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German Pages 122 Year 2020
Julian Franke Erfahrungswelten
Architektur Denken 13
Architektur Denken
Architekturtheorie und Ästhetik
Herausgeber: Jörg H. Gleiter, Berlin Beirat: Nathalie Bredella, Berlin
Tim Kammasch, Bern Dietrich Neumann, Providence (RI)
Julian Franke
Erfahrungswelten Wahrnehmung und Imagination der Architektur
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de/ abrufbar. © 2020 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung & Innenlayout: Philipp Heinlein, Berlin Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar
ISBN (Print) 978-3-8376-5353 -3 ISBN (PDF) 978-3-8394-5353-7 https://doi.org/10.14361/9783839453537 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt
7 Vorbereitung – Architektur als Theorielabor
Acht Architekturerfahrungen 23 Tastende Blicke Vorstellungen und Sinne am Pariser Platz
33 Möglichkeitsräume Zeichen des Zerfalls am Forum Willy Brandt
43 Interpretationsketten Typologische Assoziationen an der Komischen Oper
53 Abschattungen Imaginäre Vervollständigung der Friedrichstraße
63 Aus-sich-Heraustreten Mentales Spazieren durch die Humboldt-Universität
73 Zweite Funktionen Konnotationen am Bebelplatz
83 Leere Hülle Dreidimensionale Bilder der Bauakademie
93 Verschleierung Realität und Fiktion am Humboldt Forum
103 Reflexion – Die Zeitlichkeit der Architektur 111 Literaturverzeichnis 116 Bildnachweise
„ Die Arbeit an der Philosophie ist – wie vielfach die Arbeit der Architektur – eigentlich mehr die Arbeit an Einem selbst. An der eignen Auffassung. Daran, wie man die Dinge sieht. (Und was man von ihnen verlangt).“ 1 Ludwig Wittgenstein
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Vorbereitung
Architektur als Theorielabor In der Architekturtheorie und besonders in der Architekturphilosophie ist es von großer Bedeutung, nicht nur historische und theoretische Aspekte der Architekturpraxis zu hinterfragen, sondern vor allem auch solche der Architekturrezeption. Im alltäglichen Leben begegnen wir zahlreichen Bauwerken und nehmen diese bewusst oder unbewusst wahr, während wir uns im städtischen Raum bewegen. Dabei nehmen unsere Sinne die Reize der Umwelt auf, wir verarbeiten diese und erzeugen mit unseren Interpretationen Bedeutungen. Der Wahrnehmungsprozess ist komplex und besteht aus zahlreichen Aspekten und Bewusstseinsebenen. Wir erschließen uns unsere gebaute Umwelt nicht nur mit unseren Sinnen anhand von Sinnesreizen, sondern auch intellektuell anhand von architektonischen Zeichen. Weder der Fokus auf die leibliche Wahrnehmung und die uns umgebenden Phänomene (Phänomenologie), noch der Umgang mit der auf sprachlichen und gebauten Zeichen basierenden Referenzialität (Semiotik) können jedoch die Beziehung zwischen dem wahrnehmenden Subjekt und dem wahrgenommenen architektonischen Objekt ausreichend erklären. Zusätzlich muss vor allem die Rolle unserer Vorstellungskraft, der Imagination, und des damit zusammenhängenden anschaulichen Denkens betrachtet werden. So werden neben Werken zur Architektursemiotik sowie zur sinnlichen und leiblichen Wahrnehmung insbesondere auch Werke über Bildtheorie und Imagination bedeutend. Spätestens seit Ende des 20. Jahrhunderts sind zahlreiche ausführliche Arbeiten mit Definitionen und Untersuchungen zur Bildlichkeit und zu physischen und mentalen Bildern entstanden. Hierbei sind unter anderem die Autoren W.J.T. Mitchell oder
Architektur als Theorielabor
speziell im deutschsprachigen Raum Gottfried Boehm, Hans Belting, Klaus Sachs-Hombach oder Lambert Wiesing zu nennen. Zur Imagination haben insbesondere Jean-Paul Sartre, Rudolf Arnheim oder Edmund Husserl seit dem frühen 20. Jahrhundert zentrale Beiträge geleistet, auf die im Weiteren exemplarisch eingegangen werden soll. Diese fachübergreifenden Werke können durch eine Anwendung auf die Thematik des imaginierenden Architekturbewusstseins vielversprechende Relationen herstellen. Der Architekturdiskurs wird damit um immaterielle und bildliche Ebenen sowie philosophische und psychologische Inhalte erweitert. Dieser Band behandelt die Rolle der Imagination im menschlichen Architekturbewusstsein und damit die direkten Zusammenhänge mit unserer sinnlichen Wahrnehmung (Ästhetik), dem Denken und Erkennen (Intellekt), der Interpretation von Zeichen (Semiotik), den Stimmungen und Emotionen (Psychologie) sowie der Anschauung des Wesens der Dinge (Phänomenologie). Dabei wird auf dem Zitat Jörg Gleiters aufgebaut, dass Architekturerfahrung „aus einer Kombination sinnlicher Perzeption und gedanklicher Apperzeption [besteht]. Das heißt, dass Architektur immer Gegenstand einer Vorstellungs- und Bewusstseinsbildung ist, die über das aktuell sinnlich Wahrnehmbare hinausgeht.“ 2 Es wird untersucht, inwiefern wir in der Wahrnehmung imaginative Inhalte wie Erinnerungen und Erfahrungen durch zuvor gemachte Wahrnehmungen mit den aktuellen Sinnesreizen abgleichen und verbinden. Alles muss für uns in der Wahrnehmung Sinn ergeben und somit etwas assoziieren. So formuliert die Psychologin Alexandra Abel: „Um etwas wahrzunehmen, so dass es tatsächlich dem Begreifen in irgendeiner Form zugänglich ist, ob als Wort, als Ahnung, als Eindruck, muss man eine Vorstellung davon besitzen.“ 3 Der Begriff der Erfahrungswelten gewinnt im Kontext der Wahrnehmung und Imagination der Architektur an Bedeutung. Wir bringen unsere subjektiven und intersubjektiven Erfahrungen stets imaginär in die Anschauung mit ein, weshalb unser Zugang zur gebauten Umwelt stets gefiltert oder erweitert wird. Es wird deutlich, dass wir in zahlreichen Welten leben, von denen wir zum einen umgeben sind, und die wir zum anderen gleichzeitig selbst erzeugen. Der Titel Erfahrungswelten bezieht sich darüber hinaus auf den Titel Interpretationswelten von Günter Abel. Dieser behandelt die Bedeutung der Interpretationen von Sprach- und Zeichen-
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prozessen. Sie seien entscheidend für das menschliche Weltverständnis, das stets von perspektivischem und interpretatorischem Charakter sei. Abels Werk kann somit als Fortsetzung des Buches Weisen der Welterzeugung von Nelson Goodman verstanden werden. Durch die Erforschung unserer Erfahrungswelten wird in diesem Buch der perspektivische und interpretatorische Charakter unserer von Vorstellungen geprägten Wahrnehmung im Kontext der Architekturrezeption verdeutlicht. Es soll hier der Hypothese nachgegangen werden, dass sowohl das Bildliche als auch das Imaginative als anthropologische Aspekte an jedem der verschiedenen Wahrnehmungsebenen beteiligt sind. Darüber hinaus werden die Aspekte als die entscheidenden Bindeglieder zwischen den Ebenen und damit als Grundlage jeder Wahrnehmung angenommen. So können traditionelle wissenschaftliche Trennungen wie zum Beispiel von Wahrnehmung und Vorstellung, Phänomenologie und Semiotik oder Realität und Fiktion im Architekturbewusstsein überwunden werden. Dieser erkenntnistheoretische Ansatz soll zu einer Erweiterung der strengen und enggefassten Wissenschaften sowie derer Methoden führen. Wissenschaftliche Ansätze wie die der Phänomenologie oder Semiotik untersuchen Aspekte der Wahrnehmung meist unter künstlichen ‚Laborbedingungen‘, wobei reale Zustände und Einflüsse zur Bekräftigung der Thesen ausgeklammert werden. Es werden oftmals unzusammenhängende Beispiele herangezogen, um die theoretischen Ansätze nachträglich zu untermauern. Architekturwahrnehmung findet jedoch nicht unter solchen künstlichen Bedingungen, sondern aus einem ununterbrochenen Fluss aus verschiedenen Einflüssen und Perspektiven statt. Deshalb muss es zu Erweiterungen einzelner Disziplinen und zu interdisziplinären Betrachtungen kommen, wie es beispielsweise in der Architektursemiotik nach Gleiter durch eine phänomenologische Erweiterung der Fall ist. Außerdem müssen Kenntnisse im Umgang mit der Wahrnehmung nicht von separaten Einzelbeispielen, sondern von einem zusammenhängenden Wahrnehmungsfluss hergeleitet werden. Erfahrungen und Wissen über die Wahrnehmung der Architektur können nicht hinreichend aus Büchern, Zeichnungen, Fotografien oder sonstigen Darstellungsmöglichkeiten gezogen werden. Gerade deshalb ist es notwendig, sich in Momente tatsächlicher Wahrnehmung zu begeben, um die Möglichkeit für Entdeckungen
Architektur als Theorielabor
zu schaffen. Wenn die Anschauung der Architektur zum Thema gemacht wird, muss von konkreten Anschauungen selbst ausgegangen werden. So können nicht nur theoretische Modelle und Definitionen des Architekturbewusstseins konstruiert, sondern auch anschauliche Modelle von der Architekturrezeption hergeleitet werden. Um solche Entdeckungen oder Erforschungen zu ermöglichen, wird im Rahmen dieses Buches der Berliner Stadtraum erkundet und reflektierend betrachtet. Somit behandelt das Buch die Architektur und den urbanen Raum als Experimentierfeld bzw. als Theorielabor. In den 1970er Jahren wurde von dem Soziologen Lucius Burckhardt an der Universität Kassel die Spaziergangswissenschaft – Promenadologie – entwickelt. Sie wurde vor allem in der Stadtund Landschaftsplanung angewandt. Diese Wissenschaft wurde ins Leben gerufen, „da man bestimmte Erkenntnisse aus Büchern nicht vermitteln kann.“ 4 Dabei ging es um ein Entdecken und ein Aufdecken von soziologischen, städtebaulichen und landschaftsgestalterischen Problemen sowie um die „Schulung der Wahrnehmung unbeachteter gesellschaftlicher Zusammenhänge.“ 5 Es wurden Spaziergänge unter Titeln wie Die Fahrt nach Tahiti oder das ZEBRA streifen durchgeführt. Diese wurden zunächst detailliert vorbereitet, wobei Hypothesen aufgestellt wurden, die schließlich vor Ort überprüft werden sollten. Anlass war es unter anderem, dass die Akteure eine „Verhässlichung der Umwelt und die Zerstörung der Landschaft“ 6 beklagten. Durch den Fokus auf das Spazieren werden in der Spaziergangswissenschaft die betrachteten Orte nicht als Ziele angesteuert. Vielmehr geht es um den ‚Weg als Ziel‘ und den Prozess der Wahrnehmung auf den Wegen zu bestimmten Architekturen, Parks und Landschaften. Der Spazierweg sei vor allem deshalb wichtig, weil wir nicht wie Fallschirmspringer wahrnehmen, die an bestimmten Orten landen, sondern bereits während der promenadologischen Annäherung. 7 Außerdem war den Spaziergangswissenschaftlern bewusst, dass der Mensch nur in Ausnahmefällen etwas wahrzunehmen vermag, „was ihm nicht schon bildhaft oder literarisch vermittelt ist. Diese kulturelle Vermittlung ist in der Regel eine Anleitung zur Selektion, also zur Ausfilterung von Eindrücken.“ 8 Es lässt sich mit Burckhardt zusammenfassen:
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„ Die Spaziergangswissenschaft ist also ein Instrument sowohl der Sichtbarmachung bisher verborgener Teile des Environments als auch ein Instrument der Kritik der konventionellen Wahrnehmung selbst. Wir möchten zeigen, daß wir diese Instrumente sowohl auf städtische wie auch auf ländliche Environments angewandt haben und erkenntnismäßige Resultate hervorbrachten.“ 9 Es ging Burckhardt demnach nicht nur um das Entdecken und Erforschen, sondern vor allem auch darum, Aufmerksamkeit für die Missstände zu erregen. Neben der Sichtbarmachung dessen, was vom Städter nicht mehr wahrgenommen wird, sollten außerdem mit sowohl künstlerischen als auch ironischen Ansätzen provokante Aussagen in Form von Aktionen, Happenings oder Installationen getroffen werden. Die Spaziergangswissenschaft wurde auch nach dem Tode Burckhardts noch durchgeführt – unter anderem von seinem damaligen Schüler Martin Schmitz gemeinsam mit Studierenden. Es werden Gemeinsamkeiten mit dem Vorhaben dieses Buches ersichtlich, unsere Wahrnehmung und Erfahrungswelten anhand des Stadtraums zu erforschen. Es unterscheiden sich jedoch die Absicht sowie die Umsetzung, weshalb die in diesem Buch verwendete Methode nicht als Teil der besagten Spaziergangswissenschaft nach Burckhardt gelten soll. Im Unterschied zu Burckhardts Ansätzen soll es nämlich nicht um die Bewertung von (Stadt-) Landschaften oder um das Aufdecken planerischer Probleme sowie soziologischer Missstände gehen. Stattdessen liegt der Fokus auf dem Entdecken von Ebenen und Eigenschaften des Architekturbewusstseins, also auf der Wahrnehmung selbst, mit einem Schwerpunkt auf der Imagination. Es geht also weniger um die materiellen, physischen Dinge an sich, als vielmehr um das Verhältnis von materiellen Eigenschaften der Dinge und immateriellen Anschauungsbildern, Interpretationen und Imaginationen der Rezipienten10. Eine weitere Abgrenzung stellt das Vorgehen dar. Für die Erforschung im Stadtraum werden in diesem Buch keine detaillierten Vorbereitungen getroffen und der Ort der Untersuchung wird vorab noch nicht thematisch behandelt. Erst vor Ort werden relevante Aspekte festgestellt, die gegebenenfalls nicht hervorzusehen waren. Es kommt darüber hinaus nicht zu Aktionen oder künstlerischen Handlungen. Die Spaziergänge Burckhardts sollten „einen eindrücklichen Charakter haben und auch ein Erlebnis vermit-
Architektur als Theorielabor
teln.“ 11 Diese Art von Erlebnis oder eine mediale Beachtung durch provokante Handlungen sind ebenfalls nicht vorgesehen. Durch die Betrachtung der Architektur und des Stadtraums als Theorielabor ist es möglich, theoretische Aspekte der Architekturrezeption von tatsächlichen Anschauungen herzuleiten. So wird vom Konkreten ausgegangen und daran das Allgemeine erkannt. Für diese Herangehensweise kann der Medienphilosoph Vilém Flusser mit dessen Werk Dinge und Undinge – Phänomenologische Skizzen herangezogen werden. Diese Arbeit ist relevant, weil Flusser nicht Theorien aufstellt und diese nach und nach mit anschaulichen Beispielen untermauert, sondern von Alltagsgegenständen ausgeht und von der Betrachtung dieser her Theorien entwickelt. In sechzehn Kapiteln leitet Flusser jeweils von Gegenständen wie Flaschen, Stöcken oder Teppichen philosophische Kulturtheorien ab. Es entstehen dabei ungeahnte Zusammenhänge und neue Blickwinkel auf die betrachteten Objekte. In seinem Vorgehen gibt es jedoch weder eine zusammenhängende Wahrnehmung der Gegenstände, die sich an verschiedenen Orten befinden oder lediglich gedacht sind, noch einen Fokus auf spezifische Themen des wahrnehmenden Bewusstseins. Deshalb ist auch Flussers Text zwar einflussreich und inspirierend, bedarf jedoch einer Neuausrichtung für die Absichten dieses Buches. Sowohl bezüglich des Vorgehens vom Konkreten zum Allgemeinen wie auch in Bezug auf die Architektur als experimentelles Theoriefeld kann der Kunsttheoretiker Bazon Brock genannt werden. Mit seinem „Lustmarsch durchs Theoriegelände“ und dem damit verbundenen Aufruf „Musealisiert Euch!“ hat Brock Ausstellungen in elf Museen mit jeweils elf Installationen, Alltagsgegenständen oder Erinnerungsstücken durchgeführt. Brock persönlich hat dabei die Rolle des beispielgebenden Betrachters eingenommen, der die Besucher durch die Objekte geführt hat. Dabei ging es Brock vor allem um imaginative Verknüpfungen, inspiriert von der Tradition des Memorialtheaters. „Damit bezeichnete man Architekturen des Gedächtnisses in Einheit von Erinnerung und Vorstellung. Es galt, die Gedächtniskunst zu erweitern.“ 12 Somit ging es Brock nicht um einen tatsächlichen Marsch oder Spaziergang, sondern vor allem um ein imaginäres Durchschreiten theoretischer Felder im musealen Kontext. So entstanden nach Brock „architektonische Gedächtnisräume“, die auch als „Theoriegelände“ bezeichnet werden können. 13 Die „theoretischen“ oder
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„kognitiven“ Objekte der Ausstellung dienten als Werkzeuge der Theoriebildung, welche „die Vermittlung von Denken, Vorstellen und Darstellen erleichtern sollen.“ 14 Es wird deutlich, dass wir auch diese methodischen Ansätze als Vorbilder betrachten können. Vor allem ist hervorzuheben, dass Brock die Rolle der Imagination für unser kulturelles und künstlerisches Weltverstehen behandelt und die Theorie als Praxis betrachtet, nämlich als Rezeptionspraxis.15 Auch in diesem Buch wird die Theorie im Kontext der Architekturerfahrungen als Rezeptionspraxis verstanden. Im Gegensatz zu Brocks Werk geht es dabei jedoch um eine tatsächliche Durchwegung gebauter, urbaner Räume als Theoriegelände bzw. Theorielabor. Darüber hinaus geschieht dies nicht im musealen oder künstlerischen Kontext. Dieses Buch schildert nicht nur Wahrnehmungen konkreter, architektonischer Situationen, sondern behandelt die Architektur und Architekturwahrnehmung auch philosophisch reflektierend. Somit werden nicht nur Entdeckungen gemacht, sondern diese auch eingeordnet und mit philosophischen Aspekten im Rahmen des Architekturbewusstseins in Beziehung gesetzt. Dabei geht es nicht primär um die Wahrnehmung aus Architektensicht. Die Wahrnehmung von Laien wird ebenso berücksichtigt, wobei die Erkenntnisse aufgrund der individuellen Vorkenntnisse und Interessen variieren können. Dadurch wird deutlich, dass nicht nur der entwerfende Architekt die gebaute Umwelt prägt, sondern dass jeder Rezipient auf seine persönliche Weise die Welt für sich entwirft. Es geht jedoch nicht um eine psychologische Analyse oder Einstufung des wahrnehmenden Subjekts. Als Weg für die Erforschung unserer Wahrnehmung im Stadtraum dient die Straße Unter den Linden im Zentrum Berlins. Seit Mitte des 17. Jahrhunderts erstreckt sich die Prachtstraße als befestigter Weg und von Bäumen gesäumt über eine Strecke von ca. 1,5 km vom Brandenburger Tor bis zur Schlossbrücke am Spreekanal. Sowohl die zu gehende Distanz, die klare Definition einer Strecke mit Start- und Endpunkt sowie die kulturell-historische Relevanz des Ortes haben zu der Wahl der Straße als Experimentierfeld geführt. Der Ort verspricht viele wahrnehmungsmäßig und promenadologisch relevante Eindrücke. Dieser Boulevard ist zahlreichen Menschen mindestens als Name, aber in vielen Fällen auch basierend auf tatsächlichen Erfahrungen vor Ort bekannt. Dieses Buch verdeutlicht jedoch, dass auch die Orte, die vermeintlich als
Architektur als Theorielabor
bekannt erscheinen, durch neue Sichtweisen, Entdeckungen und Fokusse unvorhergesehene Eindrücke offenbaren können. Ein Spaziergang ist Burckhardt zufolge eine Sequenz, „eine Kette, eine Perlenschnur mit ausdrucksstärkeren und dann wieder ausdrucksschwächeren, immer aber wirksamen Passagen, die unsere Wahrnehmung synthetisiert.“ 16 Es wird sich zeigen, dass auch der Weg über die Straße Unter den Linden Eigenschaften einer solchen Perlenkette aufweist, indem sich einige markante Orte und damit Stationen herausstellen. Der Hauptteil dieses Buches lädt den Leser dazu ein, den Erzähler auf seinem Weg über die Straße Unter den Linden zu begleiten. In acht Kapiteln werden acht Entdeckungen, Perspektiven oder Erfahrungen an acht Stationen des Weges erfahrbar. Diese Stationen wurden nicht schon im Voraus ausgewählt oder bewusst aufgesucht. Sie ergeben sich auf verschiedene Weise, indem sie aufgrund bestimmter Eigenschaften die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Sie regen zum längeren Innehalten und Reflektieren an und betreffen unterschiedliche Bewusstseinsebenen mit jeweiligem Fokus auf das Verhältnis von Wahrnehmung und Imagination. Der Leser wird zu Beginn in das Geschehen hineingeworfen und findet sich auf dem Pariser Platz wieder. Hier ergibt sich ein Fokus auf vorhandene und fehlende sinnliche Reize. Es wird erkennbar, dass wir sinnliche Erfahrungen abspeichern und sie in folgenden Wahrnehmungen imaginativ in die Objekte hineinprojizieren oder uns in diese hineinfühlen. Auf dem Weg in Richtung Humboldt Forum, dem ehemaligen Stadtschloss, wird als nächstes eine große Baulücke entdeckt. Anhand dieses Ortes werden indexikalische architektonische Zeichen erkennbar, die vom Abriss und Zerfall berichten sowie die zeitliche Dimension der Architektur offenbaren. Daraufhin sind an einem weiteren Bauwerk problematische Aspekte von Assoziationen und Interpretationen erfahrbar. So erscheint ein Gebäude und dessen Funktion im Stadtbild als beinahe undefinierbar und wird erst durch das Entdecken des zugehörigen Logos bestimmt. Als vierte Station stellt sich die Friedrichstraße heraus, an der zum einen Erinnerungsbilder in den Fokus der Aufmerksamkeit rücken, und zum anderen das Phänomen des „Mitbewussthabens“ nach Edmund Husserl erfahrbar wird. Danach führt der Weg weiter in Richtung des Forum Fridericianum, wo wir das Hauptgebäude der Humboldt-Universität entdecken. Aufgrund der persönlichen Bindung des Erzählers bzw. des Rezipienten zum
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Bauwerk ist es diesem möglich, sich mental in das Gebäude hineinzuversetzen und es imaginativ zu begehen. Auf der anderen Seite des Universitätsgebäudes betrachten wir die St. Hedwigs-Kathedrale. Es kommen Assoziationen mit einem antiken Gebäude in Rom auf, woraufhin die symbolische Funktion der Architektur erläutert wird. Danach führt der Weg zur Schlossbrücke, von wo der Blick auf die Attrappe der Bauakademie von Karl Friedrich Schinkel fällt. Hier können wir Probleme des dreidimensionalen Abbilds und den Modellcharakter des Gebildes erkunden. Als letzte Station stellt sich das Humboldt Forum heraus, an dem weitere interpretatorische und assoziative Fragestellungen aufkommen, die dem Betrachter das Verhältnis von Realität und Fiktion offenbaren. Außerdem können an dem Bauwerk die bis dahin gemachten Erfahrungen erneut nachempfunden werden. Die abschließende Reflexion fasst die gemachten Eindrücke und Erkenntnisse des Weges zusammen und bewertet das methodische Vorgehen im Berliner Stadtraum. Auch zeigt sie auf, inwiefern die Thematik des imaginierenden Bewusstseins weiter behandelt werden kann und warum es auch für die Architekturpraxis von großer Bedeutung ist. Anmerkungen 1
Ludwig Wittgenstein, Werkausgabe Band 8. Bemerkungen über die Farben. Über Gewißheit. Zettel. Vermischte Bemerkungen, hrsg. von G. E. M. Anscombe u. Georg Henrik von Wright, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1984, S. 472.
2
Jörg. H. Gleiter, „Präsenz der Zeichen. Vorüberlegungen zu einer phänomenologischen Semiotik der Architektur“, in: Jörg H. Gleiter (Hg.), Symptom Design. Vom Zeigen und Sich-Zeigen der Dinge, Bielefeld: transcript Verlag 2014, S. 150.
3
Alexandra Abel, „Architektur und Aufmerksamkeit“, in: Alexandra Abel u. Bernd Rudolf (Hg.), Architektur wahrnehmen, Bielefeld: transcript Verlag 2018, S. 28.
4
Lucius Burckhardt, Warum ist Landschaft schön?: Die Spaziergangswissenschaft, hrsg. von Martin Ritter u. Martin Schmitz, Berlin: Martin Schmitz Verlag 2006, S. 7.
5
Ebd., S. 324.
6
Ebd., S. 251.
7
Vgl. ebd.
8
Ebd., S. 257.
Architektur als Theorielabor
9
Ebd., S. 265.
10 Mit Nennung der männlichen Funktionsbezeichnung ist in diesem Buch, sofern nicht anders gekennzeichnet, immer auch die weibliche Form mitgemeint. 11 Burckhardt, 2006, S. 324. 12 Bazon Brock, Lustmarsch durchs Theoriegelände – Musealisiert Euch!, Köln: DuMont 2008, S. 38. 13 Vgl. ebd., S. 39. 14 Ebd., S. 49. 15 Vgl. ebd., S. 51. 16 Burckhardt, 2006, S. 330.
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Acht Architekturerfahrungen
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„ Das Sehen [...] ist kein passives Aufzeichnen von Reizmaterial, sondern eine aktive Betätigung der Seele.“ 1 Rudolf Arnheim
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Tastende Blicke – Vorstellungen und Sinne am Pariser Platz Die tiefstehende Nachmittagssonne des Spätherbstes fällt durch das Brandenburger Tor und wirft helle Streifen auf den weitgehend verschatteten Platz. Mit starrem Blick fokussiere ich eine kleine Gruppe von Jugendlichen, die sich lachend vor einer Kamera positionieren. Auf Spanisch geben sich die vier Anweisungen – es ist nicht die einzige Fremdsprache, die ich an diesem Ort auffange. Eine seichte Brise weht kühle Tropfen einer Fontäne in meinen Nacken. Das gleichmäßige Rauschen des Wassers umgibt mich von hinten und breitet sich über den Platz aus. Es überdeckt die einzelnen Stimmen und durchbricht die trügerische Stille wie angenehme Hintergrundmusik. Halb wahrnehmend, halb in Gedanken versunken, verfolge ich das Treiben um mich herum. Von dieser kalten, unbequemen Parkbank aus erscheint mir der Platz wie eine Bühne. Monotone Gebäude rahmen den Platz und bilden die Kulissen. Auch ein Fernsehteam baut seine Kameras auf – sie werden diesen Ort in wenigen Momenten in die Nation aussenden. Ein fernes Grummeln ertönt und zieht meine Aufmerksamkeit auf sich. Mit ansteigender Lautstärke scheint die Quelle des Klangs mit rasender Geschwindigkeit näher zu kommen. Ein unterschwelliges Vibrieren durchzieht den Boden und überträgt sich auf meine Füße und über die hölzerne Sitzfläche in meinen Körper. Die Berliner Unterwelt gibt ein Zeichen von sich. Ich stelle mir vor, wie ratternde Waggons den historischen Untergrund durchstoßen. Noch vor wenigen Minuten habe auch ich diesen Weg genommen. So fern und nicht ersichtlich, und dennoch bin ich mit der versteckten Parallelwelt sinnlich verbunden. Überirdisch kreuzen Ströme aus Passanten und Radfahrern die Wege der Bahn. In der Ferne beobachte ich einzelne Taxis und Busse, die vor dem Platz wenden.
Tastende Blicke
Die Motoren der Fahrzeuge und die Klingeln der Fahrräder bilden gemeinsam mit dem Brunnen ein Orchester, das sich für ein Konzert einstimmt. Die Blicke der Passanten sind in eine Richtung gewandt. Ihre Aufmerksamkeit gilt vor allem einem Bauwerk. Die Kulisse des Platzes, die Gebäude um die Sehenswürdigkeit herum, scheinen für sie keine besondere Rolle zu spielen. Überwiegend rationale, sandsteinfarbene Lochfassaden prägen diesen Ort. Auf türkisenen Kupferdächern wehen Fahnen verschiedener Nationen. Vor allem Bankgebäude und Botschaften säumen den Platz. Der öffentliche Raum ist von nicht-öffentlichen Bauten umgeben. Ich erkenne kein öffentliches Leben, keine Aufenthaltsqualitäten. Anstelle von Restaurants und Außenterrassen dominieren Absperrungen und bewaffnete Wachleute meine Umgebung. Die Atmosphäre ist geprägt durch Respekt und emotionale Kühle. Dieser Ort ist jedoch auf eines ausgelegt: Auf das Seherlebnis. Die moderne Architektur ist mit den Worten des finnischen Architekten Juhani Pallasmaa „überwiegend im Intellekt und im Auge zu Hause.“ Es sei ihr „aber nicht gelungen, auch dem Körper und den anderen Sinnen sowie unseren Erinnerungen, Fantasien und Träumen eine Heimat zu geben.“ 2 Ohne die Reize, die meine anderen Sinne betreffen könnten, verarmt meine Wahrnehmung. Nicht die sinnlichen Qualitäten der Architektur, sondern das Fehlen dieser regt hingegen mein Vorstellungsvermögen an. Ich stelle mir vor, wie die Atmosphäre des Platzes auch anders sein könnte. Ein zentraler Ort, an dem Gerüche von warmen Speisen in der Luft liegen. Das Klimpern von Besteck und klirrende Gläser, die beim Anstoßen der Gäste erklingen. Spielende Kinder, die umherlaufen, den Platz in ein Sportfeld verwandeln und lachend die Wasserfontänen umgeben. Ich kann mir die Szenen zwar bildlich vorstellen, doch erscheinen sie mir gleichzeitig unvorstellbar. Die Historie hat diesen Ort determiniert. Einstige barocke Adelspalais, die preußische Ordnung, Zerstörungen im Krieg, eine Grenzzone während der Teilung und repräsentative Bauten in der heutigen Zeit bestimmen das Wesen des Ortes. Der Platz ist nicht frei wandelbar, wie es mir meine Imagination erlaubt. Die sitzende, ruhende Haltung meines Körpers ermöglicht mir einen größeren Fokus auf meine sinnliche Wahrnehmung. In mir, in meinem wahrnehmenden Leib, verspüre ich eine Geborgenheit, während ich mich auf Klänge, Temperaturen oder Gerüche
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konzentriere. Für Peter Zumthor gilt „der Körper als Zuflucht in einer Welt, die von künstlichen Zeichen des Lebens verstellt zu sein scheint.“ 3 Auf der Parkbank neben mir hat ein junges Paar Platz genommen. Neben ihnen sitzt ein alter Herr mit grauem Haar und einer Pfeife im Mund, die einen süßen Duft ausstößt. Auch sie scheinen Gefallen darin zu finden, ein passiver Teil des Geschehens zu sein und dem Schauspiel zuzusehen. Die Lust am Sehen, die Lust am Beobachten, wie Voyeure im Stadtraum. Meine Blicke werden gelenkt, sie werden von verschiedenen Reizen angezogen. Auffällige Bewegungen der Menschen, Qualitäten und Quantitäten meiner Umgebung werfen mich in meiner Aufmerksamkeit wild umher. ‚Angezogene Blicke‘ und ‚ins Auge fallende Qualitäten‘: Auf den menschlichen Blick beziehen wir zahlreiche Metaphern. Sie scheinen alle eine äußere Kraft zu verbildlichen, die hinter dem Einfluss auf unseren Sehsinn zu stecken scheinen. Kräfte, die wir nur selten kontrollieren können, die jedoch uns und unsere Wahrnehmung kontrollieren. Mal wird uns der Zugang zu bestimmten Dingen ermöglicht, mal wird er uns verwehrt. Heute sind es andere Details, die mir ins Auge fallen, verglichen mit meinem ersten Besuch an diesem Ort. Meine Interessen und mein Wissen haben sich weiterentwickelt und so auch mein Zugang zu den sinnlichen Reizen. Mein Wissen bestimmt, welchen Dingen meiner Umgebung ich erlaube, meinen Blick auf sich zu ziehen. Während ich beim ersten Mal die Anzahl der Pferde der Quadriga gezählt habe, so gilt meine Aufmerksamkeit heute dem Eisernen Kreuz in den Händen der Siegesgöttin Viktoria. Ich habe zwischenzeitlich gelernt, dass es sich um eine Rekonstruktion eines Kreuzes handelt, das ursprünglich im 19. Jahrhundert nach Plänen von Karl Friedrich Schinkel angefertigt wurde. Erst durch das Erlangen dieses Wissens ist das Kreuz für mich relevant geworden. Erst jetzt wird aus einem peripheren Sinnesreiz, den es auch schon zuvor gab, eine bewusste sinnliche Wahrnehmung. Die Sinne und das Wissen bilden im Intellekt eine nicht trennbare Einheit. „Das Hören, das Sehen und der Geruch sind Fernsinne.“ 4 Damit verdeutlicht der Medientheoretiker und Kunstpsychologe Rudolf Arnheim, dass wir die räumliche Distanz zwischen den Dingen und unserem Leib mithilfe einiger Sinne überbrücken können. Auch wenn ich nicht an ein Gebäude herantreten kann, so vermag ich es doch mit meinen Augen zu berühren. Von der Quadriga ablas-
Tastende Blicke
send wandert mein Blick an der Frontseite des Brandenburger Tors hinunter zu einem Fries aus Triglyphen und Metopen. Wie bei einem antiken Tempel ist der Fries über und unter den Triglyphen mit kleinen Tropfen, den Guttae versehen. Mit den Augen ertaste ich diese Strukturen und Unebenheiten aus Stein. Auch die Reliefs, die Geschichten des Krieges erzählen, sowie die Fugen und Kanneluren der Säulen werden von meinen Blicken berührt. Auch ohne meinen Tastsinn einzusetzen, erschließe ich mir Oberflächenqualitäten des Bauwerks und seiner Materialität über den Sehsinn. Paul Klopfer zufolge wird aus dem Sehen „ein tastendes Wandern mit den Augen, eine Arbeit, die, je nachdem der Blick auf mehr oder weniger Hemmungen stößt, glatt oder schwierig vor sich geht, und die bei großen Hemmungen [...] sogar aufgehalten werden kann.“ 5 Ich erkenne glatte Steine und raue patinierte Kupferbleche. Die Steine, die im Sonnenlicht liegen, kann ich mir wärmer vorstellen als diejenigen, die sich im Schatten befinden. Schon der Philosoph George Berkeley vertrat die Ansicht, dass der Sehsinn den Tastsinn benötige, um Eigenschaften wie „Festigkeit, Widerstand und Plastizität“ als Erfahrung zu ermöglichen.6 Gemachte sinnliche Erfahrungen werden abgespeichert und bilden die Grundlage für noch folgende Wahrnehmungen. Wir legen dabei unsere Erfahrungen, unsere Erinnerungen und unser Wissen imaginativ in die Objekte hinein. Aus dem lediglich Sinnesreize aufnehmenden Auge wird so das intellektuelle Auge. Dieses verdeutlicht die Verknüpfung von Visualität und Kognition. Erst so ist es ein „stellvertretendes Fühlen durch die Augen.“ 7 Das stellvertretende Fühlen kann mit Autoren wie Robert Vischer oder Theodor Lipps auch als Einfühlen bezeichnet werden. Im Sinne der Einfühlungstheorie legen wir immer etwas von uns selbst in die Objekte der Wahrnehmung hinein. So schreibt Lipps: „ Zweifellos ist die ästhetische Betrachtung eines Objektes [...] eine Betrachtung des Objektes mit allem dem, was für uns in ihm liegt, d.h. von uns in dasselbe eingefühlt ist. Und das in das Objekt von uns Eingefühlte ist immer in erster Linie unsere Tätigkeit.“ 8 Dabei handelt es sich neben der körperlichen Tätigkeit der Sinneswahrnehmung vor allem um eine geistige Tätigkeit. Lipps formuliert weiter: Es „muß die geistige Tätigkeit, um die körperliche zu wecken, da sein, und sie muß in unserem Falle da sein [...] in der
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Säule; sie muß in dieselben, da sie eben doch geistige Tätigkeit ist, also ein subjektives Moment, eingefühlt sein. Es ist also auch hier die Einfühlung Voraussetzung für die Wirkung des Objektes.“ 9 Mit dieser emphatischen Haltung zu einem Objekt wie einer Säule können wir sowohl ihre haptischen, materiellen Eigenschaften wie auch ihre tragenden Eigenschaften erkennen und verstehen. Doch nicht nur der Tastsinn ist im Zusammenhang mit dem Sehsinn von Bedeutung. Wir können beispielsweise auch Vorstellungen von Gerüchen oder Geräuschen haben. Wir können eine Oberfläche sehen und dessen Klangeigenschaften erahnen, weil wir durch unsere auditiven Erfahrungen gelernt haben, dass bestimmte Oberflächenstrukturen bestimmte Schalleigenschaften besitzen. Was ich einst ertastet, gehört oder gerochen habe, kann ich in meiner Vorstellung erneut ertasten, hören oder riechen. Allerdings auf limitierte und ungenaue Weise. Es handelt sich nur noch um Abdrücke der einstigen Wahrnehmungen. Wenn Rezipienten im Laufe ihres Lebens nur wenige oder einseitige Erfahrungen mit der sinnlichen Wahrnehmung gemacht haben, können passende Vorstellungen nicht oder nur schwer erzeugt werden. Durch das reduzierte sinnliche Gedächtnis verarmt auch notwendigerweise die Wahrnehmung. Der Farbforscher Axel Buether führt dies wie folgt weiter: „Wir sehen, hören, tasten, spüren, riechen, schmecken daher immer auch das, was wir bereits vom Objekt oder Sachverhalt wissen. Die räumliche und zeitliche Wahrnehmung unserer Lebenswirklichkeit beinhaltet in jedem Moment die komplette Ereigniskette unserer Existenz in der Umwelt.“ 10 Mit den Worten Arnheims muss folglich festgehalten werden, dass ein Wahrnehmungsakt niemals isoliert ist: „ Er ist nur die jüngste Phase eines Ablaufs unendlich vieler ähnlicher Akte, die in der Vergangenheit ausgeführt wurden und im Gedächtnis fortleben. Und ebenso werden zukünftige Wahrnehmungen von den gegenwärtigen vorgeformt. Die Wahrnehmung muß in diesem weiteren Sinne auch die Vorstellungsbilder und deren Beziehungen zu direkten Sinneserfahrungen mitenthalten.“ 11 Jean-Paul Sartre verdeutlicht in seinem Werk zum Imaginären, dass wir in den Vorstellungen nur das vorfinden können, was wir einst durch die Wahrnehmung aufgenommen haben. „Die Vorstellung (image mentale) dagegen lehrt nichts; das ist das Prinzip der
Tastende Blicke
Quasi-Beobachtung. Man darf nicht annehmen, daß eine Vorstellung unser Wissen auf irgendeine Art präzisiert, da es ja gerade dieses Wissen ist, durch das sie konstituiert wird.“ 12 Diese Aussage weist auf das Problem hin, dass wir beim Einfühlen und Vorstellen von Eigenschaften der Dinge lediglich Hypothesen aufstellen. Das stellvertretende Fühlen durch die Augen kann nicht zu dem Erkenntnisgewinn führen, den uns das reale Fühlen liefern kann. Diese Qualitäten sind der Wahrnehmung vorbehalten. Dennoch sind die Hypothesen wichtiger Bestandteil der Wahrnehmung im Rahmen des anschaulichen Denkens. Es sind hypothetische Annahmen, auf denen basierend weiter gehandelt wird. Damit ähneln sie den „heuristischen Fiktionen“ nach Immanuel Kant. Diese ebenfalls problematisch gedachten Annahmen sind nicht mit einem sicheren Wissen zu vergleichen und doch Hilfsmittel auf dem Wege zu weiterer Erkenntnis. Immanuel Kant spricht dabei von den Hypothesen der reinen Vernunft, durch die wir uns Dingen annähern, ohne dass wir auf eine fundierte Basis aufbauen. Es sind Annahmen, die durch kein Erfahrungsgesetz gestählt seien.13 Jörg Gleiter zufolge ist „die Architektur in ihrer Raumdinglichkeit [...] immer Gegenstand von Interpretationen, Protentionen und Retentionen, also der imaginativen Vorwegnahme des Nochnicht-Gesehenen anhand anderweitig gemachter Erfahrungen.“ 14 Dieser Satz kann im Rahmen der sinnlichen Wahrnehmung ergänzt werden, sodass es auch um das Noch-nicht-Gehörte, -Gefühlte und -Gerochene geht. Unsere Wahrnehmungen bauen also auf individuellen Erfahrungen und vagen Annahmen auf. Dabei vergessen wir meist, dass es sich um keine absolute Gültigkeit handelt. Ein leichtes Schütteln durchzieht meinen Körper, der sich nach Wärme sehnt. Ich erhebe mich von der Bank und richte meinen Mantel. In der Mitte des Platzes werfe ich einen letzten Blick auf das Brandenburger Tor und durch dieses hindurch auf die Siegessäule. In entgegengesetzter Richtung kann ich über die Bäume der Straße Unter den Linden hinweg das rote Rathaus, den Berliner Alexanderturm sowie die funkelnde Fassade des ehemaligen Stadtschlosses erkennen. Von diesem Anblick magisch angezogen mache ich die ersten Schritte meines Weges.
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Anmerkungen 1
Rudolf Arnheim, Anschauliches Denken. Zur Einheit von Bild und Begriff [1972], Köln: DuMont Buchverlag 1980, S. 45.
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Juhani Pallasmaa, Die Augen der Haut. Architektur und die Sinne [2005], übersetzt von Andreas Wutz, Los Angeles: Atara Press 2013, S. 24.
3
Peter Zumthor, Architektur denken [1998], Basel: Birkhäuser 2010, S. 58.
4 5
Arnheim, 1980, S. 27. Paul Klopfer, „Das räumliche Sehen“, in: Thomas Friedrich u. Jörg H. Gleiter (Hg.), Einfühlung und phänomenologische Reduktion. Grundlagentexte zu Architektur, Design und Kunst, Münster: LIT Verlag 2007, S. 150.
6 7
Pallasmaa, 2013, S. 53. Alexandra Abel, „Architektur und Aufmerksamkeit“, in: Alexandra Abel u. Bernd Rudolf (Hg.), Architektur wahrnehmen, Bielefeld: transcript Verlag 2018, S. 36.
8
Theodor Lipps, „Das Wesen der Einfühlung und die Assoziation“, in: Friedrich u. Gleiter, 2007, S. 147.
9
Ebd., S. 144.
10 Axel Buether, „Die Sprache des Raums“, in: Abel u. Rudolf, 2018, S. 62. 11 Arnheim, 1980, S. 84. 12 Jean-Paul Sartre, Das Imaginäre. Phänomenologische Psychologie der Einbildungskraft [1971], Hamburg: Rowohlt Verlag 1994, S. 139. 13 „Die gedachten Hypothesen aber sind nur problematische Urtheile, die wenigstens nicht widerlegt, obgleich freilich durch nichts bewiesen werden können, und sind also reine Privatmeinungen, können aber doch nicht füglich [...] gegen sich regende Scrupel entbehrt werden. In dieser Qualität aber muß man sie erhalten und ja sorgfältig verhüren, daß sie nicht als an sich selbst beglaubigt und von einiger absoluten Gültigkeit auftreten und die Vernunft unter Erdichtungen und Blendwerken ersäufen.“ Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft [1787], II. Transscendentale Methodenlehre, Erstes Hauptstück, Dritter Abschnitt, Köln: Anaconda 2011, S. 619. 14 Jörg. H. Gleiter, „Präsenz der Zeichen. Vorüberlegungen zu einer phänomenologischen Semiotik der Architektur“, in: Jörg H. Gleiter (Hg.), Symptom Design. Vom Zeigen und Sich-Zeigen der Dinge, Bielefeld: transcript Verlag 2014, S. 149 f.
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„ Die Leere sehen heißt, etwas in eine Wahrnehmung aufnehmen, das in sie hineingehört, aber abwesend ist; es heißt, die Abwesenheit des Fehlenden als eine Eigenschaft des Gegenwärtigen sehen.“ 1 Rudolf Arnheim
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Möglichkeitsräume – Zeichen des Zerfalls am Forum Willy Brandt Ich bewege mich durch eine dichte Gasse aus Bäumen. Die Baumkronen richten sich auf einen Fluchtpunkt am fernen Horizont. Es kommt mir so vor, als bewegte ich mich durch ein Gemälde, das mithilfe der Zentralperspektive gemalt wurde. Der gleichmäßige Rhythmus der Baumstämme führt mich. Einzelne gelb verfärbte Blätter fallen mit dem Wind still hernieder und bedecken die Mittelinsel der Straße Unter den Linden. Ein leichtes Knirschen der feinen Kieselsteine unter meinen Füßen begleitet jeden meiner Schritte. Unzählige Bänke säumen den Weg. Sie werden so wenig genutzt, wie die Tische und Stühle des kleinen Imbisses, den ich soeben passiere. Ich werde auf zwei Seiten von lärmenden Autos und Reisebussen umgeben. Nur eine Handvoll Passanten bewegt sich mit mir über diese Mittelachse. Die meisten Menschen flanieren entlang der Schaufenster der Cafés und Souvenirshops, die sich im Erdgeschoss aneinanderreihen. Durch die Baumstämme hindurch kann ich die unteren Etagen der Bauwerke erkennen. Auch sie bilden eine kilometerlange, geradeaus verlaufende Schlucht. In nur wenigen Metern Entfernung wird genau diese geschlossene Straßenfront durch eine enorme Lücke aufgesprengt. Ein fehlendes Bauteil, ein Fehler im System. Hier scheint erst kürzlich ein Bauwerk abgerissen worden zu sein. Zum Bürgersteig schotten geschlossene Holztafeln das sportplatzgroße Grundstück ab. Die Bauzäune verwehren den Blick auf das Geschehen dahinter. Kampf und Leid, so lautet eine große rote Überschrift auf der ersten von zahlreichen an den Zäunen hängenden Infotafeln. Es wurde eine öffentliche Ausstellung eingerichtet, ein Pfad der Erinnerung in Gedenken an die polnischen Bürgerinnen und Bürger während des zweiten Weltkriegs. Von
Möglichkeitsräume
der Mittelinsel aus kann ich den weiteren Text nicht lesen. Stattdessen versuche ich Einblicke auf das zu bebauende Grundstück zu erhaschen. Riesige kahle Wände ohne Öffnungen umgeben das freie Feld. Die Brandwände weisen jedoch verschieden verputzte Flächen auf. Diese Stellen zeigen mir an, dass es dort einst Öffnungen gegeben hat. Ebenso ist erkennbar, an welchen Stellen die abgerissenen Nachbargebäude an die Brandwände angeschlossen haben. Es bieten sich mir Zeichen, die von der Vergangenheit des Ortes sprechen. Sie erzählen eine Geschichte und sind Symbole des Wandels. Eine zeitliche Dimension tut sich auf, die nicht nur die Vergangenheit und Gegenwart offenbart. Die Brandwände sind gleichzeitig Ausdruck eines Potenzials für die Zukunft. An diesen Wänden können die neuen Bauten anschließen. Flächen, die darauf warten, in das Neue mit eingebunden zu werden. Hier sind Freiräume und damit Chancen entstanden – ein Ort voller Möglichkeitsräume. Nach vielen Jahren des Verstecktseins tauchen nun die Hinterhäuser auf. Lange mussten sie im Schatten ihres verschwundenen Nachbarn verharren. Jetzt ist ihre Zeit gekommen, auch einmal im warmen Sonnenlicht zu erstrahlen und durchzuatmen. So lange, wie dieser Anblick von der Straße aus unmöglich war, so lange wird er auch in Zukunft nicht mehr möglich sein. Sobald die Baulücke wieder geschlossen wird, verlieren sie sich erneut in der vergessenen Welt der Hinterhöfe. Mein aktueller Anblick ist lediglich eine Momentaufnahme. Am Ende des Bauzauns gelange ich zu dem angrenzenden Nachbargebäude. Ein fünfgeschossiger Bau, dessen Fassade aus einem gleichmäßigen Raster aus Rahmenplatten besteht. Jeder Rahmen ist identisch ausgefüllt mit einem Fenster, einem Sonnenschutz mit Verblendung und einem Brüstungsfeld aus grün-bläulichen Mosaiken. Die Farbe des weiß getünchten Betons blättert ab. Die Glasscheiben weisen gräuliche Schlieren auf, einige der Lamellen hängen schief und geknickt vor den Fenstern. Meine Blicke fallen durch das Glas hindurch auf eine gespenstische Leere im Innern, die von Leblosigkeit berichtet. Im Erdgeschoss sind Reste der bereits abgebauten Ausstellungen des Forum Willy Brandt zu sehen. Das Gebäude weist zahlreiche Verletzungen der Außenhaut auf. In diese Wunden kann ich hineinblicken und den inneren Aufbau der Wände erkennen. Ich sehe offenliegende Ziegel, die rot wie das Fleisch eines Körpers erscheinen. Es bietet sich mir
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ein trauriger Anblick des Zerfalls. Das Gebäude steht verletzt als Opfer der Zeit und des kulturellen und politischen Wandels. Der Zerfall eines Bauwerks, der Zerfall einer Epoche, der Zerfall eines Zeitzeugen, der für einen weiteren Abriss bereitsteht. Die Spuren und freiliegenden Teile offenbaren die Zusammensetzung der Architektur. Sie ist stets ein aus Einzelteilen künstlich errichtetes Ganzes. Eine Einheit aus zahlreichen verschiedenen Materialien und Bauteilen. Architektur ist ein Ergebnis menschlicher Produktion und kein Zufallsprodukt. Sie ist keine natürlich oder zufällig entstandene räumliche Skulptur wie eine Höhle. Jörg Gleiter verdeutlicht, dass die Architektur immer ein System ist, dem somit ein Gemacht- und Gedacht-Sein zugrunde liegt.2 Jedes konkrete Objekt durchläuft einen Entstehungsprozess, der retrospektiv zurückverfolgt werden kann. Die architektonischen Zeichen können an Details, Eigenschaften des Materials, an der Konstruktion oder im Verhältnis zum Kontext abgelesen werden. Gleiter erläutert hierzu, dass das architektonische Zeichen „als Gewordenes, das sein Gewordensein zeigt, [...] ein symptomatisches Zeichen [ist], insofern es rückblickend Symptom seines Gemachtseins ist.“ 3 Wir können uns dies durch genaues Beobachten, Erforschen und Lesen der Gebäude und Gefüge erschließen. In den Momenten des Bauens sowie des Zerfalls offenbaren sich sogar Zeichen, die im intakten Zustand verdeckt wären. Diese symptomatischen Zeichen und Spuren der Architektur sind indexikalische Zeichen. Die Indexikalität basiert auf einer realen, kausalen Beziehung zwischen einem Objekt als Zeichenträger und einem Zweiten, auf das es Bezug nimmt. Diese konkrete, direkte Verbindung kann als Verweisfunktion betrachtet werden. Die Materialität und Syntax eines Gebäudes sind im Kontext der Indexikalität besonders wichtig und sind für die Anwendbarkeit auf die Architektur von großer Bedeutung. Die Zeichen der Gebäude verweisen nicht nur auf ihr Gemachtsein oder menschliche Handlungen, sondern auch auf klimatische Bedingungen oder sonstige physische Einwirkungen. Beispiele dafür sind moosige Spuren aufgrund der Witterung oder eine Patina an Kupferflächen. Die schräg hängenden Lamellen vor meinen Augen können beispielsweise auf den Wind verweisen, der ihnen zugesetzt hat. Über diese Verweisfunktion von Zuständen oder materiellen Eigenschaften werden neben gegenwärtigen Einflüssen vor allem auch vergan-
Möglichkeitsräume
gene angezeigt. Die architektonischen Zeichen zeigen also immer ein Vergangenes an, das im Gegenwärtigen erfahrbar ist. An einem Gerüst entdecke ich ein übergroßes Bauplakat, das mir zeigt, wie die Baulücke zukünftig geschlossen werden soll. Eine großformatige perspektivische Visualisierung zeigt ein rational gerastertes Gebäude. Das Bauwerk wird neben einigen sommerlich grünen Bäumen bei strahlend blauem Himmel dargestellt. Passanten laufen vor dem Bauwerk entlang, die Stimmung erscheint aufgeheitert. Die Perspektive enthält die konstruierte Ansicht eines imaginären Passanten auf dem Bürgersteig. Dieser Blick wird von den Betrachtern des Plakats übernommen. Ein kleiner Text verkündet, dass hier die neue polnische Botschaft errichtet wird. Meiner Wahrnehmung bietet sich ein Abbild von etwas, das es nicht gibt – das es noch nicht gibt. Dennoch kann ich es sehen, erkennen und einordnen. Ich nehme ein Plakat mit fiktivem Inhalt wahr, doch in meiner Vorstellung erscheint ein fertiger Bau, als würde es ihn bereits geben. Es ist ein Blick auf eine große bedruckte Folie und doch auch ein Blick in die Zukunft. Sartre zufolge ist ein Bild etwas Unreales ohne Qualitäten, das erst durch die menschlichen Erfahrungen, die der Betrachter imaginär in das Bild hineinprojiziert, Eigenschaften und Qualitäten zugesprochen bekommt. Und somit wird es erst durch den Betrachter belebt.4 Auch ich belebe dieses Plakat. Aufgrund meines Wissens und meiner Erfahrungen kann ich in dieser Visualisierung Inhalte wie Fenster und Lampen, aber auch den Himmel sowie die Bäume erkennen. Mir fallen insbesondere architektonische Konstruktionen und Details auf. Andere Passanten oder Laien fokussieren eventuell mehr die vermittelte Atmosphäre und das abstrakte Fassadenraster. Jedes Bild enthält Aussagen, die erst interpretiert werden müssen und somit uneindeutig sind. Ferdinand Fellmann zeigt die Vieldeutigkeit auf und bezieht sich auf den gängigen Satz ‚ein Bild sagt mehr als tausend Worte.‘ Zu Recht ergänzt er: „Es sagt aber nie genau das, was man sagen will.“ 5 Hierin liegt die Schwierigkeit für diejenigen, die mit ihren Visualisierungen bestimmte Aussagen treffen möchten. Bilder sind unpräzise, können nur sehr schwer konkrete Aussagen oder Definitionen hervorbringen. Sie sind von den Betrachtern abhängig. Das irreale, abgebildete Objekt auf dem Bauplakat spricht nicht von einem Haus, „wie es ist, sondern vom Haus, wie es sich mir in Abwesenheit darstellt. Dazu bedarf es
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der Phantasie als der Fähigkeit, im Realen (einem Stück Papier) etwas Irreales (ein Bild) zu erkennen.“ 6 Durch diese Fähigkeit, sich auch Abwesende oder nichtexistierende Dinge vorstellen zu können, beleben wir Bilder. Die Bilder ermöglichen es uns damit, mehr zu sehen, als das, was da ist. Der Philosoph Lambert Wiesing weist darauf hin, dass „eine Welt ohne Bilder auch jenseits aller Erkenntnis- und Wissensverluste ärmer [wäre]: Man könnte nur sehen, was auch wirklich ist, und alles Abwesende wäre zur Unsichtbarkeit verurteilt.“ 7 In der Architektur ist es essentiell, sich mit dem (noch) nicht Existierenden zu beschäftigen. Dazu müssen Modelle, Zeichnungen und Visualisierungen erstellt werden. Sie dienen dazu, zwischen einer potenziellen realen Welt und der aktuellen Vorstellungswelt der Entwürfe und Ideen zu vermitteln. So gibt es einen regen Austausch zwischen den auf Papier gebrachten Abbildungen und den Bildern der eigenen Vorstellungen. Eine Gemeinsamkeit der physischen Bilder und der Vorstellungsbilder verdeutlicht Wiesing wie folgt: „Die Dinge, von denen man beim Denken und beim Bildbetrachten ein Bewusstsein besitzt, sind so gesehen gänzlich physikfrei: Ein gedachter Gegenstand wird genauso wenig älter wie ein dargestellter Gegenstand.“ 8 Wenn wir also ein Bild betrachten, so führt uns unser Blick in eine physiklose, imaginäre Welt. Wir betrachten nicht den physikalischen Bildträger, die Tinte des Drucks oder die unebene Struktur des leicht gewellten Untergrunds. Wir sehen nicht eine nur wenige Millimeter dicke Folie, sondern blicken in eine hunderte Meter tiefe Landschaft. Wir betrachten nicht verschiedene Farbpigmente an einem herbstlichen Tag, sondern den heiteren Himmel eines Sommertages. Dieses Bewusstsein, mit dem wir das Dargestellte und Immaterielle betrachten, ist das Bildbewusstsein. Es „hat mit der Wahrnehmung die Anschaulichkeit einer konkreten Sache und mit dem Denken die imaginäre Irrealität des intentionalen Objektes gemeinsam.“ 9 Die dargestellte Irrealität zeigt sich uns jedoch als eine vermeintliche Realität an. Sie kann uns vereinnahmen, unsere Gefühle, Wünsche und Haltungen beeinflussen. So nehmen Visualisierungen auch Einfluss auf unsere Entscheidungen. Diese prägen letztlich eine physische Welt, entstammen jedoch einer physiklosen Welt. Wir laufen in der Architekturgestaltung Gefahr, die zukünftigen realen Eigenschaften im Planungsprozess nicht hinlänglich zu überprüfen. Hierzu sind neben den Visualisierungen vor allem physi-
Möglichkeitsräume
sche Modelle in verschiedenen Maßstäben sowie Materialproben notwendig. Sie offenbaren die Möglichkeiten und Einschränkungen des Real-Physischen. Aufgrund der Freiheit der immateriellen Vorstellungswelt und der physiklosen Bilder schwelgen wir in einer Leichtigkeit. Wir fühlen uns frei, vor allem aufgrund der individuellen Bemächtigung, die Bilder gemäß unserer Fantasie zu beleben. Und doch sind wir gefangen in ihnen. Wir lassen uns täuschen. Unsere Vorstellung ist limitierter als sie uns erscheint. Auf dem Plakat wird wohl niemand einen düsteren verregneten Wintertag hineindeuten. Die internen Strukturen des Bildes weisen Ähnlichkeiten mit Strukturen der realen Welt auf, die wir als Abdrücke unserer Erfahrungen abgespeichert haben. Im Bildbewusstsein bewegen wir uns stets im Rahmen unserer gesammelten Erfahrungsbilder. Somit können in Bildern absichtlich Sachverhalte dargestellt werden, mit denen bestimmte Interpretationen wahrscheinlicher sind als andere. Bestimmte Aussagen können vermittelt werden, indem das Beleben durch den Betrachter determiniert wird. William J. Thomas Mitchell erläutert, dass uns ein Bild täuschen kann, wenn es „sich trügerisch im Gewand von Natürlichkeit und Transparenz präsentiert, hinter der sich aber ein [...] Prozeß ideologischer Mystifikation verbirgt.“ 10 Das im Bild Gesehene muss somit reflektiert werden. Welche Inhalte des Bildes sind relevant, welche Inhalte können bestimmte Reaktionen oder Interpretationen in den Betrachtern hervorrufen? Was sagt die irreale Welt des Bildes tatsächlich über die reale Welt aus? Vor allem in der Architektur muss reflektiert werden, inwiefern die Inhalte eines Bildes die reale physische Welt angemessen widerspiegeln können. Bei vielen Darstellungen geht es hingegen nur um Effekte, welche die Vorstellung anregen sollen. Der immateriellen Welt der Darstellungen fehlen genau die entdeckten physischen, materiellen, indexikalischen Zeichen, die für die Architektur so relevant sind. Ein stechender Lärm aus quietschenden Reifen und einem aufdringlichen Hupen lässt mich zusammenzucken. Meine Aufmerksamkeit lässt schlagartig von dem Bauplakat ab. Unmittelbar folgen verärgerte Rufe von zwei Passanten, die mit dem Kopf schütteln. Ich wende mich von der Baustelle ab und setze meinen Weg mit langsamen Schritten fort.
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Anmerkungen 1
Rudolf Arnheim, Anschauliches Denken. Zur Einheit von Bild und Begriff [1972], Köln: DuMont Buchverlag 1980, S. 92.
2
Vgl. Jörg Gleiter: „Nicht nur zeigt die Architektur an, wie sie gebraucht werden kann, sondern darüber hinaus auch, wie sie gemacht und wie sie gedacht ist.“ Jörg H. Gleiter, „Intellektualität der Wahrnehmung oder Wovon die Architektur spricht. Grundlinien einer Theorie der Sichtbarkeit der Architektur“, in: Sebastian Feldhusen u. Ute Poerschke (Hg.), Theorie der Architektur. Zeitgenössische Positionen, Reihe Bauwelt Fundamente 161, Basel: Birkhäuser Verlag 2017, S. 215.
3
Jörg. H. Gleiter, „Präsenz der Zeichen. Vorüberlegungen zu einer phänomenologischen Semiotik der Architektur“, in: Jörg H. Gleiter (Hg.), Symptom Design. Vom Zeigen und Sich-Zeigen der Dinge, Bielefeld: transcript Verlag 2014, S. 167.
4
Vgl. Juhani Pallasmaa, The Embodied Image. Imagination and Imagery in Architecture, Chichester: John Wiley & Sons Ltd 2011, S. 70.
5
Ferdinand Fellmann, „Wovon sprechen die Bilder? Aspekte der Bild-Semantik“, in: Birgit Recki u. Lambert Wiesing (Hg.), Bild und Reflexion. Paradigmen und Perspektiven gegenwärtiger Ästhetik, Lindenberg: Fink 1997, S. 149.
6 7
Ebd., S. 150. Lambert Wiesing, Die Sichtbarkeit des Bildes. Geschichte und Perspektiven der formalen Ästhetik [1997], Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 2008, S. 24.
8
Lambert Wiesing, „Denken mit Bildern. Das virtuelle Gedankenexperiment“, in: Barbara Naumann u. Edgar Pankow (Hg.), BilderDenken. Bildlichkeit und Argumentation, München: Wilhelm Fink Verlag 2004, S. 236.
9
Ebd., S. 237.
10 William J. Thomas Mitchell, Bildtheorie, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2008, S. 18.
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„ Das Wissen hat sich meinen Bewegungen inkorporiert und leitet sie: jetzt weiß ich, wie ich sie zu Ende bringen muß, ich weiß, was ich finden soll.“ 1 Jean-Paul Sartre
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Interpretationsketten – Typologische Assoziationen an der Komischen Oper Mein Weg über die Mittelinsel wird unterbrochen. Eine Straße verläuft quer durch den Boulevard. An der Kreuzung angelangt wird mir nicht erlaubt, die Straße geradewegs zu überqueren. Es sind keine Fußgängerampeln vorhanden, die mich geradeaus über die Kreuzung führen könnten. Ich muss einen Umweg nehmen und den mittleren Streifen in Richtung der Bürgersteige verlassen. An einer roten Ampel wartend werfe ich einen Blick schräg hinüber auf die andere Straßenseite. Ein Bauwerk fällt mir unmittelbar ins Auge, das ich so schnell nicht einzuordnen weiß. Zuerst nehme ich einen großen Kubus wahr. Das Volumen ist zirka zwanzig Meter hoch und beinahe ebenso lang und breit. Dieser gewaltige Körper zeigt sich nackt ohne eine Fassadenverkleidung. Er steht in rohem Beton und ohne Öffnungen da. Lediglich die zu mir gewandte Gebäudekante ist in einem grauen Farbton angestrichen. Auf einer Seite erkenne ich neun fenstergroße Abdrücke in der Wand. Es scheint, als hätte es an diesen Stellen einst Öffnungen gegeben, die nachträglich zugemauert und verputzt wurden. Der Baukörper ragt mittig aus einem Gebäudekomplex mit vier Etagen heraus. Dieser umschließende Komplex weist im Gegenteil zum Kubus zahlreiche kleine Fenster auf. Auch hat es eine Verkleidung aus sandfarbenen Steinplatten. Um das Gebäude herum parken mehrere Autos. Einige von ihnen stehen hinter einem Metalltor, das den Weg hinter das Gebäude versperrt. Eine Tür, eine Nische oder ein Vordach, das mir einen Eingang anzeigen könnte, kann ich nicht entdecken. Offenbar handelt es sich um die Rückseite des Gebäudes. Aus meiner Perspektive werden nur wenige Informationen erkenntlich. Die Funktion des Bauwerks ist für mich weiterhin nicht ablesbar. Mein Zugang zu ihm ist limitiert. Dennoch kommen
Interpretationsketten
erste Assoziationen mit dem rohen Betonkubus auf. Ich stelle mir vor, dass es sich um einen Hochbunker handeln könnte. Der verschlossene und massive Baukörper aus rohem Beton strahlt die nötige Stabilität aus. Ich überlege, ob es an dieser Stelle einen weiteren Bunker geben könnte, von dessen Existenz ich bislang noch nichts erfahren habe. Doch der umliegende Gebäudekomplex verwirrt mich in meiner Assoziation. Der streng funktionale Bau, mit Gardinen und Pflanzen hinter den Fenstern, erscheint mir wie ein Verwaltungsgebäude. Doch auch diese Assoziation lässt sich nicht mit dem zweiten Element, dem Kubus, vereinen. Auch habe ich Vorstellungsbilder einer Justizvollzugsanstalt im Kopf. Eine Kombination aus Absperrungen, Massivität und Verwaltungsräumen. Allerdings erlaubt mir der Kontext meiner Wahrnehmung, die Straße Unter den Linden im Zentrum Berlins, diese Annahme nicht. Eine korrekte Interpretation des Gebäudes anhand meiner Wahrnehmung erscheint beinahe unmöglich. Ich entdecke weitere Merkmale. Eine Brücke, die eine Verbindung über den Hinterhof bis an eine benachbarte fünfgeschossige Scheibe bildet. Ich entdecke Ähnlichkeiten, gemeinsame Eigenschaften mit anderen Bauwerken, die ich einst gesehen habe. Ich betrachte Teile des Gebäudes und gleiche das Gesehene mit meinem Vorwissen ab. Mal fokussiere ich die Fenster, mal die Fassadenplatten, mal die brutalen Wände des Kubus. In meiner Vorstellung blättere ich durch einen Katalog gesammelter Erfahrungen mit Fenstern, Fassadenplatten und Betonflächen sowie deren Kontexten. Wenn ich Gemeinsamkeiten und Ähnlichkeiten entdecke, entwickle ich daraus Assoziationen. Mit jedem Vergleich, mit jeder Assoziation wird meine Wahrnehmung beeinflusst. Das Bauwerk scheint sich dadurch ebenfalls zu ändern. Ludwig Wittgenstein hat sich mit dieser Erfahrung umfänglich beschäftigt: „Ich sehe, daß es sich nicht geändert hat; und sehe es doch anders. 2 Diese Erfahrung nenne ich ‚das Bemerken eines Aspekts‘.“ Während ich das Gebäude betrachte, fallen mir nach und nach mehr und verschiedene Aspekte auf. Jeder entdeckte Aspekt ändert meine Interpretation. Da sich das reale Bauwerk nicht so sprunghaft verändern kann, müssen die Änderungen in der Imagination gesucht werden. Wir können unsere Umwelt „einmal als das eine, einmal als das andere Ding sehen. – Wir deuten sie also, und sehen sie, wie wir sie deuten.“ 3 Diese Aussage von Wittgenstein können wir auch auf die
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Wahrnehmung von Bauwerken und architektonischen Elementen beziehen. Zum einen können wir unsere Blicke bewusst lenken, zum anderen werden wir unterbewusst gelenkt. So werden unterschiedliche Aspekte fokussiert und in unsere Deutungen einbezogen. Dieses deutende Sehen ist unmittelbar mit unserer Vorstellungskraft verknüpft. „Das Sehen des Aspekts und das Vorstellen unterstehen dem Willen. Es gibt den Befehl ‚Stell dir das vor!‘ und den ‚Sieh die Figur jetzt so!‘.“ 4 Dadurch sind die Anschauungen sehr persönlich und können sich kurzfristig oder langfristig dynamisch verändern. Wittgenstein nennt dieses sich wandelnde Sehen anhand verschiedener Aspekte auch das „Sehen als“. Der Philosoph Gunter Gebauer weist darauf hin, dass das Subjekt „mit dem Sehen als [...] gleichsam die Initiative [ergreift]; es befindet sich hier in einer handelnden und schöpferischen Rolle.“ 5 Wir sind somit stets Schöpfer und Gestalter unserer eigenen Wirklichkeit. Unsere gemachten Erfahrungen fließen mittels unserer Vorstellung in unsere Interpretationen und Assoziationen ein. Beim Lesen eines Gegenstands geht es nicht nur um ein Auflesen von Aspekten, sondern insbesondere auch um ein Hineinlesen bzw. Hineinlegen eigener Erfahrungen. Diese Verbindung mit Erlebnissen und Erinnerungen verdeutlicht Arnheim wie folgt: „Manchmal aber ist das Reizbild so vieldeutig, daß der Betrachter, auf der Suche nach dem passendsten Modell, eine Anzahl verschiedener Formen aus dem Gedächtnisspeicher holt.“ 6 Rezipienten können jedoch auch bestimmte Aspekte eines Bauwerks nicht wahrnehmen. Demjenigen, dessen individuelles Wissen, beispielsweise die Architektur betreffend, limitiert ist, können zahlreiche Aspekte eines Gebäudes nicht auffallen. Wittgenstein nennt dies die „Aspektblindheit“.7 Deshalb können Architekten ein Bauwerk meist schneller richtig einordnen als ein Laie, dem wichtige Aspekte fehlen. Wenn wir nicht genügend Aspekte entdecken oder unser Wissen limitiert ist, versuchen wir dennoch, uns die Dinge durch Vergleiche oder Assoziationen zu erschließen. Wir bringen stets bekannte Strukturen ein, auch wenn wir uns dabei dem Charakter der Ungewissheit bewusst sind. Ohne dieses ständige Assoziieren würde sich uns nur eine undefinierbare Masse gegenüberstellen. Nach wie vor ist es mir nicht möglich, dem Bauwerk vor mir jenseits meiner Assoziationen Bedeutung zuzuteilen. Die Archi-
Interpretationsketten
tektur denotiert keine Funktion – um es mit den Worten Umberto Ecos auszudrücken. Demnach bleibt auch eine sichere Interpretation der vorgefundenen Typologie aus. Aufgrund einer uneindeutigen Codierung des Gebäudes wird mir keine „Gebrauchsanweisung“ 8 angezeigt. Codes sind hier als Gesetzmäßigkeiten oder Regelwerke9 zu verstehen, die Korrelationen zwischen einzelnen Zeichen und bestimmten Bedeutungen definieren. Sie resultieren aus Gewohnheiten und Konventionen. Die Regeln entstehen im Kulturprozess und unterliegen ständigen Veränderungs- oder Entwicklungsprozessen, weshalb sie erweitert werden, neu entstehen, vergehen oder aber Jahre überdauern können. Die funktionalen Bedeutungen, die Umberto Eco Denotationen oder „Erste Funktionen“ nennt, werden hier nicht kommuniziert. Es kann auch so formuliert werden, dass sich das Gebäude nicht eindeutig anzeigt oder nur bedingt von sich spricht. Hierauf bezieht sich auch Gleiter in seiner Theorie des „Sich-Zeigens“ der Architektur.10 Gebäude können nicht nur keine Funktion, sondern aufgrund ihrer Polyfunktionalität11 auch mehrere Funktionen mitteilen. Ein Geländer kann sowohl die Funktion der Absturzsicherung als auch der stützenden Führung vermitteln. Architektonische Objekte können darüber hinaus auch ‚falsche‘ Funktionen denotieren. Wenn die vieldeutigen Zeichen eines Gebäudes falsch interpretiert werden, kann es anders genutzt werden, als es von den Planern vorgesehen war. Mein Blick fällt auf ein großes, bunt bedrucktes Banner, das auf einer Seite des Gebäudes aufgespannt ist. Darauf ist ein Logo zu erkennen, auf dem Komische Oper geschrieben steht. Diese zwei Worte haben mir für meine Interpretation gefehlt. Es ist das Namenstäfelchen12, das meine Wahrnehmung nachhaltig verändert. Was ich vergeblich vom Bauwerk selbst ablesen wollte, habe ich nun auf diesem Banner vorgefunden. Mein Wissen wurde erweitert. Mit diesem Wissen um den Namen und die Funktion des Gebäudes werden meine bisherigen Interpretationen und Assoziationen negiert. Nun habe ich eine Erklärung, um welche Gebäudetypologie es sich handelt. Aus orientierungslosen, umherwandernden Blicken wird mit dem Aufleuchten des neuen Aspekts ein kontrolliertes, fokussiertes Sehen. Mit dem Wissen können nun die typologischen Zeichen neu dekodiert und interpretiert werden. Aus dem Bunker wird ein Bühnenturm. Aus der Verwaltung einer Justizvoll-
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zugsanstalt werden Nutzflächen der Akteure der Oper. Es ist, als hätte ich aufgrund des Logos gelernt, seine Sprache zu verstehen. Aus einem suchenden Beobachten wird deutendes Lesen. Vilém Flusser erwähnt: „Man kann die Dinge mindestens auf zweierlei Weise ansehen: beobachtend und lesend. Beobachtet man die Dinge, dann sieht man sie als Phänomene. [...] Liest man die Dinge, dann setzt man voraus, daß sie etwas bedeuten, und versucht, diese Bedeutung zu entziffern.“ 13 Es offenbart sich ein perspektivischer, interpretatorischer Charakter unserer Wahrnehmung in Abhängigkeit von bildlichen, imaginativen Prozessen. Dadurch kommt es zwangsläufig zu einer Abkehr von einer einzigen Wirklichkeit der Dinge. Im Gegenteil erzeugen wir eine Vielzahl möglicher Bedeutungen und somit Wirklichkeiten oder gar Welten.14 Günter Abel verdeutlicht aufbauend auf dem Werk Weisen der Welterzeugung von Nelson Goodman, dass jede Sinneserfahrung auch anders sein könnte. Als Ursprung einer Sinneserfahrung kann eine Vielzahl möglicher Ursachen legitim angenommen werden und hängt von den individuell aufgefundenen Aspekten und Interpretationen ab.15 Die Interpretationsprozesse definiert Abel wie folgt: „ Als Interpretationsprozesse können diejenigen Vorgänge charakterisiert werden, in denen wir etwas als ein bestimmtes Etwas phänomenal diskriminieren, Identifikationen und Re-Identifikationen vornehmen, Prädikate und Kennzeichen applizieren, Zuschreibungen durchführen, Zusammenhänge konstruieren, durch Einteilungen klassifizieren und in Bezug auf so formierte Welten dann über Meinungen, Überzeugungen und auch über ein gerechtfertigtes Wissen verfügen. Unsere Welten können darum als Interpretationswelten qualifiziert und diese als jene behandelt werden.“ 16 Abel bezieht sich dabei insbesondere auf das Interpretieren von sprachlichen Zeichen. Wie bereits anhand der Wahrnehmung der Komischen Oper deutlich wurde, lassen sich die Inhalte auch auf das Interpretieren von architektonischen Zeichen beziehen. Nicht nur aufgrund individueller Reizaufnahmen durch die Sinne, sondern auch aufgrund individueller Interpretationen sind wir Schöpfer unserer eigenen Wirklichkeiten. Prozesse des „raum-zeitlichen Anordnens, des Ausgrenzens, des Bevorzugens einiger und des Zurücksetzens anderer Elemente, des Tilgens und des komplet-
Interpretationsketten
tierenden Ergänzens“ 17 determinieren unsere Anschauung. Die Verknüpfung des Sinnlichen und des Interpretatorischen resultiert in Abels Begriff der „Interpretations-Ästhetik“ 18. Es sind jedoch nicht nur die mentalen Bilder bzw. Vorstellungen und daraus resultierende Assoziationen entscheidend, sondern immer auch Begriffe und begriffliche Konzepte. In die perzeptive Interpretation fließe laut Abel somit immer auch begriffliche Interpretation mit ein. Ein Bauwerk beispielsweise als Oper zu sehen, schließe stets Begriffliches über Opern mit ein.19 Dass der problematische Anblick der Rückseite der Komischen Oper von dieser Kreuzung aus möglich ist, resultiert aus dem modernen Städtebau der Nachkriegszeit. Der historische, klassizistische Städtebau kollidiert an dieser Stelle mit dem der Moderne und offenbart Schwächen, die sich nicht zuletzt auf die Sinneswahrnehmung und Interpretationsketten auswirken. Vor dem Zweiten Weltkrieg lag das Operngebäude als Metropol-Theater20 fest integriert in einem Berliner Block. Durch die Zerstörungen im Krieg und die Verknüpfung der Glinkastraße mit der Straße Unter den Linden wurde dieser aufgebrochen. Die Modernisierung in den 1960er Jahren hat keine Blockrandbebauung mehr vorgesehen. Auch die mit der Brücke verbundene Scheibe, die zum Boulevard ausgerichtet ist, trägt zur Öffnung des Grundstücks bei. Die so entstandenen Freiflächen, die heute als Parkplätze benutzt werden, offenbaren die jetzt freiliegende Rückseite. Die abgestimmte Planung der zukünftigen Nachverdichtung sieht jedoch eine nachträgliche Schließung des Grundstücks vor. 21 Ich setze meinen Weg fort. Ich werfe einen Blick durch die goldgerahmten Schaufenster der am Boulevard liegenden Scheibe. Hier werden Tickets für die Oper verkauft und Plakate vergangener und aktueller Stücke präsentiert. Das leicht auskragende Gebäude überdeckt mich und fängt mich für ein paar Schritte ein. Anmerkungen 1
Jean-Paul Sartre, Das Imaginäre. Phänomenologische Psychologie der Einbildungskraft [1971], Hamburg: Rowohlt Verlag 1994, S. 66.
2
Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus. Tagebücher 1914–1916. Philosophische Untersuchungen [1984], Frankfurt/M.: Suhrkamp 2016, S. 518.
3
Ebd., S. 519 [Herv. i.O.].
49
4 5
Ebd., S. 551 [Herv. i.O.]. Gunter Gebauer, „Sich-Zeigen und Sehen als. Wittgensteins zwei Bildkonzepte“, in: Gottfried Boehm u. Christian Spies, Sebastian Egenhofer (Hg.), Zeigen. Die Rhetorik des Sichtbaren, Lindenberg: Fink 2010, S. 82 [Herv. i.O.].
6
Rudolf Arnheim, Anschauliches Denken. Zur Einheit von Bild und Begriff [1972], Köln: DuMont Buchverlag 1980, S. 93.
7 8
Wittgenstein, 2016, S. 552. Vgl. Umberto Eco, Einführung in die Semiotik [1972], übersetzt von Jürgen Trabant, Paderborn: Fink 2002, S. 309.
9
Vgl. ebd., S. 79.
10 Vgl. Jörg H. Gleiter, „Intellektualität der Wahrnehmung oder Wovon die Architektur spricht. Grundlinien einer Theorie der Sichtbarkeit der Architektur“, in: Sebastian Feldhusen u. Ute Poerschke (Hg.), Theorie der Architektur. Zeitgenössische Positionen, Reihe Bauwelt Fundamente 161, Basel: Birkhäuser Verlag 2017, S. 214. 11 Vgl. Claus Dreyer, „Architektonische Zeichen und ihre Bedeutungen“, in: Jörg H. Gleiter (Hg.), Symptom Design. Vom Zeigen und Sich-Zeigen der Dinge, Bielefeld: transcript Verlag 2014, S. 75. 12 Vgl. Wittgenstein, 2016, S. 20. 13 Vilém Flusser, Dinge und Undinge. Phänomenologische Skizzen, München: Carl Hanser Verlag 1993, S. 123 f. 14 „Wir sprechen nicht von vielen möglichen Alternativen zu einer einzigen wirklichen Welt, sondern von einer Vielheit wirklicher Welten.“ Nelson Goodman, Weisen der Welterzeugung, übersetzt von Max Looser, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1984, S. 14. 15 Vgl. Günter Abel, Interpretationswelten. Gegenwartsphilosophie jenseits von Essentialismus und Relativismus, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1993, S. 161. 16 Ebd., S. 14 [Herv. i.O.]. 17 Ebd., S. 270. 18 Ebd., S. 15 [Herv. i.O.]. 19 Vgl. ebd., S. 44. 20 Zur Geschichte der Komischen Oper: https://www.komische-operberlin.de/entdecken/geschichte/ [14.01.2020]. 21 https://www.stadtentwicklung.berlin.de/planen/planwerke/ pix/innere_stadt/download/planwerk_innere_stadt_2010.jpg [14.01.2020].
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„ Unser Fühlen und Verstehen aber wurzelt in der Vergangenheit. Deshalb muss der Sinnzusammenhang, den wir mit einem Gebäude schaffen, den Prozess des Erinnerns respektieren.“ 1 Peter Zumthor
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Abschattungen – Imaginäre Vervollständigung der Friedrichstraße Während ich auf dem breiten Bürgersteig entlang der Schaufenster spaziere, muss ich einigen Hindernissen ausweichen. Ständer mit Tragetaschen, Stadtführern und Postkarten stehen flächig verteilt vor einem Souvenirshop. Neon-pinke Preisschilder schreien nach meiner Aufmerksamkeit. Die Fenster sind mit blauweißen Beschriftungen bedruckt, die offenbar seit mehreren Jahrzehnten nicht mehr aktualisiert wurden. Hier scheint die Zeit stehen geblieben zu sein. Nachdem ich die rollbaren Kartenständer umrundet habe, drängen mich die Tische eines Restaurants weiter zum Straßenrand. Ein Ober begrüßt mich und möchte mich von einem Besuch überzeugen. Ich lehne dankend ab und laufe auf eine weitere Kreuzung zu. Schon aus der Ferne erkenne ich Ströme aus Menschen, welche mit schnellen Schritten wie auf der Flucht die Straße Unter den Linden überqueren. Nachdem ich lange Zeit nur wenigen Passanten begegnet bin, treffe ich hier auf den völligen Kontrast. Viele von den hektischen Menschen tragen prall gefüllte Einkaufstaschen mit sich. Andere starren nach unten auf ihre Smartphones, ohne die Umgebung zu beachten. Kurz nachdem die Menschenmenge ihre ersten Schritte in Richtung der anderen Straßenseite gemacht hat, schießt ein weiterer Strom aus Autos quer über den Boulevard. Ich treffe auf eine ungeheure Energie. Langsam nähere ich mich so weit an, dass ich das Straßenschild erkennen kann. Es ist ein Schild wie jedes andere: Schwarze Druckbuchstaben auf weißem Untergrund, gefasst in einem metallenen Rahmen. Dennoch geht von diesem Schild, von diesem Straßennamen, eine größere Wirkung aus. Es verkündet die Friedrichstraße. Schon das Lesen des Namens erzeugt in mir Bilder und Erwartungen. Mit dieser Straße verbinde ich unmittelbar zahlreiche
Abschattungen
Erinnerungen, Emotionen, Geschichten und eine große historische Relevanz. Der Name steht nicht nur für eine Straße, sondern auch für einen Bahnhof, eine Einkaufsstraße und die einstigen Grenzübergänge der Berliner Mauer. Ein einzelnes Wort, das Erinnerungen an eigens Erlebtes und an gesehene Bilder aufkommen lässt. Nicht nur Bilder aus der heutigen Zeit. Auch alte Bilder in Schwarz und Weiß, von denen man vergisst, dass auch sie in einer farbigen Welt geschossen wurden. Ein Straßenname, der in meiner Vorstellung Vergangenheit und Gegenwart aufeinandertreffen lässt. An der Kreuzung angelangt blicke ich nach rechts in eine Straßenschlucht, die niemals zu enden scheint. Meine Augen schmerzen von dem blendenden Licht, das von den Glasfassaden reflektiert wird. Ich erkenne eingerüstete, leerstehende Gebäude, die aktuell saniert werden. Baustellen und ein halbes Dutzend Baukräne dominieren den Anblick. Menschen schieben sich gegenseitig die Straße entlang, betreten Geschäfte oder sitzen in Cafés und Restaurants. Während ich beobachtend auf dem Gehweg verharre, bin ich umzingelt von hektischen Bewegungen und Stimmen. Die Flut aus Menschen erfasst mich und reißt mich für ein paar Schritte mit sich. Ich drehe mich um und schaue nun in die andere Richtung. Breite Arkaden überdachen die Menschen und säumen die Friedrichstraße. Durch sie hindurch kann ich das Logo der Berliner U-Bahn erkennen. Dort, in einiger Entfernung, bietet sich mir ein vertrautes Bild. Eine Brücke aus dunklem Stahl überquert die Straße und verläuft versteckt weiter hinter den Nachbargebäuden. Eine Berliner S-Bahn kommt mit hohem Tempo hinter der Wand hervor. Sie fährt mit lautem Geratter in den Bahnhof Friedrichstraße ein, unter den zwei unterschiedlich großen, spitz zulaufenden Giebeln hindurch. Der Bahnhof hat sich nicht verändert im Vergleich zu den schwarz-weißen Fotos, an die ich mich erinnere. Nur die Umgebung ist wesentlich dichter bebaut und weist eine modernere Architektursprache auf. Mein Blick in realer Wahrnehmung und mein Blick auf das Foto in meinem Gedächtnis überlagern sich. Ich weiß nicht, wann und wo ich die Fotos gesehen habe, doch dieser Ort scheint sie unmittelbar in mir wieder hervorzuholen. Wiesing weist darauf hin, dass „für immer mehr Menschen [...] immer mehr von dem, was sie für wirklich halten, aus der Betrachtung von Bildern entstanden [ist].“ 2 Wir können oft nicht mehr unterscheiden, ob uns ein Objekt basierend auf einer realen Wahrnehmung oder lediglich
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auf gesehenen Fotos bekannt ist. Auch meine Erlebnisse hinterlassen eine Art Fotoalbum oder Bildergalerie aus konkreteren oder eher skizzenhafteren Abdrücken des einst Gesehenen. Von der Kreuzung aus mustere ich weiterhin die Fassade des Bahnhofs. Roman Ingarden zufolge gibt es in der Wahrnehmung eines architektonischen Werkes zwei Schichten. Zum einen „die visuellen Ansichten, in welchen sich die räumliche Gestalt des architektonischen Werkes erscheinungsmäßig zeigt“, und zum anderen „die dreidimensionale Gestalt dieses Werkes (der Kathe drale, des Theaters usw.), welche in den Ansichten zur Erscheinung gelangt.“ 3 Während Bilder lediglich eine einzige und dazu noch konstruierte Ansicht aufweisen, gäbe es in der Architekturwahrnehmung praktisch eine unendliche Mannigfaltigkeit an Ansichten. Darüber hinaus seien dies keine konstruierten, sondern echte, wahrnehmungsmäßig gegebene Ansichten, „die zur körperlichen Gestalt des Werkes in einem ganzen System gehören.“ 4 Die Ansichten in der Architekturwahrnehmung sind nach Ingarden zunächst nur gewisse Schemata, die basierend auf individuellen psycho-physischen Zuständen der Rezipienten modifiziert würden.5 Somit wird erneut das Thema des individuellen, perspektivischen Hineinlesens und Interpretierens der Dinge deutlich. Mit Ingarden jedoch in einer leiblichen Erweiterung durch das Einnehmen mehrerer Perspektiven und die Bewegungen im und um das Gebäude. Es muss jedoch bedacht werden, dass wir häufig Architekturen nur aus einer einzigen Ansicht, aus einer weit entfernten oder zumindest aus vielen sehr ähnlichen Ansichten heraus betrachten können. Wenn ich das Gebäude des Bahnhofs von der Straße Unter den Linden von einem einzigen Punkt aus betrachte, so bin ich in meinen Ansichten limitiert. Ich bin nicht in der Lage, das betrachtete Schema physisch zu modifizieren. Dadurch ist der wesentliche Unterschied zum Betrachten eines Bildes nur noch der, dass es sich um eine reale, wahrnehmungsmäßige Ansicht handelt und um keine konstruierte. Bei dieser distanzierten Wahrnehmung befinden wir uns gemäß der Zeichentheorie der Architektur nach Gleiter auf einer hypothetischen Wahrnehmungsebene. So zeigt sich die Architektur aus der Ferne vor allem als bildliche Zeichen an.6 Ein Bauwerk wie einen Bahnhof als solchen zu erkennen, ist auch aus der Distanz, aufgrund der starken Ikonizität solcher Bauten, häufig problemlos möglich. Gleiter führt weiter aus:
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„ Eine der Schwierigkeiten ist, dass das, was aus der Ferne ein eindeutiges architektonisches Zeichen ist, wie zum Beispiel Brücken oder Türme, sich mit der Annäherung in vielfältige einzelne Elemente, Zeichenverweise und Interpretationsmöglichkeiten auflöst. Die aus der Entfernung eindeutigen Zeichen gewinnen mit der Nähe an Komplexität, die ihrer anfänglichen Klarheit zuwiderlaufen kann.“ 7 Unsere Wahrnehmung und unser Verständnis der gebauten Umwelt variieren also mit dem Standpunkt, von dem wir diese betrachten. Aus der Distanz können uns die ikonischen, bildlichen Zeichen für einen großen Überblick behilflich sein. Aus der Nähe wiederum können wir Materialien, Einzelteile und Dimensionen besser wahrnehmen und sie genau erkunden. Für jede Dimension sind verschiedene Aspekte relevant. So ist für die städtebauliche Dimension vor allem das Volumen eines Bauwerks und dessen Positionierung im räumlichen Kontext von Bedeutung. Für das Detail ist es vor allem die Beschaffenheit der Materialien und deren Fügung. Dass uns die architektonischen Zeichen aus der Ferne eindeutiger erscheinen, ist in Anbetracht des detaillierteren Erkenntnisgewinns aus der Nähe jedoch nur eine vermeintliche Eindeutigkeit. Begrifflich oder bildlich kann ein Bauwerk so zwar präziser eingeordnet werden, die physische Realität und die Wahrnehmungsphänomene betreffend ist unsere bildliche Anschauung aus der Distanz jedoch zu oberflächlich. Für ein umfängliches Verständnis müssen wir die Architektur sowohl physisch als auch mental erkunden, verschieden fokussieren und mehrere Haltungen einnehmen.8 Ich kann nur eine einzige Fassade des Bahnhofs Friedrichstraße erkennen, die sogar zum Teil verdeckt ist. Der Rest des Gebäudes liegt versteckt hinter der Nachbarbebauung. Das Bauwerk kann ich entsprechend Ingardens Erläuterungen trotzdem modifizieren – und zwar durch imaginäre Vervollständigungen. Diese Art der Modifizierung spielt nicht nur dann eine Rolle, wenn meine Ansicht limitiert ist oder Teile eines Gebäudes verdeckt werden, sodass die Umwelt meinen Sinnen nur bedingt gegeben ist. (Architektonische) Objekte zeigen sich immer nur von einer oder maximal drei Seiten. Husserl erläutert: „Wir mögen ein Ding noch so vollkommen wahrnehmen, es fällt nie in der Allseitigkeit der ihm zukommenden und es sinnendinglich ausmachenden Eigenheiten in die Wahrnehmung.“ 9 So kann ich immer nur eine einzige
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Seite bei frontaler Sicht, zwei Seiten bei perspektivischer Betrachtung oder drei Seiten sehen, wenn ich zum Beispiel die Unterseite eines aufgeständerten Baus oder das Dach aus einer höheren Position anschauen kann. Die fehlenden Seiten müssen nach und nach erschlossen werden und werden bei jedem Anblick imaginär vorausgesetzt. Edmund Husserl zufolge ist unsere Wahrnehmung somit „immer nur unvollkommene Approximation, die etwas von ihm [dem Objekt] faßt und immerfort auch mit in eine Leere faßt, die nach Erfüllung schreit. Das immerfort Bekannte ist immerfort Unbekanntes, und alle Erkenntnis scheint von vornherein hoffnungslos.“ 10 Auch mein Blick auf die eine Fassade des Bahnhofs greift bezüglich dieses Objekts in eine Leere, die vervollständigt werden muss. Husserl erläutert dazu weiter: „In noematischer Hinsicht ist das Wahrgenommene derart abschattungsgemäßig Gegebenes, daß die jeweilige gegebene [Seite] auf anderes Nichtgegebenes verweist, als nicht gegeben von demselben Gegenstand.“ 11 Bei einem Objekt wie einer Kugel kann meist einfach von der sichtbaren Seite auf die nichtgegebene Seite geschlossen werden. Bei einem komplexen Objekt wie einem Gebäude ist dies problematischer. Ein symmetrisches Bauwerk, wie die Villa Rotonda von Andrea Palladio, kann durchaus von einer einzelnen Perspektive aus vervollständigt und imaginiert werden. Bei solchen Gebäuden wie dem Bahnhof Friedrichstraße ist ein Ableiten fehlender Seiten anhand der Frontansicht sehr schwierig. Umso wichtiger sind für die imaginative Vervollständigung persönlich gemachte Erfahrungen und gesammelte Eindrücke aus anderen zuvor eingenommenen Perspektiven. Diese kann ich anhand realer Erlebnisse oder aber durch das Betrachten von Fotos gesammelt und im Gedächtnis abgespeichert haben. So kann ich mich hier beispielsweise an den Vorplatz des Bahnhofs, die seitlichen Fassaden sowie die Größe des gesamten Bauwerks erinnern. Auch daran, dass ich nicht etwa eine gläserne Fassade erkenne, sondern den Bahnhof Friedrichstraße, zeigt sich, dass ich auch Wissen und somit mehr in meine Anschauung hineinlege, als mir sinnlich gegeben ist. Ich scheine die Leere aufzufüllen. Das Sichtbare und Materielle wird durch Nicht-Sichtbares und Immaterielles ergänzt. Die Vorstellung des Nicht-Sichtbaren in der Wahrnehmung kann mit Husserl auch als ein „Mitbewussthaben“ bezeichnet werden. Im Architekturbewusstsein greifen die reale Wahrnehmung
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und die physiklose Vorstellung ineinander. Wenn wir ein Gebäude bereits von anderen Seiten her betrachtet haben und stehen nun vor einer uns noch unbekannten Seite, so übertragen wir die zuvor an anderer Stelle gesammelten Informationen. Wir nehmen die uns fremde Seite zum ersten Mal wahr, und doch erscheint sie uns nicht vollständig neu. Denn die vorigen Erfahrungen mit dem Bauwerk bleiben uns imaginär erhalten. Wahrnehmungen werden im Bewusstsein gehalten und greifen den noch kommenden Wahrnehmungen voraus: „ Im Wahrnehmungsprozeß verwandelt sich dadurch der unbekannte Gegenstand in einen bekannten; am Ende habe ich zwar genau wie am Anfang nur eine einseitige Erscheinung, und ist das Objekt gar aus unserem Wahrnehmungsfeld ganz herausgetreten, so haben wir von ihm überhaupt eine völlig leere Retention. Aber trotzdem, den ganzen Kenntniserwerb haben wir noch, und bei thematischem Wahrnehmen noch im Griff.“ 12 Mein Bewusstsein löst sich langsam aus dem mentalen Bilderarchiv und mein Blick fällt nach rechts über die Dächer hinweg auf die Kuppel des Berliner Doms. Seine goldene, glänzende Spitze scheint, so wie die Kugel des Fernsehturms, bis in die weite Umgebung hinaus. Zwei Symbole der Stadt, die von diesem Standpunkt aus unmittelbar nebeneinander zu stehen scheinen. Dieser Anblick könnte als typisches Motiv einer Postkarte dienen, in die ich geradewegs hineinzulaufen scheine. Anmerkungen 1
Peter Zumthor, Architektur denken [1998], Basel: Birkhäuser 2010, S. 18.
2
Lambert Wiesing, Die Sichtbarkeit des Bildes. Geschichte und Perspektiven der formalen Ästhetik [1997], Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 2008, S. 23.
3
Roman Ingarden, „Das Werk der Architektur“, in: Roman Ingarden, Untersuchungen zur Ontologie der Kunst: Musikwerk – Bild – Architektur – Film, Berlin: Walter de Gruyter 1962, 269 f.
4
Ebd., S. 270.
5 Ebd. 6
Jörg. H. Gleiter, „Präsenz der Zeichen. Vorüberlegungen zu einer phänomenologischen Semiotik der Architektur“, in: Jörg H. Gleiter
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(Hg.), Symptom Design. Vom Zeigen und Sich-Zeigen der Dinge, Bielefeld: transcript Verlag 2014, S. 151 ff. 7 8
Ebd., S. 149. Paul Klopfer bringt die physischen und perzeptiven Akte des Gehens und Sehens zusammen und vergleicht diese: „Fast könnte man versucht sein, an eine innere Verwandtschaft der Worte sehen und gehen zu denken, denn gerade beim Sehen in den Raum hinein kann uns das Wandern des Blickes an unser körperliches Wandern erinnern.“ Paul Klopfer, „Das räumliche Sehen“, in: Thomas Friedrich u. Jörg H. Gleiter (Hg.), Einfühlung und phänomenologische Reduktion. Grundlagentexte zu Architektur, Design und Kunst, Münster: LIT Verlag 2007, S. 150.
9
Edmund Husserl, „Analyse der Wahrnehmung“, in: Friedrich u. Gleiter, 2007, S. 165.
10 Ebd., S. 180. 11 Ebd., S. 166. 12 Ebd., S. 170.
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„ Es gibt zwei entgegengesetzte Typen von Bildern in Relation zur individuellen Freiheit des Subjekts: Bilder, die diktieren, manipulieren und konditionieren, und andere, die emanzipieren, bestärken und inspirieren.“1 Juhani Pallasmaa
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Aus-sich-Heraustreten – Mentales Spazieren durch die Humboldt-Universität Mit sicheren Schritten lasse ich die querverlaufende Charlottenstraße hinter mir. Die Mittelinsel des Boulevards zu meiner Linken nimmt langsam ein Ende. Den Abschluss des steinigen Streifens und der Baumreihen bildet eine Reiterstatue aus Bronze. Das monumentale Abbild thront auf einem mit weiteren Statuen und Reliefs verzierten Postament. Noch ist der Reiter mit dem Rücken zu mir gewandt. Mein Blick wandert von der niedrigen Umzäunung den Sockel aus Granit empor. Die angespannten Muskeln der Beine des Pferdes und der gewellte Umhang des Reiters beleben die Statue. Der quergetragene Zweispitz-Hut auf dem Kopf des Reiters lässt mich unmittelbar an Napoleon Bonaparte denken. Es gleicht der typischen ikonographischen Silhouette, der typischen Repräsentation des einstigen französischen Kaisers. Doch auch wenn Napoleon einmal durch das Brandenburger Tor hindurch die Prachtstraße entlang ritt, steht die Assoziation im Widerstreit mit diesem Ort. Das Reiterstandbild stellt nicht nur einen Abschluss der Mittelinsel, sondern vor allem auch den Beginn des historischen Forum Fridericianum dar. Es wird offensichtlich, dass es sich hier nicht um ein Abbild Napoleons handelt. Es bildet den preußischen König Friedrich den Großen ab. Unmittelbar hinter der Statue entdecke ich ein mir vertrautes Bauwerk im Stil des Barock. Zwei Seitenflügel ragen bis an den Gehweg heran und bilden gemeinsam mit einem Zaun einen Vorplatz aus. Ich bewege mich so weit, bis ich geradewegs durch die Pforte in der Mitte des eingrenzenden Zauns hindurch auf die Frontfassade des Gebäudes blicken kann. Meine Augen fangen eine weitere Statue aus hellem Marmor ein, die im Zentrum des Hofes platziert ist. Die Statue verkörpert den ehemaligen Professor und
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Rektor der einstigen Friedrich-Wilhelms-Universität Hermann von Helmholtz. Ich erinnere mich an die vielen Male, als ich durch die Pforte hindurch, an der Statue vorbei, zu meinen Vorlesungen in das Hauptgebäude der Humboldt-Universität gegangen bin. Von der anderen Straßenseite aus mustere ich die Fassade des Gebäudes. Mein Blick ist nicht neutral. Meine persönlichen Erlebnisse und Erinnerungen beeinflussen mein Sehen. Instinktiv suche ich die quadratischen Sprossenfenster im Zentrum des Gebäudes auf. Sie befinden sich im zweiten Obergeschoss über dem Haupteingang und den großen Fensterflächen des Senatsaals. Die anderen Fenster beachte ich kaum, das restliche Gebäude erscheint wie ein abstraktes Schema. Basierend auf meinem Interesse nehme ich nur bestimmte Details wahr. Ich blicke auf eines der Fenster und erkunde sein Gemachtsein. Ein leicht hervorkommender Rahmen aus Stein umgibt das Fenster. Ein feiner Riss durchzieht den oberen Sturz. Anthrazitfarbene Sprossen unterteilen das Glas in neun gleichgroße Rechtecke. Ich erkenne auf dem Glas eine Überlagerung aus vielen Ebenen. Zum einen sehe ich Reflexionen des Himmels, die sich in den Glasflächen spiegeln. Doch auch die Ebene des Glases selbst kann ich zumindest anhand einiger Schlieren erkennen. Das Dahinterliegende, das Innere des Raums, zeigt sich als dritte Ebene. Ich nehme ein Geländer wahr, von dem ich weiß, dass es eine Tribüne umgibt. In der Wahrnehmung von Fenstern können wir somit unterschiedliche Aspekte und Dimensionen erfahren, abhängig von der individuellen Fokussierung. Wie bei einem Vexierbild können wir trotz gleichbleibender Sinnesreize unterschiedliche Objekte oder Tiefen wahrnehmen. Der Grad der Helligkeit im Inneren und Äußeren sowie die Beschaffenheit des Glases beeinflussen die jeweilige Intensität der Ebenen. Hier dominieren die Reflexionen des blauen Himmels und erschweren mir den Einblick. Doch auch so weiß ich genau, dass sich dahinter der Weierstraß-Hörsaal befindet. In diesem Raum habe ich oft gesessen und nicht nur den Inhalt der Vorlesungen verfolgt. Ich kann mich auch an neugierige Blicke auf das Treiben auf dem Vorplatz und der Straße erinnern. Durch meine Beziehung zu dem Gebäude spüre ich eine emotionale Bindung und schwelge in Nostalgie. Juhani Pallasmaa bezieht sich auf die emotionale Wirkung architektonischer Bilder: „So wie alle poetischen Bilder erreichen architektonische Bilder ihre mentale Wirkung durch emotionale und verkörperte Kanäle, bevor sie vom
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Intellekt verstanden werden. Tatsächlich können sie überhaupt nicht verstanden werden und uns dennoch tief bewegen.“2 Diese emotionalen Verbindungen sind etwas sehr Intimes und Persönliches. In der Kopplung mit meiner inneren Gefühlswelt ist meine Wahrnehmung sehr individuell. Ich nehme somit auf eine Weise wahr, die nur mir auf exakt diese Weise möglich ist. Die subjektive Wahrnehmung innerhalb einer intersubjektiven Welt ist ein bedeutender Bestandteil der Architekturerfahrung. Damit hängen auch meine eigenen selektiven Fokusse zusammen. Wenn ich mich an meinen Weg bis hier her zurückerinnere, so fällt mir auf, dass ich auch den städtischen Raum selektiv wahrgenommen habe. Manche Gebäude scheinen mir spontan ins Auge gefallen zu sein, andere habe ich bewusst aufgesucht, da ich von ihrer Existenz wusste. Wiederum andere sind mir nicht oder nur unterbewusst aufgefallen, sodass ich mich nicht an sie erinnern kann. Goodman schreibt in Weisen der Welterzeugung: „Unsere Fähigkeit, Dinge zu übersehen, ist praktisch unbegrenzt, und was wir tatsächlich aufnehmen, besteht gewöhnlich aus bedeutungsvollen Fragmenten und Hinweisen, die einer beträchtlichen Ergänzung bedürfen.“ 3 Mir ist nicht bewusst, nach welchen Parametern ich Dinge sehe oder übersehe. Das Aufleuchten von Aspekten kann zum Beispiel von bestimmten präferierten oder auffälligen Farben, Formen oder Oberflächenstrukturen her bestimmt sein. Auch meine Erwartungshaltung kann meine Anschauung vorstrukturieren, indem sie bestätigt oder widerlegt werden möchte. Goodman formuliert weiter: „ Daß wir finden, was wir zu finden vorbereitet sind (nämlich was wir suchen oder was unsere Erwartungen energisch enttäuscht), und daß wir meist blind sind für das, was unsere Bestrebungen weder fördert noch behindert, das sind Gemeinplätze des Alltagslebens, die im psychologischen Labor hinreichend bestätigt wurden.“ 4 Damit werden erneut die vorzeichnenden Eigenschaften unserer Wahrnehmung bekräftigt. Wir greifen unserer Wahrnehmung voraus, indem wir im Wahrnehmungsprozess sowie bereits im Voraus nach Relevanz und Irrelevanz sortieren. Dabei würde Goodman zufolge das ignoriert, „was sich der Architektur der Welt, die wir bauen, nicht einfügen läßt.“ 5 Axel Buether führt das selektive Wahrnehmen ebenfalls auf erklärbare Bedürfnisse und Erlebens- sowie Verhaltenspräfe-
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renzen zurück. Darüber hinaus macht er deutlich, dass wir uns zum einen in Abhängigkeit von individuellen Neigungen und Stärken verhalten, aber zum anderen auch von soziokulturellen Prägungen beeinflusst werden.6 Bei aller Subjektivität, die unsere Wahrnehmung ausmacht, ist es dennoch wichtig, von einer Art Objektivität bzw. einer Intersubjektivität auszugehen. Wir können uns in der Welt über dieselben Dinge austauschen, wir können vergleichen oder von denselben Dingen auf zumindest ähnliche Weise beeinflusst werden. Somit macht der Bildhauer Axel Seyler deutlich, „dass es eine rein subjektive Wahrnehmung erst recht nicht geben kann. Denn diese würde man dann auch ganz anders bezeichnen; man könnte sich überhaupt nicht über sichtbare Formen in unserer 7 Umwelt unterhalten.“ Wahrnehmungen sind daher lediglich subjektiv geprägt, aber intersubjektiv nachvollziehbar. Im Reich der Vorstellungsbilder sind wir hingegen freier. Die Inhalte stammen auch von den intersubjektiv nachvollziehbaren Wahrnehmungen, können aber auf ganz persönliche Weise imaginär neu angeordnet und nachempfunden werden. Inspiriert von dem vertrauten Anblick des Gebäudes und den aufkommenden Erinnerungen kann ich mich mental in das Gebäude hineinversetzen. Ich bin in der Lage, imaginär aus mir herauszutreten, mich auf den Weg in Richtung des Eingangs zu begeben und durch diesen hindurch in das Foyer der Universität zu gehen. So erschließe ich mir das Gebäude aus meinem Gedächtnis heraus und setze mich über die Grenzen des Physikalischen hinweg. Sartre verdeutlicht, dass der Akt der Imagination ein magischer sei: „ Es ist eine Beschwörung, dazu bestimmt, das Objekt, an das man denkt, die Sache, die man begehrt, derart erscheinen zu lassen, daß man sie in Besitz nehmen kann. In diesem Akt ist immer etwas Herrisches und Kindliches, eine Weigerung, die Entfernung, die Schwierigkeiten zu berücksichtigen.“8 In meiner Vorstellung betrete ich ein Foyer mit massiven, eckigen Stützen. Auf matt scheinenden Steinplatten schreite ich mittig auf eine mächtige Treppe zu. Sie teilt sich nach einigen Stufen auf und verläuft zu zwei Seiten in das erste Geschoss hinauf. Ich erinnere mich an rot-braunen Marmor an den Wänden. Diese Bilder sind jedoch nur schematisch und sehr abstrakt, sodass ich nicht sicher sagen kann, ob meine Vorstellungen dem Gebäude tatsächlich gerecht werden. Auch ist es nur ein grobes anschauliches Konzept
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von rotem Marmor und beinhaltet keine konkreten Maserungen oder sonstige Eigenschaften. Eines habe ich jedoch ganz deutlich vor Augen: Das Zitat des Philosophen Karl Marx. Die ersten Stufen der Treppe führen geradewegs auf die Worte aus goldenen Lettern zu. Dort steht geschrieben: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt aber darauf an, sie zu verändern.“ Ich schwebe an diesen Worten vorbei die Treppe nach oben und schaue nach rechts durch eine Tür auf einen langen Korridor. Der Flur führt mich weiter zum nächsten Treppenhaus, das in einem der Seitenflügel liegt. Hier werden meine Erinnerungen ungenauer. Ich kann mich nicht mehr an die Materialität oder das Schrittmaß der Stufen erinnern. Ich verbinde jedoch einen hallenden Klang mit dem Ort, sodass ich mir einen großen, offenen Treppenraum vorstelle. Im zweiten Obergeschoss angelangt muss ich mich durch Brandschutztüren hindurch und über einen weiteren Korridor zurück ins Zentrum des Gebäudes durchschlagen. Schließlich gelange ich zu einer von zwei Türen, die in den Hörsaal führen. In meiner Vorstellung öffne ich die Tür und finde mich gegenüber den grellen, quadratischen Sprossenfenstern wieder. Beim Betreten blicke ich nach rechts zu einer mit weißer Kreide beschriebenen Tafel. Mit einem leichten Anstieg verläuft gegenüber die Tribüne bis nach oben an die hintere Wand. Sie schließt mit dem Geländer ab, das ich in meiner aktuellen Wahrnehmung hinter dem Fensterglas erkennen kann. Ich kann mir den Saal sowohl leer als auch gut besucht mit vielen Studierenden vorstellen. Sie sitzen auf alten festinstallierten Holzstühlen, die mit klappbaren Holztischen an den Rückenlehnen ausgestattet sind. Auch ich kann mich in meiner Vorstellung auf einen der Stühle setzen. Es kommt ein vertrauter Geruch auf, der vom hohen Alter dieses Saals berichtet. Die fünf rechteckigen Fenster erlauben mir einen Ausblick nach draußen. Ich stelle mir vor, wie ich die Rückseite der Statue auf dem Vorplatz betrachte. Mein imaginärer Blick wandert weiter bis zur Straße und auf die andere Seite zum Bebelplatz. Ich kann von hier die Jurafakultät sowie die Staatsoper betrachten. Ich kann mir sogar mich selbst vorstellen, wie ich auf der anderen Straßenseite stehe und auf das Fenster des Hörsaals blicke. Andersherum kann ich in meiner aktuellen Wahrnehmung dieses Fenster betrachten und mir vorstellen, wie ich mein eigenes Gesicht hinter dem Glas nach draußen schauen sehe.
Aus-sich-Heraustreten
Während meiner mentalen Reise durch die Humboldt-Universität habe ich meine sinnliche Wahrnehmung größtenteils ausgeblendet. Der Lärm der Straße, die kühle Temperatur der frischen Luft und die Menschen um mich herum habe ich nicht beachtet. Zwar habe ich weiterhin das Bauwerk angesehen, doch meine Imagination hat sich mit dieser Wahrnehmung überlagert und sie zum Teil überschrieben. Ein Ineinandergreifen des Sehens der realen, materiellen Umwelt und der imaginären, immateriellen Vorstellungen. Pallasmaa weist darauf hin, dass wir im Kontext der Anschauung immer beide Zustände berücksichtigen müssen: „ Wir müssen anerkennen, dass wir genauso sehr in mentalen und grundsätzlich subjektiven Welten der Erinnerung, des Traums und der Imagination leben, wie auch in einer wahrgenommenen materiellen, physischen und erfahrungsmäßig geteilten Welt. Paradoxerweise ist uns unsere Welt gegeben, und gleichzeitig ist sie von uns selbst gemacht.“ 9 Dabei gehen jedoch beide Einstellungen von denselben Objekten aus. Die Wahrnehmung bezieht sich auf reale, physikalische Objekte, und die Vorstellung basiert auf den Abdrücken dieser Wahrnehmungen. Dabei liegt es an unserem Bewusstsein, ob es sich in einem Moment auf das Wahrnehmen oder eher auf das bewusste Imaginieren fokussiert. „Die zwei Welten, die reale und die imaginäre, sind aus den gleichen Objekten gemacht, nur die Einstufungen und Interpretationen dieser Objekte variieren. Was die imaginäre Welt und auch die Welt des Realen definiert, ist jeweils eine Einstellung des Bewusstseins.“ 10 Dass es jedoch dabei keine Entscheidung zwischen reiner Wahrnehmung oder reiner Vorstellung geben kann, verdeutlicht Arnheim in seinem Werk zum anschaulichen Denken. Hierin legt er dar, dass es sich jeweils um gegenseitige Ergänzungen handelt. „Man kann keine scharfe Grenze zwischen einem ‚reinen‘ Wahrnehmungsbild – wenn es so etwas überhaupt gibt – und einem gedächtnismäßig ergänzten ziehen. Auch gibt es wohl kaum eine ganz ohne gegenwärtigen Wahrnehmungsfluß zustandegekommene Erinnerung.“ 11 Eine einfache Drehung genügt, um mich einem weiteren besonderen Ort zuzuwenden. Nachdem ich den Bebelplatz gegenüber des Hauptgebäudes der Humboldt-Universität bereits in meiner Vorstellung betrachtet habe, schaue ich ihn nun auch in
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realer Wahrnehmung an. Weiterhin emotional betroffen mache ich eine interessante Entdeckung. Anmerkungen 1
Übersetzung durch den Verfasser. Originalzitat: Juhani Pallasmaa, The Embodied Image. Imagination and Imagery in Architecture, Chichester: John Wiley & Sons Ltd 2011, S. 21.
2 3
Übersetzung durch den Verfasser. Originalzitat: Ebd., S. 128. Nelson Goodman, Weisen der Welterzeugung, übersetzt von Max Looser, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1984, S. 27.
4
Ebd., S. 28.
5 Ebd. 6
Axel Buether, „Die Sprache des Raums“, in: Alexandra Abel u. Bernd Rudolf (Hg.), Architektur wahrnehmen, Bielefeld: transcript Verlag 2018, S. 55.
7
Axel Seyler, „Förderer der Schönheit“, in: Abel u. Rudolf, 2018, S. 129.
8
Jean-Paul Sartre, Das Imaginäre. Phänomenologische Psychologie der Einbildungskraft [1971], Hamburg: Rowohlt Verlag 1994, S. 197.
9
Übersetzung durch den Verfasser. Originalzitat: Pallasmaa, 2011, S. 36.
10 Übersetzung durch den Verfasser. Originalzitat: Ebd., S. 33 f. 11 Rudolf Arnheim, Anschauliches Denken. Zur Einheit von Bild und Begriff [1972], Köln: DuMont Buchverlag 1980, S. 88 [Herv. i.O.].
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„ Fortwährend sind wir dabei, eine gigantische Stadt der Erinnerung in uns wachzurufen, in der alle Städte, die wir je besucht haben, zu einer einzigen Fantasiemetropole vereint sind.“ 1 Juhani Pallasmaa
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Zweite Funktionen – Konnotationen am Bebelplatz Vom Gehweg aus blicke ich von Respekt erfüllt über einen gigantischen Platz. Ein quadratisches Muster aus Pflastersteinen überzieht den Boden und versucht vergeblich die enorme Größe zu strukturieren. Die voluminöse Stimme eines Opernsängers hallt über den Platz. Ein Musiker singt im Zentrum einer kleinen Menschengruppe. Seine Stimme wird von den Wänden der umliegenden Gebäude reflektiert und verleiht diesem Ort eine angenehme Atmosphäre. Es befinden sich nur sehr wenige Menschen auf dem Platz. Lediglich einzelne Passanten spazieren vom warmen Gesang getragen umher. Diese Leere lässt den Bebelplatz noch größer erscheinen. Die rechteckige Fläche wird von drei Seiten eingefasst. Vor allem ein barocker Bau zu meiner Rechten nimmt eine fassende Haltung ein. Die gewaltige Fassade erstreckt sich mit einer leicht geschwungenen Form über die gesamte Länge des Platzes. Das Bauwerk scheint seine Arme auszubreiten und den Platz zu beschützen. Am anderen Ende begrenzt ein historistisches Gebäude die Fläche. Vier Fahnen hängen über dem Eingang des Bauwerks mit einer Fassade im Stil der Renaissance. Es ist jedoch ein anderes Gebäude, das mein Interesse weckt. In der hinteren linken Ecke befindet sich ein runder Bau mit einer riesigen in Kupfer eingedeckten Kuppel. Ein Ring am höchsten Punkt dieser Kuppel deutet auf ein Auge – ein Opaion – hin. In dessen Mitte befindet sich ein schlichtes grün- und goldfarbenes Kreuz. Eine wenige Meter vorgelagerte Fassade mit einem Dreiecksgiebel bildet den Eingang aus. Sechs Säulen unterteilen die Fassade in gleichgroße Felder. Aus der Ferne kann ich nur schwer erkennen, ob es sich dabei um volle oder halbe Säulen handelt. Wie die Krepis eines Tempels führen einige Stufen hinauf
Zweite Funktionen
zu dem Eingang. Auf einem Fries unter dem mit Reliefs verzierten Tympanon steht ein Name in goldenen Buchstaben. Er zeigt mir an, dass es sich um die St. Hedwigs-Kathedrale handelt. Die gewaltige Größe des Kuppelbaus erscheint im Kontext des Platzes beinahe klein. Doch vor allem die diagonale Ausrichtung der Kathedrale hat einen besonderen städtebaulichen Einfluss auf den Platz. Sie nimmt ihm die rechtwinklige Strenge und vermag den Platz zu beleben. Nicht nur die außergewöhnliche Bauweise hält meine Blicke gebannt auf dem Gebäude. Es ist auch eine spannende Assoziation, die schon nach kurzer Zeit in mir aufgekommen ist. Das Bauwerk samt Kuppelauge und vorgelagertem, tempelartigem Eingangsbau erinnert mich an das Pantheon in Rom. In unmittelbarer Nachbarschaft zu den barocken und historistischen Bauwerken verstärken sich meine Assoziationen mit der Architektur einer anderen Kultur. Die Ähnlichkeiten und Assoziationen sind jedoch kein Zufall. Die Bauwerke der Antike und der Renaissance waren stets Vorbilder für die Gebäude an diesem Ort. So orientierten sich auch die Pläne für die St. Hedwigs-Kathe drale nach Wunsch des Königs Friedrich II. an der antiken Architektur des Pantheons.2 Es ging dabei vor allem um dessen Wirkung. Das Gebäude bekam eine andere Funktion als das römische Original, sollte aber ähnlich ausdrucksstark sein. So wird deutlich, dass die Architektur auch eine symbolische, kommunikative Ebene einnehmen kann. Gebäude können nicht nur ihre Funktion denotieren, wie es schon anhand der Komischen Oper aufgezeigt wurde. Sie können auch etwas konnotieren. Von einer Konnotation sprechen wir, wenn die denotative Bedeutung eines Objekts „als primäre architektonische Funktion durch eine zweite, symbolisch geprägte, womöglich auch ideologisch imprägnierte Bedeutungsebene überlagert wird.“ 3 Auch Umberto Eco hat erkannt, dass der Architektur neben der Funktionalität insbesondere auch eine kommunikative, symbolische Rolle zukommt. Da diese jedoch ebenfalls einer (symbolischen) Funktion gleichkomme, nennt Eco die Konnotationen „Zweite Funktionen“, die sich an die Denotationen als „Erste Funktionen“ anlehnen.4 Dies stellt keine hierarchische Ordnung dar, sondern kann als Bedingungsreihenfolge aufgefasst werden. Aufgrund konnotierender Zeichen können von einem Bauwerk auch Ideologien, politische sowie soziale Zusammenhänge oder Stile vermittelt werden. So ist es am Bebelplatz möglich, dass die
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Bauwerke sowohl Macht und Reichtum vermitteln als auch auf Werte und Stile anderer Kulturen verweisen können. Dazu müssen die Bauten entsprechende Codierungen verwenden, um symbolische Bezüge herstellen zu können. Claus Dreyer definiert die architektonischen Symbole wie folgt: „ [Sie] sind sichtbare, nutzbare und interpretierbare räumliche Gebilde, die durch Form solche Gedanken, Gefühle und Verhaltensweisen stimulieren, die in sozialen und kulturellen Zusammenhängen fest verankert und teilweise für sie konstitutiv sind: Werte, Erfahrungen, Wissensbestände, Erinnerungen, politische und religiöse Überzeugungen, Utopien.“ 5 Damit werden zahlreiche Aspekte des Symbolischen aufgezählt, die sich alle auf etwas Imaginäres beziehen. Während wir in der Wahrnehmung zwar von realen, physischen Architekturen ausgehen, so sind die Vereinbarungen und symbolischen Bedeutungen imaginäre Inhalte. Die genannten Erfahrungen, Erinnerungen und Überzeugungen sowie Ideen von Macht oder Freiheit besitzen an sich keine materiellen Eigenschaften. Sie sind von der Vorstellung der Menschen erzeugte und abhängige Größen, die wir auf die Architektur projizieren und so von ihr ablesen können. Vor allem diese zweiten Funktionen sind einem möglichen Bedeutungswandel ausgesetzt und können sich trotz gleichbleibender architektonischer Objekte rasch entwickeln. Das Symbolische kann somit wie ein Mantel betrachtet werden, der sich um die unveränderten Objekte legt. Eco erläutert dazu wie folgt: „Dann greift die Styling Operation ein, die nichts anderes ist als der Neuentwurf des symbolischen Mantels für unveränderte Funktionen, eine Bereicherung um neue Konnotationen.“ 6 Den symbolischen Konnotationen kommen somit willkürliche, veränderbare Eigenschaften zu. Sie sind weniger abhängig von dem einzelnen Subjekt, als vielmehr von intersubjektiven Konventionen. Das Konventionelle der Codes wird auch von Mitchell verdeutlicht: „Laßt uns beschließen, daß von nun an dieses für jenes steht“ – eine soziale Übereinkunft, „die, einmal getroffen, nicht bei jeder Gelegenheit wieder neu vereinbart werden muß.“ 7 Durch solche Vereinbarungen ist das, was ich in einem (architektonischen) Objekt erkenne oder als das ich es interpretiere, vor allem von externen Diskursen und weniger von den physischen Dingen selbst abhängig. Es entstehen imaginäre, immaterielle Mäntel, die wir
Zweite Funktionen
mit Bedeutung versehen. Mitchell nennt diese willkürliche Bedeutungsebene eine leere Form, der verschiedener möglicher Sinn zugeschrieben werden kann.8 Die Klänge des italienischen Operngesangs umhüllen und ergreifen mich gemeinsam mit der vom Römischen beeinflussten Architektursprache. Die bildlich-symbolischen Eigenschaften regen meine Fantasie an. Fellmann weist darauf hin, dass wahrgenommene Gegenstände uns einladen können, mit ihnen etwas anzufangen, während Bilder vor allem die Fantasie beschäftigen würden.9 Es muss jedoch im Sinne der symbolischen Funktionen bedacht werden, dass auch wahrgenommene Gegenstände bildliche Eigenschaften und damit die Fantasie anregende Momente beinhalten. So versinke ich auch auf Basis meiner Wahrnehmung mehr und mehr in meinen Assoziationen und Erinnerungen. Ich werde in eine andere Welt versetzt. Auf meinen Reisen durch Italien habe ich eine ähnliche Situation erlebt, in der ich einem Opernsänger auf einer römischen Piazza zugehört habe. Auch die Bauwerke dort haben mit ihren Säulen, Giebeln und Proportionen eine ähnliche Architektursprache verkörpert. Meine aktuelle Wahrnehmung und somit mein Seh- und Gehörsinn lösen diese Erinnerungsbilder in mir aus. Pallasmaa erläutert den Einfluss der Sinne auf unser Gedächtnis am Beispiel des Geruchssinns. Charakteristische Gerüche können uns unbewusst Räume und Orte, die wir einst besucht haben, noch einmal betreten lassen. Was schon längst nicht mehr in unserer wahrnehmbaren Umgebung ist, könne durch Gerüche, die wir an diesen Orten einmal wahrgenommen haben, wieder Teil unseres Bewusstseins werden. Er schreibt: „Gerüche können vergessene Bilder wieder wachrufen und uns dazu einladen, eine Fantasiewelt zu betreten. Die Nase bringt die Augen dazu, sich zu erinnern.“ 10 Das gleiche gilt auch für die anderen Sinne. Auch unsere Ohren, unsere Zunge und unsere Haut können diese Erinnerungsbilder auslösen. In meinen Vorstellungen versunken löse ich mich mehr und mehr von meiner aktuellen Anschauung. „Wahrnehmung, Erinnerung und Imagination stehen in ständigem Austausch miteinander; die Gegenwart verschmilzt zu Bildern der Erinnerung und Fantasie.“ 11 Wie auf meinem imaginären Spaziergang durch die Universität kann ich mich auch hier auf Reisen begeben. Ich kann mich gleich neben den Obelisken der Piazza della Rotonda in Rom stellen. Ich kann umgeben von einer großen Menschenmasse auf
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das Pantheon blicken. In meiner Vorstellung kann ich es mit meiner Wahrnehmung der St. Hedwigs-Kathedrale vergleichen. Meine Vorstellung ist jedoch nicht akkurat. Ich kann mich nicht erinnern, wie viele Säulen das Pantheon hat und doch kommt es mir vor, als besäße ich ein detailliertes Bild davon. Sartre verdeutlicht, dass im Übergang von Wahrnehmung zu Vorstellung die Materie verarme: „ Ich lasse viele Eigenschaften fallen. Und zwar so, daß das, was schließlich die intuitive Basis meiner Vorstellung bildet, niemals die einer Wahrnehmung bilden könnte. [...] Daraus ergibt sich, daß das über die Materie intendierte Objekt an Allgemeinheit zunimmt.“ 12 So besitze ich allgemeine Abdrücke und Konzepte wie den Fakt, dass es am Pantheon Stützen gibt und dass es einen Vorbau gibt. Wie diese Elemente im Detail gemacht sind, spielt keine wesentliche Rolle. Die Abstraktionen genügen, um darauf aufbauend Vergleiche und Assoziationen zu erzeugen. Wenn ich versuche, in meiner Wahrnehmung der Kathedrale das Pantheon zu sehen, sie praktisch das Pantheon imitieren zu lassen, so befinde ich mich in einem besonderen Wahrnehmungszustand. Dieser ist gemäß Sartre ein „Phänomen der Quasi-Beobachtung, das heißt, man liest auf der Materie [...] nichts anderes, als was man in sie hineinlegt.“ 13 Dabei scheine ich zwischen den Welten zu hängen. Halb Realität, halb Fiktion. Wie ein „Zwitterzustand, nicht ganz Wahrnehmung, nicht ganz Vorstellung, den man eigens beschreiben müßte.“ 14 Wie kann überhaupt noch von einer Realität die Rede sein, wenn doch die Wahrnehmung und die Welt für uns sowohl subjektiv als auch durch intersubjektive imaginäre Konventionen geprägt ist? Gernot Böhme unterscheidet im Kontext der Ästhetik die Begriffe der Realität und der Wirklichkeit. Diese Unterscheidung ist auch in der Betrachtung unserer Anschauung sehr hilfreich. Demnach ist die Wirklichkeit „das in aktueller Wahrnehmung Gegebene“, während das Reale bzw. die Realität dasjenige ist, „was dinglich dahinterstehen mag.“ 15 Somit gehen von den realen Dingen um uns herum die Reize aus, auf Grundlage derer wir durch unsere Wahrnehmung und Interpretationen vermittelt in Wirklichkeiten leben. Auch Mitchell macht eine ähnliche Unterscheidung. Er trennt dasjenige Sehen, welches als Bild bloßer Informationen auf der Netzhaut betrachtet werden kann, von dem individuellen Sehen,
Zweite Funktionen
das die Identität der Betrachter ausmacht. Auch hier kann ein Verständnis von Realität und Wirklichkeit herausgelesen werden. Die erste Art des Sehens nennt Mitchell „das körperliche Auge“, und die zweite Art des Sehens „das mentale Auge“.16 Mit dem Begriff des Mentalen bringt er darüber hinaus auch die Ebene der Vorstellung beziehungsweise der Imagination ein. Die Fantasie und Vorstellungskraft prägen unsere Wirklichkeiten und (inter)subjektiv erschaffenen Welten. Die Realität umfasst hingegen die Materie, die trotz aller Interpretationen und Bedeutungswechsel oft unverändert bleibt. Dadurch, dass die perspektivischen Wirklichkeiten Freiheiten in den Interpretationen zulassen, ist prinzipiell jede von einer Wahrnehmung ausgelöste Assoziation relevant. Heinrich Wölfflin formuliert in seinen kunstgeschichtlichen Grundbegriffen: „Wie man in das Geläute der Glocken alle möglichen Worte hineinhören kann, so kann man sich das Sichtbare auf sehr verschiedene Weise und Art zurechtlegen, und niemand darf sagen, die eine sei wahrer als die andere.“ 17 In dieser Freiheit und Willkür erkennt Goodman ein Problem für den Menschen. So spricht er diesem ein „Verlangen nach einem unerschütterlichen Fundament“ zu, das jedoch in Gefahr gerät, indem wir „dem Wuchern unserer eigenen unkontrollierten Phantasien zu erliegen [drohen].“18 Mein Bewusstsein ist durchtränkt von Erinnerungen. Langsam versuche ich mich zurück auf meine leibliche Anwesenheit in Berlin zu besinnen. Allmählich komme ich wieder im Hier und Jetzt am Rande des Bebelplatzes an. Meine Wahrnehmung hat sich auf dem Weg hierher verändert. Die Bauten des Forum Fridericianum haben mich nachhaltig beeinflusst. Von den Eindrücken geprägt gehe ich mit langsamen Schritten weiter: Geradewegs in die Einflüsse des Karl Friedrich Schinkel. Anmerkungen 1
Juhani Pallasmaa, Die Augen der Haut. Architektur und die Sinne [2005], übersetzt von Andreas Wutz, Los Angeles: Atara Press 2013, S. 85.
2
Zur Geschichte der St. Hedwigs-Kathedrale: https://www.hedwigs-kathedrale.de/kathedrale/geschichte/ [17.01.2020].
3
Uwe Wirth, „Symbol, Symptom, Signal. Einige Überlegungen zur Konfiguration architektonischer Zeichen“, in: Jörg H. Gleiter (Hg.),
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Symptom Design. Vom Zeigen und Sich-Zeigen der Dinge, Bielefeld: transcript Verlag 2014, S. 117.
4
Umberto Eco, Einführung in die Semiotik [1972], übersetzt von Jürgen Trabant, Paderborn: Fink 2002, S. 312.
5
Claus Dreyer, „Architektonische Zeichen und ihre Bedeutungen“, in: Jörg H. Gleiter (Hg.), Symptom Design. Vom Zeigen und Sich-Zeigen der Dinge, Bielefeld: transcript Verlag 2014, S. 78.
6 7
Eco, 2002, 320 f. William J. Thomas Mitchell, Bildtheorie, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2008, S. 82.
8 9
Ebd., S. 137 f. Ferdinand Fellmann, „Wovon sprechen die Bilder? Aspekte der Bild-Semantik“, in: Birgit Recki u. Lambert Wiesing (Hg.), Bild und Reflexion. Paradigmen und Perspektiven gegenwärtiger Ästhetik, Lindenberg: Fink 1997, S. 150.
10 Pallasmaa, 2013, S. 69. 11 Ebd., S. 85. 12 Jean-Paul Sartre, Das Imaginäre. Phänomenologische Psychologie der Einbildungskraft [1971], Hamburg: Rowohlt Verlag 1994, S. 89. 13 Ebd., S. 89 f. [Herv. i.O.]. 14 Ebd., S. 55. 15 Gernot Böhme, Aisthetik. Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungslehre, München: Fink 2001, S. 57. 16 Mitchell, 2008, S. 193. 17 Heinrich Wölfflin, Kunstgeschichtliche Grundbegriffe. Das Problem der Stilentwicklung in der neueren Kunst [1915], Basel: Schwabe & Co. AG Verlag 1984, S. 45. 18 Nelson Goodman, Weisen der Welterzeugung, übersetzt von Max Looser, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1984, S. 18.
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„ Das Wesen des Bildes ist gleichermaßen eine Anwesenheit von etwas Abwesendem wie eine Abwesenheit von etwas Anwesendem; kein Gegenstand kann ein Bild seiner selbst sein.“1 Lambert Wiesing
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Leere Hülle – Dreidimensionale Bilder der Bauakademie Ich werde auf meinem Weg von dem Rhythmus einiger Säulen begleitet. Sie stehen als Kollonade auf einem Sockel, der meine Körpergröße leicht überragt. Die korinthischen Säulen verlaufen am Ende des Sockels weiter um die Ecke entlang der Niederlagstraße. Mein Blick verfolgt die einzelnen Kapitelle und fällt am Ende der Straße auf eine Kirche aus rotem Backstein. Sie ist mit dem Kirchenschiff zu mir gewandt und wird auf der anderen Seite von zwei gleichgroßen Türmen gefasst. Der Kirchenbau weist zahlreiche Pfeiler auf, die zur Hälfte aus der Wandebene hervortreten. Sie gliedern die Außenwände in vertikale Streifen, in denen sich jeweils ein neugotisches Fenster mit Spitzbogen befindet. Die ebenen Dachflächen werden umlaufend von Balustraden mit einer Vierpass-Ornamentik abgeschlossen. Ich habe diese Kirche schon zahlreiche Male betrachtet. Doch habe ich sie selten in Realität und vielmehr in Gemälden und Fotografien gesehen. Der Bau ist mir bekannt als die Kirche aus den historischen Abbildern der Berliner Bauakademie. Sie kündigt mir somit schon im Voraus an, welches Gebäude ich in wenigen Metern sehen werde. Oder besser gesagt: sehen könnte. Am Ende der Straße Unter den Linden angelangt blicke ich in gespannter Erwartungshaltung nach rechts in Richtung des Schinkelplatzes. Ich betrachte einen rötlichen Quader aus bedruckten Folien. Auf den ersten Blick vermittelt das große Gebilde den Eindruck eines Baugerüsts, das sich um ein quadratisches Gebäude aufspannt. Diese bedruckten Gerüste habe ich schon häufig in Berlin vorgefunden. Auf ihnen wird das versteckte Bauwerk im Zeitraum seiner Sanierung abgebildet. So wird das Erscheinungsbild des Stadtraums nur bedingt gestört. Hier finde ich eine
Leere Hülle
ähnliche Folie vor. In originalem Maßstab ist das Gebäude der Bauakademie dargestellt. Es werden rote Ziegelsteine, Mörtelfugen, Fenstergiebel und Reliefs abgebildet. Künstliche Schatten entlang der angeblichen Wandpfeiler, Fensterrahmen und Gesimse erzeugen ein Gefühl von Tiefe und echter Materialität. Doch nicht die gesamte Ansicht zeigt sich auf bedruckter Folie. Ein Teil des Gebildes besteht aus einer erbauten Rekonstruktion. Die linke Ecke der Ansicht weist somit echte Materialien und echte Schattenwürfe auf. Die realen Fenster erlauben – im Gegensatz zu den bedruckten Folien – Einblicke in das dahinterliegende Innere. Auch eine schmale Fuge zwischen der Rekonstruktion und der Folie macht geringfügige Einblicke möglich. Was sich da bietet sind nicht dunkle Räume oder etwa ein zu sanierender Bau. Das Innere ist hell erleuchtet vom ungehindert einfallenden Tageslicht. Das Innere ist ein Äußeres, ein nach oben offener Außenraum. Hinter dem bedruckten Gewand befinden sich weder das dargestellte Gebäude noch dessen angedeutete Funktion. Es gibt lediglich ein komplexes Gebilde aus Metallgerüsten, welche die Scheinfassade stützen. Sie halten eine Attrappe aufrecht, ein Modell, das nur zum Zwecke der Repräsentation errichtet wurde. Es geht nur um das äußere darstellende Gewand. Das Konstrukt ist eine leere Hülle. Hier bietet sich mir ein Objekt, das die Definitionen eines Bauwerks mit denen eines Bildes provokant kollidieren lässt. Als Schein-Volumen schließt das Gebilde die entstandene Lücke im städtischen Raum. Die Attrappe versucht vorübergehend, diese dem Original erteilte Aufgabe zu erfüllen. Sie weist auch gewisse andere Eigenschaften eines Gebäudes auf. Die Hülle erscheint in der originalen Größe mit realen Proportionen. Als materielles, dreidimensionales Gebilde hat sie physische Qualitäten, auch wenn sich diese von den dargestellten Qualitäten unterscheiden. Sie besitzt außerdem eine Tragstruktur, vier Fassaden sowie Zwischenräume. Das Sichtbare des Aufdrucks vermittelt darüber hinaus architektonische Zeichen, welche eine ähnliche Wirkung haben können, wie reale architektonische Zeichen. Um diese Darstellungen jedoch als irreal auffassen zu können, müssen wir das Gebilde mit einem Bildbewusstsein betrachten. Um ein Bild als solches zu erkennen, müssen wir „die Negation der Wirklichkeit, die aktive Verwerfung, die aktive Durchstreichung“ 2 des realen Kontexts herbeiführen. Wir müssen Objekte,
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wie die Folien der Bauakademie-Attrappe, aus der realen Umgebung herauslösen. Wenn dies nicht der Fall wäre, dann würden wir die Attrappe nicht als Bild erkennen und sie als die Realität bzw. als reales Bauwerk auffassen. Wenn es als Bild identifiziert wurde, kann es basierend auf Husserls Erläuterungen in drei verschiedene Objekte zerlegt werden. Es gibt zum einen den Bildträger, also das materielle Objekt, das ich berühren oder mir an die Wand hängen kann. Im Falle der Bauakademie ist der Bildträger die bedruckte Folie. Das zweite Objekt ist das Bildobjekt, welches nicht das Dargestellte, sondern das Darstellende meint. Es ist „das genaue Analogon des Phantasiebildes, nämlich das erscheinende Objekt, das für das Bildsujet Repräsentant ist.“ 3 Hier können die darstellenden Formen der angeblichen Ziegel oder der künstlichen Schatten als Beispiel herangezogen werden. Mit dem Bildsujet wurde bereits das dritte Objekt genannt. Hiermit ist das real existierende oder fiktive Objekt gemeint, auf welches das Bildobjekt mit dem Bildträger als Untergrund verweist. In diesem Fall ist es die inzwischen zerstörte Bauakademie von Karl Friedrich Schinkel. Im Bildbewusstsein betrachten wir zwar den materiell existierenden Bildträger, sehen jedoch die immaterielle nicht-existierende Bauakademie. „Die Umgebung ist wirkliche Umgebung, auch das Papier ist wirkliche Gegenwart; das Bild erscheint, aber es streitet mit der wirklichen Gegenwart, es ist also bloß ‚Bild‘, es ist, wie sehr es erscheint, ein Nichts.“ 4 Wir stehen einem Widerstreit von Materie und Nichts gegenüber. Wiesing definiert ein Bild als etwas, das auf seiner Oberfläche etwas zeigen muss, das an dieser Stelle der Oberfläche selbst nicht vorhanden bzw. präsent ist. Somit stelle ein Bild immer einen Widerspruch von Präsenz und Absenz dar.5 Die reale Wahrnehmung setzt die Existenz und Anwesenheit eines wahrgenommenen Objekts voraus, während das vorstellende Bildbewusstsein weder Existenz noch Anwesenheit verlangt. Wiesing erläutert weiter: „Bilder sind Isolationsvorgänge. In einem Bild wird die Sichtbarkeit von der Anwesenheit der Sache getrennt. Bilder sind Entmaterialisierungen, welche einen Gegenstand in reine Sichtbarkeit transformieren.“ 6 Bei diesem besonderen Fall am Schinkelplatz weisen sowohl das Bildobjekt (darstellende Strukturen mit Ähnlichkeitsverhältnissen zur Bauakademie) als auch der Bildträger (Folien in den Originalmaßen der Bauakademie) tatsächliche Eigenschaften des Bildsujets (Bauakademie von Schinkel) auf. Deshalb wird die
Leere Hülle
übliche Trennung von Existenz und Absenz gestört. Wir schauen zum einen im Bildbewusstsein auf eine fiktive physiklose Welt, und zum anderen im Gegenstandsbewusstsein auf eine physikalische Konstruktion. Wie bereits am Beispiel der Friedrichstraße erkannt wurde, zeigt sich die Architektur aus der Ferne vor allem durch bildliche, hypothetische Zeichen an. Wenn ich von diesen Zeichen ableitend fälschlicherweise eine physische Existenz des Gesehenen erkenne, so kommt es nicht zur ästhetischen Negation der Wirklichkeit. Das eigentliche Phantom wird dann nicht als Scheinobjekt entlarvt. Aus der Ferne können die dargestellten Fenster als reale Fenster und die dargestellten Schatten als reale Schatten betrachtet werden. Meine Distanz zur Attrappe der Bauakademie ist jedoch gering genug, um zu erkennen, dass es sich nicht um reale Objekte und tatsächliche Eigenschaften handelt. Es wird nämlich deutlich, dass sich die bildlichen Zeichen nicht in phänomenologische Zeichen wandeln. An Gleiters Zeichenmodell wird verständlich, dass es eine erkenntnistheoretische Triplizität der architektonischen Zeichen gibt. So führt er wie folgt aus: „ Architektonische Zeichen setzen sich aus bildhaften, phänomenologischen und performativen Zeichenaspekten zusammen und sind charakterisiert durch eine doppelte Transformation ihres Zeichencharakters.“ 7 Neben den bereits kennengelernten hypothetischen Zeichen führt Gleiter somit außerdem die thetischen sowie die performativen Zeichen der Architektur auf. Die thetischen Zeichen zeigen das performative Realisierungspotenzial des architektonischen Elements an. Im Falle meiner aktuellen Wahrnehmung bleiben die gedruckten Fenster, Balustraden und Ziegel jedoch auf bildlicher Ebene. Es fehlt der erste notwendige Umschlag ins Phänomenologische. Bei der linken, rekonstruierten Ecke hingegen finde ich echte Fenster, echte Balustraden und echte Ziegel vor. Hier kommt es zur „Verschiebung des Zeichencharakters von der bildsemiotischen Ebene zur phänomenologischen Präsenz mit ihrem Verwendungshinweis.“ 8 Das vermittelte Realisierungspotenzial kann sich darüber hinaus tatsächlich realisieren. „Im performativen Vollzug des Zeichens schlägt das eine ins andere um. Das Zeichen der Tür wandelt sich durch seine performative Realisierung in ein leibphä-
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9 nomenologisches Ereignis.“ Die bedruckte Folie weist nicht einmal das Realisierungspotenzial auf, weshalb die Voraussetzung für den Gebrauch nicht gegeben ist. Bei dem rekonstruierten Teil hingegen wird zwar ein Potenzial vermittelt, es schlägt am Beispiel der Fenster jedoch ebenfalls nur eingeschränkt in die performative Realisierung um. Ein- und Ausblicke werden ermöglicht, womit eine Funktion erfüllt wird, sie sind vom Betrachter aber nicht erreichbar, tast- oder öffenbar. Sie verbleiben in einer repräsentativen Funktion ohne den realen angezeigten Nutzen. Mit den Worten Pallasmaas kann festgehalten werden: „Indem Gebäude ihre Plastizität verlieren und dadurch nicht mehr mit der Sprache und Weisheit des Körpers verbunden sind, isolieren sie sich im kühlen und distanzierten Reich des Visuellen.“ 10 Mithilfe der Architektursemiotik kann der bildsemiotische Charakter und der Übergang ins Phänomenologische erkannt werden. Da es sich jedoch weder um ein übliches bedrucktes Bild noch um ein tatsächliches Gebäude handelt, sollte das Verständnis der aktuellen Wahrnehmung von der Attrappe erweitert werden. Dazu sollte es als Modell angesehen werden, weil im Charakter des Modells das Repräsentativ-Darstellende mit dem MateriellGebauten zusammenkommt. Mit den originalen Maßen kann die Attrappe der Bauakademie als 1:1-Modell betrachtet werden. Es erscheint wie ein Ausstellungsstück, und der öffentliche Raum als Museum oder Galerie. Der Mathematiker und Modelltheoretiker Bernd Mahr stellt Eigenschaften von Modellen dar, welche die Verweisfunktion von Modellen im Kontext von Wissen und Interpretation offenbaren. Dabei führt er die Auffassung des Modells als Abbild nach Herbert Stachowiak weiter. Grundvoraussetzung eines abbildenden Modells sei es, eine mit dem Abgebildeten gemeinsame Struktur, das „epistemische Muster“ des Modellseins, aufzuweisen. „Die Struktur des ‚epistemischen Musters‘ betrifft dabei den Zusammenhang der Sachverhalte, die das Urteil des Modellseins aus der Sicht der Gegenstands-, der Wissens- und der Handlungsbezüge begründen.“ 11 Es bedarf hier, ähnlich wie beim Beleben des Bildes nach Sartre, eines Betrachters, der ein Urteil fällt, nach dem der „Gegenstand im Zusammenhang von Sachverhalten gesehen wird, die einerseits selbst und andererseits durch ihre Beziehungen untereinander das Urteil des Modellseins rechtfertigen.“ 12 Erst
Leere Hülle
im Rahmen einer Interpretation, erst durch das Hineinlegen von Wissen, wird aus einem Objekt ein Modell. Dabei sei die Identität eines Objekts als Modell dreigestaltig: Erstens betreffe sie „den als Modell qualifizierten Gegenstand für sich, der irgendeine Erscheinungsform besitzt, zum Beispiel als Text, Graphik, Körper oder als Menge von Regeln.“ 13 Damit ist, ähnlich der Definition des Bildträgers nach Husserl, die materielle Basis gemeint. Also die in den originalen Maßen existierende Folie. Im Gegensatz zum Bildträger kann hier aber auch die tragende Stahlkonstruktion sowie alles materiell Vorhandene berücksichtigt werden, das Teil des Modells ist. Die Identität betrifft „zweitens das Ergebnis einer in einem weiten Sinne verstandenen Induktion, bei der Anschauungen, Erfahrungen, Messungen, Merkmale, Erkenntnisse oder Regelinhalte [...] in der Weise zum Inhalt des Modells gemacht werden, dass es gerechtfertigt ist, im Gegenstand ein Modell von etwas zu sehen.“ 14 In dem Fall ist die Attrappe ein Modell von der originalen Bauakademie Schinkels. Dazu wird ein Wissen über das Original vorausgesetzt, um das epistemische Muster und somit die Attrappe als ein Modell erkennen zu können. „Und sie betrifft drittens den Gegenstand als Bezugsgröße einer in einem weiten Sinne verstandenen Deduktion, mit der sich der in Form und Repräsentation gefasste Inhalt bei der Anwendung des Modells wieder herauslösen und auf einen anderen Gegenstand übertragen lässt, so dass es gerechtfertigt ist, im Gegenstand ein Modell für etwas zu sehen.“ 15 Das Modell der Bauakademie kann als Modell für die geplante, zukünftige Rekonstruktion betrachtet werden oder vielmehr als Modell für die Anschauung des Vergangenen und des potenziell Zukünftigen. In der Interpretation und Wahrnehmung eines Modells wie der dargestellten Bauakademie fließt immer auch unser Wissen, unsere Erfahrungen und unsere Imaginationen mit ein. Sei es in der Interpretation des Gesehenen als Bild, als reales Objekt oder als Modell von und für etwas. „Erinnerungen, Gedanken, Wünsche oder Träume, die sich notwendig auf dieses Erinnerungsbild beziehen müssen, machen dann schließlich auch noch das innere Bild zum Modell, da sie sich als Ergebnisse einer Art Deduktion auffassen lassen.“ 16 Abhängig vom individuellen Wissen, vom individuellen Vorstellungsvermögen und der individuellen Perspektive auf das
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Objekt erscheinen uns die rot bedruckten Folien als komplexes bildsemiotisches Phänomen mit Modell- und Verweisfunktion. Anmerkungen 1
Lambert Wiesing, Die Sichtbarkeit des Bildes. Geschichte und Perspektiven der formalen Ästhetik [1997], Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 2008, S. 160.
2
Edmund Husserl, Phantasie und Bildbewußtsein, hrsg. von Eduard Marbach, Hamburg: Felix Meiner Verlag 2006, S. 208 [Herv. i.O.].
3
Ebd., S. 21 [Herv. i.O.].
4
Ebd., S. 48 [Herv. i.O.].
5
Wiesing, 2008, S. 15.
6 Ebd. 7
Jörg. H. Gleiter, „Präsenz der Zeichen. Vorüberlegungen zu einer phänomenologischen Semiotik der Architektur“, in: Jörg H. Gleiter (Hg.), Symptom Design. Vom Zeigen und Sich-Zeigen der Dinge, Bielefeld: transcript Verlag 2014, S. 151.
8
Ebd., S. 152.
9
Ebd., S. 157.
10 Juhani Pallasmaa, Die Augen der Haut. Architektur und die Sinne [2005], übersetzt von Andreas Wutz, Los Angeles: Atara Press 2013, S. 39. 11 Bernd Mahr, „Das Wissen im Modell“, in: KIT-Report Nr. 150, Berlin: Institut für Telekommunikationssysteme, Projektgruppe KIT 2004, S. 11 [Herv. i.O.]. 12 Ebd. 13 Ebd., S. 11 f. [Herv. i.O.]. 14 Ebd., S. 12 [Herv. i.O.]. 15 Ebd. [Herv. i.O.]. 16 Ebd., S. 14 [Herv. i.O.].
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„ Wir haben es mit einer Dominanz des Ausdrucks gegenüber dem Sein der Dinge zu tun. Diese Dominanz bedeutet bei aller Explikation und Show eine Verdrängung, ein Unsichtbarwerden des Realen.“ 1 Gernot Böhme
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Verschleierung – Realität und Fiktion am Humboldt Forum Von meiner Position an der Schlossbrücke aus wende ich mich von der vermeintlichen Bauakademie ab und blicke auf die andere Seite des Spreekanals. In perspektivischer Ansicht zeigt sich mir ein enormer, pompöser Bau. An der Frontseite zum Wasser schließt das Bauwerk mit einem eingerüsteten Kuppelbau ab. Die gesamte Umgebung steht voller Baustellenfahrzeuge, Container, Kräne und Materialien. Zu großen Teilen ist der Bau jedoch bereits fertiggestellt. Ich nehme einen gigantischen viergeschossigen Quader war. Er erstreckt sich an der Straße entlang bis zum Spreeufer. Dort schließt er mit einem schlichten Volumen aus Sichtbeton ab. Die gelblich verputze Fassade weist zahlreiche geschlossene sowie gesprengte Giebelvarianten und weitere Verzierungen auf. Auch auf diesem Bauwerk schließt das flache Dach umlaufend mit Balustraden ab. Durch das Baugerüst hindurch erkenne ich die Tragstruktur des Kuppelbaus. Die moderne Stahlbetonkonstruktion steht im Kontrast zum historischen Schein der Fassade. Auch diese Rekonstruktion des Berliner Stadtschlosses wirft auf provokante Weise Fragen auf. Im Gegensatz zur Bauakademie handelt es sich hier nicht um ein Scheinvolumen. Hier gibt es keine bedruckten, darstellenden Folien oder lediglich kleine rekonstruierte Abschnitte. Es zeigt sich hingegen ein reales Bauwerk, das funktionale Innenräume erzeugt. Dennoch kommen ihm mehrere Identitäten und Verweise zu. Mit vielfachen konträren Aussagen scheint es zwischen den Welten zu hängen. Es entspricht dem barocken preußischen Original, weist jedoch auch eine moderne Baukonstruktion auf. Es ahmt die historischen Fassaden nach, ist jedoch auch weniger reich an verzierenden Details als das Original. Zum einen präsentiert es sich als
Verschleierung
das historische preußische Stadtschloss, zum anderen verkörpert es den Bau des Humboldt Forums im heutigen Berlin. Es ist ein eigenständiges Bauwerk und gleichzeitig auch ein abbildendes, verweisendes Gebilde mit Modellcharakter. Mein vergleichender Blick springt zwischen der Bauakademie und dem Schloss hin und her. Auch diese Rekonstruktion betrachte ich als ein rätselhaftes Objekt. Es spricht die Sprache des alten Preußen, es weist die barocke Formsprache sowie Dimensionen auf, die von Macht und Reichtum erzählen. Es denotiert eine Funktion, die es heute so an dieser Stelle nicht mehr gibt. Es handelt sich nicht mehr um das Schloss als Königssitz, das es anzeigt. Darüber hinaus kommen dem Bauwerk neben den Verweisen auf den Barock, Machtverhältnisse oder die preußische Zeit weitere symbolische Funktionen zu. So bekommt Berlin eines seiner verlorenen Symbole der Stadt zurück. Es ist aber auch Symbol heutiger gegensätzlicher Ansichten einiger Politiker und Stadtplaner. Auch die Bauakademie stellt ein verlorenes Symbol dar. Was auf dem Schinkelplatz geplant wird, wurde beim Schloss längst umgesetzt oder ist kurz vor dem Abschluss. Es werden klare Parallelen ersichtlich, und doch handelt es sich um einen anderen Fall. Was die bedruckten Leinwände des Bauakademie-Phantoms nur vorgeben, finde ich hier als tatsächliche Materialität und Dreidimensionalität vor. Die an der Bauakademie lediglich vortäuschenden Zeichen durchlaufen am Schloss die vollständige Entwicklung vom Bildlichen über das Phänomenologische bis hin zum Performativen. Die Fenster sind reale Fenster und können geöffnet oder als Ausblick genutzt werden. Die Wände weisen eine reale Tiefe auf und die Steine lassen sich mit ihren realen Eigenschaften ertasten. Dennoch nimmt auch das rekonstruierte Schloss einen Modellcharakter ein, und spricht bei aller Materialität vor allem auch vom Immateriellen und Abwesenden. Die physikalische Existenz passt dabei nur bedingt mit dem physiklosen Schein überein. Es kann hier nicht wie bei der Bauakademie von einem Gewand als leere Hülle gesprochen werden. Doch auch hier erscheint die Fassade wie eine bloße Hülle. Ein Schleier, der uns in einen Zwiespalt von Realität und Fiktion zu bringen vermag. Ich stelle mir einen Touristen vor, der soeben in Berlin angekommen ist und über die Museumsinsel oder die Straße Unter den Linden spaziert. Er entdeckt dieses Bauwerk, das er zum ersten Mal sieht, und zu dessen bewegter Historie er kein Vorwissen
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besitzt. Er kennt sich jedoch ein wenig mit der Geschichte der Stadt aus. Zunächst würde er davon ausgehen, dass es sich hier um ein frisch saniertes oder in großen Teilen rekonstruiertes preußisches Gebäude handelt. Sartre formulierte einst zu einer Zeit, in der das Original des Schlosses noch existierte, mit Hinblick auf die repräsentative Fähigkeit gebauter Objekte: „ Dieser David [von Michelangelo] beansprucht, ohne sich selbst ausdrücklich für die Renaissance auszugeben, den Geist dieser Epoche an sich selbst vage darzustellen, so wie man zum Beispiel sagt: wenn Sie das Berliner Schloß besuchen, werden Sie den Geist Preußens unter Bismarck verstehen.“2 Auch der Besucher würde einen Eindruck historischer Aspekte bekommen. Dass es sich jedoch um ein von Grund auf neu errichtetes Bauwerk handelt, erscheint kaum vorstellbar. Der Anblick des Gebäudes ist vor allem deshalb irritierend, da die Materialien, die Bauelemente und architektonischen Zeichen nur wenige Spuren ihres Gebrauchs oder der Witterung anzeigen. Das, was sichtbar ist, scheint nicht dem Alter gerecht zu werden, welches sein Stil abbildet. Pallasmaa schreibt: „Natürliche Materialien drücken ihr Alter und ihre Geschichte aus, erzählen aber auch von ihrer Herkunft und der Geschichte ihres Gebrauchs durch den Menschen. Materie kann nur innerhalb eines zeitlichen Kontinuums existieren; deshalb fügt die Patina des Gebrauchs diesen Konstruktionsmaterialien eine zeitliche Qualität hinzu.“ 3 Solche Spuren als indexikalische Zeichen des Gebrauchs oder Zerfalls, wie sie um die Baustelle der zukünftigen polnischen Botschaft vorzufinden waren, fehlen hier. Der erdachte Tourist würde das Bauwerk weiterhin basierend auf der Oberfläche betrachten und analysieren. Bei seinen Assoziationen und Interpretationen ginge der Betrachter damit im wahrsten Sinne des Wortes oberflächlich vor. Die Oberfläche mit seiner verschleiernden Referenzialität verbietet aber ein umfängliches Verständnis des Gemachtseins und des Wesens des Bauwerks. Sie führt uns hingegen in die Welt der Fiktionen. So kann das Zitat Gernot Böhmes angeführt werden, dass „wenn man unter Ästhetik die Oberfläche versteht, also die Aufmachung, das Image, den Bereich der Simulakra, dann könnte die Behauptung zutreffen, daß der ästhetische Bereich das Reale verdrängt hat.“ 4 Die Zeichen und Bilder, die von einem Bau wie dem Schloss ausgehen, können dabei
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auch als Trugbilder bezeichnet werden, da sie mit solchen Gemeinsamkeiten haben. Zu Trugbildern erwähnt Heinrich Niehues-Pröbsting: „Die täuschende Macht der Trugbilder liegt in ihrer scheinbaren Ähnlichkeit mit dem Original; darin besteht ihre Gefahr. Sie sind für den gewöhnlichen Standpunkt nicht als Bilder zu erkennen. In ihnen stellt sich das Bild vor die Wirklichkeit, die es dadurch verdeckt. [...] So verwechselt er Bild und Wirklichkeit, indem er jenes für diese hält – das Bewußtsein der Gefesselten in der Höhle [nach Platon].“ 5 Wir befinden uns in der Wahrnehmung des Schlosses erneut in einem Dazwischen zwischen Realität und Fiktion, zwischen physischer Materialität und bildlicher Referenzialität. Die materiellen Eigenschaften des Bildträgers fallen erheblich mit den Eigenschaften des Bildsujets zusammen. Die Eigenschaften des Modellobjekts an sich und die Eigenschaften des Objekts, von dem es ein Modell ist, decken sich zu großen Teilen. Doch wir haben gelernt, dass ein Bild niemals ein Bild von sich selbst sein kann. So kann ein Modell auch kein Modell seiner selbst sein. In dem Sinne verweist das Bauwerk vor mir entweder auf ein anderes Gebäude, das es selbst nicht ist, oder es ist das Berliner Stadtschloss selbst, und es kann nicht sich selbst darstellen. Aufgrund seiner vollständig neu errichteten Bauweise muss das Gebäude als ein dem preußischen Schloss zwar Ähnliches, aber Verschiedenes betrachtet werden. Somit muss im Folgenden über das neue Gebäude als Humboldt Forum und über das alte Gebäude als Stadtschloss gesprochen werden. Es handelt sich um zwei verschiedene Bauwerke. Wie können wir uns jedoch an das Wesen des tatsächlich existierenden Objekts des Forums annähern, ohne es nach wie vor als das Schloss zu sehen? Wie können wir die bildlichen, täuschenden Schleier umgehen, es enthüllen? Dazu kann die Formale Ästhetik als Vorbild herangezogen werden. Diese bezieht sich ursprünglich auf die Wahrnehmung von physischen Bildern, kann jedoch auch sehr gut auf die Architektur angewandt werden. Die Formale Ästhetik fragt danach, was passiert, wenn wir ein Bild betrachten, ohne darin die abgebildeten Objekte zu sehen.6 Auf die Architektur bezogen können wir fragen: Was passiert, wenn wir eine Architektur betrachten, ohne die bildlichen und begrifflichen Verweise zu sehen? Wiesing bezieht sich
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dabei nur auf die äußere Form eines Kunstwerks, also allein auf dessen formale Eigenschaften. Es geht ihm um eine Annäherung an das Anwesende, Tatsächliche, Reale, wobei so abstrahiert werden muss, dass Bedeutungsebenen ausgeblendet werden können. Es geht um einen Bereich der Ästhetik, der sich vom primär intellektuellen Wahrnehmen entfernt und uns in das Gebiet der sinnlichen Wahrnehmung führt. Um die inhaltlichen, semantischen oder auch intellektuellen Ebenen von formalen, syntaktischen oder sinnlichen Ebenen zu unterscheiden, können zwei Begriffe Mitchells herangezogen werden. Der Autor bringt die Unterscheidung zwischen image und picture ein. Mitchell ist zwar kein Autor der Formalen Ästhetik, bringt jedoch mit dieser Unterscheidung einen wichtigen Aspekt für die Formale Ästhetik ein. Nach Mitchell sind die Bilder mit der Bezeichnung images „immaterielle symbolische Formen, die von wohldefinierten geometrischen Formen über fast formlose Massen und Räume erkennbare Figuren und Ähnlichkeiten bis zu wiederholbaren Gestalten wie Piktogrammen, Ideogrammen und alphabetischen Buchstaben reichen.“ 7 Mit den images gehen somit immer intellektuelle, konzeptionelle oder konventionelle Aspekte ein, die erlernt und erkannt werden müssen. Es geht hier nicht um die Materialität und das Gemacht-Sein der Bilder, sondern um deren Inhalt und Bedeutung. Dem gegenüber gibt es die physischen pictures. Sie „sind die konkreten, materialen Objekte, in oder auf denen immaterielle Bilder (images) erscheinen. Man kann ein Gemälde (picture) aufhängen, aber man kann kein Bild (image) aufhängen. [...] Es ist die Erscheinung des immateriellen Bildes (image) in einem materialen Medium.“ 8 Diese Definitionen können wir auch mit Husserls Begriffen des Bildträgers (picture) und des Bildobjekts (image) vergleichen. Außerdem können wir die pictures als für die Wahrnehmung und die images als für die Imagination relevant betrachten. In der Formalen Ästhetik gilt es, sich von dem Betrachten der images zu lösen und sich den pictures als materielle Träger anzunähern. Mit dem Abwenden vom Bildlichen und der Hinwendung zu den formalen Eigenschaften geht die Forderung „zurück zu den Sachen selbst“ 9 einher. „Das spezifisch Ästhetische liegt nicht in dem Gemeinten, sondern in den konkreten Formen eines Gegenstandes, in seinen Übergängen, in seiner Art und Weise, wie Relati-
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onen den Inhalt transportieren.“ 10 Es ist somit eine phänomenologische Methode als Abkehr vom Imaginativ-Referenziellen. Für die Wahrnehmung des Schlosses bedeutet dies, dass von Bedeutungen wie ‚Schloss‘, ‚Barock‘ oder ‚Preußen‘ abgesehen werden muss. Doch auch Begriffe wie ‚Fenster‘, ‚Giebel‘ oder ‚Putz‘ stellen begriffliche und mit Bildern angereicherte Konzepte dar. Auch von diesen muss dann abgesehen werden, um sich dem materiellen Untergrund anzunähern. Folglich können Formen, Größenverhältnisse, Farbeindrücke oder sonstige leibphänomenologische Qualitäten aufgesucht werden. So ergibt sich eine neue Qualität der Anschauung und ein neuer Zugang zur Reflexion über das Gesehene. Die bisherigen Inhalte haben jedoch offenbart, dass wir in unserer Wahrnehmung stets von Erinnerungen, Erfahrungen usw. geprägt werden und Erkenntnis ohne den referentiellen Einfluss des Bildlich-Imaginativen nicht möglich wäre. Die reine phänomenologische Methode ist daher eine entwirklichte, theoretische Anschauungsform, die so nur unter ‚Laborbedingungen‘ denkbar ist. Sie kann dennoch als hilfreiche Methode für den Wahrnehmungsprozess dienen, wenn nicht vorausgesetzt wird, dass wir den Weg zurück zu den Dingen selbst final zu Ende bringen, sondern uns diesen lediglich annähern können. Mit einem bewussten und reflektierten Umgang mit dem Bildlich-Imaginativen können wir uns vor vielen Täuschungen schützen und das Gesehene besser einordnen. In der Wahrnehmung des Humboldt Forums werden zahlreiche Aspekte offenbart, die wir bereits zuvor auf dem Weg entdeckt haben. Zuletzt wurde die Rolle der sinnlichen Wahrnehmung erkenntlich. Auch das Humboldt Forum kann ich mit meinen Augen ertasten, wodurch mir erst die reale Dreidimensionalität offenbart wird. Auch die Rollen der indexikalischen Zeichen als Spuren der Witterung oder des Gebrauchs sind erneut aufgekommen. Jedoch hier nicht in dem Sinne, dass ich sie wahrnehmen kann, sondern dass ihre Abwesenheit einen Trugschluss über das Alter des Gebäudes provoziert. Des Weiteren zeigt dieses Bauwerk die Problematik des Interpretierens auf. Assoziationen mit barocken Gebäuden, die Interpretation des Bauwerks als Schloss oder sonstige Funktionen, die das Gebäude denotiert, werden dem tatsächlichen Bau nicht gerecht. In diesem befindet sich eine andere Funktion und es kann nicht mehr als Schloss bezeichnet werden.
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Auch hier habe ich alte schwarz-weiße Bilder vor Augen, die das historische Vorbild darstellen. Zum einen stammen sie von einst betrachteten Gemälden, zum anderen von Fotografien, welche Kriegszerstörungen abbilden. Diese Fotoerinnerungen helfen mir bei meinem Verständnis des Ortes. Außerdem kann ich das Gebäude als vollständiges Ganzes denken, da ich die mir fehlenden Seiten aus vorigen Wahrnehmungen der aktuell nicht sichtbaren Seiten vervollständigen kann. Auch auf meinem aktuellen Wahrnehmungsbild aufbauend kann ich die Leere, in die meine Wahrnehmung durch das Fehlen der anderen zwei Seiten hineingreift, auffüllen. Meine emotionale Bindung zu dem Humboldt Forum ist eine deutlich schwächere als die zu dem Hauptgebäude der HumboldtUniversität. An diesem Ort schwelge ich nicht in Nostalgie, es kommen hingegen andere emotionale Themen auf, die soziale, politische und kulturelle Themen betreffen. Ein detailliertes Verständnis des Inneren habe ich nicht, da ich mich noch nicht in dem Bauwerk aufhalten konnte. So ist mir die mentale Betrachtung und Vergegenwärtigung des Inneren anhand des Äußeren hier nicht möglich. Die Chancen und Probleme der Konnotationen, der sogenannten zweiten Funktionen, wurden anhand der barocken Fassade ebenfalls wieder aufgegriffen. Das Bauwerk steckt voller konventioneller Codes, welche die Zeit überdauert haben, und heute vor allem aufgrund dieser zeitlichen Dimension ein Konfliktpotenzial einbringen. Am Humboldt Forum nehme ich keinen warmen Gesang wahr, der mich gemeinsam mit dem Gesehenen auf eine Fantasiereise schicken könnte. Dennoch ist gut vorstellbar, dass nach der Fertigstellung zahlreiche Betrachter von dem Anblick auf eine Fantasiereise ins historische Preußen geschickt werden. Zuletzt ist die Verwandtschaft zur Attrappe der Bauakademie aufgekommen. Es wurde jedoch schnell deutlich, dass es sich hier um ein Wahrnehmungsphänomen mit einem anderen Fokus handelt. Dennoch ist die Bauakademie auf dem Wege, zukünftig ähnliche Fragestellungen aufzuwerfen, wenn es zu der geplanten originalgetreuen Rekonstruktion kommen sollte. Inzwischen liegt die gesamte Fassade des Forums im Schatten. Die angenehme Wärme der Sonne hat mich lange begleitet und nun verlassen. Nur die Kugel des Alexanderturms erstrahlt weiterhin im Glanze des Lichts. Ich drehe mich noch einmal um und blicke
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die Straße Unter den Linden hinunter. Am Ende des Boulevards erscheint die Silhouette der Quadriga vom Brandenburger Tor. Ich sehe, dass sie sich nicht verändert hat, und sehe sie doch anders. Anmerkungen 1
Gernot Böhme, Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik [1995], Berlin: Suhrkamp 2013, S. 13 f.
2
Jean-Paul Sartre, Das Imaginäre. Phänomenologische Psychologie der Einbildungskraft [1971], Hamburg: Rowohlt Verlag 1994, S. 176.
3
Juhani Pallasmaa, Die Augen der Haut. Architektur und die Sinne [2005], übersetzt von Andreas Wutz, Los Angeles: Atara Press 2013, S. 40.
4 5
Böhme, 2013, S. 13. Heinrich Niehues-Pröbsting, „Wahrheit und Unwahrheit des Bildes. Zur Bildtheorie in Platons ‚Sophistes‘“, in: Dirk Rustemeyer (Hg.), Bildlichkeit. Aspekte einer Theorie der Darstellung, Würzburg: Königshausen & Neumann 2003, S. 153.
6
Vgl. Lambert Wiesing, Die Sichtbarkeit des Bildes. Geschichte und Perspektiven der formalen Ästhetik [1997], Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 2008, S. 13.
7
William J. Thomas Mitchell, Bildtheorie, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2008, S. 285.
8 Ebd. 9
Wiesing, 2008, S. 15.
10 Ebd., S. 89.
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„ Schließlich leben Menschen nicht in Ziegelsteinhaufen, sondern in Vorstellungsräumen und Erinnerungslandschaften.“ 1 Bazon Brock
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Reflexion
Die Zeitlichkeit der Architektur Die verschiedenen Stationen auf dem Weg entlang der Straße Unter den Linden haben deutlich aufgezeigt, dass unsere Wahrnehmung von vielen Faktoren beeinflusst wird und dabei immer auch vorbestimmt ist. Es werden immer bewusst oder unbewusst gemachte Erfahrungen imaginativ in die Objekte unserer Anschauung mit hineingelegt. Neben individuellen Ausprägungen der Sinneswahrnehmung machen uns vor allem auch unsere Assoziationen und Interpretationen zu Schöpfern unserer eigenen Wirklichkeiten. Die Wahrnehmung ist stets selektiv, perspektivisch und zusätzlich von intersubjektiven Konventionen beeinflusst. Somit sind unsere Anschauungen nicht nur von realen, physischen Qualitäten der Objekte in unserer Umgebung abhängig, sondern insbesondere auch von der immateriellen Ebene der Imagination. Ohne unsere Vorstellungsbilder wäre die Wahrnehmung ärmer oder sogar unmöglich. Dieser Band hat dargelegt, dass abhängig vom Kontext bestimmte Aspekte der Wahrnehmung mehr im Fokus der Aufmerksamkeit stehen können als andere. Die Wahrnehmung scheint zwischen verschiedenen Bewusstseinsebenen sprunghaft zu wechseln. So steht mal das sinnliche Wahrnehmen, mal das Imaginieren oder mal das Interpretieren besonders im Zentrum der Anschauung. Es bestehen aber jeweils Verbindungen miteinander, weshalb die einzelnen Bewusstseinsebenen zwar unterschiedlich gewichtet, aber nicht voneinander getrennt oder separat betrachtet werden können. Sie beeinflussen sich nicht nur gegenseitig, sondern sind auch füreinander notwendig. Es wurde offenbart, dass unsere Wahrnehmung kein vollständig im Labor berechenbarer Prozess ist. Wir können keine
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künstlichen Einstellungen einnehmen, die frei von persönlichen, historischen oder kulturellen Faktoren sind. Unsere Wahrnehmung ist außerdem so spontan, lebendig und dynamisch, wie das Leben an sich. Wir nehmen in unserer Umwelt keine kontextlosen Einzelobjekte wahr, sondern eine Welt als zusammenhängendes System. Somit wurde mittels der konkreten Anschauungen im Stadtraum verdeutlicht, dass die Architektur neben der physischen Existenz vor allem auch imaginative Formen annimmt. Mit Pallasmaa kann zusammengefasst werden: „ Ein Gebäude ist eine Struktur aus Nützlichkeit, Material und Konstruktion wie auch eine imaginäre raum-zeitliche Metapher […]. Künstlerische und architektonische Werke existieren daher im Reich des Physischen und Metaphysischen, der Realität und Fiktion, der Konstruktion und Bilder, des Gebrauchs und der Sehnsucht, alles zur selben Zeit.“ 2 Auf dem Weg sind wiederholt einige prägnante Begriffe aufgekommen. Dies sind vor allem die der Imaginationen, Vorstellungen, Erinnerungen, Assoziationen sowie Interpretationen. Während diese Begriffe in der Fachliteratur hinlänglich definiert sind, konnten wir sie auf dem Weg auch anhand der eigenen Wahrnehmung erfahren und einordnen. Es hat sich herausgestellt, dass der Begriff der Imagination als eine Art Überbegriff angesehen werden kann. Hiermit können vor allem Prozesse, in denen mentale Bilder beteiligt sind, benannt werden. Diese mentalen Bilder können jedoch unterschiedlichen Ursprungs und Inhalts sein. Erinnerungen kommen zum Beispiel als mentale Bilder aus dem Gedächtnis auf. Sie verweisen auf Vergangenes und sind Abdrücke voriger Erlebnisse. Sie sind eine bestimmte Art der Vorstellungen, die auch als Vergegenwärtigungen des Vergangenen bezeichnet werden können. Die Inhalte von Vorstellungen allgemein sind jedoch unabhängig von der Zeit. Neben den Erinnerungen können wir uns auch Situationen oder Qualitäten der Gegenwart vorstellen. Dabei beziehen wir uns auf den Ort, an dem wir uns befinden, oder begeben uns auf mentale Reisen. Wir können uns auch auf Zukünftiges beziehen und uns (Noch-)Nicht-Existierendes vorstellen. Dennoch ist jede Vorstellung in der Vergangenheit begründet, indem sie nichts grundlegend Neues hervorbringt, sondern mit den gesammelten Eindrücken des bisherigen Lebens arbeitet.
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Assoziationen sind vor allem solche mentalen Bilder, die Beziehungen von einem Wahrnehmungsobjekt auf ein zweites herstellen. Dies geschieht dann, wenn wir in einem Bauwerk Strukturen wiedererkennen, die uns aus anderen Erfahrungen vertraut sind. Diese Strukturen wurden auch als Codes bezeichnet. Interpretationen sind den Assoziationen ähnlich, indem auch hier Verbindungen und Zusammenhänge hergestellt werden. Die Assoziationen scheinen jedoch spontaner oder intuitiver zu sein. Sie scheinen den Interpretationen vorauszugehen oder gar deren Grundlage zu bilden. Außerdem sind Assoziationen bildlicher, während Interpretationen mehr durch Begriffe und begriffliche Konzepte geprägt sind. Die Straße Unter den Linden und ihre Umgebung waren Gegenstand der Betrachtungen und die Quellen sinnlicher Reize. Ich habe den Ort nicht zum ersten Mal besucht, und doch habe ich ihn auf eine ganz andere Art und Weise kennengelernt. Es war somit zum einen ein vertrauter, und zum anderen ein fremder Ort. Unter den Linden eignet sich sehr gut für zusammenhängende Betrachtungen im Stadtraum, da stets promenadologisch relevante Aspekte deutlich werden. Dies mag vor allem daran liegen, dass der Ort selbst in einer Zeit angelegt wurde, in dem es noch keine Autos gab und der Ort vor allem zu Fuß besucht wurde. So werden beispielsweise inszenierte Blickbezüge vom Brandenburger Tor zum ehemaligen Stadtschloss sowie prägnante Platzsituationen deutlich. Der Weg erscheint deshalb auch zum Teil wie eine Entdeckungsreise über die Spazierpfade des alten Preußen. Es ist dabei deutlich geworden, dass sich viele Bauwerke und Orte thematisch, gestalterisch oder über Blickbezüge aufeinander beziehen. So können thematische Gruppen aus Bauwerken gebildet werden, die gemeinsame Erfahrungswerte verbinden. Es entstehen mögliche Gruppen, wie zum Beispiel mit dem Fokus auf das Zeitliche (Forum Willy Brandt und Friedrichstraße), auf das Symbolische (St. Hedwigs-Kathedrale und Humboldt-Forum) oder auf das Subjektiv-Selektive (Pariser Platz und Humboldt-Universität), um nur eine Auswahl möglicher Kombinationen zu nennen. Darüber hinaus wurde deutlich, dass der Ort einem sehr starken Wandel ausgesetzt ist. Darauf haben nicht zuletzt die zahlreichen Baustellen abgerissener oder neu errichteter Objekte verwiesen. Auf dem Weg ist ein dynamischer Prozess erfahrbar, der nicht erst seit heute, sondern seit der Entstehung des Ortes aufgrund unter-
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schiedlicher historischer, politischer oder physischer Einwirkungen stattfindet. Dadurch treffen vor Ort verschiedene Gebäude als Zeitzeugen unterschiedlicher Epochen aufeinander, die jeweils bestimmte Werte und Ansichten verkörpern. Durch das Aufeinandertreffen des alten Preußen, des Berlin der Nachkriegszeit sowie des Berlin der Gegenwart entstehen zum einen eine inspirierende Vielfalt, und zum anderen zahlreiche Probleme, die sich auch auf die Wahrnehmung vor Ort auswirken. Der Weg vom Brandenburger Tor aus erscheint oftmals nicht zusammenhängend, da Strukturen aufgesprengt und teilweise unvollständig aufgefüllt wurden, wie es die Rückseite der Komischen Oper offenbart. Der Weg wird außerdem häufig von Kreuzungen und Baustellen unterbrochen, was zusätzlich den Wahrnehmungsfluss stört. Der Pariser Platz, die Friedrichstraße und das Forum Fridericianum werden als Besuchermagnete ersichtlich, während die dazwischenliegenden Bereiche oft menschenleer erscheinen. Dass dies der Fall ist, obwohl die Orte teilweise nur wenige Meter auseinanderliegen, kann so erklärt werden, dass die Wege dazwischen oft mit den öffentlichen Verkehrsmitteln zurückgelegt und somit überbrückt werden. So werden die Orte nur punktuell angesteuert. Auch nutzen den Weg vor allem Touristen und nur wenige einheimische Berliner. Dies kann auf die starke Auslegung auf SehErlebnisse und die wenigen Aufenthaltsqualitäten zurückzuführen sein. Deshalb sind große Teile des Weges, trotz der umfangreichen Eindrücke, wenig attraktiv. Die Straße Unter den Linden als Boulevard verarmt auf diese Weise mehr und mehr. Aufgrund der vielen nicht-öffentlichen Bauten und einer monotonen, idealisierten Stadtplanung werden neben den politischen und sozialen vor allem auch wahrnehmungsmäßige Konflikte deutlich. So zerfallen einige Teile des Weges zusammenhangslos in Einzelteile, wodurch unansehnliche Restflächen, undefinierte Bereiche und wenig besuchte Orte entstehen. Dass solche Erkenntnisse aus der Wahrnehmung heraus möglich sind, zeigt, dass sich die Architektur als Theorielabor sehr gut für die Erforschung unserer Wahrnehmung eignet. Die Methode erscheint als eine ‚realistische‘ Herangehensweise, der etwas Ursprüngliches und Humanes anhaftet. Dabei werden zusätzlich ungeahnte und neue Sichtweisen auf vermeintlich bekannte Gebäude ermöglicht. Eindrücke werden heutzutage oft nur noch über Karten, Pläne, Fotografien, Filme oder Erzählungen analy-
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siert. Diese vermitteln jedoch nur eingeschränkte Einzeleindrücke, in denen vom größeren Kontext und den komplexen Wahrnehmungsebenen abgesehen wird. Während Orte oft nur punktiert per Bus und Bahn angesteuert werden, ermöglicht der Weg zu Fuß den direkten, zusammenhängenden Informationsfluss mit allen damit verbundenen Erfahrungen. Somit bietet sich der optimale Rahmen, in dem die verschiedenen, sonst getrennten wissenschaftlichen Disziplinen zusammengeführt werden können. Es wird in der direkten Anschauung deutlich, dass die einzelnen Wissenschaftsbereiche, die sich im schriftlichen Theoriegelände zum Teil gegenseitig ausschließen, in der Anschauung vereint und kombiniert werden können und müssen. Aus den zahlreichen wissenschaftlichen Modellen entsteht so ein gemeinsames anschauliches Modell des Architekturbewusstseins. Nur wenige Aspekte des Weges offenbaren methodische Probleme mit Bezug auf die Untersuchung der Wahrnehmung und der Imagination. Dadurch, dass bestimmte Orte stark von ihrer Historie geprägt sind, werden die Erkenntnisse der Betrachter ebenfalls stark vorgeprägt. Rezipienten sind deshalb vor Ort gewissermaßen limitiert oder determiniert und können keinen umfänglichen Einblick in alle möglichen Themen der Wahrnehmung erlangen. Die Freiheit des Heranziehens unzusammenhängender Beispiele erlaubt hingegen in der Theorie einen weiteren, umfangreicheren Überblick über verschiedene Aspekte der Wahrnehmung. Dieser wird von einem zusammenhängenden Wahrnehmungsfluss an einem Ort oder in einer Stadt eher verwehrt. Das kann jedoch auch als wichtige Erkenntnis und damit als positiver Aspekt dieser Methode betrachtet werden, da es eine der wesentlichsten Eigenschaften der Wahrnehmung unserer Umwelt darlegt. Außerdem muss das Verständnis von ‚objektiven‘ Beweisen und Inhalten in der Wissenschaft gelockert werden. Die Methode ermöglicht zwar einen seriösen wissenschaftlichen Beitrag, wir laufen aber auch Gefahr, uns im Kontext der Imagination in den selbstgesteckten Zielen des Entdeckens des Unsichtbaren in subjektiven, psychologischen Annahmen zu verlieren. Es ist überraschend, dass auf dem Weg einige Orte nur von geringer Bedeutung waren, von denen ich zuvor eine größere Relevanz erwartet habe. Beispiele dafür sind die russische Botschaft, die Staatsoper sowie der Berliner Dom. Dennoch können diese Orte
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bei weiteren Untersuchungen vor Ort plötzlich eine wichtige Rolle spielen und meine Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Auch habe ich an einigen Stellen realisiert, dass ich die Orte anders in Erinnerung hatte. Dies ist ein deutliches Zeichen dafür, dass unsere Wahrnehmung und Vorstellungskraft sehr dynamisch und vage sind. Außerdem war für mich die große Rolle der zeitlichen Dimension in der Wahrnehmung überraschend. In Anbetracht des Architekturbewusstseins war ich auf räumliche Eindrücke und Themen vorbereitet. Letztlich sind aber vor allem die zeitlichen Zusammenhänge von vergangenen Eindrücken und Einflüssen, der gegenwärtigen Präsenz der Dinge und der Wahrnehmung sowie die Verweise auf Potenziale für die Zukunft am prägendsten. Deshalb muss aufgrund der Erkenntnisse dieses Buches die Frage gestellt werden, ob sich Architekten zu sehr mit Raum und zu wenig mit der Zeit beschäftigen? Der ausgewählte Weg entlang der Straße Unter den Linden bietet sich sehr gut für weitere Untersuchungen an. So können selbst bei gleicher Methodik und Absicht am gleichen Ort unterschiedliche Erkenntnisse aufkommen. Auch kann der gleiche Weg mit anderen Fokussen erkundet werden. Beispielsweise könnte weniger auf die Rolle der Imagination eingegangen werden, sondern mehr auf die Atmosphären oder das leibliche Raumempfinden. Auch kann der Fokus auf einem einzelnen der vielen angeführten Themen liegen. Zum Beispiel können lediglich Fantasie reisen unternommen oder an mehreren Stationen Assoziationen untersucht werden. Außerdem können die gleichen Themen an einem anderen Ort, also anhand eines anderen Weges, betrachtet werden. Es ist von großer Bedeutung, die sich anhand der Entdeckungen ergebenden Debatten nicht nur aufzuzeigen, sondern diese auch aktiv zu führen. Das muss sowohl in der Politik, Stadtplanung als auch an Universitäten geschehen. Ein Umgang mit der ursprünglichen Spaziergangswissenschaft und möglichen Abwandlungen dieser sind dabei von großem Nutzen. So sollten regelmäßige Spaziergänge, Erkundungen und Analysen der Wahrnehmung auch fester Bestandteil des Architekturstudiums sein. Wege durch den Stadtraum ermöglichen relevante Erkenntnisse, die auch für die Architekturpraxis von Bedeutung sind. So waren zum Beispiel auch die Absichten der Spaziergangswissenschaft nach Burckhardt darauf ausgelegt, nicht nur Dinge sichtbar zu machen, sondern
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vor allem auch die Praxis damit zu beeinflussen. Es wurde auch in diesem Buch deutlich, dass sich Planer und Architekten in vielen Verantwortlichkeiten befinden, die nicht nur das Materielle und Konstruierte, sondern auch das Symbolische und Imaginäre betreffen. Die promenadologischen Eindrücke, die Zugänglichkeit von Grundstücken, Sichtbezüge, Formensprachen und die Eigenschaften des Bildlichen sollten beim Planungsprozess mitbedacht werden. Mögliche Interpretationen und Assoziationen müssen berücksichtigt werden, da es hier zu Problemen der Nutzung oder des Wohlbefindens der Nutzer kommen kann. Dabei gilt es, architektonische und städtebauliche Haltungen auch aus Sicht der Rezipienten einzunehmen. Somit müssen auch Laien als Schöpfer der Architektur respektiert werden, sodass nicht Städte für Architekten sondern für die (wahrnehmenden) Nutzer und Rezipienten geplant werden. Letztlich müssen wir das große Potenzial, die menschlichen Sinne sowie Fantasien und Träume anzusprechen, erkennen. Die Imagination ist nicht nur für die Erkenntnis überhaupt notwendig, sondern auch für emotionale und sinnstiftende Bedeutungen des Lebens. Rezipienten und – Paul Klopfer zufolge – insbesondere Architekten sollten deshalb das Wahrnehmen sowie Imaginieren schulen und stündlich auf ihren „Wegen durch die Stadt oder im Dorfe mit den Augen ‚arbeiten‘.“ 3 Anmerkungen 1
Bazon Brock, Lustmarsch durchs Theoriegelände – Musealisiert Euch!, Köln: DuMont 2008, S. 37.
2
Übersetzt durch den Verfasser. Originalzitat in: Juhani Pallasmaa, The Embodied Image. Imagination and Imagery in Architecture, Chichester: John Wiley & Sons Ltd 2011, S. 93.
3
Paul Klopfer, „Das räumliche Sehen“, in: Thomas Friedrich u. Jörg H. Gleiter (Hg.), Einfühlung und phänomenologische Reduktion. Grundlagentexte zu Architektur, Design und Kunst, Münster: LIT Verlag 2007, S. 149.
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https://www.stadtentwicklung.berlin.de/planen/stadtmodelle/de/ innenstadtplaene/sp/index_sp-st3_4-2.shtml [14.01.2020]. https://www.stadtentwicklung.berlin.de/planen/planwerke/pix/ innere_stadt/download/planwerk_innere_stadt_2010.jpg [14.01.2020]. https://www.komische-oper-berlin.de/entdecken/geschichte/ [14.01.2020]. https://www.hedwigs-kathedrale.de/kathedrale/geschichte/ [17.01.2020].
Bildnachweise
18 Schwarzplan Berlin (bearbeitet). https://schwarzplan.eu/ produkte/lageplan-berlin/ [07.06.2020] ©OpenStreetMapMitwirkende (www.openstreetmap.org/copyright). 21 Langhans, Carl Gotthard, Brandenburger Tor, Berlin 1789–93. Foto: Julian Franke, Ohne Titel, 2020. 31 Senf, Peter, Wiratex-Gebäude (Elisabeth-Selbert-Haus), Berlin 1962–64. Foto: Julian Franke, Ohne Titel, 2020. 41 Kunz, Nierade, Komische Oper [1892], Berlin 1965–66. Foto: Julian Franke, Ohne Titel, 2020. 51 Brodführer, Carl Theodor, Bahnhof Berlin Friedrichstraße [1882], Berlin 1919–25. Foto: Julian Franke, Ohne Titel, 2020. 61 Boumann, Johann, Palais des Prinzen Heinrich (Hauptgebäude der Humboldt-Universität), Berlin 1748–53. Foto: Julian Franke, Ohne Titel, 2020. 71 Schwippert, Hans, St. Hedwigs-Kathedrale [1887], Berlin 1952–63. Foto: Julian Franke, Ohne Titel, 2020. 81 Internationale Bauakademie Berlin e.V., Attrappe der Bauakademie von Karl F. Schinkel [1832–36], Berlin 2004–19. Foto: Achim Kleuker, Bauakademie, 2011 (bearbeiteter Ausschnitt). 91 Stella, Franco, Humboldt Forum, Berlin seit 2013. Foto: Julian Franke, Ohne Titel, 2020.
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Autor
Julian Franke, geb. 1991, ist Architekt und Philosoph. Studium in
Münster, Berlin und Cork. Er lebt und arbeitet in Zürich und Berlin und befasst sich mit Themen an den Schnittstellen von Architekturphilosophie, Semiotik, Bildtheorie und Ästhetik.
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Architektur Denken 1
Architekturtheorie heute. J. H. Gleiter, 2008 ISBN 978-3-89942-879-7
2
Die enzyklopädische Architektur. G. de Bruyn, 2008 ISBN 978-3-89942-984-8
3
Welten und Gegenwelten. A. Isozaki, 2011; Y. Fukuda (Üs.), J. H. Gleiter, J. R. Noennig (Hg.) ISBN 978-3-8376-1116-8
4
Urgeschichte der Moderne. J. H. Gleiter, 2010 ISBN 978-3-8376-1534-0
5
Das Wissen der Architektur. G. de Bruyn, W. Reuter, 2011 ISBN 978-3-8376-1553-1
6
Alphabet und Algorithmus. M. Carpo, 2012 Jörg H. Gleiter (Hg; Üs.), Jan Bovelet (Üs.) ISBN 978-3-8376-1355-1
7
Symptom Design. J. H. Gleiter (Hg.), 2014 ISBN 978-3-8376-2268-3
8
Architektur und Philosophie. J. H. Gleiter, L. Schwarte (Hg.), 2015 ISBN 978-3-8376-2464-9
9
Das Diaphane. U. Kuch (Hg.), 2020 ISBN 978-3-8376-4282-7
10 Media Agency. C. Barlieb, L. Gasperoni (Hg.), 2020 ISBN 978-3-8376-4874-4 11 Betrachtungen der Architektur. T. Kammasch (Hg.), 2020 ISBN 978-3-8376-4994-9 12 Mikrotopoi der Architektur. S. Meireis, 2020 ISBN 978-3-8376-5197-3 13 Erfahrungswelten. J. Franke, 2020 ISBN 978-3-8376-5353-3 Erhältlich im Buchhandel oder beim transcript Verlag. Portofreie Zustellung bei Bestellung direkt vom Verlag. Fax +49 (521) 393797-34 [email protected] www.transcript-verlag.de
Architektur und Design Daniel Hornuff
Die Neue Rechte und ihr Design Vom ästhetischen Angriff auf die offene Gesellschaft 2019, 142 S., kart., 17 SW-Abbildungen 19,99 € (DE), 978-3-8376-4978-9 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4978-3
Katharina Brichetti, Franz Mechsner
Heilsame Architektur Raumqualitäten erleben, verstehen und entwerfen 2019, 288 S., kart., 22 SW-Abbildungen, 57 Farbabbildungen 29,99 € (DE), 978-3-8376-4503-3 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4503-7
Annette Geiger
Andersmöglichsein. Zur Ästhetik des Designs 2018, 314 S., kart., 175 SW-Abbildungen 29,99 € (DE), 978-3-8376-4489-0 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4489-4
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Architektur und Design Andrea Rostásy, Tobias Sievers
Handbuch Mediatektur Medien, Raum und Interaktion als Einheit gestalten. Methoden und Instrumente 2018, 456 S., kart., 15 SW-Abbildungen, 211 Farbabbildungen 39,99 € (DE), 978-3-8376-2517-2 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-2517-6
Ulrike Kuch (Hg.)
Das Diaphane Architektur und ihre Bildlichkeit Januar 2020, 228 S., französische Broschur, 43 SW-Abbildungen, 15 Farbabbildungen 24,99 € (DE), 978-3-8376-4282-7 E-Book: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4282-1
Thomas Hecken, Moritz Baßler, Elena Beregow, Robin Curtis, Heinz Drügh, Mascha Jacobs, Annekathrin Kohout, Nicolas Pethes, Miriam Zeh (Hg.)
POP Kultur & Kritik (Jg. 9, 1/2020) April 2020, 180 S., kart. 16,80 € (DE), 978-3-8376-4936-9 E-Book: 16,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-4936-3
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