung von Opfern totaler Gewalt bleiben, weil diese Form der Intersubjektivität nach aller psychotherapeutischen Erfahrung mit traumatisierten Menschen der einzige Weg ist, Traumatisierungen wenigstens ansatzweise zu überwinden und zum Opfer Gemachte dabei zu unterstützen, das Bewusstsein eigener Würde so weit als möglich wiederherstellen zu können.68

Das Zuhören ermöglicht die Überwindung der Distanz zum Opfer und nur so kann den Opfern der Platz in der Gemeinschaft der Menschen zurückgegeben werden, der sie gewaltsam entrissen wurden. Die Tatsache, dass die Beschreibung des Leidens eines Anderen im Adressaten durch den fremden, mitgefühlten Schmerz ein Gefühl der Ohnmacht auslöst, wird von Calveiro als relevante Schwierigkeit im Umgang mit den Schilderungen der Überlebenden erkannt. So äußert sie sich in einem Text neueren Datums über die Worte des Zeugen und seine Beziehung zum Adressaten und macht auf die Verankerung der Erinnerung im Körper und in der Biographie, auf den »embodied memory«-Charakter der Erzählung des Zeugen aufmerksam: Mehr als irgendein Anspruch auf die endgültige Wahrheit, den man ganz einfach zurückweisen könnte, liegt in diesen Worten [des Zeugen] eine unleugbare Wahrheit, und zwar die Erfahrung des Leidens und des Schmerzes, von der wir nur bezeugen können, dass sie uns hilflos macht: Wir sind Zeugen eines Schmerzes, der unsere Erfahrungen sprengt und uns die Möglichkeit raubt, damit etwas anzufangen.69

Zehn Jahre nach der Veröffentlichung von Poder y desaparición stellt Pilar Calveiro damit eine weitere Eigenheit fest, die heute noch und wahrscheinlich nachhaltig eine Lektüre der Spur der Repression erschwert: Negatives Erinnern und Mit-Erinnern ist für alle Beteiligten ein unangenehmes Unterfangen, ganz nach Reinhard Kosellecks Diagnose über die Zukunft der Erinnerung an die 68 K nigge, 2002, S. 459. 69 Calveiro, 2008a, S. 54, aus dem Span. von MLS. 406

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Shoah und des Gedenkens in Deutschland (s. Teil I, Kap. 2.3.). Diese Erkenntnis aus dem Jahr 2008 vervollständigt die Beobachtung des gesellschaftlichen »anonadamiento«, des Taubseins durch Einschüchterung, als Voraussetzung für das Vergessen (105, 161), das Calveiro 20 Jahre vorher festgestellt hatte. Zusammenfassend artikulieren sich die Anlässe für Calveiros TestimonioEssay auf mehreren Ebenen, in einer Art Gratwanderung zwischen der eminenten Distanz, die ihm die Reflexion aufzwingt, da sie es unerlässlich macht, eine Beobachterperspektive einzunehmen, und einem dem Essay inhärenten persönlichen Blick. Letzterer manifestiert sich bereits in der Auswahl der Bezugspunkte – die zitierten Stimmen anderer Überlebender und die Shoah und ihre Literatur als Referenzereignis zum argentinischen Lager. Die verkörperte Perspektive wird in der Anklage der Viktimisierung mit unüberhörbarem Lyrismus vorgetragen. Bei den Anlässen der Erinnerung verflechten sich persönliche und kollektive Erlebnisse. Dazu zählen solche Anlässe, bei denen der Blick auf die Vergangenheit geworfen wird. Sie belegen die Notwendigkeit und den Drang, Zeugnis abzulegen, und sind in den Abwesenheiten begründet, die durch die desapariciones forzadas verursacht wurden. Diejenigen Ereignisse, die in gegenwärtigen Umständen angesiedelt sind, bilden einen ebenso relevanten Anlass für die Bezugnahme auf Vergangenes. Dazu gehört insbesondere eine durch die Politik der Straflosigkeit lang verdrängte und im Jahr 1998 noch ausstehende gesellschaftliche (nicht nur rechtliche) Auseinandersetzung mit der Repression im Detail, in der Spielräume und Schattierungen in den Handlungen von Beteiligten sowie die Komplizenschaft der Zivilbevölkerung zur Sprache kommen. Diese Idee wird u.a. in Sätzen wie diesen zusammengefasst: »Konzentrationslager und Gesellschaft gehören zusammen, sie sind ohneeinander unerklärbar. Sie reflektieren und reproduzieren sich gegenseitig« (159). Insbesondere die von den Überlebenden ausgehende Anprangerung des Verdachtsmoments des Verrats kommt erst nach der Darstellung dieses Zusammenhangs im Text in ihrer ganzen Kraft zum Tragen. Calveiros Narration weist in Bezug auf die Anlässe der Erinnerung jedoch eine prominente Auslassung auf: In ihr sind keine deutlichen Momente der réécriture féminine zu finden. Aus heutiger Perspektive erscheint der Fakt, dass fast die Gesamtheit des repressiven Personals in den Folterlagern männlich war, unübersehbar, genauso wie die systematische Anwendung genderspezifischer Folterpraktiken. Die »dichte Verwobenheit« sozialer, ethnischer, genderspezifischer und politischer Diskriminierung artikuliert sich in Poder y desaparición im Enttarnen plakativer Identifizierungen und der daraus resultierenden Diskriminierungen als Fixationen des Denkens sowie im Aufdecken ebendieses Denkens, das in der Konstruktion von Schwarz-Weiß-Kategorien unmenschli407

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che Taten rechtfertigt. Die Handlungen, mit denen Frauen und Männer gedemütigt wurden, werden mit deutlichen Worten beschrieben und im Text findet ein gleichberechtigtes Zu-Wort-Kommen statt. Doch das Hauptaugenmerk liegt auf der Dekonstruktion binären Denkens als grundlegender Faktor für die Struktur und Funktion des Lagers. Eine Hypothese für die fehlenden Indizien für eine réécriture féminine im Text ist die Tatsache, dass die Autorin es als politische Analystin und Überlebende vorgezogen hat, Rollenselbstverständnisse zu überspringen, um mit der universellen Kategorie Mensch arbeiten zu können. Angesichts von Tausenden toter junger Menschen, von verlorenen Freunden, compañeras und compañeros, und angesichts der immensen Tragweite des Verlustes gab es 1998 vermutlich keinen Platz für die Klage über einen gesonderten Schmerz der Frauen. Erst mit der Wiederaufnahme der Ermittlungen 2005 sollte die genderpolitische Perspektive stärkere Beachtung finden. Wie sehr Pilar Calveiro, damals Ehefrau des im Exil agierenden hohen Offiziers der Montoneros, Horacio Domingo Campiglia70, und Mutter zweier Töchter, die systematisch an Frauen verübten Handlungen getroffen haben, erfährt die Leserschaft nicht. Zu schmerzhaft, zu persönlich oder gar zu problematisch mag die Erinnerung 1998 noch sein, um aus einer deutlichen Frauenperspektive zu schreiben. b. Dem binären Denken auf der Spur − Identitätskonstruktionen unter Verdacht An die Grunderkenntnis Hannah Arendts angelehnt, dass Konzentrations- und Vernichtungslager die eigentliche zentrale Institution des totalitären Macht- und Organisationsapparats sind71, stellt Pilar Calveiro folgende These auf: Dass die 70 Ehemals Regionalchef der Montoneros schloss sich Horacio Domingo Campiglia im mexikanischen Exil der Contraofensiva an. Als Contraofensiva oder »tren de la victoria« [Siegeszug] bekannt ist die von Montoneros geplante Aktion der Jahre 1979 und 1980, bei der etwa 40 Aktivisten nach Argentinien zurückkehren sollten, um die Militärregierung zu destabilisieren und durch Aufstände abzusetzen. Bei dem Versuch einzureisen wurden alle Beteiligten gefasst. Campiglia versuchte über Venezuela und Brasilien inkognito nach Argentinien einzureisen. Durch die Zusammenarbeit brasilianischer und argentinischer Kräfte im Rahmen der Operation Condor wurde er am 13.03.1980 in Rio de Janeiro von Mitgliedern des argentinischen Batallón 601 festgenommen, nach Campo de Mayo verschleppt und ist seitdem verschwunden. Im Portal »Desaparecidos en Argentina« wird um Informationen über seinen Verbleib gebeten (›www.desaparecidos.org/arg/ victimas/c/campigliah/‹, 10.08.2015). 71 A rendt, [1955] 2009, S. 908. 408

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Ähnlichkeit der argentinischen Lager mit anderen Konzentrationslagern im letzten Jahrhundert weniger in Prozessen der »Kopie« oder »Inspiration« begründet sei, sondern vielmehr in den Formen der Bestrafung, der Repression und der Vortäuschung eines Normalzustands, die totalisierende Mächte miteinander teilten72; eine Segmentierung der Arbeit innerhalb einer bürokratisch-repressiven Struktur (und nicht in einem Kriegsapparat) ermögliche die Ausschaltung moralischer Verantwortung, wobei in den Handlungen immer das Treffen einer Wahl – wenn auch minimal – als vorhandene Möglichkeit läge (58). Die Einschätzung der Fragmentierung der Entscheidungskette als Voraussetzung für die Maschinerie der Vernichtung verweist auf Arendts These über die Eigenheiten der Endlösungsbürokratie des Dritten Reichs, die sie anlässlich des Falls Eichmann untersucht hat. Calveiro führt einmal mehr die Shoah an, wenn nicht als Erklärungsmodell, so doch als unentbehrlichen Bezug auf der Suche nach Antworten für die argentinische Katastrophe. In den sich ergebenden Erkenntnissen dieser Bezugnahme wird die argentinische Staatsrepression als Gesamtheit von Praktiken eingeordnet, die mit der Vorgehensweise in den Konzentrationslagern Nazi-Deutschlands verwandt sind. In die Untersuchung der Brüche der Folterlogik, die einen wichtigen Platz in Calveiros Analyse einnehmen, sind auch Arendts mögliche Positionen mit einbezogen. Die menschlichen Anwandlungen, die maßgeblich in den regelmäßigen Besuchen von Ärzten in den Lagern gesehen werden, bei denen der Gesundheitszustand von Insassen überprüft und verbessert wurde, und in der nahezu »menschlichen« Vorbereitung auf Geburten, bei der die bald Gebärenden in möblierten Zimmern mit teilweise schönen Babyausstattungen zusammen mit ihren Schicksalsgefährtinnen plaudernd auf den Entbindungstag warten konnten73, werden nach ihrem Nutzen hinterfragt und als Brüche in der Logik des Lagers dargestellt. 72 Giorgio Agambens ausführliche Studie über die Beschaffenheit des modernen Lagers als Machtdispositiv und als nómos der Moderne Homo Sacer. Il potere sovrano e la nuda vida (1995) wurde praktisch zeitgleich zu Poder y desaparición geschrieben. In der spanischen Übersetzung erschien die Studie 1998 (Homo Sacer. El poder soberano y la nuda vida), in der deutschen Übersetzung 2002 (Homo Sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben). Für eine Kritik an Agambens Thesen siehe Butler /Spivak, 2007. 73 »Etwas Ähnliches geschah in der ESMA-Abteilung ›Sardá‹ [so nannte der ESMADirektor Rubén Jacinto Chamorro diesen Bereich in Anlehnung an die große Geburtsklinik in Buenos Aires; Anmerkung von V. A.] mit der Versorgung Schwangerer kurz vor der Niederkunft. Ab einem bestimmten Zeitpunkt der Schwangerschaft zogen diese Häftlinge um in ein Zimmer mit Betten, einem Tisch und 409

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Wohlwissend, dass das Kriterium der Nützlichkeit von Arbeit in den Vernichtungslagern vor dem Hintergrund von Arendts Thesen der Kritik nicht standhalten würde, schätzt Calveiro, dass – mit Ausnahme der Schwangeren (bei denen angenommen werden kann, dass ihre makabre »Nützlichkeit« in der späteren Vereinnahmung ihrer Babys lag) – die Arbeitsfähigkeit der Inhaftierten in den Folterlagern Argentiniens anders als in den Nazilagern nie in Verbindung mit dem medizinischen Dienst gebracht werden konnte, da die Desaparecidxs teilweise monatelang untätig herumsaßen. Doch auch die Nützlichkeit der Arbeit von jüdischen Gefangenen gilt als eine der fälschlichen Annahmen, die während des Krieges zirkulierten. So unterscheidet Arno Mayer zwischen Vernichtungszentren im entfernteren Osten, in denen die Häftlinge nicht arbeiteten, und zentral gelegenen Konzentrationslagern, in denen gearbeitet wurde, wobei Majdanek und Auschwitz eine Ausnahme bildeten, da hier beides anzutreffen war.74 Enzo Traverso unterstreicht seinerseits, dass die Arbeit der Gefangenen eigentlich eine Form der Vernichtung war: Die gesamte Existenz der Nazi-Konzentrationslager war durch eine dauerhafte Spannung zwischen Arbeit und Vernichtung gekennzeichnet. Sie waren als Strafanstalten entstanden und wurden dann während des Krieges in Produktionszentren umgestaltet; de facto wurden sie jedoch zu Zentren der »Vernichtung durch Arbeit«.75

Die Wortwahl Pilar Calveiros, die bereits im Titel ihres Buches von Konzentrationslagern spricht, trifft die von der Shoah und den argentinischen desapariciones forzadas geteilte Ultima Ratio des Sammellagers. Tatsache ist, dass die Intervention von Ärzten, Geistlichen und Psychologen, denen die Aufgabe der Schmerzlinderung und Lebenserhaltung zukam, immer wieder die Illusion eines anderen Endes als das der Auslöschung des Lebens nährte. Hieraus resultierten Inkonsistenzen, die den letzten Widerstand der Verschleppten brachen und durch die in Aussicht gestellte Überlebenschance zu ihrer Gefügigkeit beitrugen (vgl. 81-83). Denn die Gewissheit über das Ende des eigenen Lebens hätte in den Lagern den Widerstand gegen die Tortur erhöht. Die Aussicht auf das Stühlen, mit Kleidung und konnten dort bleiben, ohne Augenbinde, und sie durften reden. Ein paar Tage vor der Geburt ließen die Marineoffiziere der Mutter eine komplette Erstausstattung für ihr Baby bringen, die mitunter wunderschön war« (82), aus dem Span. von MLS. 74 Mayer, 1989, S. 521-603. 75 Traverso, 2003, S. 39. 410

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Überleben dagegen prädisponierte eher zu Lebenserhaltungsmaßnahmen, von denen das Aussagen unter Folter nun mal eine ist. Der scheinbare Widerspruch zwischen ärztlichen und psychohygienischen Maßnahmen und der Praxis des Marterns war also keine Inkonsistenz, sondern eine ständige Reproduktion von Ungewissheit als Teil der Methodik der Folterknechte. Dazu zählten auch die von Calveiro so bezeichneten »Gewaltfeiern«, die die Gefangenen unerwartet und wiederholt in Terror versetzten und den Eindruck von Irrationalität hinterließen (68). Die Frage nach der Nützlichkeit der ärztlichen Betreuung während und nach der Folter stellt exemplarisch in den Mittelpunkt, wie sehr die Tortur auf das fehlende Wissen darüber setzt. Pilar Calveiros Text eröffnet den Zugang zu einem grundlegenden Verständnis des Lagers und bietet auch eine Beschreibung der Identitätskonstruktionen, die im Vorfeld und während der Repression vertreten wurden. Diese Konstruktionen werden als Bestandteile und Voraussetzung eines Krieges dargestellt, der zum Ziel hatte, einen als homogen konstruierten Feind zu bezwingen, und dessen Ergebnis ein Vernichtungszug gegen eine große Gruppe der eigenen Bevölkerung war. Calveiro beschreibt die Ausprägungen, die dichotomisches Denken im Lager angenommen hatte, und sieht darin die Grundlagen für Mechanismen der Diskriminierung, des Krieges und der Vernichtung; sie deckt dabei auch ihre Ambivalenz und fehlende Konsistenz auf (88-98). Poder y desaparición besteht aus einem ersten Teil, der als Einführung fungiert (7-22), und einem Hauptteil, der in siebzehn sehr unterschiedlich lange, nicht nummerierte Kapitel unterteilt ist, die verhältnismäßig bündig sind. Das letzte Kapitel, »Sobrevivencia, trivialización y memoria« [Überleben, Trivialisierung und Erinnerung] (159-169), ist quasi eine Zusammenfassung; darin werden wichtige Positionen wieder aufgenommen und abschließend behandelt. Im einführenden Teil werden die Parteien eines »schmutzigen« Krieges skizziert: die Erretter des Vaterlandes (»los salvadores de la patria«) und die Vorhut der sozialistischen Revolution (»la vanguardia iluminada«). Calveiro weist bereits auf den ersten Seiten ihres Essays darauf hin, dass die Reduzierung der politischen Landschaft auf einen einzigen Gegner eine wichtige Voraussetzung für das binäre Denken darstellt, das die Zerstörung untermauerte. Dieser Gedanke wird durch das ganze Buch aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet und im vorletzten Kapitel zusammengefasst: In dieser falschen Zweierwelt waren die Volksorganisationen extrem divergierend und sie wurden vom totalisierenden und verschwindenlassenden Staat en bloc angegriffen. Aus dieser Konfrontation gingen sie als Verlierer hervor. Allerdings nicht aufgrund der Schläge, die sie während der gro411

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Die bewaffneten Organisationen, die nach Calveiros Auffassung bereits zu Beginn der Repression den Rückhalt in der Bevölkerung verloren hatten, nahmen die Herausforderung eines nie ausgesprochenen Krieges an, blind für die eigenen Schwächen. Die Identitätskonstruktionen, die diese Aufteilung des politischen und sozialen Feldes für einen Krieg voraussetzten und reproduzierten, sowie eine Vorstellung von Heldenhaftigkeit77 (deren Gegenpart letztendlich das Verrätertum ist, vgl. Teil III) werden hier in Frage gestellt. Mit der Darstellung zweier Parteien, die sich in einem nie deklarierten Krieg gegenüberstanden, steckt Pilar Calveiro den Rahmen ab, innerhalb dessen die Narration des Lagers stattfindet. Diese binomische Aufteilung am Anfang des Essays unterstreicht ihre Absicht, die verbreitete Meinung zweier Kontrahenten (zweier Dämonen) zu demontieren und die argentinischen Folter- und Konzentrationslager in einen gesellschaftlichen Zusammenhang zu stellen. Calveiros Text wird so zum writing back, zu einer Gegendarstellung zur offiziellen Version der Staatsrepression, die von einem Bürgerkrieg ausging, der durch die Intervention der Militärs gestoppt wurde, so wie sie im Schlussbericht der Juntas propagiert und vom Schriftsteller Ernesto Sábato unreflektiert in die Einleitung zum Nunca Más-Bericht übernommen wurde. Die Erzählklammer dient der Unterminierung dieser dichotomischen Vorstellung und befasst sich mit dem Lager als extreme Ausprägung binomischen Denkens. Zunächst werden seine Akteure und die ihnen zugeteilten Aufgaben beschrieben: die für die Verschleppung der Verdächtigen zuständigen »patotas« [Schlägertruppen], die Folterknechte des Nachrichtendienstes in den »grupos de inteligencia« [nachrichtendienstliche Gruppen], die »guardias«, die mit der rigiden und grausamen Disziplin des Lagers beauftragten Aufpasser,78 und die Gruppe der mit der Logistik 76 Aus dem Span. von MLS. 77 In einem Interview 2012 stellte Pilar Calveiro heraus, dass sich das heroisierende Denken, in seiner Verklärung des revolutionären Engagements der Siebziger, negativ auf die kritische Auseinandersetzung mit der sozialen Gewalt in der Vergangenheit Argentiniens auswirkt. Nach Calveiros Auffassung geht es nach wie vor darum, die Beziehung zwischen Politik und Gewalt in der demokratischen Gesellschaft zu eruieren (vgl. Pikielny 2012, o. S.). 78 Extra muros fand sich ein institutionelles (wesentlich milderes) Korrelat zum Schweigebefehl in den vom Militär kontrollierten Ausbildungsstätten »Colegio Nacional Carlos Pellegrini« und »Colegio Nacional de Buenos Aires«. Die Co412

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der Vernichtung der Körper und ihrer Spuren befassten »desaparecedores de cadáveres« [Leichenverschwindenlasser] (38f.). Pilar Calveiro macht deutlich, wie sehr diese Fragmentierung der Aufgaben und ihre Bürokratisierung zu einer Normalisierung der Lagerordnung beigetragen haben, eine schizophrene Ordnung, die ihre Akteure zu Dienern des Totalitarismus machte. Disziplinierung, Regulierung und Normalisierung der Lagerrealität werden als ein Ausdruck des Machtanspruchs der Streitkräfte analysiert und als Zustandekommen dessen, was souveräne Macht und ihr Herrschaftsanspruch über Leben und Tod − vom gefolterten Körper des Einzelnen bis hinein in die Gesellschaft − bezweckt: »[e] ine Macht, die den individuellen und sozialen Körper fokussiert, um ihn zu bezwingen, zu uniformieren, zu amputieren, verschwinden zu lassen« (60). In ihrer Darstellung haben Räume und Funktionen des Lagers die Folter als ordnungschaffende Praxis. Die »Produktion« von Wahrheit und Schuld sowie die Zerstörung der Identität (das »Brechen« des Willens der Verschleppten, die »Zerstörung« der Widerstandskämpfer) werden als Ziele des Lagers definiert (60f.). Die dichotomische Wahrnehmung der Realität wird anhand stereotyper Fremdbilder und Zuweisungen illustriert und dekonstruiert. Zu diesem Zweck legios waren der Universität von Buenos Aires assoziiert und ihre Dozenten unterrichteten auch dort. Beide Institutionen bauten durch ihre selektiven Aufnahmeprüfungen auf eine Tradition der Elitebildung, die sich bis in die Kolonialzeit zurückverfolgen lässt. In der ersten Phase der Repression wurden 98 Schüler des Colegio Nacional de Buenos Aires verschleppt und sind heute noch Desaparecidxs. Zwischen 1976 und 1981 war das Schulleben stark von der Staatsrepression bestimmt, nicht nur durch die Einführung einer streng einzuhaltenden Uniformetikette, sondern vor allem durch die Kontrolle durch »Präzeptoren« (anfangs hauptsächlich Studenten der Militärakademie, die das Benehmen der Gruppe ständig beobachteten) unter der Leitung eines Exmarineoffiziers, des Präfekten »Tito« Gristelli. Beim kleinsten Verdacht auf Unruhe wurden die Schüler streng bestraft, meistens durch Schweigen, aber auch durch die Bildung von Formationen, das Auf- und Abmarschieren und das Treppensteigen. Eine sehr emotive Fotodokumentation zu den Desaparecidxs des Colegio Nacional de Buenos Aires hat Marcelo Brodsky mit Buena Memoria (2003) zusammengestellt. Pilar Calveiro und Graciela Fainstein gehören zu der von Brodsky erinnerten Generation von ehemaligen Schülern des Colegio. Ex-Nacional-Buenos-Aires-Schüler Martín Kohan inszenierte in seinem Roman Ciencias Morales (2007) zwischen den grün irisierenden Mauern die Übertreibung des Pflichtbewusstseins in einer Beziehung zwischen einem Schüler und einer Präzeptorin in der Zeit der Militärdiktatur. Zwischen 1978 und 1983 besuchte auch die Verfasserin das Colegio. 413

Erinnerung und Intersektionalität

wird den Inkongruenzen zwischen Identitätskonstruktionen und Lagerrealität − sowie die Fluchtwege daraus − große Aufmerksamkeit zuteil und sie werden für die Vermittlung eines Bildes vom Lageralltag als instabilem Raum zentral. Auf den Seiten 94/95 stellt Calveiro das archetypische Bild des Guerillakämpfers aus der Perspektive der Streitkräfte vor. In dieser Beschreibung wird die Gefährdung, die von einer fremden politischen und Lebensauffassung ausging, zum zentralen Aspekt des von den Militärs geteilten Fremdbildes. Demnach waren Guerillakämpfer durch ihre Kampfausbildung und Grausamkeit gefährlich sowie durch die ihnen fehlenden familiären und religiösen Werte. Schuld an dieser sozialen Misere der politischen Dissidenz war die Herkunft der »Subversiven« aus zerstörten Familien, d.h. ihre Eltern waren geschieden (94).79 Die Zeugnisse über die antisemitische Ausrichtung der Folterlager und über antisemitische Handlungen sind zahlreich (95). Verschleppte-Verschwundene wurden aufgrund ihrer Zugehörigkeit zum jüdischen Kulturkreis einer besonders erniedrigenden oder grausamen Behandlung80 unterzogen. Für bewaffnete oppositionelle Frauen wurde ein diskursives Bild extremer Gefährlichkeit geprägt, das Promiskuität, Dominanz und Grausamkeit als zentrale Elemente enthielt: Die Frauen zeigten sich sexuell überaus freizügig, sie waren schlechte Hausfrauen, schlechte Mütter, schlechte Ehefrauen und besonders grausam. In der Paarbeziehung waren sie dominant und sie ließen sich vorzugsweise mit jüngeren Männern ein, um sie zu manipulieren. (94)81

Die geschlechtliche Diskriminierung äußerte sich in einer ausgeprägten Vergewaltigungspraxis, bei der sowohl Frauen als auch Männer mehrmals, teilweise mehr als 20-mal hintereinander vergewaltigt wurden (65), wobei die Vergewaltigung von Männern eine zusätzliche Strafe durch Effeminieren beabsichtigte. Folgende Passage über Handlungen der Folterknechte im klandestinen Lager der Luftwaffe zeigt beispielhaft die Intersektion von mehrfachen Diskriminierungen:

79 Judith Filc untersucht die Wirkung dieses diskursiven Elements und weist auf seine Nachhaltigkeit hin. So können zahlreiche Äußerungen der Madres und der Abuelas der Plaza de Mayo als Versuch gedeutet werden, die Diskreditierung ihrer Familien zu dementieren (vgl. Filc, 1997, S. 66-82). 80 Pilar Calveiro erwähnt die grausame Behandlung von Norberto Liwsky, dem die Haut abgezogen wurde (65 und 67). 81 Aus dem Span. von MLS. 414

Teil IV – Eine von Frauen geschriebene Literatur der desapariciones forzadas An diesen Orten wurde oft die Bestrafung mit Schlägen und Peitschenhieben eingesetzt, die Spuren hinterlässt. Die Behandlung wurde von sexueller Folter begleitet, die von Grund auf erniedrigend war; die Vergewaltigung von Männern beispielsweise kam häufig vor. Beginnend mit dem Zeitpunkt der Abholung des Gefangenen hatte die ganze Sitzung einen ansteigenden Erregungsrhythmus, wobei, wie beispielsweise im Lager Mansión Seré, ein christlicher Folterer nicht fehlte, der betete, das Opfer »tröstete«, ihm inständig nahelegte, auf Gott zu vertrauen, während die Folterprozedur lief. Im selben Zentrum brüllte ein Mitglied der Schlägertruppe »›Teufelsbrut! Teufelsbrut!‹, schnappte sich eine Peitsche und fing an, auf uns einzuschlagen. ›Das sind alles Juden‹, sagte er, ›wir müssen sie töten.‹« (66)82

Anhand dieses Abschnitts wird beispielhaft deutlich, wie mehrfache Diskriminierungen ganz nah nebeneinander auf mehreren Ebenen evoziert werden. Stichworte wie Prügel, Sexualfolter und Vergewaltigung, Gewalt in der Rede und religiöse Verfolgung belegen sie in diesem Beispiel. Die zitierte Passage zeigt klar, wie die informative Beschreibung zum einen mit der Schilderung der eigenen Erfahrung (vgl. kursiv markierte Stellen), zum anderen mit weiteren Stimmen verflochten wird, so dass diese drei Erzählebenen im ersten Moment nicht bewusst wahrgenommen werden und kaum voneinander zu trennen sind. Vielmehr entsteht durch die Unterlegung der Äußerungen mit Beispielen der Eindruck sachlicher Distanz, der das Register wissenschaftlicher Narrationen charakterisiert. Die eigene Erfahrung wird in der dritten Person erzählt, so dass sie erst dank der Analyse als persönliche Stimme der Ich-Erzählerin zu erkennen ist. An Stellen wie dieser wird die wissenschaftliche Vorgehensweise mit Informationen aus erster Hand ergänzt, denn es ist bekannt, dass Mansión Seré auch Pilar Calveiros Internierungsort war. Daher ist es sehr wahrscheinlich, dass es sich um ihr eigenes Wissen über die Geschehnisse handelt, das hier einfließt. Mit der Erzählung eines weiteren Zeugen vermischt, so dass beide Perspektiven einander ergänzen, und eingebettet in einen größeren Beschreibungsrahmen des Lagers, schützt diese diegetische Strategie beide Überlebenden, Tamburini und Calveiro selbst, vor einer Bloßstellung und vor dem Gefühl, zu viel über das eigene Leid öffentlich gemacht zu haben. In Poder y desaparición werden bei der Darstellung von Feindstereotypen die Bilder gezeichnet, die die Guerillakämpfer und ein Teil der politischen Elite 82 Zitat von Claudio Tamburini in: Cincanglini /Granovsky, 1986, als wörtliche Rede von P. Calveiro angeführt und mit einem Verweis am Ende des Textes versehen; Hervorh. von V. A., aus dem Span. von MLS. 415

Erinnerung und Intersektionalität

für die Streitkräfte aufgebaut hatten: Die Militärs bildeten den bewaffneten Arm der Oligarchie, die sich ausländischen Interessen verkauft hatte (95). Die Mitglieder der Streitkräfte waren damit automatisch »gorilas« (feindlich gegen die nationale und populäre Bewegung eingestellt, Sinnbild für »Antiperonisten«). Entsprechend der Vorstellung einer angeblichen moralischen Unterlegenheit galten sie als nicht besonders mutig. Und aus der allgemeinen Annahme, dass sie sich gewöhnlich in der Gruppe anders als als Einzelner verhielten, folgte der Schluss, dass sie durch ihre Gruppenimmunität zu jeder Grausamkeit und Korruption bereit waren. In ihrer Beschreibung des Lagers vermittelt Calveiro ein Bild der Streitkräfte, das weit vom inszenierten Selbstbild der Disziplin, Überlegenheit und Ordnung entfernt ist. Ihre Schilderung zeigt vielmehr eine Haltung genereller Unterwerfung aus Angst, selbst Opfer zu werden, die über die zu erwartende systembedingte Unterordnung hinausging. Die mit der Umsetzung der Staatsrepression betrauten Mitglieder der Streitkräfte waren Teil einer dreistufigen Hierarchie mit einer langen Befehlskette: die entscheidungsbefugten und selten zu sehenden hohen Offiziere, die vor Ort zuständigen und mit den Verschleppungen und den Folterverhören betrauten mittleren und niedrigeren Ränge sowie die als Aufpasser und mit der Logistik beschäftigten Unteroffiziere. Alle erfüllten eine standesmäßige Funktion in einer bürokratisierten Maschinerie der Ausrottung. Der zunehmende Streit zwischen den verschiedenen Streitkräften und das Ringen um Zuständigkeiten, darunter um die souveräne Macht über die Gefangenen, geben ein solches Bild fehlender Disziplin und Koordination ab. Die Angst der Täter, bei Gehorsamsverweigerung selbst Opfer zu werden, schien so groß, dass sie die Komplizenschaft bei der Durchführung der Verbrechen verstärkte. Das »Leben zwischen dem Tod« in den Folter- und Konzentrationslagern brachte stereotype Vorstellungen der jeweiligen Gegner ins Wanken, vor allem für diejenigen Opfer und Täter, die mehrere Monate ihrer Lebenszeit dort verbringen mussten (96). Die Insassin und spätere Überlebende liefert eine Analyse des Lagers, die keine manichäische Interpretation mehr gelten lässt: »Ohne es sich vorgenommen zu haben, bot das Lager, binäres Dispositiv schlechthin, oft einen gewissen Raum für Grautöne« (96). Die Inkonsistenzen entlang der Grenze, die binäres Denken zieht, machen aus Pilar Calveiros Reflexion über die Komplexität der Täter-Opfer-Beziehungen an jenem Ort des Binären ein bemerkenswertes Lehrstück der Dekonstruktion eines den Gegenstand verzerrenden simplifizierenden Denkens. Dieser Standpunkt kommt in folgender Passage besonders klar zum Ausdruck: Zahlreich sind die Zeugenaussagen, die aufzeigen, dass es auch innerhalb der Lager Fälle gab, in denen die binäre Trennung zerbrach und man im 416

Teil IV – Eine von Frauen geschriebene Literatur der desapariciones forzadas Anderen den Menschen sehen konnte, wodurch man seine eigene Menschlichkeit wiederfand. […] Durch das »Wiedererlangen« seiner Menschlichkeit hört der Entführte auf, in erster Linie der Teufel und dann der Feind zu sein, und übernimmt die Rolle eines Gegners; durch die Relativierung seiner Gefährlichkeit gerät die Logik des Verschwindenlassens ins Wanken. Die Menschlichmachung des Häschers wiederum bietet dem Entführten die Möglichkeit, dessen Macht zu entmythifizieren, sie zu relativieren, um Auswege zu suchen und zu finden. (97)83

Calveiros Narration, die die Reproduktion dichotomischen Denkens zu unterbrechen sucht, verändert die Vorstellung, die Außenstehende vom Lager haben, das stereotype Bild einer Aufteilung des Raums in abstrakte Gegensatzpaare. Sie weist auf die Momente hin, in denen Gefangene und Aufpasser die diskursiv festgelegte Ausgrenzung unterwanderten und den Lageralltag durch minimale Freiheiten, die sie errangen, destabilisierten. Die Lektüre von Deleuzes/Guattaris Tausend Plateaus sowie des bereits erwähnten Todorov-Textes erscheinen für die Untersuchung der Lagerrealität nach Rissen und Spalten explizit als direkte Bezüge und Referenztexte. Wenn Calveiro die leisen Gesten des Widerstandes und die Möglichkeiten der Flucht fokussiert, beschreibt sie die Gestalt der Macht im Lager als Inbegriff dessen, was ihr entgeht und sie machtlos macht. Die Augenblicke der Gegenwehr und die verschiedensten Formen der psychischen und (die wenigen gelungenen Versuche) der physischen Flucht aus der Folter- und Lagerordnung werden dann zu relevanten Ereignissen. Mit ihnen treten in ihrer destabilisierenden Kraft die vielen nicht auf Schwarz-Weiß-Vorstellungen zu reduzierenden Schicksale der Opfer ebenso hervor wie Täterprofile voller menschlicher Unzulänglichkeit. Verwurzelt in der eigenen Subjektposition erinnert die Überlebende bei der Beschreibung der Orte des Extremen gleichzeitig deren Unmenschlichkeit und die Augenblicke der Menschlichkeit. Gerade die Öffnung eines dritten Raums »zwischen dem Tod« und die Destabilisierung von absolut getrennten, abstrakten Kategorien von »Guten und Bösen« und Identitäten von »Freund und Feind« verleihen diesem Text eine Schlüsselrolle in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit der Diktaturzeit. Pilar Calveiros Analyse relativiert weder Verantwortlichkeiten, noch schiebt sie die Verantwortung für die Verbrechen auf die Gesellschaft (was eine implizite Freisprechung der Täter bedeutete), noch entlastet sie Überlebende von einer angeblichen pauschalen Schuld. Sie unterstreicht lediglich – und unverkennbar − die bestehende Verbindung zwischen Lager und Gesamtgesellschaft und hebt 83 Aus dem Span. von MLS. 417

Erinnerung und Intersektionalität

sie deutlich hervor. Diese Verbindung legt die Perspektive frei, aus der heraus die gesamte argentinische Gesellschaft involviert und interpelliert werden kann (147). Lager und Gesellschaft in einem Zusammenhang zu erfassen, der keine so deutliche Grenze zwischen Lagerinnerem und äußerer Gesamtheit zieht und keine Schwarz-Weiß-Malerei als Zugang zu dieser Zeit zulässt, weist einerseits den stereotypen Verdacht des Verrats und der moralisierenden Haltung gegenüber den Überlebenden in die Schranken. Er stellt andererseits die Frage in den Mittelpunkt der gesellschaftlichen Debatte, wie sich im Argentinien der 70er und 80er Jahre eine Form repressiver Macht etablieren konnte, die eine zwanghafte Elimination einer als fremd konstruierten Gruppe der eigenen Bevölkerung bewirkte. Welche Gestalt diese repressive Macht in der Gegenwart annimmt, ist die beunruhigende Frage, die Pilar Calveiro 1998 am Ende ihrer Analyse stellt und die sie bis in die Gegenwart hinein beschäftigt.84 Ihre Reflexionen über die Gegenwart sind tief in einer Körpererfahrung verankert, die sie in einem Interview so beschreibt: Die schmerzhaften Erfahrungen hinterlassen eine Markierung, die in den Körper eingeschrieben ist. Diese Markierung bleibt. Sie verändert sich kaum, sie ist da, sie ist die Markierung einer Wunde, die Narbe ist da. Und die Narbe führt dich zurück zur Wunde. Sie ist als relativ beständige Narbe im Körper. Und doch: In dem Moment, in dem man die Narbe anschaut, in dem sie schmerzt, wird man zurückgeführt zu dem, was passiert ist. Und vom gegenwärtigen Zeitpunkt aus unterzieht man die Wunderfahrung einer Neubearbeitung. Das passiert bei jeder schmerzhaften Erfahrung. Diese Markierungen, die irgendwie in unseren Körpern bleiben, bieten die Möglichkeit, die Erinnerung auszulösen; aufgrund aktueller Erfordernisse wird die Erinnerung an das Gewesene ausgelöst. Vergangenes wird im Licht dieser gegenwärtigen Dringlichkeiten, dieser Erfordernisse neu konstruiert.85

In der gegenwärtigen Bezugnahme und mit dem Blick auf die Zukunft gerichtet, so Pilar Calveiro in dem Interview, stecken die Chance und das Potential der Transformation der Narrationen über die argentinische Staatsrepression. Wie eine solche Bezugnahme zu einer anderen Ordnung beitragen kann, erklärt sie wie folgt:

84 Vgl. Calveiro, 2011, S. 142. 85 K isielewsky, 2005, o. S., aus dem Span. von MLS. 418

Teil IV – Eine von Frauen geschriebene Literatur der desapariciones forzadas Die Erinnerungen werden auf der Basis der gegenwärtigen Dringlichkeiten und vor allem abhängig von der Art unseres Blickes nach vorne, auf die Zukunft konstruiert. Das Gedächtnis wird seine Schilderung der Vergangenheit unterschiedlich ausstatten und es kann das so tun, dass die Schilderung dazu beiträgt, die Koordinaten der aktuellen Macht auf eine Art zu verstärken, oder so, dass sie infrage gestellt oder beanstandet werden. Das Gedächtnis kann also der etablierten Macht zweckdienlich sein oder sich ihr widersetzen.86

Nicht zuletzt die Absicht, sich der Perpetuierung einer gegenmenschlichen Macht in der Bildung des Gedächtnisses entgegenzustellen, macht Pilar Calveiros Poder y desaparición zu einem unbequemen und relevanten Zeugnis unserer Zeit.

2.2 Graciela Fainsteins Detrás de los ojos (2006) – Die leib/hafte Erinnerung Eine das Gefühl des nahen Todes erweckende Panikattacke und die daraus folgende Angstkrise im Jahr 2001 bilden bei Detrás de los ojos [Hinter den Augen] den Ausgangspunkt für das literarische Zeugnis der in Spanien lebenden und (erst nach Romanveröffentlichung) dort promovierten Philosophin Graciela Fainstein in ihrem Versuch, jene verdrängten traumatischen Erlebnisse vom 19. Oktober 1976 und der drei darauffolgenden Tage zu bändigen, die sich 25 Jahre später leibhaftig und unerwartet in ihren Alltag drängen und ihr eine Zeitklammer für die Arbeit der Erinnerung aufzwingen. Das Selbstbild dieser Frau, die sich als »mentalista« (18), als Kopfmensch beschreibt, ist das einer »starken Frau, glücklich, eine Migrantin mit einer Erfolgsgeschichte, ein redlicher Mensch, jemand, der allen Angriffen des Schmerzes, des Todes und der Melancholie widerstanden hat« (19), einer Frau mitten im Leben, die in die Krise gerät und sich den Phantasmen der verdrängten Vergangenheit stellen muss. Der kranke und sich gegen den Druck angestauter Pein aufbäumende Körper zwingt sie, sich mit der Eigendynamik jener Realität »hinter den Augen«, mit ihrer Interiorität und den traumatischen Ereignissen ihrer Vergangenheit auseinanderzusetzen. Zu Beginn der Narration beschreibt die Ich-Erzählerin eine Reihe von Umständen, die den Einschnitt verursachen, darunter ein Schlüsselerlebnis, das ihre persönliche Arbeit der Erinnerung auslöst: Akupunkturnadeln, die ihren Erschöpfungszustand und die chronischen Magen-Darm-Beschwerden lindern 86 Ebd., aus dem Span. von MLS. 419

Erinnerung und Intersektionalität

sollen und durch leichte Elektrowellen aktiviert werden, geben der nachhaltigen Rückkehr der Erinnerung an die erlittene Folter den entscheidenden Impuls: Ich hätte jene erste Abwehrreaktion auf die Nadeln und den elektrischen Strom ernster nehmen sollen. Hätte in dieser Situation meine Lebensechos erkennen müssen. Ich liege erneut nackt auf einer Bahre, rücklings, die Augen verbunden, und spüre den stechenden Schmerz an verschiedenen Stellen meines Körpers. Ein Schmerz, der jedes Mal unerwartet kommt, wenn die Chinesin entscheidet, wo sie eine der Nadeln setzt. Die Szene hat zu viele Ähnlichkeiten, ruft zu vieles wach. Und dennoch war ich in dem Moment nicht in der Lage, sie zu sehen, zu erkennen. Vielleicht leuchtete der Gedanke blitzartig auf, aber ich verscheuchte ihn sofort wie ein schlechtes Omen. (17)87

Die Atemnot der Tochter, die große Nervosität und Ohnmachtsgefühle in ihr auslöst, sowie der Besuch argentinischer Schulfreunde, die alte Gemeinsamkeiten, aber auch alte Ängste wecken, gerade wenn sie über die Gefahren des politischen Engagements ihrer Kinder in der argentinischen Gegenwart Ende der 90er Jahre berichten, rufen eine unbändige Furcht hervor und bauen ein Szenarium naher existentieller Bedrohung auf. Vor diesem Hintergrund wirken die Akupunktursitzungen wie Auslöser für Intrusionen bzw. Flashbacks, für eine Vergegenwärtigung und Re-Inszenierung der Foltersituation, die nicht beabsichtigt ist, aber einen offensichtlich zwingenden Anlass darstellt, sich die damals extrem schmerzhafte und heute noch latent schmerzliche Situation ins Bewusstsein zu rufen. Die Szene des Verbrechens kann nicht mehr betreten werden, doch sie muss hier und heute vor dem geistigen Auge als ihre extrapolierte Reproduktion untersucht werden. Denn auch wenn sie die Angst des Kontrollverlustes wecken, sind die Gefahren nicht in der Außenwelt zu finden. Mit diesem Schritt wird ein kontrollierter Zugang zu der dahinterliegenden Konstellation von Emotionen und Gedanken in sicherer Umgebung möglich. Die autodiegetische Erzählerin betitelt den Beginn der Krise als Ausbruch und Explosion (15) und beschreibt ihre Latenz als tickende Bombe: »[…] in mir sind alle Erinnerungen wie eine Bombe explodiert, wie ein Mechanismus, der lang zurückgehalten wurde« (56). Beistand scheint im ersten Moment nur ihre Freundin Laura – ebenfalls eine Überlebende der argentinischen Folterlager – leisten zu können. Sie ermuntert die Ich-Erzählerin, sich der Krise zu stellen und sie durch sprachliche Artikulation zu bewältigen. Der Anlass des Schreibens ist also ein extremer Zustand des 87 Aus dem Span. von MLS. 420

Teil IV – Eine von Frauen geschriebene Literatur der desapariciones forzadas

Leibes und der Seele, der ein Unwohlsein in der Gegenwart von anderen Menschen verursacht und den absoluten Rückzug erfordert. Das Leben außerhalb des Hauses wird gemieden und die Intimität des Schlafzimmers konstituiert sich dann als Ort, an dem über das Schreiben die innere Öffnung stattfinden kann: Etwas hatte begonnen, die Zeit des Erinnerns war gekommen. Die Tür öffnete sich. Eine Tür, die so viele Jahre hermetisch verriegelt war. Ich hatte ein seltsam vertrautes Gefühl, wie jemand, der nach einer langen Reise, nach langer Abwesenheit heimkommt. Ich war angekommen, war zu Hause, und ich begann mich zu erinnern. (32)88

Dieser materielle Ausgangspunkt im privatesten Rückzugsraum des heimischen Domizils der Ich-Erzählerin scheint die Unmittelbarkeit und die ausgeprägte Intimität der Erzählung zu bestimmen. Eine Intimität, die die in der Wahrnehmung der Autorin zentrierte Perspektive nicht mehr verlässt und sich bis auf relativ wenige und meist knappe Darstellungen von Gesprächen (20, 22-24, 27-28, 30-31, 66-74, 91, 110, 113, 136, 137, 153, 154, 155, 159) und einige situative Beschreibungen als ein innerer Monolog, ein sich über 175 Seiten erstreckendes Gedankenzitat gestaltet. Bemerkenswert ist der Umstand, dass die Autorin nach außen eine physische Grenze zieht, sie gleichzeitig aber die lang anstehende Öffnung zulässt, die jedoch nicht in der Geborgenheit der Familie oder bei Freunden geschieht, sondern im literarischen Schreiben. Graciela Fainstein teilt sich dadurch einer mittelbaren Öffentlichkeit mit dem den Testimonios eigenen appellativen Charakter mit und geht so weit über die überschaubare Gruppe Nächststehender hinaus. Das Schreiben stellt sich als eine Strategie zur Überwindung von Einsamkeit und ein Versuch heraus, in eine neue Beziehung zur Welt zu treten. Fainstein berichtet, wie schwer es ihr nach den Tagen im Folterlager Garaje Azopardo vor 25 Jahren fiel, wieder Kontakt mit der Welt aufzunehmen, und wie zaghaft sich diese Kontaktaufnahme gestaltete. Den Anlass für diese Reflexion bildet eine evozierte Szene: Gisela, die Mutter ihres Freundes Dani, kämmt ihr nach ihrem Aufenthalt im Folterlager vorsichtig das zerzauste Haar: Die Szene hat sich mir für immer eingegraben, weil sie zu den ganz wenigen Gesten der Zärtlichkeit, körperlicher Zärtlichkeit, gehört, die ich damals erlebte. Die Leute berührten mich nicht, umarmten mich nicht. Weil ich mich abweisend zeigte? Oder weil sie Angst hatten, es zu tun? Ich weiß es nicht. 88 Aus dem Span. von MLS. 421

Erinnerung und Intersektionalität Wahrscheinlich war es eine Mischung aus beidem. Glaubten sie, ich sei ansteckend? Hielten sie mich für etwas Zerbrechliches und fürchteten, mich zu zertrümmern? Vielleicht umarmten sie mich und ich konnte die Wärme ihrer Arme nicht spüren. Vielleicht suchte ich hinter einem Panzer aus Kälte Schutz, oder vielleicht konnte die physische Nähe mich in jener Zeit in eine Situation bringen, in der ich die emotionale Kontrolle verlor, und ich musste dagegen ankämpfen, um nicht verrückt zu werden. (157)89

In dieser Beschreibung der Eindrücke nach der Rückkehr aus dem Lager liegt ein ganzes Geflecht von Annahmen gegenüber allen anderen Menschen, denen die Erfahrung des Horrors immer als Exteriorität begegnen wird. Sie sind zu Anderen geworden. An dieser Stelle konstituieren sich ein Fremdsein in der Welt und der Bruch, der unüberwindbar erscheint: Was waren wir? Woher kamen wir? Ein schrecklicher Schmerz, eine unergründliche Beklemmung lastete auf uns, als uns klar wurde, dass wir ebenso wenig in der Lage waren, das Erlebte in Worte zu fassen, wie sie, diese Worte zu hören oder zu begreifen. (127)90

Eine Annäherung durch Umarmungen oder sonstigen Körperkontakt fand damals nicht oder nicht in ausreichendem Maße statt oder sie wurde nicht bemerkt, wurde sie doch gleichzeitig gewünscht und gefürchtet. 25 Jahre später evoziert, scheinen diese Eindrücke noch immer für die Gegenwart relevant zu sein: »In einem Winkel meines Seins, in einem Teil meines Herzens hatte ich fünfundzwanzig Jahre lang verharrt wie am ersten Tag nach der Befreiung: wie ein eingeschüchtertes Kind« (124). Aus der Geborgenheit des Schlafzimmers, in einer ambivalenten Situation der Distanzüberwindung, ohne sich persönlicher Nähe auszusetzen, schreibt sich die Autorin aus der existentiellen Einsamkeit − »ich war dennoch allein, zutiefst allein« (185) − in das mit anderen geteilte Leben zurück. Das writing-back-Moment dieses Textes ist »eine Rebellion gegen das Schweigen« (186) und sein Bezwingen durch die Wörter. Auch wenn die Sprache unzulänglich erscheint − »Ich wünschte, ich hätte eine eigene Sprache gehabt, eine Sprache des Herzens« (186) −, weil die Wörter bereits vom Verstand belegt sind und »uns mit ihrer einengenden Flut festgelegter Bedeutungen verzweifeln lassen« (186), bezeugt der Text die Rückeroberung der Kommunikation und die Überwindung der Sprachlosigkeit. Die Aufforderung an den 89 Aus dem Span. von MLS. 90 Aus dem Span. von MLS. 422

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impliziten Leser, sich der Erzählung anzunähern, wird nicht nur durch das Buch selbst unterstrichen, sondern auch durch die Angabe der E‑Mail-Adresse der Autorin auf der vorderen Umschlagklappe. Sie ist als Angebot der Kontaktaufnahme als Paratext vermerkt. Der Leserschaft wird Zutritt zu jenem unmittelbar unter der Oberfläche, unter der Epidermis liegenden Raum gewährt, in dem die Erinnerung an eine weit zurückliegende Zeit bewahrt wurde. Diese Vorstellung von Räumlichkeit spielt in dem als Roman verfassten Testimonio eine wichtige Rolle und wird bereits durch den Titel angekündigt. Die Metaphern des Raums in der Erzählung belegen die gefühlte Zerstörung des Kontinuums des Lebens durch die Verschleppung und zeichnen Bilder, die für das zerrüttete Weltvertrauen stehen. Innen/außen, Argentinien/Spanien, das Schweigen als Verbannung in die Innerlichkeit und sein Korrelat im territorialen »äußeren« Exil zeugen von einer Wahrnehmung des Leidens als existenzieller Raum des Ausschlusses. Die symbolische bzw. sprachliche Artikulation der verletzten Innerlichkeit verspricht die Strategie der Wahl zu sein, die ein Entkommen aus diesem verborgenen Raum ermöglicht. Nach den Reflexionen des großen chilenischen Dichters Raúl Zurita beinhaltet das Schreiben über das Leid die Option, sich für das Leben zu entscheiden, und öffnet den Weg aus der extremen Einsamkeit. Dem Leid selbst jedoch − trotz der Unzulänglichkeit der Sprache, es zu erfassen − schreibt der Dichter die Kraft zu, Substrat und Motor poetischen Schreibens zu sein: Letztlich kennt jeder, der schon einmal extremen Schmerz oder extreme Angst empfunden hat, dieses Herz und weiß deshalb, dass manchen Dingen niemals Einlass in die Sprache gewährt wird, dass manches nie die Schwelle der Wörter überwindet, weil das Ausdrücken bereits zumindest bedeutet, das Echo der eigenen Stimme zu hören, die antwortet. Weil es auf das Leiden keine Antwort gibt […], und wer es mit all dem im Gepäck schafft, zumindest zu sagen, was ihm widerfährt, ist jemand, der sich, auch wenn er vielleicht noch zaudert, bereits für das Leben entschieden hat. Dennoch ist analog, wie im Paradoxon der Hölle, das, was nie bei den Wörtern ankommt, was nie in Worte gefasst wird, die Basis, das Fundament jedweder Sprache. Diese unaussprechliche Stummheit also, dieses für alle Zeiten Unsagbare, ist das, was wir die Hölle jeder Poesie nennen können.91

25 Jahre nach der Entlassung aus dem Lager Garaje Azopardo erlaubt sich die Ich-Erzählerin von Detrás de los ojos, den subkutanen Raum des Schmerzes zu verlassen und die Fraktur in der Beziehung zur Welt durch Sprache zu überwin91 Zurita, 2012, S. 4, aus dem Span. von MLS. 423

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den. Graciela Fainstein greift so in ihrem Werk ein zentrales Anliegen der Testimonios und generell der Literatur der Zeugen auf: die Vermittlung erfahrenen Unrechts »an der Grenze sprachlichen Mitteilungsvermögens«92. a. Das Ringen um die Wörter in Detrás de los ojos Für das literaturwissenschaftliche Verständnis der Literatur des Zeugen sind das Konzept des Traumas und eine damit verbundene nachhaltige Sprachlosigkeit zentral. In ihrer Untersuchung über Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses erfasst Aleida Assmann den Körper selbst als Medium der Erinnerung, der durch das Trauma zur unmittelbaren Prägefläche wird.93 Auch in Fainsteins Narration wird die Ansicht vertreten, der Körper besäße eine vom Willen unabhängige Erinnerung (s.u.). Das literaturwissenschaftliche Verständnis von Trauma scheint mit dem Ausgangspunkt von Fainsteins Narration zu konvergieren und wird von A. Assmann so dargestellt: Trauma, das ist die Unmöglichkeit der Narration. Trauma und Symbol stehen sich in gegenseitiger Ausschließlichkeit gegenüber; physische Wucht und konstruktiver Sinn scheinen die Pole zu sein, zwischen denen sich unsere Erinnerungen bewegen.94

Aleida Assmann beschreibt damit das grundlegende Konzept, an dem sich der Topos der Undarstellbarkeit konstituiert. Mit Bezug auf die Shoah bzw. auf das Vernichtungslager Auschwitz als ihrem Referenzpunkt hatten Theodor W. Adorno und Jean-François Lyotard die Frage nach der Darstellbarkeit inkommensurablen Unrechts und Schmerzes gestellt und die Undarstellbarkeit als Denkfigur der Kulturkritik etabliert. An zwei unterschiedliche Denktraditionen95 angelehnt, nahmen beide Nachkriegsphilosophen auf das alttestamentarische Bilderverbot Bezug, um die Ausdrucksmöglichkeiten und -grenzen symbolischer Formen zum Thema zu machen und der Kunst die Aufgabe zu erteilen, die Dar-

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A méry, [1966] 2008, S. 63. Assmann, A., [1999] 2010, S. 241-297. Ebd., S. 264. Nach Sabine Sander sind die ereignisphilosophischen Positionen Martin Heideggers für J.-F. Lyotard grundlegend, während T. W. Adorno sich auf die formphilosophischen Positionen Ernst Cassirers stützt (Sander, 2008, S. 29-54). Aus diesen unterschiedlichen Zugängen entsteht nach Sander die Distinktion zwischen den Blicken beider Autoren auf den Topos der Undarstellbarkeit.

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stellung von Undarstellbarem zu vollbringen.96 Adorno setzte sich dabei mit der Kommunikation von Unkommunizierbarem und mit der Erkenntnisfunktion der Kunst und dem Wahrheitsgehalt der Werke auseinander, wobei ihn insbesondere die Sorge plagte, Kunst könne Leiden sublimieren und ästhetisieren bzw. Anschaulichkeit und Emotionalität durch Abstraktion reduzieren.97 Für Lyotard hingegen waren mit der Chiffre des Undarstellbaren die Bereiche belegt, die das Fassungsvermögen des Subjekts übersteigen und eine Zuwendung zu jenen (im Sinne Freuds) verdrängten und diskursiv nicht zu erfassenden Aspekten ethisch notwendig machten.98 Die Darstellung physischer Gewalt ist ein zentraler Aspekt dieser Debatte. Die österreichische Philosophin Elisabeth List fasst die Aporie, die sich in zahlreichen Texten herauskristallisiert, die sich mit dieser Frage befassen, mit folgenden Worten zusammen: »So gewiss die Erfahrung, das Erleben intensiven Schmerzes auch ist, sie entzieht sich der Erfassung oder Darstellung im Medium der Sprache.«99 List weist darauf hin, dass die Darstellung von Schmerz im Rahmen des Performativen stattfinden würde. D.h. die Versuche, Schmerz darzustellen, »laufen Gefahr, letztlich nichts anderes zu sein als eine mehr oder weniger subtile Form symbolischer Gewalt«.100 Graciela Fainstein beschreibt in ihrer Erzählung eine Art ethischer Verpflichtung. Unmittelbar nach ihrer Entlassung aus dem Folterlager wurde ihr klar, dass die sprachliche Artikulation des erlittenen Leids für sie selbst heikel war und für andere das Zuhören schmerzlich; das brachte sie davon ab, ihre Erfahrungen gegenüber den ihr Nahestehenden zu verbalisieren. Die Ich-Erzählerin beschreibt die Hindernisse, die ihr bei der Beschreibung des Erlebten begegneten, folgendermaßen: Die Wörter verstecken sich, als beinhalteten sie selbst die zerstörende Kraft dessen, was sie bezeichnen, als wären sie selbst die Gefahr, als wäre »Tod« zu sagen das Gleiche, wie die eisige Kälte zu spüren, die wir gespürt hatten, als bedeutete »Folter« zu sagen, sie erneut in unseren Körper zu lassen, als wäre das Erwähnen der Erniedrigung, der Bosheit, der Grausamkeit identisch mit ihrer Einbestellung, um sie unseren geliebten Nächsten geradewegs ins Gesicht zu schleudern. (129)101 96 97 98 99 100 101

Sander, 2008, S. 27. Ebd., S. 55-93. Ebd., S. 94-140. List, 2004, S. 7. Ebd., S. 10. Aus dem Span. von MLS. 425

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Aus dieser Perspektive gedacht, führte die Vermittlung erlittenen Schmerzes die Zeugin seinerzeit in das von List beschriebene ethische Dilemma. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass der gesellschaftliche Raum für das Anprangern sozialer Gewalt – und des verursachten Schmerzes – damals kaum vorhanden war und diese Tatsache die Rezeption individueller Erzählungen mitbestimmte. »Schmerz und Krankheit sind nicht nur biologische Prozesse, sondern immer kulturelle Gebilde«102, unterstreicht David B. Morris und macht auf die Historizität der Beziehung des Menschen zum Schmerz aufmerksam. Der Geltungsanspruch dessen, was jemand anderes als Schmerz empfindet, hängt nach Morris stark davon ab, in welcher Beziehung diese Person oder Personengruppe zu den diskursiven Konstruktionen einer hegemonialen Figur steht: Nicht nur die ferne Vergangenheit ist eine Quelle für Beispiele, die die Überzeugung veranschaulichen, dass die Schmerzen einer bestimmten Gruppe − Schwarze, Indianer, Frauen, Wahnsinnige, Kinder – entweder nicht existierten oder (was ungefähr das gleiche ist) keine Rolle spielten. Die barbarischen medizinischen Experimente, die die Nazi-Ärzte durchführten, maßen dem Schmerz ihrer Opfer einfach keinerlei Bedeutung bei. Im Krieg wird Folter mit verschiedenen pragmatischen und taktischen Begründungen gerechtfertigt, letztendlich spiegelt sich darin jedoch die Überzeugung wider, dass der Schmerz eines Feindes keinen Platz im Gesetz oder in der Ethik einnimmt. Der Feind ist das Andere, und das Andere empfindet Schmerz nicht wie wir.103

In diesen Kontext gestellt, birgt die Narration des empfundenen Schmerzes die Chance, das ausgegrenzte und als fremd wahrgenommene Selbst − d.h. hier die eigene abgewertete Subjektivität − durch die Schreibpraxis aufzuwerten und auf eine Ebene zu stellen, in der »die/der Andere« in ihrer/seiner ganzen Menschlichkeit hörbar wird: »[D]as ist meine noch nicht erledigte Aufgabe, meine zu begleichende Schuld: die eines jeden Überlebenden, eines jeden Zeugen, zu sagen ›Vergesst nicht!‹« (180). In diesem Anliegen manifestiert sich auch das Spannungsverhältnis zwischen der Dringlichkeit und Notwendigkeit einer öffentlichen Aussage, dem politischen Manifest und der persönlichen Selbstaffirmation der »narraciones de urgencia« [Narrationen der Dringlichkeit].104 Der Aspekt der Dringlichkeit der vorliegenden Erzählung, deren so spätes Erschei102 Morris, 1994, S. 81. 103 Ebd., S. 61f. 104 Ashcroft u.a., 2002, S. 230f. 426

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nen vielleicht überrascht und den Charakter der Dringlichkeit fast in Frage zu stellen vermag, beruht auf zwei Annahmen. Erstens auf der Ansicht, dass der gewöhnliche Fluss der Diskurse und ihre weiterhin bestehenden Alteritätsdefinitionen auch in der Gegenwart eine Gegennarration zwingend machen können. Und zweitens, dass dies mitunter einen ungewöhnlichen Umgang mit dem Zeitbegriff erfordert, der sich hier von der Vorstellung einer linearen Chronologie und der Logik einer zeitlichen Unmittelbarkeit von Kausalzusammenhängen lösen muss, um die Realität anders gearteter persönlicher Zeiten zuzulassen (vgl. hierzu S. 189). Die Dringlichkeit von Fainsteins Narration liegt in der noch unerledigten Aufgabe, sich der Sprache zu bemächtigen und soziale/geschlechtliche/generationelle/politische asymmetrische Beziehungen zurechtzurücken, die hier und heute im Zusammenhang mit dem »alten« Leid aktiviert werden. Dadurch wird die Schreibpraxis der Zeugin zum Akt der Autorisierung und Selbstaffirmation, zu einem noch ausstehenden Empowerment. Die Ambiguität des gefühlten Zeitrahmens hat in der Narration ihr strukturelles Pendant. So bewegt sich die Erzählung entlang ihrer 20 Kapitel stets zwischen Vergangenheit und Gegenwart, sowohl von Kapitel zu Kapitel als auch in einigen Fällen innerhalb eines einzelnen Kapitels (vgl. Kap. 4, 5, 6, 8, 14, 16). Sie beginnt in einer Narrationsgegenwart, angesiedelt im Jahr 2001 – der 27. Juni wird als Stichtag genannt (27) −, und endet vermutlich im Jahr 2002, denn die letzte Zeitangabe ist der 1. Januar 2002 (153), fünf Kapitel vor dem Ende. Die Gegenwart ist Start- und Endpunkt der Zeitreise; die letzten vier Kapitel sind − wie das erste − in der Gegenwart verankert, dazwischen geschieht lediglich die im Kapitel 9 beschriebene Aktion synchron zur Erzählzeit. Weitere sechs Kapitel haben eine komplett in der Vergangenheit abgeschlossene Zeitstruktur, während die restlichen acht die oszillierende Bewegung intern halten und aus der Vergangenheit den Blick auf die Gegenwart wagen – und umgekehrt. So vollzieht sich strukturell eine Beziehung zur erlebten Zeit, die sich als transkriptive Bezugnahme aus der Gegenwart heraus konstituiert und nicht linear erzählt werden kann. b. Verkörperte und verschlüsselte Zeichen der Erinnerung Der Ausbruch der Krise markiert in Detrás de los ojos den Beginn und den Gegenstand der Narration: der verdrängten und im Körper vergegenwärtigten Erinnerung einen Platz außerhalb des eigenen Körpers zu geben. Jene als rohe Erfahrung abgespeicherten und 25 Jahre auf ihre Transkription wartenden Emotionen und Gedanken sollen über die Schreibpraxis kontrolliert in einen sinngebenden und kommunikativen Rahmen gestellt werden. Die Folter selbst scheint noch im rohen Zustand der unartikulierten Körpererfahrung verhaftet 427

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zu sein, im Feld dessen, was Sigmund Freud als »Körper-Ich«105 beschrieben hat. Graciela Fainstein schreibt: »So ist die Erinnerung. Jenseits des Willens hat der Körper seine eigene Erinnerung und bewahrt die Spuren der alten Wunden« (18). Die Ich-Erzählerin unterstreicht an dieser Stelle die Wirkung ihrer Worte mit einem Zitat von Jean Améry. Darin wird die Folter als ein in den Körper eingeschriebenes Brandmal106 geschildert, das sich der Sinngebung widersetzt, sind doch bei dieser gegenmenschlichen Erfahrung alle sinnstiftenden Bezugsrahmen hinfällig geworden. Graciela Fainstein sagt von dieser Erfahrung ihres Leibes, dass sie eine Eigendynamik jenseits ihres Willens hat. Die Spaltung, die sie 1976 beschützte, den Drang zu fliehen ankurbelte und sie dazu brachte, in ihrem Überlebenskampf das Erlebte zu verdrängen, zwingt ihr 2001 eine Auseinandersetzung mit den Spuren der Gewalt auf. Der Leib diktiert ihr eine Entschlüsselungsaufgabe − »Der Code ist im Körper, das ist der Hinweis« (75) −, zu deren Lösung die Narration beitragen soll. Diese wird dann als Wiederentdeckungsreise des Selbst durch die Stationen der Erinnerung dokumentiert (vgl. 82, 180, 185). Eine Art intime Forschungsreise in die Erinnerung soll ihr die Hoffnung zurückgeben (188), die ihr in jener Nacht des Jahres 1976 genommen wurde (47, 78), als sie das Gefühl hatte, dem Tod von der Schippe zu springen. Seitdem war das Leben eine einzige Flucht vor dem Tod − »Und seitdem immer fliehen, fliehen, immerzu fliehen, um immer weiter weg von seiner Hand zu sein, von seiner kalten, eisigen, schrecklichen Kralle« (77). Die Gewissheit der Zerbrechlichkeit des Lebens selbst verursacht ein Gefühl des Terrors (77), dem sie nicht ausweichen kann. Der Leib, das Lebendigsein, ist ihr inzwischen zur Qual geworden: Dich so lebendig zu fühlen, dass du es nicht ertragen kannst, zu fühlen, dass du lebst, den Puls des Lebens in deinem Blut, deinen Adern, deinem Herzen zu fühlen und dadurch zu erkennen, dass das zu viel für dich ist, dass du diese äußerste Sensibilität höchstens eine Minute durchstehst, weil du sie nicht erträgst, nicht bewältigst. (76)107

Das Schreiben soll die Abwendung vom Leben rückgängig machen; es ist wie eine Art Exorzismus, eine Entdämonisierung der Innerlichkeit. Die Zeit scheint 105 Freud, 1923, o. S. 106 In Jenseits von Schuld und Sühne ([1966] 2008) reflektiert Jean Améry über die Folter anhand seiner eigenen Erfahrung des Gefoltertwerdens durch die Gestapo und vor dem Hintergrund des Vietnamkriegs (S. 46-73). 107 Aus dem Span. von MLS. 428

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gekommen, die arbiträr zugefügten Wunden in das eigene Leben zu integrieren, sich selbst das sinnlose Leiden zu verzeihen und sich zu trösten. Es ist ein Zurück aus der inneren Verbannung, das durch das verminte und ausgesparte Territorium geronnener Zeit führt. Ein Zurück aus einem persönlichen Exil, das mit dem Grund für das noch andauernde Exil aus Argentinien in einem engen Zusammenhang steht. Ihr so intimer Prozess steht 25 Jahre später immer noch in Resonanz mit den argentinischen Ereignissen und diese bestimmen den Ausgang der Erzählung: Die damals noch gültigen Gesetze der Straflosigkeit machen es der Erzählerin im Jahr 2001 unmöglich, ihre Geschichte wirklich zu Ende zu bringen (181). Die Erzählung befolgt allerdings eine weitere Logik: Durch das erinnernde Schreiben hat sich bei der Ich-Erzählerin eine Transformation vollzogen, die eine radikale Umkehrung ihres Verhältnisses zum Erinnern und Vergessen und deren komplette Umgewichtung belegt: »Heute ist die Erinnerung meine Rache geworden, wie es einst das Vergessen war« (175). Sich heute zu erinnern bietet ihr also die Möglichkeit, dem Schmerz etwas entgegenzusetzen, aus der Ohnmacht des Opferdaseins in die aktive Rolle der Anklagenden zu wechseln. Die Arbeit der Selbstaffirmation ist für sie abgeschlossen, als sie einen Sinn in ihrem Überleben findet, als sie den abgespaltenen Teil ihres Selbst in die Mitte ihres Bewusstseins stellt: Der Zeuge durchbricht diese Opfer-Überlebenden-Marginalität und verwandelt sich in ein vollberechtigtes Individuum mit einer anerkannten und nützlichen Aufgabe, er ist kein Störfaktor mehr, weil er den Lebenden nicht ihre Schuld entgegenschleudert, sondern ihnen einen Dienst erweist, den Dienst des Erzählens, des Übermittelns dessen, was sie nicht gesehen haben und nicht sehen werden, das man aber wissen und verstehen muss, um zu verhindern, dass es noch einmal passiert. (174)108

Die Reformulierung ihrer eigenen Position, die bis dahin für sie das Zugestehen eines marginalen Platzes – den des Opfers – bedeutete, den sie abgelehnt hat, gibt ihr die aufgewertete Rolle einer Zeugin. Diese Transformation ermächtigt sie dazu, sich selbst mit ihrer Erinnerung einen neuen Platz in der Gegenwart zu geben. Auf diesem Rückeroberungszug der eigenen Geschichte hat sie Weggefährten gefunden, mit alten Freunden Kontakt aufgenommen, die Arbeit der Asociación de Ex-Detenidos Desaparecidos kennengelernt und den Namen und den genauen Platz des Folterlagers erfahren: Sie war in Garaje Azopardo, dem Folterlager, in dem zwischen 1976 und Februar 1977 mehr als hundert Personen 108 Aus dem Span. von MLS. 429

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ähnliche Qualen wie sie erlitten (121). Am Ende des Buches und seiner Suche nach dem verlorenen Selbst hat die Ich-Erzählerin »den Schlüssel und den Code, fast das Gleiche«109 (75) zu ihrer eigenen Geschichte gefunden. Sie kann den Menschen wieder freier begegnen und schreiben: »Das Leben schaut mich wieder an, es schaut mich an, es droht mir nicht« (159). Unmittelbar nach der Darstellung des Ausbruchs der Krise im ersten Kapitel führen die Stationen der Erinnerung in zaghafter und sozusagen transversaler Annäherung − aber doch unausweichlich − zu jener Nacht, in der die Zäsur im Leben der Ich-Erzählerin stattfand: »Die erste Nacht wird immer unüberwindbar bleiben, weil sie die Nacht ist, in der die Welt einstürzte« (78), »der unauslöschliche, wiederkehrende Albtraum, der mich bis zur letzten Sekunde meines Lebens, meines Bewusstseins verfolgen wird« (78). Die Erinnerung an die Tage im Folterlager ist die unverdauliche Masse, »das, was ich, egal wie viel Zeit auch vergeht, nicht verdauen kann« (78), das, was jetzt Aufmerksamkeit verlangt. Die Erzählung dessen, was in jener ersten Nacht geschah, beginnt im zweiten Kapitel mit dem Titel »La primera noche« [Die erste Nacht] (33f.), eröffnet sich dem impliziten Leser jedoch erst drei Kapitel später in »Pasado y presente« [Vergangenheit und Gegenwart] (75f.). Dazwischen erfährt man, dass die Autorin tatsächlich kaum je über die Ereignisse jener Tage gesprochen hat. Nur eine einzige Person scheint ihr die richtigen Fragen gestellt zu haben: Sara Soria, ihre Psychologin aus Kindertagen, bei der sie kurz danach Hilfe suchte (114). Obwohl ihr Freund Dani mit ihr verschleppt wurde und die erste Exilerfahrung teilte (bevor sie nach der Kriegserklärung der Militärs im Konflikt um die Falklandinseln definitiv nach Spanien auswanderte), war das Thema in der Beziehung ein Tabu. Dani, der wieder in Buenos Aires lebt, bestätigt ihr 25 Jahre später ihre Erinnerungen (49-61), deren Wirklichkeitsgehalt sie fast schon bezweifelte. Ihrer ebenfalls mit ihr verschleppten und freigelassenen Freundin Pupi begegnete sie nie wieder. Graciela Fainsteins Eltern waren nach der Freilassung verreist und sie wohnte bei der befreundeten Familie Tarcón. In deren Haus tagte während ihres Aufenthaltes dort die Leitung der argentinischen KP, alles sehr gute Bekannte auch ihrer Familie. Diese Parteifunktionäre reagierten mit Gleichgültigkeit auf Gracielas Anwesenheit und auf ihren (sicher) sichtbar schlechten gesundheitlichen und seelischen Zustand, über dessen Zustandekommen sie Bescheid wussten. All die Leidenschaft für die Revolution, die die junge Kommunistin bis zum Zeitpunkt ihrer Entführung spürte und die sie fast das Leben kostete, wurde durch die Kälte ernüchtert, die ihr von der KP-Führungsrie109 »la llave y la clave, casi lo mismo«; llave und clave haben eine ähnliche Bedeutung und einen ähnlichen Klang. 430

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ge entgegengebracht wurde. Sich übergeordneten Zielen verpflichtet zu fühlen schien für die führenden Köpfe der KP offenbar unvereinbar mit einem Zeichen menschlicher Rührung für die terrorisierte junge Frau. Die Sowjetunion hatte damals die argentinische Junta anerkannt und während die Carter-Regierung die Generäle zur Abkehr von ihrer Menschenrechtspolitik zwingen wollte, rächten diese sich dafür, indem sie Getreidegeschäfte mit den Sowjets machten. In diesem widersprüchlichen Kontext wurden die jungen KP-Aktivisten nach den Regimemaximen weiter verfolgt und für ihre politischen Aktivitäten als »perejiles«110 an einer imaginären Front verheizt und in den geheimen Lagern getötet. Die argentinische KP schwieg damals dazu. Das, was ihr in jener ersten Nacht geschah, beschreibt die Ich-Erzählerin mit schlichten Worten in einem einzigen langen Satz, der die Handlungen der Folterknechte und ihren Widerstand dagegen schildert (78). Schläge, elektrische Folter und Vergewaltigung haben ihren Willen gebrochen. Trotz des verzweifelten Kampfes um ihre Integrität spricht sie am Ende einen Namen aus. Das kann sie sich nicht verzeihen, auch wenn sie weiß, dass der Verrat keine schlimmen Konsequenzen für jene Person hatte: »Das habe ich auf mich geladen und trage es mein Leben lang mit mir, jene Denunziation, jene Auslieferung« (80). Sie beschreibt mit ergreifender Ehrlichkeit die Performance der Unschuld, die sie als Überlebensstrategie durchzog und die sie die Rolle eines Kindes so glaubhaft mimen ließ, dass sie am Ende selbst daran glaubte. »Ich weinte, schrie, rief verzweifelt nach meiner Mutter« (80), anstatt sich – wie sie selbst von sich erwartet hatte – wie eine Heldin zu verhalten. »All das Unverzeihliche« (78) fasst sie so zusammen: Und darin besteht der ganze Horror: dass sie uns ausgeleert haben, dass sie bis auf den Grund unseres Selbst vorgedrungen sind, dass sie uns völlig entblößt haben, körperlich und seelisch, dass sie sehen und fühlen konnten, wo unsere Grenze war, wie weit wir gehen konnten, wo der Bruchpunkt unserer Würde lag. (78)111

Die von der Gefangenen gewählte Strategie, sich hinter der Naivität und der Unschuld eines Kindes zu verstecken, wird in der Erzählung parallel zu der Ansicht geschildert, sie sei durch die Erfahrung dieser schwarzen Tage gewaltsam ihrer Kindheit und Jugend entrissen worden. Dass Folter eine traumatische Regression verursachen kann, in der sich das Opfer als lebensunfähiges Kind 110 Vgl. Teil II, Kap. 2.2. b. 111 Aus dem Span. von MLS. 431

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erlebt, ist eins der zentralen Fundamente ihrer Wirkung und eine aus der Psychotraumatologie bekannte Tatsache.112 Graciela Fainstein lässt diese vor dem Gericht des eigenen Gewissens jedoch nicht als mildernden Umstand gelten. Die paradoxen Beziehungen, die unter den extremen Bedingungen des Ausgeliefertseins entstehen können, werden nicht zuletzt durch das sogenannte Stockholm-Syndrom belegt und sind hinreichend bekannt. Die Ich-Erzählerin spricht von ihrer Regression allerdings mit einem Gefühl der Scham für die eigene Ohnmacht, das den langen und steinigen Weg des inneren Verzeihens aufzeigt. Ebenfalls mit Scham belegt und irreparabel beschädigt scheint ihre Beziehung zur argentinischen Gesellschaft zu sein (vgl. 148f.). Mag die Zeugin am Ende der Erzählung für ihre Erinnerung – und für sich selber mit ihr – auch einen Platz gefunden haben: Das heikle Verhältnis zum Heimatland ist wohl nicht wiedergutzumachen. Das Leben in einer Gesellschaft, die neben dem Alltag der Mehrheit die parallele Realität der Lager möglich machte und duldete – »es war möglich, so nah an dieser Hölle weiterzuleben, tagein, tagaus, jeden Morgen, jeden Abend, in einer absurden, beunruhigenden Alltäglichkeit« (148) – und an die sie stets erinnert wurde, wenn sie später im Exil andere Argentinier traf oder von ihnen hörte, rief lange Zeit Scham in ihr wach: »[D]arin bestand die Scham, die Scham, die wir empfanden, wenn wir uns später untereinander trafen« (148). Der Bruch mit der Welt, das zerrüttete Weltvertrauen der Überlebenden dieser menschengemachten Katastrophe, fokussiert sich auf die Beziehung zu der Gesellschaft, die sie verursacht hat und bis zu jenem Zeitpunkt unbestraft ließ: Wenn in einer Gesellschaft etwas derart Abscheuliches geschieht, wie dass entschieden wird, bestimmte Personen (welche auch immer) auszulöschen, und wenn das dann auf so feige und verderbte Weise gemacht wird, dass niemand es merkt, niemand dazu steht, niemand Gerichtsprozesse führt, niemand Todesurteile unterschreibt, niemand die Leichname übergibt, wenn alles klandestin, im Verborgenen, illegal geschieht, dann hat diese Gesellschaft eine moralische Grenze überschritten, deren Restaurierung einige Generationen dauern wird. (148)113

112 Vgl. z.B. Hirsch, Mathias, 2009, S. 13; Hausmann, 2006, S. 61. 113 Aus dem Span. von MLS. 432

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Graciela Fainstein schämt sich dafür, Teil jenes Universums gewesen zu sein, das sie zwar erleiden musste, zu dem sie aber durch ihr Schweigen (und den Verrat) beitrug: »[D]u hast akzeptiert, Komplize zu sein, oder zumindest hast du akzeptiert, zu schweigen« (148). Die Radikalität dieser Absage an die Zugehörigkeit zu ihrem ursprünglichen Heimatland wird im Text jedoch durch die Stellen relativiert, in denen sie auf die »Landsleute« (115-131) verweist, die sie auf dem Weg ihrer literarischen Erinnerungsarbeit gefunden hat. Es sind weitere Überlebende, die ähnlich wie sie die Mühe des Wiederaufsammelns, des Erinnerns – und des Redens – auf sich genommen haben. Ihre Erzählungen über die Staatsrepression tragen wesentlich zur Pluriperspektivierung der Geschichte bei. Gracielas Fainsteins Beitrag steuert so eine ernüchterte Version des Erlebten bei, die die Negativität der Erinnerung an das zähe Ende der revolutionären Jahre nicht verweigert, die Vorgehensweise der Revolutionäre von damals nicht vergoldet und die Opfer der Staatsrepression nicht heroisiert. c. Das Diskriminierungsgeflecht in Detrás de los ojos Detrás de los ojos ist kein sentimentales soziales Denkmal, sondern vielmehr die intime Narration der verletzten Subjektivität einer damals sehr jungen Frau und 25 Jahre später noch an den Folgen leidenden Erwachsenen. Und dennoch lassen sich im Laufe der Erzählung Konstellationen aufspüren, die Rückschlüsse auf die sozialen Umstände ermöglichen, die die Erfahrung der desaparición forzada der Autorin begleiteten. Angeklagt wird neben den zugefügten Qualen der Folter, die auch sexuelle Gewalt umfasste, das enorme Unverständnis, auf das die Überlebende im Anschluss an ihre schwarzen Tage stieß und das ebenfalls tiefe psychische Schmerzen verursachte. In der Rückkehr aus der Welt derjenigen, die angeblich »weder tot noch lebendig« sind, wird die intersektionelle Zusammenfügung der Verfolgung wahrnehmbar. Graciela Fainsteins Abrechnung mit der Gesellschaft und ihrem privaten Umfeld, die ihr einen persönlichen Teil an der Katastrophe zuteilwerden ließen, ist ein Aufdecken stummer kollektiver Mittäterschaften an ihrem individuellen Schmerz. Dazu zählen u.a. die Unfähigkeit ihrer Eltern, sich mit ihrem Leiden zu befassen, und die Kälte der Führungsriege der argentinischen KP ihr gegenüber, nachdem sie Opfer der Staatsrepression geworden war, aber später auch – im spanischen Exil – die fehlende Solidarität innerhalb der Gruppe der geflohenen Montoneros aus ihrer ehemaligen Schule (dem Colegio Nacional de Buenos Aires), die in ihr ein ehemaliges Mitglied der Federación de Jóvenes Comunistas sahen, denen sie früher zu bourgeois für die Revolution war und die sie nun durch den Fakt des Überlebens für suspekt hielten. Auch wenn die Erzählung nicht darauf konzentriert ist, Situationen und Beziehungen darzustellen, die unter dem Begriff »Dis433

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kriminierung« subsumiert werden könnten, lassen sich leicht die Schnittstellen finden, die Konnexe von politischer/geschlechtlicher/ethnischer/sozialer Diskriminierung evozieren. Die damaligen Konstellationen der Narrationsgegenwart werden von der Ich-Erzählerin an manchen Stellen kritisch reflektiert und an anderen lediglich benannt. Insgesamt betrachtet gibt Fainsteins Wahrnehmung Aufschluss über eine vielschichtige Ausgrenzung, in der die asymmetrischen Signifikationen – am Leib festgemacht – eine Variable darstellen, die sie direkt betraf. 1) Das geschlechtsspezifische Antlitz der politischen Verfolgung Drei Konstellationen oder Motive erscheinen in Detrás de los ojos für eine Analyse aus der Genderperspektive relevant. Ein erstes Motiv ist das Bild, mit dem auf den ersten Seiten der Erzählung junge politisierte Frauen präsentiert werden und das sie als Nebendarstellerinnen der Revolution gelten lässt, für deren Hauptrollen männliche Akteure vorgesehen waren. Diese Perspektive wird von der Autorin bei weiteren Frauen ihrer Generation konstatiert, wenn auch nicht in Frage gestellt: In vielen Geschichten über verschwundene und gefolterte junge Frauen, die in bewaffnete Gruppen geraten waren, entführt wurden und umkamen, ist erkennbar, wenn man ein wenig tiefer gräbt, dass das Engagement die Handschrift eines Verlobten oder Partners trug, der sie drängte, diesen Weg zu wählen. (45)114

Sie bezeichnet ihren Freund als »Märchenprinz«, der statt einer Waffe einen Fotoapparat mit sich trug (46) und damit den von ihnen als Paar geteilten Traum und den generationellen Auftrag, die Welt zu verbessern, umsetzen wollte. Von dessen Armen wollte sie sich getragen sehen als »kleine Dame in den Armen des umherziehenden Ritters« (45). Auch wenn die an ihr ausgeübte Gewalt als eigentlich gegen Dani gerichtet gedeutet werden kann – er sollte dem extremen Schmerz ausgesetzt sein, Zeuge von Gewalt an dem von ihm geliebten Menschen zu werden –, trafen die Handlungen der Folterknechte nicht beide in gleichem Maße: Die Ich-Erzählerin wurde stärker zum Ziel der Wucht der Folterknechte (87, 95) und von beiden als Einzige Opfer sexueller Gewalt. Über den Anlass ihrer Verschleppung selbst kann nur gemutmaßt werden. Ob man sie im Besitz wichtiger Informationen glaubte, ob sie für ihr rebellisches Verhalten bestraft werden sollte oder für ihre Solidarität mit ihrer Freundin Pupi (die 114 Aus dem Span. von MLS. 434

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bei ihr übernachtete, um dem Stress im Elternhaus nach der Verschleppung der Schwester, einer Montonera, zu entfliehen), ob an ihr stellvertretend für die konspirative Arbeit der kommunistischen Eltern Vergeltung geübt wurde, ob sich an ihr antisemitischer Hass gegen den jüdischen Vater entlud, ob ihre Verschleppung eine Warnung an ihren Freundeskreis und den der Eltern sein sollte – die Gewalt traf sie körperlich stärker als ihren Freund Dani oder ihre Freundin Pupi (die anscheinend eine dieser seltenen Formen der »Flucht« ergriff, die Pilar Calveiro in Poder y desaparición beschreibt, und die meiste Zeit im Lager Garaje Azopardo schlief). Graciela Fainstein erlitt die Logik des Konzentrationslagers. An ihr wurde der Versuch unternommen, sie als moralisches Individuum zu vernichten. An ihr wurde die systematische Praxis der Vergewaltigung ausgeübt und ihr wurde diese konjugierte Form politischer und misogyner Repression zugefügt. Die Tatsache, dass sie ihr politisches Engagement in der romantischen Liebe zum Märchenprinzen begründete oder ihre eigenen politischen Ziele seinem Engagement unterordnete, nutzte ihr wenig. Die Vorstellung (lediglich?) an der Seite eines gerechtigkeitsliebenden Ritters zu sein, ersparte ihr das große Unrecht, Opfer der argentinischen Staatsrepression zu werden, nicht. Eine weitere genderpolitisch relevante Konstellation ergibt sich im Zusammenhang mit der unerwünschten Schwangerschaft als Folge der Vergewaltigungen. Zum Abbruch der Schwangerschaft musste die Ich-Erzählerin, nachdem sie Argentinien verlassen und Zuflucht in Madrid gefunden hatte, nach England fahren. Denn ein solcher Eingriff unter medizinisch einwandfreien und legalen Umständen blieb Frauen in Spanien bis 2010 verwehrt, was lange Zeit für einen regen Tourismus über den Kanal sorgte. Ihr Bruder riet ihr 1976, bei Zweifeln über den Erzeuger, die sie nie hatte, das Kind zu behalten, und bemerkte die Grausamkeit seiner Worte nicht. 25 Jahre später gibt ihr ehemaliger Freund Dani seine Überzeugung preis, der Erzeuger des abgetriebenen Kindes zu sein. Dieses Unverständnis für ihre Lebenssituation – auch mitten in der Krise – erklärt die Ich-Erzählerin mit der grundsätzlichen maskulinen Unkenntnis femininen Leibesbewusstseins und erhebt daraufhin Anklage: »Kann ein Mann denn nicht den fürchterlichen Ekel nachvollziehen, den eine Frau gegenüber einem Kind zu empfinden vermag, das möglicherweise aus einer Vergewaltigung hervorging?« (138). Hinter dieser Generalisierung, die im ersten Moment genderessentialistisch wirken mag, verbirgt sich die politische Dimension der Vergewaltigung, die im Zusammenhang mit der massiven Praxis in den Folterlagern ganz offensichtlich hervortritt und trotzdem – nicht nur gesamtgesellschaftlich, sondern auch im persönlichen Umfeld – gewohnheitsgemäß ins Private geschoben und ausgeblendet wird. Einzig der Narkosearzt in England, der sie bei der Einleitung der Abtreibung voller Mitgefühl begleitet, trägt dazu bei, ihr verlorenes Vertrau435

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en in die Männer ein Stück weit zu relativieren. Die Erinnerung an die ersten Tage nach der Entlassung aus Garaje Azopardo und die liebevolle Behandlung durch Gisela, die Mutter von Dani, wird ebenfalls geschlechtsspezifisch artikuliert: Die einen Hände haben mich gequält, mich geschlagen, mir unglaublichen Schmerz bereitet, andere Hände kämmten mich, umsorgten mich und gaben mir Wärme, Zärtlichkeit, Fürsorge, Herzlichkeit. Hände in beiden Fällen, aber worin bestand der Unterschied? Vielleicht darin, dass die einen Frauenund die anderen Männerhände waren? Männerhänden wieder zu vertrauen kostete mich viel mehr, als Gisela in jener Nacht für mich tun konnte. (157)115

Die dritte Konstellation kristallisiert sich im Schweigen der Mutter, das auch ein Schweigen des Vaters ist. An mehreren Textstellen erinnert Graciela Fainstein an die Bitte um Nähe, die sie an ihre Mutter richtet und die ihr verweigert wird (89-95); einzig bei der komplizierten Geburt der Enkeltochter etwa 15 Jahre später wird der Hilferuf der Tochter erhört. Das hartnäckige Abwehren der Schmerznarration der geschundenen Tochter durch die Mutter gibt über den ganzen Text Rätsel auf. Die Mutter kann die Wörter »Folter«, »Verschwinden«, »Verschleppung« im Zusammenhang mit dem, was ihrer Tochter zugefügt wurde, nicht aussprechen und redet stattdessen euphemistisch von »das, was dir passiert ist«, »deine Sache« (181). »Incomprensiones y resentimientos« [Unverständnisse und Ressentiments] betitelt die Ich-Erzählerin den Abschnitt der Erzählung, in dem dies nachhallt (181f.). Das gesellschaftliche Verschweigen scheint ein Korrelat im Schweigen der Eltern zu haben, wobei die Bitte um Beistand an die Mutter unverkennbar mit dem sozialen Rahmen genderspezifischer Erziehung zusammenhängt. Es geht um das unausgesprochene Mandat, all das zu verschweigen, was tatsächlich war und nicht sein durfte, das von der Mutter an die Tochter weitergegeben wird und die stumme Allianz darstellt, die dem Patriarchat sein Weiterbestehen sichert. Wenn die Mutter die Vergewaltigung unausgesprochen bleiben und die Abtreibung ohne Trost stattfinden lässt, verrät sie die Tochter als Frau und Menschen zugunsten eines patriarchalischen Imperativs, der dem Schmerz der Frauen keinen gleichwertigen Platz einräumt und vor allem die Verletzung der Ehre des Vaters identifiziert und entsprechend zu decken versucht.

115 Aus dem Span. von MLS. 436

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2) Die Fluchtstrategie des Kindes »café con leche« – Ethnisch-religiöser Hintergrund und politische Diskriminierung Trotz des unverkennbar jüdischen Namens der Autorin und Ich-Erzählerin ist ein Verdacht der antisemitischen Verfolgung kein Gegenstand der Narration. Einzig ein Motiv aus der Kindheit erscheint symptomatisch für die Diskriminierung der jüdischen Bevölkerung Argentiniens und erhält Relevanz, da es sich als eine erlernte Strategie im Umgang mit Ausgrenzung herausstellt. Die Strategie des Vaters, seine jüdische Herkunft zu vergessen, war sein Weg der Wahl, um im argentinischen »Melting Pot« nicht negativ aufzufallen: »Nie zeigten sie sich als Juden, sie waren Einwohner von Entre Rios, Kommunisten, Argentinier, und dafür mussten sie sogar die zartesten Kindheitserinnerungen opfern« (103). Mit »sie« sind ihr Vater und Ada Tarcón gemeint, die beide mit ihren nichtjüdischen Ehepartnern ein gemischtes Paar, »café con leche« [Milchkaffee] (102), bildeten. Nach dem Verlust der europäischen Mutterfamilien in der Shoah teilten sie den Weg der Assimilierung als Überlebensstrategie: »Ihre christlichen Ehepartner waren ihr Schutz, ihre Wirtschaftskraft war es auch und ebenso ihr Gefühl der Zugehörigkeit zur großen internationalen Bruderschaft der Kommunisten, die im [Zweiten Welt-]Krieg gesiegt hatten« (103). Die Angst vor Verfolgung holte die Familie Fainstein mit dem politischen Verbrechen an der Tochter ein. Wie einst der Vater wählte auch die Tochter für das eigene Überleben die Kunst des Vergessens und Verdrängens. Sie war dann die »starke Frau, glücklich, eine Migrantin mit einer Erfolgsgeschichte, ein redlicher Mensch, jemand, der allen Angriffen des Schmerzes, des Todes und der Melancholie widerstanden hat« (19). Sie weigerte sich nicht minder als der Vater, den Platz der Überlebenden – und den des Opfers – einzunehmen: »Ich bin keine Überlebende, kein Phantom, keine Erscheinung und keine Seele im Fegefeuer, ich bin eine andere, und der, die ich jetzt bin, könnt ihr keinen Schaden mehr zufügen« (144). Sie lehnte es ab, sich mit dem Bild eines Opfers zu identifizieren. Ihr war die Vorstellung verhasst, so wahrgenommen zu werden, als würde sie »am Erinnerungsgalgen ›hängen‹«, als wäre sie »›traumatisiert‹, für immer gezeichnet, ewiges Fleisch auf der Couch eines Psychoanalytikers« (144). Diese Weigerung belegte sie mit dem Gefühl des Stolzes und der Absicht der Rache: »Es war dein Stolz, deine Devise, deine Rache« (144). Doch gerade diese Haltung erwies sich als nicht länger lebbar und an dieser Krise konstituierte sich dann der Anlass der literarischen Erinnerungsarbeit. Die Überlebensstrategie der Familie Fainstein hatte sich bereits viel früher als hinfällig erwiesen, nämlich schon, als der von den Sicherheitskräften ausgerufene Kampf gegen die »subversión« und gegen den Kommunismus sie angreifbar machte und mit dem Verbrechen an der Tochter die ganze Familie viktimisiert wurde. 437

Erinnerung und Intersektionalität

d. Generationenbilder und Figurationen von Helden und Opfern in Detrás de los ojos Deutlich lässt sich in Graciela Fainsteins Narration der generationelle Aspekt wahrnehmen, wenn sie von Gleichgesinnten und Gleichaltrigen spricht, deren Leben von der Repression wesentlich geprägt wurde: Die jungen Menschen, die wir waren, verschwanden in jener Horror- und Todesnacht für immer. Die Schläge zertrümmerten unsere Hoffnungen, die Folterungen machten aus unserer Lebenslust Kleinholz, die Begegnung mit dem Bösen verstörte uns für alle Zeiten, die Demütigungen zogen einen Strich unter unser Vertrauen in die Welt und die Menschen und pflanzten in unsere Herzen auf ewig Angst, Schrecken, Misstrauen. (47)116

Sie richtet diese Reflexion aus der Gegenwart heraus an ihrem damaligen unmittelbaren Gegenüber, Dani, aus, diese Worte haben allerdings beispielhaften Charakter. Im Verlauf der Narration bezieht Fainsteins Klage ihren aktuellen Lebensgefährten Pablo, Kind einer Desaparecida, und mehr oder weniger ihre Freunde vom Colegio Nacional mit ein und stellt sie in Beziehung zu jenen Ereignissen. Das Gefühl, das sie mit ihrer Gruppe vor den tragischen Ereignissen verband, war umfassend: »Unsere Freundschaft bedeutete uns alles, ganz und gar alles« (134). Die Staatsrepression ist eines jener zentralen Bezugsereignisse, die nach der Historikerin Ulrike Jureit Generationen zur Selbstdefinition bewegt und sie im Sinne Benedict Andersons zu »imagined communities« macht.117 Wie sich diese Generation definiert, kann allerdings nur im Zusammenhang damit nachvollzogen werden, was so gewaltsam unterdrückt werden musste. Denn das Affirmationsmoment dieser Generation ist in den positiven Erinnerungen angesiedelt, die sie damals mit Zuversicht in die Zukunft blicken ließen und ihnen die wohl trügerische Sicherheit vermittelten, die Zukunft gestalten zu können. Graciela Fainstein beschreibt das Szenarium der Zeit vor dem Raub ihrer Jugendträume im Kapitel »Antes« [Davor] so: Wer in jener Zeit in Argentinien gelebt hat, weiß, wie heftig es damals brodelte. Die Gesellschaft war wahrlich ein riesiger Kochtopf, in dem bunt durcheinandergewürfelt und chaotisch die ungezügeltsten Leidenschaften aufwallten, eine Explosion der Kreativität, ein Feuerwerk von Rebellion, Veränderungen und Infragestellen der bestehenden Ordnung. In der Luft lag 116 Aus dem Span. von MLS. 117 Jureit, 2006, S. 41. 438

Teil IV – Eine von Frauen geschriebene Literatur der desapariciones forzadas eine Stimmung von Revolution, die Atmosphäre roch nach Umkrempelung der Welt. (40f.)118

Ihre Liebesbeziehung zu Dani fällt für die Ich-Erzählerin mit dieser Zeit des Aufbruchs zusammen und so soll der Leser den Eindruck gewinnen, persönliche und gesellschaftliche Zeiten verliefen damals synchron, harmonisch und zukunftsorientiert. Die lineare Zeit wird durch die Erfahrung der Verschleppung und der Folter zerschlagen. Mit dem biographischen Bruch wird nicht nur der persönliche Traum von Glück hinfällig, sondern auch das Traumbild der Brüderlichkeit innerhalb einer großen kommunistischen Familie. Die Ich-Erzählerin wird ernüchtert, als sie nach ihrer Freilassung bei der Familie Tarcón Zuflucht findet und dort die komplette Nichtbeachtung ihrer Person durch die Führungsriege der argentinischen KP erlebt, die dieses junge Mitglied familienbedingt praktisch innerhalb der Organisation aufwachsen sah und in jener »Familie der Familien« (107) stark verwurzelt wusste. Sie richtet eine bittere Klage an die Verantwortlichen der Partei, sie sei für die von ihnen verfolgten Ziele Risiken eingegangen, die sie kaum einschätzen konnte und die sie fast das Leben kosteten (109). Sie formuliert ihre Kritik im Zeichen eines kontrastierenden Generationen- und Genderbildes: »Da waren sie alle, fast alle Männer und fast alle alt, die perfekte kommunistische Gerontokratie« (109). Diese Klage ist an den impliziten Leser gerichtet, dem suggeriert wird, eine Generation alter Herren hätte die Mädchen, Jungen, Frauen und Männer wie berechnende Feldmarschalle in die letzte Schlacht eines verlorenen Krieges geschickt. Die Ich-Erzählerin rechnet mit dem kommunistischen Kader bitter ab. Sie beruft sich dabei auf die Worte Jorge Semprúns und seine Ansicht, den Frauen und Männern seiner Generation sei ein pures, naives und verwundbares Herz gebrochen worden, das sie selbstlos und großzügig gaben und in dem nur große Traurigkeit und die Nostalgie der zerstörten Hoffnungen blieben119:

118 Aus dem Span. von MLS. 119 »Wer nicht versteht, dass aus dieser Summe individueller Großzügigkeit und Hingabe an die Sache der finsterste, mörderischste Massenwahn dieses Jahrhunderts hervorgegangen ist, wird nie das Geheimnis des Kommunismus begreifen«, »nie die Trauer, ja die Sehnsucht verstehen«, die diese barbarische Epoche »in den Herzen so vieler Männer und Frauen meiner Generation hinterlassen hat« (aus Jorge Semprúns Federico Sánchez verabschiedet sich (1994), aus dem Franz. von Wolfram Bayer, zit. auf Spanisch in Fainstein, [2006] 2007, S. 112). 439

Erinnerung und Intersektionalität Diese Worten gelten für die unzähligen kommunistischen Aktivisten, die in den 70er Jahren ihr Leben auf dem lateinamerikanischen Kontinent ließen: dasselbe Feuer, dasselbe Leugnen, dieselbe Brüderlichkeit, dieselbe Naivität, dieselbe Idiotie. (112)120

Angesichts des Todes hatte die Erfahrung des Lagers ihrem politischen Engagement nicht nur jegliche Romantik genommen, sie entlarvte bei ihrer Rückkehr auch die missliche Lage der jungen argentinischen Kommunistin, deren Wert innerhalb des unmittelbaren politischen Kreises nach ihrem Nutzen für den Kontrahenten Sowjetunion und nach der Logik des Kalten Krieges eingeschätzt wurde. Einer Vorstellung von Generationssolidarität bzw. einem homogenen Generationenbild, das alle Gleichaltrigen gleichermaßen zu Opfern bzw. Helden machen sollte, wirkt der Bericht über ein Treffen mit Schulfreunden, alle Mitglieder der Montoneros, in Madrid entgegen (67, 149, 182f.). Das Bild fehlender Einigkeit in jenem Lager der durch die Streitkräfte als »subversivos« etikettierten jungen Leute stellt noch einmal totalisierende Annahmen in Frage, die daraus eine homogene Bewegung a posteriori deuten sollten: Sie betrachteten mich als »gorila« [Antiperonistin], als reformistische und bourgeoise »bolche« [Bolschewistin]; sie ihrerseits waren für mich milchbärtige, ultralinke Spinner, die die Reaktion begünstigten. Das Aufeinandertreffen war heftig und wir beäugten uns mit gegenseitiger Ablehnung, teilweise sogar mit Hass. (182)121

Nach der Rückkehr aus dem Lager, schon im Madrider Exil, ist zwar keine Feindschaft übrig, aber ein Blick des Unverständnisses auf die Exmontoneros aufgrund ihrer Deutung der Staatsrepression. Graciela Fainstein stellt die Idee von Heldentum in Frage und macht dabei die Spuren sichtbar, die die Zäsur der Staatsgewalt hinterlassen hat. Das Generationenbild, das von der Ich-Erzählerin im Kapitel »Héroes« [Helden] gezeichnet wird und durch große Figuren jener Zeit wie Che Guevara und Julius Fučík inspiriert ist, ist entsprechend atmosphärisch: »Wir lebten innerhalb jenes epischen, heldenhaften Universums« (67). Wie oben dargelegt, spricht die Figuration von Heroizität in den postdiktatorischen Lektüren der Staatsrepression für die vertretene Ansicht, ein Krieg sei geschehen. Die Ich-Erzählerin jedoch positioniert sich kritisch gegenüber einer 120 Aus dem Span. von MLS. 121 Aus dem Span. von MLS. 440

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Erzählung der Staatsrepression, die weiterhin im Zeichen des Helden- bzw. Märtyrertums stehen soll: Gleichzeitig entsteht der Eindruck, als würden sich in letzter Zeit die Huldigungen aneinanderreihen, als entstünde eine ganze Erinnerungsepik, in der die Heroizität der Toten gefeiert wird, in der sie bewundert und größer gemacht werden, in der die Erinnerung an sie gewürzt wird. Also spricht man nicht mehr von Opfern, sondern von Helden, nicht von Mitgefühl, Mitleid oder Respekt, sondern von Bewunderung. (71)122

Auch wenn das Wort »Genozid« im Text nicht vorkommt, ist die Auseinandersetzung mit der Deutung dessen, was ihr und was in ihrem Herkunftsland geschah, impliziter Tenor der Erzählung. Fainstein stellt heraus, dass ihrer Verschleppung ins Folterlager eine Fehleinschätzung der eigenen Gefährdung vorausging – »ich war eingebildet genug, um die Gefahr zu ignorieren« (71) –, und sie verweigert den überhöhten Platz der Heldin ebenso, wie sie sich gegen die Rolle des passiven Opfers wehrt. Die Überhöhung der Akteurinnen und Akteure impliziert, wie bereits dargestellt, eine Verfremdung der menschlichen Dimension der Tragödie und eine Verdrängung ihrer Negativität. Die Ich-Erzählerin prangert dezidiert den verklärten Blick auf die Vergangenheit an und stellt die Haltung des Heroisierens als ein tabuisierendes Verhalten, als ein »schwarzes Loch« und eine »durch das Schweigen verriegelte und verrammelte Kiste« (188), dar, das das Gelingen der Aufarbeitung verhindert. An der Offenheit im Umgang mit der Staatsrepression macht sie für sich die Möglichkeit fest, ihrer eigenen Erzählung ein Ende setzen zu können: Auch dort ist etwas endgültig beschädigt worden oder zumindest so lange, bis eine Generation hervortritt, die sich nicht nur nicht in diese Ereignisse verwickelt fühlt, sondern die es wagt, sich aus diesem schwarzen Loch hinauszulehnen, die sich entscheidet, diese durch das Schweigen verriegelte und verrammelte Kiste zu öffnen. Wenn das geschieht, dann kehrt die Hoffnung vielleicht zurück, dann ist diese Geschichte vielleicht an ihrem Ende angelangt. (188)123

Denn eine Narration im Zeichen des Heldentums (und des Krieges) bietet ihr, der Überlebenden mit dem störenden Gewissen, mit der Erkenntnis der eigenen 122 Aus dem Span. von MLS. 123 Aus dem Span. von MLS. 441

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Schwäche und letztlich der menschlichen Umstände des eigenen Verrats, keinen einnehmbaren Platz. Ihre Narration will daher nicht den Krieg belegen, sondern die Verwüstung menschlicher Subjektivität im Verhältnis zu sich selbst und zu den anderen durch die Massenvernichtung sowie die mühsame Arbeit der danach notwendigen Selbstaffirmation.

3. F iktionale Erzählungen – Mnemo-ästhetische Verfahren zwischen dem Ruf nach Gerechtigkeit und der Mythenbildung 3.1 Manuela Finguerets Hija del silencio (1999) – Das doppelte Gedächtnis der Vernichtung Bereits anhand der Widmung kann über den Anlass der fiktionalen Erinnerungsarbeit des Romans Hija del silencio [Tochter des Schweigens] spekuliert werden. Manuela Fingueret (09.08.1945-11.03.2013) widmete ihren Roman drei Personengruppen: der Generation der Kinder der Shoah-Überlebenden und der Überlebenden der argentinischen Militärdiktatur, die sie »unsere Generation« nennt, der Fundación Memoria del Holocausto, die Ende 1993 gegründet wurde und seit dem Jahr 2000 das Holocaustmuseum von Buenos Aires betreibt, sowie den Shoah-Überlebenden Erika Blumgrund124 und Jack Fuchs125. Letztere trugen 124 Erika Blumgrund, 1924 in Bratislava geboren, Überlebende von Theresienstadt, lebt seit 1948 in Argentinien. Sie war lange Jahre Redakteurin des Semanario israelita (anfänglich Jüdische Wochenschau). Neben ihrer journalistischen Arbeit verfasste die viersprachig aufgewachsene Blumgrund Gedichte und Prosastücke und übersetzte aus dem Spanischen ins Deutsche. Zu ihren Werken gehören Acordes (1993) und La corriente de la vida hacia su desembocadura incontenible fluye (1995), der Gedichtband Eso Fue Todo (2009), von Jorge Hacker ins Spanische übersetzt, und das Tagebuch Por los peldaños de la vida: diarios íntimos de una adolescente judía eslovaca: 1938-1941 (2010). 125 Als Yankele Fuks 1924 in Lodz geboren, überlebte Jack Fuchs das Ghetto von Lodz, wurde nach Auschwitz deportiert und von dort nach Dachau zur Zwangsarbeit geschickt. Im Mai 1945, vor der nahenden Ankunft der Alliierten, sollten die wenigen Überlebenden zu ihrer Vernichtung nach Tirol gebracht werden. Der Zug wurde bombardiert und so gelang ihnen die Flucht. Nachdem er zehn Jahre in den USA verbracht hatte, entschloss sich Fuchs, seine vor dem Krieg nach Argentinien ausgewanderte Familie zu besuchen, und übersiedelte 1963. Jack 442

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dazu bei, die im Roman geschilderten historischen Fakten zu rekonstruieren und zu ordnen. Zwei Ereignisse, die Shoah und die argentinische Staatsrepression, verflechten sich in doppelter Bezugnahme in diesem Werk, dessen Hauptfiguren streckenweise die diskursive Qualität archetypischer Konstruktionen haben: Rita, die in der ESMA gefangene Montonera, und Tínkele, ihre nach Argentinien eingewanderte jüdische Mutter und Überlebende des Ghettos und Konzentrationslagers Theresienstadt. Mit der generationellen Zuordnung schneidert Manuela Fingueret eine Erzählung nach Maß für die Auseinandersetzung mit der Frage nach den Formen transgenerationeller Weitergabe der Erinnerung und nach den Parallelen zwischen beiden Ereignissen. Die im argentinischen Denken geteilte Ansicht, »Argentinien erlebe die Zeit des ›schmutzigen Krieges‹ wie etwas mit der Erfahrung der Shoah Vergleichbares«, wird von Fernando Reati konstatiert, der als Beispiel die Äußerungen mehrerer Autoren und ihre Figuren anführt126, deren kulturelle Herkunft nicht unbedingt jüdisch ist (wie z.B. Ricardo Piglia). Für Fingueret allerdings ist die Shoah aus biographischen Gründen tatsächlich eine nahe Erfahrung, die in Resonanz zu der eigenen familiären Geschichte steht. Als Generationenthema eingeordnet, bezieht Finguerets Erzählung bereits von der Widmung an all diejenigen mit ein, die sich ebenfalls auf die Suche nach der verschwiegenen Überlebens- und Einwanderungsgeschichte ihrer jüdisch-europäischen Eltern gemacht haben und sich selbst als zweite Generation der Überlebenden erkennen. Die zwei Anschläge auf die jüdische Gemeinde von Buenos Aires, der erste auf die Botschaft von Israel am 17.03.1992 mit 29 Toten, der zweite auf das AMIA-Gebäude am 18.07.1994 mit 86 Toten, haben dazu beigetragen, das Bewusstsein für die besondere Lebenssituation der Kinder von Shoah-Überlebenden zu wecken, und die sogenannte zweite Generation zur biographischen Rekonstruktionsarbeit angeregt. »›Sie Fuchs’ Erinnerungsarbeit über die Shoah begann 1983 nach einem Treffen von Überlebenden in Washington anlässlich der Planung des dortigen Holocaustmuseums. Seitdem hat er an zahlreichen Konferenzen und Gesprächen teilgenommen, Zeitungsartikel geschrieben und zwei autobiographische Werke verfasst: Tiempo de Recordar (gemeinsam mit der Kunsthistorikerin Liliana Isod; 1995) und Dilemas de la Memoria (2006). Im Juli 2010 wurde Jack Fuchs zum Ehrenbürger der Ciudad Autónoma de Buenos Aires ernannt. Sein Leben wurde 2013 vom Regisseur Tomás Lipgot im Dokumentarfilm El árbol de la muralla auf die Leinwand gebracht. Interviews mit Jack Fuchs können abgerufen werden unter: ›www. tarbutsefarad.com/es/testimonios/1703-la-segunda-vida-de-jack-fuchs.html‹ und ›www.educ.ar/recursos/ver?rec_id=102467‹ (12.08.2015). 126 R eati, 1992, S. 76f. 443

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wollen uns töten‹, sagte Mutti. Wen? Welche ›uns‹ wollen sie töten? Wer sind ›uns‹?«127, so beschreibt die Psychotherapeutin Diana Wang die Sorgen ihrer Mutter und ihre eigenen Gedanken an jenem Morgen des 18.07.1994, die sich in der Arbeit der Gruppe »Generaciones de la Shoá«128 wiederfinden. Die Rekonstruktionsarbeit, für die sich Manuela Fingueret in ihrer Widmung bedankt, hängt mit dem Bedürfnis ihrer Generation zusammen, ihre Familienbiographien in das historische und auch geographische Umfeld sozialer Ereignisse einzubetten und die Bruchhaftigkeit familiärer Erzählung zu verstehen: Wenn die Überlebenden berichten, dann passiert es manchmal – vor allem dann, wenn sie ihren Kindern berichten –, dass sie verschlüsselt und gebündelt erzählen, dass Ereignisse als gleichzeitig geschildert werden, die zu unterschiedlichen Zeiten stattfanden. Vielleicht versuchen sie, den günstigen Moment zu nutzen, in dem man ihnen zuhört, um alles zu erzählen, und kümmern sich nicht um den zeitlichen Ablauf. Vielleicht haben sie nur die entscheidendsten Momente im Gedächtnis behalten, nur die, die sich eingegraben haben, und haben daraus eine Zusammenfassung des Erlebten gemacht. Vielleicht gehen sie davon aus, dass ihre Zuhörer sie schon verstehen oder die Ereignisse richtig einordnen können, ohne dass sie ein ums andere Mal die Vorgeschichte, die Zeit, die Umstände erklären müssten. In der Regel folgen diese Berichte nicht dem Muster Anfang, Fortsetzung, Schluss.129

Zu den generationsbildenden Ereignissen gehört als unmittelbarer Horizont sozialer Gewalterfahrungen die Staatsrepression, in der für die zweite Generation oftmals das Gefühl aufkommt, dass sich die Massengewalt, die die Elterngeneration am Leib erfahren und mit ihrer Ankunft in Argentinien hinter sich gebracht hat, in der argentinischen Gegenwart wiederholt. Manuela Finguerets Roman zeugt davon, dass für diejenigen, die nicht unmittelbar oder familiär betroffen waren, die Staatsrepression oftmals die Spur einer tiefen Unrechts- und Ohnmachtserfahrung hinterlassen hat, die durch die Verluste und die latente Gefahr im Freundes- und Bekanntenkreis aus nächster Nähe erfahrbar war. »Das Erlebte […] stellt sie auf die gleiche Seite des Stacheldrahts wie ihre Mutter«130, 127 Wang, 2007, S. 29. 128 Mehr Informationen über die Arbeit der »Generaciones de la Shoá« sind über das Internetportal erhältlich: ›www.generaciones-shoa.org.ar/espanol/index.htm‹, 12.08.2015. 129 Wang, 2007, S. 235, aus dem Span. von MLS. 130 Ebd., S. 231. 444

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schreibt Diana Wang, wenn sie die Erzählung einer Überlebenden des Folterlagers El Atlético bespricht, die Tochter jüdischer Flüchtlinge ist. Wang findet damit ein einprägsames Bild für die spürbare Parallele sozialverursachter Verfolgung zwischen der Shoah und der argentinischen Staatsrepression. »I was never picked up […]. But I lost a lot of friends. Everyone did«131, antwortete Manuela Fingueret ihrerseits auf die ihr wiederholt gestellte Frage, ob sie selbst Opfer der Repression gewesen sei, und zur Bedeutung der Widmung und der Angabe, »unsere Generation, Überlebende der argentinischen Militärdiktatur«, die den Eindruck erweckt, Fingueret selbst sei in die Folterlager verschleppt worden, was nicht der Fall ist. Während die Welt der Elterngeneration über die Figur Tínkele in der dritten Person rekonstruiert wird, legitimiert ein »wir« des Mitgefühls und der Betroffenheit Manuela Fingueret mit ihrer Figur Rita dazu, sich in die Lage der verschleppten Montonera aus dem Viertel Chacarita zu versetzen und dabei mögliche vertraute Welten einer denkbaren gemeinsamen Jugend im Buenos Aires der 60er Jahre aus der Ich-Perspektive aufzurufen. So verdichten sich entlang des Romans zwei Erzählstränge: In ihrer Zelle in der ESMA, in einer karg beschriebenen Umgebung vor dem Hintergrund von Folter und Gewalt an ihrer Person, blickt Rita in einsamer Einkehr auf ihr Leben vor der Verschleppung zurück. Die Gedächtnisübung ist hier ein Akt des Lebens, eine Praxis des Überlebenwollens, des Widerstands gegen den Tod. Die Handlung in der Erzählgegenwart der ESMA dynamisiert sich im letzten Romandrittel: Ab Kapitel XXX werden eine Reihe von Ereignissen geschildert, die in Ritas letzten Lebenstagen vor ihrer »Verlegung« stattfinden und ihr tragisches Ende in Kapitel XLII ankündigen. Während Rita sich eine familiär-politisch-literarische Frauengenealogie ins Gedächtnis ruft, lässt Fingueret wie Postkarten aus jener Zeit Lektüren, Figuren und Orte, die für die setentistas prägend waren, Revue passieren. Damit verschafft sie der impliziten Leserschaft einen Zugang zu der vergangenen Welt jener revolutionären Jugend – und auch zu den damals gültigen Stereotypen und üblichen Identifizierungen. Parallel dazu erzählt Hija del silencio einen Teil der Lebensgeschichte von Ritas Mutter Tínkele, die in Argentinien den Beinamen Negrita annimmt, gezeichnet als ein ruheloser Bogen des Überlebenskampfes zwischen dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht in Minsk im Jahr 1941 und der Geburt der Tochter im November 1948 in Buenos Aires. In dieser Zeit verliert die erst heranwachsende Tínkele ihre ganze Familie und – bis auf ihre Freundin Leie – mit dem Abtransport aus Minsk auch alle Freunde und Bekannten; sie erleidet die 131 Domini, 2012, o. S. 445

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extremen Umstände des Konzentrationslagers Theresienstadt und des Vernichtungslagers Auschwitz, bevor sie im August 1946 im Aufnahmelager für Einwanderer »Hotel de Inmigrantes« in Buenos Aires lebend auftaucht. Der narrative Strang mit Tínkele als Hauptfigur wird typographisch kursiv hervorgehoben und aus heterodiegetischer Perspektive fokussiert: Er endet mit der Geburt der Tochter Rita, im vorletzten Kapitel des Buches, nachdem Tínkele in Buenos Aires Fuß gefasst und Pinie, einen stillen Mann aus der Gegend von Mézeritch (Meseritz/Międzyrzecz, Ukraine), geheiratet hat. Der Name Rita, gewählt nach der in Argentinien heimischen Blume Santa Rita (Bougainvillea), evoziert eigentlich den jiddischen Namen Rivke der Großmutter väterlicherseits (76) – der »Großmutter voller Träume und Lebenslust« (199). Am Namen konstituiert sich eine »etablierte Filiation«132, eine auf Erbe und Zugehörigkeit gegründete Abstammung, die das Neugeborene an das Ende einer familiären Genealogie stellt als »eine Rita, so stark und so empfindsam wie ihre Großmutter, auf der langen Reise einer Familie, die in ihr ihre Fortsetzung finden kann« (199). Der Name Rivke taucht mit dem neugeborenen Kind im vorletzten Kapitel auf und wirkt als Sinnbild des hoffnungsgeladenen Wendepunkts einer familiären Kontinuität. Ein Kapitel später wendet sich das Blatt: Die in der ESMA gefangene Rita erhält die Auskunft, dass sie am kommenden Tag zur »Verlegung«, d.h. zum tödlichen Flug über den Río de la Plata, abgeholt wird. a. Welten in Welten I: Transgenerationelle Transmissionen hinter dem Stacheldraht Manuela Finguerets Roman stellt eine denkwürdige These auf: die des Vorhandenseins einer tragischen Kontinuität für Jüdischstämmige im Spannungsfeld der Untaten des Nationalsozialismus und der Verbrechen der argentinischen Militärjunta. Die traumatische Geschichte der Mutter beeinflusst in der Erzählung die Biographie der Tochter in einer fast bestimmenden Weise. Und so ergibt sich die Tragödie durch das Bestehen von ähnlich gearteten Kräften, damals die Nazis, 30 Jahre später die die subversivxs vernichtenden Streitkräfte Argentiniens. Die Erzählung steht unter dem Eindruck eines fatalistischen Kausalzusammenhangs, dessen Unentrinnbarkeit sich Rita bewusst ist: »Alle Schranken, die Tínkele durch ihr Schweigen aufbaute, verbanden sich zu einem Schicksal, das meine Reise unentrinnbar machte« (105). Das Nicht-Kommunizierte, das NichtErzählte, die blanke Fläche des inkommensurablen, spürbaren – aber nicht ausgesprochenen – Schmerzes der Mutter ist der Motor für die wesentlichen Entscheidungen der Tochter. Das Schweigen als Strategie der ersten Generation der 132 Schützenberger, [1993] 2008, S. 114. 446

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Überlebenden, um das Hier und Jetzt zu bewältigen, kann als Spur betrachtet werden, der vielfältige Funktionen und Ursachen zugerechnet werden, wie z.B. die Gewissheit der fehlenden Nachvollziehbarkeit der eigenen Narration für Nichtbetroffene, die Verhaltenheit angesichts des fehlenden empathischen sozialen Gehörs, die Inadäquatheit der Erinnerung, die sich durch die zeitliche und territoriale Verschiebung ergibt, d.h. durch eine unpassende Erzählung in einem Land, in der die Mehrheit die grausame Vergangenheit weniger Zugewanderter lieber ignorieren will. Der Shoah-Überlebende Jack Fuchs, der zu Beginn des Buches als Repräsentant der Elterngeneration zitiert wird und mit seinem Wissen und seiner Erfahrung zur Situierung der Narration beiträgt, berichtete über den schwierigen Prozess, Worte und Gehör für seine Erinnerung zu finden. In einem Zeitungsbeitrag schrieb er: Das liegt lange zurück. Aber wenn die Tage kurz vor Pessach kommen, der traditionellen Feier des Exodus und der Freiheit, spüre ich wieder die Verpflichtung, das Bedürfnis mich zu erinnern und zu reden. Ich erinnere mich, dass »die freie Welt«, zwischen 1939 und 1945, gleichgültig war, dass sie »nichts wusste« von den Gräueln, denen der Totalitarismus unsere Körper aussetzte. Ich durchlebe erneut die Enttäuschung all derer, die wir dachten, dass die Niederlage der Nazis im Krieg eine Zeit der Freiheit, der Emanzipation und des Gleichgewichts einläuten würde. Ich durchstreife die Jahre, in denen ich nicht reden konnte, diese Zeit, in der mir das Zuhören und das Gehörtwerden nur mit anderen Überlebenden möglich war. Fast 40 Jahre, in denen ich mich schämte und nicht redete; aber dann redete ich, ich redete viel, ich sagte, was ich zu sagen hatte, ich bat um den bescheidenen und schwierigen Gefallen, verstanden zu werden, aber jetzt sehe ich wieder das bittere Verstehen des Schweigens kommen. Eine Parabel, ein Leben.133

Durch die aus Scham und Zurückhaltung entstandenen Lücken in der Narration der Elterngeneration wurde der Kindergeneration ein diffiziles Erbe hinterlassen. Nach der systemischen Analystin Anne Schützenberger begründen sich Familien in gegenseitigen Bindungen von Solidarität und Loyalität134, die noch vor der Geburt der Kinder geschlossen und explizit in Narrationen – oder implizit im Schweigen – der Familie weitergegeben werden: »Jeder von uns hat eine Familiengeschichte und jede Familie hat Geschichten, die sie erzählt, wiederholt, und wieder erzählt, eine mythische Geschichte, eine Sage, nebst 133 Fuchs, J., 2001, o. S., aus dem Span. von MLS. 134 Schützenberger, [1993] 2008, S. 51. 447

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Geheimnissen.«135 Ausgehend von dieser systemischen Perspektive interpretierte die zweite Generation aus dem Schweigen der Überlebenden eine Botschaft heraus, die komplexen transgenerationellen Pakten entsprechend als familiärer »Auftrag« angesehen wird. Bei den generationsübergreifenden Transmissionen kann es dann um Geheimnisse gehen, um das Nicht-Ausgesprochene, um die verborgenen und verschwiegenen Dinge innerhalb der Familien, die der nächsten Generation als Spuren und Introjekte übertragen werden.136 Im Lichte dieser psychologischen Interpretation erhalten die Lücken in der familiären Erzählung ein enormes Gewicht. Rita lädt sich so die Aufgabe auf, die Welt zu verbessern. Doch das Fundament, auf dem sie ihr revolutionäres Projekt baut, wackelt. Denn der »Auftrag« füllt eigentlich eine Lücke, die aufgrund der eigenen Kommunikationsbarrieren gegenüber der Mutter zwischen ihnen klafft. Ritas politische Radikalität wird so von Tínkeles Sprachlosigkeit geradezu entfacht: Wie sollte ich ihr sagen, was mir fehlte. Worte, die erklärten, was sie außer diesen Kisten, diesen zerknitterten Papieren, diesem gelben Stern, den ich zufällig fand, sonst noch verborgen hielt. Worte, die dem abgehackten Geflüstere Sinn gaben. Worte, die dem Lager, den Tätowierungen, der Auslöschung einen Namen und Inhalt gaben. Und vor allem Worte für ihren dunklen, nach innen gerichteten Blick. Diesen Blick von Hunderten, von Tausenden, die durch das anklagen, was er verschweigt. (140)137

Ritas Figur nährt die Idee, sie sei die Protagonistin eines anders gearteten Rachefeldzugs; sie hat sich das Mandat der Vergeltung für das an ihrem Familiengeschlecht begangene Unrecht zu eigen gemacht und übersetzt dieses in eine Form des Protestes und des Kampfes, die sich in den Umständen Argentiniens der 70er Jahre vergegenwärtigt. In ihrem Streben nach Gerechtigkeit schlägt sie sich auf die Seite der »Beleidigten und Verzweifelten« (105) und findet im Peronismus »der Leidenschaft, der Mystik, der Marginalität, des Protagonismus« (105) einen angemessenen Platz für ihr Rechtsempfinden. Sie definiert sich dann als »Jüdin und Peronistin./Peronistin und Jüdin./Frau, Jüdin und Peronistin./ Eine dreifache Provokation, um meinen Wetteinsatz zu erhöhen« (105) und benennt somit deutlich die Intersektionalität ihres eigenen Aussageortes. Sie ist »Protestlerin« (157). D.h. nicht die Absicht, einen Heilungsweg zu beschreiten oder im Sinne einer moralistischen Position zu handeln, bewegt sie, sondern 135 Ebd., S. 120. 136 Ebd., S. 136. 137 Aus dem Span. von MLS. 448

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eine schlichte und bedingungslose Haltung des Dagegenhaltens treibt sie an, eine Antwort auf Erfahrungen einer ihr übergeordneten Familienbiographie zu artikulieren, die sie in sich selbst aktualisiert sieht: »Von diesem Tag an tauchte ich in Fotos, Geschichten und Dokumente der Shoah ein, ich las sie gierig und sie weckten in mir den unbedingten Wunsch, für Gerechtigkeit zu kämpfen« (105). Anders als bei ihren Mitstreitern, den »Kumpeln«, ist die treibende Kraft für ihren Kampf nicht die Vision einer allesversprechenden Zukunft, sondern das Ausagieren verschlüsselter biographischer Enigmen der Vergangenheit: »Der Unterschied zwischen uns liegt darin, dass ich von den offenen Fragen einer Geschichte angetrieben werde, die ich aufrechterhalte, und sie von der Überzeugung, eine wunderbare Zukunft zu errichten« (162). Damit distanziert sich Rita von einer eschatologischen Adhäsion zu den revolutionären Zielen des Peronismus und definiert ihren persönlichen Kampf anhand von Koordinaten, die nur teilweise mit den Zielen der Montoneros übereinstimmen. Tínkeles Stärke und ihr unermesslicher Überlebenskampf während der Shoah, ihre »herausfordernde Attitüde« (74), ihre »Freude, als Mensch zu überleben« (123), die sie dazu gebracht haben, sich nicht aufzugeben, »weil aufgeben genau das wäre, was diese Mörder sich wünschen« (152), ihre Wut und ihr Stolz, überlebt zu haben – »Du hast überlebt, Tínkele!, wiederholt sie für sich. Überlebt hast du, Tínkele! Und stolz und wütend bedeckt sie ihren Kopf.« (184) –, sind für die Tochter Leerstelle und Kern der mütterlichen Unnahbarkeit; sie sind auch das leuchtende Beispiel des Widerstands, worauf Rita ihre persönliche Frauengenealogie und den eigenen Kampfgeist begründet. Die Sprachlosigkeit der Elterngeneration bestimmt so Ritas Platz auf der Seite von Peróns »Hemdenlosen«, der ihr genau das Schicksal absoluter Einsamkeit beschert, dem Tínkele und ihre Familie eigentlich im Zufluchtsland endlich entrinnen sollten. »Detrás del alambrado« [Hinter dem Stacheldraht] wird durch die Staatsrepression zum doppelten Aussageort, zum Szenarium beider Generationen, zum »Auschwitz in Buenos Aires« (189). b. »Ich bin die Tochter deines Schweigens. Worin, Tínkele, unterscheide ich mich von dir?«: Frauengenealogien und -stereotype Ritas familiär-ethnische Zugehörigkeit wird in der Erzählung nicht als Grund für Diskriminierungen oder gar als Anlass für ihre Inhaftierung ausgemacht. Sie liefert eher eine kulturell-historische Erklärung für Ritas Identifikationen und Verhalten. In einer für die Zeit bezeichnenden Mischung entspricht Ritas Profil teilweise dem Bild einer links-intellektuellen Feministin, aber paradoxerweise auch den üblichen Stereotypen des offiziellen Diskurses der Diktatur 449

Erinnerung und Intersektionalität

in Bezug auf Guerillafrauen. Sie ist auf jeden Fall eine »Frau, aber anders«, eine transgressionsbereite Frauenpersönlichkeit, die sich über festgelegte Rollengrenzen hinauswagt und eine alternative Frauenbiographie riskiert. Es sind die Überschreitungen der Figur, die indirekt auf bestehende Grenzen hinweisen. Für Ritas Erzählstrang nutzt der Roman rückblickende Dramatisierungen und Bewusstseinsberichte. In der Erzählgegenwart stehen neben Ritas innerem Monolog die Handlungen im Folterlager selbst für die Situation extremer Diskriminierung, in der sich die Protagonistin befindet. Die folgenden Aussagen stellen bildlich dar, wie intersektionelle Ausgrenzungen und ihre engmaschige Verstrickung unlösbar miteinander verbunden wirken: »Die Schreie ›jüdische Hurentochter‹ und ›Scheißperonistin‹ werden zu einem Gemenge, mit dem sie versuchen, das, was ich bin, in Stücken aus mir zu reißen« (106); »Jüdin und Peronistin!, brüllen sie, während sie mich schütteln und bedrängen« (107). Etwas überzeichnet schematisch und vielleicht unbeabsichtigt diskurskonform erscheinen allerdings die Stereotype, die Rita als Guerillakämpferin ausmachen. Eigenschaften wie Härte und Entschlossenheit – sie ist »ein knallhartes Weibsbild« (87) – charakterisieren sie ebenso wie eine konträre Haltung zu tradierten weiblichen Rollen bzw. »essentiell weiblichen« Verhaltensweisen. Ihr Engagement ist radikal und forsch, autoritär: »Ich bin in allem militant: in der Politik, in meinen literarischen Überzeugungen, im Atheismus, in der Beziehung mit den Anderen, in sexuellen Dingen. […] Militant wie ein Militär. Mit derselben Berufung, zu gehorchen und zu befehlen« (48). Rita wird als Mannweib gezeichnet, das seit Kindertagen seine unangepasste Geschlechtspositionierung zum Ausdruck bringt. Das »typisch weibliche« Verhalten anderer Mädchen war ihr schon als Kind verhasst und wurde früh als Plumpheit, Schwäche und Dummheit abgetan, doch das ganze »Mannweib-Gebaren« relativiert sich in der Rückblende aus der Zelle in der ESMA: Seit meiner Kindheit ließen sie mich wegen meiner Geschicklichkeit an Jungenspielen teilnehmen, was mich entzückte und mir dabei half, diese Stärke aufzubauen, die ich präsentiere. Lieber Tischlern als Nähen, lieber Drachensteigen als Sticken, lieber Violine als Klavier. Puppen und Puppenhäuser und so etwas fand ich blöd, aber heute bedaure ich, dass ich das nicht hatte. (90)138

Rita entspricht als politischer Kader dem Vorbild der Strenge und Selbstaufopferung, das vom sog. Ethos der Siebziger suggeriert wird, sie ist eine »typische 138 Aus dem Span. von MLS. 450

Teil IV – Eine von Frauen geschriebene Literatur der desapariciones forzadas

fleißige Aktivistin […], sie studiert, arbeitet, liebt und engagiert sich mit derselben Überzeugung« (157). Dieses Bild totaler Stärke und purer Härte zerbricht, wenn Rita in Kapitel XXXIV in Tränen ausbricht: »Ich bin des Weinens müde. Zum ersten Mal in Jahren« (175). Der Figurentwicklung wird durch die stetige Zunahme von Unsicherheiten und das vermehrte Aufkommen von rhetorischen Fragen, die dieses Zerbröseln der Verhärtungen belegen, auch sprachlich-formell Rechnung getragen. Die Auflösung der Härte korreliert jedoch mit einer nicht unproblematischen Perspektivierung, die Ritas Zelle in der ESMA zum Ort der Läuterung macht: »Ich habe die bittere Gewissheit, Rita durch diese Gefangenschaft entdeckt zu haben. […] Hier lerne ich, mich ungeschönt zu sehen« (139). Sie bezeugt eine ambivalente Perspektive gegenüber der verschleppten Protagonistin, die weder heroisiert noch verdammt wird und der angesichts ihrer verzweifelten Lage eine Entwicklung zugestanden wird. Anfangs sind Rita und die Täter Teil der gleichen Geschichte: Eine Kaste von Mördern. Die Nazis vergasten, hungerten aus, demütigten. Hier beschimpfen sie, foltern, vergewaltigen. Mörderkaste. Ich höre ihnen zu, wie sie lachen, spielen, trinken … Bin ich dort oder hier? Der beißende Geruch ist zu einem Teil dieses Orts geworden, er klebt mir am Körper wie ein Fluch, wie ein gelber Stern. Sie brauchen den Alkohol, um den Okzident vor Frauen wie mir zu schützen. Eine Kaste von Mördern, die voller Rage zerquetschen und zermalmen. Ich höre ihnen zu und ich höre mir zu. (65)139

Gegen Ende der Erzählung geht Rita summarisch mit sich um: Wenn ich das »Arbet macht frai« nicht befolgte, das Tínkele nachts in ihren Alpträumen rief, dann weil die Nahtstelle mit der Vergangenheit mich ungemildert mit ihr verbindet. Gewalt ist das einzig mögliche Gebiet, das ich fand, um den Auftrag auszuführen. Einsam auf diesen Fliesen kauernd, wenn außerhalb nur Nacht und Stille ist – weil schon lange alles Stille ist, verdächtige Stille –, kann ich mich erst seit kurzem der nähern, vor der ich die ganze Zeit davongelaufen bin, dem Mädchen aus dem Viertel, das ich wegsperren wollte. Mit diesem muffigen Besen, der Tínkeles verwaschenen Kittel begleitet. (172)140

139 Aus dem Span. von MLS. 140 Aus dem Span. von MLS. 451

Erinnerung und Intersektionalität

Und in Kapitel XL, dem letzten inneren Monolog, hat sie ihre Rüstung definitiv abgelegt: Seit einer Weile arbeite ich nicht mehr als Aktivistin, sondern handele als Überlebende. Die Kapuze zwang mich lange, nur in mein Inneres zu schauen, in die Tiefe einer Geschichte, die ich neu lernte, nicht durch Kameradinnen und Kameraden, für die die Welt eine Hausaufgabe ist. Hier weiß ich inzwischen Dinge zu schätzen, die mir in einer anderen Zeit unbedeutend vorkamen: Essen, Schlafen, Arbeiten, Singen. (197)141

Rita wird so von einer schematisch denkenden Guerillera zum zweifelnden Menschen und dadurch wird die Figur innerhalb des Diskurses der »Verengelung« situiert, eines Diskurses, der für das Erinnern an die Desaparecidxs in den 90er Jahren noch üblich war und den dezisiven Moment des bloßen Lebens markiert und damit alle Möglichkeiten des Lebens kennzeichnet. Ritas Verhältnis zu Waffen wird kritisch beleuchtet, denn die Macht zu haben, von Waffen Gebrauch zu machen, wird als Lusthandlung formuliert, als »Wollust, die es uns bereitete, zu fangen, einzuteilen und zu entdecken, dass der Tod mit einem Schlag in unserer Reichweite war« (64). Der Guerillakämpferin wird mit dem Nomen »Wollust« eine sinnliche Emotionalität, ja eine Geilheit auf Waffengewalt in den Mund gelegt. Die Entscheidung für den bewaffneten Kampf ist auch Teil eines Verwüstungszugs gegen sich selbst – »die Verwüstung, der ich mich unterzog« (64) – und gehört zu den bewussten Schritten Ritas, die sie auf einer Interpretation von Tínkeles Schweigen begründet: »Ich zog den Mut und die Solidarität mit den Anderen und mit ihrer Stimme, Tínkeles Stimme, dem unmittelbaren Ruf meiner Eingeweide vor« (99). Die Möglichkeit, sich für andere Formen der Rebellion und für eine alternative Frauenbiographie zu entscheiden, vermittelt der Roman durch zwei Antagonistinnen, Haydée und Elena. Während Haydée als Kontrastfigur das lustvolle Weib und seine machtbewusste korrodierende Wirkung auf die Männerwelt inkarniert, ist Rita »die Kehrseite dieser Haydée ›Genuss pur‹« (30); Elena erfüllt sich ihren Wunsch nach Emanzipation in einer anders gezeichneten Revolution, der Entdeckung der Lust: »Das ist meine Revolution, die Anarcho-Sensualität« (99). Diese auf andere Art rebellischen Frauen, die sich durch ein nichtkonformes Sexualverhalten auszeichnen, zeigen eine Alternative zu Ritas Entscheidung auf. Ritas Sexualität scheint ebenso diszipliniert und ihrem politischen Engagement angepasst zu sein wie die gesamte Ordnung und Strukturierung, die in ihrem Leben herrschen. In ihrem Liebes141 Aus dem Span. von MLS. 452

Teil IV – Eine von Frauen geschriebene Literatur der desapariciones forzadas

leben überschreitet sie jedoch eine soziale und religiöse Grenze und führt mit Ernesto, einem »Kumpel«, einem einfachen Arbeiter und erfahrenen politischen Kader (47), eine Beziehung im Zeichen der sozialen Revolution: »Mit der Zeit wurde daraus Brüderlichkeit, angespannte Körper und vor allem Solidarität. Liebe zwischen Aktivisten, das heißt Einheit, Umarmung, Schutz« (133). Die Beziehung zwischen Rita und Ernesto steht für die gesellschaftliche Öffnung der 70er Jahre und die Schichtenpermeabilität der argentinischen Gesellschaft. So führt Rita Ernesto in die europäisch-betonten Lektüren des argentinischen Bildungsbürgertums ein (135), während Ernesto Rita das gemütliche Leben des Stadtviertels und den Genuss der Populärmusik, des guten Tangos und des Jazz, zeigt (136). Diese Durchlässigkeit sozialer Grenzen wird auch anhand der religiösen Selbstverständnisse Ritas illustriert. Im katholischen Argentinien war Ritas religiöse Identität seit Kindertagen eine Identität »auf der Grenze«, die, dem Druck der Assimilierung ausgesetzt, das jüdische Selbstverständnis der Familie für deren Empfinden mit schmerzlichen Transgressionen gefährdete: Im Laufe der Jahre versuchte ich sie davon zu überzeugen, dass es doch gut wäre, alles zu feiern, was uns in beiden Religionen gefiel, aber jeder Versuch endete damit, dass sie sich aufregten. In einem Land von Katholiken zu leben ist eine Sache – sagte mein Vater –, ihre Sitten und Gebräuche zu übernehmen eine andere. Du wirst zu einer Schickse, zu einer Christin, durch deine sogenannten Freunde, die dir alle möglichen Ideen in den Kopf setzen – ereiferte sich meine Mutter. (164)142

Nicht nur die Wahl eines Freundes außerhalb der Grenzen der jüdischen Glaubensgemeinschaft gehört zu den Überschreitungen der Figur. Der Peronismus als politische Heimat war für eine jüdische Frau eine erklärungsbedürftige Entscheidung, hatte der Peronismus doch seine faschistische Seite nie geleugnet, waren die antisemitischen Vorfälle während der zweiten Regierung Peróns kein Geheimnis. Die Begegnung mit Manolo zeigt, wie dieses Element trotz revolutionärer Kameradschaft von Rita wahrgenommen wird: »›Die einzige nützliche Schrift ist die revolutionäre‹, sagte Manolo immer. Sein Schematismus vermag nicht darüber hinwegzutäuschen, dass er im Grunde ein Faschist ist« (197). Ritas Adhäsion zum Peronismus resultiert aus einer Analyse, der ihre Mitstreiter einen feministischen Charakter attribuieren: »›Typisch für eine feministische Intellektuelle‹, sagten einige Kumpel zu mir. Für sie war ›feministisch‹ eine genauso heftige Beleidigung wie ›Antiperonist‹« (134). Denn Rita interessiert 142 Aus dem Span. von MLS. 453

Erinnerung und Intersektionalität

am Peronismus nicht der vielzitierte »dritte Weg«, sondern seine Antwort auf den »Nazi-Kapitalismus in Argentinien« (134), die sie dadurch gegeben sieht, dass der Peronismus einer die Peripherie ausgrenzenden Welt, »die gnadenlos diejenigen verurteilt, die an den Grenzen zirkulieren« (134), eine ehrenhafte Haltung des Widerstands entgegensetzte. Im Zeichen des Feminismus und im Sinne einer Frauengenealogie ist Ritas persönliches politisches Projekt fundiert, »um den Traum von einer anderen [möglichen] Frau zu nähren« (157). So erscheinen in der Erzählung eine Reihe emblematischer Frauennamen, die in der eigenen Biographie verwurzelt bzw. in der Lektüre ihrer Werke verankert sind. Für Ritas Beziehung zu ihrem Geburtsland steht im Werk omnipräsent Evita Perón als Gallionsfigur ihrer persönlichen Revolution (»sie lebte in mir mit der Heftigkeit einer Frau wieder auf, die man daran gehindert hatte, ihr Schicksal zu verwirklichen«, 17; »meine Beziehung zu Eva ist emblematisch, sie ist Teil eines Paradieses, das ich mir im Schatten meiner Frauen, im Schatten dieses Stammbaumes von Weibern und Wurzeln erschaffen habe«, 131; »die Nähe zu Evita, die mich, wie die anderen Frauen in meinem Leben, an der Hand zu den Gebieten führte, die sie schon immer pflegten«, 135); Evitas Tod taucht im Text rekurrierend auf und ist eine Referenz für das sich nähernde eigene Ende (»Es darf noch nicht 20:25 Uhr sein. Und auch noch nicht Zeit für mich, unsterblich zu werden«143, 9; »ich kann die Welt nicht verändern, aber ich schließe mich Eva an, als sie in einem Winter wie diesem um 20:25 Uhr fortging«, 189). Eine weitere Frauenpersönlichkeit der argentinischen Geschichte, die zur Bildung einer rebellischen Genealogie beiträgt, ist die Konventionen aufbrechende Camila O’Gorman144; für Ritas familiäre Abstammung stehen Rivke (die re143 »A las 20.25 la señora entró en la inmortalidad« [Um 20:25 Uhr wurde die Señora unsterblich] war der Satz, mit dem die abendlichen Rundfunknachrichten nach dem Tod von Eva Duarte de Perón am 26. Juli 1952 begannen, und zwar just um 20:25 h. Evitas Beliebtheit wird durch die Tatsache belegt, dass nach ihrem Tod Tausende an ihrem aufgebahrten Leichnam defilierten und Abschied nahmen, so dass sie erst am 10.08. beerdigt werden konnte. Wer während der ersten und zweiten Regierung Perón aufwuchs, kam sehr früh mit der politischen Propaganda des Peronismus in Verbindung. Der Evitakult färbte sogar die Schulbücher der Grundschule, so dass schon Erstklässler z.B. lernten: »Mutti und Vati lieben mich. Perón und Evita lieben uns.« Die Autobiographie La razón de mi vida wurde nach Evitas Tod Pflichtlektüre in allen Ausbildungsstätten. 144 Die aus einer wohlhabenden Familie stammende Camila O’Gorman (1825-48), beste Freundin der Tochter des langjährigen Gouverneurs von Buenos Aires (182952), Juan Manuel de Rosas, brannte nach mehrjähriger versteckter Liebe 1847 mit 454

Teil IV – Eine von Frauen geschriebene Literatur der desapariciones forzadas

volutionsbegeisterte Großmutter väterlicherseits), Jasia (die kluge Großmutter mütterlicherseits: »Die Augen meiner Großmutter Jasia, transparent, forschend, zeigen mir den Weg«, 129), Leie (Tínkeles Freundin, die die Abwesenheit der Schmetterlinge in den KZs bemerkt hatte, 149) und Tínkele selbst. Für eine literarisch begründete Identifizierungslinie werden ganz unterschiedliche Lektüren von Autorinnen wie Corín Tellado, Simone de Beauvoir, Erica Jong, Silvia Plath (47), Violette Leduc und Sor Juana (157) angeführt. Sie fügen sich zu einer aufsässigen Kraft, die sich an der rebellisch konstruierten legendären Evita orientiert. Die familiäre Genealogie verwächst dann mit dieser emanzipatorischen Evita-Figur zum fatalistischen Schlüssel der Erzählung: »Meine Mutter, meine Großmutter und ich: Rebellion, Überzeugung. Schicksal? […] Was haben sie mit Evita gemeinsam? Was habe ich mit Evita gemeinsam? Stolz, Hingabe, Mut. Schicksal?« (139) und »Was mache ich eigentlich? Frau unter Frauen für die Revolution. Rivkas, Tínkeles, Jasias Revolution. Evitas Revolution, die zurückkehren und Millionen sein wird. Wir Frauen, ihre Millionen. Werden wir zurückkehren?« (65). In diesem Anspruch, Teil einer revolutionären Frauengenealogie zu sein, »dieser Frauen-Parade, die mich begleitet« (201), schweben jedoch das absehbare tragische Ende der Erzählung und die faktische Niederlage dieses Frauengeschlechts mit. c. Welten in Welten II: Die Geschichte wiederholt sich (nicht) 15 der 42 Kapitel von Hija del silencio sind mit der biographischen Rekonstruktion von Tínkeles Weg von Minsk nach Buenos Aires befasst und wirken passagenweise wie eine Collage fremder Erinnerungen. Sie weisen einige bemerkenswerte Inkonsistenzen auf, die für die Lückenhaftigkeit der Erinnerung sprechen und den chimärischen Charakter der Rekonstruktion entlarven sowie die Sinnverschiebungen bloßlegen, die transkriptive Bezugnahmen auf Vergangenes mit sich bringen. So ist zum Beispiel Tínkeles Deportation von Minsk nach Terezín (Theresienstadt) im Mai 1942 sehr unwahrscheinlich und nur theoretisch denkbar, denn vor den Toren von Minsk, nur zwölf Kilometer südöstlich, wurde ausgerechnet im Mai 1942 das Vernichtungslager Maly Trostinez von der deutschen Sicherheitspolizei eröffnet, in dem bis 1944 rund 60.000 Menschen dem Jesuitenpater Ladislao Gutiérrez durch. Die Liebesflüchtlinge wurden ein Jahr später entdeckt und hingerichtet. Da Camila bei ihrer Hinrichtung im achten Monat schwanger war, kam es zu einem politischen Skandal mit päpstlicher Intervention, der letztlich zu Rosas’ Ablösung führte. Zum hohen Bekanntheitsgrad dieser tragischen Liebesgeschichte haben die Verfilmungen aus den Jahren 1910 und 1984 wesentlich beigetragen. 455

Erinnerung und Intersektionalität

ermordet wurden. Abtransporte nach Theresienstadt waren deshalb äußerst selten und wären – anders als in Hija del silencio geschildert – wohl kaum im Mai 1942 erfolgt, wie Christian Gerlach, ein Experte für die deutsche Vernichtungspolitik in Weißrussland Anfang der 40er Jahre, auf Anfrage erklärte: Tatsächlich wurde im Mai 1942 Karl Loewenstein auf Grund einer Intervention des Generalkommissars für Weißruthenien [Weißrussland] Wilhelm Kube beim RSHA von Minsk nach Theresienstadt überführt, da er gegen die Deportationsbestimmungen nach Minsk deportiert worden war (als Ordensträger aus dem Ersten Weltkrieg), und zwar auf der Rückfahrt eines Zuges, mit dem Juden aus Wien zur Ermordung nach Maly Trostinez gefahren worden waren.145 Das ist allerdings der einzige mir bekannte Fall. Von weiteren Passagieren in diesem Zug ist mir nichts bekannt. Sie hätten dann aber wohl einen Sonderstatus besitzen müssen (z.B. Mischehepartner/in usw.). […] Routinerückdeportationen nach Theresienstadt [wie bei Tínkele] hat es wohl nicht gegeben.146

Auch Tínkeles Ankunft per Schiff in Buenos Aires ist unwahrscheinlich. »Diese Tínkele, die sich für immer versteckte, als sie von Bord ging« (65), hätte im Jahr 1946 keine Einreisegenehmigung für Argentinien erhalten und wäre nicht in das Aufnahmelager in Buenos Aires gekommen. Denn im Juli 1938, während in Évian-les-Bains die Vertreter von 20 Ländern über ein Anreiseziel für die deutschen und österreichischen Asylsuchenden berieten, hatte das Außenministerium Argentiniens allen Konsulaten ein geheimes Rundschreiben – die »Circular 11«147 – zugestellt und damit ein Einreiseverbot für die Verfolgten 145 Gerlach, [1999] 2000, S. 755. 146 Persönliche Korrespondenz vom 14.03.2013. 147 Uki Goñi berichtet, dass der größte Teil der Dokumentation über ODESSA (die Organisation der ehemaligen SS-Angehörigen, die die geordnete Übersiedlung der Nazikader über die Schweiz, Italien, den Vatikan, die Niederlande und Belgien auf Einladung von Präsident Perón nach Argentinien ermöglichte) bereits 1955, wenige Tage vor Peróns Sturz, und 1996, unter der Regierung Menem, absichtlich vernichtet wurde (2002, S. 23). Goñi unterstreicht, dass er – neben den eigenen biographischen Gründen (sein Großvater war Konsul in Bolivien, als das Visaverbot erteilt wurde) − vor dem Hintergrund der Menschenrechtsverbrechen der argentinischen Diktatur mit seiner Forschung eigentlich auf der Suche nach einem Beweis für den unmittelbaren Einfluss der eingewanderten deutschen und 456

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der Naziregierung verhängt, gefolgt von einer Reihe von einschränkenden Beschlüssen, die sofort in Kraft traten.148 Dieses Dokument, dessen Gültigkeit erst am 08.06.2005149 feierlich aufgehoben wurde, hatte es für jüdische Flüchtlinge fast 70 Jahre lang unmöglich gemacht, auf legale Weise nach Argentinien einzureisen, und während des Zweiten Weltkrieges dem argentinischen Diplomatenkorps entsprechend zum lukrativen Visageschäft verholfen.150 Die Situation verschlechterte sich während der Shoah zusehends, als die GOU-Generäle mit dem Militärputsch des Jahres 1943 den enthusiastischen Antisemiten und überzeugten Anhänger nationalsozialistischer Biopolitik, Santiago Peralta, zum Direktor des Migrationsministeriums ernannten, bevor er am 04.06.1946 durch den frisch zum Präsidenten gewählten Perón in seinem Amt bestätigt wurde.151 Erst ein Jahr später schenkte Perón den Protesten Gehör und gab seinen Minister auf. Doch bis zu diesen Zeitpunkt hatte Peralta bereits viele Menschen zurück nach Europa geschickt und lediglich am 14.02.1947, nach der Intervention des Präsidenten, eine einzige Ausnahme gemacht und 47 Überlebende an Bord des Dampfers Campana nach Argentinien einreisen lassen. Dank der Zahlung horrender Bestechungssummen für ein Visum oder getarnt durch die Lüge, katholisch zu sein,152 haben auf illegalen Wegen zwischen 1933 und 1945 dennoch etwa 20.000 bis 30.000 jüdische Flüchtlinge Zuflucht in Argentinien gefunden.153 Eine weitere Diskrepanz hat sich eingeschlichen. Ein Stück weit nachvollziehbar, aber auch bezeichnend für diese Schrift einer »Hija« der zweiten Gene-

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österreichischen Nazi-Kriegsverbrecher auf die argentinischen Streitkräfte war, als er feststellen musste, dass das militärische Regime Argentiniens bereits vor dem Krieg Nazideutschland sehr nahestand (Ebd., S. 372). Katholische Kollaborateure aus Frankreich, Belgien und Kroatien, einige von ihnen ebenfalls Kriegsverbrecher, waren bereits nach Argentinien eingereist, als auf Bitte des Kardinals Santiago Copello und mit dem Einverständnis Peróns mindestens 300 Verbrecher, unter ihnen Klaus Barbie, Adolf Eichmann, Josef Mengele und Erich Priebke, einreisten (Ebd., S. 403). Goñi, 2002, S. 62f. S. hierzu den argentinischen Pressespiegel vom 09.06.2005, z.B. K iernan, 2005. Goñi, 2002, S. 66f. Ebd., S. 74f. Diana Wang, die trotz Einreiseverbot mit ihren Eltern und zwei weiteren Passagieren an Bord eines Frachtdampfers am 04.07.1947 in Argentinien eingereist ist, hat 2005 ihre Eintragung als Katholikin im Einreisebuch des Migrationsministeriums korrigieren lassen (Wang, 2007, S. 244). Wang, 2007, S. 78. 457

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ration ist die Transkription des zynischen Diktums über den Eingangstoren der Nazi-KZs ins argentinische Jiddische. So schreibt Fingueret in Hija del silencio wiederholt »Arbet macht frai« (vgl. z.B. 73, 164, 169, 172, 201), eine Inkonsistenz, die mit dem Konzept des writing back analysiert werden kann, denn sie lässt sich als eine (wahrscheinlich unbewusste) Anwendung der Strategie der Vereinnahmung (appropriation) der Sprache deuten. Der Erzählstrang mit Tínkele als Hauptfigur erkundet trotz dieser Inkonsistenzen nicht nur eine mögliche Biographie einer Überlebenden, sondern auch das wahrscheinliche Universum, das mit dem Tod ihrer Tochter verloren ging. Tínkeles tragisches Schicksal schien für sie selbst, die russisch-jüdische Migrantin im sicheren Argentinien, der Vergangenheit anzugehören. Und der Leser wagt nicht, an Tínkeles Empfinden zu denken, als ihre Befürchtungen angesichts Ritas Entscheidungen im Verschwindenlassen der Tochter zur imaginierten Realität der Shoah-Überlebenden werden: »Die Geschichte wiederholt sich nicht«, sagten sie uns. Das lasen wir in Texten, das zitierten die Kameradinnen in jeder Konfliktsituation. Allerdings höre ich in diesen Worten das unterschwellige Drohen in der gebrochenen Stimme meiner Mutter, wenn sie mich, auf ihre Art, anflehte, mein politisches Engagement aufzugeben. (131)154

Tínkeles Überlebensinstinkt scheint wieder hervorzubrechen und die Oberhand zu gewinnen, doch ihre Erfahrung lässt sich nicht auf die Tochter übertragen, denn diese agiert angesichts der Bedrohung durch die repressiven Kräfte anders: Meine Mutter hat einen Verdacht und ist verzweifelt. Was ich tue, beschwört die Geister ihrer Folterung mit Macht herauf. Ich habe es ihr nie gesagt, und sie hätte es nie verstanden, dass ich wegen dieser Welkheit, die in ihr fortbesteht, die Welt verändern muss. Unsere Welt. Unser Land. Unseren Kontinent. (189)155

Tínkeles doppelt verankerte Ängste während der argentinischen Staatsrepression korrespondieren mit biographischen Angaben in nicht fiktiven Erzählungen. Die Wahrnehmung einer Vergegenwärtigung und Wiederholung des persönlichen Kapitels in einer gesellschaftlich verursachten Katastrophe in dem Land, in dem die Überlebenden jüdischer Familien Zuflucht vor der jahrhun154 Aus dem Span. von MLS. 155 Aus dem Span. von MLS. 458

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dertelangen Verfolgung gesucht und zu finden geglaubt haben, kann in Werken der Madres gelesen werden. So etwa in Matilde Mellibovskys Círculo de amor sobre la muerte oder in Eva Eisenstaedts Biographie über Schejne María (Sara) Laskier de Rus Zweimal Überleben. Von Auschwitz zu den Müttern der Plaza de Mayo. Die Geschichte der Sara Rus. Geboren 1927 und Überlebende von Lodz, Auschwitz und Mauthausen, gab Sara Rus in einem Interview 2010 preis, dass sie heute immer noch das tut, was sie ihr Leben lang bereits getan hat, nämlich gegen das Vergessen kämpfen. Das Erinnern ist ein Mit-Erinnern, ein doppeltes Gedächtnis: »Damit die deutschen Nazis und die von hier nie wieder die Kraft erlangen, die sie mal hatten.«156 Rus hat ein ähnliches Schicksal ereilt wie Tínkele, denn ihr Sohn Daniel – Atomphysiker und Doktorand der Argentinischen Kommission für Atomenergie – wurde 1976 entführt und ist heute noch desaparecido. Sie berichtete: Das Traurigste war, dass mit Daniels Verschwinden diese Leute, und sogar die Überlebenden, aufgrund der im Land herrschenden Angst begannen, sich von uns zu entfernen. Ein Mädchen, das ebenfalls entführt worden ist, die Schwester eines engen Freunds von Daniel, der verschwunden ist, hat uns erzählt, dass es im Folterraum Hakenkreuze gab. Sie hatten hier also einiges von den Nazis gelernt …157

Hatten die Überlebenden der Shoah ihre Hoffnung auf einen Neuanfang in Argentinien gesetzt, so erlebten sie mit der Staatsrepression und dem spurlosen Verschwinden ihrer Kinder eine schmerzliche persönlich-familiäre Niederlage. Die ritualisierte Form der Erinnerung an die Toten, das Kaddisch, musste am Río de la Plata einmal mehr ohne Grab gesprochen werden. Jack Fuchs beschreibt die Bedeutung, die dieses Gebet als Form der Erinnerung an die einfachen und konkreten Menschen, die sein Leben vor der Shoah bevölkerten, für ihn hat: Und trotz allem ist meine Erinnerung nicht leer: Meine Eltern sind da, meine Geschwister, meine Nachbarn und Freunde. Die Gesichter von einfachen und konkreten Menschen machen meine Erinnerung aus. Bald wird es keine lebenden Zeugen mehr geben; die Erinnerung wird auf Denkmäler und Museen beschränkt sein, sie wird das tatsächliche Vorhandensein verlieren, die Herberge der Erfahrung. In meiner Erinnerung sind die Namen und Gesichter der meinen. Aber was ist mit den anderen? Was kann ich über sie sagen, 156 Ginzberg, 2010, o. S. 157 Ebd., aus dem Span. von MLS. 459

Erinnerung und Intersektionalität von ihnen erinnern? Heute weiß ich, dass mir zwischen dem unbequemen Schweigen und der zwanghaften, weil leeren und rituellen Erinnerung, wo nichts meinen Wunsch, es hinauszurufen, in Ruhe lässt, das Beten bleibt. Das Kaddisch, das Gebet, das die Kinder für ihre toten Eltern sprechen, die Fürbitten der Waisen, die in der jüdischen Tradition in der Trauerzeit wiederholt werden.158

Die Geschichten zu erzählen von Kindern, Eltern und Großeltern in Minsk und Buenos Aires, von Nachbarn im Ghetto und im Viertel Chacarita, von leibhaften und literarischen Freunden ist der Versuch, den Hija del silencio als Schrift der Erinnerungsarbeit unternimmt. Sie erfüllt die Absicht, ein doppeltes Gedächtnis zu bewandern und zu bezeugen: die durch extreme soziale Gewalt erzeugte innere Welt zweier Frauen zweier Generationen. Dieses doppelte Gedächtnis entzieht sich jedoch der Übertragbarkeit, denn Tínkeles Schweigen bleibt für Rita inkommensurabel, so wie die Desaparecidxs, auch für Mitglieder der gleichen Generation, immer ein Rätsel bleiben werden, das nicht komplett entschlüsselt werden kann. Die Narration artikuliert ein »Mir zainen do«, die Devise der zweiten Generation der Überlebenden der Shoah, für die die Vernichtung der europäischen Juden etwas anderes als bloß ein Kapitel eines Geschichtsbuches ist159 und woraus sie ein Mandat für sich ableiten: Das Grauen gehört nicht nur zur Vergangenheit, es ist heute da, es ist hier, mit den Desaparecidos, den Terroranschlägen, der Armut, der Arbeitslosigkeit, der Ignoranz, der Ungerechtigkeit. Uns Gehör zu verschaffen, uns zusammenzutun, ist der Anfang einer möglichen Entgegnung auf die Brutalität, die uns sprachlos machte.160

Finguerets als Genealogie von Frauen aufgebaute Narration kann als literarischer Akt gegen das Verschweigen und das Vergessen gesehen werden. Sie mag zwar fiktiv, in der Darstellung geschichtlicher Ereignisse teilweise ungenau und in der Gestaltung der Figuren gar etwas schematisch sein. Die imaginierten Biographien von Frauen, die durch soziale Gewalt in eine Situation extremer Subalternität gebracht wurden, sind jedoch bezeichnend für einen Schlüsselaspekt der argentinischen Erinnerungsarbeit, nämlich das Mit-Erinnern der Shoah als Referenzereignis, das teilweise in einer sehr persönlichen Resonanz 158 Fuchs, J., 2001, o. S., aus dem Span. von MLS. 159 Wang, 2007, S. 233. 160 Ebd., aus dem Span. von MLS. 460

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mitschwingt. Der Roman verweilt in der Negativität der Ereignisse und lässt die ganze Traurigkeit ob des Verlusts des letzten Kindes eines immer wieder von Gewalt bedrohten und gesellschaftlich gezeichneten Familiengeschlechts hervortreten, ohne dabei die Protagonistinnen zu gefügigen Opfern herabzustilisieren − ganz im Gegenteil: Sie erleben zwar die Ohnmacht der Gewalt, aber sie sind gleichzeitig auch Frauen, die (über)leben wollen. Hija del silencio erzeugt Traurigkeit und Wut. Und darum findet sich das writing-back-Moment in den fiktiven Biographien dieser Erzählung sowohl in einer gegen die Zerstörung kämpfenden Tínkele als auch in einer sich gegen die soziale Ungerechtigkeit auflehnenden Rita. Damit wird auch an die (implizite) Leserschaft die Forderung herangetragen, Stellung zu diesen Biographien zu beziehen und Achtsamkeit dafür zu entwickeln, wie sich soziale Gewalt in der Gegenwart manifestiert – ganz im Sinne des hier anzunehmenden Anlasses der Erinnerungsarbeit.

3.2 María Teresa Andruettos La mujer en cuestión (2003) – Eine un/übersehbare Frau Die Aufschlagstelle eines Typenhebels einer mechanischen Schreibmaschine auf der Vorderseite und die Kommentare dreier (männlicher) renommierter Schriftsteller auf der Rückseite umhüllen die spanische Originalausgabe von La mujer en cuestión. Sie führen damit in ein Werk ein, das, in der Gattungsform des Berichtes verfasst, eine raffinierte Perspektive für Figurenaussagen findet, die das vielseitige Porträt einer Frau malen sollen: Eva Mondino Freiberg. Für die Qualität des Werkes bürgen Paratexte und unter ihnen die Worte von Andrés Rivera, der das Buch als Nachweis dafür sieht, dass María Teresa Andruetto zu den besten Erzählern des Landes zählt. Juan Martini wiederum bescheinigt dem Roman Außergewöhnlichkeit. Er bewertet die Entscheidung der Autorin für das Thema der Identität im Zusammenhang mit der letzten argentinischen Diktatur sowie für die Gattung Bericht als folgerichtig. Ähnlich äußert sich Martín Kohan zum Buch, der sein Gefallen, insbesondere an Andruettos Zugang zum Thema zum Ausdruck bringt, den er im Wesentlichen als Umgang mit einem Enigma beschreibt und als »makellos« bezeichnet. Eva Mondinos diegetische Präsenz wird ebenfalls bereits von den ersten Zeilen an taxiert und bewertet: Sie ist einen Meter fünfundsiebzig groß, was über dem Durchschnitt der argentinischen Frauen ihrer Zeit liegt. Derzeit wiegt sie achtzig Kilogramm, ungefähr fünf Kilogramm über ihrem Idealgewicht. Ihre Augen sind grün, nicht von dem Grün, das man sich gewöhnlich für Augen wünscht, sondern – nach Aussagen und Fotos zu urteilen – ein dunkles Grün, dessen Farbton 461

Erinnerung und Intersektionalität man – es sei erlaubt – mit gekochtem Mate vergleichen könnte. Doch selbst wenn es sich nicht um das optimale Grün handelt, scheinen ihre Augen doch wegen ihrer Farbe, ihrer Größe, ihres Glanzes und der Intensität des Blicks bemerkenswert zu sein; das behaupten jedenfalls mindestens fünf der befragten Personen… (9)161

Die Autorin und die Protagonistin stehen also noch vor bzw. gleich zu Beginn der Lektüre unter der Bewertungshoheit der Anderen. So beschäftigt das Buch seine Adressaten unmittelbar mit seinem Kernmotiv: den (Fremd-)Konstruktionen von Identität. Im Roman über Eva Mondino sind es die Rollenzuweisungen an diese ehemals verfolgte Frau, die das Augenmerk auf die persönliche Beteiligung der Zivilbevölkerung an den Verbrechen der Diktatur lenken sowie auf das nachhaltige Bestehen diskursiver Stereotype in der Postdiktatur, insbesondere hinsichtlich der Diskriminierung der Überlebenden. Das Überleben selbst macht sie notwendigerweise verdächtig, denn über ihnen hängt der Schatten des Verrats. Der ambivalente Titel La mujer en cuestión, über den die Leser augenzwinkernd einbezogen werden, verweist ebenfalls auf diese Konstellation: Er kann gleichzeitig als »die besagte Frau« oder »die Frau, die es betrifft« auf diesen speziellen Fall einer Überlebenden hindeuten und als »die Frau als solche in Frage gestellt« den Anspruch auf Gültigkeit der Erzählung für Frauen generell erheben. In dieser letzten Auslegung kann der Titel auf das paradigmatische Verhandeln von Geschlechterrollen hinweisen, die sich an der Figur der Desaparecida und Überlebenden amalgamieren. In der Erzählung tritt der Widerstreit unterschiedlicher Betrachtungsweisen von Außenstehenden bezüglich des Verhaltens einer Person bzw. ihrer Beweggründe deutlich zu Tage. Der Roman löst diesen Widerstreit jedoch nicht auf, sondern ist ein Plädoyer für die Opazität der Lebenswege der Verfolgten und den respektvollen Umgang mit ihnen. Édouard Glissants Aufruf für das Recht auf Opazität und »gegen die vielen Reduktionen, die den Blick auf die falsche Klarheit der universalen Modelle einschränken«162 schärft das Empfinden für ein wesentliches Merkmal dieses Textes: Der Roman stemmt sich gegen durchdringende Blicke und gegen die Vereinnahmung der Überlebenden Eva Mondino letztendlich auch durch die narrativen Adressaten. Zum fiktionalen Umfang des Berichts gehört eine Dokumentation mit 22 Kassetten, Fotokopien persönlicher Korrespondenz, Fotos und einer Liste inter161 Die Zitate aus María Teresa Andruettos Buch in diesem Kapitel sind der deutschen Übersetzung durch Susanna Mende Wer war Eva Mondino? entnommen. 162 Glissant, 1999, S. 24. 462

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viewter Personen. Der argentinischen Ausgabe von 2009 (2. Auflage) ist eine 25-seitige literaturwissenschaftliche Besprechung durch Dr. Pampa Arán (Universidad Nacional de Córdoba) und den Schriftsteller Pablo Dema angehängt. In deutscher Übersetzung ist Andruettos Roman 2010 mit dem Titel Wer war Eva Mondino?163 im Züricher Rotpunktverlag erschienen. María Teresa Andruetto, 1954 in Argentinien geboren, konnte bereits eine längere Publikationsliste164 vorweisen, als La mujer en cuestión 2003 im kleinen Verlag Alción Editora erschien. Aufgrund ihres politischen Engagements während des Studiums am Fachbereich Philosophie und Literatur der Universidad 163 Auch wenn der Titel »Wer war Eva Mondino?« im ersten Moment eine gute Wahl sein mag, vor allem wenn es darum geht, den enigmatischen Charakter der Hauptfigur hervorzuheben, so ist er beim genaueren Hinsehen nicht angemessen. Erstens erfährt der Leser des spanischen Originals Evas Namen erst im vierten Absatz der Erzählung, als Evas Präsenz längst den Raum der Erzählung füllt. Damit verzichtet die deutsche Fassung auf ein stilistisches Mittel, das durch die fehlende Angabe des Namens unter anderem den archetypischen Charakter der Figur, die auch noch den biblischen Namen Eva trägt, betont. Zweitens ist Eva Mondino, diegetisch gesehen, am Leben, während die Vergangenheitsform des deutschen Titels suggeriert, sie sei tot. Gleichzeitig wird dadurch die Tatsache verdeckt, dass die erklärte Funktion des Berichts darin besteht, herauszufinden, wie Eva in der Gegenwart ist. Und dieser Aspekt ist relevant, weil er im Zusammenhang mit dem Anlass der Erzählung und ihrem writing-back-Moment steht, gegen die heutige Diskriminierung der Überlebenden anzuschreiben. 164 María Teresa Andruettos aktuelle Publikationsliste umfasst neben La mujer en cuestión (Córdoba 2003, Buenos Aires 2009) die Romane Tama (Córdoba 2003), Lengua Madre (Buenos Aires 2010) und Los manchados (Buenos Aires 2015), die Novellen Stefano (Buenos Aires 2001), Veladuras (Buenos Aires 2005) und La niña, el corazón y la casa (Buenos Aires 2011), die Erzählung Todo movimiento es cacería (Buenos Aires 2012), die Gedichtbände Palabras al rescoldo (Córdoba 1993), Pavese (Córdoba 1998), Kodak (Córdoba 2001), Beatriz (Córdoba 2005), Pavese/Kodak (Buenos Aires 2008), Tendedero (Buenos Aires 2010) und Sueño Americano (Córdoba 2009). Als Kinder- und Jugendbuchautorin hat Andruetto unter anderem El anillo encantado (Buenos Aires 1993), Huellas en la arena (Buenos Aires 1998), Campeón (Buenos Aires 2000), La mujer vampiro (Buenos Aires 2001), Solgo (Buenos Aires 2004), El País de Juan (Madrid 2005), El árbol de lilas (Córdoba 2006), Trenes (Buenos Aires 2009), El incendio (Buenos Aires 2009), La durmiente (Buenos Aires 2010) und Miniaturas (San Isidro 2011) veröffentlicht. 463

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Nacional de Córdoba tauchte Andruetto auf der Flucht vor der Repression durch die Triple A schon 1975, im Vorfeld der Diktatur, unter und veröffentlichte erst 1992 nach jahrelanger Zurückgezogenheit mit Tama165 ihren ersten Roman. Damit begann eine fruchtbare Arbeit als Autorin, parallel zu ihrer Tätigkeit als Dozentin. Als inzwischen renommierte Autorin für Kinder- und Jugendliteratur gewann María Teresa Andruetto 2012 die höchste internationale Auszeichnung auf dem Gebiet, den Hans Christian Andersen Preis. Andruettos Erfahrung des inneren Exils wird für ihr gesamtes Werk eine Schlüsselrolle zugerechnet und insbesondere in Lengua Madre (2010) thematisiert. Wie die Autorin in einem Gespräch mit Corinne Pubill erklärte, misst sie selbst dieser Erfahrung substantielle Bedeutung für ihr Leben bei.166 In der Zeit zwischen Januar 1975 und Ende 1983 lebte María Teresa Andruetto, um die Spur ihres politischen Engagements zu verwischen, zuerst als Journalistin in Patagonien. Nach 1977, versteckt in einem kleinen Abstellraum einer Absteige für Durchreisende und Prostituierte, lebte sie mitten in Córdoba, wo sie dank der Solidarität der Gebrüder García (vgl. das Gedicht »Los hermanos García« in Sueño Americano) diese Zeit physisch unversehrt überstand. Das argentinische Spanisch hat für ihre damalige Lebenssituation ein Wort, das sie gerne benutzt und das in keinem Wörterbuch der Normsprache steht: »insilio«. Andruetto hat sich dazu in einem Interview geäußert: […] ebenfalls [wie im Falle des Exils] aufgrund der politischen Umstände ins Innere (des eigenen Selbst) gehen, um nicht gesehen zu werden. Dieser Versuch, »sich ins Innere des eigenen Selbst zu befehlen«, (sich) aus dem sozialen Gewebe zu verschwinden, um von den anderen nicht gesehen zu werden, um nicht aufzufallen, indem man die Anwesenheit des Ich im gesellschaftlichen Bereich bis zur Auflösung verringert, so wie es hochgefährliche Situationen erfordern.167

Mit dem »insilio« sind gleichzeitig eine missliche Lage und eine Überlebensstrategie gemeint, die nach Meinung Andruettos nicht zu einem gesellschaftlichen Zustand verallgemeinert werden sollten. Denn von der Situation des insilio betroffen waren ausschließlich Regimegegnerinnen und -gegner, also Personen, denen bewusst war, dass sie sich durch ihre oppositionelle Haltung zum Re165 Der Titel »Tama« des archetypisch wirkenden Romans, der in einer Mine im Norden Argentiniens spielt, ist ein Anagramm von »mata« [er/sie tötet]. 166 Pubill, 2009, S. 65. 167 Ebd., aus dem Span. von MLS. 464

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gime in Gefahr brachten, und die im Begriff waren, alles, was sie sich ideell, emotionell und finanziell erarbeitet hatten, zu verlieren. Aus Angst, Egoismus, Zweckmäßigkeit oder Einverständnis trug die Mehrheit der Bevölkerung zum Bestehen der Diktatur bei und wirkte subtil oder offen mit. Zum Themenkomplex des inneren Exils zählt für Andruetto deswegen, neben der Zurückgezogenheit und dem Eingeschlossensein, die Angst vor der Denunziation.168 Das weite Netz von Nebenfiguren, all die Personen, die neben dem Verfasser des Berichts mit ihren Darstellungen bei den narrativen Adressaten für Gewissheit darüber sorgen sollen, wer Eva Mondino tatsächlich war und ist, geben La mujer en cuestión einen polyphonischen, aber auch fragmentarischen Charakter, in dem die Meinung der Allgemeinheit zu einem epochalen Bild zusammengesetzt werden kann. Andruettos Gattungsentscheidung ist in diesem Zusammenhang insoweit bemerkenswert und symptomatisch, als sie damit eine deutliche Absicht der gefühlsmäßigen Zurückhaltung und der Unparteilichkeit suggeriert, die sich einer angeblichen Gefühlsduselei und Verklärung heroischer Zeiten (die der Generation der setentistas nachgesagt wird) entgegensetzt. Sie referiert auf den gesellschaftlichen Platz der Erzählungen der Überlebenden und auf ihre Etikettierungen als roh oder gar sensationslüstern. Nicht zuletzt einflussreiche Personen aus akademischen Kreisen (wie Beatriz Sarlo in Tiempo pasado) lasteten Testimonios und generell den Veröffentlichungen von Lebensgeschichten über die Zeit der Repression an, der Memoria, aber nicht der geschichtlichen Reflexion zu dienen. Damit stellten sie eine hierarchisierende Ordnung her, die die Leistung der oral history und ihre Spurensicherung relativierte. Auf die Notwendigkeit der Testimonios für die Bildung einer vielschichtigen und pluriperspektivischen Memoria – und für die gesellschaftliche Reintegration der Verfolgten − wurde im vorliegenden Buch mehrmals hingewiesen, ebenso auf die Schwierigkeit der Adressaten, sich für schmerzhafte Erzählungen zu öffnen und die menschliche (Be-)Rührung zuzulassen. Daher ist die Gattungsentscheidung mit ihrer scheinbaren Sachlichkeit ein gelungener strategischer Schachzug, um die menschliche Abwehr gegen Leid zu überlisten (sowie das Antizipieren zu überwinden, das bei großer Vertrautheit mit den Erzählungen eintreten kann) und damit alle sympathetischen Kanäle der Adressaten für die Hauptfigur zu öffnen. Darüber hinaus ordnet sich die Erzählung so in die Reihe detektivischer Narrationen und Kriminalromane ein, die charakteristisch für die Auseinandersetzung mit den Verbrechen der Diktatur sind, insbesondere mit der Frage nach dem Verbleib der Desaparecidxs und ihrer Kinder. 168 Ebd. 465

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Die innere Struktur des Buchs passt sich formell an die Gattungskonvention des Berichts an und gliedert sich in zehn nicht nummerierte Kapitel, die in unterschiedlich langen Abschnitten schwerpunktmäßig Aspekte des Lebens von Eva Mondino Freiberg behandeln. Die Hauptfigur und die Erzählabsicht werden unmittelbar zu Beginn präsentiert, dazwischen vernetzen sich die Perspektiven der Nebenfiguren zu einem vielseitigen, aber undurchsichtigen Bild Evas, das in einer Zusammenfassung im Schlusskapitel das letztliche Scheitern der ursprünglichen Erzählabsicht offensichtlich macht. Der Bericht wird von einem männlichen Verfasser zusammengestellt, der diese Aufgabe von einem den narrativen Rezipienten unbekannt bleibenden männlichen Auftraggeber aus dem Ausland erhalten hat: »Der Verfasser hält es für angebracht darauf hinzuweisen, da er nicht weiß, ob diese Ereignisse […] dem Auftraggeber dieses Berichts bekannt sind, und auch nicht, ob diese Informationen in seinem Land allgemein bekannt sind« (39). Mit diesem Hinweis, der Mandant sei aus dem Ausland, eröffnet sich intradiegetisch die Möglichkeit, alle Hinweise auf Ereignisse, die bei argentinischen Adressaten, zumindest ab einem gewissen Alter, als bekannt vorausgesetzt werden können, explizit zu machen. Mit dem Mandanten als impliziertem Leser sichert sich La mujer en cuestión eine gewisse Dokumentationsfähigkeit und erleichtert tatsächlich die Lesbarkeit und die Übersetzbarkeit des Textes. Nicht nur dass ansonsten eine ausländische Leserschaft durch Glossare oder Übersetzerhinweise in den Kontext eingeweiht werden müsste, auch dem jüngeren Publikum werden so atmosphärische Details präsentiert, was gleichzeitig dafür sorgt, dass das Buch nach Jahren noch gelesen werden kann. Beispiele hierfür sind u.a. die Erklärungen für die von den grupos de tareas oft benutzten Wagen der Marke Ford Modell Falcon (14), für die Verwendung von »Bolsche« bzw. »Kommunist« (38), für das Programm zum Raub und zur Identitätsverhüllung der Kinder von desaparecidos (83). Der Verfasser soll eine möglichst objektive Darstellung des materiellen und spirituellen Lebens Evas liefern, eine Version »so authentisch wie möglich […] und der Wahrheit so nah wie möglich […]. Denn das ist das Hauptproblem: herauszufinden, wer diese Frau war und wie sie in den verschiedenen Phasen ihres Lebens war« (27)169. Der Bericht soll dem Auftraggeber zudem Gewissheit über Evas Kind verschaffen, aus Gründen, die dem Verfasser verborgen bleiben 169 Wie bereits in der Anmerkung zum deutschen Titel Wer war Eva Mondino? erwähnt, soll der Bericht den Auftraggeber u.a. darüber informieren, wer Eva ist. Im spanischen Original heißt es an dieser Stelle: »saber quién es, quién fue y cómo fue esta mujer en diversas etapas de su vida« (Andruetto, [2003] 2009, S. 33). Der Gegenwartsbezug ist in der Übersetzung verloren gegangen, weil wer sie ist fehlt. 466

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(127f.). Die nicht chronologisch geordnete und deshalb verwirrende Rückblende, die sich mit Gegenwartsaussagen abwechselt, endet mit einer Darlegung von Evas aktueller Situation. Doch die Hauptfigur selbst ist ein Rätsel, das gelüftet werden soll, aber nicht begriffen werden kann. Verfasst mit der typischen Distanz, die diese als unparteiisch geltende Gattung charakterisiert, kommen unterschiedliche Personen aus Evas aktueller und vergangener naher Umgebung ungefiltert zu Wort. Sie zeichnen damit ein vielseitiges und fragmentarisches Bild der uneingeschränkt im Mittelpunkt der Erzählung stehenden Hauptfigur. Die schwangere Eva, 1952 als Tochter einer deutschen Jüdin aus Mainz und eines Katholiken italienischer Herkunft geboren, Psychopädagogin und vorübergehend als Lektorin bei einer Zeitung in Córdoba beschäftigt, wird am 25.10.1976 bei ihrer verzweifelten Suche nach Aldo Banegas ins Folterlager »Campo de La Ribera« verschleppt. Banegas, Evas politischer Mitstreiter bei den FAR, Anhänger von Ernesto Che Guevara und ihr Lebensgefährte, war nach Beendigung seines Medizinstudiums sechs Wochen vor dem Militärputsch zum Militärdienst eingezogen worden und galt seitdem als Desaparecido. Eva überlebt eine einjährige Gefangenschaft, während der sie am 29.10. des Jahres 1976 oder 1977170 Aldos Sohn zur Welt bringt. Nach ihrer Freilassung vereinsamt Eva zusehends, bis sie 1979 Guillermo Rodríguez kennenlernt und kurz darauf heiratet. Es vergeht einige Zeit, bis sie erkennt, dass Rodríguez, ein Verführer und später erfolgreicher Karrierist, alles über ihren Aufenthalt im Folterlager weiß und sehr wahrscheinlich ein »quebrado« [Gebrochener] und Überläufer ist. Erst mit dem Aufkommen der Demokratie wagt Eva 1984 die Scheidung und führt seitdem, ohne je wieder eine feste Bindung einzugehen, ein zurückgezogenes Leben auf dem Land, in dem sie mit großer Mühe ihren Lebensunterhalt bestreitet und von einer Handvoll geliebter Menschen umgeben ist. a. Wer ist Eva Mondino? – Identitätskonstruktionen Noch bevor Evas Name auf der dritten Seite überhaupt fällt, steht sie ab der ersten Zeile wie entkleidet vor der Leserschaft: Überdeutlich werden ihre körperlichen Merkmale beschrieben, indiskret sind die Details über ihr Intimleben. Und doch liefert der Beginn der Erzählung wenig mehr als einen Umriss der Hauptfigur. Die Darstellung ihrer Erscheinung und der Äußerlichkeiten setzt sich über das erste Romandrittel fort, in dem Eva nicht zu Wort kommt. Ihre Worte dringen von den Figuren vermittelt oder durch sie eingeleitet nach und 170 Das Datum wurde vom Berichterstatter in dieser Ungenauigkeit festgehalten. »Es gibt Zeugen, die als Geburtsdatum denselben Tag und Monat angeben, jedoch des darauffolgenden Jahres.« (127) 467

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nach durch (ab Seite 44), bis Eva ab Seite 81 in direkter Rede zitiert und ihre Präsenz den Adressaten immer näher wird. Stehen Evas Erscheinung und ihr Leben in den ersten Zeilen des Textes wie bloßgelegt da, so wird sie als »Person« erst am Ende der Erzählung deutlich wahrgenommen. Aber auch dann wird ihre Figur nicht transparent, sondern behält eine gewisse Opazität, die sich Vereinnahmungen entzieht. Der Verfasser scheint seinerseits die anfängliche Haltung eines unbeteiligten Beobachters immer stärker zu verlassen und zunehmend zu einer Figur des Textes zu werden, die Position bezieht. Entsprechend wendet er sich am Ende des Berichtes dem Auftraggeber und den Adressaten des Textes nicht sachlich, sondern persönlich zu. Die Frage danach, wer Eva Mondino ist, beantwortet er nicht mit Fakten, sondern mit einer Meinung: »eine schwer zu übersehende Frau« (132). Wurde weiter oben herausgestellt, wie raffiniert die Wahl der Gattung für den Umgang mit Vorbehalten gegenüber biographischen Darstellungen ist, so legt die Untersuchung von Fremdkonstruktionen von Identität einen weiteren Aspekt dieser Wahl frei. Der Bericht, als quasi technische Mitteilung, scheint sich besonders dafür zu eignen, naturalisierte Repräsentationen eines Glaubenssystems abzubilden. Sein Vokabular ist durch unpersönliche Floskeln gekennzeichnet, die dem Gesagten allgemeine Gültigkeit und den Meinungen der Figuren den Glanz der »Wahrheit« verleihen. Das zeigt sich in den folgenden, stichprobenartig entnommenen Formulierungen: »In eine andere Reihenfolge gebracht, muss festgehalten werden, dass« (14), »Es muss darauf hingewiesen werden« (14), »An dieser Stelle sei darauf hingewiesen« (33), »Was aus den Aussagen der befragten Personen zweifellos hervorgeht« (40), »Es sei daran erinnert« (43), »Alles weist darauf hin« (47), »Es ist bekannt« (53), »hervorzuheben wäre an dieser Stelle« (56), »Trotz einiger Behauptungen […] soll hier festgehalten werden« (63), »Es muss festgehalten werden« (73), »In diesem Punkt gibt es zahlreiche Übereinstimmungen« (90), »Es muss hier nochmals betont werden« (96), »Hervorzuheben ist« (97), »Es muss eingeräumt werden« (104), »Besagte Person« (108), »Sicher ist, dass« (114), »Es ist nur natürlich, dass« (119) u.v.a.m. Diese unpersönlichen Formulierungen, die auch für das wissenschaftliche Schreiben charakteristisch sind, erheben einen Anspruch auf Sachlichkeit und Distanziertheit. Gerade diese Haltung wird aber von der Autorin ironisch betrachtet und dekonstruiert. Im spielerischen Umgang mit der Gattungsnorm belächelt sie am Beispiel des Verfassers, der ambivalente oder fehlerhafte Angaben171 macht und durch persönliche Einwürfe seine Aufgabe 171 Dazu zählen grobe Ungenauigkeiten beim Datum des Todes der geliebten Tante in Israel, das mit 10.10.1977 angegeben wird, wobei im Roman darauf hingewiesen 468

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letztlich unterminiert, die Illusion unparteiischer Objektivität. Die anfangs als so wichtig dargestellte Maxime der Sachlichkeit für die Erzählung wird von dieser eben verfehlt. Dadurch wird das Scheitern des Anspruches belegt, sich von dieser bewegenden Frau und ihrer Lebensgeschichte nicht berühren zu lassen. Es liegt nahe, anzunehmen, dass diese Häufungen von Verallgemeinerungen ein stilistisches Mittel sind, die »einen hohen Grad an Einheitlichkeit der Wirklichkeitsvorstellungen einer Gesellschaft«, »die weitreichende Akzeptanz von Normen«172 illustrieren sowie die Erfüllung von Erwartungen, standardmäßiges und stereotypes Verhalten bzw. Rollenkonformität veranschaulichen. Bei genauerem Hinschauen entpuppen sich die »sachlichen Aussagen« eher als Gemeinplätze, die das Durchschnittsdenken – und seine impliziten, naturalisierten Bewertungen – entlarven. Andruettos Perspektivierung ist ein gelungenes Beispiel für den Umgang mit dem Konzept des »situated knowledge« (vgl. Teil I), und zwar insofern, als an der Figur des Verfassers deutlich gezeigt wird, dass ein Blick von oben oder von außerhalb eine Mär ist und erst klare Ich-Aussagen, d.h. ein im Körper verankertes Wissen, authentisch sind. Dieses kritische Spiel zwischen Meinung der Allgemeinheit, Objektivität und zitierartiger Performanz kann in besonderem Maße im folgenden Abschnitt beobachtet werden: Mehr noch, der Verfasser dieses Berichtes tendiert zu der Annahme, dass es so viele Evas wie Zeugen gibt, so viele, wie sie Menschen gekannt hat, die über sie sprechen können. Was in gewisser Weise für alle Menschen gilt, scheint sich im Falle einer Frau noch zu verstärken, sofern es dem Verfasser erlaubt ist, eine Meinung zu äußern, die manchen als frauenfeindlich erscheinen mag, die der Unterzeichnende jedoch weder für ein Vorurteil noch für eine vorgefasste Meinung über die Personen weiblichen Geschlechts hält, sondern für eine richtige Einschätzung der Realität. (28)

Die Erzählung setzt dieses Spiel mit dem Wissen von Beobachtern und Zeugen über die gesamte Erzähldauer um und stellt damit konsequent in Frage, wie ausschlaggebend Wissen und Gewissheit für das Erhalten eines angemessenen Bildes der Ereignisse sind. Bereits zu Beginn warnt die Figur Pacha, die sich wird, dass Evas Tante, wie Evas Vater, zeitgleich mit Evas Verschleppung gestorben sei, die auf den 25.10.1976 datiert ist. Ein weiteres Beispiel ist das Geburtsjahr von Evas Sohn, das mal 1976 ist, an anderer Stelle 1977, sowie die fehlerhafte Transkription des Liedtextes von John Lennons »Imagine« (95f.). Auf letzteren Punkt hat M. T. Andruetto in einem Interview hingewiesen (Pubill, 2009, o. S.). 172 Nünning, 1989, S. 338. 469

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eindeutig als Freundin Evas bekennt, wie aussichtlos die Suche nach Sachlichkeit seitens des Verfassers ist: »Die Leute erzählen alles Mögliche, wissen Sie das nicht? Nach dem, was sie während der Diktatur erzählt haben, ist es doch egal, wenn sie jetzt behaupten, dass sie mit Juan oder Pablo schläft« (26). Die fast patchworkartige Zusammensetzung der Meinungen vermittelt einen Eindruck der Ambivalenz und Undurchdringlichkeit, die an der Echtheit der Ereignisse zweifeln lässt. Diese Erzählstrategie, die formell durch ein permanentes Unterbrechen des diskursiven Flusses der zitierten Figurenreden und ein Entgegensetzen von unterschiedlichen Beobachterperspektiven zustande kommt, wird an den Stellen geändert, in denen Eva selbst zu Wort kommt (81-85 und 105-106). Eva Mondino Freibergs Worte leiten eine emotionelle Wende in der Erzählung ein, wenn sie von ihrer Verschleppung, vom Verrat und dem Aufenthalt im Lager spricht, wenn sie die Geburt ihres Kindes beschreibt und mit jeder Sachlichkeit »bricht« und auch wenn sie im zweiten Gespräch dem Verfasser über die Folterung durch trockenes Waterboarding und über ihre tiefste Beschämung angesichts ihres Aussagens unter Folter berichtet. Die erste Stelle verlässt zögernd, die zweite definitiv die Gattung des formellen Berichts. Beide Stellen werden dramaturgisch in Szene gesetzt und erwecken durch die direkte Rede und das Einbrechen der Emotionalität im bisher sachlich geprägten Fluss der Erzählung den Eindruck von Unmittelbar- und Gegenwärtigkeit (»wie sie erzählt und daraufhin in Tränen ausbricht – diesmal ohne Scham und Zurückhaltung –, mit der Hand auf den Tisch schlägt und hinzufügt«, 84; »Mitten im Gespräch steht sie auf und geht in die Küche und bietet mir von dort Kaffee an«, 105). Damit wird Distanz überwunden und Nähe hergestellt als Voraussetzung für einen vollständigen Sprechakt, in dem ein Reden mit dem Körper durch mitfühlendes, sich der Erzählung aussetzendes Zuhören vervollständigt wird. 1) »[…] wie eine Afrikanerin, aber mit weißer Haut und grünen Augen« – Aussagen zu Evas Körperlichkeit Evas Physiognomie wird vom Verfasser als Abweichung von der Norm oder als Defizit charakterisiert und in der Häufung so kommentiert, als hätte ihre (schlechte) Wahl zu diesem Aussehen geführt: Ihre Größe liegt über dem Durchschnitt, ihr Gewicht überschreitet um fünf Kilogramm das Ideal, die grüne Farbe ihrer Augen entspricht nicht der, die im Allgemeinen als schön bezeichnet wird. Zu ihrem Haar äußert er sich verallgemeinernd und rassifizierend: Jedenfalls stimmen alle darin überein, dass sie schon immer dichte Locken hatte, wie eine Afrikanerin, aber mit weißer Haut und grünen Augen; auch

470

Teil IV – Eine von Frauen geschriebene Literatur der desapariciones forzadas wenn viele Jüdinnen, denn mütterlicherseits war sie Jüdin, solche Haare haben. (10)

Mit dieser Darstellung von Evas Äußerem als defizitär bzw. ethnisch und so von der Norm abweichend wird im Text das explizit gemacht, was »normal« ist. Wie sich Evas Aussehen im Kontext der Diktatur auswirkte, erfahren die narrativen Adressaten gegen Ende der Erzählung, als Evas Worte bezüglich der körperlichen Misshandlungen im Lager wiedergegeben werden: »[Sie schlugen uns] heftig, diejenigen, die ein jüdisches Aussehen hatten, wurden besonders schlimm geschlagen« (105). Evas jüdische Herkunft wird in der Erzählung allerdings nicht allein als symptomatisch für die erlittene Verfolgung ausgemacht. Dafür ist vielmehr die Überlappung verschiedener Faktoren ausschlaggebend. Die Äußerung Alicia Finchelmans, einer Bekannten aus Evas Kindheits- und Jugendjahren, die dem Namen nach offensichtlich jüdische Wurzeln hat, verwischt den möglichen Eindruck einer allgemeinen Verfolgung der jüdischen Bevölkerung. Sie macht darauf aufmerksam, dass auch in ihrem Kreis Evas Aussehen schon in der Jugend aus der Reihe gefallen ist: […] »sah sie aus wie ein Hippie, war nicht eine von uns« […] denn sie »trug meistens lange Röcke und gefärbte oder gebatikte Hemden, Jesuslatschen, die Freunde von ihr anfertigten oder die sie auf Kunsthandwerksmärkten kaufte, und Stiefel aus Salto [sic!]173 im Winter«. (22)

Dazu kommentiert der Verfasser normierend: »Hätte sie Miniröcke getragen […] wäre sie zweifellos als modisches und wohlerzogenes Mädchen durchgegangen« (22), und fügt eine Interpretation der (Eva freundlich gesinnten) Zeugen Pacha Freytes, Orlando Mondino, Alberto Delfino und Lila Torres an: »[…] denn sich so [wie ein Hippie] zu kleiden, bedeutete damals, mit dem System nicht konform zu gehen« (23). Die Gepflogenheiten der weiblichen Mittelschicht in puncto Körperpflege scheint Eva nicht immer beachtet zu haben; sie rasierte sich die Beine und die Achseln eine Zeitlang nicht. Alicia Finchelman kommentiert dies mit Abscheu: »[N]un, wie soll ich sagen, das war ekelhaft, warum um den heißen Brei herumreden…« (24). An Evas Verhalten wird nicht nur ihre Ablehnung dieser Form des doing gender und eine Transgression impliziter Normen deutlich, sondern auch ein Zusammenhang mit der Darstellung der Verarmung der Hauptfigur (24). Gewisse Dinge wie das professionelle Ent173 Die Stiefel stammen nicht aus der Stadt Salto (Provinz Buenos Aires), sondern aus der Provinz Salta (Nordargentinien). 471

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fernen der Körperbehaarung, der Gang zum Friseur etc. wurden den Mitgliedern der Mittelschicht durch die Wirtschaftskrisen zunehmend finanziell unmöglich gemacht.174 Auch eine Gewohnheit wie das Rauchen bei Frauen illustriert die Beziehung zwischen persönlichen Vorlieben und gesellschaftlichen Vorgaben, die dem Wandel unterworfen sind (43f.). Als Beleg dafür werden im Text die Gedanken eines Soziologen zitiert, der angibt, fortschrittliche Frauen hätten damals geraucht, während »es [heute] einem Menschen mit gesellschaftlichem Bewusstsein entspricht, es nicht zu tun« (44). Laut Zeugin und Dozentin Maura Centurión fiel Evas Wahl für das Studienfach Sozialarbeit aus zeitgemäßem Interesse: »Es entsprach dem Geist der Zeit, dass sie an diese Schule kam« (11). Eindrucksvoll konstruiert der Text ein Zeitbild von Evas Jugend, in dem die Protesthaltung unangepasster junger Frauen mit der Alltagsrebellion, die sich auf der Ebene des Kleiderkodex und der Selbstverständnisse tradierter Rollen abspielte, Hand in Hand geht. Auf Evas etwas anderes Äußeres wird, so suggeriert die Erzählung, heute wie damals Bezug genommen; die Beschreibungen werden von Rollenbildern überlagert, während ihre Gewichtung sich von Figur zu Figur verlagert. Eva selbst ist die Sache mit dem Aussehen eine Last. Sie ist »zu müde« und hat »die Lust daran verloren«, sich schick zu machen oder sich einen neuen Freund zu suchen (53). Die Hinweise auf die heutige Eva geben Auskunft über den aktuellen Stand der Geschlechterordnung und ihrer Rollenbilder, so wie dieser Kommentar von Evas Verehrer Alberto Delfino: »Wenn sie sich etwas engere Hosen anzöge und sich schminkte, würde man sofort sehen, wie schön sie immer noch ist« (53), der vom Verfasser komplettiert wird: Auch wenn Eva nicht, wie bereits erwähnt, weder aufgrund ihres Alters noch ihres Aussehens, den herrschenden Schönheitsidealen entspricht, war sie wohl mal (wie einige Zeugen manifestieren) bzw. ist sie noch immer (so äußern sich andere) eine ausgesprochen schöne Frau…175

Auch wenn sich hier bereits andeutet, dass der Verfasser des Berichts von Eva und ihrer Lebensgeschichte zunehmend bewegt ist, erkennt man an seiner verallgemeinernden Aussage weiterhin die Haltung, sie wie sonst üblich an der Norm zu messen. (Eva selbst, so könnte man meinen, kümmert die Norm schon lange nicht mehr.)

174 Sutton, 2010, S. 79. 175 Fingueret, [1999] 2006, S. 64, aus dem Span. von V. A. 472

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2) Über Evas materielle Existenz Wird der Erzählfaden über den Versuch des Verfassers gesponnen, Evas Geheimnisse – und insbesondere die Umstände der Geburt ihres Sohnes – zu lüften, so entwirrt sich währenddessen ein anderer Erzählstrang: Evas rebellische Vergangenheit und ihre heutige prekäre finanzielle Lage stehen in einem engen kausalen Zusammenhang. Die »Geldeintreiber jeder Art« (25), die Möbel pfänden und mitnehmen, bevor Eva sich für einen Umzug aufs Land entscheidet, und die Kargheit ihrer Einrichtung (77-79) zeigen sie als verarmtes Mitglied der Bildungsmittelschicht. Auch zu Evas Wortmeldungen im Bericht kommt es nur wegen ihrer Geldnot – »es stimmt auch, dass ich Geld brauche« (104). Evas und Aldos Bruch mit den Konventionen und die Tatsache, dass sie nicht heiraten, führt nicht nur zu ihrer Zurückweisung durch Mitglieder der Familie (Aldos Mutter, 15) und des Freundeskreises (Nirvana, 63), sondern auch zu Evas wirtschaftlichem und sozialem Abstieg in Folge von Aldos und ihrem eigenen Zwangsverschwinden. Eva fällt regelrecht durch die Löcher des sozialen Netzes, das für verheiratete Frauen und Angehörige der Desaparecidxs in der Postdiktatur eine Pension als Wiedergutmachung vorsieht. Ihrem Schicksal (und vielleicht auch der Last der Schuld?) ergeben, gelingt es ihr offensichtlich nicht, den finanziellen Ausgleich des argentinischen Staates für sich zu beantragen. Die eigenen Mittel, über die Eva verfügte, gab sie für den Bau des gemeinsamen kleinen Hauses auf Aldos Grundstück aus (15), und nach seiner Verschleppung und dem wahrscheinlichen Tod wurde Evas Geld von seinen Eltern einbehalten (16). Durch ihre Entführung verliert sie ihre Stelle bei der Zeitung (14). Abgesehen von einer guten Anstellung während ihrer Ehe mit Rodríguez, gelingt ihr danach der Einstieg in ein sicheres Arbeitsverhältnis nicht mehr. Die geschiedene und alleinstehende Eva hat gegenüber verheirateten Frauen in der (prüden) Provinz bei möglichen Einstellungen einen offensichtlichen Nachteil. Nach der Scheidung von Rodríguez sieht sich Eva gezwungen, ein Zimmer ihres Hauses zu vermieten, was ihr durch einen neuerlichen Rufmord (Promiskuität) zum Verhängnis wird. Die finanziellen Umstände und die soziale Stellung der Hauptfigur geben Auskunft über einen Bruch zwischen »bevor das alles passiert ist« (eine Formulierung, die Eva häufig benutzt, 107) und der Zeit nach ihrer Verschleppung, in dem ihre Marginalisierung nicht überwunden, sondern durch das Prekariat der Gegenwart besiegelt wird: Nachdem sie das Kind verloren hatte, nachdem auch Aldo Banegas verschwunden war und sie weder dessen Leichnam noch irgendeinen anderen Nachweis für seinen Tod bis auf die Mitteilung über das Dahinscheiden bekommen hatte, nachdem sie ihre festen Beschäftigungen, die sie einmal im 473

Erinnerung und Intersektionalität Journalismus und in der Lehre gehabt hatte, ebenfalls verloren hatte, und verloren auch oder abgelehnt die Rente, die ihr aus der Lebensgemeinschaft mit ihrem ersten Mann (der sich in den Monaten vor seinem Verschwinden als Assistent am Lehrstuhl für Anatomie I im Hospital Nacional de Clínicas verdingte) zugeständen hätte, und die Unterhaltszahlungen, die ihr nach der Scheidung von ihrem zweiten Mann zugestanden hätten, und die staatliche Entschädigung, auf die sie als ehemalige Gefangene Anspruch gehabt hätte, schien sich Eva nicht mehr darum zu bemühen, die Welt, in der sie lebte176, zu verstehen, hat beinahe alles aufgegeben, was sie einmal begeistert hat, und lebt von dem, was sie in ihrem kleinen Garten erntet, vom Haus-zu-HausVerkauf von Schreibwaren und den Häkelarbeiten, Tüchern und Decken, die sie in ihrer Freizeit für ein Geschäft mit Regionalwaren anfertigt. (129)

In den gegenwärtigen Lebensbedingungen der Hauptfigur wird eine Form der sozialen Bestrafung sichtbar. Neben ihrer persönlichen Situation, zwangsverschwunden gewesen zu sein, und den Schwierigkeiten, mit den traumatischen Ereignissen allein dazustehen und mit ihnen trotzdem leben zu müssen, haftet Eva ein weiteres Stigma an: Sie trägt heute die Konsequenzen dafür, dass sie die bestehende Ordnung bis ins Private hinein in Frage gestellt hat. Damit wird ein weiterer Aspekt der Niederlage rebellischer Mitglieder dieser Generation offensichtlich: Dass sie Strukturen wie die Ehe neu formulierten (mit Aldo, den Eva als »mein erster Mann« [14] bezeichnet, was er legal gesehen nie war) oder Partnerschaft auf Augenhöhe gestalten wollten (mit Rodríguez), müssen sie letztendlich mit finanziellen Einbußen und einer unsicheren Situation in einem späteren Lebensabschnitt teuer bezahlen. 3) »Eine ernsthafte Verwirrung« – Eine religiös-ethnische Grenzidentität Die Ursachenforschung des Verfassers und die Aussagen der Zeugen vermitteln streckenweise den Eindruck, Evas Werdegang sei schicksalhaft und in ihrer ambivalenten Herkunft und Erziehung begründet (30, 86f.). Evas Name ist dafür das erste verwirrungstiftende Omen, hat sie ihn doch von ihrem den Zivil-Radikalen (Unión Cívica Radical) nahestehenden Vater und ihrer jüdischen Mutter, beide 176 »schien sich Eva nicht mehr darum zu bemühen, die Welt, in der sie lebte, zu verstehen«: Durch die Imperfektformen anstelle des Präsens des spanischen Originals kommt auch an dieser Stelle in der deutschen Übersetzung der Gegenwartsbezug, der für die Interpretation des Textes im Sinne eines writing back relevant ist, nicht zum Ausdruck (»Eva ya no parece hacer esfuerzos para comprender el mundo en el que vive«, Andruetto, [2003] 2009, S. 151). 474

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Antiperonisten, in Erinnerung an die jüdisch-deutsche Großmutter erhalten. Und das ausgerechnet in Eva Peróns Todesjahr, in dem viele Peronisten ihre Töchter so tauften (25f.). Die interreligiöse Ehe der Eltern zusammen mit der sich daraus ergebenden fehlenden Glaubenserziehung bzw. religiösen Heimatlosigkeit haben Eva angeblich verwirrt (»…sie feierten das jüdische und das christliche Jahr, das Pesachfest und Ostern, Jom Kippur […] Was soll bei so einer Erziehung nur aus der armen Eva werden«, 30), sie geradezu zum Atheismus und später zu ihrem politischen Engagement getrieben. In dieser Kausalität kommt die Meinung religiös-konservativer Kreise zum Ausdruck, die Evas Generation als eine »lost generation« sehen, in der Orientierungslosigkeit und Werteverfall nach ihrem Dafürhalten zum rebellischen Denken und zur revolutionären Ideologie geführt haben. Diese Ansicht, für die Evas Scheitern exemplarisch ist, illustriert die Haltung der Vertreter eines katholischen Integrismus, die in der Vielfalt der argentinischen Bevölkerung die Legitimation für den eigenen Machtanspruch als Führungselite des Landes sahen. Dem Verdacht der Heimatlosigkeit setzt die Erzählung emotive Momente entgegen, die Evas Bemühen vor Augen führen, die Glaubenswelten der Eltern in ihrem Verhalten miteinander zu verbinden. Eva gehört zwar keiner Religion an, aber in kritischen Momenten ihres Lebens betet sie; aus ihrem familiären jüdischen Erbe schöpft sie den Geist der Liberalität. Die Erinnerung an ihre geliebte Tante mütterlicherseits erscheint als eine Inspirationsquelle für Evas »geistige und sexuelle Freiheit« (62). Außerdem hat sie ihr eigenes Porträt anstelle des Fotos der jüdisch-deutschen Großmutter in den silbernen Bilderrahmen jener Kartoffelerntehelferin gesteckt (78). In diesem Gegenstand materialisiert sich das porträthafte Element der Erzählung, das an dieser Stelle eine symbolische und ergreifende Tragweite hat. Doch bevor Evas Darstellung sentimental wird, zeigt die sich anschließende Bildbeschreibung augenzwinkernd gängige Orientierungsinstanzen im Jahr 2000: Darauf sieht man sie in ihrem jetzigen Alter von achtundvierzig Jahren in stolzer Pose, und wenn man sie vielleicht auch nicht mehr schön nennen kann, dann doch stark und noch immer attraktiv für das andere Geschlecht (Anm. d. V.: was dieser Informant hier bestätigen kann), mit »diesem Ausdruck einer stolzen Löwin und etwas vom chinesischen Sternzeichen Drachen« (Lila Torres), das, weil 1952 geboren, auch ihres ist. (78f.)

Damit wird einerseits auf die generationelle Zugehörigkeit dieser rebellischen Frauen Bezug genommen und andererseits auf die Beschäftigung der Argentinier_innen mit esoterischem Wissen und fernöstlichen Philosophien verwiesen, 475

Erinnerung und Intersektionalität

die nach dem Scheitern der sozialen Utopien der 60er und 70er Jahre als Surrogat und Platzhalter für die Vorstellungen gesellschaftlicher Veränderung dienen. 4) Das Profil einer politischen Ohnmacht Noch bevor der Mandant und die narrativen Adressaten sich ein Bild von den Umständen machen können, die letztlich zu Evas Verschleppung geführt haben, wird Evas Rückkehr aus dem Lager beschrieben. Verunglimpfungen wie »verrücktes Weibsstück« und »Kommunistin« (31), die erste gegen das rebellische, die zweite gegen das politische Element ihres Verhaltens gerichtet, konfrontieren Eva mit der hegemonischen Meinung, sobald sie das Haus der Mutter verlässt, wohin sie nach ihrer Freilassung zurückgekehrt ist. In diesen Zuweisungen drückt sich das Bedürfnis mancher aus, eine Art Exorzismus auszuüben, sich reinzuwaschen (33), der Wunsch, Distanz zu den Opfern herzustellen, indem man mit dem Finger auf sie zeigt. Die Wörter »Kommunistin« (31, 38), »Bolsche« (38), »Linke«177 ordnen das politische Engagement der Hauptfigur pauschal ein – aber nicht unbedingt zutreffend, denn Eva war eine Anhängerin Che Guevaras – und stehen für eine Einbettung der Ereignisse in die polarisierte Welt des Kalten Krieges. Noch immer wird das damalige Schimpfwort »Kommunist«, das die Zeit überdauert hat, für Eva verwendet und teilweise zu »Kommunistenhure«178 abgewandelt, wobei hier politische Einstellung und Geschlecht mit der angeblichen Promiskuität zum Verruf in extenso kombiniert werden. Später kommen »Verräterin« und »Spitzel« (31) dazu, die den Verdacht des Ausplauderns unter Folter beinhalten, der den Überlebenden anhaftet, und somit auf das Stigma der Überlebenden im Argentinien der Gegenwart hinweisen. Vieles spricht dafür, dass es gerade die Stigmatisierung der Überlebenden ist, gegen die María Teresa Andruetto anschreibt. Dieses writing-back-Moment artikuliert sich jedoch nicht nur politisch. Die Erzählung ruft vielmehr immer wieder ein mehrschichtiges, intersektionelles Bezugsnetz auf, in dem das politische Engagement einer rebellischen Frau jüdischer Herkunft mit Vergewaltigung (sie sah, dass es sich »um einen jungen, schlanken Mann handelte, einen ganz normalen Typen«, 177 Das Adjektiv »zurda« (Andruetto, [2003] 2009, S. 101 u. 102) wurde pauschal mit »Kommunistin« (88, 89) übersetzt. Das Subsumieren der linken Bewegungen Lateinamerikas in die geopolitischen Dichotomien des Kalten Krieges schleicht sich dadurch sogar in die deutsche Übersetzung ein. 178 »puta comunista« (Andruetto, [2003] 2009, S. 39) wurde mit »Scheißkommunistin« (31) übersetzt, wodurch das allgemeine Wissen über die sexuellen Misshandlungen der Desaparecidas, in der spanischen Formulierung impliziert, und das genderspezifische Moment für die deutsche Leserschaft verloren gehen. 476

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81), Folter (die Verbrennungen, die man ihr an Armen und Brüsten zugefügt hat, 81) und Gefangenschaft, aber auch mit dem unaussprechbaren und lebenslangen Schmerz der geraubten Mutterschaft bestraft wurde: Von allem, was Eva im Leben Schlimmes widerfahren ist, und das scheint nicht wenig zu sein, ist das, was sie am meisten schmerzt – wie zahlreiche Zeugen bestätigen –, ein Kind bekommen zu haben und weder zu wissen, wo es ist, noch ob es überhaupt noch am Leben ist. (81)

Über das Motiv für ihre Verschleppung spekuliert Eva heute noch (59): Handelte es sich um einen Fall von Denunziation aus politischen Gründen oder um ein gezieltes Interesse an ihrem noch ungeborenen Kind in dafür politisch opportunen Zeiten? In der Erzählung gibt Eva an: »Sie suchten nach Eva Mondino, ich weiß nicht, ob sie mich mit Aldo in Verbindung brachten, aber sie holten mich« (105). Sie verdächtigt einen Arzt und unmittelbaren Nachbarn, der ein persönlicher Freund des Sekretärs von General Luciano B. Menéndez (dem direkten Verantwortlichen für die Repression in Córdoba) war, sie denunziert zu haben. Den Grund nennt dessen Frau beim Namen: weil diese Menschen die »Gegend verunstalteten« (59). Heute gefragt, lässt sich Dr. González Suviría nichts von seiner alten Einstellung anmerken: »[D]as Fräulein [habe] stets einen sehr wohlerzogenen und liebenswürdigen Eindruck auf ihn gemacht […], die liebenswürdigste von allen Bewohnern« (60), und die Frage taucht auf, ob die Arztgattin seinerzeit ihren Mann dazu angestiftet hat, Eva zu denunzieren. So wird im Roman die Tatsache zur Sprache gebracht, dass mit der Repression Andersdenkender Mächtige und ihre Freundeskreise von einer Situation profitierten, die es ihnen auch ermöglichte, Verbrechen zu begehen, um private Rechnungen zu begleichen, sich zu bereichern und am Kindesraub zu partizipieren. Entsprechend setzt die Erzählung Opportunisten in Szene, die in der Delation die Chance sahen, ihre Haut zu retten oder sogar Profit daraus zu schlagen. Zu solchen Opportunisten gehörten Evas Gegenfigur Guillermo Rodríguez, ihr Halbbruder Rubén Darío Mondino, die Professoren Milovic und Adolfo Rinaldone, aber auch die Ärzte Rubén Guerra und Juan Carlos García sowie das Ehepaar Nardi. Im Netz der Denunziation bleibt Eva selbst allerdings widerwillig gefangen, als sie unter Folter dem Druck nicht standhält und das Schweigen über ihren engen Freund Ernesto Soteras bricht (106f.). Die »gebrochene« Eva belasten neben der Trauer über den Verlust des Kindes und ihres Lebensgefährten Aldo dann auch noch Schuldgefühle wegen Ernestos Tod. Vor der Verschleppung war Eva fröhlich und voller Energie, die traumatisierte Überlebende wird von ihrer Freundin Lila Torres so beschrieben: 477

Erinnerung und Intersektionalität Als sie dann wieder herauskam, war alles anders, sie wurde ängstlich und unsicher in einem unglaublichen Maße, und auch… wie soll ich sagen… irgendwie misstrauisch… und schweigsam, nie mehr hat sie mir alles erzählt, wie wir es früher immer getan hatten… ich glaube, nach all den furchtbaren Dingen, die ihr widerfahren sind, war ihr nichts mehr wirklich wichtig … (117)

Während ihrer Flucht war Eva der Gefahr der politischen Delation aus engster Umgebung ausgesetzt (z.B. aus dem Umfeld ihres Halbbruders Rubén Darío Mondino, 108f.), aber auch der Zurückweisung aus Angst vor »Ansteckung«. So bat sie ihre Betreuerin aus Kindertagen und damalige Hausangestellte (56), sich bei ihr zuhause verstecken zu dürfen, aber diese verweigerte ihr die Zuflucht und schob ihren Mann vor: »Nicht ich, mein Mann war es, der so große Angst hatte […], dass man ihn mit einer Jüdin in Verbindung bringen könnte: Sie kann noch so sehr eine Mondino sein, hier wissen alle, dass Eva Jüdin ist, und unser Nachname (Anm. d. V.: Petronovich ist russischen Ursprungs) hat immer für Verwirrung gesorgt179“(56), und weiter: »[E]ine Kommunistin unterstützen, niemals, sagte mein Mann, selbst wenn sie die Tochter meines Arbeitgebers war« (56). Ähnlich wie Petrona die Schuld auf ihren Mann schiebt, macht Evas frühere Freundin Nirvana Aldo für Evas Unglück verantwortlich, weil »die verkommene Person Aldo war, wer sonst«, weil »er doch der Kommunist war, nicht sie« (63). Interessant ist die Verschiebung der Verantwortung auf die männlichen Partner. Beide Fälle beleuchten die asymmetrischen Beziehungen zwischen Frau und Mann, die sich in einer transponierten Form fortsetzen, indem sie als Erklärung für Handlungen herangezogen werden. In den Aussagen dieser konservativen weiblichen Nebenfiguren zeigt sich deutlich, dass der Platz der Frauen im öffentlichen Raum und somit im politischen Bereich einmal mehr nur dem eines Mannes untergeordnet sein kann. Vor dem Hintergrund des Verschwörungsringes für den Kindesraub (83) gibt Evas Begegnung mit dem ehemaligen hohen Offizier eines serbokroatischen KZs180, Professor Milovic (68f.), Anlass zu der Vermutung, dass ihre Gefangen179 Unter Angehörigen der älteren Generation in Argentinien ist es weit verbreitet, keine Unterschiede im Hinblick auf die Herkunft aus Mittel- oder Osteuropa zu machen. So werden Menschen, die keine romanischen Sprachen – und auch kein Englisch – sprechen, zusammenfassend als »Russen« bezeichnet. Zudem wird in der Regel davon ausgegangen, dass sie dem Judentum angehören. 180 Uki Goñi belegt, dass eine große Anzahl von Ustaše mit Hilfe des Vatikans in Peróns Argentinien Zuflucht fand, auch wenn sie verantwortlich für den Genozid an verschiedenen ethnischen Gruppen und für die Ermordung zahlreicher politi478

Teil IV – Eine von Frauen geschriebene Literatur der desapariciones forzadas

schaft nicht nur mit ihren politischen Ansichten zu tun hat. Als Gründe kommt neben dem Kindesraub und ihrem Glaubenshintergrund auch der Umstand in Frage, dass der Alte Eva wegen ihrer Schönheit als Sexsklavin begehrt. Es bleibt offen, ob Milovic hinter Evas Verschleppung stand, ob er die Schwangere als Gegenleistung für Informationen über ihren Lebensgefährten zum Sex zwang (67) oder ob es sich um »ein noch viel härteres Angebot« (73) handelte, dessen Inhalt der Leserschaft verborgen bleibt, das aber ein Versprechen war, welches Eva nicht einlöste und das Unglück brachte. Die ambivalenten Informationen haben intradiegetisch die Funktion, mögliche Antworten auf die Frage nach einer »Wahrheit«, die sich aus der Perspektive der Beobachter ergibt, immer wieder zu destabilisieren. Dadurch wird die Selbstauskunft von Eva als maßgebende Perspektive für die Fakten unterstrichen. Der Verdacht der Anzeige durch das Ärzteehepaar und dessen Angst vor einer Wertminderung des Wohngebiets durch chaotische Studierende in Zusammenhang mit Evas Verschleppung illustriert eine Diskriminierung der jungen und politisch unbequemen Menschen durch die Älteren und Etablierten. Im Fall von Professor Milovics Delation kommt die Intersektion Frau, (Halb-)Jüdin und Linksaktivistin zum Tragen, die die Verfolgung verursacht zu haben scheint. So eingebettet wird Evas Mutterschaft zum politischen Ereignis und ihr Kind von den Militärs und ihren Komplizen als »Kriegsbeute« gesehen. In diesem Geflecht der Ambivalenz, Ungewissheit und Ohnmacht in Bezug auf den Raub ihres Kindes (ab S. 82) ist Evas Wunde ein Ort des Schmerzes, dessen Ausgangsereignis in der Rückblende wie eine Halluzination wirken kann (»Ich weiß, dass ich es nicht geträumt habe«, 83), die nicht greifbar und dennoch präsent ist: »Natürlich habe ich es bekommen, und es ist Aldos Sohn, natürlich ist er das“… und dass sie an diesem Ort »ohne Kalender, ohne Uhr, ohne Licht oder Sonne« gelebt habe, sie wisse, dass »es ein Junge war, weil ich ihn einen Moment lang auf meinem Körper hatte, bis die Nabelschnur durchgeschnitten war, und dann haben sie ihn mir weggenommen… und ich habe ihn schreien gehört, ich bin sicher, doch sie haben mir erzählt, er wäre tot zur Welt gekommen, und von da an weiß ich nichts mehr.« (82)

scher Oppositioneller waren. Die systematische Verfolgung von Juden, Sinti und Roma sowie Regimegegnern hatte infolge der Umsetzung der Rassengesetze auf serbischem Gebiet zwischen Oktober 1941 und Juli 1944 rund 40.000 Menschen ins Konzentrationslager Sajmište und zwischen Juni 1941 und Oktober 1944 mehr als 23.000 ins Konzentrationslager Banjica gebracht (vgl. Goñi, 2002, S. 243-274). 479

Erinnerung und Intersektionalität »… ich weiß nicht, niemand hat ihn mir gegeben, weder lebend noch tot, man hat ihn mir weggenommen und fortgeschafft, und ich habe ihn niemals wiedergesehen oder etwas von ihm gehört, bis jetzt, bis zu dem, was Sie mir erzählen…« (83)

Evas Worte sind eine Körper-Erzählung, eine synästhetische Evokation, in der Evas Haut und die des Kindes verschmelzen, das Gehör und der Schrei eins werden und Spur und Scharnierstelle für den Ausgangspunkt einer Erinnerung an jene verwaisten, enteigneten, entwundenen Körper (in der deutschen Übersetzung: »man hat ihn mir weggenommen«, im spanischen Original: »man hat ihn von mir gerissen«181) bilden. Evas Körper geht aus der Erzählung als der Tatort hervor, an dem geschlechtliche, ethnische und politische Diskriminierung sich in Gewalt entlud und verbrannte Erde hinterließ. Den narrativen Adressaten entziehen sich die Gründe für Evas späteres Handeln. Erlitt Eva einen so heftigen Zusammenbruch, dass sie sich mit der Angabe, ihr Kind sei tot, zufriedengab? Zog sie es vor, dies zu glauben? Aus welchen Gründen konnte oder wollte sie nicht vom Wissen der Großmütter der Plaza de Mayo profitieren bzw. an ihren Aktionen teilnehmen? b. Die Opazität der »mujer en cuestión« Auf die Frage, wer Eva Mondino Freiberg war und ist, liefert der Text keine eindeutige Antwort, denn »die einzige Antwort darauf ist die Überzeugung, dass dies nur noch mehr Fragen aufwirft« (132) – so der Verfasser am Ende des Berichts. Verschiedene Perspektiven und unterschiedliche Meinungen über die Hauptfigur der Erzählung ergänzen und widersprechen sich, ohne dass Gewissheit entsteht. Die Distanz zur enigmatischen Eva wird dennoch durch Empathie überwunden, wie sich in der veränderten Haltung des anfangs distanzierten Verfassers zeigt. »Sich ins Innere des eigenen Selbst zu befehlen«, sich in sich selbst zurückziehen, weil die politischen Umstände es gebieten, sich bis zur äußerlichen Unkenntlichkeit nach innen kehren, absolut unauffällig werden, so wie es Situationen höchster Gefahr erfordern, das ist María Teresa Andruettos Definition der inneren Verbannung, die ein spezielles Licht auf Evas Rätselhaftigkeit wirft. Denn obwohl die schlimmen Jahre der Verfolgung vorbei sind, dauern gesellschaftliche Diskriminierung und die Unwirtlichkeit ihrer Lebensumstände an und zwingen sie, ihre Zurückgezogenheit aufrechtzuerhalten. Daher entscheidet sie sich dafür, ein Leben abseits von allem zu leben, sich selbst so aus dem 181 »me lo arrancaron«, Andruetto, [2003] 2009, S. 95. 480

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sozialen Netz verschwinden zu lassen, dass ihre Ich-Präsenz bis zur Auflösung minimiert ist. Und dennoch: Auch wenn ihr das große Glück durch Aldos Tod und den Zerfall der Utopien einer besseren Welt versagt bleibt, bewältigt sie den Alltag und verspürt manchmal Lebensfreude, »das ist so ein Glücksgefühl, das dann fünf Minuten anhält« (129). Ihre Biographie zu erfassen, um die »in Frage gestellte« Frau womöglich beurteilen zu können, ist ein eher suspektes Unterfangen, denn die schmerzlichen und glücklichen Ereignisse der Überlebenden können für den Horizont eines wie auch immer gearteten (impliziten) Lesers nur ein Umriss bleiben. Wie kann man sich anmaßen, sie mit dem Verstand durchdringen zu wollen? Édouard Glissant hat wunderbare Worte für das Recht auf Opazität gefunden und sie mit dem gleichzeitigen Aufruf versehen, diese Subjektivitäten nicht zu ignorieren: Es ist für mich nicht notwendig, irgendjemand zu »verstehen«, wer es auch sei, ein einzelner Mensch, eine Gemeinschaft, ein Volk, ihn »zu vereinnahmen«, um den Preis, ihn zu ersticken, ihn so in einer geisttötenden Totalität zu verlieren, die ich als Voraussetzung einführen würde, um mit ihm zu leben, mit ihm etwas aufzubauen, mit ihm etwas zu riskieren.182

María Teresa Andruettos La mujer en cuestión bestätigt Glissants Figur eines Menschen, der von seinem Recht Gebrauch macht, zu schweigen. Nicht (nur) weil er etwas zu verbergen hätte, sondern weil die Anderen ihn nicht verstehen können, weil sie in ihm nur das sehen, was sie sehen wollen. Dadurch rückt die gesellschaftliche Verantwortung an der argentinischen Tragödie in den Mittelpunkt und mit ihr die vielen kleinen Bequemlichkeiten und Bösartigkeiten, die Evas Schmerz auch heute noch wachhält. Fernando Reati bringt das umgekehrte Verhältnis, das diese Erzählung charakterisiert, auf den Punkt: »[D]as wenige, was wir über Eva erfahren, ist umgekehrt proportional zu dem vielen, was sich uns über die argentinische Gesellschaft enthüllt, in der sich die Tragödie entwickelt.«183 Sich der Narrationen von Gewalt gegen Frauen während und nach der Staatsrepression anzunehmen, sich für die Überlebenden zu öffnen und endlich mit ihnen zu leben, ist María Teresa Andruettos mit Raffinesse komponierter Vorschlag und bewegendes Angebot.

182 Glissant, 1999, S. 24. 183 R eati, 2006, S. 30. 481

Abschließende Überlegungen

Zu den eingangs gestellten Fragen, ob es eine Erinnerung an die argentinische Staatsrepression aus der Perspektive der Frauen gibt und ob diese Perspektive in der öffentlichen Erinnerungsdebatte Gehör findet, wurden in dieser Arbeit zahlreiche Reflexionen angestellt und eine Reihe von Zusammenhängen aufgezeigt. Bei den persönlichen und literarischen Erinnerungen an die Erfahrungen politischer Massengewalt und bei der sozialen Konstruktion des Gedächtnisses der argentinischen Staatsrepression verweben sich Figurationen von Gender, Geschlecht, Alter, politischer und Schichtenzugehörigkeit dicht zu Narrationen, die Machtbeziehungen offenbaren. In der gegenwärtigen Bezugnahme determinieren diese Beziehungen, ob und wie die Ereignisse, die von Negativität geprägt sind, vergessen und erinnert werden. Die vier literarischen Texte, die im letzten Teil des vorliegenden Buches vorgestellt wurden, sind vornehmlich als Konstellationen der Erinnerungsarbeit betrachtet worden. In ihnen kann der mehrfachen Diskriminierung nachgespürt werden, der insbesondere andersdenkende Frauen ausgesetzt waren; sie zeigen auch die Umstände, die in der Gegenwart dazu führen, dass diese Frauen zum Thema werden. Für die vorgestellten Texte wurde ein Lektürekonzept erarbeitet, das im gegenwärtigen Anlass der Erinnerung eines seiner zentralen Wirkungselemente und seinen Ausgangspunkt hat und ein verwobenes Schreiben sichtbar macht, das bei der Bezugnahme auf Vergangenes aus einer verkörperten Perspektive mehrschichtige Diskriminierung notwendigerweise aufzeigt und anklagt. Diese Diskriminierung wird als Momentaufnahme von Beziehungen begriffen, die aus einem komplexen diskursiven und kulturgeschichtlichen Umfeld hervorgetreten sind (und dieses reproduzierten und affirmierten), menschenverachtende Handlungen legitimierten und sich als Gewalt- und Körperpolitik ausagiert haben. In den Erfahrungen der Subalternität, auf die die Texte verweisen und gegen die sie sich stemmen, kann neben der Spezifizität der politischen Verfolgung in Argentinien sowohl der symbolischen Ordnung der Geschlechter und dem Platz der Frauen im Diskurs 483

Erinnerung und Intersektionalität

der Nation als auch den Prädikaten der Nationen in einer globalen Ordnung, die damals durch den Kalten Krieg bestimmt war und heute durch die Globalisierung geprägt ist, nachgegangen werden. Aus diesem Grund ist hier von einer Qualität der transkriptiven Bezugnahme auf die Staatsrepression die Rede, die Genderaspekte in einem Konnex von Machtbeziehungen betrachtet und in den Mittelpunkt einer verwobenen Erinnerungsarbeit stellt, die Licht auf die Artikulation der den Frauen zugefügten Wunden wirft. Neben den Artikulationen und Figurationen im kommunikativen Gedächtnis geht es dabei um die Frage, ob ein vielstimmiges Gedächtnis verkörperte Erfahrungen von Frauen umfasst und in welcher Art und Weise es sie aufnimmt. Weil die Repression durch den argentinischen Staat weder am 24.03.1976 aus dem Nichts entstand, noch am 10.12.1983 komplett zu wirken aufhörte, wurden die Kontexte umrissen, gegen die rebellische Frauen in den 60er und 70er Jahren aufbegehrten und in denen sich die Repression entfaltete. Nach der Erfahrung der Zerbrechlichkeit des Lebens kamen Forderungen an den argentinischen Staat auf und ein Konzept der Rechtsstaatlichkeit wurde Konsens, das mit dem Wissen um das Geschehene und mit der staatsrechtlichen Verfolgung der Verbrechen unabdingbar verbunden ist. In der vorliegenden Darstellung wurde Bezug auf das Umfeld genommen, innerhalb dessen in den 60er und 70er Jahren argentinische Frauen – bevor auch sie zu Opfern des politischen Massenmordes wurden – in bis dahin ungekanntem Maße zu politischen Akteurinnen und zu Protagonistinnen gesellschaftlicher Transformationen wurden. Insbesondere junge Frauen stellten Rollenselbstverständnisse in Frage, viele wandten sich der Politik zu, einige wenige griffen zu den Waffen. Ein gleichberechtigter Zugang zu gehobenen Positionen in den politischen Machtstrukturen blieb Frauen jedoch verwehrt. Weltweit standen in dieser Zeit die Weichen auf Veränderung: Die Sozialrevolution mit der emblematischen Figur des in Argentinien geborenen Che Guevara, die Lektüre des Evangeliums im Sinne der sozialen Befreiung und das Puebla-Konzil, die Frauenemanzipation und die Antikonzeptiva, die Bürgerrechtsbewegung der Afroamerikaner, die Hippie- und Friedensbewegung, die Proteste gegen den Vietnam-Krieg und der Mai 1968 waren Ereignisse, die in Argentinien vor dem Hintergrund des Verbots des Peronismus, des Exils von Juan Domingo Perón und der repressiven Politik der Diktatur von General Onganía rezipiert wurden. Unter dem Einfluss des Kalten Krieges wurden nicht nur die Rufe nach politischer Veränderung, sondern auch Manifestationen sozialer und kultureller Transformation von konservativen Kräften als verdächtig und von den in Guerillaabwehr geschulten Streitkräften als »Subversion« gedeutet. Nicht erst die Jahre der Regierung von Perón und seiner Frau waren von politischer Gewalt durchzogen; spätestens seit der demokratischen 484

Abschließende Überlegungen

Transition vor der letzten Militärdiktatur war die argentinische Gesellschaft durch soziale Gärung und die Reaktion darauf gekennzeichnet. Noch während der Regierung von Peróns Witwe María Estela Martínez de Perón wurde die Repression linksgerichteter Guerillagruppen durch die argentinischen Streitund Sicherheitskräfte ausgelöst, und das illegale Mittel des erzwungenen Verschwindens, mit Verschleppungen, klandestinen Inhaftierungen, Folter, Tod und namenlosen Gräbern, kam bereits 1975 in der »Operation Unabhängigkeit« zur Anwendung. Nachdem der argentinische Staat über Jahrzehnte hinweg Folterspezialisten hatte ausbilden lassen, bemächtigte er sich während des »Prozesses der Nationalen Reorganisation« der Körper seiner Bürgerinnen und Bürger. Das Ideologem der nationalen Sicherheit mit seiner antikommunistischen und konterrevolutionären Ausprägung wurde mit dem »Prozess« zu einer Staatsdoktrin, die den Plan der argentinischen Streitkräfte umfasste u.a. politisch Aktive ins Visier zu nehmen und die gesamte Bevölkerung nach den Maximen eines erzkonservativen Diskurses und der darin vorgestellten und dissensbereinigten »christlich-westlichen Gesellschaft« zu disziplinieren. Dieser Diskurs, der sich in allen Bereichen des menschlichen Lebens auswirken sollte, kam in besonderem Maße in der Zensur des Kulturbetriebes zum Tragen und eilte einer extremen Biopolitik der Vernichtung von »Subversiven« voraus und legitimierte sie. Mit dem phobisch konstruierten Szenario einer sich in existentieller Gefahr befindlichen, weil durch den Virus der »Subversion« todkranken Nation wurde Frauen nahegelegt, sich auf ihren Platz in dieser Keimzelle des Körpers der argentinischen Nation zurückzubesinnen und sich innerhalb der Familie als Regimehelferinnen zu betätigen. Der »Subversion« verdächtigte Frauen wurden indessen in den geheimen Lagern der argentinischen Streit- und Sicherheitskräfte nicht nur demütigenden Verhören unterzogen und bestraft. Systematische Vergewaltigungen, sexuelle Sklaverei und gezielte Folter an den Geschlechtsorganen bilden Aspekte des misogynen Terrors und der Unterwerfung von Frauen. Mit der Folterung von Schwangeren und Kindern wurden jahrhundertealte kulturelle Tabus gebrochen. Neugeborene, die unter menschenunwürdigen Bedingungen das Licht der Welt erblickten, wurden ihren entmündigten Müttern, ihren Familien geraubt. Etwa 700 Menschen von angenommenen 30.000 Verschleppten-Verschwundenen wurden ohne erkennbares System nach und nach aus den Folterlagern freigelassen. Da sexuelle Gewalt lange Zeit als Verbrechen der privaten Sphäre verstanden wurde, wurden Überlebende paradoxerweise gerade aufgrund der »überstandenen« Misshandlungen pauschal der Kollaboration verdächtigt. Neben dem Makel des Verdachts der Gewaltbereitschaft haftete der des Verrats lange an allen Überlebenden. Erst die Zeugenaussagen vor Gericht, die zu den 485

Erinnerung und Intersektionalität

entscheidenden Informationen zur Überführung der Täter beitragen, wirken dieser summarischen Verdächtigung entgegen. Ungeachtet der blutigen Repression wurden Familie und Mutterschaft im offiziellen Diskurs der Streitkräfte hochgehalten. Der große Widerspruch zwischen diskursiver Herstellung von Realität und der Tatsache der desapariciones forzadas öffnete einen Spalt im hegemonialen Diskurs, den die Mütter und Großmütter der Plaza de Mayo dazu nutzten, im Namen der Institution der Mutterschaft und der Großmutterschaft öffentlich Auskunft über den Verbleib ihrer Kinder und Enkelkinder einzufordern. Ihrem Tun lag und liegt ein Verständnis der Mutterschaft zugrunde, das wenig mit dem idealisierten Bild der Madonna mit dem Kind zu tun hat und das vielmehr die Verantwortung dieser lebenslangen Aufgabe deutlich macht. Ende der 70er Jahre boten die Mütter und Großmütter der Plaza de Mayo, die zwar Rollenselbstverständnisse hinter sich ließen, aber teilweise Stereotype nutzten, um die Suche nach ihren (Kindes-)Kindern möglichst effektiv zu gestalten, dem Regime die Stirn und widersetzten sich der individuellen und sozialen Angst, die die Militärs durch den blanken Terror der desapariciones forzadas verbreiteten. Mit der demokratischen Transition nach dem 10.12.1983 erfuhren sie, dass der ersehnte Erfolg ausgeblieben und der Schaden inkommensurabel war: Die Detenidxs-Desaparecidxs sind tot und die Spuren der Verbrechen wurden gründlich beseitigt. Wahrheit und Gerechtigkeit für alle und jede/n der Verschleppten-Verschwundenen haben sich diese heute hochbetagten Frauen, die seit 35 Jahren ein leuchtendes Beispiel für Zivilcourage sind, weiterhin auf die Fahnen geschrieben. Ihre Intervention bewirkte, dass eine Erinnerung an die Detenidxs-Desaparecidxs geprägt wurde, in die gleichermaßen die Negativität der Ereignisse und der Widerstand gegen die Staatswillkür eingegangen sind. Mit den sich zuspitzenden Wirtschaftskrisen erweiterten sie ihre Forderungen um die Rechte auf Arbeit, soziale Sicherheit, Ernährung, Wohnraum, Wasser, Gesundheit und Bildung, also die Menschenrechte der zweiten Generation. Wie sie sich einst aus ihrem persönlichen Schicksal heraus zu einem gemeinsamen Kampf solidarisierten, bringen sie sich seitdem für die Marginalisierten im neoliberalen Argentinien ein. Im sich verändernden politischen Kontext der Postdiktatur erwies sich die Bezeichnung für die Staatsrepression als wechselhaft. »Krieg« und »Genozid« sind Schlüsselkonzepte in der Darstellung des politischen Massenmordes. Das vornehmlich von den Streit- und Sicherheitskräften vertretene Deutungsmuster des Krieges wurde durch das anfangs vorwiegend von der Menschenrechtsbewegung vorgetragene Deutungsparadigma des Genozides nach einem sehr langen Kampf abgelöst und zum gesellschaftlichen Konsens. Der Tatsache, dass das Genozidkonzept im deutschen Sprachraum mit dem speziellen Fall des ethnisch 486

Abschließende Überlegungen

motivierten Völkermordes und ganz besonders mit der Shoah in Verbindung gebracht wird und dass seit dem Zweiten Weltkrieg lediglich die massiven Tötungen in Ruanda 1994 bisher als eindeutiger Fall von Genozid eingestuft wurden, ist die Auseinandersetzung mit der Begrifflichkeit und der Definition des Tatbestands des Genozids sowie mit der Anwendung des Genozidkonzepts in diesem Buch geschuldet. Zahlreiche Akte der Massengewalt gegen Menschengruppen seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs könnten als Genozide eingestuft werden, würden politische Gruppen in der Genoziddefinition berücksichtigt werden. Darüber hinaus fokussierte die Auseinandersetzung mit der Definition von Genozid Genderaspekte, da die biologische und soziale Reproduktionskraft der Menschen als zentrales Merkmal des Lebens auch in Argentinien im Fadenkreuz der Ausrottungsmaßnahmen stand. Männer im kampffähigen Alter sind ein prioritäres Ziel in genozidalen Prozessen, aber auch Maßnahmen, die auf die konsequente Zersplitterung und Zerstörung familiärer Bande innerhalb der Gruppe zielen. Dazu gehören der Raub von Babys und ihr Missbrauch als Druckmittel gegen die Eltern sowie das Töten von Minderjährigen. Frauen sind seit biblischen Zeiten stellvertretend für den männlichen Feind, für ihre Männer, Väter und Brüder, Ziel kriegerischer Handlungen. Gewalt gegen Frauen, ausgeübt im Rahmen der Staatsrepression, ist in Argentinien erst seit 2005 überhaupt ein Aspekt in der Aufarbeitung der Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die bisher noch nicht erfasste Delikte ans Licht bringt. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass auch in Argentinien die Art und Weise, wie Frauen Pein zugefügt wurde, eine geschlechtsspezifische Facette genozidaler Praktiken darstellt, bei der neben dem Angriff auf die Gruppe und der Destabilisierung der Familien stellvertretend für die Männer dieser Gruppe ihre Frauen erniedrigt wurden, während Frauen gleichzeitig und unmittelbar dafür bestraft und diszipliniert wurden, sich von tradierten Frauenrollen emanzipieren zu wollen. Von Genozid oder von Krieg in Argentinien zu sprechen bringt darüber hinaus je nach Deutung sehr unterschiedliche Figurationen der Opfer des politischen Massenmordes mit sich. In diesem Zusammenhang wird die kleine Gruppe der Frauen, die dem Grauen der Lager lebend entkamen, erneut marginalisiert. Auf den Schultern überlebender Frauen lastet neben dem Stigma des Verrats und dem pauschalen Verdacht, compañerxs dem sicheren Tod ausgeliefert zu haben, das Erbe von Hunderten von Jahren Patriarchat, das sich in einem Gefühl der Scham für die erlittene sexuelle Gewalt manifestiert, das erst heute durch das veränderte soziale Gehör überwunden werden kann, was die Voraussetzung dafür schafft, dass die Delikte zur Anzeige gebracht und verfolgt werden. Die anhaltende Relevanz der Gewalt gegen Frauen zeigte sich am 3. Juni 2015 in der von argentinischen, chilenischen und uruguayischen Frauenverbän487

Erinnerung und Intersektionalität

den organisierten Aktion gegen Feminizide »#NiUnaMenos«, die zahlreiche Menschen der Region auf die Straßen trieb und allein in Buenos Aires 300.000 Demonstranten auf die Plaza del Congreso rief. Die argentinische Karikaturistin Maitena verlas bei der Kundgebung folgenden Aufruf: 2008 wurde [in Argentinien] alle 40 Stunden eine Frau getötet, im Jahr 2014 alle 30 Stunden; in diesen 7 Jahren berichteten die Medien über 1.808 Feminizide. Wie viele Frauen sind 2015 bereits ermordet worden, weil sie Frauen waren? Wir wissen es nicht. Aber wir wissen sehr wohl, dass wir ›Schluss damit!‹ sagen müssen. Durch Feminizide sind in diesen Jahren rund 1.500 Mädchen und Jungen zu Waisen geworden, und einige von ihnen sind gezwungen, mit den Mördern weiterzuleben. Das Problem geht jede und jeden an. Wir müssen gemeinsam an einer Lösung arbeiten. Wir müssen Vereinbarungen treffen, um eine Kultur zu ändern, die Frauen im Wesentlichen nicht als selbstständige Menschen betrachtet, sondern als einen Gegenstand, den man nach der Benutzung entsorgen kann. […] Das Wort ›Feminizid‹ ist darüber hinaus eine politische Kategorie, ein Wort, das die Art und Weise bloßlegt, wie die Gesellschaft etwas zu etwas Natürlichem macht, das es keineswegs ist: die männliche Gewalt gegen Frauen. Und diese Männergewalt gegen Frauen ist ein Thema der Menschenrechte.1

Die Praxis des erzwungenen Verschwindens und die langen Jahre angeordneten Vergessens hinterließen tiefe Spuren in der argentinischen Gesellschaft, die Fälle der Gewalt gegen Frauen lassen sich unschwer auf eine repressive Tradition zurückführen. Doch heute kann ebenfalls von einer Kultur des Kampfes gegen die Straflosigkeit und der Resilienz berichtet werden, die die Umstände für die politische Machbarkeit der Ermittlungsverfahren und der strafrechtlichen Verfolgung der Verbrechen der letzten argentinischen Diktatur geschaffen hat. Die Strafverfahren offenbaren zunehmend, dass von einer »zivil-militärischen Diktatur«2 die Rede sein muss. Richter und Staatsanwälte, Staatsminister, Ärzte und Hebammen, die nicht nur die Praxis des Verschwindenlassens akzeptierten, sondern sich darüber hinaus durch die Fälschung von Dokumenten und die Übertragung von Gütern bereicherten, darunter so schwerwiegende Delikte wie die Fälschung der familiären Identität von Neugeborenen oder millionen1 2

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Cecchi, 2015, o. S., aus dem Span. von MLS. Auch in den argentinischen Medien hat sich ein Wandel vollzogen: Früher sprach man von einer »dictadura militar«, heute scheint sich die Bezeichnung »dictadura cívico-militar« durchzusetzen. Vgl. u. v.a. lavaca.org, 2014, o. S.

Abschließende Überlegungen

dollarschwere Fälle von Wirtschaftskorruption, haben sich der Mittäterschaft schuldig gemacht. Wie sehr das Leben im Argentinien der Gegenwart mit jener Geschichte verflochten ist, zeigen die Sitzungen der mündlichen Strafverfahren täglich. Die Kategorie Geschlecht/Gender wurde hier als zentrales Orientierungsmerkmal für die Untersuchung von Frauen betreffenden Diskursen verwendet, sie könnte ebenso mit Gewinn für die Entflechtung von Vorstellungen von Maskulinität und Männerrollenbildern im Rahmen der Staatsrepression und der Postdiktatur angewendet werden. Für diesen Zeitraum ist ebenfalls eine intersektionelle Analyse jener gewaltsam unterdrückten Lebenswelten längst überfällig, die von der sexuellen Heteronorm abwichen. Mit Vehemenz drängt sich darüber hinaus die Notwendigkeit auf, den Intersektionalitätsansatz für die Untersuchung der diskursiven Voraussetzungen einzusetzen, die der Vernichtung von Angehörigen indigener Gruppen im Rahmen der lateinamerikanischen Bürgerkriege bzw. der Repressionen von Staats wegen zugrunde lagen. Hier liegt die Annahme nahe, dass Indigene in vielen Ländern Lateinamerikas im Rahmen des Kalten Krieges zu Opfern einer virulenten Modernitätsgläubigkeit gemacht wurden und dass dies eine Kulturkatastrophe ist, die in ihrer ganzen Dimension noch nicht richtig erfasst wurde. Für deren Studie kann der Intersektionalitätsansatz einen wichtigen Beitrag leisten. Die besondere Herausforderung im Umgang mit der negativen Erinnerung an die Vernichtung des massenhaft Einzelnen besteht nach wie vor darin, jeder/ jedem Einzelnen ihren/seinen Namen zurückzugeben und ihr/sein Profil inmitten der Menge klar und deutlich zu zeichnen, als hätte ihr/sein Schicksal einen selbst getroffen. Die Suche nach Wahrheit und nach Gerechtigkeit für Tausende von Opfern des Kontinents, Tote, Verschleppte-Verschwundene, geraubte Kinder, die außerhalb jeglichen Rechtsrahmens den Folgen der Logik des Kalten Krieges in tragischer Weise zum Opfer fielen, stehen heute nach wie vor auf der Tagesordnung vieler Gesellschaften Lateinamerikas. Denn wenn extremes Unrecht unbestraft bleibt, manifestiert sich hier und jetzt nach wie vor die Willkür des Staates. In diesem Kampf gegen die Verschweigung des Unrechts haben Frauen in Argentinien einen besonderen Platz eingenommen und sind seit nunmehr über 35 Jahren zentrale Akteurinnen der Menschenrechtsbewegung; den Müttern, Schwestern und compañeras jener damals jungen Frauen, die in den 60er und 70er Jahren den öffentlichen Raum erobert und mit stereotypen Haltungen und Erwartungen gebrochen hatten, haben sich inzwischen viele junge Menschen angeschlossen, auch ohne familiäre Beziehung zu den Desaparecidxs. In den hier vorgestellten Narrationen der Erinnerungsarbeit sind jene Frauen ebenfalls Protagonistinnen, die die zerstörerische Macht der damaligen Ver489

Erinnerung und Intersektionalität

nichtungsdiskurse bezeugen und der ihnen zugrunde liegenden dichotomischen Ordnung widersprechen, die sich gegen Schwarz-Weiß-Malereien stemmen und jedes Schubladendenken verweigern. Die vier besprochenen Texte stellen eine kleine Auswahl innerhalb eines größeren Fundus von beeindruckenden Arbeiten der Erinnerung dar. Mögen die vorliegenden Seiten als Beitrag und als Einladung dazu dienen, den Narrationen argentinischer Frauen über die Staatsrepression auch im deutschen Sprachraum Gehör zu verleihen.

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Danksagung

Große Dankbarkeit empfinde ich für die zahlreichen Menschen, die mich auf dieser langen und intensiven Phase der Arbeit am Text begleitet und unterstützt haben. Mein größter Dank gilt Susanne Klengel für ihre Bereitschaft, sich auf dieses späte Abenteuer einzulassen, für ihre wichtigen Hinweise und Ratschläge sowie dafür, die Verbindung Berlin-Germersheim nicht abreißen zu lassen. Ebenfalls herzlich dankbar bin ich Cornelia Sieber für die Zusammenarbeit, für den intellektuellen Austausch und ihre stets ermutigende Haltung zu meinem Projekt. Für Rat und Tat fühle ich mich den Romanisten im Fachbereich 06 der Universität Mainz zu tiefem Dank verpflichtet, allen voran Andreas Gipper und Eva Katrin Müller. Direkt und indirekt haben mir Daniel Link, Alfonso de Toro, Dieter Ingenschay sowie Ana María Zubieta wertvolle Denkanstöße gegeben, Stephanie Fleischmann hat mich darüber hinaus auch noch tatkräftig in redaktionellen Fragen beraten und unterstützt – ihnen allen gebührt mein herzlichster Dank. Dankbar bin ich außerdem der Galeristin Roxana Olivieri, die großzügig die Fotografien der mir wichtigen Werke des Maestro Carlos Alonso für die Publikation vermittelt hat. Den historischen Kulturwissenschaften der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und ganz besonders Jörg Rogge ist für die Publikation in dieser Reihe herzlichst zu danken. Gero Wierichs und dem Team im transcript Verlag sei hier ebenfalls für die geduldige Unterstützung gedankt. Den Bibliotheksteams des argentinischen Kongresses in Buenos Aires, des Iberoamerikanischen Instituts in Berlin sowie und ganz besonders des Fachbereichs 06 der Uni Mainz in Germersheim gebührt mein aufrichtiger Dank für die Hilfsbereitschaft. Durch die Besonderheit, zwischen den Kulturen und den Sprachen angesiedelt zu sein, hatten ich und dieses Buch das Glück, auf die liebende Hilfe vieler Freunde auf beiden Seiten des Ozeans zählen zu dürfen: Estela Boritz und Fernando Demarco waren mir stets eine erstklassige Quelle und eine wichtige 491

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intellektuelle und emotionelle Stütze bei der Arbeit. Lidia Burdman, Cristian Rodriguez, Alejandra Judt sowie Roberto Lombardi haben mich ebenfalls mit wertvollen Beobachtungen und Informationen aus meiner ersten Heimat versorgt. Meine Freunde Susanne Himken, Regina Reinholz, Peter Frank und Claude Dumora haben unschätzbare Hilfe mit ihren Korrekturen, Hinweisen und Gesprächen geleistet, Michael Bauer hat mich auch noch mit erstklassigen redaktionellen Tipps versorgt – ihnen gilt mein besonderer Dank. Marieluise Schmitzʼ Engagement für den Text, ihre exzellenten Über­ setzungen und ihre akribische, professionelle und unermüdliche Arbeit an meiner Adoptivsprache Deutsch kann ich nicht hoch genug würdigen. Ihre Hinweise haben nicht nur zur höheren Lesbarkeit beigetragen, sondern mich stets dazu bewegt, präziser zu formulieren und so den transkulturellen Raum, in dem dieser Text gelesen wird, gebührend zu berücksichtigen. Ihr kann ich für ihre Unterstützung nicht oft genug danken. Meine Familie, Ludmilla Ada Hartmann und Björn Lars Kuhn, erfüllt mich, nicht nur angesichts ihrer uneingeschränkten Unterstützung bei dieser zeitaufwendigen Unternehmung, mit Dankbarkeit und Liebe.

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546

Personenverzeichnis 

Abal Medina, Fernando  121 Actis, Munu  18, 276 Acuña, Carlos  159, 307, 315-319, 336, 341 Adorno,Theodor W.  215, 424-425 Agamben, Giorgio  48, 54, 186, 409 Aguerreberry, Rodolfo  205, 306 Aguiar de Lapacó, Carmen  287 Ahrne, Marianne  138 Alcoba, Laura  382 Aldini, Cristina  18 Alemida, Taty  200 Alfons X.  161 Alfonsín, Raúl  200, 217, 283, 289, 305, 309-311, 315-319, 325, 333334, 336 Allende, Salvador  239, 374 Alonso, Carlos  136 Ambort, Gladys  381 Améry, Jean  21, 48, 179-181, 186190, 405, 424, 428 Amin, Idi  236 Anaya, Jorge Isaac  217 Andruetto, María Teresa  Andruetto 23, 77, 255, 279, 372, 379, 390, 461-466, 469, 474, 476, 480-481 Andújar, Andrea  17, 114

Anguita, Eduardo  13, 17, 132-133, 139, 298 Antokoletz, Adela de  195, 200 Anzaldúa, Gloria  19, 31-32, 35-36 Aramburu, Pedro Eugenio  121, 316 Arán, Pampa  463 Arancibia Clavel, Ernesto Enrique Lautaro 331 Arendt, Hannah  21, 181, 183, 224, 227, 244, 383, 394-395, 408-410 Argibay, Carmen María  331 Aristarain, Adolfo  139 Arns, Paolo Evaristo  96 Arrostito, Norma  119 Ashcroft, Bill   384-385, 426 Assmann, Aleida  20, 44, 67, 86-87, 268-270, 375, 424 Assmann, Jan  20, 53, 62-63, 86-87 Astiz, Alfredo  196, 340 Avelar, Idelber  49, 133 Avellaneda, Andrés  15, 21, 101, 133-135, 140-145, 147, 151, 153154, 162-163, 298, 325 Avellaneda, Nicolás  104-105 Ayala, Fernando  139 Balbín, Ricardo  305 Ballestrino de Careaga, Esther  196197, 303 547

Erinnerung und Intersektionalität

Balza, Martín  339-341, 351 Barth, Boris  231, 233-235 Bashier Nazar, Leyla  330 Batista, Fulgencio  96 Bauer, Yehuda  250 Bayer, Osvaldo  131, 140, 322, 439 Beauvoir, Simone de  38, 455 Becker, David  69-72 Benjamin, Walter  70 Bergero, Adriana  15, 76-77 Berni, Antonio   136 Bettelheim, Bruno  395 Beverley, John  373 Bhabha, Homi  70, 374 Bianchi, Marta  138 Bignone, Reynaldo  331, 340, 358 Bisquert, Jaquelina  283, 303, 313314, 318, 321, 346, 350, 356, 363 Bloch, Ernst  96 Boal, Augusto  96 Boff, Leonardo  96 Bohleber, Werner  73, 80, 86 Bolaño, Roberto  239 Bonafini, Hebe de  193-194, 200201, 203, 208-209, 288, 301, 304, 307, 315, 334, 336-338, 343-345, 352, 356, 358, 366 Bonaparte, Laura   138, 193 Bonasso, Miguel  13, 279, 351, 357 Borland, Elizabeth  204, 206, 208 Brunner, José  70 Bruzzone, Félix  13 Bruzzone, Gustavo  81 Bublitz, Hannelore  44-45 Burgos Debray, Elizabeth  373 Bussi, Domingo Antonio  259, 351 Bustos, Miguel Ángel 13 Butler, Judith  19, 34, 38, 40, 42-46, 48, 54, 409 548

Cabandié, Juan  363 Cabezas, José Luis  346 Cadena, Marisol de la  37 Calveiro, Pilar  17, 21, 23, 49, 80, 115-117, 120, 152, 170, 173-175, 179, 181-183, 185, 187-188, 190191, 212, 264, 270, 276-278, 372, 380, 390-400, 402-419, 435 Calvo de Laborde, Alicia  361 Cámpora, Héctor José  116, 292 Camps, Ramón  147, 161, 163, 186, 260, 298 Caparrós, Martín  13, 17, 65, 298, 364-365 Carcavallo, Francisco  143 Cardenal, Ernesto  96 Careaga, Ana María  176, 403 Carlés, Manuel  108 Carlotto, Estela de  198 Carneiro, Sueli  37, 155-156 Carreño, Omar  340 Carter, James  99, 197, 431 Cassirer, Ernst  57, 424 Castillo, Ana  35 Castillo, Hernán  138 Castillo, Ramón  103 Casullo, Nicolás  135, 138 Cavallo, Domingo  323, 354 Cavallo, Gabriel  331, 347 Centeno, Nora  208 Cerruti, Gabriela  321 Cerruti, María del Rosario de  204 Chalk, Frank  247 Chávez, Hugo  374 Chejfec, Sergio  13 Cheresky, Isidoro  60-61 Chojnacki, Sven  222-223 Cixous, Hélène  39, 41 Clausewitz, Carl von  219-220

Personenverzeichnis

Constantini, Humberto  13 Conte, Augusto  305 Conte, Gonzalo  173 Conte, Laura  71, 200 Conti, Haroldo  13, 139 Cornell, R. W.  41 Cortázar, Julio  131 Cortiñas, Nora de  200, 206 Crenshaw, Kimberlé  19, 36-37 Crenzel, Emilio  16, 62, 75, 81, 246, 271, 300, 304, 309, 390 Crespo, Juan José  107 Crespo, Julio  346 Curiel, Ochy  37 D’Alessio, Andrés  311, 317, 335 Daleo, Graciela  281 Dearriba, Alberto  131-132 Degele, Nina  19, 33-34 Deira, Ernesto   136 Dema, Pablo  463 Dema, Verónica  366 Derrida, Jacques  40, 57-58, 88 Diaconú, Alina  18-19 Diana, Marta  17, 120, 124, 126-127 Diner, Dan  73-75 Dobkowski, Michael N.  247 Domen, Alicia   196 Doria, Alejandro  139 Duarte de Perón, Eva (s.a. Evita)  102, 103, 454 Duguet, Léonie  196 Duhalde, Eduardo Alberto  347-348 Duhalde, Eduardo Luis  16, 116 Duhalde, Hilda  358 Dujovne Ortiz, Alicia  378 Dussel, Enrique  32, 96 Dussel, Inés  157 Eckel, Jan  74

Edelman, Lucila  62, 71, 82, 199200, 327 Eichmann, Adolf  227, 255, 409, 457 Eisenstaedt, Eva  459 Ellrich, Lutz  179-180, 184 Enríquez, Mariana  14 Epelbaum, Renée  200 Erll, Astrid  20, 44, 78, 84, 86 Etchecolatz, Miguel  186, 259, 331, 361 Ette, Ottmar  378 Evita (s.a. Duarte de Perón, Eva)  100-103, 118, 121, 207, 211, 454-455, 475 Fahey, Felicia Lynne  18 Fainstein, Graciela  23, 52, 182, 215, 372, 381, 390, 413, 419, 421, 424-425, 427-428, 430, 432-441 Falcón, Ramón  108-109 Feierstein, Daniel  76, 120, 257, 265-268 Feierstein, Ricardo  109 Feijóo, Cristina  330, 380 Feijóo, María del Carmen  155, 159 Feitlowitz, Marguerite  21, 149, 165-166, 178 Fénelon, Fania   384 Ferderber-Salz, Bertha  384 Fernández de Kirchner, Cristina  330 Fernández Meijide, Graciela  337, 350 Figueras, Marcelo  13 Filc, Judith  63-64, 81-82, 154, 158, 198, 202-203, 414 Fingueret, Manuela  19, 23, 372, 379, 442-446, 458, 460, 472 Firmenich, Mario  320 Flores, Julio  205, 306 549

Erinnerung und Intersektionalität

Fogwill, Rodolfo  13 Fonseca, Raúl  138 Forster, Ricardo  327 Foucault, Michel  42, 128, 153, 159161, 183-184, 220 Franco, Francisco  16, 103, 134, 377 Franco, Rubén Oscar  303 Freire, Paolo  96 Freud, Sigmund  38, 40, 69, 85, 203, 425, 428 Frondizi, Arturo  112 Fuchs, Jack  442-443, 447, 459-460 Fuchs, Ruth  16, 283-284 Fučík, Julius  440 Galeano, Eduardo  322 Galeano, Juan José  28 Galletti, Alfredo  301 Galli, Mario  298 Galtieri, Leopoldo F.  144, 217 Gamberro, Carlos  13 Gandhi, Mohandas   114 García Canclini, Néstor  50, 376 García Venturini, Jorge  151 García, Charly   137 García, Lucía  344-345 García, Raúl  137, 160, 164-165 Garella, Liliana  18 Gargallo, Francesca  38-39 Garzón Real, Baltasar  164, 228, 243, 256-259, 303, 314, 316-317, 348-349 Gatti, Gabriel  17, 53-54, 62, 72, 76, 82-83 Gelman, Juan  13, 138, 215, 322, 397-398 Gerlach, Christian  242, 247, 266, 456 Geuna, Graciela  183 Giardinelli, Mempo  13-14, 383 550

Giddens, Anthony  374 Gieco, León  137 Ginzberg, Victoria  55, 195, 199, 287, 352, 355, 357, 459 Ginzburg, Carlo  55-56 Gleyzer, Raimundo   138 Glissant, Édouard  462, 481 González Gartland, Carlos   138 Gorini, Ulises  193-196, 209, 301 Gorriarán Merlo, Enrique  318 Goulart, João  374 Graffigna, Omar  145, 147, 217 Gramp, Sven  83 Gramsci, Antonio  32 Griffiths, Gareth  384 Grosfoguel, Ramón  19, 32-33, 49-50 Guevara, Ernesto Che  28, 96, 100, 114-115, 122, 164, 292, 440, 467, 476, 484 Gurr, Ted  246-247 Gusmán, Luis  13 Gutheim, Federico  323 Gutierrez, Gustavo  96 Halbwachs, Maurice  52, 87 Haraway, Donna  19, 29-31 Harff, Barbara  47, 215, 233-237, 239, 242, 246-247 Harguindegui, Albano  156 Heidegger, Martin   57-58, 424 Heker, Liliana  131, 279, 378 Heredia, Victor  362 Herling, Gustaw  48, 230, 397 Highton, Elene  331 Hilberg, Raul  21, 151-152, 252-253 Hobsbawm, Eric  96-97, 129 hooks, bell  36, 384 Horowitz, Irving  249 Hueravillo, Emiliano  363

Personenverzeichnis

Hughes, Augusto  303 Huidobro, Norma  49, 181, 379 Illia, Arturo  112 Iommi, Enio  137 Ípola, Emilio de  399-400 Irigaray, Luce  39 Irigoyen, Hipólito  111 Isabel (s.a. María Estela Martínez de Perón)  350, 381 Isella, César  136 Izaguirre, Inés  248, 261-264 Jäger, Ludwig  20, 86-89 Jäger, Margarete  219 Jäger, Siegfried  219 Jelin, Elizabeth  17, 20, 52-53, 64, 78, 123, 155, 159, 332 Joeden-Forgey, Elisa von  252-255, 383-384 Jonassohn, Kurt  247 Jones, Adam  232, 237, 253-254, 260 Katz, Steven  249-250 Kerr, Judith  384 Kexel, Guillermo  205, 306 Kirchner, Néstor  202-203, 212, 217, 242, 259, 283, 289, 326-327, 330-331, 348, 350, 358-360, 362, 364, 368 Kiza, Ernesto  222 Klare, Michael  99, 204 Klemperer, Victor  148-149, 153, 294 Klinger, Cornelia  33, 118 Klüger, Ruth  48, 384 Knapp, Gudrun-Axeli  33 Kofman, Sarah  39 Kohan, Martín  13, 108, 161, 413, 461

Kordon, Diana  62, 71-72, 82, 199200, 255, 327 Koselleck, Reinhart  90-91, 406 Kozameh, Alicia  380 Krämer, Sybille  20, 56-60, 80-81, 89 Kristeva, Julia  39 Kucklick, Christoph  41 Kuper, Leo  245 Lacan, Jacques  39-40 LaCapra, Dominick  76 Lagarde y de los Ríos, Marcela  207 Lagos, Ricardo  240 Lambruschini, Armando  153, 217 Lami Dozo, Basilio  217 Lanata, Jorge  322 Lanteri, Julieta  101, 109 Lanusse, Alejandro  116 Laqueur, Thomas  38, 304 Laskier de Rus, Schejne María   459 Leal Buitrago, Francisco  98-99 Lemkin, Raphael  223-226, 228, 248, 260 Levene, Mark  150, 247, 250-251 Levi, Primo  48, 159, 188, 397 Lévinas, Emmanuel  57-58 Levingston, Roberto Marcelo  116 Lewin, Miriam  18, 133, 276 Lipszyc, David   139 List, Elisabeth  425-426 Longoni, Ana  81, 204-205, 279, 284 Lopez-Cabrales, María del Mar  18 Lorenz, Federico  332-333, 337, 344-345 Lorenzano, Sandra  15, 18, 76 Ludmer, Josefina  374, 402 Luther King, Martin  114 551

Erinnerung und Intersektionalität

Lvovich, Daniel  283, 303, 313-314, 318, 321, 346, 350, 356, 363 Lyotard, Jean-François  374, 424425 Macció, Rómulo   136 Magnacco, Jorge  286 Mallimaci, Fortunato  111, 146-147 Mántaras, Mirta  289, 293-294, 296, 350-351 Martí, Farabundo  240 Martínez de Hoz, José  145, 323 Martínez de Perón, María Estela  12, 262, 292, 485 Martínez, Paola  17, 117, 119-120, 125-126 Martínez, Tomás Eloy  13, 112 Martini, Juan  129, 461 Massera, Emilio  153-154, 156, 217, 305, 392 Mayer, Arno  148, 410 Maza, Emilio  121 Mellibovsky, Matilde  165-166, 193, 459 Mellibovsky, Sergio  204 Menchú, Rigoberta  373 Mende, Susanna  380, 462 Menem, Carlos  22, 28, 64-65, 68, 80, 217, 256, 259, 282-284, 289, 310, 318-320, 322-324, 326-331, 335-338, 343, 346-350, 354, 359, 365, 380, 456 Mercado, Tununa  32, 378 Mignolo, Walter  19, 32, 50, 374375, 385-386 Miguel, Lorenzo  308 Míguez, Pablo  347 Minujín, Marta  137 Mitre, Bartolomé  104, 307 Moisel, Claudia  74 552

Molina, Gregorio  272-273 Molloy, Sylvia  18, 113 Moraga, Cherríe  19, 31, 35 Morales, Evo  374 Morales, María Soledad  330 Morales Solá, Joaquín  360 Moreau de Justo, Alicia  101 Moreiras, Alberto  49, 53, 90, 388 Morin, Edgar  403 Morris, David B.  426 Moses, A. Dirk  244, 249-251 Mouffe, Chantal  206 Moyano, Hugo  351 Mugnolo, Juan Carlos  352 Murillo, Susana  326, 329, 354 Negroni, María  382 Niemöller, Martin  295 Noé, Luis Felipe   130, 136 Nora, Pierre  78 Novaro, Marcos  16, 295 O’Gorman, Camila  454 Oesterheld, Elsa  198 Oesterheld, Héctor Germán  136 Ollier, María  17, 115 Onganía, Juan Carlos  99, 112-113, 115-116, 134, 137, 484 Orphée, Elvira  378 Osorio, Elsa  382-383 Palermo, Vicente  16, 295 Partnoy, Alicia  380 Pascarelli, Hugo  147 Pastoriza, Lila  132, 167, 347, 362, 367-368, 402 Pauls, Alan  13 Pawlowski, Eduardo  13 Pella, Vespasian de  228 Peralta, Santiago  457 Pérez Esquivel, Adolfo  304-305, 322, 336

Personenverzeichnis

Perlongher, Néstor  13, 391 Perón, Juan Domingo  12, 100-104, 108, 112, 115-116, 118, 211, 292, 297, 449, 453-454, 456-457, 478, 484-485 Piazzolla, Carlos   136 Piglia, Ricardo  13, 133, 150, 215, 219, 397, 443 Pinochet, Augusto  239-240, 243, 256, 349 Plis-Sterenberg, Gustavo  13 Ponce de Bianco, María Eugenia   196, 303 Porter, Jack Nusan  245 Pozzi, Pablo  125 Prigione Greco, María Isabel  363 Pubill, Corinne  464, 469 Pussetto, Carlos  178 Radowitzky, Simón  109 Rafecas, Daniel  361 Ramus, Carlos  121 Reati, Fernando  15, 18, 400, 443, 481 Reiss, Johanna   384 Reyes, Roberto Francisco  163-164 Richard, Nelly  51, 60, 79, 288 Rico, Aldo  316 Ríos, Humberto   138 Rivera, Andrés  461 Rivera Cusicanqui, Silvia  19, 32, 37, 50 Riveros, Santiago Omar  351 Roa, Buscarita  198 Robbins, Jill  376-377 Robin, Marie-Monique  163 Roca, Julio Argentino  105, 109 Rodríguez, Ileana  122-123, 160 Rodríguez, Marcela  274 Rodríguez Molas, Ricardo  114, 160

Roffé, Reina  379 Roisinblit, Rosa  198 Romano Sued, Susana  371, 382 Romero, Óscar  96, 241 Rosenberg, Sara  181, 381-382 Rosetto, Cecilia  356 Rousseau, Jean-Jacques  224 Rozanski, Carlos  331 Rozitchner, León  290-291 Rummel, Rudolph  215, 233, 235, 237, 247 Rushdie, Salman  384 Russo, Sandra  354-355, 362 Sábato, Ernesto  139, 309, 390, 412 Saer, Juan José  13, 133 Sagastizábal, Patricia  181, 379 Saint Jean, Ibérico  11, 295 Salinas, Pablo Gabriel  62, 160-161 San Martín, José de  111, 291, 360 Sarlo, Beatriz  139, 399-400, 465 Sarmiento, Domingo Faustino  104 Saura, Carlos  138 Saussure, Ferdinand de  57 Schindel, Estela  15, 284, 304 Schmidt, Esteban  348 Schützenberger, Anne  446-447 Scilingo, Adolfo  152, 164, 259, 283-284, 302, 339-341 Segato, Rita  277-278, 280 Seineldín, Mohamed Alí  317 Semon, Richard  85 Semprún, Jorge  48, 439 Shelly, Lore  384 Shua, Ana María  149, 378 Sigal, Silvia  64, 100 Sillato, María del Carmen   62, 161, 381 Sivard, Ruth Leger  221 553

Erinnerung und Intersektionalität

Smulovitz, Katarina  315-319, 336, 341 Snow, Collin  54 Soriano, Osvaldo  13, 322 Sosa, Mercedes  136-137 Sousa Santos, Boaventura de  207 Spielberg, Steven  404 Spinetta, Luis Alberto   137 Spivak, Gayatri   32, 48, 54, 371, 384, 409 Strassera, Julio  227, 313-316, 359 Straßner, Veit  16, 239 Strejilevich, Nora  18, 77-78, 170, 381, 400 Suárez Mason, Guillermo  323 Suharto 234 Sutton, Barbara  328-330, 342-343, 472 Svampa, Maristella  120, 318, 324325, 327 Tarnopolsky, Sergio  298 Tato, Miguel Paulino  54, 138, 365, 480 Taylor, Diana  18, 203, 288 Theweleit, Klaus  275 Tiffin, Helen  384 Tinelli, Marcelo  328 Tizón, Héctor  13, 18 Todorov, Tzvetan  402, 417 Tokar, Elisa  18 Torres, Camilo  96 Truman, Harry  97-98 Ubaldini, Saúl  307-308 Uhl, Heidemarie  73-74 Uriburu, José Felix  177 Urondo, Paco  13 Vabres, Donnedieu de  228 Valenzuela, Luisa  19 Vance, Cyrus  197 554

Varsky, Carolina  276 Vega, Jorge de la  136 Verbitsky, Horacio  149, 164, 322, 347 Verón, Eliseo  100, 153 Verón, Marita  330 Vezzetti, Hugo  16, 74-75 Videla, Jorge Rafael  10, 195, 217, 285, 294, 297, 300-301, 305, 320, 322, 331, 358-359 Vilariño, Raul David  174 Vilas, Acdel  335 Villaflor, Azucena  195-197, 303 Villalba, Patricia  330 Viola, Roberto Eduardo  217 Wallerstein, Immanuel  250 Wallimann, Isidor  247 Walsh, María Elena  129 Walsh, Patricia  286, 364 Walsh, Rodolfo  13, 17, 121, 132, 248, 298-299, 331, 364, 402 Wang, Diana  444-445, 457, 460 Warburg, Aby  57 Warren, Mary Anne  253 Wernich, Christian von  149, 259 Wieviorka, Annette  255 Winker, Gabriele  19, 33-34 Wittig, Monique  39 Zaffaroni, Eugenio Raúl  107, 160, 331 Žižek, Slavoj 39, 184

Mainzer Historische Kulturwissenschaften Benjamin Conrad, Lisa Bicknell (Hg.) Stadtgeschichten – Beiträge zur Kulturgeschichte osteuropäischer Städte von Prag bis Baku März 2016, ca. 330 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 36,99 €, ISBN 978-3-8376-3274-3

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