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German Pages [337] Year 2016
Clara Vasseur Johannes Bündgens
Spiritualität der Wahrnehmung
Einführung und Einübung
VERLAG KARL ALBER
https://doi.org/10.5771/9783495808115
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B
Clara Vasseur / Johannes Bündgens Spiritualität der Wahrnehmung
VERLAG KARL ALBER
A
https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Dieses Buch will im Kontext einer säkularisierten Gesellschaft einen Weg zeigen, wie Menschen in dieser Welt und in dieser Zeit Erfahrungen von Gott und mit Gott machen können. Dabei bezieht es sich auf die nur wenig bekannten Arbeiten des Jesuiten Marcel Jousse (1886–1961), der als Erster einen leiborientierten Ansatz vorgestellt hat. Ihm zufolge kommt dem Leib eine wesentliche Rolle in der Erkenntnis- und Wertebildung zu. Das Leibgedächtnis ist mehr noch als das kognitive Gedächtnis der Ort, an dem sich Identität bildet und bewahrt wird. Dieser Ansatz ermöglicht einen neuen Zusammenhang zwischen Phänomenologie, Anthropologie und praktischer Theologie: Aus phänomenologischer Sicht wird das betrachtet, was gewahr werden will, wenn »Gott ins Denken einfällt« (Levinas). Dabei ist es gerade der Leib, der es vermag, Transzendenz durchscheinen zu lassen. Er ist »der Tempel Gottes«; er kann die unsichtbare Präsenz Gottes sichtbar machen. Für die Spiritualität der Wahrnehmung bedeutet dies, dass die Beziehung zu Gott über die Empfindungen des Leibgedächtnisses gewahr werden, bewahrt und neu belebt werden kann. Ins Zentrum rücken die Erfahrung und das Gespür für eine Wirklichkeit, hinter denen all unsere Erklärungen immer zurückbleiben werden.
Die Autoren: Clara Vasseur hat Philosophie in Frankreich und Deutschland studiert. Von 1995 bis 2015 lebte sie als Benediktinerin der Abtei Mariendonk im Bistum Aachen. Johannes Bündgens hat in Rom Theologie studiert und dort promoviert. Seit 2006 ist er Weihbischof im Bistum Aachen.
https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Clara Vasseur / Johannes Bündgens
Spiritualität der Wahrnehmung Einführung und Einübung Mit einem Vorwort von Guido Meyer
Verlag Karl Alber Freiburg / München
https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Instituts für Spiritualität in Münster und der Bischof-Klaus-HemmerleStiftung im Bistum Aachen
2. Auflage 2016 © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2015 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Umschlagbild: © Gerhard Mevissen, Stille Speicher II, 16,5 Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier ISBN (Buch) 978-3-495-48662-7 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-80811-5
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Inhalt
Eine doppelte Vorbemerkung
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Vorwort von Guido Meyer . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Auf der Suche nach einem neuen Anfang . Zeitdiagnose: Krise und Neuanfang . . . . Aktuelle Herausforderungen . . . . . . . . Autobiographisches 1 (Clara Vasseur) . . .
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20 20 23 26 29 32 34 38
I Berührung und Spiritualität . . . . . . . . . . . . . . . .
47
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. . . . . Autobiographisches 2 (Johannes Bündgens) . Der Ansatz über die Wahrnehmung . . . . . . Einige Worte zur Methode . . . . . . . . . . .
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1) Der Stellenwert von Berührung in der heutigen Zeit. Virtuelle und reale Welt . . . . . . . . . . a) Berührung und Tastsinn . . . . . . . . . . . b) Berührung physiologisch und therapeutisch c) Berührung phänomenologisch . . . . . . . . d) Berührung als Metapher . . . . . . . . . . . 2) Berührt von Menschen – berührt von Gott. Ein Beispiel im Zusammenhang mit der Abtei Mariendonk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3) Berührung in der Bibel und in der Tradition . . a) Altes Testament . . . . . . . . . . . . . . . . b) Neues Testament . . . . . . . . . . . . . . . c) Vätertheologie . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . .
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48 50 51 52 54
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. . . . .
55 59 60 62 71 5
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Inhalt
4) 5) 6) 7)
Berührung und Sakramententheologie Berührung und Tabu . . . . . . . . . . Anfassen und Loslassen . . . . . . . . Glaube als Berührung Gottes . . . . .
. . . .
73 78 80 82
II Wahrnehmung und Spiritualität . . . . . . . . . . . . . .
92
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1) »Gefühlte Bedeutung« und Wahrnehmung – eine phänomenologische Untersuchung . . . . . . 2) Kontinuität in der Wahrnehmung und Identität . . 3) Wahrnehmungslehre: Die Stellung des Leibes für das konstituierende Bewusstsein . . . . . . . . . . a) Leib und Eigenleib . . . . . . . . . . . . . . . . b) Leib und Wahrnehmung . . . . . . . . . . . . . c) Leib und Erfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . d) Leib, Raum und Zeit . . . . . . . . . . . . . . . e) Leib und Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . 4) Inkarnation: Körper, Leib und Fleisch . . . . . . . 5) Leibgedächtnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6) Aufmerksamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7) Schulung der inneren Wahrnehmung: Einübung in die Stille im Geist des Zen . . . . . . . . . . . . . . a) Der Meditationsweg fremder Religionen und das Christliche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Von der Notwendigkeit der Stille . . . . . . . . c) Stille und Wort . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Orte – Räume der Stille . . . . . . . . . . . . . III Leiblichkeit, Identität und Transzendenz
. . . . . . . . . 1) Durchsichtigkeit des Leibes und Transzendenz . . a) Ein Sprechen auch ohne Worte . . . . . . . . . b) Zum sichtbaren Ausdruck der Gottesbeziehung . 2) Der Leib als das Symbol schlechthin . . . . . . . . 3) Die Pädagogik des Leibes . . . . . . . . . . . . . . a) Herkunft von Marcel Jousse . . . . . . . . . . .
6 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
92 98 105 113 115 117 118 119 120 125 128 134 134 141 143 144 154 154 158 160 161 164 165
Inhalt
4) 5) 6) 7)
b) Die Dynamik oraler Kultur . . . . . . . . . c) Die Dynamik der Geste . . . . . . . . . . . . d) Rhythmokatechese und »Récitatif biblique« Liturgieunfähigkeit und leibliches Selbst . . . . Ding- und Raumerfahrung in der Liturgie . . . Zur Fähigkeit des Bei-sich-wohnens . . . . . . Leiblichkeit und Identität . . . . . . . . . . . . a) Identitätsbildung . . . . . . . . . . . . . . . b) Geschlechtlichkeit und Andersheit . . . . . c) Geschlechtlichkeit und Transzendenz . . . . d) Ambivalenz des Geschlechtlichen . . . . . . e) Leibliche und geistliche Identität . . . . . . f) Leib und Gewand . . . . . . . . . . . . . . .
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167 168 175 184 189 192 194 194 199 203 205 206 208
. . . . . . . . Erfahrung aus transzendentalphilosophischer Sicht Erfahrung und die Frage nach dem Sinn . . . . . . Die Frage nach der Möglichkeit der Gotteserfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Tradition: Gotteserfahrung bei Benedikt von Nursia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gotteserfahrung im Wort (geistliche Lesung und Gottesdienst) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das sinnvolle Sprechen zu und von Gott . . . . . .
220 220 224 227 231 236
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IV Erfahrung und Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . 1) Vom Verlust der Fähigkeit zur Erfahrung . . . a) Erfahrungsverlust und Glaubensrückgang . b) Ästhetik der Lebenswelten . . . . . . . . . .
2) 3) 4) 5) 6) 7)
V Begegnung und Haltung
1) 2) 3) 4) 5)
. . . . . . . . . . . . . Begegnung – ein heimatloser Begriff? . . Begegnung als dialogische Beziehung . . Leibliche Kommunikation und Einleibung Der Leib als dialogisches Prinzip . . . . . Begegnung mit dem Antlitz . . . . . . . .
. . . . . .
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. . . . . .
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237 243 248 254 265 265 268 273 276 281 7
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Inhalt
6) Antlitz, Leid, Kreuz und Tod . . . . . . . . . . . . 286 7) Wegweisung für die Gottesbegegnung . . . . . . . 294 Schluss: Heute Gott suchen – Aufgabe und Antwort – 12 Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308 Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326
8 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
»Nehmt Neuland unter den Pflug und sät nicht in die Dornen!« Jeremia 4,3
für Sylvia Hiltrud Michael pastorale Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Gemeinde St. Mariä Geburt in Kempen
* für P. Samuel Heimler OFM und seine Brüder Sie leben nah an einer lebendigen Quelle Dietfurt 2016
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Eine doppelte Vorbemerkung
(1) Am Anfang der Spiritualität der Wahrnehmung steht eine Erfahrung: Gott lässt sich in meinem FLEISCH nieder. Ich kann IHN spüren, erfahren. ER ist nicht ein Gebilde meiner Phantasie. ER ist eine fremde Gegenwart. Wenn es aber wirklich um ein Spüren geht, dann brauche ich auch so etwas wie einen LEIB, ein FLEISCH. Deshalb eine Spiritualität der Wahrnehmung. Sie beginnt mit und in der Berührung dieses Fleisches. Wenn ich es wage, von einer »Spiritualität« der Wahrnehmung zu sprechen, dann will ich dabei nicht behaupten, dass der Heilige Geist mir dies oder jenes gesagt hätte … – das wäre sehr vermessen –, sondern einfach: Ich spüre, dass es dabei einen Überschuss an Gehalt gibt, den ich nicht aus mir selbst produzieren kann. Bei meinen Überlegungen, die aufgrund der Vielfalt der Themen heute noch keine abgeschlossene, systematische und umfassende Darstellung bieten, sondern mehr an ein SichHerantasten erinnern, kam ich oft an meine Grenzen, nicht zuletzt in meinem Ringen mit einer Sprache, die nicht meine Muttersprache ist. Wenn ich mich dennoch dazu entschlossen habe, einem geduldigen Leser diesen unvollendeten, bruchstückhaften Entwurf in die Hand zu geben, dann ist es, weil ich die Notwendigkeit spüre, in unserer aktuellen Verkündigung auf einen Neuanfang hinzuweisen. Ich bin Weihbischof Johannes Bündgens sehr dankbar, dass er sich auf dieses Abenteuer eingelassen hat, damit dieses Buch in einer Gestalt, die 10 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Eine doppelte Vorbemerkung
wir »verantwortete Vorläufigkeit« (R. Schaeffler) nennen, heute erscheinen kann. Ohne seine Geduld und Hilfe wäre es nicht, was es heute geworden ist. cv
(2) Dieses Buch verdankt seine Entstehung der Verbindung von Philosophie und Spiritualität in der Person von Schwester Clara Vasseur. Sie arbeitete zur Phänomenologie zuerst in ihrer französischen Heimat und später in Deutschland und brachte dieses wissenschaftliche und kulturelle Gepäck mit bei ihrem Eintritt in die Benediktinerinnenabtei Mariendonk am Niederrhein. Aus ihren Studien und ihrer geistlichen Praxis, aus der Arbeit der Vermittlung mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen, aber auch in Zusammenarbeit mit Katecheten und Seelsorgern entwickelte sie die Idee dieses Buches. Von dem Grundgedanken fasziniert, eine Form von Spiritualität zu beschreiben, die dem entspricht, was auf philosophischem Gebiet die Phänomenologie ist, neugierig geworden auf einen bisher unbekannten Autor wie Marcel Jousse und selbst von der Notwendigkeit einer geistlichen Erneuerung überzeugt, willigte ich ein, als Schwester Clara mich um Mitarbeit bat. Ich steuerte im Wesentlichen das Kapitel »Berührung« bei und begleitete die Entstehung der anderen Teile des Werkes. jb * * *
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Dank
Bei der Entstehung dieses Buches haben viele Menschen mitgewirkt. Dank für ihre Anregungen und ihre Befürwortung gebührt Dr. Regina Bäumer und Prof. Dr. Dr. Michael Plattig OCD vom Institut für Spiritualität in Münster. Prof. Dr. Dr. Elmar Nass in Fürth begleitete das Projekt v. a. in seiner Anfangsphase mit kritischem Wohlwollen. Herrn Prof. Richard Schaeffler danken wir für die kritische Auseinandersetzung mit der Rezeption seines Ansatzes. Prof. Dr. Guido Meyer am theologischen Institut der RWTH Aachen sei gedankt für sein aufmerksames Interesse und sein engagiertes Vorwort. Bei Hadwig Müller, Bertin Rautenberg und Sylvia Bolz, Krankenhausseelsorgerin und geistliche Begleiterin, bedanken wir uns für ihre kritische Lektüre des Manuskripts und ihre Ermutigung bei der Redaktion. Mit Othmar Franthal (Dietfurt), Andrea Witte und P. Sebastian Debour (Gerleve) weiß ich mich auf einem gemeinsamen Weg verbunden. Sylvia Bolz war mit ihrer pastoralen Erfahrung als Gemeindereferentin und Krankenhausseelsorgerin eine kritische und aufmerksame Leserin. Max, Christian und Martin; Nicole, Anna-Maria und viele andere Schüler und Schülerinnen sowie Studenten und Studentinnen haben durch ihre Fragen und Antworten über Jahre den Glauben hinterfragt und zum Nachdenken angeregt. Lukas Trabert danken wir für die Aufnahme des Buches in 12 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Dank
das Programm des Verlags Karl Alber und für die fachliche und einfühlsame Begleitung in der Endphase der Entstehung. Ohne Äbtissin Dr. Christiana Reemts, Altäbtissin Luitgardis Hecker und die Schwestern der Abtei Mariendonk hätte das Buch nicht entstehen können. Das Bistum Aachen hat dankenswerterweise einen Zuschuss zu den Druckkosten gewährt. cv / jb
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Vorwort
»Das Selbstverständliche ist das Rätselhafte«, so lautete der Titel eines Vortrags von H.-G. Gadamer, der gleichsam programmatisch auch für das vorliegende Buch stehen könnte. Die heutige Welt hat uns kaum noch Wundersames zu bieten. Alles erscheint irgendwie erklärbar. Unsere Alltagswelt ist deshalb »so wie sie ist«; staunendes Fragen lässt sie kaum noch zu. Ein kruder nicht hintergehbarer Realismus bestimmt in großen Teilen unser Handeln und Denken. Die Welt erschließt sich durch einen objektiven Zugang, so könnte man das ontologische Axiom, das unserem gewohnten Tun fraglos zugrunde liegt, beschreiben. Im Verbund von Wissenschaft und Technik werden Menschen mit den harten Fakten, die das Leben bestimmen, konfrontiert. Hand in Hand bestimmen beide grundlegend unser Wirklichkeitsverständnis. Und dennoch reicht vielen postmodernen Zeitgenossen ein objektivistisches Wirklichkeitsverständnis nicht aus. Sie spüren die Begrenztheit ihres zweckrationalen Denkrahmens. Die Postmoderne sei auf eine eigene Weise spirituell, heißt es deshalb vielerorts. Der Monotonie der Alltagswirklichkeit, die mit zunehmend atemberaubender Geschwindigkeit an uns vorbeizieht, zu entfliehen, ist ein zentrales Bedürfnis heutiger Menschen. Postmoderne Gesellschaften bieten ihren Zeitgenossen dementsprechend ein riesiges Arsenal an Unterhaltungsmöglichkeiten an, die die vermeintliche Monotonie der Alltagsund Objektwelt mit ihren vermeintlich unumstößlichen Gesetzen transzendieren. Spirituelle Angebote und unterschied14 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Vorwort
lichste Erlebnisräume stellen demgegenüber den notwendigen Kontrapunkt zu einem rational strukturierten, hoch funktionalistischen Alltag dar. Ihre Plausibilisierungskraft mit Blick auf die Wirklichkeit als Ganzes fällt jedoch deutlich hinter den überprüfbaren Gesetzen und empirischen Eindeutigkeiten des technisch-wissenschaftlichen Denkens zurück. Aus diesem Grund gehört eine neue Suche nach Spiritualität zwar zum inneren Kern des postmodernen Lebensgefühls, als allgemein verbindlich jedoch gelten pragmatisch-funktionale und zweckrationale Wirklichkeitsdeutungen. Den unterschiedlichen spirituellen Angeboten wird dagegen ein oftmals klar umgrenztes gesellschaftliches Segment zugewiesen, in dem die Suchenden sich von der Alltagslast befreit ihren Sehnsüchten anheim geben können. Im vorliegenden Buch wird der Versuch unternommen, zu den »Sachen selbst zurückzukehren«. Und damit ist nicht der Versuch gemeint, die Welt aus einer schlichten »objektiven Perspektive« zu erfassen. Im Gegenteil: Im phänomenologischen Sinne meint Husserls Aufruf »zu den Sachen selbst zurückzukehren« zunächst die Wahrnehmung als geistige Konstitutionsgrundlage der Alltagswirklichkeit zu thematisieren und zu problematisieren. Sich dem Phänomen nähern heißt, Letzteres als das »Ergebnis eines geistigen Prozesses« zu verstehen. Um weder einem objektivistischen Dogmatismus noch einem verklärten Dualismus, der die geistige Welt von der materiellen trennt, anheimzufallen, gilt es, die Erkenntniskraft unserer Wahrnehmung als einen deutenden Zugang hin zu einem überaus vielschichtigen Dahinter zu betrachten. In permanenter Auseinandersetzung mit den menschlichen Sehnsüchten und den gesellschaftlich verbreiteten Interpretationsangeboten schafft unsere Wahrnehmung ihre eigene Wirklichkeit. Wirklichkeit ist deshalb immer eine »innere« und »soziale Konstruktion«. Dabei stützt sie sich auf ein intentionales Bewusstsein. Auf ein Bewusstsein, das deshalb nicht 15 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Vorwort
autonom existiert, sondern immer nur gerichtet auf ein Objekt in Erscheinung tritt. Was kann dem Menschen »gewahr werden«? »Gewahrwerden«, ein wunderbarer Begriff, der sich von seinem innersten Bedeutungskern gegen die ontologischen Allmachtsphantasien sträubt. Von außen fällt etwas auf den Menschen ein und zwar ohne seinen direkten Willen. Er wird berührt, es berührt ihn; es »affiziert ihn«, wie der französische Phänomenologe Michel Henry immer wieder schreibt. »Gewahrwerden« ist kein ausschließlich geistiger Akt. »Gewahrwerden« setzt ein Leibbewusstsein voraus. Wahrnehmung geschieht mit und durch den Leib. Ein vom Leib isolierter Geist ist in diesem Sinn nichts anderes als eine Fiktion, ein Produkt der reinen Idee. Mit seinem Leibbewusstsein, zu dem ganz zentral das Leibgedächtnis gehört, begegnet der Mensch seiner Welt und seinen Mitmenschen. Hier zeigt sich die Welt und die damit verbundene Wirklichkeit in ihrer ebenso faszinierenden wie angsterregenden Rätselhaftigkeit. Hier nimmt der Mensch Kontakt auf mit seinem fundamentalen Mangel, der wiederum die Quelle des unauslöschlichen Begehrens nach dem Absoluten im Menschen ist. Diese Erfahrung kann uns in vielfachen und unterwarteten Augenblicken unseres Alltags zuteilwerden. »Gewahrwerden« meint ein geistiges »Spüren«, das Wirklichkeit mehr umfasst als das, was darstellbar und aussagbar ist. Dieses »Gewahrwerden« entzieht sich wesensgemäß unseren eingeschliffenen Vorstellungsbildern. Oftmals gibt es sich nur im Nachhinein zu erkennen. Nur durch einen kleinen Spalt unserer objektiven Wirklichkeitsmauern scheint es durch. Der Sänger und Poet Leonard Cohen bringt es auf den Punkt: »There is a crack in everything. That’s how the light gets in.« Im Gewahrwerden eines jeden Objekts kann uns ein Licht aufgehen, können wir potentiell mit einer übersteigenden Dimension konfrontiert werden. Dieses Gewahrwerden braucht Rahmenbedingungen, fällt im wahrsten Sinn des Wortes nicht vom Himmel, damit 16 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Vorwort
der »Spalt in den Dingen« sich auftut und überhaupt erkannt werden kann. Steigen wir einen Augenblick hinab aus den philosophischtheologischen Höhen in die nicht minder komplexen gesellschaftlichen Gefilde. Nicht als rein denkendes Wesen im cartesischen Sinne, sondern als leibliches Wesen wird dem Mensch gewahr, dass die Wirklichkeit selbst, in der er lebt, ihn in eine weitaus vielschichtigere Beziehung versetzt, als er dies vermutet hätte. Als leibliches Wesen ist der Mensch allerdings immer auch ein gesellschaftliches, das eingebunden ist und geistig geprägt wird von den Einflüssen und Vorstellungsmustern der unterschiedlichsten Entitäten und Milieus. In der heutigen postsäkularen und nachmetaphysischen Zeit besteht eine große Sehnsucht nach letzter Vergewisserung. Wer garantiert mir, dass ich lebe? Und dass mein Lebensprojekt, für das ich unter dem Signum eines Hyperindividualismus allein die letzte Verantwortung trage, die richtige Richtung nimmt? Das cartesische »cogito ergo sum« sowie der aufgeklärte Verstand und seine modernen Ableger jedenfalls haben im medialen öffentlichen Raum kaum noch letztbegründendes Potential. Viel eher wird heutzutage dem Gefühl, zu dem jeder nur auf seine ureigene Weise in Beziehung zu treten vermag, dieses Potential zugesprochen. »Ich fühle, also bin ich«, so liest sich die postmoderne Antwort auf das cartesische »cogito ergo sum«. Gleichwohl wird die Sehnsucht nach Gott, wie sie sich an vielen einschlägigen Bespielen aus den Medien und der Werbung aufzeigen ließe, oftmals von einer immensen Sehnsucht nach Nähe, die mit der Sehnsucht nach Letztbegründung einhergeht, so überdeckt, so dass das »Gewahrwerden« und dessen geistige Seite, die sogenannten letzten Fragen, zwar auch heute noch immer präsent sind, jedoch kaum noch gestellt werden. In der Sprache der Psychoanalyse: Der ursprüngliche Mangel und das darauf antwortende Begehren wird durch die 17 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Vorwort
sich im Modus des Bedürfnisses artikulierende Sehnsucht nach Nähe, wie wir sie unter anderem in den neuen Medien und vor allem in den sozialen Netzwerken beobachten können, erstickt. Unter den gegebenen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen wirkt vor allem die kirchliche Glaubensvermittlung »verobjektivierend«. Anders ausgedrückt: Glaube wird hier oftmals auf einen fest umgrenzten Glaubensbestand reduziert. Glaubensvermittlung ist zutiefst verbunden mit einer entsprechenden Wirklichkeitsdeutung, die dem Rätselhaft-Geheimnisvollen Platz einräumt und den Menschen als daran partizipierenden Aktanten versteht. Vor dem Hintergrund dieses Wirklichkeitsverständnisses und durch ein leibliches Gewahrwerden kann der geheimnisvolle Gott als der lebendige Urgrund dieser Welt mit der notwendigen Zurückhaltung benannt werden. In der Flucht dieser wenigen, hier nur angedeuteten Gedankengänge verbindet das vorliegende Buch die Grundlagen eines neuen existentiellen Fragens verbunden mit den sich daraus ergebenden Erfordernissen an den Einzelnen und seinem gesellschaftlich Engagement. In knappen Argumentationsgängen, oftmals in direkter Anlehnung an in der deutschsprachigen Welt weniger bekannte Autoren, verfolgen die Verfasser zielstrebig ihr Grundanliegen und entwerfen Konturen einer »Spiritualität der Wahrnehmung«. Es bleibt zu hoffen, dass das Buch und seine Verfasser viele kritische Leser finden, die all die Schätze, die sich an zahlreichen Stellen verbergen und die noch gehoben werden wollen und die darüber hinaus noch einer weiterführenden Auseinandersetzung bedürfen, zu würdigen wissen. Vor allem der Denkansatz von Marcel Jousse mit seiner anthropologischen Linguistik und damit verbunden sein Konzept einer leiblichen Kommunikation, der in der deutschsprachigen theologischen und philosophischen Literatur leider noch kaum Beachtung gefunden hat, aber auch der Bedeutung der Stille und der Kon18 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Vorwort
templation in postmoderner Gesellschaft verdienen es, weiter bedacht zu werden. Spirituell Suchende wie eine oftmals rational-verknöchert auftretende Theologie finden auf den folgenden Seiten zahllose neue, hier und da irritierende, aber immer inspirierende Impulse. Guido Meyer
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Einleitung
Auf der Suche nach einem neuen Anfang Die Krise der Kirche in Deutschland ist im Kern eine spirituelle Krise. Es kriselt, wenn die Kirche als sichtbare Institution versagt und den Durst nach Spiritualität nicht zu stillen vermag. Den Aufruf zur »Entweltlichung« von Papst Benedikt XVI. bei seinem Deutschlandbesuch 2011 kann man in diesem Sinn verstehen. In dem Maße, wie wir Christen den Glauben in unserem Leben wirksam werden lassen, d. h. wie wir eine lebendige und liebende Beziehung zu Jesus Christus pflegen, wird die Kirche wieder attraktiv und glaubwürdig für andere sein. Der Anfang einer möglichen Erneuerung liegt in einer mutigen Auseinandersetzung mit der eigenen Identität. Dies wird umso aktueller, je mehr die islamische Welt neu erwacht und »heilige« Kriege heute wieder zur Tagesordnung gehören. Im Namen der Religion werden Kräfte gebündelt, die aufbauend oder zerstörend wirken können. Wissen wir Christen, für was und für wen wir leben und geistlich »kämpfen« wollen? Welchem Herrn wir dienen wollen? Was und wer uns nach dem Tod noch »erwartet«? Wenn jemand heute sagt: »Ich habe meinen Glauben verloren«, dann hat er nicht die Inhalte, die ihm vielleicht im Religionsunterricht oder in der Katechese beigebracht wurden, vergessen, sondern er hat die lebendige Beziehung zu Gott und zur Gemeinschaft der Glaubenden verloren. Alles, was mit dem Glauben zu tun hat, berührt seine Existenz nicht 20 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Auf der Suche nach einem neuen Anfang
mehr. Er hat sich dem, was vielleicht früher einmal Wirklichkeit für ihn war, entfremdet. Der Begriff Spiritualität dagegen ist in aller Munde. Sogar für eine säkulare Einrichtung wie die Weltgesundheitsorganisation gehört er selbstverständlich zur Definition gesunden, gelungenen Lebens. Er wird allerdings formal und inhaltlich ganz unterschiedlich gefüllt. Spiritualität meint zumeist eine Art »Way of Life«, einen geistlichen Weg, der immer zu einer konkreten Zeit, an einem konkreten Ort und von konkreten Menschen gegangen wird. Spiritualität erlebt einen »Boom«, aber mehr als »Spiegel moderner Sehnsüchte«, während gleichzeitig Kirchen geschlossen oder anders genutzt werden. 1 Aber welche Spiritualität braucht unsere Zeit? Was brauchen Menschen heute, um Gott zu begegnen, zu erfahren, Ihn als den Liebenden schlechthin in ihr Leben hereinzulassen? Warum die Rede von einer »Gottferne«, gerade in einer Zeit, in der doch die immerwährende Erreichbarkeit gewährleistet ist, da jedermann, von den Jüngsten bis zu den Senioren, ein tragbares Gerät bei sich hat, mit dem man ihn jederzeit kontaktieren kann? Was bedeutet die Technisierung, Modernisierung, der Durst nach Leistung und diesseitigem Erfolg angesichts einer Botschaft, die auf eine andere Welt verweisen will? Wie eine verbindliche Glaubenslehre anbieten, wenn Menschen sich gar nicht mehr binden wollen, weil Beziehungen als Felder des Scheiterns erfahren werden? Wo könnten neue Leitungen gelegt werden, durch die das lebendige Wasser wieder zu den Menschen strömt? Solche Fragen und viele lebendige Begegnungen sind es, die uns bewegt haben, dieses Buch in Angriff zu nehmen und den Versuch zu wagen, Philosophie und Spiritualität in Dialog zu bringen. Michael Plattig und Regina Bäumer (vom Institut für Spiritualität, Münster) bieten folgende Definition an: »Spiritualität ist die fortwährende Umformung eines Menschen, der antwortet auf den Ruf Gottes.« 2 Wenn jemand mich ruft, wenn ich meinen Namen höre, dann wende ich mich ihm zu. 21 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Einleitung
Der Ruf ist mir immer voraus. Er bedeutet das Ende der Herrschaft des Subjektes über sich selbst, weil der Ruf mich stets ohne meine Zustimmung ereilt. Das Hören geht dem Sehen voraus. Ich muss suchen, wer hat gerufen? Schrecklich ist es, wenn der Ruf dann verstummt und ich suchen muss, woher der Ruf kam. Wer einen Ruf vernommen hat, wird aus seiner eigenen Welt und Planung weggerissen. Er muss sich dazu stellen. Spiritualität zu pflegen besagt zunächst, dass ein Mensch sich in seinem Leben vom Geist Gottes leiten und prägen lassen möchte. Vorausgesetzt ist, dass es möglich ist, den Geist Gottes – gemeint ist der biblische Gott – und sein konkretes Wirken und Handeln im eigenen Leben wirklich zu »erfahren« (Exodus 16,6), zu »kosten« (Psalm 34,9), zu »ertasten« und zu »spüren«, auch wenn dies im Alten Testament eine für unser heutiges Empfinden eher negative Prägung haben kann (2 Makkabäer 7,17). Der Mensch kann dieser transzendenten Wirklichkeit gewahr werden und sein Leben darauf »abstimmen«, d. h. auch »umgestalten«. 3 Dies setzt das Hören auf den Ruf voraus. Die Antwort auf die Erfahrung einer Begegnung mit der Wirklichkeit, die wir Gott nennen, betrifft die ganze Existenz eines Menschen in seinem Denken, Fühlen und Handeln. Sie gibt ihm eine Grundorientierung. Nicht die Hoffnung, das Leben dank des Glaubens besser bewältigen zu können, sondern die Begegnung mit einer lebendigen Person, mit Jesus Christus, der zu mir spricht, auf den ich hören kann und darf, führt mich dazu, im Glauben und in meinem konkreten Leben eine Antwort darauf zu geben, die immer wieder aktualisiert werden muss. Spirituelle Wege werden im Hören auf einen Ruf gegangen, in einer Grundhaltung des Vertrauens; »als Glaubende gehen wir unseren Weg, nicht als Schauende« (2. Korintherbrief 5,7). Nicht umsonst beginnt ein Dokument, das seit Jahrhunderten die Gottsuche zahlreicher Frauen und Männer im Abendland geprägt hat, mit dem schlichten Wort: »Höre!« 22 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Zeitdiagnose: Krise und Neuanfang
(obsculta). So fordert der heilige Benedikt von Nursia den Menschen auf, der sein Leben »umkrempeln« will, weil er einen Ruf gehört hat, und deshalb an der Pforte eines Klosters klopft. Es scheint wie eine Tautologie zu sein. Dem, der gehört hat, wird gesagt: »Höre!« Dieses Hören wird also nie an ein Ende kommen. »Ach, würdet ihr doch heute auf seine Stimme hören!« (Psalm 95,7) Wann ist dieses Heute? Tag für Tag ist es heute und deshalb die passende Zeit, auf Gott zu hören. Eine Spiritualität der Wahrnehmung will im Heute zu einer erneuten Hörbereitschaft und Wachsamkeit im Hinblick auf das Wirken Gottes anregen. In einer Welt, in der das Visuelle herrscht, in der wir uns kaum der Macht der vielfältigen Screens, die uns umgeben, entziehen können (bei einem Einkauf in der Apotheke musste ich vier solcher Bildschirme zählen, die mir vier verschiedene Arten von Informationen gleichzeitig vermitteln wollten), wird sie den Zugang durch das Unsichtbare vorziehen. In einer Welt, die immer lauter wird, wird sie das Leise-Sein betonen. Sie wird dabei vor einer Vielfalt von Zugängen nicht erschrecken. Wenn wir von Spiritualität der Wahrnehmung sprechen, meinen wir damit nicht eine konkrete spirituelle Richtung, die bereits ihren Niederschlag in der Geschichte der Kirche gefunden hätte. Wir treten bewusst in ein Gespräch mit Autoren unserer Zeit, mit Philosophen, Theologen, Psychologen und Anthropologen, weil das Fragen nach Gott auf dem Weg einer Spiritualität der Wahrnehmung all diese Bereiche berührt.
Zeitdiagnose: Krise und Neuanfang Auf dem Markt der spirituellen Angebote hat sich eine unübersehbare Vielfalt ausgebreitet. Die Kirche hat das Monopol der heilversprechenden Angebote längst verloren. Charismatische Figuren wie der nun heiliggesprochene Papst Johannes Paul II., aber auch der emeritierte Papst Benedikt XVI. und der 23 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Einleitung
neue Papst Franziskus ziehen noch Menschen an. Doch im Vordergrund steht weniger ihre Theologie als ihre z. T. medial inszenierte persönliche Ausstrahlung: Die weiße Gestalt eines Mannes, der konsequent für das Wahre und das Gute eintritt, vermittelt Kontinuität und Sicherheit in einer sich rasch verändernden Welt. Welche Werte kann die Kirche heute noch anbieten und durch wen? Wer kann eigentlich Gültiges über Gott sagen oder Sprachrohr Gottes werden? Der Glaubenszeuge, der von seiner Erfahrung mit Gott berichtet? Der Theologe, der sich aus beruflichen Gründen mit Fragen des Glaubens beschäftigt? Aber Theologie bedarf der Verankerung in einem gelebten Glauben. Gegenwärtig erleben wir ein bedauerliches Desinteresse an echten theologischen Fragen. Sie bleiben einem immer kleiner werdenden Kreis von Professoren, Intellektuellen oder Studierenden vorbehalten, die sich professionell damit auseinandersetzen. Für die Gestaltung des Alltags der Menschen spielt Theologie keine Rolle mehr. Dagegen wächst der Hunger nach spiritueller Erfahrung und Orientierung. Viele Menschen suchen in dieser technisierten, mediatisierten und hedonistischen post-modernen Gesellschaft nach einem Mehr. Sie treffen dabei auf die Angebote des wachsenden Fastfood-Markts an spirituellen Büchern, die eine preiswerte Rückanbindung an eine unbestimmte Transzendenz verheißen. Sie tragen Titel wie »Tipps für Leib und Seele« oder »Wege zu einem gelungenen Leben«. Solche Literatur wirkt wie ein Müsliriegel: Der kleine Hunger wird gesättigt, ohne dass die Frage nach dem wahren Brot des Lebens und dem tragfähigen Grund für einen gesamten Lebensentwurf beantwortet wird. Die metaphysischen Fragen nach einem stabilen Fundament für das eigene Leben bleiben auf der Strecke. Sie sind es aber, die aus Menschen Gott-Suchende machen und sie nach spirituellen Wegen fragen lassen. Eine Theologie ohne Erfahrung, d. h. ohne gelebten Glauben, ist leer und eine religiöse Erfahrung ohne Theologie 24 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Zeitdiagnose: Krise und Neuanfang
blind. 4 Auf dem Weg der Gotteserfahrung kann der spirituell orientierte Mensch nicht auf die Hilfe der vom Licht des Glaubens erleuchteten Vernunft verzichten. Umgekehrt wird die Vernunft durch religiöse Erfahrung gereinigt und ausgeweitet. Heute möchten Menschen keine Theologie mehr hören, die nicht von einer echten und glaubwürdigen geistlichen Erfahrung getragen und in der Lebensweise einer konkreten Person greifbar und anschaubar wird. Das, worauf sich die spirituelle Sehnsucht richtet, ist aber nicht als Billigware zu erhalten. Antworten auf die großen Lebensfragen sind nicht als Schnäppchen zu erwerben. So finden Sehnsüchte und Angebote nicht zueinander. Gefragt sind zwar Glaubwürdigkeit und Echtheit; doch die dafür erforderliche Erneuerung darf wiederum nicht so anspruchsvoll sein, dass ein langer Atem erforderlich wäre. Die Eventpastoral, die für wenige Stunden oder Tage Ablenkung verschafft, verfehlt oft ihr Ziel, weil sie die Menschen nicht dazu bewegt, diesen langen Atem zu entwickeln. Lebensentwürfe, die vielleicht erst nach Jahren Früchte tragen, wie Ehe und Familie, aber auch das Ordensleben und die Priesterberufung, werden in ihrem Wert verkannt und von vornherein verworfen. Deshalb wird der Theologe mehr denn je zum Zeugen werden müssen, zu einem Menschen, der sein ganzes Leben in den Dienst an der Wahrheit in der Kirche stellt und ihr den Vorrang lässt. 5 Der Diener einer veritas semper maior, einer Wahrheit, die immer größer ist als er selbst, die nämlich Gott ist, lebt aus dem Bewusstsein der eigenen Unzulänglichkeit. 6 Dieses Wissen macht den Theologen offen für den ganz Anderen, dem er dient. Wahrheiten der Theologie müssen im alltäglichen Leben ihren Niederschlag finden. Sie müssen den Boden tränken und etwas Greifbares bewirken. Der Haken dabei ist: Das ist nicht auf die Schnelle zu haben. Glaube ist eine Haltung oder Verfasstheit des Geistes, ein Habitus 7, der das ganze Leben prägt und verändert. Denn nur das, wovon ich selbst 25 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Einleitung
lebe, kann ich auch überzeugend weitergeben. Es gilt hier einem »Glauben, der wieder gewinnt« 8, nachzuspüren. Wir müssen uns der Wahrheit stellen: Einerseits wird nach Glaubwürdigkeit, Echtheit, Wahrhaftigkeit gerufen, wirklich so zu sein, wie man geworden ist, also nicht eine Rolle zu spielen, auch keine fromme Rolle. Andererseits wird oft der Preis dafür als zu hoch eingestuft. Die Frage der Jünger, »Wer kann dann noch gerettet werden?« (Matthäus 19,25), wird zu unserer Frage. Wir dürfen getrost die Antwort hören: »Für Gott ist alles möglich.« (19,26)
Aktuelle Herausforderungen Was steht heute im Mittelpunkt der Gesellschaft? Was gilt als absoluter Wert? Die Frage ist komplex. Klischeehafte Antworten helfen nicht weiter. Die Technisierung und Entpersonalisierung der Welt schreitet voran: Man kauft kaum mehr Süßigkeiten am Kiosk oder Fahrkarten am Schalter, sondern tut es am Automaten oder letzteres sogar per Internet. Das »Dankeschön« für den geleisteten Dienst bleibt aus. Einem Automaten schenkt man kein Lächeln. Nur der Bahnbeamte verdient es, dass man ihn nicht wie ein Objekt behandelt, auch wenn man am Ende die gleiche Summe für das gleiche Bahnticket bei ihm »los wird«. Immer mehr Briefe erreichen uns ohne Unterschrift, weil sie »vom System generiert«, also »automatisch erstellt« wurden. Auf Serienmails und Newsletters antwortet man nicht. Handgeschriebene Briefe gehören bereits der Vergangenheit an; per Internet versandte Postcards haben sie ersetzt. Trotzdem wächst das Bedürfnis des Menschen, sich seiner eigenen Existenz zu vergewissern. Selfies, Bilder von sich selbst, bei Dankschreiben zu Erstkommunion, Firmung oder Hochzeit, aber immer häufiger auch zur Ordensprofess oder Priesterweihe haben die früheren Kunstkarten mit religiösem Motiv ersetzt. Sport und Beauty, Fitness- und Well26 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Aktuelle Herausforderungen
nessindustrie boomen, weil der Mensch wie das Tier sich selbst auch leiblich spüren muss. Körper, Freizeitgestaltung und Beziehung sind zu zentralen Themen der Gesellschaft geworden. Der Leib ist der Ort, von dem aus ich Beziehungen anknüpfe: zur Welt, zum Anderen und zu mir selbst. Hinzu kommt die Hypersexualisierung der Gesellschaft, die immer früher Kinder mit sexuellen Themen konfrontiert und ihnen wenig Raum lässt, wirklich Kinder zu sein. All das verweist drastisch auf die leibliche Dimension der menschlichen Existenz. Kennzeichnend für unsere Gesellschaft ist also: – eine starke Sehnsucht nach Spiritualität, aber zugleich eine Ablehnung der Kirche als Institution, die eine Glaubenslehre zu bewahren und zu vermitteln hat; 9 – ein hohes Bedürfnis nach einem Mehr im Leben, die Suche nach Sinn und Orientierung, verbunden mit einer absoluten Hilflosigkeit, sich ein Leben nach dem Tod vorzustellen, so dass die Verkündigung des »Himmels« nach der christlichen Tradition auf keine Resonanz mehr trifft; – eine Suche nach Bestätigung und Hilfe für die eigene persönliche Entwicklung (Psychotherapie, Counseling, Coaching sind sehr gefragt) und zugleich eine Ablehnung von dauerhaften Bindungen in Form von religiöser Verpflichtung oder von verbindlicher Partnerschaft. Die Überbetonung des Ich erschwert die Entstehung von festen Gemeinschaften. Der Kontakt durch Internet und Facebook dominiert immer stärker die Kultur der zwischenmenschlichen Beziehungen. Dabei entbehrt das virtuelle Ich aber aller Charakteristika des »Haut-Ich« (Moi-Peau), wie Didier Anzieu die Grundstruktur nennt, die das »Ich« zum Individuum macht, weil die Haut die Grenze zwischen innen und außen markiert. 10 »Es genügt nicht, auf digitalen ›Wegen‹ zu gehen, einfach vernetzt zu sein: Die Verbindung durch das Netz muss begleitet sein von einer wirklichen Begegnung«, fasst Papst Franzis27 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Einleitung
kus die Sehnsucht der Menschen zusammen. 11 Wo diese Sehnsucht in der Kirche angesprochen wird, finden ihre Angebote noch Anklang. Wallfahrten mit klarem Ziel wie der Jakobsweg, die Trierer Heilig-Rock-Wallfahrt 2012, Taizé oder die Weltjugendtage sind beliebt. Menschen machen sich aus unterschiedlichen Gründen auf den Weg, und doch sucht jeder für sich nach einem Weiterkommen im eigenen Leben. Die Grundbefindlichkeit ist immer: So geht es nicht weiter; denn die Erfahrung des Alltags ist bestimmt von Depression, Stress, Burn-Out. Das Sich-auf-den-Weg-Machen ist ein klares Zeichen für den Wunsch nach Aufbruch und Veränderung. 12 Der Zeitgeist weht auch in der Kirche: Werte und Leitbilder einer säkularisierten Gesellschaft werden oft fraglos übernommen, z. B. wenn sich die katholische Kirche als erfolgreiches Unternehmen präsentieren will und eher Unternehmensberater als geistliche Menschen zu Rate zieht. Dies geschieht, wenn die Kirche ihr Image mehr nach weltlichen Vorbildern als nach dem Evangelium gestaltet und wenn sie sich durch »Zahlen und Fakten« definiert, dabei mehr ihr Tun als ihr Sein hervorhebt und das »Wir über uns« im Vordergrund von Berichterstattung erscheint, während das »Wir über Ihn« verkümmert. Eigentlich heißt es: »Wir verkündigen nämlich nicht uns selbst, sondern Jesus Christus als den Herrn, uns aber als eure Knechte um Jesu willen.« (2. Korintherbrief 4,5) Das eigentliche »Home« eines Christen ist per Definition unsichtbar, denn es heißt: »Unsere Heimat aber ist im Himmel« (Philipperbrief 3,20) und: »Wir verkündigen, wie es in der Schrift heißt, was kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat, was keinem Menschen in den Sinn gekommen ist: das Große, das Gott denen bereitet hat, die ihn lieben« (1. Korintherbrief 2,9). Verlieren diese Verheißungen an Realität, dann bleiben tatsächlich nur noch »Fakten und Zahlen«, Statistiken, die meist Betrübnis erregen, weil die Zahl der Neugetauften mal wieder nicht annähernd die Zahl der Austritte und der Verstorbenen auszugleichen vermag. 28 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Autobiographisches 1 (Clara Vasseur)
Den Blick wieder auf eine gelungene geistlich-geistige Identität zu richten, korrespondiert der Glaubensdefinition des Hebräerbriefs: »Glaube aber ist: Feststehen in dem, was man erhofft, Überzeugtsein von Dingen, die man nicht sieht« (Hebräerbrief 11,1). So können Christen zu Menschen werden, denen man anmerkt, dass »wir nicht auf das Sichtbare starren, sondern nach dem Unsichtbaren ausblicken; denn das Sichtbare ist vergänglich, das Unsichtbare ist ewig« (2. Korintherbrief 4,18) oder in der Sprache M. Henrys: »Als könnte der Körper des Menschen etwas anderes als ein lebendiges Fleisch sein, ein unsichtbares Fleisch, nur im Unsichtbaren des Lebens und von letzterem aus verstehbar.« 13 Gerade diese Liebe zum Unsichtbaren kennzeichnet geistliche Menschen. Ihre Wahrnehmung beschränkt sich nicht auf die durch die Sinne vermittelte Wirklichkeit. Sie verfügen über jene feinen, geistlichen Sinne, die im Innern des Menschen auf Empfang geschaltet und bereit sind, wenn es Gott gefällt, sich dem Menschen zu erkennen zu geben.
Autobiographisches 1 (Clara Vasseur) Als Benediktinerin, die in der relativen Abgeschiedenheit eines Klosters lebte, blieb ich dennoch Kind meiner Zeit und versuchte, Tuchfühlung mit den Nöten und Sehnsüchten dieser Welt zu halten. Spiritualität der Wahrnehmung fordert mich auf, im Heute und nicht in der Vergangenheit zu leben, obwohl die Art, wie ich in der Welt lebe, den meisten Menschen sehr fremd ist. Wenn ich mit anderen ins Gespräch komme, werde ich gerne kreativ, um von der Welt des Glaubens zu erzählen, um diese unsichtbare Welt gegenwärtig zu machen. Als Kind bin ich in einer katholischen Familie aufgewachsen. Meine Eltern »hatten« nicht nur den Glauben, sie lebten ihn uns Kindern auch vor. Das soziale Engagement meines Vaters, das im Alter durch die Verleihung verschiedener Aus29 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Einleitung
zeichnungen gewürdigt wurde, und die große Tiefe meiner Mutter, beide Ärzte, haben mich als Kind geprägt. Heute spielt der Glaube bei allen ihrer vier nun erwachsenen Kindern eine wichtige Rolle. Sie leben ihn auf je persönliche Art bei der Arbeit oder in der Familie, die sie gegründet haben. Brüche mit der großen Glaubenstradition habe ich dagegen im weiteren Familienkreis bei Onkeln, Tanten, Cousins und Cousinen erlebt. Viele von ihnen haben nicht mehr kirchlich geheiratet und ließen ihre Kinder nicht mehr taufen. In meiner Generation bin ich nun die einzige, die ein »gottgeweihtes« Leben führt. Aber auch ich bin natürlich nicht als Ordensschwester geboren. Es war ein Ringen und ein langer Weg bis zur endgültigen Entscheidung am 3. Juni 2001. Wenn ich auch nicht in der »normalen« Welt lebte, so erlebte ich sie doch auf meine Weise oft intensiver als jemand, der sich dauernd in ihr bewegt. Im Kloster spricht man von der Welt als von dem, was »draußen« ist, weil das Territorium des Klosters durch eine Klausur begrenzt ist. Man kann also »drinnen« oder eben »draußen« sein. Dies ist zunächst wertneutral. Hinter Mauern zu leben heißt, in dieser Zeit und in dieser Welt zu leben und doch einen Abstand von der Welt zu wahren. Als Benediktinerin hatte ich mich für einen Exodus aus der Welt entschieden. Mit meinen Mitschwestern lebte ich sozusagen in einer Gegenwelt, der des Klosters. Doch in der Vermittlung des Glaubens an Kinder, Jugendliche und Erwachsene begegnete ich Menschen unserer Zeit mit ihrer je eigenen Geschichte mit der Kirche. Wenn diese Menschen zu uns kommen, dann begegnen wir ihnen immer als Ordensschwestern, als Teil einer Klostergemeinschaft, als Frauen, die man notwendig in Verbindung mit Gott bringt. Denn »jeder, der mich sieht, stößt zunächst auf mein Gewand, in welchem meine Person zugleich erscheint und sich verhüllt […]. Wer diesen Menschen sieht, stößt dabei auf Gott bzw. auf Christus in einer speziellen Erscheinungs- bzw. Verhüllungsgestalt.« 14 30 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Autobiographisches 1 (Clara Vasseur)
Heute kann ich sagen, dass Gott mir inzwischen so gewiss geworden ist wie die eigene Existenz. Wenn ich meine Geschichte mit Gott erzähle, erhält mein Leben einen Zusammenhang und wird zu einem Ganzen. Ich habe nur ein Leben, und dieses Leben bin ich. »Noch ist es Zeit, noch sind wir in diesem Leib«, schreibt Benedikt im Prolog seiner Regel 15, die auch für Menschen, die nicht im Kloster leben, viel Gutes und Wahres enthält. Der Alltag im Kloster ruft nach einer tief verankerten, nüchternen Spiritualität. Ich bin mir dessen bewusst, dass ich nur ein Leben habe und dass dieses Leben mir wie eine Frist gewährt ist. Als ich die Entscheidung traf, ins Kloster zu gehen, hat der Ruf Gottes den Vorrang vor vielen anderen spannenden Interessen und Bestrebungen gehabt. Meine erste Ausbildung in Frankreich war rein intellektueller Natur. Das Studium der Philosophie in Poitiers und Paris, dann aber auch in München und Dresden, die Vorbereitung des »Concours de la fonction publique« (Staatsexamen) ließ wenig Zeit für andere Beschäftigungen. Während des Studiums wurde mir der phänomenologische Ansatz vertraut. Es war die spannende Zeit, als die französische Phänomenologie mit J.-L. Marion und M. Henry als »Vorreiter« ihre Wende zur Theologie vollzog. 16 Ich lernte in dieser Zeit Deutsch am Goethe-Institut in Paris, die Sprache, die nun diejenige meines täglichen Lebens geworden ist. Ich kam aber bald danach nach Deutschland und habe inzwischen auch die deutsche Staatsangehörigkeit angenommen. In jeder Sprache lässt sich die Wirklichkeit anders auffassen; in jeder Sprache kommt man anders »zur Welt«. An manchen Stellen wird der Leser meine »Muttersprache« aus der »Schwestersprache«, wie ich nun die deutsche Sprache gerne nenne, heraushören. Seitdem ich im Kloster lebte, war meine wichtigste Aufgabe das Gebet, nicht mehr das philosophische Denken. »Durch die Liturgie habe ich richtig Denken gelernt«, 17 kann E. Rosenstock-Huessy schreiben. Die tägliche Lectio divina, 31 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Einleitung
das Chorgebet und die manuelle Arbeit haben mein Denken in den letzten zwanzig Jahren anders geprägt, als wenn ich bei der akademischen Philosophie geblieben wäre. Heute ist es mir wichtig, in einen Dialog mit modernen Autoren zu treten und die ewige Wahrheit, die in Christus Fleisch geworden ist, in einer Sprache, die den postmodernen Menschen erreichen kann, neu zu buchstabieren. »Samenkörner der Wahrheit« (logoi spermatikoi), wie sie die Kirchenväter in der Philosophie der Antike aufleuchten sahen, warten auch heute darauf, aus modernen Denkansätzen bewusst hervorgehoben zu werden. Deshalb habe ich mich nach mehr als zwanzig Jahren »Pause« neu auf die Suche gemacht, um bewusst das inzwischen um viele wertvolle Werke angewachsene Feld der Phänomenologie neu zu erkunden. Das hier nur ein Bruchteil dessen, was wert wäre, beachtet zu werden, erwähnt wird, liegt an der Begrenzung des Werkes und an den eingeschränkten Möglichkeiten, die ein Leben im Orden mit sich bringt. Die Weite und die Tragfähigkeit des Ansatzes liegt aber genau in seiner existentiellen Verwurzelung. Spiritualität der Wahrnehmung ist kein Ansatz für eine Handvoll Gelehrter. Sie lebt vom Alltäglichen und gehört in einen nüchternen Alltag hinein. Erst dort kann und wird sie sich als tragfähig erweisen.
Autobiographisches 2 (Johannes Bündgens) In unserem Bistum Aachen gibt es sechs kontemplative Ordensgemeinschaften. Sie sind spirituelle Zentren und Quellen der Inspiration. Ich selbst bin bei Pastoralbesuchen und Veranstaltungen im Kloster Mariendonk Schwester Clara begegnet und schrittweise mit ihrer Idee einer »Spiritualität der Wahrnehmung« vertraut geworden. Daraus ist die Einladung zur Mitarbeit an diesem Buchprojekt entstanden. Es hat mich vieles aus meiner Biographie reflektieren lassen: meinen Berufungsweg zum Priestertum und die priesterliche Arbeit in der 32 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Autobiographisches 2 (Johannes Bündgens)
Pfarrseelsorge als Kaplan und Pfarrer, als Verantwortlicher für Aus- und Fortbildung der pastoralen Mitarbeiter, in der Exerzitienarbeit und als Spiritual der Kandidaten für Priestertum und Diakonat und jetzt im Dienst als Weihbischof, aber auch meine inneren geistigen Wege: die wissenschaftliche Beschäftigung mit scholastischer Theologie, die Prägung durch ignatianische Spiritualität, die Suche nach geeigneten Formen geistlichen Lebens für Priester heute. Die Lektüre von Autoren wie Merleau-Ponty und Marcel Jousse setzte neue Akzente und war Anlass, die sporadischen Begegnungen mit der Phänomenologie zu vertiefen. Als Klaus Hemmerle 1975 unser Bischof wurde, kam in seiner Person etwas von dieser bisher meist fremden, auch mir noch unvertrauten Geisteswelt zu uns. In den Krisen und Niedergängen der Säkularisierungsprozesse hat sich längst herauskristallisiert, dass überall da, wo eine Erneuerung der Kirche gelingt, die Heilige Schrift im Zentrum steht. Die Praxis der Bibelrezitation schien mir ein konkreter geistlicher Weg, die oft geforderte, aber selten realisierte Priorität von Gottes Wort in Pastoral und Spiritualität wirklich zu leben, mehr z. B. als durch Bibelkurse, Bibelgespräche oder Bibliodrama. Mich fasziniert daran, dass wirklich allein der biblische Wortlaut liebevoll in die Mitte der Aufmerksamkeit gerückt und mit Leib und Stimme zum Klingen gebracht wird. So kann dieses Wort in mir seine Tiefe, seinen Sinn und seine Kraft entfalten. Vielleicht wurde mein Interesse geweckt, weil ich immer schon gerne Texte auswendig gelernt habe und weil diese manchmal mechanische und oberflächliche mentale Praxis hier eine leibhaftige Vertiefung erfährt. Die Theologen und Bischöfe der frühen Kirche haben weniger den Dialog mit anderen Religionen als vielmehr den mit den großen geistigen Strömungen ihrer Zeit und akademischen Kräften ihrer Umwelt gesucht. Heute bietet sich uns auf dem Feld der zeitgenössischen Philosophie v. a. die Phänomenologie als Gesprächspartnerin an. Die christliche Spiritualität 33 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Einleitung
gehört nicht zur esoterischen Szene, sondern bewegt sich auf der Höhe der geistigen Auseinandersetzungen unserer Zeit.
Der Ansatz über die Wahrnehmung Wahrnehmung ist untrennbar ein leibliches und geistiges Geschehen. Auch in der sinnenhaften empirischen Wahrnehmung nimmt der Mensch zunächst sich selbst als Geistwesen wahr. Aber wie sind die beiden Sphären von Leib und Seele einander zugeordnet? Die Arbeitshypothese, die sie einander gegenüberstellt, gehört seit ihren Ursprüngen zur abendländischen Denktradition. Schon früh gehörte dazu, dass dann das angebliche Auseinanderklaffen der beiden beklagt und eine konsequent ganzheitliche Betrachtungsweise des Menschen als eines leibhaftig-seelischen Wesens gefordert wird. Die Hypothese einer seelischen im Unterschied zu einer leiblichen Sphäre mutierte unter der Hand oft zu einem ontologischen Dualismus. Auch großen Denkern wie Platon, Augustinus oder Descartes wirft man dualistische Engführungen vor. Die Philosophiegeschichte kennt zudem die entgegengesetzten Strömungen von Idealismus und Materialismus, Empirismus und Rationalismus. Wie kann diese Engführung vermieden werden? Der Wahrnehmung kommt für ein ganzheitliches Verständnis des Menschen entscheidende Bedeutung zu. Wahrnehmung entsteht bereits in der Begegnung mit der Sachwelt, in der »Es-Welt«, wie Buber sie nennt 18. Doch interessant wird es erst recht, wenn Subjekt und Objekt im Zusammenspiel austauschbar werden. Der Andere ist dann für mich Objekt, obschon er selbst nicht auf das Objekt-Sein reduziert, sondern als Subjekt wahrgenommen werden will. In der Beziehung zu mir erlebt er sich aber als Objekt für mich. Dadurch verändert sich auch die Wahrnehmung seiner selbst. Wahrnehmung geschieht nur durch das Subjekt der 34 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Der Ansatz über die Wahrnehmung
Wahrnehmung, konkret durch den beseelten Leib. »Das objektive Denken ignoriert das Subjekt der Wahrnehmung«, schreibt Merleau-Ponty, in dessen philosophischem Werk Wahrnehmung zum Schlüsselbegriff wird. »Die Welt betrachtet es als etwas fertig Gegebenes, als das Milieu aller nur möglichen Vorkommnisse, als deren eines die Wahrnehmung behandelt wird.« 19 Bereits eine naive, d. h. nicht philosophische Denkeinstellung erkennt, dass es einen Zugang zur Welt, wie sie ist, gar nicht gibt. Sehe ich am Horizont, wie ein Schiff sich dem Ufer nähert, dann ist es erst klein und wird dann immer größer; dennoch handelt es sich immer um dasselbe Schiff. Nur die Entfernung lässt es klein oder groß erscheinen. Für meine Wahrnehmung konstituiert sich die Welt jeden Augenblick neu. Es gibt einen »Ichpol« und einen »Weltpol«, die einander korrespondieren und getrennt voneinander nicht existieren können. Allein die Wahrnehmung führt sie zueinander. Es gibt also immer nur meine Wahrnehmung von dieser Welt. In einer unverwechselbaren Einmaligkeit erschließt sie sich mir. Denn »wie ich selbst bin, erfasse ich nicht direkt, sondern indem ich darauf achte, wie die Welt für mich ist, wie es mich in der Welt gibt, wie mich mein intentionaler Zustand in Beziehungen verstrickt«. 20 Das Ich empfängt sich durch die Wahrnehmung immer neu. Die genuine Aufgabe einer Spiritualität der Wahrnehmung besteht darin, den Menschen mit dem Urgrund seiner Existenz in Berührung zu bringen. Erst in einem zweiten Schritt wird der Mensch diesem Urgrund seiner Existenz vielleicht den Namen »Gott« geben. Er kann aber nicht von vornherein so genannt werden, weil Er im konkreten Leben des Menschen womöglich keine Realität mehr besitzt. »Einführung und Einübung« in eine Spiritualität der Wahrnehmung bedürfen einer behutsamen Vorgehensweise, weil sie auf störende Faktoren, die bisher nicht aufgefallen sind, aufmerksam macht. 21 Eine Einübung ist erforderlich, um die alltäglichen »Phänomene« in ihrer Durchleuchtkraft wie35 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Einleitung
der in Beziehung zu Gott zu setzen und Ihn durch diese Transparenz wieder Präsenz gewinnen lassen. Eine Journalistin schrieb mir: »Sie sehen Gott, wo andere ihn nicht vermuten würden. Wo? Mir fällt auf, dass Gott als Deutungsmuster immer seltener vorkommt. Ein Kind ist kein Geschenk mehr, sondern ein Projekt. In der Liebe zum Anderen zeigt sich nicht das Wirken Gottes, sondern die Leistungsfähigkeit der OnlinePartnervermittlung. Für Sie ist Gott gesetzt, für viele ist er aber nur eine Option.« 22 Immer wird also nach einer Korrespondenz (adaequatio 23) zwischen dem Angeschauten und dem Prinzip der Anschauung gesucht. Das Zugeständnis, dass dies nicht gelingt, dass ich es nicht kann und deshalb erlernen muss, markiert, wie Heidegger in »Was heißt denken?« vermerkt, den Anfang dieser Suche. 24 Da nicht nur theoretische Einsichten vermittelt werden sollen, wird eine praktische Einübung vonnöten sein, wobei das vorliegende Buch keine »Übungen« im eigentlichen Sinn bietet. Aber schon die ausgeführten Gedanken kritisch mitzudenken, anzunehmen, zu ergänzen oder zu verwerfen, kann als erster Schritt einer Einübung gelten. Theologie hat die Aufgabe, nach einer gültigen Form zu suchen, damit eine nicht nur dem Inhalt nach gültige, sondern auch in ihrer Ausprägung angemessene Aussage hervorgebracht wird. 25 Ein vermeintlicher unüberbietbarer Höhepunkt in der Ausdrucksform würde das Ende der Frage nach Gott bedeuten. Es geht um das, was R. Schaeffler »verantwortete Vorläufigkeit« nennt. 26 Religiöse Erfahrung und theologisches Denken rufen grundsätzlich nach einer eigenen Methode der Darlegung und Auslegung, die sich von anderen Wissenschaften unterscheidet, vor allem von der Naturwissenschaft und der Physik, die der beweisbaren Empirie, dem Experiment verpflichtet sind. 27 Diese suchende und fragende Grundhaltung entspricht dem Grundanliegen der Phänomenologie. Sie versteht sich als offene, nicht in sich abgeschlossene Wissenschaft. Die letzte Begründung soll und muss von dem ausgehen, der sie aus36 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Der Ansatz über die Wahrnehmung
spricht und verantworten will. 28 Der Anfang liegt im Suchenden selbst, wenn er jenen Ruf vernommen hat, der ihn »wachrüttelt« 29 und ihn nach einer größeren Wahrheit, als er selbst sie ist, suchen lässt. Eine besondere Einübung ist auch deshalb notwendig, weil es darum geht, die Beziehung zu Gott so zu gestalten, dass sie sich im ganzen Lebensvollzug und nicht nur in der Theorie als tragfähig erweist. Entscheidend ist der Aufbau dieser tragfähigen Beziehung zu Gott. Nur im Zwiegespräch mit Gott, das Gebet heißt, wird Raum für das Reifen einer existentiellen Antwort geschaffen. Diese Beziehung dann zu pflegen ist eine Sache der Redlichkeit, des Respekts und der Liebe sich selbst, aber auch Gott und dem Adressaten meiner Rede von Gott gegenüber. Diese Beziehung soll so geartet sein, dass im Reden von und zu Gott die Souveränität Gottes gewahrt bleibt. 30 Diese Haltung einzuüben setzt einen Wandel des Blickes voraus und wird daher nur langsam vonstatten gehen. Sie ist ein Sichauf-den-Weg-machen. Wer übt, übt immer und immer wieder dasselbe. Die Kontinuität macht die Übung zur Übung und führt auch aus ihr heraus. 31 Wer lange übt, kann irgendwann auch das, was er geübt hat. In diesem Buch schauen wir auf das theoretische Fundament einer solchen Einübung. Eine Spiritualität der Wahrnehmung will ermutigen zu Erfahrungen »am Rande der Gewahrwerdung«, d. h. zu Erfahrungen, die am Horizont des Erfahrbaren auftauchen. Dies erfordert eine besondere Aufmerksamkeit, damit sie nicht wieder ins Nichts verschwinden, sondern in den Strom des Bewusstseins Eingang finden und dort integriert werden. Der Ausdruck selbst stammt von C. R. Rogers, dem Begründer des personzentrierten Ansatzes. »Am Rande der Gewahrwerdung« sind Erfahrungen angesiedelt, die ein Mensch noch nicht integriert hat. Sie sind zwar irritierend, aber nicht so total fremd, dass sie sofort verworfen werden; sie sind annehmbar. Damit die Integration gelingt, benötigt der Mensch die Hilfe eines einfühlsamen Gesprächs37 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Einleitung
partners. Solche Vorgänge des Gewahrwerdens kennen wir aus unserem Alltag, wenn uns etwas plötzlich »aufgeht« und wir bisher unerkannte Dimensionen wahrnehmen. Diese Erfahrung macht jedes Individuum oder jede Institution, wenn z. B. ein Fremder kommt und plötzlich Dinge anspricht, die immer schon da waren, die von uns aber nie bemerkt wurden. Die Erfahrung des fremden Blickes ist auch in geistlicher Hinsicht unabdingbar. Benedikt hat in seiner Regel ein eigenes Kapitel über den fremden Mönch verfasst. Es sei darauf zu achten, ob das, was der Fremde sagt, nicht genau das ist, was Gott den einheimischen Mönchen sagen will (Regel Benedikts 61,4). Wichtig ist ihm die Art und Weise, wie der Fremde seine Beobachtung dem Abt als dem Verantwortlichen der Gemeinschaft mitteilt.
Einige Worte zur Methode »Spiritualität der Wahrnehmung« – der Titel der vorliegenden Abhandlung spielt sprachlich und inhaltlich auf die »Phänomenologie der Wahrnehmung« an. Kurioserweise heißen so gleich zwei philosophische Werke bedeutender Denker. Allerdings verbindet die beiden außer dem Titel und der Erscheinungszeit im Zweiten Weltkrieg nicht viel. Man kann davon ausgehen, dass Maurice Merleau-Ponty, der französische Phänomenologe, und Cornelio Fabro, der italienische Thomist, nicht um den jeweils anderen wussten, als sie ihre Werke »Phénoménologie de la perception« (Paris 1945) bzw. »La fenomenologia della percezione« (Mailand 1941) veröffentlichten. Während der Titel bei Fabro höchstens ein Zeugnis dafür ist, dass auch die scholastische Theologie nach ihrer Begegnung mit dem deutschen Idealismus vor das Problem der Wahrnehmung geführt wurde, bleibt Merleau-Pontys frühes Hauptwerk der konsequenteste Versuch, die Dichotomie zwischen Leib und Geist radikal zu überwinden und in der direk38 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Einige Worte zur Methode
ten Nachfolge Husserls dem Leib seine philosophische Dignität zurückzugeben. Aber auch schon 35 Jahre zuvor kommt der Ausdruck vor: W. Schapp verfasste eine Dissertation mit dem Titel »Beiträge zur Phänomenologie der Wahrnehmung« (1910) und reichte sie bei Husserl ein. Die Arbeit von Schapp, der zum Kreis der Schüler Husserls gehörte und als solcher auch von nicht schriftlich fixiertem phänomenologischen Gedankengut profitierte, fällt besonders auf, weil sie ohne den bei Doktorarbeiten üblichen wissenschaftlichen Apparat geschrieben wurde. Der Autor will nicht von anderen abhängig werden und nur das, was er selbst gesehen und wahrgenommen hat, zur Sprache bringen. Getreu der phänomenologischen Methode arbeitet er ohne Rückgriff auf Hypothesen, sondern indem er die Phänomene selbst sprechen lässt. So anziehend und beneidenswert diese Arbeitsweise »von leichter Hand« ist, wie Schapp selbst sie beschreibt 32, so wenig war sie für die Spiritualität der Wahrnehmung eins zu eins zu übernehmen. Dem Leser wird sowohl Originäres, d. h. Beobachtungen von Phänomenen aus der Naturwelt oder aber Handlungen von Menschen, als auch eine Auseinandersetzung mit relevanten Autoren geboten. Die vorliegende »Spiritualität der Wahrnehmung« will sich eindeutig in Merleau-Pontys Denktradition und in den weiteren Rahmen seiner »Phänomenologie der Wahrnehmung« stellen. Sie möchte der phänomenologischen Methode treu bleiben und seine philosophische Fragestellung auf ihre spirituelle Dimension hin zuspitzen. Denn im Spektrum der Philosophien unserer Zeit, das zumindest im akademischen Raum weitgehend von den analytischen Ansätzen beherrscht wird und daher wenig Raum für eine metaphysische oder religiöse Weltsicht bietet, erscheint derzeit die Phänomenologie als der einzige ernst zu nehmende Gegenentwurf. Die Phänomenologie nimmt die Phänomene in den Blick, d. h. das Erscheinen dessen, was sich dem Bewusstsein im Hier 39 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Einleitung
und Jetzt aufdrängt oder worauf es sich selbst richtet. »Epigenesis« nennt R. zur Lippe diesen Vorgang: »Jede Gegenwart ist der vorläufige Haltepunkt einer Geschichte, von dem aus die Blicke wohl zu einem Horizont von anstehenden Möglichkeiten und Bedingungen gehen, der aber den Ausgangspunkt für den einen wirklichen nächsten Schritt bildet.« 33 Das Erfassen dank der sorgfältigen Deskription dieser Genese von Erkennen, Denken, Fühlen und Wahrnehmen hat eine größere Bedeutung als oftmals vermutet. Es kann den weiteren Verlauf so beeinflussen, dass das angestrebte Ziel erreicht oder verfehlt wird. Wer gerne Berge ersteigt, weiß, dass der kleinste falsche Schritt den Absturz bedeuten kann. Schlüsselbegriff einer Spiritualität der Wahrnehmung ist deshalb die Aufmerksamkeit. Ohne Aufmerksamkeit ist der Modus der Existenz unseres Leibes bloß biologischer Art. Der Mensch bliebe dann ein Lebewesen unter vielen anderen. Durch die Aufmerksamkeit ist er ein Lebewesen, das Empfindungen hat und sie reflektieren kann. Die Phänomenologie ist als Disziplin grundsätzlich offen für das Fremde. Sie kommt zu sich selbst in der Begegnung mit dem, was nicht philosophischer Natur ist. Sie sucht nicht die »Meta-physik«, sie findet vielmehr in der vorurteilsfreien Begegnung mit Physis und Psyche, Fleisch und Logos die »Meta-Dimension«, die sich in der »Wesensschau« herauskristallisiert. Deshalb ist es nach unserer Auffassung sinnvoll, zwei Bereiche, die auf unterschiedliche Weise das Leben des Geistes betreffen, nämlich Philosophie und Spiritualität, miteinander zu verbinden. Spiritualität der Wahrnehmung ist, wenn man so will, eine Geisteswissenschaft, in deren Zentrum die Leiblichkeit des Menschen steht. Die Umsetzung dieser Vorgehensweise setzt ein Sich-Distanzieren voraus, das nicht selbstverständlich ist. Doch erst, wenn wir die Dinge aus einer gewissen Entfernung betrachten, können wir ihrer wieder gewahr werden. Nicht zuletzt deshalb wurde dieser Ansatz für den hier vorgelegten Entwurf einer 40 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Einige Worte zur Methode
Spiritualität der Wahrnehmung gewählt. Da uns einerseits die phänomenologische Methode als hilfreich erschien und andererseits die Konfrontation mit dem reinen Fluss der Erlebnisse in unserem Bewusstsein und die Rückführung auf eine transzendentale Subjektivität für den Leser zu beschwerlich wäre, müssen wir als Autoren anerkennen, dass wir den Begriff Phänomenologie hier nicht in seiner ursprünglichen, reinen Form gebrauchen. 34 Spiritualität der Wahrnehmung greift aber auch Ansätze auf, die vor der Einführung einer Phänomenologie als strenger Wissenschaft liegen. Es wäre zwar falsch, sie im Nachhinein einfach dieser Denkrichtung zuzurechnen; dennoch sind sie ihr von der Methode her nicht fremd. Über die Jahrhunderte hinweg zeigen sich überraschende Affinitäten, z. B. zur patristischen und monastischen Tradition. In der Fokussierung auf die spirituelle Fragestellung werden in den Grundschritten dieser Abhandlung vier Grundbegriffe abgeklopft: Berührung, Wahrnehmung, Erfahrung und Begegnung. Berührung schafft Kontakt zu einer neuen Wirklichkeit auf eine Weise, die alle Dimensionen des Menschseins mitschwingen lässt. Wahrnehmung verarbeitet diese Wirklichkeit und ordnet sie den anderen Empfindungen zu, die schon für meine Identität konstitutiv geworden sind. Erfahrung ist transzendentalphilosophisch die Reflexion des Subjekts über seine Beziehung zur Welt und psychologisch die Sehnsucht des Menschen, sich selbst und seine Welt zu verstehen und das Fremde zu integrieren. Leibhaftige Begegnung löst neue Impulse aus, deren Tragweite im Vorhinein nicht abzuschätzen ist und die bis zur Begegnung mit dem lebendigen Gott führen können. In allen vier Schritten geht es um den Leib des Menschen mit seiner Fähigkeit zur Transzendenz und zur Vergegenwärtigung unsichtbarer Wirklichkeit. Der Leib spielt eine wesentliche Rolle in der Heranbildung von Erkenntnissen und Werten. Das Leibgedächtnis, d. h. das, was den Leib zum Speicher aller sinnlichen Eindrücke macht, ist mehr als das 41 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Einleitung
kognitive Gedächtnis der Ort, an dem Identität gebildet und bewahrt wird (vgl. Kap. II, 5). Auch die Beziehung zu Gott wird nur über die im Leib gespeicherten Empfindungen lebendig gehalten oder neu aktualisiert. Im Zentrum unserer Abhandlung steht also der Leib als Fenster zur Transzendenz. Das Aquarell von G. Mevissen auf dem Cover illustriert den Aufbau des Buches. Das massive Rechteck erinnert an die Architektur eines Klosters. Die vier Seiten des Kreuzgangs umrahmen eine Mitte, die zum Himmel offen bleibt und durch die Licht hereinbricht. In den vier Hauptschritten Berührung, Wahrnehmung, Erfahrung und Begegnung umkreist Spiritualität ein unaussprechliches, lichtvolles Geheimnis in der Mitte und umfasst zugleich alle Bereiche menschlichen Lebens. Alles, was ein Mensch fühlt, denkt und tut, wird in einen Umformungsprozess integriert, so dass die eigene Existenz selbst zu einer Antwort auf die Gewissheit der Wirklichkeit Gottes wird. Spiritualität entzieht sich unserem Machtanspruch und jeglicher Form von Machbarkeit. Sie ist ein Weg, auf dem Gott dem Menschen auf sehr individuelle Weise begegnen und ihn berühren kann, wie und wann Er will. Über die Möglichkeit einer solchen Erfahrung berichtet das hier vorliegende Buch. Die doppelte Kennzeichnung als »Einführung« und »Einübung« verweist darauf, dass dieses Buch nicht nur als theoretischer Beitrag verstanden werden will, sondern auf praktische Umsetzung ausgerichtet ist. Spiritualität der Wahrnehmung will nicht beim Denken, Lesen und Verfassen von Büchern oder Aufsätzen bleiben. Sie kommt aus der Praxis und will zurück in die Praxis. Deshalb ist die bahnbrechende Arbeit von N. Depraz, »Phänomenologie in der Praxis«, von besonderer Bedeutung. 35 Sie ermutigt nachfolgende Generationen von Phänomenologen, nicht beim Verstehen von Texten zu bleiben, sondern »die dem Text zugrunde liegende Erfahrung wieder lebendig hervortreten zu lassen« 36. Damit wird allerdings ein Bruch mit der bisherigen phänomenologi42 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Einige Worte zur Methode
schen Tradition in Kauf genommen. 37 Die Ermutigung zur realen Praxis ist dringend nötig. Das Lesen und Schreiben von Rezepten hat ja auch noch niemanden satt gemacht. Erst wenn einer die Kunst der Zubereitung von Speisen gelernt hat, kann man sich an den gedeckten Tisch setzten. Ob der Phänomenologe alle Kompetenzen in sich vereinigen muss, kann man bezweifeln. Sicher ist, dass im Fall einer Spiritualität die Praxis im Vordergrund steht. Echte Spiritualität entsteht erst, wo sich das Wirken des Geistes Gottes auf eine bestimmte Weise, hier in der Wahrnehmung, bemerkbar macht. Ziel und Aufgabe der Spiritualität der Wahrnehmung ist es, einen Weg der Rückkehr »zur Sache selbst« aufzuzeigen. Sie möchte dazu ermutigen, diesen Weg in vielen kleinen Schritten auch zu gehen. In der Konzentration auf die Wahrnehmung sollen die Umrisse einer Spiritualität des Seins, des Anders-Seins, als Antwort auf die Not unserer postmodernen Zeit dargelegt werden. Christlich leben heißt antworten und christlich antworten heißt so leben, dass meine Antwort als glaubwürdig angenommen wird. Gottes Ruf steht immer an erster Stelle. Erst wenn ich ihn wahrgenommen habe, beginnt so etwas wie Glaube in meinem Leben Raum zu gewinnen. Eine glaubwürdige Verkündigung setzt an bei der Überzeugung, selbst zum Hörer des Wortes Gottes berufen zu sein. Wenn der Glaube als Antwort des Menschen aufgefasst werden soll, dann gilt es, zunächst Raum zu gewähren, damit die Frage nach Gott, und sei es auch noch so stammelnd und unbeholfen, überhaupt erst gestellt werden kann. Fehlt dieses Moment, wird jede Verkündigung wie ein unpassendes Wort zur unpassenden Zeit ankommen. Wenn die Rede des Theologen auf die Frage nach Gott, nach seiner Existenz und nach der Art seiner Mitteilung an den Menschen nicht wirklich als Antwort wahrgenommen werden kann, dann gleicht sie einer unpassenden Rede, meint R. Feiter. 38 Eine Rückbesinnung auf den Vorgang der Wahrnehmung dient also der Erfüllung des Verkündigungsauftrags. 43 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Einleitung
So laden wir den Leser ein, auf dem Weg durch die vier Flügel des Kreuzgangs einer Spiritualität der Wahrnehmung das Geheimnis des Daseins meditativ zu umschreiten.
Anmerkungen W. Fritzen, Sehnsucht nach Spiritualität. Herausforderung durch ein Zeichen der Zeit, in: Trierer Theologische Zeitschrift, 4, 2012, S. 322–242, S. 323. 2 M. Plattig, Was ist Spiritualität?, in: M. Lewkowicz / A. Lob-Hüdepohl (Hg.), Spiritualität in der sozialen Arbeit, Freiburg 2003, S. 12–32, S. 13 und R. Bäumer/M. Plattig, Umformung durch Aufmerksamkeit – Aufmerksamkeit durch Umformung. Gesammelte Beiträge zur geistlichen Begleitung; Sankt Ottilien 2014, S. 14. 3 Vgl. A. Steiner, Transzendente Wirklichkeit, Freiburg / München 2010. 4 Vgl. M. Schneider, Theologie als Nachfolge. Zur existentiellen Grundstruktur von Glaube und Theologie in Geschichte und Gegenwart, Koinonia-Oriens e. V., Köln 2007. 5 Formuliert nach Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, (B 75, A 48): »Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.« 6 A. Grillo, Einführung in die liturgische Theologie. Zur Theorie des Gottesdienstes und der christlichen Sakramente, Göttingen 2006, S. 37. 7 Hexis (griechisch): Beschaffenheit, dauernder Zustand, Gewohnheit. Vgl. Aristoteles: Nikomachische Ethik, 7. »Ein Lieben gibt es auch gegenüber dem Unbeseelten, Gegenliebe aber erfordert Willenswahl, und Willenswahl geht von einem habitus aus.« Vgl Thomas von Aquin S. th. I 87 2c und CG I 92 ff. und Benedikt XVI. Spe Salvi, § 7. 8 E. Nass, Vision Mensch – Mission Hoffnung. Glauben, der wieder gewinnt, Paderborn 2012, S. 8. 9 Zum Verhältnis Kirche und Gesellschaft sind verschiedene Studien entstanden. Ich verweise auf die Sinus-Milieustudie U 27, Düsseldorf 2007. Auftrag- & Herausgeber: Bund der Deutschen Katholischen Jugend, Düsseldorf und Bischöfliches Hilfswerk MISEREOR, Aachen. Zu 1) siehe z. B. S. 373; 451; 535; 622; 672. Zu 2) S. 374; zu 3) S. 343; 373; 566. 10 D. Anzieu, Le Moi-Peau, Paris, 1985. 11 http://de.radiovaticana.va/news/2014/01/23/papstbotschaft:_im_ dienst_einer_kultur_der_begegnung/ted-766488. 12 Vgl. dazu C. Taylor, Ein säkulares Zeitalter, Berlin 2012, S. 861. 1
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Anmerkungen M. Henry, Inkarnation. Eine Philosophie des Fleisches, Freiburg / München 2011, S. 149. 14 R. Schaeffler, Zur phänomenologischen Methode in der Religionsphilosophie. Brief an einen Benediktiner, in: Erbe und Auftrag, Benediktinische Monatsschrift, 1986, S. 109. 15 Die Regel des heiligen Benedikt, Prolog, v. 43. 16 J.-L. Chrétien, M. Henry, J.-L. Marion, P. Ricœur, J.-F. Courtine (présentation), Phénoménologie et théologie, Paris 1992. 17 E. Rosenstock-Huessy, Liturgisches Denken in zwei Kapiteln, in: Die Kopernikanische Wende in der Sprachphilosophie, Freiburg / München 2012, S. 122. 18 M. Buber, Ich und Du, in: Das dialogische Prinzip, Heidelberg 1965, S. 37. 19 M. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1966, S. 244 – Phénoménologie de la perception, Paris 1945, S. 251. Später immer in diesen beiden Ausgaben und in dieser Reihenfolge zitiert. 20 L. Wiesing, Das Mich der Wahrnehmung. Eine Autopsie, Frankfurt 2009, S. 88. 21 Der Untertitel »Einübung« ist dem Werk von Richard Schaeffler entlehnt, der 2004 die dreibändige »Philosophische Einübung in die Theologie« vorlegte. Er selbst greift auf den Titel von G. Söhngen zurück: Philosophische Einübung in die Theologie, Freiburg / München 1955. 22 Christiane Florin, 18. September 2012. 23 Vgl. bei Thomas von Aquin: Quaestiones disputatae de veritate q. 1. a. 1. die klassische Definition der ontologischen Korrespondenztheorie der Wahrheit adaequatio rei et intellectus (Übereinstimmung der Sache mit dem Verstand). 24 M. Heidegger, Was heißt denken? Tübingen 1954. GA, Bd. 8, Frankfurt 2002, S. 5. 25 A. Grillo, Einführung in die liturgische Theologie. Zur Theorie des Gottesdienstes und der christlichen Sakramente, Göttingen 2006, S. 39. 26 R. Schaeffler, Die Stellung des Kultus im Leben des Menschen und der Gesellschaft. Eine anthropologische Grundlegung, in: Unfähig zum Gottesdienst. Liturgie als Aufgabe aller Christen, Regensburg 1991 (Sammelband: K. Baumgartner et al.), S. 26. 27 R. Schaeffler, Philosophische Einübung in die Theologie, Freiburg / München 2004, Bd. 1, S. 6. 28 E. Husserl, Cartesianische Meditationen § 1, Hamburg 1987, S. 4. 29 Regel Benedikts, Prolog v. 8: »Die Schrift rüttelt uns wach.« 30 Vgl. R. Schaeffler, Philosophische Einübung in die Theologie, Freiburg / München 2004, Bd. 1, S. 21. 31 Vgl. ebd., S. 25. 13
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Einleitung W. Schapp, Beiträge zur Phänomenologie der Wahrnehmung, Wiesbaden 1976 (Erstauflage Göttingen 1910), S. 12. 33 R. zur Lippe, Das Denken zum Tanzen bringen. Philosophie des Wandels und der Bewegung, Freiburg / München 2011, S. 155. 34 Die Perspektive des transzendentalen Ego, des »reinen Ich«, wird aber hier eher implizit als explizit eingenommen. Nach Husserl kann man nicht von »Phänomenologie« im eigentlichen Sinne sprechen, »ohne die Eigenart transzendentaler Einstellung aufgefasst und den rein phänomenologischen Boden sich wirklich angeeignet zu haben, mag man das Wort ›Phänomenologie‹ gebrauchen, die Sache hat man nicht« (Ideen I, 216). 35 N. Depraz, Phänomenologie in der Praxis, Freiburg / München 2012. 36 Ebd., S. 14. 37 Ebd., S. 13. 38 R. Feiter, Antwortendes Handeln. Praktische Theologie als kontextuelle Theologie, Münster 2002. 32
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I
Berührung und Spiritualität
»Gott im Fleische, nicht aus weiten Entfernungen wirksam wie in den Propheten, sondern vereint mit einer der Menschheit wesensgleichen Natur. Wie war die Gottheit im Fleisch? Wie das Feuer im Eisen, nicht durch Übergang, sondern durch Mitteilung. Nicht entweicht ja das Feuer in das Eisen, sondern teilt ihm, am Orte verbleibend, nur von seiner Kraft mit; auch nimmt es nicht ab durch die Mitteilung, erfüllt vielmehr ganz, was mit ihm in Berührung kommt.« Basilius der Große, Predigt 18,2
Christentum ist eine Religion der Berührung. »Was unsere Hände angefasst haben, das verkünden wir: das Wort des Lebens« (1. Johannesbrief 1,1). Die Fleischwerdung des ewigen Logos Gottes revolutioniert das Gottesbild und verändert das Wesen von Religion. Die ersten Verkünder des christlichen Glaubens sind keine Intellektuellen, die eine neue Weltsicht entwickeln, sondern sie sind Zeugen von Ereignissen. Sie haben Begegnungen erfahren, die ihr Leben dauerhaft prägen. Und sie sind nicht nur Ohren- und Augenzeugen, sondern sie bezeugen auch mit ihren Händen und ihren Leibern. Die Volksfrömmigkeit kennt seit jeher die herausragende Bedeutung des Haptischen: In der Geschichte geht die Verehrung von Berührungsreliquien derjenigen von Gebeinen voraus. In biblischen Berührungsreliquien wie dem Turiner Grabtuch, dem Heiligen Rock von Trier oder dem Aachener Marienkleid 47 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
I Berührung und Spiritualität
lebt diese Dimension auch unabhängig von der Frage der historischen Echtheit prinzipiell fort. Christen sind Zeugen; darin besteht die theologische Hauptaussage des II. Vatikanischen Konzils über das Wesen des Getauftseins. Die Erfahrung der apostolischen Zeit lebt durch die Generationen fort und verliert im Laufe der Zeit trotz aller Entwicklungen nichts von ihrer sinnenhaften Dichte. Auch unter den Bedingungen der Gegenwart müssten Christen sagen können: Was unsere Hände angefasst haben, das verkünden wir: das Wort des Lebens. »Die Wahrheit des Christentums (gehört) nicht der Ordnung des Denkens an.« 1 Darum hat die christliche Religion aber auch nicht schon von sich aus eine Sprache, diese Wahrheit auszudrücken. Sie sucht im Dialog mit den Denktraditionen der Menschheit die rechten Begriffe zum Verstehen und Vermitteln. »Spiritualität der Wahrnehmung« entsteht konkret im Gespräch mit der Phänomenologie und möchte im Bereich des geistlichen Lebens auf den Platz zusteuern, der dem des phänomenologischen Ansatzes im Bereich der Philosophie entspricht. Und so wie die Phänomenologie heute die Geisteswissenschaften und speziell die Theologie davor bewahrt, sich ganz in empirische und analytische Denkansätze aufzulösen, so könnte die »Spiritualität der Wahrnehmung« zu einer Neubegründung des geistlichen Lebens transversal zu den klassischen spirituellen Schulen beitragen.
1)
Der Stellenwert von Berührung in der heutigen Zeit. Virtuelle und reale Welt
Die technische Entwicklung unserer Zeit verschärft in rasanter Beschleunigung das klassische Leib-Seele-Problem: Scheinbar herrscht heute das Materielle und Machbare vor, und die Werbung verspricht permanent Konsumangebote mit intensiven sinnenhaften Erlebnissen; aber gleichzeitig mangelt es den 48 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Der Stellenwert von Berührung in der heutigen Zeit
Menschen an konkreter leibhaftiger Erfahrung. Unsere Lebenswelt wird immer virtueller und fiktiver. Der über alles informierte und jederzeit erreichbare Mensch ist auch ein erfahrungsmäßig verarmter und sinnlich verkümmerter Mensch geworden. Unser Kontakt zur Wirklichkeit existiert zu immer größeren Anteilen nur noch in digitalen elektronischen Verschlüsselungen. Die Medien der sozialen Kommunikation sind unvorstellbar vielfältig und komplex geworden. Aber die Überfülle an Informationen erzeugt kein Mehr an wirklicher Kommunikation, die das Herz des Menschen erwärmen und bewegen würde. Das Problem ist nicht mehr ein Zuwenig, sondern ein Zuviel an Wissen, das keiner mehr verarbeiten und für ein Mehr an Lebensqualität einsetzen kann 2. Die alte Unterscheidung zwischen Wissen und Weisheit gewinnt neue Relevanz. Leibhaftige Anwesenheit und unmittelbare Berührung können im menschlichen Leben durch nichts ersetzt werden. Zwar reagieren alle Lebewesen mehr oder weniger empfindlich auf Berührungen; der Mensch aber zeichnet sich vor allen anderen dadurch aus, dass seine Haut weitgehend unbehaart und daher besonders sensibel für Berührungen ist. Der aufrechte Gang macht die Hände des Menschen bis in die Fingerspitzen frei für allerfeinste taktile Erfahrungen. »Ge-fühle« haben mit »Fühlen« zu tun. Gedanken und Emotionen setzen einen inneren Tastsinn und eine Empfänglichkeit für Berührungen voraus. Für den Entwurf einer »Spiritualität der Wahrnehmung« wird also hier zunächst gefragt nach der Wahrnehmung durch Berührung. Körper- und Hautkontakt wären ein guter Garant für Authentizität und Verlässlichkeit von Erfahrung. Sie könnten mir in der Flüchtigkeit der virtuellen Kommunikation Halt und Sicherheit geben. Die digitalen Medien suggerieren Nähe, weil sie mich an vielen Informationen teilhaben lassen und mir Bilder von fernen Orten herbeiholen; aber sie schaffen gleichzeitig auch eine unüberbrückbare Distanz, weil jeder »Kontakt« über Bildschirm und Tastatur vermittelt und ver49 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
I Berührung und Spiritualität
fremdet ist. Die Zusammensetzung der Vokabel »touchscreen« verrät diese Ambivalenz. Die visuelle und virtuelle Welt der Medien ist eine Welt, in der das Drücken von Tasten und das Gleiten auf Flächen eine große Rolle spielt. Wenn unser Berühren sich auf das Bedienen der Oberflächen elektronischer Geräte reduziert, verkümmert als erstes der in sich doch so vielseitige Tastsinn, die Fähigkeit, glatt und rau, hart und weich, sanft und spröde in allen Abstufungen voneinander zu unterscheiden. 3
a)
Berührung und Tastsinn
Berührung als Wahrnehmung betrifft aber nicht nur Hautkontakt und Tastsinn. Es geht um mehr als um das gute Fingerspitzengefühl. Organ der Berührung ist der ganze Leib des Menschen. Jeder von uns ist durch seine Biographie, angefangen mit den Monaten im Mutterschoß, ein Experte für Berührung. Als inkarnierte Wesen berühren wir und wir werden berührt. Der Mensch existiert nur als Leib. In der phänomenologischen Sichtweise Merleau-Pontys bezeichnet »Leib« weniger »den sichtbaren, tastbaren und empfundenen Körper … als (vielmehr) unser Vermögen zu sehen, zu berühren und zu empfinden.« 4. Geistliche Übungen sind darum immer leibliche Übungen. Es gibt keine Spiritualität ohne die Komponente körperlicher Askese. Das ließe sich quer durch alle Formen christlicher (und außerchristlicher) Spiritualität aufzeigen, wobei die Arten der Leibübungen dann im Einzelnen natürlich eine enorme Bandbreite haben. Berührung ist an sich viel intensiver als verbaler oder emotionaler Kontakt. Kein anderes Sinnesorgan stimuliert unsere innere Welt so sehr wie der Tastsinn. Für die Fortpflanzung und das Überleben der Menschheit ist er unerlässlich. Von allen Sinnen des Menschen ist er physiologisch der erste, der sich regt. Die Wahrnehmung eines Menschen beginnt als 50 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Der Stellenwert von Berührung in der heutigen Zeit
Fühlen. 5 Die Haut eines Menschen hat eine Ausdehnung von ca. 1,6 Quadratmetern mit ca. 5 Millionen Nervenenden und ist so mit Abstand unser größtes Sinnesorgan. Im Mutterleib ist die Berührung über die Haut die erste Sinneswahrnehmung. 6 Berührung ist die erste Kontaktnahme der Mutter mit ihrem neugeborenen Kind, Haut an Haut, Leib an Leib. Und am anderen Ende der Lebensskala bleibt sie auch am längsten erhalten: Wenn Verstand, Seh-, Geruchs-, Geschmacks- und Hörsinn nachlassen, bleibt z. B. bei Langzeitkranken, dementiell Veränderten oder Sterbenden der Kontakt über die Haut der einzige Zugangsweg, oft bis zum letzten Atemzug. In der Haut eines Menschen »hinterlässt das Leben seine Spuren; mit ihr entwickelt der Mensch ein Gespür für das Leben« 7. Diese Art von Wahrnehmung ist viel umfassender als alles explizite, reflektierte Wissen. Wir wissen heute über vieles Bescheid, aber das implizite, sich selbst verstehende Wissen kommt uns abhanden. Das pädagogische Ziel eines Maximums an szientistischem Wissen bestimmt immer früher die Erziehung unserer Kinder, weil es ihnen angeblich im harten Wettbewerb des Lebens Startvorteile verschafft. Der Preis ist hoch, zu hoch: Der Subjektpol der Wahrnehmung als Selbstempfindung und Sich-Spüren bleibt unterentwickelt.
b)
Berührung physiologisch und therapeutisch
»Bitte berühren! Skulpturen zum Anfassen« – so nennt ein zeitgenössischer Bildhauer (Walter Green) eine Werksammlung. Er spielt kritisch an auf die vielen Verbotsschilder »Bitte nicht berühren«, wie sie in Museen vor wertvollen Ausstellungsstücken stehen; sie stehen im übertragenen Sinn aber vor vielem, was wichtig ist im Leben. Sinneserfahrung ist heute großenteils auf optische und akustische Reize reduziert. Für Kinder und für Menschen mit Behinderungen richtet man Streichelzoos ein, so als ob es erwachsene Menschen gäbe, die 51 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
I Berührung und Spiritualität
ohne haptische Erfahrung auskommen könnten. Bei der Aachener Heiligtumsfahrt können die Verantwortlichen den Pilgern nicht mehr erlauben, die Heiligtümer, die doch eigentlich Berührungsreliquien sind, »handgreiflich« anzufassen. In manchen Therapieformen werden Berührungen oder Quasi-Berührungen als Heilungsmethoden eingesetzt. 8 Mit allen Abstufungen der Intensität und Intimität können sie Menschen Wohlbefinden, Nähe und Angenommensein vermitteln und seelisches und körperliches Leid lindern. Berührung als Heilungsmethode wird auch wissenschaftlich reflektiert, z. B. in der Osteopathie und der Psychodermatologie. Das Touch Research Institute in Miami hat in den letzten 15 Jahren über 100 Studien veröffentlicht. Dabei gibt es sicher auch einen problematischen Grenzbereich zur Esoterikszene. Berührung gelingt am besten spontan und natürlich. Gewollte Berührungen haben oft etwas Peinliches. In unterschiedlichen Rollen bekommen Berührungen einen unterschiedlichen Stellenwert: Ein Arzt, der den schmerzenden Bauch eines Kindes abtastet, berührt anders als die Mutter, die nach der Behandlung denselben Bauch streichelt und Schmerzen zu lindern versucht. Die Sprache der Berührungen verträgt keine Unwahrhaftigkeit. Ihre Botschaft kann nicht täuschen. Wenn ich im übertragenen Sinn unabsichtlich getroffen werde, wenn durch ein Gespräch oder eine Begegnung eine Saite in mir zum Schwingen und Klingen gebracht wird, dann ist so eine Berührung wie ein Nadelstich, dessen Wirkung in mich eindringt und sich in meinem Inneren ausbreitet.
c)
Berührung phänomenologisch
Mindestens ebenso komplex wie das neurologische Substrat der Berührung im menschlichen Tastsinn ist die phänomenologische Analyse der Berührung. Berührendes und Berührtes gehen in der Berührung eine engstmögliche Verbindung und 52 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Der Stellenwert von Berührung in der heutigen Zeit
Verschränkung ein. Die phänomenologische Betrachtung arbeitet diesen Doppelcharakter heraus, durch die sich in der Berührung das Berührende und das Berührte gegenseitig spiegeln. 9 Eine in der Berührung erfahrene Eigenschaft kann genauso dem berührten Gegenstand wie dem berührenden Leib zugehören. »Man kann nicht etwas spüren, ohne zugleich sich selbst zu spüren.« 10 Das Berührende ist alles andere als ein neutraler, objektiver Rezeptor von messbaren Sinnesreizen. Die Erfahrung des Berührens betrifft und verändert den, der sie macht, in allen Schichten seines Daseins bis in letzte seelische Tiefen. »Die Empfindungen der Hand (die etwas berührt) […] sind unserer Seele zugehörige Eindrücke. […] Eigenes und Fremdes sind in jeder Wahrnehmung untrennbar vermischt. […] Wahrnehmung ist keine Abbildung der Welt, sondern stellt eine Beziehung zur Welt her.« 11 Die Komplexität erhöht sich noch einmal, wenn sich zwei fühlende Leiber berühren. Natürlich gibt es unabsichtliche oder oberflächliche Berührungen genauso wie bedeutungsvolle oder ausdrucksstarke. Aber immer ist es der ganze Mensch, der die Erfahrung der Berührung macht; und deren Wertigkeit lenkt er durch seine Intentionalität. Einem anderen die Hand geben kann reine Konvention ohne Inhalt sein; es kann aber auch Ausdruck eines lebendigen inneren Kontakts zwischen zwei Menschen sein, die so ihren inneren Einklang finden und darstellen. M. Henry unterscheidet den dinglichen Leib vom organischen Körper und von beiden noch einmal das »Fleisch«, von dem das Evangelium (Johannes 1,14) sagt, dass das Wort (Gottes) dieses Fleisch geworden ist. Das Fleisch hat eine Art von Innerlichkeit, die dem Körper fremd ist. Wirkliche Berührung findet »an unserem Fleisch sowie in diesem« 12 statt, und zwar gerade insofern, als es von seinem eigenen Körper getrennt ist. Der Tastsinn wird vom organischen Leib ausgeübt; wirkliche Berührung geschieht durch Bewegung von innen her und ge53 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
I Berührung und Spiritualität
hört allein dem »Fleisch« an. Ein dinglicher Körper kann nicht berühren und nicht berührt werden. Für das »Fleisch« fallen Berühren und Berührt-Werden in eins: Aktive und passive Berührung, »beide sind Modalitäten desselben Fleisches« 13. Es ist nicht der äußere Tastsinn, der etwas durch Berührung wahrnimmt, sondern der Mensch als ganzer, die Person in ihrer ganzheitlichen Wahrnehmungsfähigkeit, vermittelt durch die einzelnen Sinne und ihre Organe. Noch die einfachste Sinneswahrnehmung ist ein seelisches Geschehen, ein Gewahrwerden des ganzen Menschen. Berührung bleibt nicht auf der rein sinnlichen und emotionalen Ebene stehen. Es geht um mehr als um oberflächlichen Sinnesreiz und um die nötige Portion Streicheleinheiten. Davon bliebe meine Existenz im Kern unberührt. Die Aufmerksamkeit auf die Berührung zu lenken, passt zu dem gewachsenen Bewusstsein von der Leibhaftigkeit der menschlichen Existenz und von der Würde des menschlichen Leibes, den Gott geschaffen hat. Der christliche Glaube verkündet keine Seelenwanderung und keine Reinkarnation, sondern die Fleischwerdung des Logos und, über die Unsterblichkeit der Seele hinaus, die Auferstehung des Fleisches. Unser stofflicher Leib wird österlich verklärt und verherrlicht. Der Leib des Auferstandenen ist erkennbar an den Wundmalen, das heißt an den für Berührung besonders sensiblen Stellen, auch wenn unsere Neugier, etwas über die Beschaffenheit des auferstandenen Leibes zu erfahren, unbefriedigt bleibt.
d)
Berührung als Metapher
Die Erfahrung des Lichtes, in dem wir alle Dinge sehen, und die Erfahrung der Berührung, durch die wir mit der Wirklichkeit in Kontakt kommen, das sind für Lévinas die intensivsten Verweise auf die Transzendenz. 14 Neben dem wörtlichen kommt sofort ein übertragener Sinn von »Berührung« ins 54 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Berührt von Menschen – berührt von Gott
Spiel. Die Sprache ist ein sensibler Indikator der geistigen Lage. Im Sprachgebrauch lässt sich ein interessanter Wandel beobachten. Früher sagte man gerne: Dies und das »hat mich angesprochen« oder »es hat mich bewegt«; heute heißt es immer häufiger: »es hat mich berührt«. Ein Ereignis, eine Begegnung, ein Bild, ein Text kann mich anrühren in dem Sinn, dass mir diese Erfahrung so nahe kommt wie der reale Kontakt. Meine Haut ist die Hülle, die mich umgibt und schützt, die das Innen vom Außen abgrenzt und durch die gleichzeitig die Welt in ihren unterschiedlichen Qualitäten des Festen, Weichen, Warmen, Kalten, Spröden, Harten in mich eindringen kann. Gerade wenn Menschen seltener von Angesicht zu Angesicht miteinander reden und sich dabei in die Augen schauen, werden sie empfänglicher für die Berührung, die immer auch eine leise Form der Seinsbejahung ist, weil sie exklusiv wirklich mich meint. Wenn ich sage: »Das hat mich berührt«, dann drücke ich eine ganzheitliche Erfahrung aus: Das Gemeinte blieb nicht an der Peripherie meines Daseins; der Kern meiner Person wurde getroffen; eine Tiefenschicht wurde angebohrt. 15 Es erschüttert mich, geht mir nahe, wühlt mich innerlich auf, geht mir an die Nieren. Was mich berührt, löst etwas in mir aus und prägt sich mir tief ein, zunächst jedenfalls im Augenblick der Berührung. Berührung spricht mich existentiell so an, dass ich in der Richtung, aus der der Auslöser für die Berührung kommt, weiter suchen möchte. Daraus kann eine nachhaltige Veränderung meines Lebens entstehen. Dies wird am folgenden Beispiel klar.
2)
Berührt von Menschen – berührt von Gott. Ein Beispiel im Zusammenhang mit der Abtei Mariendonk
Als 2012 in der Zeche Zollverein in Essen der »Film der Antworten« aus dem niederrheinischen Kloster Mariendonk gezeigt wurde, da reagierten viele Besucher mit der Selbstbeob55 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
I Berührung und Spiritualität
achtung: Das berührt mich. Zwölf Ordensschwestern geben darin sehr persönliche Antworten auf existentielle Fragen. Der Art des Films nach handelt es sich nicht um eine Reportage, sondern um eine künstlerische Verdichtung. 16 Eine Frau schrieb als Reaktion auf den Film: »Ich war sehr berührt von der authentischen Weise, mit der sie (die Schwestern) in klaren, durchdachten und doch auch einfachen Worten mich haben Anteil nehmen lassen an den von ihnen gefundenen Antworten, die alle hinweisen auf jenes letzte DU, das Gott allein ist. Gemeinsam mit den anderen Zuschauenden habe ich den Film am Ende der Vorführung wie einen Gottesdienst verlassen, ehrfürchtig, erfüllt, hingeführt, selbst Antwort zu geben mit dem Leben.« Das Berührt-Sein findet in solchen Worten unmittelbaren Ausdruck. Die Zuschauerin nimmt eine besondere Haltung an, sie verlässt die Filmvorstellung »wie einen Gottesdienst«. Es hat für sie eine Begegnung auf einer höheren Ebene stattgefunden. Sie ist auf Menschen gestoßen, die es vermochten, sie in Berührung mit Gott zu bringen. Der Eindruck ist so stark, dass er nach einer ganz persönlichen Antwort verlangt und einen eigenen Ausdruck hervorruft. Gefühle erheben einen Autoritätsanspruch: Eine wortlose Kommunikation, die mehr Macht hat als jedes gesprochene Wort, hat stattgefunden. Der »Film der Antworten« ist gewissermaßen ein »ästhetisches Gebilde« 17. Es erhebt die gleichen Ansprüche, wie es Gefühle tun, und gebietet dem Eintretenden eine gewisse Ehrfurcht. 18 Es setzt die Fähigkeit zur »Distanzierung in der Ergriffenheit« voraus. »Es ist ein seltener Ausnahmezustand, der aber als Verankerungspunkt des vitalen Antriebs ständig einen unentbehrlichen Einfluss auf die leibliche Dynamik ausübt«, schreibt H. Schmitz. 19 Die üblichen Dimensionen, in denen das normale Leben des Menschen sich abspielt, sind für einen Augenblick wie aufgehoben. Der Boden des gewöhnlichen Alltags, auf dem wir fest zu stehen meinen, 56 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Berührt von Menschen – berührt von Gott
gerät ins Wanken. Darin eröffnet sich aber auch das Potential für eine ungeahnte Entwicklung; denn der Mensch ist nicht wie das Tier durch den Instinkt festgelegt, sondern er hat die Möglichkeit, sich weiter zu entfalten in Richtung auf ein neues, höheres Ziel, das ihm in diesem Augenblick der Ergriffenheit aufleuchtet. Dies wird im folgenden Bericht deutlich. Der 22jährige Student M. P. schrieb nach der Premiere: »Der Film selbst hat eine krasse Wirkung. Die Aussagen, ich erinnere mich da an vieles, haben alle durchschlagende Wirkung. Schwester Perpetua mit ihrer Aussage, dass Danke-Sagen eines der schönsten Dinge auf der Welt ist, das hat Thomas Henke schon bei der Eröffnungs-Dankesrede zitiert, als er den Leuten, die ihm alles ermöglichten, Danke sagte, das hat mich sehr berührt. Es war wirklich eine tiefe Atmosphäre dort.« Berührung und Tiefe werden hier in Zusammenhang gebracht. Ich reagiere mit tiefen Schichten meines Selbst, weil ich dort angesprochen wurde. Wieder werden Atmosphäre und Aussagen in Zusammenhang gebracht. Und noch ein drittes Zeugnis in der indirekten Form der Sehnsucht: »In der Zeitschrift PUBLIK FORUM wurde kürzlich über Ihren ›Film der Antworten‹ berichtet, der in der Zeche Zollverein in Essen gezeigt worden ist. Der Bericht hat mich sehr berührt, und ich würde den Film sehr gerne sehen.« Berührt-Werden bedeutet, dass ich eine neue Wirklichkeit an meine ganz konkrete Existenz heranlasse. Die Begegnung mit den fremden Gestalten der Ordensschwestern gleicht einer Berührung, die durch ihre Unmittelbarkeit einen absoluten Anspruch erhebt. Glauben und Kunst ermöglichen die Erfahrung von Authentizität. Sie brechen unvorhergesehen ins Leben hinein. Darin bricht eine neue Dimension hervor, die so unmittelbar meine Existenz zu erschüttern vermag, dass sie bis zur Grenze einer Transzendenzerfahrung führen kann. 57 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
I Berührung und Spiritualität
Der Dialog mit so berührten Menschen findet auf einer ganz anderen Ebene statt als die übliche Kommunikation. Es geht nicht um die Weitergabe von Informationen, sondern um einen existentiellen Austausch. Das ist die einzige Ebene, auf der eine Auseinandersetzung mit den Inhalten des Glaubens möglich ist; denn die Botschaft des Glaubens meint den Menschen ganz persönlich, setzt aber auch Hörbereitschaft und Umkehrbereitschaft voraus. Wenn heute viele Menschen sagen, sie hätten ihren Glauben verloren, dann haben sie nicht so sehr die Inhalte vergessen, die sie in Erziehung, Katechese und Religionsunterricht einmal gelernt haben, vielmehr ist ihnen die lebendige Beziehung dazu abhandengekommen. Es berührt sie nicht mehr, jedenfalls nicht mehr in den tieferen Schichten ihres Seins. Andererseits liegt in der Berührung mit Blick auf solche Menschen eine große Chance. Gerade wenn jemand abgestumpft ist gegen die transzendente Dimension des Daseins und allergisch gegen die Verkündigung der Kirche, weil sie ihm zu kompliziert, lebensfremd oder anspruchsvoll vorkommt, wenn eine Vermittlung des Glaubens in Worten an unüberwindliche Grenzen stößt, dann hat das Berührt-Werden die Qualität der Echtheit und Glaubwürdigkeit. Karl Rahners viel zitiertes Wort vom Christen der Zukunft, der ein Mystiker sein wird oder nicht mehr sein wird 20, lässt sich so deuten. Diese zukunftsträchtige mystische Dimension des Glaubens zu leben heißt innerlich empfänglich sein für die Berührung durch das unaussprechliche Mysterium Gottes. Ob die Unterscheidung zwischen Berührungen im eigentlichen und solchen im übertragenen Sinn überhaupt haltbar ist, darf bezweifelt werden. Handelt es sich nicht immer um wirkliche Berührungen? Die jeweiligen Erfahrungen sind einander ganz ähnlich; sie haben eine gemeinsame Gestaltqualität, ohne die wir gar nicht wüssten, wohin etwas zu übertragen wäre. 21 Die Berührung durch Gott trifft den Menschen an Leib 58 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Berührung in der Bibel und in der Tradition
und Seele zugleich. Man wird mal mehr die eine, mal mehr die andere Seite betonen und ein gutes Gleichgewicht zwischen den Polen halten, damit der Mensch singen kann: »Mein Herz und mein Leib jauchzen ihm zu, ihm, dem lebendigen Gott« (Psalm 84,3). Das Herz, das weder rein fleischlich noch rein geistlich zu verstehen ist, meint die innere Mitte, in der Gott den Menschen berührt.
3)
Berührung in der Bibel und in der Tradition
In der kritisch aufgeklärten Forschung steht die Vorstellung von der Berührung des Heiligen bis in die jüngere Zeit unter dem Verdacht, ein magisches Relikt zu sein, etwa im Sinne des Mana der heidnischen Religionen. Der Volksglaube an die magische Kraft von Priestern, Königen und Propheten ist weltweit verbreitet 22; und Standardwerke wie »Religion in Antike und Christentum« 23 behandeln das religionswissenschaftliche Vergleichsmaterial ausführlich. Dagegen ist das Interesse der großen Exegese des 20. Jahrhunderts gering: Die Verben für »berühren« (ἅπτεσθαι u. a.) fehlen z. B. im Theologischen Wörterbuch zum Neuen Testament (Kittel) und finden wenig Beachtung in den biblischen Kommentaren. Da die Handauflegung in der Bibel und im christlichen Ritus unabweisbar eine große und bleibende Rolle hat, trennt man sie kurzerhand von den anderen »Berührungen«: Man lokalisiert die Herkunft der »Handauflegung« im Alten Testament und in der jüdischen Tradition, während die »Berührung« sonst auf heidnisch-hellenistischen Einfluss zurückgeführt wird; im Neuen Testament hat dann eine heute unentwirrbare Vermischung der beiden Stränge stattgefunden. Berührung wird gern als synkretistischer Ersatzterminus für Handauflegung gesehen.
59 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
I Berührung und Spiritualität
a)
Altes Testament
Aber natürlich gibt es auch im Alten Testament »Berührungen« 24. Die hebräischen Verben haben Nebenbedeutungen, die oft weniger etwas Sanftes und Zärtliches als vielmehr etwas Starkes und Gewalttätiges ausdrücken: schlagen, stoßen, stemmen. Eine Frau »berühren« kann Euphemismus für eine sexuelle Beziehung sein. Die Bedeutung »schlagen« wird dann oft weiterentwickelt zu »strafen«. So bekommt die Berührung einen ambivalenten Charakter. Wen Gott berührt, den straft er mit einer Plage. Der Mann, der die Bundeslade berührt, aus Versehen zwar, aber unbewusst mit der guten Absicht, sie vor Schaden zu schützen, muss auf der Stelle sterben (2. Samuel 6,7). Wenn Gott die Erde anrührt, gibt es ein Erdbeben. Wenn Gott die Berge anrührt, gibt es einen Vulkanausbruch. Wenn die Hand Gottes den Pharao berührt, vollzieht sich das Gericht an den Erstgeborenen. Oft ist speziell der Aussatz gemeint als die Plage, mit der Gott einen Menschen »berührt«. Der leidende Gottesknecht ist von Gott berührt, d. h. geschlagen, bestraft und gedemütigt (Jesaja 53,3–4). Die Übersetzung des hebräischen Verbs ist in der griechischen Bibel (LXX) durchgängig ἅπτεσθαι. Gemeint ist sowohl die Berührung selbst als auch die durch sie vermittelte Kraftübertragung. Die Bedeutungsübertragung von einer äußeren auf eine innere Berührung gibt es auch schon in ganz alten Texten: Gott berührt das Herz der Tapferen (vgl. 1. Samuel 10,26). »Rein / unrein« – das ist der binäre Code, nach dem man im Sinn der Systemtheorie N. Luhmanns das Alte Testament decodieren könnte. Durch die Berührung von Unreinem wird der Mensch selbst unrein, d. h. kultunfähig (Leviticus 5,2 f.; Numeri 19,22). Reinigung, die wieder kultfähig macht, geschieht körperlich durch Waschung oder Besprengung mit Wasser oder Darbringung von Opfern. Israel muss die Unterscheidung zwischen rein und unrein gründlich erlernen (Leviticus 10,10). 60 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Berührung in der Bibel und in der Tradition
Die unbefugte Berührung des Heiligen wird mit dem Tod bestraft (Exodus 19,12 f.). »Daran dürft ihr nicht rühren« (Genesis 3,3) Die Urgeschichte vom Sündenfall braucht das Motiv der Berührung, um die Psychologie der Verführung zu erklären. Gott hatte dem Menschen als Testfall für seine Freiheit zusammen mit einer Erlaubnis auch ein Gebot gegeben: »Von allen Bäumen des Gartens darfst du essen; doch vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse darfst du nicht essen« (Genesis 2,16 f.). Dem Verbot war eine Sanktionsandrohung angefügt: »Sobald du davon isst, wirst du sterben« (Genesis 2,17). Positiv gewendet dient das Verbot also, auch wenn es streng und willkürlich klingt, dem Schutz des Lebens, so wie es alle guten und sinnvollen Regeln tun: Wenn du dich dran hältst, wirst du leben. Gott liegt daran, das Leben des Menschen zu schützen und zu nähren. Dazu dienen die Normen und Gesetze. Die Schlange dreht Gott das Wort im Mund herum und suggeriert Eva das Zerrbild eines missgünstigen Gottes, der den Menschen nichts Gutes gönnt: »Hat Gott wirklich gesagt: Ihr dürft von keinem Baum des Gartens essen?« (Genesis 3,1) Anfänglich durchschaut Eva den Trick und stellt die Sache richtig, aber statt dem Versucher das Gebot Gottes in seinem ursprünglichen, reinen Wortlaut entgegenzuhalten, fügt sie ihm ängstlich eine menschliche Verschärfung hinzu, eben das Verbot der Berührung: »Von den Früchten der Bäume im Garten dürfen wir essen; nur von den Früchten des Baumes, der in der Mitte des Gartens steht, hat Gott gesagt: Davon dürft ihr nicht essen und daran dürft ihr nicht rühren, sonst werdet ihr sterben« (Genesis 3,2 f.). »Daran dürft ihr nicht rühren« – das hatte Gott gerade nicht gesagt. Für Gott ist das Anfassen völlig unproblematisch. Die Berührung unterliegt keiner Sanktion. Für die Phantasie des verführbaren Menschen dagegen ist das Berühren der erste Schritt bei der Übertretung des Verbots. Der Mechanismus »sehen – begehren – berühren – pflücken – 61 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
I Berührung und Spiritualität
zubeißen – erkennen – sich verstecken – die Schuld vertuschen« wird in Gang gesetzt und ist anscheinend nicht mehr aufzuhalten. Die Verkettung der strukturellen Ungerechtigkeiten bis heute beginnt mit dem Anschauen und Anfassen der verbotenen Frucht. Evas Fehler bestand wohl schon darin, sich überhaupt in ein Gespräch mit dem Versucher verwickeln zu lassen, statt ihm, wie es später Jesus bei seiner Versuchung tut, ohne Dialogangebot das Wort Gottes in seiner unverfälschten Einfachheit entgegenzuschleudern: »Du sollst den Herrn, deinen Gott, nicht auf die Probe stellen« (Lukas 4,12; Deuteronomium 6,16). Stattdessen lässt sich Eva auf eine Erörterung über Gottes Wort ein, und die Vorstellung, die verbotene Frucht zu berühren, macht sich in ihrer Phantasie breit mit allen Folgen, die sie auslöst. Das Gebot Gottes wird nicht mehr in seiner Funktion, das Leben zu schützen, gesehen, sondern als missgünstige Minderung des Lebens fehlgedeutet.
b)
Neues Testament
Im Neuen Testament tritt das Paradigma »rein / unrein« in den Hintergrund. Im Christentum gibt es keine Parias. Christentum ist die Religion der Berührung geworden; nichts und niemand ist unberührbar. 25 Jesus knüpft an bei den Propheten, die erste Schritte in Richtung dieser Entwicklung getan hatten. Schon bei Jesaja ist eine deutliche Tendenz zur Verinnerlichung zu erkennen: Den Propheten berührt bei seiner Berufung ein Serafim mit einer glühenden Kohle am Mund (Jesaja 6,7). Erst durch diese schmerzhafte Reinigung, die alle verderblichen Menschenworte wegbrennt, wird er fähig, Künder des Wortes Gottes zu sein. Wer von Gott berührt ist, der spricht nicht einfach »über« ihn, sondern von ihm aus, aus diesem Berührtsein heraus. Über den lebendigen Gott spricht ein Theologe oder ein Prediger nicht wie über ein totes Objekt, das er den Bedingungen der eigenen wissenschaftlichen Erfor62 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Berührung in der Bibel und in der Tradition
schung oder den Erfordernissen der eigenen Kommunikation unterwirft. Schon mit dem Wort »Gott« verbrennt er sich den Mund. Dem hl. Franziskus ließ schon das Aussprechen des Namens »Jesus« das Wasser im Munde zusammenlaufen. Jesus setzt diese Linie konsequent fort und relativiert das Paradigma von rein und unrein grundsätzlich, weil es zu sehr im Äußerlichen verhaftet bleibt und die Dimension des »Herzens« zu wenig erfasst. Die leibliche Berührung begegnet im Neuen Testament hauptsächlich in Heilungsgeschichten. 26 Jesus schränkt erfülltes Menschsein nicht auf ein jenseitiges »Heil der Seele« ein und setzt sich nicht über die Leiblichkeit des Menschen hinweg. Er nimmt Kontakt mit dem kranken Leib der Heilsuchenden auf. Seelische Heilung und körperliche Gesundung sind für ihn nicht zu trennen. Die Sendung Jesu ist in zweierlei zusammengefasst: »Er verkündete das Evangelium vom Reich und heilte alle Krankheiten und Leiden« (Matthäus 9,35). Die Jünger sendet er mit demselben Auftrag aus und gibt ihnen die entsprechende Vollmacht, »die unreinen Geister auszutreiben und alle Krankheiten und Leiden zu heilen. Geht und verkündet: Das Himmelreich ist nahe.« (Matthäus 10,1.7) Hier ist also andeutungsweise ein Unterschied zwischen Krankenheilungen und Geisteraustreibungen erkennbar. Bei den Exorzismen legt Jesus Wert auf Distanz: Er schafft Abstand zwischen sich und den Dämonen und jagt sie so weit wie möglich davon. Bei den Heilungen dagegen sucht Jesus deutlich die Nähe der Kranken. Das ist für die Kranken überraschend und befreiend, weil sie sonst von den Menschen auf Distanz gehalten, an den Rand gedrängt und ausgegrenzt werden. Die Berührung ist Ausdruck größtmöglicher Nähe und Solidarität. 27 Sie ist dann zumeist auch Wegbereiterin für einen verbalen Dialog, eine Gesprächstherapie en miniature, die genauso wie die heilende Berührung integraler Bestandteil des Heilungsgeschehens ist. Im Vergleich zu anderen Heilern geht Jesus das heilende Handeln leicht von der Hand. Er muss 63 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
I Berührung und Spiritualität
keine besonderen Anstrengungen unternehmen. Er geht mit Leichtigkeit, souverän und diskret vor, ohne jede Übertreibung. Vom Propheten Elija heißt es mit großem Pathos, dass er sich dreimal über die Leiche eines verstorbenen Kindes streckt, um es wieder zum Leben zu erwecken (1. Könige 17,21 f.). Jesus genügt eine kleine Geste. Seine Heilung ist keine akrobatische Übung. Hinter der Berührung steckt die Macht des Wortes, des schöpferischen und erlösenden Wortes Gottes. 28 Der Aussätzige (Markus 1,40–49) Von Anfang an setzt Jesus die Tabuisierung des Unreinen außer Kraft: Am ersten Tag seines Auftretens streckt er die Hand aus und fasst den Aussätzigen an, und statt dass die Krankheit per Ansteckung auf den Gesunden übergreift, fließt durch die Berührung Jesu sein Heil in den Kranken ein und macht ihn rein (1,41). Der äußeren Berührung geht das innere Angerührtsein (»Mitleid«) voraus. Allerdings entsteht durch die Berührung auf andere Weise doch ein Austausch auch in Richtung auf Jesus: Er steckt sich zwar nicht mit der Krankheit an, er teilt aber ab jetzt das Schicksal des Aussätzigen. Während der Kranke sich zuvor außerhalb der Orte aufhalten musste und von den Menschen ferngehalten wurde und ihn dann die Reinheitserklärung des Priesters wieder in die Gemeinschaft aufnimmt, ist es nach der Heilung Jesus, der sich nicht mehr in den Städten sehen lassen kann und sich nur noch an abgelegenen Orten aufhält. Doch auch diese Notiz wird dann wieder relativiert durch die Beobachtung, dass stattdessen die Leute in Scharen von überall her zu ihm kamen (1,45). »Si tetigero … / Wenn ich auch nur berühre …« – die blutflüssige Frau (Markus 5,25–34) Das Motiv der Berührung begegnet also gleich zu Anfang des öffentlichen Wirkens Jesu, wie Markus es schildert. Markus hat ja keine Kindheitsgeschichte: Der erste Tag des öffent64 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Berührung in der Bibel und in der Tradition
lichen Wirkens ist Jesu Kommen in unsere Welt. In Jesus begegnet der heilige Gott dem Elend der Menschen. Wer einen Aussätzigen anfasst, der hat keine Berührungsängste. Dann heißt es verallgemeinernd, dass »alle« Kranken sich »an ihn herandrängten, um ihn zu berühren« (3,10). Das Erzählmotiv spielt dann besonders in den Begegnungen Jesu mit Frauen eine Rolle. Bei Markus kommt es bei der Heilung der Schwiegermutter des Petrus (1,30 f.) und dann vor allem in der detailliert geschilderten Heilung der blutflüssigen Frau (5,25–34) in der Form der Berührung mit der Kleidung vor. Das sich anschließende Gespräch hilft der Frau von einem magischen Verständnis, nach dem sie Jesus durch unbefugtes Anfassen Heilungsenergie abgezapft hat, zu einem personalen Verständnis von Heil: Jesus nennt sie liebevoll »meine Tochter«, lobt ihren »Glauben« und entlässt sie in »Frieden«. Die »zweite Haut« – so nennt man manchmal die Kleidung. Die Haut des Menschen ist größtenteils unbehaart; umso mehr ist er über die Haut sensibel für Impulse und Berührungen. Als Ersatz für das fehlende Fell braucht er die Wärme, den Schutz und die Geborgenheit der Kleidung, die ihn in ein lebensfreundliches Mikroklima einhüllt und vor Kälte und Hitze schützt. Ein Kleidungsstück zu berühren wird dann zum Ersatz dafür, die Haut oder den Leib zu berühren. In den Textilreliquien nehmen Christen Tuchfühlung mit dem Heiland und den Geheimnissen des Heils auf. Die Quasi-Gleichsetzung von Kleidungsstücken und Körperteilen ist der biblischen Kultur vertraut. Der aufgeklärte Lukas berichtet in der Apostelgeschichte (19,12), dass die Leute dem Paulus »sogar seine Schweiß- und Taschentücher« vom Leib wegnahmen und sie den Kranken auflegten, woraufhin sie gesund wurden. In einer Zeit der massenhaften Billigproduktion von Textilien und der Überflutung der Innenstädte mit Klamottenläden machen wir uns nur schwer eine Vorstellung davon, welche Bedeutung ein Kleidungsstück für Menschen anderer Zeiten und Kulturen 65 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
I Berührung und Spiritualität
haben kann. Das Beispiel des Saris, den die indische Frau ein Leben lang trägt und der einzigartig und unverwechselbar ist, wird hierzu gerne angeführt. Der Stellenwert der Textilreliquien in Altertum und Mittelalter ergibt sich daraus nahtlos. Kleidungsstücke begleiten den Bericht der Evangelien vom Leben Jesu, angefangen von den Windeln in der Krippe bis zum Leichentuch im Grab. Nach Matthäus 9,21 sagt die blutflüssige Frau: »Wenn ich auch nur sein Gewand berühre, werde ich geheilt.« (Ebenso Markus 5,28.) Im Vers zuvor heißt es, dass sie von hinten an Jesus herantritt und den Saum seines Gewandes berührte. Die Geste der Frau hat etwas Verwegenes; ihr Glaubensmut lässt sie gegen die gesetzliche Regel verstoßen und ein Tabu brechen: Jesus anfassen, den Leib eines fremden Mannes berühren wollen; und zugleich hat sie etwas vornehm Zurückhaltendes: unter Vermeidung des direkten Hautkontakts ersatzweise ein Stück seiner Kleidung anfassen. Obwohl es der Teil der Kleidung ist, der tief auf den Boden herabhängt und am weitesten von seinem vitalen Zentrum entfernt ist, spürt Jesus, wie durch Kleid und Hand eine heilende Kraft von ihm ausströmt und von jemand anders aufgenommen wird. Im vorliegenden Fall ist es nicht die Hand Jesu, die durch Berührung oder Auflegung heilende Kraft auf einen anderen überträgt, sondern die Hand der Kranken, die durch Berührung ihrem Heiler Kraft entzieht. So oder so, die Heillosigkeit des Menschen und das Heilshandeln Gottes finden durch die Berührung zueinander. Das Stoffstück, das die Hände der Frau umgreifen, hat die Phantasie der Bibelkundler beflügelt. Die Vokabel erinnert an die Berufungsvision des Propheten Jesaja, der sah, wie der Saum des Gewandes Gottes den Tempel erfüllte (6,1), Zeichen seiner transzendenten Heiligkeit und Überlegenheit, die sich aber in Architektur und Liturgie des Jerusalemer Tempels offenbart. Wenn Jesus durch Palästina wandert, berührt mit seinem Gewandsaum sozusagen Gott selbst die staubigen Stra66 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Berührung in der Bibel und in der Tradition
ßen unserer Erde. In der Menschheit Jesu bekommen wir einen Zipfel der Gottheit zu fassen. 29 Die Empathie Jesu Die Fähigkeit, sich innerlich anrühren zu lassen, zeichnet Jesus aus. Die Evangelien verwenden dafür die griechische Vokabel σπλάγχνα, die dem hebräischen rachamim (Mutterschoß) entspricht, also eine stark weibliche, mütterliche Komponente enthält. Die lateinische Bibel spricht von den »viscera misericordiae« (Lukas 1,78: σπλάγχνα ἐλέους), einer »viszeralen« Barmherzigkeit, die die innere Welt erschüttert, die einem »an die Nieren geht«, einem die Eingeweide umdreht. So reagiert Jesus, wenn er menschlichem Leid begegnet, z. B. der Witwe von Naïn, die um ihren Sohn trauert (Lukas 7,13: ἐσπλαγχνίσθη). Der Samariter im Gleichnis Jesu zeigt im Unterschied zu Priester und Levit, die vor ihm an dem Halbtoten am Wegesrand vorbeigegangen waren, genau dieselbe Reaktion: er hatte Mitleid mit ihm (Lukas 10,33: ἐσπλαγχνίσθη). Der barmherzige Vater im Gleichnis Jesu reagiert mit genau derselben heftigen inneren Regung auf die Rückkehr des verlorenen Sohnes: er hatte Mitleid mit ihm (Lukas 15,20: ἐσπλαγχνίσθη). Er ist ein sehr »mütterlicher Vater«, so wie es Rembrandt auf seinem Gemälde, das heute in der Petersburger Eremitage hängt, mit den beiden so verschiedenen Händen, die eine väterlich stark, die andere mütterlich zart, dargestellt hat. 30 Indem er in allen drei Zusammenhängen dasselbe Signalwort vorkommen lässt, zieht Lukas eine direkte Verbindungslinie von der väterlichen Barmherzigkeit Gottes (Lukas 15) zum Verhalten Jesu gegenüber menschlichem Leid (Lukas 7) hin zur christlichen Ethik der Nächstenliebe (Lukas 10). Die Vorstücke dazu finden sich bei den beiden anderen Synoptikern: Bei Markus (1,41) begegnet Jesus schon am ersten Tag seines öffentlichen Wirkens dem Aussätzigen mit dem für ihn charakteristischen »Mitleid« (σπλαγχνισθεὶς). Dem inneren Angerührtsein entspricht dann die äußeren Berührung: Unter 67 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
I Berührung und Spiritualität
Brechung aller Tabus streckt er die Hand aus und fasst den Leprösen an (ἥψατο). Dieselbe Verbindung zwischen innerem Erschüttertsein und äußerer Berührung findet sich auch bei der Heilung der zwei Blinden (Matthäus 20,34: σπλαγχνισθεὶς ἥψατο). Diese Haltung Jesu spricht sich herum; und später kommen sogar Leute wie der Vater des besessenen Jungen auf ihn zu und fordern sie explizit von ihm ein, weil sie in ihren Augen der Ausgangspunkt des Heilungsprozesses ist: »Hilf uns, hab Mitleid mit uns!« (Markus 9,22: σπλαγχνισθεὶς). Markus (6,34) und Matthäus (9,36 und 14,14) erwähnen die Haltung Jesu gegenüber dem unermesslichen und darum undifferenzierten Leid der großen Menge: Er hatte Mitleid mit ihnen (ἐσπλαγχνίσθη). Die Speisungen der Menge sind dann jeweils seine äußere Reaktion auf diese innere Regung. Die Haltung der inneren Betroffenheit ist auch der Grund für die Bereitschaft zur Vergebung der Sünden, die also mehr als Leid denn als Schuld gesehen wird: Der Herr im Gleichnis Jesu hat Mitleid mit seinem Schuldner, der ihn um Nachlass anfleht (Matthäus 18,27: σπλαγχνισθεὶς); er selbst dagegen lässt es gegenüber seinem verschuldeten Mitknecht genau an diesem Mitgefühl fehlen. Wegen dieser Fähigkeit, sich von fremdem Leid berühren und innerlich erschüttern zu lassen, erreicht Jesus auch unser Inneres und erwärmt und verwandelt unser Herz. »Noli me tangere« (Fasse mich nicht an!) In der christlichen Tradition sind die Frauengestalten aus Stellen wie Lukas 7 (die Sünderin im Haus des Pharisäers Simon, die Jesus die Füße salbt), Johannes 12 (Maria von Betanien, die Jesus die Füße salbt) und Markus 16 (Maria aus Magdala, die zusammen mit anderen Frauen den Leichnam Jesu salben will) verwechselt, vermischt oder identifiziert worden. In der johanneischen Ostererzählung erscheint das Motiv der Berührung dagegen in negativer Gestalt. Jesus spricht zu Maria Magdalena das »Noli me tangere« (Johannes 20,17), das je nach Version 68 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Berührung in der Bibel und in der Tradition
als »Rühr mich nicht an!« (z. B. Luther) oder als »Halte mich nicht fest!« (z. B. Einheitsübersetzung) gedeutet wird; im zweiten Fall ist wohl vorausgesetzt, dass die Jüngerin ihn tatsächlich anfasst. Auf jeden Fall ist zwar der Leib des Auferstandenen prinzipiell für menschliche Hände berührbar, aber wir bekommen keine Auskunft darüber, wie sich die Berührung eines auferstandenen Leibes konkret anfühlt. 31 Eine Berührung des Leibes Jesu wie bei der Salbung seiner Füße oder bei der intendierten Salbung seines Leichnams wird nach Johannes beim auferstandenen Jesus vermieden, weil dieser Leib sich entzieht und nur sozusagen im Hinübergang zum Vater erscheint. Seine Gegenwart ist sein Weggehen. Die Auferstehung des Gekreuzigten ist nicht seine Rückkehr in das irdische Leben. Aber denkbar bleibt, dass Jesus sich einer Berührung entzieht, die er auch hätte zulassen können. 32 Die johanneische Ostererzählung ist auf das Sehen ausgerichtet. Vom Liebesjünger Johannes heißt es: »Er sah und glaubte« (20,8). Der Blick auf das leere Grab reicht ihm als Wegweiser zum Glauben; eine leibhaftige Begegnung mit dem Auferstandenen braucht der vollkommen Glaubende nicht. Sie wird eher Gestalten wie Maria von Magdala oder Thomas zuteil, die vom vollkommenen Glauben noch ein gutes Stück entfernt gedacht werden. Das Berühren ist eine Ergänzung oder ein Äquivalent des Sehens. J.-L. Nancy hat in einem interessanten Essay die Reflexe der christlichen Kunst auf die Magdalena-Szene dargestellt. Albrecht Dürer 33 z. B. dreht den Spieß um und lässt Jesus mit dem Finger die Stirn Maria Magdalenas berühren, während er das »Noli me tangere« spricht. Der Satz hat je nach Blickwinkel ganz unterschiedliche Konnotationen, z. B. die Warnung vor einer Gefahr (»Nicht berühren; du könntest dich verbrennen oder verletzen; du könntest aber auch mir wehtun; du könntest meine Integrität verletzen; ich muss mich gegen deinen Zugriff verteidigen. Wenn überhaupt, berühre mich ganz vorsichtig und zärtlich«), die Erinnerung an früher bereits geschehene Berührungen (»Halte mich nicht mehr fest; du hast 69 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
I Berührung und Spiritualität
mir damals die Füße gesalbt, und diese Salbung genügt; du berührst keinen Leichnam, den man einbalsamieren müsste, sondern den lebendigen Leib eines Auferstandenen«), die Einladung zum Verzicht auf alle Anhänglichkeit und Gewissheit (»Halte mich nicht fest, denn nur im Loslassen und Abschiednehmen bin ich dir gegenwärtig«). Paulus auf dem Areopag (Apostelgeschichte 17,22 ff.) In seiner großen Missionsrede im Herzen von Athen bezieht sich Paulus auf den dort befindlichen Altar mit der Inschrift »Einem unbekannten Gott«. Paulus behauptet, diesen unbekannten Gott, den die Athener verehren, zu verkünden. Als Schöpfer von allem braucht er zwar keine Tempel und keine Altäre, und doch will er den Menschen nahe sein: »Sie sollten Gott suchen, ob sie ihn ertasten und finden könnten« (17,27). Das hier verwandte seltene Verb für »ertasten« (ψηλαϕήσειαν) kommt sonst nur noch in der lukanischen Ostererzählung vor, wo der Auferstandene in bemerkenswertem Kontrast zu den johanneischen Osterberichten die Jünger auffordert: »Fasst mich doch an!« (ψηλαϕήσατε Lukas 24,39). Wie könnte man den unbekannten und unsichtbaren Gott anders »ertasten« als in einem ganzheitlichen Sinn? Man berührt ihn ja nicht an einer bestimmten Stelle oder an einem bestimmten Teil. Das »Tasten« ist hier parallel zum »Suchen« gesetzt. Wir tasten die Wirklichkeit ab wie ein Blinder und versuchen, das Ertastete zu deuten. Mit unsicheren Griffen berühren wir Unbekanntes und bekommen dabei überraschenderweise Gott selbst zu greifen. Während wir noch nach ihm tasten, sind wir doch schon längst von ihm umfasst: »Denn in ihm leben wir, bewegen wir uns und sind wir« (17,28).
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Berührung in der Bibel und in der Tradition
c)
Die Vätertheologie
Die Kirchenväter haben die diesbezügliche Neuheit der biblischen Offenbarung verstanden und aufgegriffen. Als Belege können zwei zufällig herausgegriffene Beispiele aus der griechischen und lateinischen Tradition genügen: Basilius erklärt die Menschwerdung als Punkt der Berührung zwischen Gott und Mensch. 34 Augustinus achtet bei seiner Deutung der Thomas-Szene (Johannes 20,27) genau auf die unterschiedlichen Arten der Wahrnehmung: den Leib des Auferstandenen berühren, die Gottheit des Sohnes sehen und glauben. 35 Dem Denken der Kirchenväter merkt man eine Affinität zur Phänomenologie an. Im Anschluss an das Paulus-Wort vom inneren Menschen (2. Korintherbrief 4,16) haben sie das Modell der inneren oder geistlichen Sinne entwickelt. Es wirkt durch die Jahrhunderte fort in der mystischen Theologie und der Spiritualität. Am bekanntesten geworden ist wohl eine Stelle in den Bekenntnissen des hl. Augustinus (X,8, Übersetzung Perl): »Was liebe ich, wenn ich dich (Gott) liebe? Es ist nicht Schönheit des Körpers und zeitliche Anmut, nicht Schimmer des Lichtes, des Freundes unserer Augen, es sind nicht wonnige Melodien vielgestaltiger Gesänge, nicht Wohlgeruch von Blumen, Salben, Spezereien, nicht Manna und Honig, und es sind nicht Glieder, die das Fleisch mit Lust umfängt: das ist es nicht, wenn ich meinen Gott liebe. Und dennoch liebe ich ein Licht, eine Stimme, einen Duft, eine Speise, ein Umfangen, wenn ich meinen Gott liebe, der für meinen inneren Menschen Licht, Stimme, Duft, Speise und Umfangen ist. Was dort in meiner Seele erstrahlt, das fasst kein Raum, was dort erklingt, vergeht nicht mit der Zeit, es duftet, und kein Hauch verweht es, es mundet, und die Sattheit stillt sich nicht daran; es haftet, und kein Überdruss trennt mich davon.« 71 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
I Berührung und Spiritualität
Zuerst fassbar ist die Hypothese der inneren oder geistlichen Sinne bei Origenes. Er verteidigt die Glaubenslehre gegen weltanschauliche Gegner; und der erste ernst zu nehmende Kritiker des jungen Christentums war der heidnische Philosoph Kelsos: Er warf ihm innere Widersprüchlichkeit und denkerische Inkonsistenz vor: Wie kann denn der Mensch Jesus von Nazareth in seiner historischen Begrenztheit Sohn Gottes und Offenbarer Gottes sein? Origenes setzt sich engagiert mit diesem Vorwurf auseinander. Als doppelte Entgegnung entwickelt er auf der Objektseite eine »polymorphe Christologie« und ihr entsprechend auf der Subjektseite die theologische Erkenntnislehre von den inneren Sinnen: Christus passt sich in seinen unterschiedlichen Gestalten (ewiger Logos, Kind in der Krippe, Rabbi in Palästina, auf Tabor Verklärter, am Kreuz Hingerichteter, vom Tode Auferstandener, im Himmel Verherrlichter, Bräutigam der Kirche) dem begrenzten menschlichen Erkenntnisvermögen an und zeigt sich uns jeweils in der Gestalt, in der wir etwas von ihm erfassen können, und zwar umso mehr mit den inneren als mit den äußeren Sinnen, je weiter wir auf dem Weg des Glaubens fortgeschritten sind: »(Feste Speise ist Christus) ›für Erwachsene, deren Sinne geübt sind, Gut und Böse zu unterscheiden‹ (Hebr 5,14). Darum wird Christus für jeden einzelnen der inneren Sinne wahrnehmbar. Er wird ›wahres Licht‹ genannt und ist wirklich Licht, damit die Augen der Seele erleuchtet würden. Er heißt ›Wort‹, damit die (inneren) Ohren etwas zum Hören hätten. Er heißt ›Brot des Lebens‹, damit der Geschmackssinn der Seele etwas zum Kosten hätte. Entsprechend heißt er Duft oder Salböl, damit der Geruchssinn der Seele den Wohlgeruch des Wortes wahrnehmen könnte. Darum wird er berührbar genannt und es heißt vom Wort, dass es ›mit Händen angefasst‹ werden kann und dass es ›Fleisch geworden‹ ist, damit die innere Hand der Seele das Wort des Lebens berühren könnte. Aber all 72 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Berührung und Sakramententheologie
dies ist ein und dasselbe Wort Gottes, das sich im Blick auf die verschiedenen Affekte des betenden Menschen verwandelt, damit keiner der Sinne der Seele ohne die Erfahrung seiner Gnade bliebe.« 36 Um etwas von Gott wahrzunehmen, muss also im Innern des Menschen etwas Gottförmiges sein, ein Sensorium für die Wahrnehmung des Göttlichen. Der innere Tastsinn steht dabei wie in den angeführten Stellen von Origenes und Augustinus regelmäßig am Ende der Aufzählung. Das darf man als Steigerung verstehen: Dem Berühren Gottes wird von den Meistern des geistlichen Lebens im Vergleich zu den anderen »inneren Sinnen« die größte Erkenntniskraft zugeschrieben.
4)
Berührung und Sakramententheologie
Das Erbe der biblischen Offenbarung wird nicht nur von der Theologie reflektiert, sondern es wird auch von der Kirche zuverlässig bewahrt und in ihrer Liturgie aktualisiert. Die Würde des Leibes erhält in den sakramentalen Feiern einen gebührenden Platz. In ihnen wird der Leib des Menschen auf vielfältige Weise berührt. Wen die Kirche mit der Feier und der Spendung der Sakramente beauftragt, dem erweist sie großes Vertrauen, gerade auch weil darin die Komponente der leibhaftigen Berührung so zentral ist. Wenn ich Sakramente feiere und spende, komme ich in Berührung mit anderen Menschen, auch in Körperkontakt. Wenn ich als Priester der Eucharistiefeier vorstehe, bin ich vom Altarkuss bei der Eröffnung bis zu dem bei der Aussendung am Schluss in leibhaftigem Kontakt: eben mit dem Altar, aber auch mit dem ganzen gottesdienstlichen Raum und seinen verschiedenen Orten wie Zelebrantensitz, Verkündigungsort oder Tabernakel, mit dem Boden eines geweihten Raumes, mit den liturgischen Büchern und Gefäßen, mit den 73 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
I Berührung und Spiritualität
eucharistischen Gaben, mit den Mitfeiernden, die sich ein Zeichen des Friedens geben oder denen ich den Leib des Herrn reiche. Über den Gottesdienst als Wortgeschehen hinaus ist das Bewusstsein von der Bedeutung solcher leibhaftiger Berührungen in der Reflexion der »ars celebrandi« gewachsen. In Zusammenhängen der Aus- und Fortbildung ist es eine anspruchsvolle, aber unerlässliche Aufgabe, Priestern und Gottesdienstleitern die spirituelle Kompetenz dafür zu vermitteln, die mehr ist als abfragbares und nachprüfbares Wissen. Wenn ich in solch leibhaftigem Kontakt eine sakramentale Feier beginne, vergegenwärtige ich mir: Ausgangspunkt ist die Inkarnation, in der Gottes Sohn menschlichen Leib angenommen hat und durch die er leibhaftig unter uns Menschen lebt. Die inkarnatorische Logik setzt sich in den Riten der Kirche fort. Zeichenhaft und sinnenfällig wird darin zum Ausdruck gebracht, wie die ganze Existenz eines Menschen durch die Gottesbeziehung verwandelt wird. Der Kontakt mit den Elementen der Schöpfung wird zur Vermittlung des Berührtseins durch das Wirken Gottes. Wenn ich heute diese Sicht auf die Sakramente und meine Rolle bei ihrer Feier betone, frage ich zurück nach dem, was ich in der traditionellen Sakramententheologie gelernt habe. Die Scholastik hatte versucht, die Komplexität des sakramentalen Geschehens nach dem aristotelischen Kategorienschema mit dem Gegensatzpaar Materie / Form einzufangen. Was dem Sakrament die »Form« gibt, sind die Worte, die beim gültigen Zustandekommen gesprochen werden und die Wirkung bezeichnen. Seine »Materie« ist im weiteren Sinn meist ein stoffliches Element der Schöpfung wie Wasser, Öl, Brot oder Wein, im engeren Sinn eine damit vollzogene Handlung, z. B. Taufen, Salben oder Mahl-Halten. Das Moment der Berührung lässt sich der »Materie« des Sakraments zurechnen. Allerdings zeigt das im Zusammenhang einer Spiritualität der Wahrnehmung über die Berührung Gesagte auch die Grenzen des scholastischen Schemas 74 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Berührung und Sakramententheologie
auf. Berührung ist nicht ein Teilaspekt, sondern umfasst das Ganze des sakramentalen Geschehens. Bei der Taufe wird der Täufling im Wasser untergetaucht oder es wird wenigstens sein Kopf mit Wasser übergossen, der Neugetaufte bekommt den Scheitel gesalbt, ein neues Gewand angezogen, eine brennende Kerze in die Hand gegeben, Ohren und Mund werden stellvertretend für alle Sinnesorgane segnend berührt. Die vorhergehende Katechumenensalbung wurde gegebenenfalls an der Brust und an der Schulter vorgenommen. Der Firmkandidat bekommt die Hände aufgelegt und die Stirn gesalbt. Bei der Eucharistie werden Brot und Wein bereitet und die eucharistischen Gaben den Gläubigen als Speise und Trank gereicht. Hand- oder Mundkommunion sollen die Berührung mit der eucharistischen Speise und ihren Genuss möglichst ehrfürchtig und bewusst gestalten. Im Sakrament der Versöhnung (Sakrament der Beichte) kann dem Pönitenten beim Zuspruch der Vergebung ebenfalls die Hand aufgelegt werden. Bei Diakonen-, Priester- und Bischofsweihe werden dem Kandidaten die Hände aufgelegt. Evangelienbuch, Patene und Kelch werden ihm in die Hand gegeben. Bei der Trauung stecken sich die Verlobten gegenseitig einen Ring an den Finger und ihre ineinander gelegten Hände werden mit der Stola umwickelt. Bei der Krankensalbung werden den Kranken die Stirn und die Hände gesalbt und es wird ihnen die Hand aufgelegt. Bei allen Sakramentenfeiern spielen also Berührungen in unterschiedlicher Dichte eine Rolle. Auch bei Sakramentalien wie dem Aschenkreuz oder dem Blasiussegen kommt die Dimension der Berührung positiv oder negativ ins Spiel. Die Kirche sucht in ihren Heilshandlungen den direkten Körperkontakt zu den Gläubigen. Die Zuwendung des Heils geschieht nie durch ein rein verbales Geschehen der Information oder der Belehrung. Der sakramentale Sprechakt ist performativ, weil er die leibhaftige Wirklichkeit des Empfängers berührt.
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I Berührung und Spiritualität
Neben dem Kontakt zum Leib des Menschen durch solche Handlungen mit geschöpflichen Elementen gibt es das Moment der Berührung in seiner reinen Form ohne ein solches Element, nämlich als Handauflegung. In allen sakramentalen Feiern spielen die Hände eine zentrale Rolle. Keine kommt ohne ein Auflegen oder Ausstrecken der Hand oder der Hände aus, weil so das Wirken des Geistes bezeichnet wird, der allen Heilszeichen der Kirche ihre Kraft verleiht. Einer Sache oder einer Person die Hände aufzulegen kann viele Bedeutungen haben: Schutz gewähren, Besitz ergreifen, Geborgenheit schenken, Zärtlichkeit ausdrücken, Kraft vermitteln, Zuwendung bezeugen, Anspruch erheben, Vollmacht verleihen, Heil, Trost und Leben zuwenden. Infolge des aufrechten Gangs konnten die Hände des Menschen ihre unvorstellbar nuancierte Komplexität entwickeln und seine ersten Kommunikationsorgane werden. Man erkennt diesen Primat noch an der engen etymologischen Zusammengehörigkeit von Wörtern wie Sagen und Finger, dicere und digitus, mit dem großen zugehörigen Wortfeld (Indikation, Index, Indiz, Judiz, Predigt …): »Sagen« ist ein »(mit dem Finger) Zeigen« und die Berührung mit dem hinweisenden Finger sagt bedeutungsvoll etwas aus. Es ist ein entscheidender Sprung in seiner Entwicklung, wenn das Kleinkind etwa ab dem achten Lebensmonat begreift, dass der ausgestreckte Finger z. B. der Mutter »etwas zeigen will, dass dieser Finger also nicht einfach ein Finger ist, sondern etwas be-deutet. … Diese Fähigkeit der ›gemeinsamen Aufmerksamkeit‹ (joint attention) ist der eigentliche Beginn der Interpersonalität.« 37 Das Form-Materie-Schema betont den Unterschied zwischen Wort und Handlung und ordnet die Deutung des Geschehens allein dem Sprechakt zu. Ohne den besonderen Mehrwert an Humanität antasten zu wollen, der den Komplex menschliche Sprache, Stimme und Wort zweifellos ausmacht, erscheint es doch nicht ratsam, ihn zu stark gegen den Komplex Handlung und Berührung abzugrenzen. Jenseits aller 76 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Berührung und Sakramententheologie
begrifflichen Schemata ist das sakramentale Geschehen eine Einheit aus Wort und Zeichen, um Menschen mit Gott in Berührung zu bringen. Aber gelingt das heute wirklich noch? Besteht die Tragik unserer Zeit nicht gerade darin, dass die Menschen eben nicht von der Wirklichkeit Gottes berührt werden? Sie werden zwar immer souveräner in der wissenschaftlichen und technischen Beherrschung der Welt, gleichzeitig aber auch immer ahnungsund sprachloser gegenüber der Welt des Glaubens. Typische Äußerungen sind: »Ich bin religiös unmusikalisch. Mir fehlt dafür die Antenne, das Sensorium, die Konnektivität.« Von hier ist es nur ein kurzer Weg bis zur modischen Deklaration: »Eigentlich bin ich Atheist«, (auch wenn ich mich gerade anschicke, ein Sakrament zu empfangen) 38. Mit Worten und Argumenten richtet man hier wenig aus. Eine Änderung so einer festgefahrenen Situation könnte nur ein echter Kontakt mit der Wirklichkeit Gottes bewirken. Spiritualität der Wahrnehmung bietet sich als ein Weg an, das Bewusstsein und die Sinne dafür zu schärfen. In der menschlichen, irdischen, sichtbaren Berührung, z. B. bei sakramentalen Feiern, kommt der Mensch in Kontakt mit dem unsichtbaren und unfassbaren Gott, der ihm durch den Dienst der Kirche das Heil handgreiflich zuwenden will. »Die Kirche wächst und blüht nur dort, wo der Geist Christi Menschen in ihrer Seele berührt«, mit dieser These beschließt ein Religionssoziologe seine Überlegungen 39 zum Niedergang des kirchlichen Lebens und zu Möglichkeiten eines Neuanfangs. Durch die Übung einer Spiritualität der Wahrnehmung werden Menschen für solche Berührungen durch den Geist Gottes sensibilisiert. Die Kirche gründet sich neu nicht durch Veränderung ihrer Strukturen, sondern auf dem Weg über die Sehnsucht und die Empfänglichkeit des Menschenherzens. Spirituelle Neugeburt ist der einzig denkbare Weg einer Neubegründung von Kirche und Religion.
77 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
I Berührung und Spiritualität
5)
Berührung und Tabu
Bei allem Nachdenken über Berührung bleibt der Bereich des Unberührbaren; und das ist gut so. In dem Maß, wie alte Tabus überwunden werden, entstehen neue Tabus. Galten früher Pestkranke und Aussätzige als unberührbar, sind es heute HIV-Infizierte oder Langzeitarbeitslose. Darf man sich eine Gesellschaft ohne Tabus wünschen? In gewisser Weise beruht unser Gemeinwesen auf einem Tabu. Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland beginnt mit dem Bekenntnis zur »Unantastbarkeit« der Menschenwürde (Artikel 1,1). Auf ihr beruhen die Menschenrechte, die »unverletzlich« und »unveräußerlich« genannt werden (Artikel 1,2). Es handelt sich um eine normative, nicht um eine deskriptive Aussage; denn es ließen sich leicht Beispiele anführen, wo anscheinend die Würde von Menschen mit Füßen getreten wird. Gemeint sein kann nur ein innerer Kern an Würde, der unangetastet bleibt, auch bei den vielen äußeren Versuchen, sich an der Würde von Menschen zu vergreifen. Genauso deutlich ist, dass die Rechte von Menschen laufend verletzt werden, obwohl sie doch, normativ gesprochen, »unverletzlich« sind, und dass sie laufend in der Abwägung gegen kommerzielle Interessen den Kürzeren ziehen, obwohl sie doch »unveräußerlich« sind. Die Väter und Mütter des Grundgesetzes verarbeiteten in diesen Formulierungen ihre Erfahrungen mit den Unmenschlichkeiten des nationalsozialistischen Unrechtsregimes und wollten dem entstehenden neuen Staat eine Basis geben, auf der so etwas nie wieder möglich würde. Verbrechen gegen die Menschenwürde sind bei uns tabu. Selbst ein mutmaßlicher Kindesentführer darf nicht gefoltert werden, um ihm die Wahrheit zu entlocken; und selbst ein mutmaßlicher Terroristenführer darf nicht zum Abschuss freigegeben werden. Bei aller Unvollkommenheit der irdischen Dinge darf in dieser Hinsicht die Geschichte des Rechtsstaats Bundesrepublik Deutschland in sei78 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Berührung und Tabu
nen ersten sechseinhalb Jahrzehnten als Erfolgsgeschichte angesehen werden. Die Unantastbarkeit der Menschenwürde schaut aber nicht nur zurück in die Geschichte mit ihren Gräueln. Für unsere aktuelle Fragestellung ist interessant: In einer Gesellschaft fast ohne Tabus soll es etwas Unantastbares geben. Inmitten einer Welt dauernder Tabubrüche und nach einer anscheinend endlosen Geschichte von Enttabuisierungen soll ein letztes Tabu bestehen bleiben: die Unantastbarkeit der Würde des Menschen. Eine Begründung für die Unantastbarkeit der Menschenwürde liefert das Grundgesetz nicht und kann eine staatliche Rechtsordnung auch nicht liefern. Seine Formulierung bleibt aber offen für die biblisch-christliche Deutung, wonach die unantastbare Würde des Menschen darin besteht, dass Gott ihn nach seinem Bild und Gleichnis geschaffen hat (vgl. Genesis 1,26). Das Thema Berührung lässt sich auch negativ durchspielen. Der Mensch hat die Tendenz, nach allem seine Hand auszustrecken und auf alles seine Hand zu legen. Aber es gibt Wirklichkeiten, bei denen das nicht sein darf. Was heißt das konkret für die gesetzlichen Regelungen zu Themen wie Suizid, Euthanasie, Abtreibung, Genmanipulation, Embryonenforschung? Gerade an den Grenzen des Lebens wird deutlich, dass Gott allein der Herr des Lebens ist und dass der Mensch sich nicht als Quasi-Gott aufspielen und am Leben vergreifen darf. Es gibt Situationen, in denen man Tabus einfordern muss. In der katholischen Kirche gibt es keine seelsorgliche Begleitung von Suizidanten. Das kann manchmal hart sein wie ein Tabu, weil die Kirche nicht nur empathisch, sondern auch normativ spricht und sprechen muss. Wenn in einer säkularen Weltanschauung von der Unantastbarkeit der Menschenwürde die Rede ist, entspricht das dem, was in einer gläubigen Weltsicht die Unbegreiflichkeit Gottes ist. Das Unantastbare muss unbedingt thematisiert werden, damit Berührung keine Bemächtigung wird. Darum hat sich 79 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
I Berührung und Spiritualität
Gadamers suggestive und für die Entwicklung der Hermeneutik so wirkungsvolle Metapher vom Verstehen als Horizontverschmelzung bei phänomenologischen Autoren nicht durchgesetzt. Denn wenn Horizonte verschmelzen, kann das auch als Bemächtigung und Einverleibung verstanden werden. Für Derrida verschmelzen die Horizonte von Wahrnehmendem und Wahrgenommenem eben nicht, sondern sie weiten sich. Die Fremdheit zwischen ihnen wird durch das Verstehen nicht abgebaut; und Fremde kommen einander nicht näher; sondern es eröffnen sich nur immer neue Verweisungszusammenhänge auf weiteres Fremdes. Für Lévinas ist die Wahrnehmung des Anderen eine Unterbrechung des Weltzusammenhangs. Sie gleicht dem Folgen einer Spur: Ich bekomme eine Richtung gezeigt und kann zugleich teilhaben an dem, der die Spur gelegt hat, ohne seiner je habhaft zu werden. Nur in der Spur ist das Abwesende anwesend; das ist die phänomenologische »Demut des Erscheinens«.
6)
Anfassen und loslassen
Vom Unangetastet-Lassen führt ein nächster Schritt zum Loslassen. Selbst wenn die Wahrnehmung durch Berührung einmal gelingt, kommt notwendig der Moment, die Berührung zu lösen. In der Übersetzung der Magdalena-Szene oszilliert das »Noli me tangere!« (Johannes 20,17) zwischen »Rühr mich nicht an!« und »Halte mich nicht fest!«. Dem Berühren gegenüber steht also das Loslassen; denn Berührung kann in die Versuchung geraten, etwas umklammern und vereinnahmen zu wollen, was sich nicht festhalten lässt (wie der Leib des Auferstandenen). Unsere Sprache besteht aus »Begriffen«; das gilt besonders von unseren substantivischen modernen Sprachen. Wir können nicht anders als in Begriffen sprechen, obwohl sich vieles nicht »begreifen« lässt. In einem begrenzten »mittleren Bereich« können wir ganz gut mit der Fiktion leben, dass 80 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Anfassen und loslassen
ein Substantiv seinen Gegenstand bezeichnet: der Stuhl, die Lampe, das Buch. Aber an den beiden Extremen gibt es einerseits die ganz individuellen Erfahrungen, die, wie v. a. Dichter, Mystiker und psychisch Kranke bezeugen, ihrem Wesen nach unaussprechlich sind (individuum est ineffabile). Und am anderen Ende der Skala gibt es »das Allgemeinste, nämlich das Sein als solches, das sich der Sprache verweigert« 40, das unergründliche Geheimnis des Seins, das unbegreifliche Mysterium Gottes. Aber auch schon die Wörter unserer Alltagssprache haben manchmal einen Anteil von Unbegreiflichkeit. Ein »Begriff« wird erst in dem Moment relevant, wo sich sein Gegenstand dem Sprechenden entzieht. Das Kind lernt als Erstes eine Bezeichnung für »Mutter«, weil sie das »Erste ist, was sich vom Kind trennt. Das Wort hält das Getrennte und Abwesende verfügbar […] um den Preis, dass sie [= die Sprache] das Lebendige selbst gleichsam abtötet und das Erlebte, Einmalige, Gegenwärtige im Begriff erstarren lässt.« 41 Jenseits des begrifflichen Sprechens, das notwendigerweise das Subjekt vom Objekt trennen muss, suchen spirituelle Menschen die leibhaftige Berührung mit dem Leben. Sie selbst stehen bewusst mitten im Strom des Lebens, dem auch die Gegenstände ihres Denkens und Sprechens angehören und in dem die SubjektObjekt-Trennung ihre Bedeutung verliert. Sie kommen und gehen; sie lassen sich einen Moment berühren und wollen dann auch wieder losgelassen werden. Jenseits des begrifflichen Sprechens braucht es den lebendigen Kontakt, damit das Ganze der Wirklichkeit nicht auf den kleinen Ausschnitt des begrifflich Sagbaren zusammengestutzt wird. Den geistlichen Tastsinn zu schärfen bewahrt uns vor der konzeptionellen Verarmung und Verkopfung, die heute unser Leben bedroht.
81 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
I Berührung und Spiritualität
7)
Glaube als Berührung Gottes
Soziologen beschreiben die christliche Religion als gesellschaftliche, Historiker als geschichtliche Größe. Aber Christentum will mehr sein als ein Kapitel in den Geschichtsbüchern und ein Konfessionseintrag beim Meldeamt; darum braucht es einen tieferen Zugang und eine engere Rückbindung an das existentielle Zentrum des Menschen. Er findet zum Glauben nicht durch intellektuelle Einsicht in die Wahrheit religiöser Lehren, sondern indem er mit der Wirklichkeit Gottes in Berührung kommt. Ihm geht die Evidenz auf: Gott meint mich. Er spricht mich an, er ruft mich, er schenkt mir Vertrauen und gibt mir einen Auftrag. Die Berührung Gottes packt den Menschen an seiner empfindlichsten Stelle, am Nerv seiner Existenz. Kluges Abwägen hilft nicht weiter; es geht um alles oder nichts. Wir brauchen vor Gott keine Berührungsängste zu haben, auch wenn die Berührung mit ihm manchmal schmerzhaft, brennend, reinigend ist. Im Berührtsein durch Gott steckt für den Menschen ein ungeheures Potential. Ungeahnte Möglichkeiten werden in ihm geweckt. Unerwartete Horizonte werden aufgerissen. Aber es birgt auch ein Risiko. Diese Berührung braucht Diskretion und Schutz. Es müssen Räume geschaffen werden, in denen sie mit möglichst wenigen Interferenzen stattfinden kann, Räume der Stille und der Zurückgezogenheit. Das neue Leben, das in diesem Berührtsein geweckt wird, braucht günstige Rahmenbedingungen für sein Wachstum. Menschen brauchen geistliche Begleiter, die ihnen die Erfahrung des Berührtseins von Gott erschließen und sie für ihren inneren Weg fruchtbar machen. Seelsorger tun gut daran, immer mit der Berührung durch Gott zu rechnen, sie aber nicht für ihre pastoralen Ziele einzuplanen und zu verzwecken. Ein bewusstes »Berühren-Wollen« würde nur peinliche Rührung hervorrufen. Es genügt deshalb nicht, in unseren kirchlichen Werbeflyern, Homepages und Plakaten, auf das »Berührt-sein« 82 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Glaube als Berührung Gottes
von Gott hinzuweisen, wenn wir weiterhin in unserem innerkirchlichen Jargon, der vielleicht im Verwaltungsapparat verständlich wird, jene Berührung »instrumentalisieren« und »beispielhafte Konkretionen«, Taten und Fakten in den Vordergrund schieben. Die Sprache der Berührung ist eine empfindliche Sprache. Sie verlangt Takt und Feingefühl. Sie ist nicht die Sprache der greifbaren Ergebnisse und Entwicklungspläne. Wir können andere deshalb nur besser sensibilisieren für die sanfte Berührung Gottes, und nicht das, was im Verborgenen geschah, mit Scheinwerfern beleuchten. Die Heiligen haben diese unabsichtliche Transparenz auf Gott hin gelebt. Gute geistliche Begleiter beherrschen die Kunst, Menschen bis an die Schwelle der Berührung durch Gott zu führen und sie dann wieder selbstständig Strecken ihres eigenen inneren Weges mit Gott gehen zu lassen. Man kann sie nicht mit Argumenten herbeireden und mit Methoden herbeiführen; aber man kann einen Übungsweg mit solchen spirituellen Elementen aufzeigen und mitgehen, durch die Hindernisse gegenüber dem Berührtwerden vom Geheimnis Gottes leichter ausgeräumt werden. Exemplarisch soll dieser Zusammenhang abschließend an Äußerungen der beiden letzten Päpste aufgezeigt werden. Interessanterweise finden sich Ausdrücke aus dem Wortfeld »berühren« häufig in den Schriften und Ansprachen von Joseph Ratzinger / Benedikt XVI. 42 Seine besondere Begabung ist es, die Wahrheiten des Glaubens aus den abgehobenen Abstraktionen der theologischen Tradition abzulösen und in eingängiger und geschliffener Sprache den Menschen nahezubringen, sie sozusagen hautnah damit zu konfrontieren. Gleichzeitig verleiht er der Sehnsucht einer Zeit sprachlichen Ausdruck, die sich so sehr wünscht, mit dem Göttlichen in Berührung zu kommen. Papst Franziskus berührt das Herz vieler Menschen. Er sucht den direkten Kontakt mit ihnen. Oft nimmt er am Rande 83 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
I Berührung und Spiritualität
von Gottesdiensten und Audienzen Arme, Kranke, Behinderte, Obdachlose, Kinder in den Arm. Er beruft sich dafür gerne auf Mutter Teresa. Sie machte die mystische Erfahrung, in den geschundenen Leibern der Sterbenden an den Straßenrändern von Kalkutta den geschundenen Leib Christi selbst zu berühren. Man könnte versuchsweise von »diakonischer Leidensmystik« sprechen; denn das Motiv stammt aus der Passionsund Osterfrömmigkeit. Franziskus, der argentinische Jesuit Jorge Mario Bergoglio, spielt sehr häufig und mit existentiellem Pathos an auf die Bitte »Birg in deinen Wunden mich!« aus dem Gebet Anima Christi, das in den ignatianischen Exerzitien eine zentrale Rolle hat. Das Thema der Wunden Jesu ist ein roter Faden in der Verkündigung von Papst Franziskus. 43 Im Hintergrund dieser Bitte steht die Szene aus der Ostererzählung des Johannes-Evangeliums, in der Jesus den »ungläubigen« Thomas auffordert: »Streck deine Hand aus und leg sie in meine Seite!« (Johannes 20,27), wobei dem neutestamentlichen Wortlaut nach offen bleibt, ob der Jünger dann wirklich die Wunde des Auferstandenen berührt: Auf die Aufforderung Jesu reagiert Thomas mit dem Bekenntnis: »Mein Herr und mein Gott!« (20,28). Noch ein zweiter Vers aus dem »Anima Christi« drängt sich in diesem Zusammenhang auf. In einem prophetischen Passus der Pastoralkonstitution des II. Vatikanischen Konzils heißt es, dass in allen Menschen guten Willens unsichtbar die Gnade wirkt und dass der Heilige Geist allen Menschen die Möglichkeit anbietet, dem österlichen Geheimnis Christi in einer Gott bekannten Weise verbunden zu sein (vgl. Gaudium et spes 22,5). Für das Verhältnis der verschiedenen Religionen untereinander und ihren Dialog ist dieser Konzilstext eine große Ermutigung: Jenseits unterschiedlicher theologischer Begrifflichkeiten gibt es für alle einen gemeinsamen inneren Kontakt zur geistlichen Wirklichkeit Gottes. Zweimal verwenden die Konzilsväter hier das Wort »consociatus, consocientur«; und diese »Verbindung« kann man sich am ehesten als 84 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Glaube als Berührung Gottes
innere Berührung vorstellen. Die ignatianische Vorstellung vom »socius-Christi-Sein«, aus dem sich die »societas Iesu« ergibt, schließt an die ursprüngliche kühne Bitte »pone me iuxta te – stelle mich dir zur Seite« aus dem Zentralgebet der Exerzitien (sie wurde in späterer Zeit abgemildert und ersetzt durch das vagere »iube me venire ad te – zu dir zu kommen heiße mich«) und an die Vision des Ignatius von La Storta »Ego vobis propitius ero – ich werde euch gnädig (wörtlich: nahe bei euch) sein« an. So legt sich wie von selbst die Verbindung zur Thomas-Perikope (»intra tua vulnera absconde me« – birg in deinen Wunden mich) und die Vorstellung der Berührung des verherrlichten Fleisches des Auferstandenen nahe. Dem Exerzitienmeister – demjenigen, der andere auf dem Übungsweg begleitet – legt Ignatius im Exerzitienbuch ans Herz, den Übenden nur bis an die Schwelle der Begegnung mit Gott zu begleiten und ihn alle wichtigen Schritte selbst tun zu lassen, auch wenn das viel Geduld und Vertrauen kostet. Er warnt ihn dringend vor der Versuchung, sich selbst mit fertigen Lösungsvorschlägen und geistlichen Konzepten zwischen den Übenden und Gott zu schieben, damit Gott diesen frei berühren kann oder nicht. Jorge Mario Bergoglio hat sich in seiner Zeit als Ordensverantwortlicher und Exerzitienmeister dezidiert in die mystische Tradition der Exerzitienarbeit (z. B. im Gegensatz zu einer asketischen) gestellt. Christentum, wurde gesagt, ist die Religion der Berührung. Ob Menschen sich von Gott berühren lassen oder nicht, ob sie einen Tastsinn für ihn entwickeln oder nicht – Gott selbst wird Mensch, nimmt direkten, leibhaftigen Kontakt mit der Menschenwelt auf und lässt sich von menschlichen Händen berühren. Die Fleischwerdung des ewigen Logos Gottes ist der entscheidende Wendepunkt der Geschichte. Bei der Eröffnungsfeier der Aachener Heiligtumsfahrt 1979 sagte Bischof Klaus Hemmerle, die Aachener Heiligtümer seien »nicht Requisiten einer verstaubten Frömmigkeit der kleinen Leute, 85 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
I Berührung und Spiritualität
sondern die schockierenden Fanale der Nähe des großen Gottes, der der Gott der kleinen Leute werden wollte«. Sie seien Zeugen dafür, dass Gott »Tuchfühlung« mit uns Menschen haben wollte. Gott kommt selbst und »will sich anfassen lassen, sich kompromittieren lassen, verkannt werden, leer werden, sich in kleine Fetzen Stoff kleiden lassen, damit wir Menschen ihn anrühren können. Wenn wir bereit sind, kleine Pilger zu werden, die den nahen Gott berühren wollten, dann wendet er sich uns zu.« 44 Wenn die hier vorgelegte Einführung in eine »Spiritualität der Wahrnehmung« mit dem Thema »Berührung« eröffnet wird, dann ist das Gesagte nicht im Sinn einer Beschränkung auf den Tastsinn zu verstehen. Er ist nur einer der verschiedenen Kanäle sinnlicher Erfahrung, auf denen wir Menschen die Wirklichkeit wahrnehmen, beschränken. Für die Phänomenologie ist Wahrnehmung immer eine Aktivität des ganzen Menschen. Alles, was wir wahrnehmen, nehmen wir als leibhaftige und handelnde Wesen wahr. Diese Akzentsetzung ist wichtig als Gegengewicht gegen die traditionell einseitige Dominanz des Sehsinns in der philosophischen Erkenntnistheorie: Angeblich, so ihr geläufiges Paradigma, wird Wirklichkeit wahrgenommen, indem im Bewusstsein des Menschen ein inneres Bild von ihr entsteht. Dieses Grundmodell zieht sich durch ganz verschiedene Denkströmungen – von Platon bis Descartes, von Kant bis zur modernen Neuropsychologie – durch. Die Gegensätze von Idealismus und Materialismus berühren sich in einer falschen Bildtheorie der Wahrnehmung. Im Ergebnis wird das Vertrauen in die Zuverlässigkeit menschlicher Wahrnehmung untergraben und suggeriert, die inneren Bilder seien reine Konstruktionen ohne nachvollziehbare Anbindung an die Realität, letztlich Fiktion und Illusion. Phänomenologen dagegen postulieren die Evidenz unserer Wahrnehmung, weil sie mit dem ganzen Leib geschieht, der sich in Raum und Zeit bewegt und 86 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Anmerkungen
in ihnen handelt. Die verschiedenen Vermögen der Wahrnehmung sind nur »Extension(en) der leiblichen Basis aller Welterfahrung. Unsere Begriffe bilden sich durch das ›Begreifen‹, durch den aktiven Umgang mit der Welt. … Wahrnehmen heißt immer schon, an der Welt teilzunehmen, sie zu berühren und von ihr berührt zu werden. Es beruht auf leiblicher Praxis.« 45 Der leibhaftige Organismus nimmt das wahr, was seinen Bedürfnissen entspricht. Etwas wird für ihn erst zu einem Sinnesreiz, wenn es für ihn bedeutungsvoll ist. »Am Beispiel des Tastsinns gezeigt: Spüren und Tasten, Empfindung und Bewegung sind kreisförmig zusammengeschlossen und modifizieren einander fortlaufend. Tastreize werden in einen Gestaltkreis einbezogen, der Umwelt und Organismus miteinander rückkoppelt.« 46 Deshalb will eine Spiritualität der Wahrnehmung die phänomenologische Wende zur Ganzheitlichkeit und Leibhaftigkeit der Wahrnehmung mitvollziehen: in leiblicher Praxis an der Wirklichkeit teilnehmen, indem man sie berührt und von ihr berührt wird.
Anmerkungen M. Henry, Inkarnation. Eine Philosophie des Fleisches, Freiburg / München 2011, S. 23. 2 Vgl. P. J. Pausch OSB, Zehn Jahre Kloster Gut Aich. Ein neues Kloster auf der Suche nach Antworten auf die Herausforderungen der Zeit in Spiritualität und moderner Lebenswelt, in: K. Baier / J. Sinkovist (Hg.), Spiritualität und moderne Lebenswelt, Berlin 2006, S. 299. 3 Vgl. W. Schapp, Beiträge zur Phänomenologie der Wahrnehmung, 2. Auflage, Wiesbaden 1976, S. 36. 4 T. Fuchs, Leib und Lebenswelt. Neue philosophisch-psychiatrische Essays, Kusterdingen 2008, S. 88. 5 Vgl. H.-J. Höhn, Spüren – die ästhetische Kraft der Sakramente, Würzburg 2002, S. 98. – Ebd.: »Die ›Körpersprache‹ des Tastsinns ist die früheste Form der Kommunikation und legt die Basis für die Verständigung auch über scheinbar ›abstrakte‹ Gehalte. Sie bildet die Brücke zwischen 1
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I Berührung und Spiritualität Fühlen und Denken.« Dort mit anschließendem Zitat von Montagu, A., Die Haut, in: D. Kamper / Ch. Wulf (Hg.), Das Schwinden der Sinne, S. 213 f.: »Durch die Erfahrungen des Tastsinnes lernt das Kleinkind allmählich, den Berührungen ihre entsprechende Bedeutung zu geben, die Bedeutung von Zärtlichkeit und Wärme, von sanften Berührungen und liebevollen Händen, vom tröstlichen Gefühl umschließender Arme und Liebkosungen zärtlicher Liebe. Diese Adjektive haben ihren Ursprung in taktilen Erfahrungen und wären völlig bedeutungslos ohne eine solche vorgängige kommunikative Erfahrung. Diese Worte erlangen ihre Bedeutung vor allem durch die vielen angenehmen und befriedigenden Erfahrungen der Menschen mit der Haut ihrer Mutter und ihrer eigenen.« 6 Angaben nach www.beruehren.com. 7 H.-J. Höhn, Spüren – die ästhetische Kraft der Sakramente, Würzburg 2002, S. 99. – Dort weiter: »Die Haut regelt den Grenzverkehr zwischen Innenwelt und Außenwelt. An der Haut zeigen sich Symptome von Erkrankungen, welche die Psyche befallen haben. An ihr trägt der Mensch Wundmale und Narben.« 8 Der niederländische Arzt Frans Veldman hat die »Haptonomie« in den vierziger Jahren als Form der Alternativmedizin entwickelt. Die wissenschaftliche Problematik des daraus entstandenen, in der Fachmedizin nicht unumstrittenen Ansatzes »therapeutic touch« soll hier nicht erörtert werden. Vgl. F. Veldman, Haptonomie, science de l’affectivité, Paris 1998. 9 Vgl. M. Henry, Inkarnation. Eine Philosophie des Fleisches, Freiburg / München 2011, S. 251, wo vom »Chiasmus« zwischen Berührendem und Berührtem die Rede ist. Vgl. ebd. S. 253: »Die Möglichkeit ›berührt-zuwerden‹, reproduziert die Möglichkeit des ›Berührenden‹ so, dass es mit ihr identisch ist.« 10 H.-J. Höhn, Spüren – die ästhetische Kraft der Sakramente, Würzburg 2002, S. 99. 11 M. Henry, Inkarnation. Eine Philosophie des Fleisches, Freiburg / München 2011, S. 247, 270. 12 Ebd., S. 251. 13 Ebd., S. 255. 14 E. Lévinas, Wenn Gott ins Denken einfällt. Diskurse über die Betroffenheit von Transzendenz, Freiburg 1985, S. 76: »Mehr Licht in den Augen, als ihr Fassungsvermögen aufnehmen kann, mehr Berührung, als die Haut berühren kann: das durch ein Anderes wach gehaltene Selbe. Eine Beziehung zwischen dem Selben und dem Anderen, die für die Philosophie des Selben lediglich provisorischer Natur sein kann. Aber ist das nicht die Beschreibung der Transzendenz?« 15 Vgl. S. Weil, Schwerkraft und Gnade, München 1952, S. 147: »Diesel-
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Anmerkungen ben Worte können gewöhnlich oder außerordentlich sein, je nach der Art, wie sie ausgesprochen werden. Und diese Art des Aussprechens hängt ab von der Tiefe der Wesensschicht, aus der sie stammen, ohne dass der Wille hier irgendetwas vermöchte. Und, infolge einer wunderbaren Übereinstimmung, berühren sie bei dem Hörer die gleiche Schicht. So kann der Hörer, wenn er die Gabe der Unterscheidung besitzt, erkennen, was diese Worte wert sind.« 16 Auf das schriftliche Material wollte ich im Rahmen dieser Studie ungern verzichten, wenn ich mir auch dessen bewusst bin, dass es nicht unproblematisch ist, auf einen Film hinzuweisen, in dem Schwestern meiner Gemeinschaft und ich selbst zum »Filmobjekt« wurden. (CV) 17 H. Schmitz, Der Leib, der Raum und die Gefühle, Bielefeld & Basel 2009, S. 85. 18 Ebd., S. 84. 19 Ebd., S. 86–87. 20 Wörtlich schon 1966: »Der Fromme von morgen wird ein ›Mystiker‹ sein, einer, der etwas ›erfahren‹ hat, oder er wird nicht mehr sein.« 21 Vgl. T. Fuchs, Leib und Lebenswelt. Neue philosophisch-psychiatrische Essays, Kusterdingen 2008, S. 51. 22 Vgl. A. Perkmann, Art. »berühren« in: Handwörterbuch zur deutschen Volkskunde, Berlin und Leipzig 1927, Abteilung I Aberglaube, 1104–1108. 23 V. a. RAC III, 404–421. 24 Nach M. Delcor, Artikel תכןberühren, in: E. Jenni (Hg.), Theologisches Wörterbuch zum Alten Testament, München 1976, Bd. II, c. 37–39. 25 J.-L. Nancy, Noli me tangere, Zürich 2008, S. 14. 26 Vgl. T. Söding, Berührung als Heilung. Die handfeste Gnade in den Wundern Jesu, in: Bibel und Kirche, I. Quartal 2012, S. 36–40. 27 Vgl. ebd., S. 38. 28 Dieser Gedankengang nach T. Söding, Berührung als Heilung. Die handfeste Gnade in den Wundern Jesu, in: Bibel und Kirche, I. Quartal 2012, S. 40. 29 Von Kardinal Carlo M. Martini gibt es eine Predigtsammlung mit dem Titel »Il lembo del mantello« (Der Saum des Mantels), Mailand 1991. 30 Maßgebliche Erschließung von Text und Bild in H. Nouwen, Nimm sein Bild in dein Herz, Freiburg 1991. 31 J.-L. Nancy, Noli me tangere. Essai sur la levée du corps, Paris 2003, Deutsch Zürich 2008, S. 53 (engl. Version): »›Halte mich nicht fest‹ läuft auch darauf hinaus, zu sagen: ›Berühre mich mit einer wahren, zurückhaltenden, nicht Besitz ergreifenden und nicht identifizierenden Berührung.‹ […] Wenn ich die Berührung auf Distanz halte oder aufspreize – ist dies nicht, was jede Liebkosung tut? Ist das nicht der Rhythmus des
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I Berührung und Spiritualität Kusses oder des Liebesaktes, dass man sich entfernt und sich zurückzieht? Der Satz kann entweder im Ton einer Angriffsdrohung erklingen: Berühre mich nicht, versuche mich nicht zu berühren, oder ich schlage dich – und werde dich nicht schonen! Berühre mich nicht, du kannst die Gewalt nicht ermessen, derer ich fähig sein werde. Dies ist eine letzte Warnung, eine letzte Mahnung, ist wie die letzte Grenze. Es kann sein, dass, wer dies Wort vorbringt, Gewalt will. Oder aber der Satz klingt weniger wie ein Befehl denn wie eine inständige Bitte, die im Übermaß des Schmerzes oder des Genusses vorgebracht werden kann. Berühre mich nicht, denn ich kann das Leid meiner Wunde nicht mehr ertragen – oder diese Lust, die sich bis zum Unerträglichen steigert. Ich kann nicht mehr – aus Leiden oder aus Lust.« 32 Vgl. J.-L. Nancy, Noli me tangere, S. 15. 33 32. Holzschnitt in der Kleinen Passion, Bartsch-Katalog Nr. 47, nach Nancy, Noli me tangere, S. 25. 34 Basilius der Große, Predigt 18,2: »Gott im Fleische, nicht aus weiten Entfernungen wirksam wie in den Propheten, sondern vereint mit einer der Menschheit wesensgleichen Natur. Wie war die Gottheit im Fleisch? Wie das Feuer im Eisen, nicht durch Übergang, sondern durch Mitteilung. Nicht entweicht ja das Feuer in das Eisen, sondern teilt ihm, am Orte verbleibend, nur von seiner Kraft mit. Auch nimmt es nicht ab durch die Mitteilung, erfüllt vielmehr ganz, was mit ihm in Berührung kommt.« 35 Augustinus, In Joh 121,4 f.: Thomas »sah und berührte den Menschen, und er bekannte Gott, den er nicht sah und nicht berührte. Weil er das Eine sah und berührte, wurde sein Zweifel behoben und er glaubte auch das Andere. ›Jesus sagte zu ihm: Weil du mich gesehen hast, hast du geglaubt.‹ Er sagte nicht: Du hast mich berührt, sondern: ›Du hast mich gesehen.‹ Das Sehen ist als ein Wahrnehmen im allgemeinen Sinn zu verstehen. ›Weil du mich gesehen hast‹, sagt er, ›hast du geglaubt.‹ Wenn man das hört, könnte man meinen, Thomas hätte es nicht gewagt, ihn zu berühren, als Christus sich ihm anbot. Tatsächlich steht ja auch nicht da: Und Thomas berührte ihn.« 36 Origenes, Hoheliedkommentar II,9,12–14 (Übersetzung nach der Ausgabe von H. Crouzel 1991/92 in Sources Chrétiennes 376, S. 443, dort lat. u. frz.). 37 T. Fuchs, Leib und Lebenswelt. Neue philosophisch-psychiatrische Essays, Kusterdingen 2008, S. 202. – Ganz Ähnliches wie zum lateinischen Wortfeld dicere / digitus ließe sich im Deutschen für das Wortfeld »deuten, bedeuten, deutlich, deutsch …« sagen. 38 Als Firmspender begegnet man jungen Menschen, die so auf die Frage »Glaubst du?« reagieren. Im wörtlichen Sinn erfüllen sie nicht die Vo-
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Anmerkungen raussetzung für den Empfang des Sakraments; in pastoraler Hinsicht ist so eine Reaktion oft schon eher so etwas wie ein Glücksfall, weil eine Nachdenklichkeit und Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit der Frage nach Gott im eigenen Leben erkennbar wird. 39 H. de Roest, Professor für evangelische Theologie an der Universität Groningen (NL), Schlusssentenz des Vortrags »Das Phänomen der raschen Entkirchlichung in den Niederlanden – Gesellschaftliche Konsequenzen und seelsorgerliche Herausforderungen«, Manuskript deutsch, am 16. 5. 2014 in Eupen. 40 T. Fuchs, Leib und Lebenswelt. Neue philosophisch-psychiatrische Essays, Kusterdingen 2008, S. 140. 41 Ebd., S. 141. 42 Z. B. in Benedikt XVI., Jesus von Nazareth, Band II, S. 117: »Glauben ist nichts bloß Intellektuelles; es ist das Berührtwerden von der Liebe Gottes und darum verwandelnd, Gabe des wirklichen Lebens.« Ähnlich S. 77. Oder in Spe salvi 27: »Wer von der Liebe berührt wird, fängt an zu ahnen, was dies eigentlich wäre: ›Leben‹.« Ebd. 8 über Franz von Assisi als »von Christus berührten Menschen«, aus dessen Hoffnung andere Menschen Hoffnung schöpfen können, weil er nicht nur eine Botschaft verkündet, sondern das neue Leben in ihm berührbare Substanz geworden ist. 43 Im überwältigend großen Rahmen der Feier der Heiligsprechung von Johannes XXIII. und Johannes Paul II. am 27. 4. 2014 begann Papst Franziskus seine kurze Ansprache in Anspielung auf das Tagesevangelium des 2. Ostersonntags mit der klaren Akzentsetzung: »Im Mittelpunkt stehen heute die verherrlichten Wunden des auferstandenen Christus.« 44 Informationsdienst Bistum Aachen vom 10. 8. 1979, S. 1 f. – Weiter sagte der Bischof ebd.: »Tuchfühlung mit Gott geht nicht ohne Tuchfühlung zueinander und gerade zu dem, der anders, unbequem oder hilflos ist. Nur in solcher Tuchfühlung mit Gott und miteinander wächst jene Gemeinschaft, in der Nöte, aber auch das Brot und die Gabe des Geistes geteilt werden und in der allein die Zukunft der Menschheit liegt.« 45 T. Fuchs, Das Gehirn – ein Beziehungsorgan, Stuttgart, 4. Aufl. 2013, S. 32. – Ebda. S. 40: »Wahrnehmung (ist) nicht die passive Aufnahme von Bildern in ein außerweltliches Bewusstsein. Alles Wahrnehmen ist vielmehr verkörpert.« S. 47 f.: »Wahrnehmung (ist) nicht als interne Abbildung zu begreifen, sondern als Beziehung eines verkörperten Subjekts zu seiner Umwelt. Im Wahrnehmen sehen wir keine Bilder aus einer anderen Welt, sondern ko-existieren als Leib- und Sinneswesen mit den Dingen und Menschen in einem gemeinsamen Raum.« 46 T. Fuchs, ebd., S. 115 unter Verweis auf Viktor von Weizsäcker, Der Gestaltkreis, Stuttgart 1986.
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II Wahrnehmung und Spiritualität
»Wer leugnet, dass die Gegenwart der Dauer entbehrt, da sie in einem Augenblicke vorübergeht? Allein es dauert doch die Wahrnehmung.« Augustinus, Bekenntnisse 11,28
1)
»Gefühlte Bedeutung« und Wahrnehmung – eine phänomenologische Untersuchung
Ein Begriff erwirbt seine semantische Fülle nicht allein aufgrund der Beziehung, die er in einer konkreten Sprache mit einem Objekt unterhält, sondern auch durch seine Geschichte innerhalb einer Kultur. So hat z. B. das Wort »Holocaust« im Deutschen eine bestimmte »gefühlte Bedeutung« angenommen. In jeder Sprache werden bestimmte Begriffe von emotionalen Komponenten begleitet. Worte rufen Stimmungen hervor und lösen im Augenblick, in dem sie gedacht oder gesprochen werden, Emotionen aus, die einen allgemein gültigen Anspruch haben, etwa im Deutschen Worte wie »Geborgenheit« oder »Gemütlichkeit«, die in anderen Sprachen schwer wiederzugeben sind, weil die semantischen Felder sich nicht zur Deckung bringen lassen. Wenn die Unterhaltung in einer Sprache erfolgt, die beide Gesprächspartner beherrschen, gehe ich davon aus, dass der Andere die von mir benutzten Worte versteht. Wer von einem »Haus« spricht, kann damit rechnen, dass der Andere sich darunter keinen »Tisch« vorstellt. Was 92 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
»Gefühlte Bedeutung« und Wahrnehmung
ihm aber entgeht, sind alle Assoziationen, die der Andere vor allem auf der Gefühlsebene mit dem Begriff »Haus« verbindet. Wenn ich einen Gedanken ausspreche, dann ist mit jedem Wort immer eine gewisse Erfahrung verbunden. Sich verständigen heißt nicht nur, Informationen über Sachverhalte weitergeben. Dafür würden ein logisch gegliederter Satzbau und ein grammatikalisch korrekter Umgang mit der Sprache genügen. Aber sich verständigen meint auch, dem Anderen die Bedeutung, die diese Aussage für mich hat, klarzumachen. R. Bäumer und M. Plattig 1 sprechen in Anlehnung an E. T. Gendlin deshalb von einer »gefühlten Bedeutung« (felt sense). 2 Nehmen wir als Beispiel die Weihnachtsbotschaft, die der Engel den Hirten mitteilt: »Fürchtet euch nicht, denn ich verkünde euch eine große Freude, die dem ganzen Volk zuteil werden soll: Heute ist euch in der Stadt Davids der Retter geboren; er ist der Messias, der Herr. Und das soll euch als Zeichen dienen: Ihr werdet ein Kind finden, das, in Windeln gewickelt, in einer Krippe liegt« (Lukas 2,10–12). Die Aussageabsicht des Textes geht evidentermaßen weit hinaus über die Mitteilung des Geburtsorts und die Information zum Aussehen eines Neugeborenen. Die Botschaft, die »große Freude« auslöst, soll in einer tieferen Dimension verständlich gemacht werden. Die Rezeption der Botschaft wäre nicht angemessen, wenn die Aussage auf die reine Informationsebene reduziert würde. Erst wer diese Information als »frohe Botschaft« hört, kann wahrhaftig Weihnachten feiern. In Kantaten und Motetten zu Weihnachten macht die musikalische Gestaltung des Satzes dies den Hörern klar. Mit Worten, aber auch mit Klängen und Rhythmen sind leibhaftige Eindrücke und Erinnerungen verbunden. Die Aura des Weihnachtsfestes lebt von der Fülle an Assoziationen aus Melodien und Düften, Stimmungen und Erinnerungen seit der Kindheit. Wenn mir beim Hören eines Liedes plötzlich ein Lächeln auf die Lippen kommt oder Tränen in die Augen treten, dann zeigt sich, dass dieses Lied mit einer prägnanten – 93 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
II Wahrnehmung und Spiritualität
freudigen oder schmerzhaften – Erinnerung verbunden ist. Im gegenwärtigen Augenblick füllt es sich erneut mit einer Bedeutung, die im Leib verankert ist und gerade »hoch kommt«. Ohne diese »gefühlte Bedeutung« bleibt ein Begriff oder eine Aussage leer und blass. Ihnen fehlt dann die Kraft der Anschauung. Es nützt nichts, das erste der Zehn Gebote nennen zu können, wenn die Beziehung zu dem Gott, den ich »mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft« (Deuteronomium 6,5) lieben soll, in meinem Leben keine Rolle spielt. Prüfstein dafür sind z. B. Situationen, in denen es darum geht, Texte für kirchliche Angebote oder pastorale Aktionen zu verfassen: Wird der Gottesbezug an erster Stelle genannt oder geht er in einer Fülle von anderen mehr oder weniger bedeutsamen Punkten unter? Menschen werden vielleicht von diesem Angebot angesprochen, Gott wird aber damit nicht die Ehre gegeben. Bewusste Wahrnehmung kann helfen, an die gefühlte Bedeutung, die so oft verschüttet oder vergessen ist, heranzukommen. Sie erweist sich als maßgeblich für Werturteil und Anschauungskraft. Die phänomenologische Methode erscheint als der am besten geeignete Zugang zur gefühlten Bedeutung, weil sie eine große Offenheit für die Vielfalt des menschlichen Lebens und die wirklichen Dinge mit sich bringt. Erst wenn ich wirklich offen bin, kann ich mein Verständnis von den Dingen und meine Beziehung zu ihnen neu begreifen, und zwar erst einmal ohne Wertung, und mir dann auch erlauben, sie neu zu gestalten. Die Erfahrung des Subjekts von den wirklichen Dingen steht im Zentrum, nicht die diskursive Analyse oder rationale Erklärung eines Phänomens, das so der Lebenswelt, zu der es gehört, entrissen und entfremdet wird. Die phänomenologische Methode geht von der sinnlichen Wahrnehmung aus, um in Akten der Anschauung, die jeder94 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
»Gefühlte Bedeutung« und Wahrnehmung
zeit abrufbar sind, das Wesen der Dinge zu erfassen. Um mir die Farbe Rot vorzustellen, bin ich nicht auf rote Gegenstände angewiesen. Auch ohne rote Äpfel oder rote Autos weiß ich, was rot ist. Und trotzdem: Wenn man mich fragt, was rot eigentlich ist, wird mir die Antwort nicht leicht fallen, denn rot ist eben rot. Die Sprache der Phänomenologie ist eine deskriptive Sprache und dient der Klärung von Sachen und Sachverhalten, die im Licht des Bewusstseins erscheinen. Es geht um das »Wie«, um den Modus des Erscheinens, nicht um den Inhalt der Erscheinung. Ziel der Phänomenologie ist, zwischen Wesen und Phänomen, zwischen der empirischen Erscheinung und den Akten reiner Anschauung zu unterscheiden. Es ist ein Irrtum zu meinen, wir wüssten, was die Dinge wirklich sind, wenn wir sie anhand der etablierten Wissenschaften wie Mathematik, Physik oder Biologie erfasst haben. Denn damit ist noch lange nicht die Beziehung, die wir zu ihnen haben, geklärt. Sich dem zu nähern, was z. B. Farben sind, ist ein mühsamer Prozess, der viele Kontroversen auslöst. So geht die Phänomenologie den Weg vom Schein zum Sein, von dem, was sich zeigt, zu dem, was da ist. Das Wesen ist immer nur in seinem Erscheinen gegeben, zeigt sich, offenbart sich. In dieser Offenbarung allein erreichen wir das, was ist. Die Phänomenologie will sich der Sache selbst nähern, um sie in ihrer reinen Ursprünglichkeit erscheinen zu lassen. Die Beschreibung von Phänomenen, die als evident betrachtet werden, genügt um zum Wesen zu gelangen. Die Wesensschau geht aus der Beschreibung der Phänomene hervor und muss nicht erst wie in der Sprach- oder der Begriffsanalyse rekonstruiert werden. Der Phänomenologe achtet genau darauf, dass sich dieser unmittelbaren Beziehung des Bewusstseins von nichts Fremdes beimischt wie etwa Voreingenommenheit von Urteilen und Erinnerungen aus früheren Erfahrungen. Das Bewusstsein selbst kann niemals leer sein; es ist immer ein Bewusst-Sein-von-etwas. Dieses Bewusst-Sein-von lässt Phänomene hervortreten, denen man, um ihr Wesen erfassen zu 95 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
II Wahrnehmung und Spiritualität
können, möglichst neutral begegnen soll. So entstand der Terminus des neutralen Beobachters, der zwar Teil der Welt ist, sich aber des Urteils über diese Welt enthält. Husserl verwendet dafür den Ausdruck Gewahr-Werden. 3 Es geht darum, die Präsenz des Subjekts, des Ich in der Welt, als ein Bewusstsein zu betrachten, das stets von Nebenerscheinungen begleitet wird und sich dennoch von ihrem empirischen Gehalt freimachen muss, um zur reinen Beschreibung der Phänomene und damit zu ihrem Wesen zu gelangen. Der Anwendungsbereich dieser Methode kennt keine Grenze. In der Phänomenologie steht am Anfang die Haltung der »Epoché«: eine radikale Enthaltung vom Urteil über das auftretende Objekt und eine Sinnesänderung ihm gegenüber. Damit verbunden sind verschiedene Arten der Reduktion. Sie bedeutet Distanzierung und Bereitschaft, sich neu auf das, was erscheinen will, einzulassen. Bilde ich mir z. B. ein, immer schon im Voraus zu wissen, was »Gras« ist, kann es geschehen, dass ich gerade das, was dieses frische, grüne »Gras« jetzt ist, verfehle. »Gras« ist dann nicht mehr ein vorhandener allgemeingültiger Begriff von Gras an sich, sondern es fühlt sich an wie das Gras, wie es für mich in meiner Wahrnehmung durch verschiedene Akte der Reduktion und der Konstitution geworden ist. 4 Grundsätzlich gibt es kein »Objekt«, das dem »Subjekt« präexistiert. Anders gesagt: Einen direkten, unmittelbaren Zugang zur Wirklichkeit gibt es nicht, da mir die Welt einzig und allein durch die Wahrnehmung, die ich von ihr habe, zugänglich ist, d. h. sie erscheint mir in einem Vorgang, den ich »wahrnehmen« nenne. Ich kann nur glauben, dass die Welt oder Teile der Welt auch dann noch weiter da sind, wenn ich sie nicht mehr vergegenwärtige. Der Bereich der Wahrnehmung ist allumfassend und offen, weil er alle Bewusstseinsinhalte betrifft. »Die als Wirkung von Reizen auf unseren Körper definierte reine Empfindung ist ein ›Endprodukt‹ unserer Erkenntnis, und zwar unserer wissenschaftlichen Erkenntnis, es ist bloß eine – sehr natürliche – Täuschung, die sie uns an den 96 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
»Gefühlte Bedeutung« und Wahrnehmung
Anfang setzen und aller Erkenntnis vorgängig glauben lässt«, schreibt Merleau-Ponty. 5 Die Welt, wie sie da draußen wirklich ist, ist mir an sich nicht zugänglich, sondern sie kommt stets zu mir in einer mannigfaltigen Weise von Erscheinungen, von Phänomenen, die durch bestimmte Akte auf ihr Wesen zurückgeführt werden können. Der Begriff »Wahrnehmung« wird hier zunächst im philosophischen, speziell im phänomenologischen Sinn verstanden. Wir werden ihn dann im engeren Kontext einer Spiritualität der Wahrnehmung auch als Wesensmoment des geistlichen Lebens näher bestimmen. So ist Wahrnehmung zunächst die qualitative Möglichkeit, über unsere Sinnesorgane mit der Wirklichkeit in Kontakt zu treten. Sie wird als »qualitativ« bezeichnet, weil es nicht die visuelle, auditive, olfaktorische, gustatorische, haptische, vestibuläre, kinetische Wahrnehmung an sich gibt, sondern meine Sinnes- und Empfindungsorgane erfassen eine Gesamtwahrnehmung der Wirklichkeit in unterschiedlicher Qualität. Man spricht von einem visuellen oder auditiven Menschen, wenn die eine oder andere Wahrnehmungsfähigkeit stark ausgeprägt ist. Blinde Menschen verfügen z. B. häufig über besonders empfindliche Tast-, Geruchsund Gehörsinne. Die Wahrnehmung ändert sich qualitativ in zweifacher Hinsicht: wenn die Reize, die auf mich zukommen, stärker werden, aber auch wenn ich mich selbst tiefer in die Aufmerksamkeit einübe. Die Wahrnehmung verändert sich also in dem Maße, wie ich selbst für die zwei Weisen, in denen Wirklichkeit auf mich zukommt, nämlich im Auffallen und Aufmerken, empfänglich bin. 6 Auffallen bedeutet, dass bestimmte Reize quantitativ anwachsen, so dass ich auf einen Gegenstand, ein Ereignis, eine Empfindung stärker reagiere und es sogleich ins Licht meines Bewusstseins tritt. Aufmerken dagegen heißt, dass ich von mir aus das Licht des Bewusstseins nach außen oder auch nach innen auf einen bestimmten Punkt hin richte. Unsere Wahrneh97 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
II Wahrnehmung und Spiritualität
mungsfähigkeit gleicht einem Sensor mit zwei Köpfen, die nach innen und nach außen gerichtet sind. Voraussetzung für unsere Wahrnehmung ist unsere leibliche Existenz. Dies klingt fast banal, ist es aber nicht, denn es gibt zahlreiche Beispiele aus dem Alltagsleben, die deutlich machen, dass wir »blind [sind], obwohl wir Augen [haben]« und »taub [sind], obwohl wir Ohren [haben]« (Jesaja 43,8), für das, was uns umgibt und uns ansprechen will. Wahrnehmung einüben bedeutet eine Erweiterung unserer Fähigkeit, uns der Wirklichkeit zu öffnen. Wenn in der Philosophie das Subjekt anfängt, über die Welt und sich selbst nachzudenken, markiert das den Beginn einer Reflexion, die deshalb »transzendental« genannt wird, weil sie die natürliche Immanenz der Welt aufhebt, sie sozusagen in Klammern setzt. Aufgabe der transzendentalen Phänomenologie ist es, die Entstehung des Bewusstseins analytisch aufzuhellen. In der Phänomenologie ist nichts vorgegeben, sondern alles entsteht in dem Moment, in dem ich mich dem »Phänomen« zuwende. Die Wahrnehmung ist deshalb für den Phänomenologen das sicherste und vorrangigste Eingangstor zur Welt und zum Ich. 7 Bin ich mir dessen nicht bewusst, dann habe ich nur einen eingeschränkten Zugang zu beidem.
2)
Kontinuität in der Wahrnehmung und Identität
Wenn Ereignisse und Stimmungen im Fluss der Zeit wechseln, brauchen unser Reflektieren und unser Handeln einen festen Haltepunkt. Das kleine oder große Ich, das Sätze einleitet, in denen ich mein Denken und Handeln vollziehe, ist selbst nicht einfach da. Auf die Frage »Wer bin ich, die hier schreibt?« können ganz verschiedene Antworten gegeben werden. Das Ich ist ein Individuum, »das, was nicht geteilt werden darf«, 98 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Kontinuität in der Wahrnehmung und Identität
wie E. Rosenstock-Huessy unter Verweis auf die Etymologie betont. Auf der Suche nach diesem »Ich«, das von sich spricht als von einem Selbst, das ihm vertraut ist, und zwar in einem anderen Modus als seine Umgebung und seine Mitmenschen, stoßen wir bei Lévinas auf die Innerlichkeit. Für Lévinas bedeutet Individuum »Trennung«. »Die Trennung vollzieht sich positiv als Innerlichkeit eines Seienden, das sich auf sich bezieht. Bis hin zum Atheismus!« 8 Hier wird also der transzendentale Bezug des Seins, der für E. Rosenstock-Huessy mit dem Individuum notwendigerweise einhergeht, abgelehnt. Denn das Individuum leitet sich von dem ab, »was wir nicht unterteilen dürfen: die Trinität«. In einer säkularisierten Welt mutet uns diese These fremd an und doch fährt er fort: »Nie, nie könnte der Mensch leben, atmen, sprechen, schreiben oder denken, wäre er nicht das Ebenbild der ›Individua Trinitas‹, das nicht zerteilt werden darf.« 9 E. Rosenstock-Huessy denkt das Individuum von einer Transzendenz her und nicht aus sich selbst. Das Individuum ist keine »dingliche Gegebenheit«. Wie aber ist die Frage nach dem »Ich« und der eigenen Identität ohne einen solchen Bezug zur Transzendenz zu denken? In einer Zeit, in der manche Menschen nicht selten mehrere Lebensentwürfe aneinanderreihen, weil biographische Zusammenbrüche erlebt werden, kann das zum Problem werden. Früher oder später taucht in jedem Leben die Frage auf: Wer bin ich eigentlich, der das alles erlebt oder der diese Entscheidung so und so gefällt hat? Besonders empfindliche Bereiche für das Wahren der eigenen Identität in Zeiten des Scheiterns und der Neuorientierung sind Studium oder Ausbildung, Wechsel von Arbeitsplatz und Wohnort sowie das Auf und Ab in Beziehungen. In der Postmoderne hat nichts so sehr zugenommen wie der Bedarf an Beratern für alle Arten von Problemen, mit denen das »Ich« in seinem Umfeld allein nicht mehr fertig wird. Die Bindungen an andere sind flexibler und wohl auch instabiler geworden. Die Antwort auf die Frage der Kontinuität meines Ich in 99 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
II Wahrnehmung und Spiritualität
der Brüchigkeit wechselnder Erlebnisse sucht der Phänomenologe L. Wiesing in der Wahrnehmung. Die Wahrnehmung verleiht mir die Gewissheit, ein Subjekt zu sein, weil sie den Beweis dafür liefert, dass es mich wirklich gibt. Wer das Rot der Tomate sieht, wer die frische Luft einatmet und die Frühlingsdüfte riecht, ist eben dieses Ich, von dem man zunächst wenig anderes sagen kann als dass es es wirklich gibt. Losgelöst von der Wahrnehmung wird dieses Ich zum cartesianischen Subjekt, das in der Einsamkeit eines empfindungsfreien, reinen »Cogito« seine Heimat gefunden hat. Die Wahrnehmung dagegen ist die Brücke zu einem leibhaftigen Ich, das, indem es wahrnimmt, zugleich fühlt und denkt. Wo die leibliche Empfindung miteinbezogen wird, werden bestimmte Dinge auf eine andere Art und Weise gegenwärtig als ohne sie. Ich sehe nicht nur ein Haus, sondern ich sehe, dass an diesem Ort ein Haus ist. 10 Die Wahrnehmung des Hauses besitzt ihre eigene Eindringlichkeit: Das Haus ist alt oder modern, es ist ausgestattet mit Fenstern, die eine besondere Form aufweisen. Immer richtet sich die Wahrnehmung auf einen Gehalt, einen »intentional content.« 11 Was allen Gehalten dann gemeinsam ist, ist ihre Anwesenheit in der Gegenwart. Dies ist keine Tautologie, denn das, was gegenwärtig geschieht, muss nicht zugleich für ein Subjekt anwesend sein. Ist es aber anwesend, dann finden wir hier die gesuchte Brücke, um in der Vielfalt die Einheit, in den Brüchen der Erlebnisse die Kontinuität des Ich zu wahren. Wiesing bleibt nicht beim Fluss der Empfindungen und Wahrnehmungen stehen, sondern er betrachtet sie als logische Konsequenz der Einheit in der Vielfalt, als Grundlage und Voraussetzung der Konstitution der Welt und betont die Stellung des »mich«, für die es diese Wahrnehmung gibt. Aus dieser phänomenologischen Teilhabe tritt eine ontologische Dimension hervor. Sehen und Gesehen-Werden, das Wechselspiel von Subjekt-Sein für sich und Objekt-Sein für den Anderen, ist eine alltägliche Erfahrung, die beinahe befürchten lässt, 100 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Kontinuität in der Wahrnehmung und Identität
dass hier eine Banalität ausgesprochen wird, die man nur in ein philosophisches Kleid gehüllt hat. In Wirklichkeit geht es jedoch um die Unentrinnbarkeit der Wahrnehmung, um das zur Präsenz-gezwungen-Sein, um die Zumutung der Identität, die keinen Ausweg kennt. So wie die Objekte in der Welt für mich da sind, so bin ich auch selbst in der Welt für Andere wahrnehmbar, wie ich bin. Wenn sich Dinge um mich verändern, dann setzt die Wahrnehmung dieser Veränderungen ein Ich voraus. »Kommt es zur Wirklichkeit meiner Wahrnehmung, lässt sich meine Identität nicht mehr vermeiden. Das heißt: Meine Identität ist eine logisch notwendige Folge aus der Wirklichkeit eines unerklärbaren Zustands.« 12 Würde die Veränderung nicht wahrgenommen, dann könnte das heißen, dass sich das »Ich« aufgelöst hat und nicht mehr als konstituierendes Subjekt fungiert. Eine Redewendung sagt: »Kleider machen Leute«, ein französisches Sprichwort hält dagegen: »Die Kutte macht nicht den Mönch aus« (l’habit ne fait pas le moine). Was stimmt denn nun? In solchen Sprichwörtern verdichtet sich die Weisheit der Völker. Sie wird von Generation zu Generation weitertradiert und solche prägnanten Sätze finden wie selbstverständlich Eingang in freie Gespräche oder in wohlgesetzte Reden. Ordensleute oder Kleriker sind oft, wenn auch nicht zwingend, an ihrer Kleidung erkennbar. Sie zeichnen sich wie das Militär durch eine Vorliebe für ein uniformes Auftreten aus. Die Gruppe rangiert vor dem Individuum. »Kleider geben den Menschen die Freiheit, ihre leibliche Natur dadurch zu vervollständigen, dass sie sich zu gegebener Zeit und am gegebenen Ort sozial organisieren«, schreibt E. Rosenstock-Huessy in einer kurzen und prägnanten Reflexion über Kleid und Sprache. 13 Kleider sind Kennzeichen dieser sozialen Ordnung. Das Individuum tritt in den Hintergrund im Unterschied zu anderen Gelegenheiten des sozialen Lebens, bei denen es gilt, möglichst auffällig und originell gekleidet zu sein, damit man eben nicht »in der Masse untergeht« oder – noch schlimmer – 101 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
II Wahrnehmung und Spiritualität
mit ihr identifiziert wird. Hüte spielten oder spielen vielleicht immer noch eine bevorzugte Rolle bei Frauen. Nicht nur Gruppen definieren sich durch Kleider, sondern auch wichtige Lebensschwellen werden von einem Wechsel der Bekleidung oder der Verleihung bestimmter Insignien begleitet. Die Feier der Einkleidung, die Übergabe des Ordensgewandes, die Diakonen- oder Priesterweihe markieren eine solche Schwelle. Die Anwärterin wird zu Beginn des Noviziats für die eigentliche Probezeit in die Gemeinschaft aufgenommen. Bei der Feier der Einkleidung werden zunächst die früheren Kleider abgelegt. Heute vollzieht man es dezent z. B. durch das symbolische Ausziehen einer Jacke. Es ist ein Sinnbild für das Ablegen des »alten« Menschen, der nichts mit dem natürlichen Alter zu tun hat, sondern mit einem weltlichen Leben, in dem Gott nicht im Zentrum steht. Das Anziehen neuer Kleider soll an die Taufe erinnern, bei der das weiße Kleid – Symbol für die neu geschenkte Reinheit und die Unsterblichkeit, die das Leben mit Gott bedeutet – überreicht wurde. Der Bruch mit dem früheren Leben ist radikal. Nun soll das Sein auch dem Schein folgen. »Werde, was du bist!« gilt vor allem für die, die so demonstrativ das Gewand der conversio, der Umkehr, tragen. Konkret geschieht der Kleiderwechsel in unserem Kloster in der Abteikirche. Das neue Kleid zieht sich die neue Schwester keineswegs selbst an, sondern sie wird von Kopf bis Fuß mit allen Kleidungsstücken: Skapulier, Unterschleier, Schleier einschließlich des Gürtels von der Äbtissin bekleidet. Es waren etliche Jahre vergangen, seitdem ich zum letzten Mal von jemand anders, damals meiner Mutter, angezogen wurde. Das Gleiten des Kleides über den Oberkörper und das Herumzupfen am Kopf riefen fremde, fast beschämende Gefühle von Ohnmacht hervor. An-sich-geschehen-lassen ist weitaus schwieriger als etwas in eigener Regie gestalten. Noch eindrucksvoller ist in dieser Hinsicht die vorangehende Fußwaschung, Zeichen der Aufnahme in die Gemein102 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Kontinuität in der Wahrnehmung und Identität
schaft. Nun ist die Einkleidung einmalig. Wenn man das Kleid von einer anderen, dazu befugten Person überreicht bekommt, wird man dadurch zur Ordensschwester gemacht. »Kleidung bringt eine neue Stufe des Lebens zum Ausdruck. Die Kleider bedecken den Körper nicht nur, sondern ersetzen ihn auch«, schreibt E. Rosenstock-Huessy. 14 Bei der Einkleidung kommt zum neuen Erscheinungsbild auch der neue Name hinzu. Der Ordensname kann eine Richtung weisen, Auftrag und Aufgabe werden. »Jede mächtige Liebe gibt dem Geliebten einen neuen Namen, und kraft dieses Namens beginnt er sich zu bewegen.« Dieser neue Name, der an unser Ohr drängt und in unser Herz fällt, ist für E. Rosenstock-Huessy, »der Name, durch den Gott uns aufruft, ihn mit unserem ganzen Herzen, unserem ganzen Geist und mit allem, was wir haben, zu lieben« 15 – ein Satz aus der Feder eines Universitätsprofessors, der einen staunen lässt. Nicht die liturgische Feier einer Einkleidung hat er im Sinn, sondern das heranwachsende Kind, das einen »Ruf von außerhalb der Welt« vernimmt, wenn es als junger Mann oder junge Frau das Elternhaus verlässt und das »Heim der Schöpfung Gottes, in das er uns sendet, in Stellvertretung seines Heiligen Tempels betritt« 16. Der Empfang des Namens markiert ein neues Stadium im Leben. Was bildlich gesprochen beim heranwachsenden Menschen geschieht, wird bei der Einkleidung und der Verleihung des Ordensnamens Wirklichkeit. In Deutschland wird dieser neue Name auch im Personalausweis eingetragen und ab sofort zum Rufnamen. Ab diesem Tag werde ich als Ordensschwester wahrgenommen und diese Wahrnehmung wird erst einmal sehr befremdlich sein. »Denn Fremdheit begegnet mir nicht erst in den anderen, sie beginnt bereits bei mir selbst; und bei mir selbst beginnt auch die Aufgabe, Fremdheit anzuerkennen«, schreibt R. Feiter. 17 Verändert sich meine Wahrnehmung, verändert sich auch die Art und Weise meiner Existenz in der Welt. Das Kleid hilft dabei, in die neue Identität hineinzuwachsen und wirklich eine Ordensfrau zu werden. 103 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
II Wahrnehmung und Spiritualität
Die Identität, die sich als logische Folge der Wahrnehmung entpuppt, besitzt einen qualitativen Aspekt. So können wir den Satz umkehren und bereits jetzt vorwegnehmen, dass sich, wenn ich an meiner Wahrnehmungsfähigkeit etwas ändere, notwendigerweise auch meine Art und Weise, in der Welt zu sein, und meine Art, für andere da zu sein, ändert. »Dass es meine Wahrnehmung gibt«, schreibt L. Wiesing, »bedingt eben nicht nur ausschließlich, dass es mich existierend gibt, sondern darüber hinaus auch meine Weise der innerweltlichen Existenz.« 18 Gibt es aber bei der Wahrnehmung des »Ich« Unstimmigkeiten, lassen sich andere gegebene Wahrnehmungen nicht mehr einfach integrieren. Ohne die Erfahrung einer Kontinuität und eines fest konstituierten Ich wird Wahrnehmung schwierig. Dieses Moment des Sperrigen, dessen, was nicht glatt läuft und sich nicht problemlos integrieren lässt, lenkt unsere Aufmerksamkeit auf den Prozess der Identitätsfindung. Einerseits geschieht sie, wie Wiesing bemerkt, in der Spannung zwischen der Erfahrung von Kontinuität und der Wechselhaftigkeit der Wahrnehmung, und andererseits wächst sie an der Herausforderung, der Begegnung mit dem Fremden, mit dem, was der Herstellung von Kontinuität Widerstand leistet. Ohne diese Erfahrung des »Fremden« kann keine Identität als Aneignung dessen, was zu mir gehört und eben nicht zum Anderen, entstehen. Der Ort der Entstehung, Bewährung und Bewahrung der Identität ist der Leib mehr als das kognitive Gedächtnis. Nichts findet ohne Leib statt: Er ist an allen Erfahrungen, ob Erfolgen oder Enttäuschungen, ob Siegen oder Niederlagen im Kampf um das Eigene maßgeblich beteiligt war. Das Gewahr-Werden der Kontinuität des »Ich« in der Wahrnehmung hat einen hohen Preis. Was ein Mensch geworden ist, zeigt er in seinem Leib, ob Heiliger oder moralisch Verworfener: »Wir werden niemals völlig in unserem Leib zur Ruhe kommen, als wären wir Eigentümer unser selbst, doch es kann wohl sein, dass es 104 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Die Stellung des Leibes für das konstituierende Bewusstsein
gerade diese Unruhe ist, die uns lebendig hält«, schreibt B. Waldenfels. 19 In der Brüchigkeit der Erfahrung ringt der Mensch als »Bildhauer seiner selbst« um die eigene Identität. Romane wie »Das Bildnis des Dorian Gray« von Oscar Wilde oder »La Peau de Chagrin« von Honoré de Balzac inszenieren diese innigste und schicksalhafte Verbindung zwischen Tat und Bild, zwischen der moralischen Integrität, die dem Wollen und Können Grenzen setzt, und der äußeren Erscheinung. Der Preis des einen zerstörten Lebens ist jene »sorgenzerfurchte Haut«, die nicht lügen kann, egal wie viel »Lifting« jemand an sich vornehmen lässt.
3)
Wahrnehmungslehre: Die Stellung des Leibes für das konstituierende Bewusstsein
Die Wahrnehmung beginnt mit der Empfindung, ohne sich aber in ihr zu erschöpfen. 20 Empfindungen sind »sinnliche Inhalte«, die mit dem Körper verbunden sind. Die Erkundung der Bedeutung des Leibes geschieht durch Wahrnehmung. Alles, was dem Menschen gegeben ist, ist ihm durch den Leib gegeben. Auch wenn man zwischen Urpräsenz, d. h. der Unmittelbarkeit der Empfindungen und Sinnesdaten, und Appräsenz, d. h. der Wahrnehmung kraft der Erinnerung, unterscheidet – immer steht der Leib im Zentrum als Voraussetzung alles Gegebenen. Unser Bewusstsein ist von leiblichen Empfindungen getragen und durchdrungen, die sich dann auf die Akte der Konstitution auswirken. Zur »hyletischen Unterlage« zählt das Gesamtspektrum der Empfindungen (sensations), die »unmittelbar anschaulich« zum Leib gehören. 21 Husserl unterscheidet zwischen Leib und »Leibkörper«. Leibkörper ist für ihn der Leib, der als Ding in der Natur wahrgenommen werden kann. Er ist auch mein erstes »Umgebungsobjekt im Hier«. 22 Der Leib ist aber nicht nur das, was mich zunächst umgibt, sondern 105 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
II Wahrnehmung und Spiritualität
auch das, wodurch meine Umwelt konstituiert wird. Meine Umwelt meint dabei immer die Art und Weise, wie mir Dinge und Menschen gegeben und präsent sind. Sie ist ein Geflecht von Beziehungen, das sich im Laufe der Zeit konstituiert hat und das immer neu konstituiert werden will. Darum ist meine Umwelt von der Umwelt anderer verschieden. Die inzwischen fest etablierte Einteilung der fünf Sinne verführt dazu zu vergessen, dass es zunächst nur ein Ganzes der Wahrnehmung gibt. Am Anfang ist nicht der Begriff, sondern die mich ereilende Erfahrung der Wahrnehmung, die als »Sein«, das sich mir aufdrängt, und als »Phänomen« aufgefasst wird. Vorrang hat die Einheit im Augenblick der Erfahrung, die dann in der Verarbeitung der Erkenntnis unterschiedlichen Regionen zugeordnet wird. Diese Einheit, die in der Begegnung mit der Wirklichkeit vorgegeben ist, wird erst dadurch aufgehoben, dass nach dem »Woher« und nicht nach dem »Was« gefragt wird, so dass Inhalte der Wahrnehmung einzelnen Organen zugewiesen werden. So erfahre ich z. B., dass Feuer nicht nur leuchtet, Wärme spendet und einen bestimmen Geruch hat, sondern vor allem brennt, wenn ich an meiner Hand den Schmerz wahrnehme. Das Geschehen der Wahrnehmung ist zuerst nicht zerstückelt. »Die in verschiedenen Verben artikulierten Sinnestätigkeiten weisen auf den Charakter des Wahrnehmens als ursprünglich aktives und aufmerksames Gerichtetsein auf etwas«, schreibt Loenhoff in seiner Untersuchung zur Genese des Modells der fünf Sinne. 23 Die Verarbeitung der Wahrnehmung kann aber nicht ohne diese Zuordnung geschehen. »Zu einer Isolation dieses ungeteilten Erlebnisstroms käme es erst […], wenn die Wahrnehmung nicht mehr in ihrem einfachen Gehalt betrachtet, sondern bereits unter einen bestimmten gedanklichen Gesichtspunkt gestellt und unter ihm beurteilt wird.« 24 Benennen heißt aber bereits Verarbeiten, d. h. man ist nicht mehr bei der Wahrnehmung selbst, sondern schon bei der Begriffsbildung. 106 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Die Stellung des Leibes für das konstituierende Bewusstsein
Eine Rückkehr zur ursprünglichen Wahrnehmung bedarf der leiblichen Einübung, weil die Konditionierung unseres Gehirns massiv ist. Alles wird zerlegt, noch bevor das, was da ist, als ganzheitliche Erfahrung in unser Bewusstsein eindringen kann. 25 Erlebe ich die Welt vorwiegend in bereits zerlegten und zugeordneten Teilen, verliert die Wirklichkeit an Gehalt. Das genau meint der Volksmund, wenn er davon spricht, dass jemand »vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr sieht«. Die fortschreitende Spezialisierung der Wissenschaft führt zu einer Fülle von neuen »Bäumen«, für die man sich jeweils den passenden Spezialisten holen kann. Dagegen herrscht Mangel an Förstern, die noch einen Blick für den Wald haben. Wenn es sie vereinzelt noch gibt – Philosophen und Theologen können als solche »Försterberufe« gelten –, dann laufen sie Gefahr, nicht ernst genommen zu werden, weil sie weniger vom konkreten »Baum« zu verstehen scheinen als jeder Sozialarbeiter oder Mediziner, die sich spezialisiert haben. Gibt es den »Wald« überhaupt noch? Kann das Individuum, zum Höhepunkt seiner ganz persönlichen Entwicklung gelangt, ihn noch in den Blick nehmen wollen? Wie kann das Bewusstsein der Individuen für den »Wald«, für den größeren Zusammenhang unserer einzelnen Existenz wieder geschärft werden? Für die Postmoderne ist das eine Überlebensfrage. Bei Michel Henry ist es der Vorgang des »AffiziertSeins«, der zur ganzheitlichen Wahrnehmung zurückführt. »Was das Leben ursprünglich empfindet, ist es selbst; was es ursprünglich erfährt, ist es selbst; wovon es ursprünglich affiziert wird, ist es selbst.« 26 Diese ursprüngliche Erfahrung des Lebens als Leben mündet in eine »metaphysische Intuition«, etwas, das vorgefunden wird im Modus der Gabe. Darauf baut Henry seine Phänomenologie auf und widerspricht hier Husserl und dann auch Merleau-Ponty, der die seit Descartes festgelegte Trennung zwischen dem erkennenden Subjekt und dem zu erkennenden Objekt zurückgewiesen hat. 27 Nicht alles Erscheinen ist für Henry dem Erscheinen der Welt gleich107 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
II Wahrnehmung und Spiritualität
zusetzen. Eigener Modus einer Ur-Offenbarung, die das Denken selbst transzendiert, ist die Selbstaffektion des Lebens, das sich im Fleisch ereignet. 28 Es macht einen großen Unterschied, wie Henry betont, ob man »an den Ursprung unserer Erfahrung nicht mehr das formale und leere ›Ich denke‹ Kants setzt, sondern ein Subjekt, welches ein Leib ist, ein inkarniertes Subjekt« 29. Erst wenn die Dimension des Affekts hinzukommt, kommen zu den kognitiven Anteilen auch jene Elemente einer ganzheitlichen Erfahrung hinzu, die vom Leibgedächtnis gespeichert und daher nicht vergessen werden. Die Affektion des Objekts ist jene Wirkung auf das Subjekt, die »sich in einer Form der Passivität wieder findet und nicht in der Position des aneignenden Erkennens […]. Das Erkennen ändert sich, da es in der Affektion zu einer spezifischen Weckung von Aufmerksamkeit kommt«, schreibt N. Depraz. 30 Diese Affektion hat zunächst keinen affektiven oder ethischen Sinn, sondern beeinflusst allein den Erkenntnisprozess. Die Affektion schafft eine innere Beziehung zum Gegenstand. Das distanzierte »Reden über« weicht dem »Sprechen aus der Beziehung«. B. Waldenfels schreibt »Af-fekt« mit einem »Bindestrich, um anzudeuten, dass uns etwas an-getan wird, was wir nicht selbst initiieren«. Waldenfels nennt diesen Vorgang »Geburt des Sinnes aus dem Pathos«, d. h. aus der Affektion. 31 Seine scharfe Kritik am Verständnis von Affektion bei H. Schmitz und M. Henry als »herrlicher Narzissmus« 32 scheint mir nicht zutreffend; denn beide Autoren bleiben eben nicht bei der Selbstaffektion stehen, anders als Narziss, der sich nicht mehr vom eigenen Bild lösen kann. Die Selbstaffektion ist der Anfang einer Reflexion, die mit dem Leben selbst und nicht mit einem Denkakt des »Cogito« beginnt. Die Affektion ruft hier das Bewusstsein hervor und nicht umgekehrt. Die kritische Distanz, d. h. die Fähigkeit des Subjekts über das, was ihm widerfährt, Rechenschaft zu geben, bleibt erhalten. Im Augenblick des Bewusstwerdens der Affektion tritt eine Veränderung ein, die das Subjekt in eine Haltung der Pas108 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Die Stellung des Leibes für das konstituierende Bewusstsein
sivität und Rezeptivität versetzt. Sie weckt die Aufmerksamkeit und lässt ein Etwas ins Lichtfeld des Bewusstseins gelangen. »Alles Wahrnehmen beginnt damit, dass mir etwas auffällt, dass sich etwas aufdrängt, dass uns etwas anzieht oder abstößt, indem es uns affiziert«, bemerkt B. Waldenfels. 33 Was ist damit konkret gemeint? Die Art und Weise z. B., wie ich als Ordensfrau in einer monastischen Gemeinschaft lebe, die Empfindungen, die sich über Jahre verdichtet haben, prägen wesentlich mein Verständnis von Gemeinschaft. Werde ich darauf angesprochen, »denke« ich zunächst nicht an eine Definition aus einem Lexikon, sondern es melden sich Eindrücke, Erinnerungen, alltägliche Erfahrungen vom gemeinsamen Beten, vom Lebensraum, von Arbeit und Erholung, von Feiern und Trauern. Diese »Meldungen« aus meiner Lebenswelt bestimmen, wie ich »Gemeinschaft« denke und über sie spreche. Mich als Benediktinerin fragt man konkret, wie ich meine Gemeinschaft empfinde, ob als Lebensraum oder als Einengung, ob als Last oder als Bereicherung, ob als Chance für das persönliche Wachstum oder als Bremse für meine Entwicklung? Der gefühlte Inhalt und die Form der Anschauung fließen in meine »Definition« von Gemeinschaft bewusst oder eher unbewusst ein, sie sind einfach »mitgegeben«. Fehlen der Bezug zur Lebenswelt und die innere Affinität zum Thema, kommt es unweigerlich zu gravierenden Entstellungen. Die Verführung des Könnens in der Print- und Medienwelt ist groß. Farben und Schriften stehen Designern in endlosen Variationen zur Verfügung. Die Möglichkeit, bei der Gestaltung von Websites oder Blogs Bilder per Mausklick zu vergrößern oder zu verkleinern, sie als bewegte Bilder erscheinen zu lassen oder zu spiegeln, verführt dazu, die Technik in den Vordergrund zu schieben. Dass dabei Inhalt und Darstellung in Widerspruch zueinander geraten, wird oft nicht »wahrgenommen«. Ganz unterschiedliche Themen können im Bild gleich behandelt werden. Die Technik wird souverän beherrscht; aber es fehlt ein Empfinden für das behandelte »Thema«. 109 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
II Wahrnehmung und Spiritualität
Mehr Wahrnehmung, mehr Einfühlung und mehr kritischer Abstand zur Macht der Technik sind erforderlich, um eine glaubwürdige Präsenz der Kirche in der Welt der Medien zu gewährleisten. Der Selbstdarstellung in der virtuellen Welt muss eine Selbstwahrnehmung in der realen Welt vorausgehen. Bewegte Bilder oder farbige Pixels sagen oft das Gegenteil von dem, was wir eigentlich wollen, je nachdem wie sie angeordnet und präsentiert werden. Die gewünschte Wirkung wird verfehlt; und übrig bleibt ein Gefühl der Beschämung. Zurück zu unserem Hauptthema: Leibliche Empfindungen üben einen bestimmenden Einfluss auf die Bildung von Werten aus. Zunächst spüren wir eine Art Unbehagen und wissen noch nicht genau warum; aber es lohnt sich, bei dieser Empfindung zu verweilen. Für eine Spiritualität der Wahrnehmung ist deshalb die Stellung des Leibes und der durch ihn stets gegenwärtigen Empfindungen unverzichtbar relevant. Sie bilden die Grundlage für unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit. Die Spannung zwischen Geist und Körper, Leib und Seele bleibt in einer Phänomenologie der Wahrnehmung durchaus erhalten und wird nicht einfach durch die Dichotomie von Innen- und Außenseite abgelöst. Was sich hier, phänomenologisch betrachtet, von innen her zeigt, erscheint zwar nach außen, zeugt aber darin von einem leiblich-geistlichen Leben, das sich eben nicht in seiner Außenseite erschöpft. Trotz aller Fortschritte können Wissenschaften wie Biologie, Medizin oder Hirnforschung diese in der Leiblichkeit wahrnehmbare Geistigkeit nicht erfassen und werden so letztlich dem transzendentalen Charakter des Menschen nicht gerecht. Die folgenden Abschnitte werden einen stärker theoretischen Charakter haben; vorab möchte ich ein praktisches Beispiel von der Bedeutung der Leiblichkeit für geistig-geistliche Prozesse geben. In unser Kloster kommen häufig Jugendliche zu Besinnungstagen, die von ihrer Schule organisiert werden. Aus einem katholischen Kolleg einer Großstadt im Rheinland 110 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Die Stellung des Leibes für das konstituierende Bewusstsein
kamen vor zwei Jahren fünf junge Frauen zwischen 17 und 19 zu uns. Eine von ihnen brachte als Lektüre drei Exemplare eines reich illustrierten Frauenmagazins mit, das ganz der Gesundheit der Frau gewidmet war. Das Thema Sexualität war allgegenwärtig. Ein Artikel handelte ganz vom Aufbau der Tiefenmuskulatur. Ich zeigte Interesse und bekam dort Einblick in eine mir fremd gewordene Welt. Ich fragte mich: Diese Schülerinnen und ich – was haben wir einander zu sagen? Werde ich ihnen etwas von meinem geistig-geistlichen Leben vermitteln können, von Werten wie Jungfräulichkeit, Armut, Demut und Gehorsam? Wo kreuzen sich unsere inneren Wege? Was uns in diesen gemeinsamen Tagen zum Raum der Begegnung wurde, war das Tanzen. Tanz ist eine zutiefst leibliche Angelegenheit. Als Ausdruck eines inneren Empfindens für Erlebtes ersetzte der Tanz die Worte und wurde zum Medium der Kommunikation über eine geistliche Wirklichkeit, die in Worten nicht zu vermitteln war. Eine der Teilnehmerinnen fasste diese Erfahrung so in Worte: »Mit dem Tanz wollten wir unsere Entwicklung darstellen, die wir im Kloster erleben durften. Am Anfang der ›Reise‹ waren wir keine Einheit. Wir waren unabhängige Individuen, die teilweise völlig in sich gekehrt waren. Durch die Tage im Kloster war uns die Möglichkeit gegeben, unseren Geist auch für andere Menschen zu öffnen, die Erfahrungen positiv in uns aufzunehmen. Wir haben uns selbst gefunden und konnten diese Erfahrung mit den anderen Gruppenmitgliedern teilen. Der gemeinsame Tanz war wie eine ›Teilung des Geistes‹. Die Gruppe, die sich so gebildet hatte, konnte sich außenstehenden Personen zuwenden und deren Entwicklung positiv beeinflussen. Die Gruppe öffnet sich den Individuen und hilft diesen, in der Gruppe zu wachsen und sich zu einem vollwertigen Mitglied zu entwickeln. Dieser Tanz zeigt, dass es uns nicht nur möglich war, uns selbst zu finden, sondern auch uns als Teil einer Gruppe zu finden. Sobald wir ein Problem hatten, gab uns die Gruppe die Möglichkeit, dieses Problem zu bewältigen, in Einzel- oder 111 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
II Wahrnehmung und Spiritualität
Gruppengesprächen, deshalb beim Tanzen die Gruppen- und auch Einzelformation. Im Kloster konnten wir uns völlig entfalten und zu uns finden, Probleme angehen und lösen, mit Hilfe der Gruppe. Dabei war der christliche Glaube Nebensache. Auch wenn ›Gott‹ Thema war, konnten wir völlig losgelöst vom Glauben zu uns finden, hier war der ›Glaube‹ ein Angebot und kein Zwang. Einige von uns haben das Angebot angenommen, einige nicht. Dennoch konnte die Gemeinschaft entstehen.« Was hier nicht wiedergegeben werden kann, ist die beeindruckende Präsenz im Leib, die höchste Konzentration der Schülerinnen. Der Text vermittelt aber eine Ahnung von der Intensität ihrer Auseinandersetzung mit dem, was als eine so fremde Welt auf sie zugekommen war. Das Kloster als geschlossene Institution tritt in den Hintergrund und öffnet sich als Raum für Selbst- und Gruppenerfahrung. Die leibliche Erfahrung, hier konkret der Tanz, wird zum Ausdrucksmittel einer geistig-geistlichen Erfahrung. Die unterschiedlichen Einstellungen zum Thema »Gott« und »Glaube« werden nicht als störend für die tanzende Gruppe empfunden. Unser Leib besitzt eine Grundoffenheit für derartige Erfahrungen, die es im digitalen Zeitalter verdient, neu entdeckt und gewürdigt zu werden. »Bildschirme sind alltäglich gewordene Aufmerksamkeitsapparaturen, die zur Konstitution der Wirklichkeit beitragen und nicht bloß zur Sinnvermittlung«, schreibt B. Waldenfels. Deshalb ist die Rückkehr zur Leiblichkeit auch eine Rückkehr zur Sache selbst; denn die Aufmerksamkeit hat ihren Ursprung in der Affektion des Leibes. In den folgenden Abschnitten wird deshalb diese Schaltstelle des Leibes in seiner Fähigkeit, geistige Inhalte wiederzugeben, zu symbolisieren und zu bewahren, theoretisch erkundet.
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Die Stellung des Leibes für das konstituierende Bewusstsein
a)
Leib und Eigenleib
Der Mensch ist an seinen Leib »gefesselt«, weshalb alles, was seinen Leib bedroht, ihn selbst betrifft. Der Leib ist das, was ich unmittelbar um mich habe, was meine Existenz im Hier und Jetzt bedingt und begleitet. Der Leib ist der absolute Standpunkt, von dem aus die Welt dem Individuum begegnet und das Individuum der Welt. Die Art und Weise, wie der Mensch sich in dieser Welt aufhält, ist grundsätzlich die eines Daseins im Leib. Seinen eigenen Leib kann er nirgendwo ablegen. Auch die Anderen sind für mich zunächst als Leiber gegenwärtig – so wie ich mir selbst. Sehe ich sie aber als bloße Leiber an, werden sie zu Objekten degradiert. »Insofern ich einen Leib habe, kann ich unter dem Blick des Anderen zum bloßen Gegenstand herabsinken und nicht mehr als Person für ihn zählen«, schreibt M. Merleau-Ponty. 34 Die Berücksichtigung dieser Dimension entscheidet darüber, wie ich mit jemandem in Kontakt trete. Wenn ich im normalen Alltag meinem Gegenüber zum Gruß die Hand gebe, kann dieser Händedruck Ausdruck meiner Freude werden, ihn wiederzusehen. Fühlt sich die Hand schlaff und weich an, dann kann der Andere daraus schließen, dass meine Freude sich vielleicht in Grenzen hält. Ist der Händedruck dagegen kräftig und womöglich von einem Lächeln begleitet, dann kann das ein Zeichen dafür sein, dass meine Freude echt ist. Wird der Druck übertrieben, dann ist das vielleicht ein Hinweis darauf, dass hier Freude vorgetäuscht wird. Gestellte Fotos von Politikern vermitteln oft einen solchen Eindruck und verraten gelegentlich eine Diskrepanz zwischen Rolle und Person. So verrät mich mein Leib. Er gibt Auskunft über das, was ich innerlich will und fühle. Im Augenblick des Händedrucks bin ich gewissermaßen in meiner Hand selbst ganz gegenwärtig. Sie wird zum Ich. Ich bin diese Hand, die sich ausstreckt. Merleau-Ponty drückt es so aus: »Mein Leib steht nicht vor mir, sondern ich bin in meinem Leib, oder vielmehr ich bin mein Leib.« 35 113 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
II Wahrnehmung und Spiritualität
Schmerzt mein Leib, dann sind das meine Schmerzen und nicht nur die meines Körpers. Tut die Hand weh, dann sind auch das meine Schmerzen und nicht die meiner Hand. 36 Ich kann mich von den Schmerzen meiner Hand distanzieren, sie selbst kann es aber nicht. Die schmerzende Hand ist mein Fleisch, das verletzt ist und mir wehtut. »Der Leib ist also nicht lediglich einer unter anderen äußeren Gegenständen, der allein dadurch sich auszeichnete, stets da zu sein. Seine Ständigkeit ist eine absolute«. 37 Da ich meinen Leib nicht ablegen kann, kann ich auch diesen unmittelbaren und zentralen Standort nicht ändern. Um diese einmalige Stellung des Leibes zu betonen, schafft Merleau-Ponty einen neuen Begriff und spricht vom »Eigenleib«. Das Da-Sein im Leib bzw. im Eigenleib wird mir zum Schicksal, aber auch zum Potential, weil es sich, solange ich bin, als solches nicht ändern lässt, aber durchaus verschiedene Arten von Entwicklung zulässt. Der Eigenleib ist also im Unterschied zum Körper der Leib, dem Bewusstsein innewohnt. Das Bewusstsein macht aus ihm ein Subjekt, das nirgendwo anders zu suchen ist als im Leib selbst. Der Leib besitzt eine Kausalität im Blick auf mein Dasein, und zwar zugleich auf mein Dasein als Subjekt und als Objekt. Der Leib berührt und ist selbst berührbar. Dennoch kann er nicht vollkommen auf beiden Seiten der Wahrnehmung zugleich präsent sein. Der Eigenleib ist nichts Festgelegtes, sondern ist uns als Raum von Möglichkeiten gegeben. »Entscheidend ist die jeweilige Art und Weise des Gebrauchs des Leibes, der in der Emotion in eins vollzogenen Formgebung von Leib und Welt. […] Der Gebrauch, den der Mensch von seinem Leibe macht, transzendiert den Körper als bloß biologisch Seiendes.« 38 Merleau-Ponty nennt dies die Synthese des Eigenleibes. Der eigene Leib oder »Eigenleib«, der uns selbst auf eine ganz andere Art und Weise gegenwärtig ist als alles, was sonst noch zur Welt gehört, ist conditio sine qua non aller Wahrnehmungsakte. 114 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Die Stellung des Leibes für das konstituierende Bewusstsein
b)
Leib und Wahrnehmung
Die unreduzierbare Andersartigkeit des Leibes wird gerade in der Wahrnehmung erfahrbar. Der Leib ist nicht objektivierbar, sondern Bedingung aller Erfahrung von Objekten gegenständlicher, aber auch seelischer Art wie z. B. von Gefühlen. Ich kann nicht außerhalb meines Leibes sein; der Leib ist »mit mir«; er ist »immer da«. 39 Niemals kann ich von ihm Abstand nehmen. Der Leib selbst ist unvollkommen konstituiert; er konstituiert sich erst in der aktuellen Wahrnehmung. 40 Wird diese Wahrnehmung vorwiegend durch die Erinnerung geprägt, schränkt das die Fähigkeit, Neues zu erfassen, ein. »Unser Leib, ein System von Bewegungs- und Wahrnehmungsvermögen, ist kein Gegenstand für ein ›Ich denke‹ : er ist ein sein Gleichgewicht suchendes Ganzes erlebt-gelebter Bedeutungen«, schreibt Merleau-Ponty. 41 Der Leib ist der Ort, der unserer Existenz schlechthin Ausdruck verleiht, und zwar auf eine ganz individuelle und doch für andere verstehbare Weise. Der Leib als die Art und Weise, wie ich in der Welt bin, spricht entweder in Übereinstimmung mit mir oder im Widerspruch zu mir. »Der Leib ist nicht nur überhaupt ein Ding, sondern Ausdruck des Geistes, und er ist zugleich Organ des Geistes.« So kann »alles Leibliche seelische Bedeutung annehmen«, schreibt Husserl. 42 Immer wenn ich etwas wahrnehme, z. B. Worte, nehme ich auch die Art und Weise auf, wie sie ausgesprochen werden, den Klang der Stimme, das Pathos und die Mimik des Redners. Stets kommt mir ein Ganzes entgegen, das in vielerlei Hinsicht Auskunft über den, der da spricht, gibt. Das, was sich zeigt, kann nicht vom Leib gelöst werden. »Der Geist muss, um objektiv erfahrbar sein zu können, Beseelung eines objektiven Leibes sein.« 43 Husserl wie Merleau-Ponty betonen stets die Einheit des Leib-Seele-Kompositums, wenn sie auch dem Seelischen in Bezug zum Ich einen Vorrang einräumen. Der Leib als Ursprung all meiner Empfindungen und von 115 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
II Wahrnehmung und Spiritualität
dort aus aller Gedanken (cogitationes), die niemals ohne »Leib« auftauchen können, geht in der einzelnen Wahrnehmung selbst nicht unter. »Selbst wenn ich ›ganz‹ im Empfinden meines Leibes und in der Einsamkeit meiner Empfindungen aufgehe, schreibt Merleau-Ponty, gelingt es mir nicht, jeden Bezug meines Lebens zur Welt zu unterdrücken.« 44 Immer wieder steigt eine neue Empfindung auf, die den Strom des Bewusstseins erfüllt und ihn in eine neue Richtung lenkt. Wahrnehmung ist nicht ein für alle Male da. Sie ist der Veränderung unterworfen, da sie sich im stets wandelbaren Kontext von Raum und Zeit ereignet. Das gleiche Bild wirkt anders bzw. wird anders wahrgenommen, je nachdem ob ich es am Abend oder am Morgen, von der rechten oder von der linken Seite, von oben oder von unten betrachte. Die gleiche Erinnerung erhält ihre Färbung dadurch, ob ich selbst traurig oder fröhlich gestimmt bin. Die Wahrnehmung lässt mich meinen Leib als das Organ des »Mit-Seins« in der Welt und nicht neben der Welt erleben. Der Leib kann für mich nicht da sein wie irgendein anderer Gegenstand in dieser Welt. Als Leib-Subjekt ist er mehr als der »Nullpunkt«, aus dem alles andere seine Stellung bezieht. 45 Die Beziehung zu anderen Menschen wird dadurch möglich, dass ich mich in sie einfühle und ihnen die gleiche Fähigkeit zuschreibe, Subjekte zu sein, die ebenfalls in Beziehung zu sich selbst und zur Welt stehen. Solche Einfühlung setzt ihrerseits einen intersubjektiv erfahrbaren Leib voraus. T. Fuchs nennt das im Anschluss an Merleau-Ponty die Erfahrung der Zwischenleiblichkeit. 46 Sie ist eine besondere Art leiblicher Wahrnehmung, die uns mit Anderen verbindet und einen vielleicht verlorenen Zugang zu uns selbst wieder möglich macht. Aus diesem Grund wird der Leib häufig in die therapeutische Arbeit einbezogen. 47
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Die Stellung des Leibes für das konstituierende Bewusstsein
c)
Leib und Erfahrung
Der Leib ist also nicht das, was ich erfahre, sondern das, wodurch ich überhaupt erfahrungsfähig werde, wodurch ich in Kontakt mit der Welt, die für mich da ist, gelange. Durch die vorgegebene Einheit des Leibes werden auch meine vielfältigen Erfahrungen zu einer Einheit, die immer mehr ist als die Summe ihrer Teile. Sie ist in sich System und muss nicht erst wie die Welt konstituiert werden. 48 Dies gilt für die verschiedenen Arten von Erfahrungen und Wahrnehmungen, ob sie nun taktiler, auditiver, visueller oder interozeptiver Art sind. Der Leib ist der Ort, der diese Erfahrungen ermöglicht. Er wird dadurch auch selbst zum Ort einer Erfahrung, die sich nicht auf die Erfahrung des wahrgenommenen »Objektes« reduzieren lässt. Der Zugang zum Eigenleib ist anderer Natur als der Zugang zu allen anderen Gegenständen, die sich in der Welt befinden. Ausdrucksweisen wie »rechter oder linker Hand« zeigen, dass der Leib als absoluter Orientierungspunkt fungiert. Man würde üblicherweise nicht sagen, dass die rechte Hand sich neben der Tastatur befindet oder dass sie links vom Aschenbecher auf dem Tisch liegt. Ausgangspunkt aller Verortung ist der Leib und nicht der Gegenstand. J.-L. Marion formuliert das so: »Der Leib ist das erste und grundlegende Phänomen, weil es mit meiner Subjektivität zusammenhängt. Ich bin zuerst Leib, d. h. ich kann von allem weglaufen, nicht aber von meinem Leib.« 49 Die Erfahrung des Leibes hat einen einmaligen Charakter. Der Leib wird zum Objekt, sobald ich versuche, das Empfinden selbst wahrzunehmen, z. B. das Schmecken, Riechen oder Hören. Ein reflexives Bewusstsein davon ist immer nur von kurzer Dauer: Es schaltet sich ein und sogleich wieder aus. Wenn aber das, was Merleau-Ponty »Offenheit zur Welt« nennt, ausgeschaltet wird, dann verfehlt der Phänomenologe das, was er sich zum Ziel und zur obersten Pflicht gesetzt hatte: nicht aus dem Denken heraus, sondern aus der Offenheit der 117 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
II Wahrnehmung und Spiritualität
Welt gegenüber zur Erkenntnis des Wesens der Dinge zu gelangen. 50 Deshalb ist die Verortung im Leib als Bedingung jeder Art von Wahrnehmung unumgänglich. Nur der Leib ermöglicht letztendlich jenen Kontakt zur Sache selbst.
d)
Leib, Raum und Zeit
Die zentralen Koordinaten meines Daseins in der Welt sind Raum und Zeit. Kant führt sie unter den apriorischen Bedingungen aller Erscheinungen und damit unserer Erfahrungen auf. 51 In Merleau-Pontys Phänomenologie der Wahrnehmung erscheinen Raum und Zeit in ihrem Bezug zum Leib gemeinsam. »Leib sein heißt an eine bestimmte Welt geheftet sein, und unser Leib ist nicht zunächst im Raum: er ist zum Raum.« 52 Damit wird klargestellt, dass Raum und Leib nicht zwei einander gegenüberstehende Größen sind. Stets ist der Raum für den Leib da und der Leib für den Raum oder eben »zum Raum«. »Wir dürfen nicht sagen«, schreibt MerleauPonty, »unser Leib sei im Raume, wie übrigens ebenso wenig, er sei in der Zeit. Er wohnt Raum und Zeit ein.« 53 Niemals erschöpft sich der Leib im Jetzt der Zeit oder im Hier des Raumes. In jedem Augenblick klingt bereits die nächste Bewegung an. Das wird später von Bedeutung im Zusammenhang mit der Geschlechtlichkeit; Merleau-Ponty spricht in diesem Zusammenhang von einer Offenheit des Leibes auf ein Mehr hin, die er ausdrücklich »metaphysisch« nennt. Die Ausrichtung des Körpers nach oben, unten, rechts, links, vorne oder hinten ermöglicht die Erfahrung von Leib und Raum. Die Orientierung zum Raum als Erfahrung einer Ausdehnung macht nur Sinn für einen Leib, der selbst diese Ausdehnung und diese Orientierung kennt. »Ich bin nicht im Raum und in der Zeit, ich denke nicht Raum und Zeit; ich bin vielmehr zum Raum und zur Zeit, mein Leib heftet sich ihnen 118 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Die Stellung des Leibes für das konstituierende Bewusstsein
an und umfängt sie. Die Weite dieses Umfangens ist das Maß der Weite meiner Existenz.« 54 Diese Synthese ist nie abgeschlossen. Sie bleibt immer offen und muss stets von neuem begonnen werden. Je nachdem wo ich bin, ändern sich auch die Koordinaten meiner Stellung zum Eigenleib und zum Raum. Diese Synthese ist immer emotional gefärbt, da mit dem Raum auch eine bestimmte Atmosphäre verbunden ist, die leibliche Empfindungen wie etwa Enge oder Weite hervorrufen kann. Der Leib ist nicht mehr Objekt, sondern Modus. Er ist das Wie, durch das die Welt mir erscheint. Immer ist die Welt für mich auf eine bestimmte Art und Weise da: in Klängen und Farben, in Empfindungen und Gedanken. Solche Variationen betreffen aber niemals die Art und Weise, wie der Leib für mich da ist. Auch die Zeit hinterlässt sichtbare Spuren, die sich im Leib eingekerbt haben. Es ist das, was man Alter nennt. Dies hat wiederum einen Einfluss auf meine Wahrnehmung, auf die Erfahrung von laut, leise, schnell, langsam usw. Der Fluss des Lebens berührt mich anders, wenn ich Kind oder Erwachsener, jung oder alt bin.
e)
Leib und Bedeutung
Der Leib als Ganzes kann Bedeutung erfassen und darauf Antwort geben. Bereits kleinste Bewegungen oder banalste Gesten können von höchster Bedeutung sein. Eine Geste erschöpft sich nicht in ihrer pragmatischen Dimension. Als Ausdruck des Leibes offenbart sie die Ankunft einer neuen Ära. In der Bibel werden solche Gesten Gott zugeschrieben, wenn es z. B. heißt, »Er wird alle Tränen abwischen« (Offenbarung 7,17; 21,4). Wenn Gott Tränen abwischt, heißt das so viel wie: Das Leid ist endgültig überwunden und das Himmelreich realisiert. Merleau-Ponty nennt es Erwerb eines neuen »Bedeutungskerns«. Das wechselseitige Spiel der Kommunikation durch Anspruch und Antwort beruht auf der vielschichtigen Wahrneh119 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
II Wahrnehmung und Spiritualität
mung von Empfindungen, die im Leib originär gegeben sind oder in der Erinnerung abgerufen werden können. 55 So ist der Leib »selbst der Ursprung aller anderen Ausdrucksräume, die Bewegung des Ausdrückens selbst, das, was Bedeutungen aus sich erst entwirft und ihnen einen Ort gibt […]. Der Leib ist unser Mittel überhaupt, eine Welt zu haben.« 56 Das viel zitierte Wort Wittgensteins: »Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt« 57 lässt sich so zuspitzen: »Die Grenzen meiner Wahrnehmung bedeuten die Grenzen meiner Welt.« Eine Erweiterung der Wahrnehmung im eigenen Leib bedeutet eine Erweiterung der Wahrnehmung in Bezug auf die Welt, auf den Anderen, auf sich selbst und – dies ist ein zentrale These dieses Buches – letztendlich auf Gott. Eingeschränkte Wahrnehmungsfähigkeit bedeutet eingeschränkten Zugang zur Welt, auch zur geistigen Welt des Unsichtbaren. Die eher theoretischen Erörterungen der letzten Abschnitte waren nötig, um die These von der zentralen Rolle des Leibes als Fenster zur Transzendenz zu untermauern. Denn gerade Religion lebt von der Fähigkeit, leibliche Vorgänge so auszuführen und zu gestalten, dass sie für ihren geistlichen Gehalt und Ursprung durchsichtig werden.
4)
Inkarnation: Körper, Leib und Fleisch
Das deutsche Wort »Fleisch« kann hart und vulgär klingen, während das französische »chair« eher etwas Zartes ausdrückt. Die Bibel verwendet den Begriff bei der Erzählung von der Erschaffung der Frau: »Und der Mensch sprach: Das endlich ist Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch« (Genesis 2,23). Mit Fleisch ist also der Leib in seiner Fähigkeit gemeint, sich selbst und alles, was um ihn ist, zu berühren. Kein Gegenstand kann einen anderen berühren. Das Fleisch ist das Medium, durch das die Welt in uns eindringt und wir ihr erfassend begegnen. Für Michel Henry hat dieses Fleisch transzen120 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Inkarnation: Körper, Leib und Fleisch
dentalen Charakter. Es ist »ein lebendiges Fleisch, ein unsichtbares Fleisch, nur im Unsichtbaren des Lebens und von letzterem aus verstehbar« 58. Wenn wir mit Merleau-Ponty daran festhalten, dass wir nicht nur einen Körper haben, sondern dass wir ein Leib sind, dann ist das Verstehen dessen, was dieser Leib genau ist, Bedingung dafür, dass wir uns selbst ein Stück näher kommen. In dieser Hinsicht erweist sich Henrys Ansatz als äußerst hilfreich, einschließlich seiner teils scharfen Kritik an der Phänomenologie Husserls. 59 Im Zentrum seines Denkens steht nicht dessen intentionales Bewusstsein, sondern das Leben als Selbstaffektion und Selbstoffenbarung. Zentraler Begriff ist nicht der Leib, sondern das Fleisch. Damit wird die Inkarnation zum Gegenstand einer tiefgreifenden Reflexion. Einer der ungeheuersten Sätze der Religionsgeschichte, die Aussage aus dem Johannes-Evangelium »Das Wort ist Fleisch geworden« (Johannes 1,14), bekommt eine neue Auslegungsmöglichkeit. Schon die Kirchenväter hatten an den Vorgängen von Geburt und Tod Jesu am Kreuz als leiblichem Geschehen festgehalten – gegen alle doketistischen Spiritualisierungen, die diese Ereignisse als bloßen Schein erklären. Sie schreckten nicht zurück vor drastischen Beschreibungen von Zeugung und Geburt. 60 Mit der Inkarnation des ewigen Logos verlagert sich das Heil in den Leib: Nicht die Vergeistigung, das Sich-Loslösen vom Fleisch ist der Weg des Heils, sondern Gott erwählt das Fleisch als Ort seiner Einwohnung. »Demzufolge liebte er mit dem Menschen auch dessen Geburt und Leiblichkeit. Denn nichts kann geliebt werden, losgetrennt, von dem, wodurch es das ist, was es ist.« 61 Es geht hier nicht um die Entfaltung einer Christologie. Aber die Annahme der Glaubenswahrheit von der Inkarnation kann nicht einfach als gegeben vorausgesetzt werden. Jedem Zeitalter ist es unumgänglich aufgegeben, sie neu zu überdenken, um sie konkret Wirklichkeit werden zu lassen im Leben der Kirche und des einzelnen Christen. Nur im Fleisch wird der Christus-Messias mit dem Menschen eins. 121 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
II Wahrnehmung und Spiritualität
Die Inkarnation des ewigen Logos – für griechisches Denken klingt das geschmacklos und widersinnig – verleiht dem Fleisch des Menschen seine größte Würde. »Das Fleisch als solches ist Offenbarung.« 62 Dass der Ort des Kontaktes mit Gott das Fleisch ist, kann uns nicht gleichgültig lassen. Für M. Henry drängt sich die Frage auf: »Was muss somit das Fleisch sein, um in sich selbst und durch sich selbst Offenbarung sein zu können? Und was muss die Offenbarung sein, um sich als Fleisch zu vollziehen?« 63 Vielleicht ist es diese Frage, die uns heute ernsthaft dazu bewegen kann, neu über die Beschaffenheit des Fleisches, seinen Ursprung und seine Bestimmung nachzudenken. Es ist einerseits der Ort des Abfalls von Gott und des Kampfes der Leidenschaften in unseren Gliedern. Das Fleisch ist aber zugleich Ort einer ungeheuren Spannung zwischen Heil und Unheil, zwischen Gnade und Sünde. Die Würde des Menschen hat wesentlich mit seiner Leiblichkeit zu tun. Sie stellt sich am deutlichsten in einem souveränen leibhaftigen Verhalten dar, das die Übereinstimmung von innerer und äußerer Haltung zum Ausdruck bringt; und sie wird im Leib auch am ehesten verletzt. Ihre Unantastbarkeit muss als höchstes Rechtsgut herausgestellt werden, weil der Mensch nur in einem lebendigen Leib existiert. Kant hat sicher große Verdienste um die Formulierung der Idee der Menschenwürde, vor allem durch seinen kategorischen Imperativ, der Mensch dürfe nie bloß Mittel, müsse immer auch Zweck sein. Aber er bindet gemäß seinem aufgeklärten Menschenbild diese Würde doch reflexartig sehr eng, zu eng an Rationalität und Selbstbestimmung. Wie aber steht es um die Würde von Menschen, die nicht rational handeln und nicht autonom über sich verfügen? Gerade im Fall von ungeborenen, dementen, behinderten, sterbenden Menschen bedarf die Würde eines besonderen Schutzes. Die Leiblichkeit als Zeitgestalt der Person macht ihre Ganzheit aus und überwindet die Beschränkung auf Phasen autonomer Selbstbestimmung und Rationalität. 64 Der Leib bleibt »auch dann noch Träger der 122 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Inkarnation: Körper, Leib und Fleisch
Würde, wenn die Person ihre aktuelle Souveränität eingebüßt hat; ja gerade in der Verletzlichkeit, Schutzbedürftigkeit und Hinfälligkeit des Leibes wird … die Würde der Person in besonderer Weise erfahrbar« 65. Das gilt sogar über den Tod hinaus. Die Menschenwürde verbietet »bestimmte Formen des Umgangs mit dem Leichnam, etwa die öffentliche Ausstellung plastinierter und modellierter Körper«, schreibt M. Henry 66. Dagegen ist der Körper als Teil des Universums, als res extensa (Raumding), wie Descartes ihn definiert, unempfindlich. Er kann nicht leiden, spüren, fühlen. Er ist ein Etwas unter den anderen Körpern dieser Welt. Erst das Fleisch macht aus dem Körper, den ich habe, den Leib, der ich bin. So wird es sinnvoll möglich, das Geistliche im Fleisch zu suchen und den Leib als Träger der Offenbarung Gottes zu sehen. Damit wird natürlich nicht Hedonismus und Sensualismus das Wort geredet, die sich heutzutage unter Begriffen wie Wellness und Fitness, Genießen und Spaß, Event und Erlebnis breitmachen und das kulturelle Leben unter ihre eigenen kurzlebigen Gesetze zwingen wollen. Hier soll vielmehr jene feine Kultur des Spürens, Wahrnehmens, Horchens und Lauschens, des »sehenden Sehens«, wie Max Imdahl jene neue Wahrnehmung des Bildes nennt 67, wieder Raum gewinnen. Denn wie M. Henry es unter Verweis auf Irenäus ausdrückt: »Das Fleisch ist fähig, Gottes Kraft aufzunehmen und festzuhalten.« 68 Das nennt Henry das »Cogito des Fleisches«, sozusagen die christliche Gestalt des Cogito. 69 Sitz im Leben, Ursprung dieses Fleisches ist für Henry das Leben selbst und nicht mehr die Welt, auch nicht mehr ein Sein, wie es letztendlich durch die intentionale Struktur des Bewusstseins intendiert war. Jene viel »ursprünglichere Leiblichkeit« ist für Henry »transzendental, nicht-intentional, nicht-sinnlich«; ihr Wesen besteht im Leben selbst. 70 Mit Leben meint Henry die Fähigkeit zur Selbstaffektion. »Auf diese Weise ist die Offenbarung des Lebens eine Selbstoffenbarung. … Ihre phänomenologische Materie ist die reine 123 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
II Wahrnehmung und Spiritualität
Affektivität – die radikal selbstimmanente Selbstaffektion, welche nichts anderes als unser Fleisch ist.« 71 Rückkehr zum Leben selbst heißt dann Rückkehr zu einem Sein, das allem Leben zugrunde liegt, zu dem einzig tragenden Grund, der selbst das Leben ist, nämlich Gott. »Von Gott allein kann gesagt werden, dass er naturgemäß das Leben ist«, schrieb Cyrill von Alexandrien. 72 Deshalb kann die Neuentdeckung eines christlichen »cogito« in der Gestalt des Fleisches zu einer neuen Metaphysik führen. Wenn die Begriffe Körper, Leib und Fleisch und die entsprechenden Betrachtungsweisen auf das Kompositum Mensch, der als lebendiger zugleich materielles und geistiges Wesen ist, angewandt werden, dann zeigt sich, dass Leben und Sein einander auch als metaphysische Kategorien nicht ausschließen. Finden wir im Leib als dem lebendigen Fleisch den Ort eines wahren Kontaktes mit Gott, weil er selbst in dieses Fleisch hinabgestiegen ist, weil er es als Wohnort angenommen hat, dann erscheint die Rückkehr zu dieser transzendentalen Leiblichkeit des Fleisches als unerlässliche geistliche Übung. »Transzendenz« meint hier nach Henrys Worten »die Immanenz des Lebens in jedem Lebendigen« 73. Es ist jene »UrPassibilität, in welcher das absolute Leben sich ursprünglich an sich selbst offenbart« 74. Einfacher gesagt, die Einheit, die unauflöslich und dauerhaft ist, weil »der Mensch den Dualismus nicht kennt […] Ich und Fleisch sind eins«, tritt erstmals ins Bewusstsein. 75 Diese Einheit wird nicht immer sofort wahrgenommen. Werde ich mir ihrer aber bewusst, dann wird mir auch ihr Ursprung klar. Dieses Leben im Leib bzw. im Fleisch erscheint dann als das wahre Zu-sich-selbst-Kommen, als das, was dem Bewusstsein zugrunde liegen muss. 76 Die Wiederentdeckung, dass das »Fleisch« Ort der Offenbarung des Lebens selbst ist, kann ein gangbarer Weg zu Gott werden. Mit Henrys Worten ist es jene »Ur-Intelligibilität«, die »ohne das Denken Zugang zu sich hat. […] Es ist eine Intelligibilität, welche dem Denken nichts verdankt, da sie sich 124 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Leibgedächtnis
an sich selbst vor allem Denken und unabhängig von diesem offenbart hat, und nur sich selbst verdankt, sich an sich selbst zu offenbaren.« 77 In der Radikalität solcher Formulierungen verschwinden die Grenzen zwischen Fleisch, Leben und Sein. Ist nicht jene Ur-Intelligibilität, die alles Wirkliche trägt, die sich aber selbst nicht irgendeiner vorausgehenden Wirklichkeit verdankt, auch jene Ur-Gegenwart, jener personale Gott, der sich mit Namen vorstellt: »Ich bin der Ich-bin-da« (Exodus 3,14)? Ist nicht das Leben selbst jenes Sein, aus dem alles Seiende hervorgeht? Ob wir diese Wirklichkeit in der Kategorie einer Ur-Intelligibilität, einer Offenbarung oder einer Emanation denken, ist nicht relevant für einen spirituellen Zugang; denn für ihn steht an erster Stelle nicht eine Reflexion über etwas, sondern eine Erfahrung von etwas. Bestreitbar ist deshalb auch die Widerlegung Husserls, jene clara et distincta perceptio einer cogitatio sei unmöglich. Wo sie gegeben wird, da ist sie präsent. Die Frage, wie ich diese Ur-Erfahrung zu denken vermag, kommt, wie Henry mit Recht bemerkt, erst an zweiter Stelle. Ob in der Erfahrung eines Spürens und Fühlens, eines Affiziert-Seins im Fleisch oder im klaren Schauen, beispielsweise eines Lichtstrahls (vgl. Teil IV, 5), immer vollzieht sich das Gewahr-Werden einer transzendenten Wirklichkeit in der Immanenz dieses Lebens. Dass dieses Leben in phänomenologischer Sicht untrennbar Körper und Geist, Leib und Seele miteinander verbindet, haben wir zur Genüge thematisiert. Im Gewahr-Werden dieses Lebens wird jener Grund spürbar, der alles trägt, aber von nichts getragen wird außer von sich selbst.
5)
Leibgedächtnis
Der Leib wird als Speicher aller Erfahrungen aufgefasst, der niemals wieder hergibt, was er einmal aufgenommen hat. Alle Eindrücke und Empfindungen werden in sinnlichen Erinnerungen aufbewahrt. Sprichwörter wie »Gebranntes Kind 125 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
II Wahrnehmung und Spiritualität
scheut das Feuer« geben diese Einsicht wieder. Dadurch wird das Bewusstsein im Alltag entlastet. Nicht nur Erlebtes oder Erfahrenes prägt sich ein, sondern auch die Art und Weise des Erlebens oder Erfahrens. Sie variiert von einem Leib zum anderen, d. h. von Individuum zu Individuum. Achte ich auf die verschiedenen Weisen, wie ein Stempel sich ins Wachs einprägt, werde ich ähnliche Unterschiede bald auch bei Menschen feststellen: Was für den Einen gut ist, funktioniert beim Anderen nicht. Diese Art der Wahrnehmung lässt sich schwer in Begriffe fassen. »Man kann daher das implizite Wissen des Leibes nur mit der Wendung ›wie es ist …‹, ›wie es sich anfühlt …‹ umschreiben«, schreibt T. Fuchs. 78 Das Gedächtnis, das dem Leib eigen ist und sich vom mentalen Erinnerungsvermögen unterscheidet, ist die Instanz, die uns Kontinuität in der Wechselhaftigkeit der Situationen vermittelt. 79 »Das Leibgedächtnis beruht daher auch nicht auf fixierten Bewegungsprogrammen oder Wahrnehmungsschemata, sondern vielmehr auf bestimmten ›Stilen‹ oder ›Melodien‹ des SichBewegens und Wahrnehmens, die in ein spezifisches leibliches Befinden eingebettet« 80 sind. Das Leibgedächtnis ist das Fundament der Persönlichkeit. Selbst wenn alle kognitiven Fähigkeiten versagen – wie im Fall einer Demenzerkrankung –, bleibt die Persönlichkeit eines Menschen aufgrund des Leibgedächtnisses erhalten. 81 Alle Entscheidungen im Laufe eines Lebens sind reich an Konsequenzen, da sie im Leibgedächtnis gespeichert bleiben. Sie hinterlassen Spuren, die zukunftsbildend sind. »Im Entscheiden bewegen wir uns im Horizont der Zukunft, mit jeder Entscheidung ist eine Antizipation des eigenen Werdens verbunden«, schreibt T. Fuchs. 82 Der Mensch ist für die Kontinuität geschaffen. Sie ist im menschlichen Leib angelegt; deshalb »bedürfen gelingende Entscheidungen eines affektiv-leiblichen Spürsinnes, in dem frühe Erfahrungen implizit enthalten sind und über dessen stummes Votum die Person nicht ohne Gefahr der Entfremdung hinweggehen kann« 83. 126 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Leibgedächtnis
Wer es versäumt den Leib einzubeziehen, büßt an Effektivität ein und vergeudet Ressourcen. Dies gilt für alle Bereiche, in denen Wissen, also auch Glaubenswissen, vermittelt werden soll. Deshalb misst eine Spiritualität der Wahrnehmung der Leiblichkeit eine große Bedeutung zu. Was ist unter Leiblichkeit zu verstehen? Nichts anderes als die Tatsache, dass unser menschliches Dasein sich in der Welt und im Leib abspielt. »Unser natürliches waches Ichleben ist ein beständiges aktuelles oder inaktuelles Wahrnehmen. Immerfort ist die Dingwelt und in ihr unser Leib wahrnehmungsmäßig da«, schreibt Husserl. 84 Diese Wende zum Leib ist für Hans Jonas die größte Errungenschaft der Phänomenologie. Offenbar wird hier G. Bachl zufolge eine gravierende Lücke geschlossen und eine dringende Frage angegangen, die schon lange auf eine adäquate Antwort wartete. 85 Die Leiblichkeit ist »Grund und Prinzip, nicht Gegenstand der Erfahrung«, schreibt T. Fuchs. 86 Der Leib ist unser Medium zur Welt, und unser Leibgedächtnis ist der umfassende Speicher all dieser Erfahrungen mit und in der Welt. Die Bedeutung der Leiblichkeit für erkenntnistheoretische Prozesse gilt bereits im profanen Bereich. Leibhaftiges Empfinden ist »lebendige Kommunikation mit der Welt« 87. Sie bestätigt sich noch einmal deutlich gerade in einer Kultur, die den menschlichen Leib durch Maschinen und Roboter aller Art ersetzt hat. Das fängt bei der Landwirtschaft an und setzt sich fort in alle Bereiche des menschlichen Handelns. Weitergabe von Wissen und Können geschieht stets mit dem Leib, nie ohne ihn, denn: »Weder das Können des Handwerkers noch die diagnostische Intuition eines Arztes lässt sich dem Lernenden diskursiv vermitteln – er muss es selbst ›am eigenen Leib‹ erfahren, indem er den Erfahrenen nachahmt und dessen Umgang mit dem Gegenstand nachvollzieht«, so T. Fuchs. 88 Diese Grunderkenntnis bestätigt sich auch in religiösen Bezügen: Wachsende Unsicherheit in der eigenen Identität und das Erleben eines tiefgreifenden Bruchs bei der Weitergabe des Glau127 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
II Wahrnehmung und Spiritualität
bens machen es notwendig, sich auf die leibliche Verankerung der Vollzüge, die den Glauben prägen, neu zu besinnen. Der Leib selbst, so Benedikt XVI., hat »theologischen Charakter« 89. Gerade wenn die Weitergabe einer geistlichen Tradition auf dem Spiel steht, verdient er alle erdenkliche Aufmerksamkeit.
6)
Aufmerksamkeit
Aufmerksamkeit wird nur durch Übung erworben. Mein Wesen prägt mein Handeln, aber umgekehrt prägt mein Handeln auch mein Sein. Am Anfang steht die Haltung der Achtsamkeit und sie entwickelt sich im günstigen Fall zu einem Habitus, einer festen Gewohnheit, die wesensmäßig zu mir gehört. Um diesen Zusammenhang wussten bereits die Wüstenväter, die Meister des geistlichen Lebens in der Antike. 90 Die Übung der Aufmerksamkeit lädt den Menschen ein, aus der Haltung des Selbstverständlichen und damit weitgehend automatisierten Alltäglichen herauszutreten. Die kleinsten Handlungen können eine sakrale Dimension erwerben, wenn sie achtsam ausgeführt werden. Frucht der Aufmerksamkeit ist es, auch dem scheinbar Bedeutungslosen größte Beachtung zu schenken. Entscheidend ist nicht der Wert der Dinge selbst, sondern unser Blick darauf, die Art und Weise, wie wir sie betrachten und mit ihnen umgehen. In der Regel Benedikts heißt es: Der Cellerar (Verwalter) soll »alle Geräte und den ganzen Besitz des Klosters als heiliges Altargerät betrachten« (31,10). Mehr noch als Gegenstände verdienen Menschen diese achtsame Haltung und diesen liebevollen Blick, unabhängig von ihrem Aussehen oder ihrer Herkunft: »Vor allem bei der Aufnahme von Armen und Fremden zeige man Eifer und Sorge, denn besonders in ihnen wird Christus aufgenommen. Das Auftreten der Reichen verschafft sich ja von selbst Beachtung« (53,15). In einer von Medien dominierten Gesellschaft wird 128 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Aufmerksamkeit
oft dem Banalen, Vulgären, Sensationellen, Skandalösen oder sogar Schädlichen mehr Aufmerksamkeit, mehr Raum, mehr Gewicht geschenkt als dem Edlen, Wahren und Schönen. Den Weg der Achtsamkeit zu gehen scheint heute besonders schwierig zu sein. Menschen, die ihrem Leben eine spirituelle Prägung geben möchten, suchen in einer Welt, die Zerstreuung und Ablenkung bietet, intuitiv nach Wegen, die zu mehr Konzentration führen. Meditationswege wie Yoga und Zen sind deshalb beliebt. Man tritt in eine andere, mit Leib und Seele spürbare Wirklichkeit ein. Achtsamkeit und Aufmerksamkeit spielen beim Streben nach einer bewussten spirituellen Gestaltung des Lebens eine große Rolle. Wer Gott sucht, muss damit rechnen, gegen Dämonen, Anfechtungen und allerlei Gedanken kämpfen zu müssen. Als Heilmittel wurde Ordensleuten früher das Bleiben im »Kellion«, in der Zelle, verordnet. Sich festlegen, sich verankern an einem Ort, drückt etwas von der Entscheidung aus, nicht umherschweifen zu wollen, auch nicht in Gedanken. So betrachtet erscheint die Aufmerksamkeit als Schlüssel zum geistlichen Leben. Heute könnte das Bleiben-im-Leib als eine neue Form des monastischen Bleibens im Kellion betrachtet werden. Gerade in einer Zeit höchster Mobilität wird der Wert des inneren Bleibens, des In-sich-selbst-verankert-Seins neu entdeckt. Wir leben tagtäglich in vielen Automatismen, die uns entlasten. Aufmerken muss ich im Normalfall erst dann, wenn die Gewohnheit versagt. Worin besteht die Haltung der Achtsamkeit? B. Waldenfels definiert sie in seiner Phänomenologie der Aufmerksamkeit »als ein Zwischengeschehen, das sich weder auf etwas stützen kann, das uns auffällt, noch auf jemanden, der aufmerkt, das also weder in objektiven Daten noch in subjektiven Akten einen zureichenden Grund findet … (sie) ist und bleibt angewiesen auf Zwischeninstanzen, die Erfahrung ermöglichen«. 91 Das, was um uns herum geschieht, fordert uns zur Antwort auf. Diese Antwort kann zur bloßen Reaktion verkom129 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
II Wahrnehmung und Spiritualität
men oder aus einem bewussten, überlegten, reifen Handeln hervorgehen. 92 Erst dann zeigt sich, wie frei oder wie fremdbestimmt wir sind. Deshalb gibt es so etwas wie eine »Aufmerksamkeitsgeschichte, die ihre eigenen Haltestellen und Wendepunkte hat« 93. Durch Ereignisse werden wir immer in die eine oder andere Richtung gezogen. Jede neu gewonnene Erkenntnis beinhaltet eine Wende der Aufmerksamkeit. Wenn ich sie unter diesem Blickwinkel betrachte, kann ich, auch wenn es schwer zu verwirklichen ist, meine eigene Geschichte neu buchstabieren lernen. Wenn die Automatismen des Alltags zu einer Verengung führen, geht es darum, sie zu deaktivieren, damit mir eine bewusste Gestaltung meiner Lebenswirklichkeit gelingt. 94 Wenn ich aufmerksamer leben will, gelingt mir das nur durch eine Rückkehr zur leiblichen Erfahrung. »Es ist die Leiblichkeit unserer Selbst, die als ursprünglicher technischer Apparat (als Register-, Bewegungs-, Koordinationsapparat) und als ursprüngliches Medium (als Urbild, Urskript, Urlaut, Urtastatur) fungiert«, schreibt B. Waldenfels. 95 Alle Techniken erweitern nur unser ursprüngliches Potential. Jede Zange ist eine Erweiterung der natürlichen Daumen-Zeigefinger-Zange, die in der Hand angelegt ist. Merleau-Ponty formuliert: »Der Leib ist unser Mittel überhaupt, eine Welt zu haben.« 96 Aufmerken, sich Hinwenden, Horchen, Hinschauen, sich einer Sache Zuwenden oder von ihr Abwenden – all das ist leibliches Geschehen. »Der aktuell aufmerkende Leib ist eine Art Übergangswesen. Er bewegt sich auf halbem Weg zwischen einem spontanen Leib, über den wir als Aufmerkende noch nicht verfügen, und einem habituellen Leib, über den wir nicht mehr gänzlich verfügen und der uns immer wieder in den Schlaf der Gewohnheit zurücksinken lässt.« 97 Ohne die Medialität des Leibes ist so etwas wie Aufmerksamkeit im Unterschied zu Akten des Sich-Vorstellens oder Wollens undenkbar. Aufmerken verlangt nach einer spürbaren, wenn auch geringen Spannung des Leibes. Das Aufmerken oder Aufmerksam-Sein ist 130 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Aufmerksamkeit
ein Zustand des Bewusstseins, der vom Gehirn aktiv mitgetragen wird. An dieser Stelle kommen sich Neurobiologie, Neurophysiologie und Phänomenologie sehr nahe. 98 Nur eine dualistische Vorstellung von Leib und Geist erlaubt, das Problem der Aufmerksamkeit zu umgehen. Wird sie überwunden und tritt an ihre Stelle eine auch gedanklich und phänomenologisch unzerlegbare Einheit des Eigenleibs, dann wird die aufmerksame Haltung Ausdruck des vom Geist durchdrungenen Leibes oder des vom Leib bestimmten Geistes. Wenn der Leib die Art und Weise mitbestimmt, wie die Welt für uns da ist, dann ist er auch für die Konstitution der religiösen Welt maßgeblich. Diese Konstitution geschieht im Akt des Aufmerkens immer wieder von neuem. Wenn wir auf etwas aufmerksam geworden sind, dann können wir uns der Macht dessen, was uns bewusst wird, nicht mehr entziehen. Was ich nicht wahrnehme, existiert für mich nicht und belastet mich auch nicht. Wenn ich aber einmal aufmerksam geworden bin, kommt die Kategorie des Müssens ins Spiel. 99 Auf dem Vorgang des Aufmerkens liegt ein Zwang, ein »Nichtanderskönnen« 100. Dennoch bleibt Aufmerksamkeit als Antwort ein Akt der Freiheit. Es gibt einen Spielraum für die Gestaltung der Antwort und deren Intensität. Aufmerksamkeit ist das Tor zum Neuen, bisher noch nicht Erkannten, Eingesehenen und Erfahrenen. Sie ist stets auf ein Mehr ausgerichtet. Bin ich unaufmerksam, wende ich mich ab und bleibe in meinen bisherigen Erfahrungen und Kategorien gefangen. Je fester und eingefahrener sie sind, umso größer muss die Erschütterung werden, damit die Aufmerksamkeit endlich siegen kann. In der Aufmerksamkeit, die ich der Welt und dem Anderen schenke, schenke ich immer mehr als das, was ich besitze. Höre ich z. B. jemandem wirklich aufmerksam zu, so hat er die Möglichkeit, sich ganz anders zu zeigen, als er bisher von mir wahrgenommen wurde. Erst diese bedingungslose Aufmerksamkeit ermöglicht ihm, in diesem Augenblick er selbst zu 131 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
II Wahrnehmung und Spiritualität
sein, und ermöglicht zugleich mir, dass meine Wahrnehmung sich ändert. Durch Einübung in die Aufmerksamkeit wird die Wahrnehmung wesentlich modifiziert. Vernachlässige ich diese Übung, so gewinne ich vielleicht neue Kenntnisse, doch sie werden ohne konkreten Bezug zu meinem Leben bleiben. Mein Verhalten wird sich nicht ändern. Um das Gute muss man nicht nur wissen, sondern man muss seine Bedeutung so spüren, dass man nicht anders kann als gut zu handeln. Würde jeder nach dem kategorischen Imperativ, wie Kant ihn formuliert hat, handeln, so würde das Unrecht aus der Welt geschafft. 101 Aber nicht das Wissen ändert das Verhalten, sondern das Spüren, dass das Gute gut ist, und zwar nicht nur in sich, sondern auch für mich im Hier und Jetzt. So ist die Aufmerksamkeit Bedingung für Veränderung. Je aufmerksamer ich bin, desto mehr bin ich. Die Jüdin und Philosophin Simone Weil, die ein Leben lang an der Schwelle zur katholischen Kirche geblieben ist und doch auf sehr radikale Weise den christlichen Glauben gelebt hat, stellt die Aufmerksamkeit ins Zentrum ihrer Gottund Sinnsuche. Aufmerksamkeit wird zur Nahtstelle zwischen Profanem und Heiligem. Aufmerksamkeit ist das Tor zum Gebet. 102 »Die Verbindung von Aufmerksamkeit und Gebet impliziert, dass die Aufmerksamkeit nicht nur ein Ziel oder einen Gegenstand hat, sondern einen Adressaten, der unserer Hinwendung zuvorkommt«, schreibt B. Waldenfels. 103 Simone Weil betont die Aufmerksamkeit so stark, um der von ihr so schmerzlich empfundenen Intellektualisierung des Glaubenslebens entgegenzuwirken. In der Aufmerksamkeit sammelt sich der Mensch und der Geist bringt seine höchsten Leistungen hervor. »Obwohl man dies heutzutage nicht zu wissen scheint, ist die Ausbildung unseres Vermögens zur Aufmerksamkeit dennoch das rechte Ziel des Studiums und beinahe das Einzige, was den Unterricht sinnvoll macht«. 104 Die Einheit des Seele-Körper-Gefüges, das der Leib ist, 132 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Aufmerksamkeit
wird wieder erfahrbar. Es geht mit S. Weils Worten also darum, »nicht neue Dinge begreifen zu wollen, sondern durch immer größere Geduld, Anstrengung und Methode dahin zu gelangen, die offenkundigen Wahrheiten mit seinem ganzen Selbst zu begreifen« 105. Dieses ganzheitliche Begreifen-Wollen kennzeichnet ihr kurzes, aber intensives Leben und führte sie von der Philosophie zu manueller, sogar mechanischer Arbeit. Der Königsweg um dieser Wirklichkeit gewahr zu werden ist der Weg der Meditation. Jahrhunderte lang sind Menschen – im Osten noch mehr als im Westen – diesen Weg gegangen. Die Einübung einer allumfassenden Achtsamkeit und Aufmerksamkeit vermag es, Leib und Geist zu sammeln. Angestrebt ist nicht, in einer heillosen Nabelschau um sich selbst zu kreisen, sondern das »redi in te«, die Rückkehr in die innere Kammer des Geistes und des Leibes als Ort des wahren Selbst, das erst im Sich-Lösen und Sich-Loslassen zu erreichen ist, damit jene größere Wirklichkeit erfahrbar wird und so das kleine Ich wirklich auch stirbt. Geht ein Buddhist diesen Weg, dann wird er ihn als Buddhist gehen und auf ihm Buddhist bleiben. Geht ein Christ diesen Weg, wird er ihn als Christ gehen und dabei Christ bleiben. Ziel ist ein Zu-sich-Kommen, ein Finden dessen, was man im Grunde ist, und nicht eine Entfremdung. Es geschieht eine innerliche Verwandlung, die nach außen Früchte tragen wird. Die Fähigkeit, sich dem Unbekannten zuzuwenden, ihm Raum zu schaffen, eine immer neue Offenheit für das Größere zu bekommen, kann und muss eingeübt werden. Das ist wie ein »Gang durchs Nadelöhr« 106. So heißt Aufmerken auch Hören auf das, was immer mehr enthält als das, worauf ich im Augenblick antworte. Die Aufforderung »Höre, Israel!« (Deuteronomium 6,4) provoziert als Antwort »Rede, Herr, dein Diener hört« (1. Samuel 3,9), eine grundsätzliche Bereitschaft, eine Haltung und nicht eine Bestätigung, dass die Inhalte einer Botschaft zur Kenntnis genommen wurden. 133 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
II Wahrnehmung und Spiritualität
7)
Schulung der inneren Wahrnehmung: Einübung in die Stille im Geist des Zen
a)
Der Meditationsweg fremder Religionen und das Christliche
Die Begegnung mit den ostasiatischen Religionen birgt in sich eine Chance, weil sie zu einer Besinnung auf die eigenen Wurzeln einlädt. Es bedeutet konkret, dass diese über Jahrhunderte hindurch bewährten Praktiken der Einübung in die Stille und die Achtsamkeit noch stärker in die offizielle Glaubenserziehung und Vermittlung unserer christlich-abendländischen Tradition Eingang finden müssen. In den Anfängen des Christentums wurden jüdische und heidnische Gebräuche erfolgreich einbezogen. Was über die Vermittlung der frühen Kirchenväter an Gedankengut aus der heidnischen griechischen Philosophie, die ihrerseits selbst von indischen Quellen gespeist war, in das Christentum eingeflossen ist, lässt sich nicht mehr ermessen. Kirchenväter wie Justin und Origenes erkannten in den Werken Platons und der Stoa »Samenkörner der Wahrheit« (logoi spermatikoi) und bezogen sie auf den wahren Logos, Christus. Für Justin ist Christentum eindeutig die beste Philosophie. Man darf hoffen, dass die Kirche im dritten Jahrtausend vielleicht japanisches und indisches Erbe mehr berücksichtigt und integriert. Die Konzilserklärung »Nostra aetate« (1965), Lebenswerke wie die des Jesuiten Hugo M. Enomiya-Lassalle und des Benediktiners Henri Le Saux lassen auf ein Weitergehen in dieser Richtung hoffen. »Zen-Buddhismus hat viel mit der alten Stoa zu tun. Die geistlichen Schulen Indiens ähneln dem Neuplatonismus« 107, bemerkt C. Rutishauser. Die starken Veränderungen in unserer Gesellschaft sind ein Appell, eine Neuorientierung in der Glaubensvermittlung zu wagen. Das genuin Christliche soll nicht untergehen, es soll aber neu genährt werden und zu seinem verschütteten Kern zurückfinden. 134 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Schulung der inneren Wahrnehmung
Der realen Gefahr, in eine nicht-christliche Weltanschauung und eine antikirchliche Haltung abzugleiten, muss man vorbeugen. Man muss fragen dürfen: Wie viel übernehme ich von einem Inhalt, wenn ich die Form übernehme? Diesbezüglich haben die Arbeiten von Hugo M. Enomiya-Lassalle und Hans Waldenfels, um nur zwei Namen zu nennen, schon Wesentliches geleistet. 108 Wenn man die Werke und das Leben Lassalles betrachtet, dann ist unter »mystischem Weg« nichts anderes zu verstehen als die volle Entfaltung des christlichen Lebens, das seine höchste Verdichtung im Wort des Apostels Paulus erreicht: »Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir« (Galaterbrief 2,20). Darin stimmt er mit dem Theologieverständnis von Bonaventura und anderen mittelalterlichen Mystikern überein. Theologie meint für sie Wachsen in der Erkenntnis Gottes. Dieses Wachsen bezieht sich auf Affekt und Intellekt. 109 So kommt man dem Wunsch, den der Philosoph Charles Taylor formuliert hat, näher: »Der rationale Geist müsse sich einer tieferen und volleren Instanz öffnen. Dabei soll es sich (zumindest teilweise) um etwas Inneres handeln, um unsere eigenen tiefsten Gefühle oder Instinkte. Daher müssten wir den Bruch heilen, den die von allen lösgelöste, distanzierte Vernunft in unserem Inneren verursacht hat, indem sie das Denken von Gefühl, Instinkt und Intuition getrennt hat. 110 Dieser bedauernswerte Zustand des Auseinanderklaffens von Verstand und Gefühl, Leib und Seele hat einen nicht geringen Einfluss auf das, was jedes Zeitalter für »normal« hält und was in einer anderen Zeit als übertrieben, deplatziert oder pathologisch bezeichnet wird. Dies macht es schwierig, einen Zugang zu Schriften zu finden, die über Erfahrungen einer anderen Zeit berichten. Denn die Kriterien für diese Art von Erfahrung sind abhängig von dem, was zu dieser Zeit als »normal« angesehen wurde. Für Lassalle ist »der ideale Teilnehmer am Zazen der gut formierte Christ, der im Zazen den Zugang zu einem vertieften Christentum sucht und den mystischen Weg beschreiten 135 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
II Wahrnehmung und Spiritualität
will« 111. Der hier gemeinte mystische Weg ist ein Weg der Bildung eines inneren Gespürs für die Wahrheit des Glaubens. Die Übung des Zazen, des Sitzens in der Stille, ist reine Erfahrung und erfordert nicht, dass ich meinen Ursprung vergesse oder meine geistige Verwurzelung verleugne. Es kann vielmehr sein, dass das eigene spirituelle Erbe wieder neu zum Sprudeln kommt, dass Erstarrtes neu zu leben beginnt und Verlorengegangenes wieder zum Vorschein kommt. Gerade die Kontinuität in der Übung macht sie zum wertvollen Werkzeug auf einem geistlichen Weg. Die Kritik Martin Bubers, dass »alle Versenkungslehre in dem gigantischen Wahn des in sich zurückgezogenen menschlichen Geistes gründet« 112, trifft nur dann zu, wenn der Meditierende in der Versenkung keinen nahrhaften Boden mehr für die Pflege einer hoffnungsvollen Beziehung zu einem je größeren und anderen »Du« findet. Es ist die Gefahr der transpersonalen Psychologie, die meditative Erfahrung in einem sublimen, rationalen Ergreifen und Begreifen verkommen zu lassen. 113 Es wird für den Christen darum gehen, sich im eigenen Leib zu sammeln, damit die existentielle Beziehung zu Christus als dem »Herrn und Gott« Raum gewinnt und ungeordnete Anhänglichkeiten an Kraft verlieren. Wie Benedikt es am Ende seiner Ordensregel formuliert, sollen die Mönche »Christus überhaupt nichts vorziehen« (72,11). Gott verlangt nach unserer ganzen Aufmerksamkeit. Wir können sie ihm schenken, wenn wir lernen, ganz im Augenblick zu leben. In der Meditationsgruppe »Stille und Wort«, die sich in der Abtei Mariendonk seit einiger Zeit regelmäßig trifft, halten wir beide Formen der Begegnung mit Gott, die in der Stille und die im Wort der Schrift, als wichtige Ergänzung und Vertiefung in der reinen Form nebeneinander. D. h. der Meditation in der Stille der Krypta folgt das Chorgebet, das liturgische Beten in der Vesper. Beide Formen sind »opus dei«. Denn es ist in gewisser Hinsicht eine Art »Arbeit«, sich auf Gott ganz einzulassen, auf sein Wirken und Handeln an uns. 136 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Schulung der inneren Wahrnehmung
In der Einübung einer kontemplativen Lebenshaltung ist viel aus der Übung des Sitzens in der Stille (in der buddhistischen Tradition, wie gesagt, Zazen genannt) zu gewinnen. Der ganze Körper wird zum Sprachrohr des Geistes. Dadurch wird er wirklich als Leib sichtbar und doch zugleich unsichtbar, weil eine Durchsichtigkeit erlangt wird, die jeder Selbstbehauptung und Eigenleistung entgegensteht. Die Einübung in eine bewusste, vom Atem-Geist (hebräisch ruach oder nefesch, griechisch pneuma, lateinisch spiritus) durchdrungene aufrechte Haltung hilft, einen Abstand vom »kleinen Ich« zu schaffen. Kern der Erfahrung im Zazen ist die Wirkkraft des Loslassens. Im Vordergrund steht eine Praxis, nicht ein Glaubensbekenntnis. Zum Erwerb dieser meditierenden Haltung gehört zunächst die Erdung, das Bewusstwerden der Bedeutung des Bodens. »Es mag paradox erscheinen, dass der Weg zur Transzendenzerfahrung zunächst zurück auf die Erde führt, aber ›Grounding‹ ist die Eingangstür zum Sitzen als Meditation«, schreibt K. Baier. »Es ist nicht nur für das Sitzen von grundlegender Bedeutung. Jede Art von spiritueller Praxis sollte mit Erdung anfangen, um von vornherein einen Eskapismus zu vermeiden, der den Boden der Realität verlässt.« 114 Zur Erdung kommen dann die Aufrichtung und die Zentrierung hinzu. Diese Zentrierung zur Leibmitte bringt Baier mit dem Herzen zusammen. Im Innersten des Menschen befindet sich der eigentliche Raum der Begegnung mit Gott. 115 Die Bibel nennt diesen Raum »Herz« und meint damit die Mitte des Menschen. Wo genau im Körper dieser Ort angesiedelt ist, bleibt offen. Moderne Menschen haben sofort das Organ in der Brust im Sinn, das wie eine Pumpe Blut durch unseren Körper befördert. So eindeutig ist die Lokalisierung des Herzens in der Bibel nicht. Auch Augustinus, der Denker des menschlichen Herzens in der Antike, will sich nicht festlegen. 116 Der heilige Benedikt bringt in seiner Regel Herz und Gebet zusammen. Nicht mit »vielen Worten« soll der Mönch 137 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
II Wahrnehmung und Spiritualität
beten, sondern »mit einem reinem Herzen« (20,3) und nicht mit »lauter Stimme«, sondern »unter Tränen und mit wacher Aufmerksamkeit des Herzens« (»sed in lacrimis et intentione cordis«, 52,4). Diese beiden letzten Worte sind vielleicht die treffendste Definition für die Übung des Zazen. Sie fassen die strenge Körperhaltung und die Ausrichtung des Geistes zusammen. Das aufmerksame Ausgerichtet-Sein ist ein Geschenk Gottes, der das Herz eines Menschen öffnet. Dies wird von der ersten europäischen Christin, der Purpurhändlerin Lydia in der Apostelgeschichte, berichtet: »Sie war eine Gottesfürchtige und der Herr öffnete ihr das Herz, so dass sie den Worten Paulus aufmerksam lauschte« (Apostelgeschichte 16,14). Karl Rahner gibt folgende Definition des Herzens: »Herz nennen wir […] die Einheit in der Vielfalt des Menschen, jenen letzten Grund des Wesens eines Menschen, aus dem heraus die Vielfalt seines Wesens, Denkens und Tuns ausgeht, aus dem sich all das entfaltet, was er ist und wirkt und in dem dieses alles doch ursprünglich eines war, im Ausgang eins bleibt und endlich eins wird.« 117 Bis zum tiefsten, tragenden Grund seiner Existenz durchzudringen heißt, sich jenem Grund, der auch das Leben ist, nämlich Gott, ganz anzuvertrauen. Gerade im Kontakt mit dem Boden oder mit einem tragenden Fundament bekommt der westliche Mensch einen neuen Zugang zu sich selbst und zu Gott. Er kann erfahren, dass »der Gott aller Gnade« ihn »wieder aufrichten, stärken, kräftigen und auf festen Grund stellen« kann (vgl. 1. Petrusbrief 5,10). Er muss sich nicht selbst tragen, sondern wird zutiefst von Ihm getragen, der Ursprung alles Lebens ist. Durch die Grunderfahrung des Getragenseins werde ich fähig loszulassen. So gewinne ich eine Freiheit, die mir niemand mehr wegnehmen kann. Goethe schrieb von der Stille:
138 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Schulung der inneren Wahrnehmung
»Das Beste ist die tiefe Stille, in der ich gegen die Welt lebe und wachse und gewinne, was sie mir mit Feuer und Schwert nicht nehmen können.« 118 Die eingeübte Haltung bewährt sich aber erst, wenn die ethische und die soziale Komponente ebenfalls zum Zuge kommen. Der Mensch, der sich regelmäßig Zeit zum Meditieren nimmt und eifrig übt, wird aufmerksamer und feinfühliger für die Nöte der Menschen um ihn herum. In ihm wächst Gespür für das, was im eigenen Leben »angesagt« ist. Manche reden dauernd von der Stille und wie wichtig sie ihnen angeblich ist. Sie müssen sich Tadel und Zurechtweisung gefallen lassen: »Du redest dauernd von der Stille, bist dabei aber selbst so hektisch und ungeduldig; da kann doch etwas nicht stimmen.« Ja, in der Tat, da stimmt etwas nicht. Die Stille spricht aus sich selbst. Sie quillt hervor wie das klare Wasser einer Bergquelle. Allerdings sind es viele Menschen (die Autorin gehört zu ihnen), die die Stille lieben und sie üben, die sich aber nicht auf den Weg machen, weil sie es schon können, sondern weil sie es brauchen. Wer begriffen hat, dass wie E. Rosenstock-Huessy es schreibt, »die Matrizen der Sprache im Schweigen liegen, im Verstummen vor der Wortwerdung«, dass »sie die Vor-lagen sind, was vorliegen muss, damit gedacht und gedichtet und geboten und gebetet werden kann«, dann wird er, wenn er es noch nicht kann, die Übung willentlich immer neu ergreifen, weil er anfänglich schon ergriffen worden ist. Die Stille ist das, »was aber vorliegen muss, damit Ursprache entspringen kann, ist ein Verstummen aus diesen 139 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
II Wahrnehmung und Spiritualität
Urgründen der Seele, die zwar alle im Verstummen sich äußern, aber jeder eine andere Urform des Schweigens darstellen« 119. Die Stille ist die Zeit der Aussaat. Ernte und Früchte gehören dem Alltag an, der nichts »Spektakuläres« an sich hat. Bereits 1970 schrieb Karl Rahner, »dass die zeittypische Existenz, die die Vermittlung allmählich leisten wird, nicht so sehr die Existenz des weisen, kontemplativen Heiligen ist, sondern die des unpathetisch und schweigend seine einsame Verantwortung tragenden Menschen, der für die anderen selbstlos da ist« 120. Der so beschriebene Mensch gleicht überraschend dem Bodhisatva, dem Erleuchteten, dem Selbst-Erwachten bestimmter buddhistischen Traditionen, dessen Schweigen und Selbstlosigkeit aus sich selbst heraus zu reden vermag und der deshalb weder Lehre noch Worte braucht. Er ist einfach, was er ist. Er ist bereit, »in sich selbst hineinzuhören, das schweigende Wort seiner eigenen Existenz zu vernehmen«. Er ist gewillt, »sich von seinem selbstherrlich verfügbaren und darum ›klar‹ genannten Wissen weg in das Geheimnis hineinführen zu lassen, das uns ratlos macht, das verfügt und über das nicht verfügt wird« 121. Das ist, was er den anderen, aber auch sich selbst zu sagen hat. Dieses Wort kommt aus der Erfahrung tiefer Stille. Deshalb ist seine Existenz selbst die Versiegelung dieses Wortes. Als Übergang zwischen der Annäherung im Wort und der Tiefe der Stille selbst, die immer zu dem spricht, der sich in sie hineinbegibt, mögen im Folgenden die Gedichte eines Benediktiners dienen: grundbesitz 122 sitzen hier da überall jetzt 140 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Schulung der inneren Wahrnehmung
bodenprobe bodenbereitung acker-ruhe aussaat und ernte in einem
b)
Von der Notwendigkeit der Stille
Die heutige säkularisierte Welt ist eine Welt voller Lärm. Laut sein heißt existieren, heißt wahrgenommen werden. Lärm aber vertreibt Gott aus den Gedanken und aus dem Herzen des Menschen. Lärm treibt zur Flucht und eine besondere Form der Flucht ist der Rausch, das »Ganz-außer-sich-Sein«. Die Destruktivität des Lärms wird auf drei Ebenen erfahrbar. Das Verhältnis zur Welt, zum Du und zum Ich wird gestört. Je länger ein Mensch dem Lärm ausgesetzt ist, umso größer der Schaden. Will man wieder zu einem heileren Verhältnis zur Welt, zum Anderen und zu sich selbst finden, wird Stille unverzichtbar. Die Stille setzt dem unerbittlichen Beschleunigungsprozess unseres Lebens ein Ende, lässt selbst die Zeit zum Stillstand kommen. Sie bringt den Menschen in Kontakt mit dem Wesentlichen. Es ist eine Krankheit unserer Zeit, dass der Mensch unfähig wird, nur bei einer Sache zu verweilen. Damit kommt ihm auch die Fähigkeit zur Kontemplation abhanden. »Gerade die Unfähigkeit, kontemplativ zu verweilen, kann die Fliehkraft erzeugen, die zu einer allgemeinen Hast und Zerstreuung führt. Letzten Endes lassen sich sowohl die Beschleunigung des Lebensprozesses als auch der Verlust des kontemplativen Vermögens auf jene historische Konstellation zurückführen, in der der Glauben abhanden gekommen ist, dass die Dinge aus sich heraus da sind und in ihrem So-Sein ewig verbleiben.« 123 So wird Stille zu einer Überlebensfrage für die geistliche Dimension des Menschen. Wenn er seine Seele retten will, wird er in die Stille fliehen. Der erste Schritt 141 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
II Wahrnehmung und Spiritualität
in die Stille besteht darin, sich der Reizüberflutung bewusst zu entziehen. Es entsteht eine Fluchtbewegung zur Stille hin bzw. – wenn sie nicht unsere Erwartungen erfüllt – aus der Stille heraus. In der Stille ist Ablenkung unmöglich, weder von außen noch von innen. Sie wirft den Menschen auf sich selbst zurück und macht alles hörbar, auch das, was er lieber verdrängen möchte. Hier kann sich die innere Stimme wieder zu Wort melden mit Fragen und Antworten, die nicht immer mit dem übereinstimmen, was man sich im Alltag einzureden versucht. Wer in der Stille daheim sein kann, hat also schon viel erreicht. Die Stille auszuhalten verlangt Ausdauer, Mut und Vertrauen. Was nehme ich mit in die Stille? Immer mich selbst, so wie ich im Augenblick bin, in meiner jetzigen Verfassung, mit meinen Erfahrungen und Verletzungen. Die Stille ermöglicht mir eine Art »Bestandsaufnahme«, ein Landen bei mir selbst. Ich kann anders aus ihr herausgehen, als ich in sie hineingegangen bin. Wenn man sich an sie gewöhnt hat, bietet die Stille eine Art »Heimat«. Dort wird lautlos eine besondere, sehr differenzierte Sprache gesprochen. Sie wird erst wahrnehmbar, wenn ich mich ihr bewusst aussetze. zen-be-rufung 124 mit heiligem ruf gerufen (alle von) eine(r) stimme verweilen im klang dieser stimme sich niederlassen im schweigen und nach hause kommen sich beheimaten lassen im geheimnis
142 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Schulung der inneren Wahrnehmung
c)
Stille und Wort
Die Stille eröffnet einen Raum für den Austausch zwischen Gott und Mensch. Es ist ein Raum, in dem beide zu Wort kommen können, paradoxerweise in der Erfahrung des Verstummens. Es gilt innezuhalten und das Gebot, nicht zu »plappern wie die Heiden« (Matthäus 6,7), zu verinnerlichen, bevor man jene Worte spricht, die das Grundgebet der Christen bilden: »Vater unser« (vgl. Matthäus 6,9). Das Bewusstsein, dass dieses Verstummen nötig, ja sogar heilsam ist, liegt begründet in der Unzulänglichkeit jedes Sprechens von Gott. »Der Gott der biblischen Offenbarung spricht auch ohne Worte: Wie das Kreuz Christi zeigt, spricht Gott auch durch sein Schweigen […]. Wenn Gott zum Menschen auch im Schweigen spricht, entdeckt ebenfalls der Mensch im Schweigen die Möglichkeit, mit und von Gott zu sprechen.« 125 Diese Worte von Benedikt XVI. sind eine Ermutigung für alle, die wie der emeritierte Papst den Weg der Stille innerhalb der Kirche gehen und sich wie er danach sehnen, dass dieser Weg immer mehr eine sichtbare Gestalt annimmt. Sie sind eine Einladung, sich zunächst auf das Sein zu besinnen, in der Überzeugung, dass ein glaubwürdiges Tun und Handeln aus diesem Sein hervorquellen wird. Dies gilt vor allem für diejenigen, denen es zukommt, sich mit Worten an die Öffentlichkeit zu wenden. Nur Worte, die in der Stille geboren werden, besitzen in sich die Kraft der Überzeugung. In unserer von lauten Medien beherrschten Welt, in der die verschiedensten Werte und Meinungen vertreten sind, wird die Stille als dringende Notwendigkeit empfunden, damit das Wort nicht zu einer bloßen Hülse wird, sondern ein Wahrheitsträger sein und bleiben kann. Die kontemplative Dimension wird besonders notwendig dort, wo Reformbedarf herrscht. Es besteht sonst die Gefahr, dass die Erneuerung sich auf die Änderung von Strukturen beschränkt. Geht damit je143 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
II Wahrnehmung und Spiritualität
doch nicht auch eine spirituelle Reform einher, wird es nicht zu einer wirklichen Erneuerung kommen. wortschöpfung 126 gesprochen uranfänglich und immer das allsamt unhörbar hingesprochen ins sprechen im gesprochenen WORT durch sprechendes WORT angeredet einander versprochen zugesprochen gesagt darum: das allsamt sich gesagt sein lassen auch sich selbst sich gesagt sein lassen sich dem allsamt gesagt sein lassen und darin und darüber hinaus das WORT sich sagen lassen in heiligem gespräch tief schweigend
d)
Orte – Räume der Stille
Die Krypta unseres Klosters ist ein beeindruckender Ort erfahrbarer Stille, der gerne von Fremden besucht wird. Er besitzt einen Zugang nach außen, so dass niemand gezwungen ist, erst an der Klosterpforte zu klingeln und sich dabei zu erkennen zu geben. Man darf anonym kommen. Im unterirdi144 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Schulung der inneren Wahrnehmung
schen Vorraum, zu dem eine Steintreppe hinabführt, liegt eine Art Tagebuch, das »Gästebuch der Stille«. Menschen, die diesen Ort besuchen, können dort ihre Erfahrungen, Worte der Klage oder des Dankes, Worte der Verzweiflung oder der Hoffnung, aufschreiben und so mit Anderen teilen, die später an diesen Ort kommen. Einzelne kommen immer wieder an diesen Ort zurück, so dass eine Art »Folge-Einträge« entstehen und sich Prozesse verdichten. Nicht ohne eine gewisse Scheu habe ich mich entschieden, einige Worte aus diesem Buch, das eigentlich im halbdunklen, geschützten Raum der Krypta liegt und nur dort zu lesen ist, hier wiederzugeben. Der Hinweis, dass es um eine Mitteilung von Erfahrung geht, möge es mir erlauben, dies zu tun und vielleicht werden auch an anderen Orten, »Gästebücher der Stille« entstehen. Der Ort der Stille ermöglicht eine Rückkehr zu sich selbst und vielleicht auch zu Gott und wird als sehr wertvoll erfahren. Ein Mensch beschreibt z. B., dass er sich bei »lebendigem Leib doch tot fühlt«. Die Berührung, die das Leben ist, wird als Verlust erlebt. Die Berührung, die innen und außen, Welt und Herz in einem lebendigen Fluss hält, ist verschwunden. Geht dieser Kontakt zu sich und zur Welt verloren, bricht der Tod ein. Die Rückkehr des Lebensflusses dagegen gleicht einer Auferstehungserfahrung. Was tot oder erstarrt ist, wird wieder lebendig. Wer glaubt, wird diese Rückkehr des Lebens Gott nennen können. Wer nicht glaubt, erfährt durch die Berührung in der Stille eine »Erfüllung«, »es ist, als ob nichts fehlte«. Oft bringen die Einträge aus dem Gästebuch der Stille einen Prozess, der nicht abgeschlossen ist, zum Ausdruck. Etwas ist wieder in Sicht, »Sehen«, »in den Händen halten«, »Verschenken«, dieser Vorgang beschreibt die Rückkehr des Lebens. Wer Leben empfängt, will es nicht für sich behalten, es drängt ihn, dieses Leben weiterzugeben. So ist eine solche Geburt in der Stille der Beginn eines neuen sozialen Lebens, 145 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
II Wahrnehmung und Spiritualität
eines Lebens in Verbindung, weil die entscheidende Tür zu sich selbst und darüber hinaus zu Gott wieder aufgeschlossen ist. Ein junges Mädchen, das öfter an diesen Ort kommt, schrieb einmal: »Dieses Kloster ist die Öffnung der Stille.« Und ein anderes Mal: »Die Stille, die mich umfängt, fühlt sich an, als wärst du zum Greifen nah. Schön, dass es so etwas gibt.« Geistliche Orte sind nicht nur von Menschenhand gemacht. Auch für Millionen kann man kein geistliches Zentrum aus dem Nichts zaubern. Sie sind vorher da, sie existieren im Verborgenen wie Quellen, die aus der Tiefe sprudeln. Menschen können keine Quellen anlegen, sie können sie nur sorgsam behüten und das Wasser weiterleiten. Sie können durch Erscheinungen, durch Bewahrung von Reliquien oder wunderbare Auffindungen von Kreuzen und Bildern entstanden sein, aber nicht weil »jemand es wollte«. Dieser »Jemand« ist Gott allein. »Hier in der Krypta habe ich erfahren, was Gott von mir will«, schrieb eine Besucherin. »Dankbar habe ich heute einen Ort der Stille gefunden, den ich schon lange suchte. Die Zufriedenheit, die ich hier erfahren durfte, wird mir immer im Gedächtnis bleiben. Ich danke für diese Erfahrungen und die Zwiesprache mit Gott. Ich spüre wie der Friede in mein Herz einzieht«, schrieb eine andere Besucherin. Hier tut sich deutlich die Fähigkeit des Menschen zur Transzendenz auf, er bekommt eine »Ewigkeitsahnung«. Der Mensch gibt und nimmt zugleich das auf, was auf ihn zukommt. Im Raum der Stille kann die Stille selbst auch als »Schmerz« empfunden werden, so ein anderer Besucher, ein Journalist, ein Mann des Wortes also, der für diese Erfahrung ausdrücklich dankt: »Die Stille schmerzt in meinen Ohren. Bin dankbar für diese Erfahrung.« Allen Einträgen gemeinsam ist der Geschenkcharakter der Erfahrung. Sie ist nicht machbar und vielleicht auch nicht ohne weiteres wiederholbar. »Ich durfte heute die Ruhe erfahren und den Frieden in mir und mit mir spüren, nach dem ich so lange suchte. Die Stille war greifbar und für einen Moment 146 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Schulung der inneren Wahrnehmung
wurde mein Herz mit Wärme erfüllt an diesem kalten und regnerischen Tag. Herr, mein Gott, ich danke dir dafür.« Die Bewegung geht vom Beschenkt-Werden zum Dank oder von der Erfahrung der Verzweiflung – auch sie gibt es hier – zur Klage. »Ich fühle mich entwurzelt und verloren, das Leben berührt nicht mein Herz und meine Seele. Wo finde ich den Pfad zu mir und in mein Leben. Wo bin ich? Wo ist mein Herz?« Oder: »Kann ich hier meine Angst lassen?« Das Verweilen an diesem Ort der Stille nehmen manche als Anlass, Glaubenszweifel zu äußern: »Das Leben zu ertragen ist häufig einfach zu schwer! An Gott zu glauben, ebenfalls. Die Sorgen sind zu groß! Darum ist es ein Geschenk, hier kurz innehalten zu können, zu dürfen!« Andere wenden sich mit ihren Worten direkt an Gott: »Wie Du willst, mein Gott und mein Herr. Deine Schönheit wachse in mir.« Der Raum der Stille wirkt dann wie ein Mutterschoß, der eine neue Geburt ermöglicht. Eine Teilnehmerin der Meditationsgruppe »Stille und Wort«, die sich regelmäßig in der Krypta trifft, bildete aus Ton eine solche »Geburtsgrotte«. Geknetet, gepresst, begann der Ton die Form eines großen Brotlaibs anzunehmen, in der eine große Öffnung sichtbar wurde. Sie dehnte sich aus und es entstand ein innerer Raum. In den so entstandenen Raum platzierte sie ein kleines Vogelnest. Damit war alles gesagt, mehr war nicht nötig: Auch aus dem Ort, an dem absolutes Geborgensein erfahren wird, muss man wieder heraustreten und auf das große Feld des Lebens zurückkehren. Die Geborgenheit nimmt man mit. Sie wirkt sich aus in jener Gelassenheit, die den Meditierenden eigens ist. Sie kommt aus dem Dreiklang des Gegründet-Seins, des Sich-Aufrichtens und des Ein- und Ausgehens des Atems. Die Ränder aus Ton, die wie Lippen oder Narben nach einer Wunde aussehen, sind an einer Stelle nach unten offen. Eine zusätzliche Kerbe im Ton lässt eine Schwelle entstehen, wie um jemanden herauszulassen. Wenn die Stille durchaus als Zufluchtsort erlebt wird, dann heißt es nicht, dass der Mensch dazu berufen ist, auf im147 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
II Wahrnehmung und Spiritualität
mer und ewig »drin« zu bleiben. Der Ruf des Lebens lädt ein, danach wieder gestärkt nach draußen zu gehen. Auf der Außenseite sind auf dem hellen Ton Abdrücke von drei Handflächen sichtbar. Damit deutete die Künstlerin die Umformungsarbeit an, die Gott an ihr in der Stille vornimmt. Der Raum der Stille wird selbst zum Sinnbild meiner Innerlichkeit, derer ich mir vielleicht nicht mehr bewusst bin oder die mir ganz abhandengekommen ist. Die Aufforderung »redi in te« macht nur Sinn, wo der Mensch sich draußen selbst verloren hat. Ich muss diese Rückkehr in mein Innerstes einüben, weil hier der Lebenskern und der tiefere Friede zu finden ist. Ob in einem konkreten Raum oder wie für M. Henry im »Fleisch«, d. h. im beseelten Leib, in jedem Fall gilt, dass der Leib, die Haltung eines Menschen, sich nicht in seiner Immanenz erschöpft. Sie ist offen für ein »Mehr«. Für M. Henry ist das Fleisch deshalb Ort einer Offenbarung, weil durch die »transzendentale Affektivität das Leben sich selbst offenbart« 127. Die positive Offenbarung des Wortes Gottes im Wort der Bibel und der Überlieferung wird dadurch nicht in Frage gestellt. Gott muss den ersten Schritt tun, sich zuerst »zeigen«, und zwar real, so dass er den Menschen anspricht; aber wie dieses Ansprechen geschieht, bleibt offen. Ein bevorzugter Ort dieses Sprechens wird immer mehr die Stille. Sie ist Ort des Wartens auf eine Gegenwart, die mir nur geschenkt werden kann. Wenn aber Menschen, die in der Welt leben, den existentiellen Zugang zu dieser Wahrheit verloren haben, wird der Weg über die Wahrnehmung auch zum Weg zu dieser Offenbarung werden. Beide treffen sich in der Erfahrung. Durch die Offenbarung des Wortes erhält die Erfahrung im Fleisch ihre unverwechselbare Deutung. Eine Beziehung kann wieder hergestellt werden, wo keine mehr besteht, und zwar auf eine Weise, die der zu erkennenden Wahrheit angemessen ist. In der Spiritualität der Wahrnehmung geht es weder um ein Sich-Auflösen in der Wahrnehmung noch um ein StehenBleiben bei ihr. Diese Überlegungen zur Wahrnehmung, zur 148 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Anmerkungen
Leiblichkeit und schließlich zur Übung der Achtsamkeit bilden die Grundlage einer Reflexion über den liturgischen Dienst und die bewusste Teilnahme an der Liturgie. Dem soll im folgenden Teil nachgegangen werden.
Anmerkungen Institut für Spiritualität, PTH, Münster. Vgl. E. T. Gendlin, Focusing, Technik der Selbsthilfe bei der Lösung persönlicher Probleme, Salzburg 1981. 3 E. Husserl, Hua IV, 3. (Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie II), Den Haag 1952. 4 E. Husserl, Hua III/1, S. 302 f. 5 M. Merleau-Ponty, Phänomenologie, S. 59 (62). 6 B. Waldenfels, Phänomenologie der Aufmerksamkeit, Frankfurt 2004, S. 65 f. 7 E. Husserl, Hua XXXVIII, 1, 2 (Wahrnehmung und Aufmerksamkeit, Texte aus dem Nachlass, S. 9). 8 E. Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, S. 434. 9 E. Rosenstock-Huessy, Liturgisches Denken in zwei Kapiteln. Erstes Kapitel: Fünf kranke Worte, in: Die Kopernikanische Wende in der Sprachphilosophie, S. 117; 118. 10 L. Wiesing, Das Mich der Wahrnehmung, S. 127. 11 Ebd. S. 129. 12 Ebd. S. 188. 13 E. Rosenstock-Huessy, Kleid und Sprache. Im Prägstock eines Menschenschlages oder Der tägliche Ursprung der Sprache (1964), neugedruckt in: Die Kopernikanische Wende in der Sprachphilosophie, Freiburg 2012, S. 180. 14 Ebd. S. 179. 15 E. Rosenstock-Huessy, Liturgisches Denken in zwei Kapiteln. Zweites Kapitel: »O Kreatur des Menschen« (1963), neugedruckt in: Die Kopernikanische Wende in der Sprachphilosophie, Freiburg / München 2012, S. 118 und 119. 16 Ebd. S. 119. 17 R. Feiter, Antwortendes Handeln, S. 321–322. 18 L. Wiesing, Das Mich der Wahrnehmung, S. 191. 19 B. Waldenfels, Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden, Frankfurt 2006, S. 91. 1 2
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II Wahrnehmung und Spiritualität E. Husserl, Hua XXXVIII, 1, 6 (Wahrnehmung und Aufmerksamkeit, Texte aus dem Nachlass, S. 24). 21 E. Husserl, Hua IV, S. 153, (Ideen II § 39). 22 E. Husserl, Hua IV, S. 203, (Ideen II § 52). 23 J. Loenhoff, Zur Genese des Modells der fünf Sinne, Bielefeld 2001, S. 180. 24 Ebd., S. 177. 25 M. Henry, Inkarnation. Eine Philosophie des Fleisches, Freiburg / München 2011, S. 96. 26 M. Henry, Die Barbarei. Eine phänomenologische Kulturkritik, Freiburg / München 1994, S. 101. 27 M. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1966, S. 239 (245). 28 M. Henry, Inkarnation. Eine Philosophie des Fleisches, Freiburg / München 2002, S. 57 f. 29 Ebd. S. 188. 30 N. Depraz, Phänomenologie in der Praxis. Eine Einführung, Freiburg / München 2012, S. 261. 31 B. Waldenfels, Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden, Frankfurt 2006, S. 73–74. 32 Ebd. S. 78. 33 Ebd. S. 99. 34 M. Merleau-Ponty, Phänomenologie, S. 199 (205). 35 Ebd. S. 180 (186). 36 M. Merleau-Ponty, Le visible et l’invisible, Paris 1964, S. 180. 37 M. Merleau-Ponty, Phänomenologie, S. 117 (121). 38 Ebd. S. 224 (230). 39 Ebd. S. 115 (119). 40 E. Husserl, Ideen II, III, § 41: »Alle Dinge sind mir gegenüber ›dort‹ – mit Ausnahme eines einzigen, eben des Leibes, der immer ›hier‹ ist.« »Derselbe Leib, der mir als Mittel aller Wahrnehmung dient, steht mir bei der Wahrnehmung seiner Selbst im Weg und ist ein merkwürdig unvollkommen konstituiertes Ding.« Hua IV, S. 159. 41 M. Merleau-Ponty, Phänomenologie, S. 184 (190). 42 E. Husserl, Hua IV, S. 96. 43 Ebd. S. 96–96. 44 M. Merleau-Ponty, Phänomenologie, S. 198 (204). 45 E. Husserl, Hua IV, S. 158. 46 T. Fuchs, Leib und Lebenswelt, Kusterdingen 2008, S. 128. 47 Vgl. z. B. P. A. Levine, Sprache ohne Worte. Wie unser Körper Trauma verarbeitet und uns in die innere Balance zurückführt, München 2010. 48 M. Merleau-Ponty, Phänomenologie, S. 117 (121); 241 (247). 20
150 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Anmerkungen J. Wohlmuth, J.-L. Marion, Ruf und Gabe. Zum Verhältnis von Phänomenologie und Theologie, Bonn 2000, S. 59. 50 M. Merleau-Ponty, Le visible et l’invisible, S. 57. 51 I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 37 / A 22, 23; B 46, 47 / A 31. 52 M. Merleau-Ponty, Phänomenologie, S. 178 (184). 53 Ebd. S. 169 (174). 54 Ebd. S. 170 (175). 55 Ebd. S. 469–470 (474–475). 56 Ebd. S. 176 (182). 57 L. Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus 5,6, Frankfurt 1963, S. 89. 58 M. Henry, Inkarnation. Eine Philosophie des Fleisches, Freiburg / München 2011, S. 139. 59 Ebd. S. 121. 60 Tertullian, De carne christi IV. 61 Ebd. 62 M. Henry, Inkarnation. Eine Philosophie des Fleisches, Freiburg / München 2011, S. 32. 63 Ebd. S. 32. 64 Vgl. ebd. S. 116. 65 Ebd. S. 117. 66 Ebd. S. 117. 67 M. Imdahl, Cézanne – Bracque – Picasso. Zum Verhältnis zwischen Bildautonomie und Gegenstandssehen, in: Max Imdahl, Gesammelte Schriften, Band 3: Reflexion – Theorie – Methode, Frankfurt 1996, S. 300–380. 68 Irenäus von Lyon, Adv. Haer, V,3,3 zitiert in: M. Henry, Inkarnation, S. 212. 69 M. Henry, Inkarnation. Eine Philosophie des Fleisches, Freiburg / München 2011, S. 214. 70 Ebd. S. 187. 71 Ebd. S. 191–192. 72 Zitiert nach M. Henry, Inkarnation. Eine Philosophie des Fleisches, Freiburg / München 2011, S. 193. 73 Ebd. S. 195. 74 Ebd. S. 195. 75 Ebd. S. 197. 76 Ebd. S. 198. 77 Ebd. S. 141. 78 T. Fuchs, Leib und Lebenswelt, Kusterdingen 2008, S. 47. 79 Ebd. S. 40. 80 Ebd. S. 47. 49
151 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
II Wahrnehmung und Spiritualität T. Fuchs, Das Leibgedächtnis in der Demenz, Junge Kirche, 71. Jahrgang, Nr. 3/2010, Herausgeber: Erev-Rav, Verein für biblische und politische Bildung, S. 11–15. 82 T. Fuchs, Leib und Lebenswelt, Kusterdingen 2008, S. 337. 83 Ebd. S. 341. 84 E. Husserl, Hua III,1, S. 71 (Ideen I § 39). 85 Vgl. G. Bachl, Gedankengänge zur Leiblichkeit, in: T. Hoppe (Hg.), Körperlichkeit – Identität. Begegnung in Leiblichkeit, Freiburg 2008, S. 146. 86 T. Fuchs, Das Gehirn – ein Beziehungsorgan. Eine phänomenologischökologische Konzeption, Stuttgart 2008/2013, S. 97. 87 M. Merleau-Ponty, Phänomenologie, S. 76 (79). 88 T. Fuchs, Leib und Lebenswelt, Kusterdingen 2008, S. 49. 89 Benedikt XVI. Ansprache bei der Eröffnung des Kongresses der Diözese Rom zum Thema »Familie und christliche Gemeinde: Bildung der Person und Weitergabe des Glaubens« am 6. Juni 2005, http://www.kath. net/news/10713. 90 R. Bäumer / M. Plattig, Aufmerksamkeit ist das natürliche Gebet der Seele. Geistliche Begleitung in der Zeit der Wüstenväter und der Personzentrierte Ansatz nach Carl R. Rogers – eine Seelenverwandtschaft?! Würzburg 1998. 91 B. Waldenfels, Aufmerksamkeit, S. 137. 92 Ebd. S. 285. 93 Ebd. S. 277. 94 Vgl. R. Metten, Bewusst Sein gestalten, Eschborn / Magdeburg 2012. 95 B. Waldenfels, Aufmerksamkeit, S. 137. 96 M. Merleau-Ponty, Phänomenologie, S. 171 (176). 97 B. Waldenfels, Aufmerksamkeit, S. 140. 98 Ebd. S. 143. 99 Ebd. S. 270. 100 Ebd. S. 270. 101 I. Kant, Ausgabe der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1900 ff., AA IV, S. 420. 102 S. Weil, Schwerkraft und Gnade, München 1952, S. 209. 103 B. Waldenfels, Aufmerksamkeit, Frankfurt 2004, S. 267. 104 S. Weil, Betrachtungen über den rechten Gebrauch des Schulunterrichts und des Studiums im Hinblick auf die Gottesliebe, in: Zeugnis für das Gute, Traktate, Briefe, Aufzeichnungen, Olten 1976, S. 50. 105 S. Weil, Schwerkraft und Gnade, München 1952, S. 208. 106 R. Metten, Bewusst Sein gestalten, S. 107 f. 107 C. Rutishauser SJ, Religion und Aufklärung heute, in: Stimmen der Zeit, 305–312, S. 310. 108 Vgl. Z. B. H. M. Enomiya-Lassalle, Zen-Unterweisung, Zen-Medita81
152 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Anmerkungen tion. Eine Einführung, Zürich / Einsiedeln / Köln 1975; H. Waldenfels, Gottes Wort in der Fremde, Bonn 1997. 109 K.-H. Steinmetz, Erhabener Geschmack der Gottheit-Überlegungen zur ›Wolke des Nichtswissens‹ und zum Diskurs um die Mystische Erfahrung im England des 14. Jahrhunderts, in: Geist und Heiliger Geist. Philosophische und theologische Modelle von Paulus und Johannes bis Barth und Balthasar. Hrsg. von E. Düsing, W. Neuer, H.-D. Klein, Würzburg 2009, S. 134–135. 110 C. Taylor, Ein säkulares Zeitalter, Berlin 2012, S. 26. 111 H. M. Enomiya-Lassalle, Zen-Unterweisung, Zen-Meditation. Eine Einführung, Zürich / Einsiedeln / Köln 1975, S. 152. 112 M. Buber, Das dialogische Prinzip, (Ich und Du), Heidelberg 1965, S. 94. 113 J. Sudbrack, Meditative Erfahrung – Quellgrund der Religionen, Mainz 1994, S. 122. 114 K. Baier, Sitzen. Zur Phänomenologie einer spirituellen Grundübung, in: Spiritualität und moderne Lebenswelt, Berlin 2006, 251. 115 Vgl. z. B. Augustinus, En. in Ps 65,22 [854,9]. 116 »Nescimus in qua parte corporis (cor) habeamus« (an. 4,6,7 [CSEL 60,388,1], RAC 14, Stuttgart 1988, 1117. 117 K. Rahner, Geheimnis des Herzens, in: Geist und Leben 20 (1947), 161–165, S. 162. 118 J. W. von Goethe, Eintrag im Tagebuch am 13. Mai 1780 (III, 1, 118 f., W.). 119 E. Rosenstock-Huessy, Angewandte Seelenkunde (1963), neugedruckt in: Die Kopernikanische Wende in der Sprachphilosophie, Freiburg / München 2012, S. 47. 120 K. Rahner, Schriften zur Theologie, IX, Einsiedeln 1970, S. 173. 121 K. Rahner, Schriften zur Theologie, IX, S. 162–163. 122 P. Sebastian Debour OSB, Abtei Gerleve, unveröffentlichtes Gedicht. 123 Byung-Chul Han, Duft der Zeit. Ein philosophischer Essay zur Kunst des Verweilens, X Texte, Bielefeld 2009, S. 73. 124 P. Sebastian Debour OSB, Abtei Gerleve, unveröffentlichtes Gedicht. 125 Benedikt XVI. zum 46. Welttag der sozialen Kommunikationsmittel. »Stille und Wort: Weg der Evangelisierung« vom 24. 01. 2012. In dieser kurzen Schrift wird die Bedeutung der Stille hervorgehoben und manche Sätze sind unter der Feder des früheren Präfekten der Glaubenskongregation eher unerwartet. 126 P. Sebastian Debour OSB, Abtei Gerleve, unveröffentlichtes Gedicht. 127 M. Henry, Die Barbarei. Eine phänomenologische Kulturkritik, Freiburg / München 1994, S. 100.
153 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
III Leiblichkeit, Identität und Transzendenz
»Demzufolge liebte Gott mit dem Menschen auch dessen Geburt und Leiblichkeit. Denn nichts kann geliebt werden, losgetrennt von dem, wodurch es das ist, was es ist.« Tertullian, Über den Leib Christi 4
1)
Durchsichtigkeit des Leibes und Transzendenz
Alle Religionen wissen um die Transparenz des Leibes, seine Durchlässigkeit auf eine Transzendenz hin. Gerade das religiöse Leben eines Menschen wird stark geprägt von leiblichen Vollzügen – wie z. B. sich verbeugen, knien, die Hände erheben. Die Gebärden sind für andere mehr oder weniger aussagekräftig. Achtsamkeit, Andacht, Ehrfurcht sind Haltungen, die sprechen, auch dann, wenn der Betrachter den Sinn der Gesten im Einzelnen nicht versteht. Nehmen wir an, ein praktizierender Katholik betritt eine Kirche. Er wird eine bestimmte Abfolge von Handlungen ausführen. Zunächst wird er die Finger in das Weihwasserbecken tauchen, sich dann mit den nassen Fingern bekreuzigen, d. h. die Hand zum Himmel erheben, sie nach unten und anschließend nach links und rechts führen. in Richtung des Tabernakels wird er eine Kniebeuge machen, bevor er sich vielleicht für einen Moment der Stille und des Gebets in einer Bank niederlässt oder eine Kerze vor dem Marienbild entzündet. Wenn ihn jemand, der mit diesen katholischen Riten nicht vertraut ist, beobachtet, dann nimmt er diese Rei154 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Durchsichtigkeit des Leibes und Transzendenz
henfolge von Gesten zwar wahr, aber sie erscheinen ihm als fremd und merkwürdig. Was da geschieht, ist für ihn kaum nachzuvollziehen, ungefähr so, als wenn er in Indien als Nicht-Hindu an einer Tempelzeremonie teilnehmen würde. Ein Kreuzzeichen wäre in der Tat sinnlos, wenn es nur darum ginge, bestimmte Bewegungen auszuführen. Die Bewegung hat den Sinn, einen aktuellen Bezug zum Heilsereignis des Kreuzes herzustellen, um es im Hier und Jetzt präsent zu machen. In diesem Zeichen wird mir Heil geschenkt. Deshalb will ich alles, was ich beginne, unter dieses Zeichen stellen. Mit diesem Zeichen, mit der Hand- und Armbewegung, verbinde ich auch den Namen des dreifaltigen Gottes, des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Wie schwer es ist, dieses einfache Zeichen mit der angemessenen Präsenz und Ehrfurcht auszuführen, wird spätestens klar, wenn es zu salopp gemacht wird. Die Übereinstimmung von Gedanke und Geste erweist sich gerade dann als äußerst schwierig, wenn letztere sehr einfach ist. Denn jede Handlung läuft Gefahr, von jeglichem Bewusstsein entleert zu werden, je häufiger sie ausgeführt wird. Die Gewohnheit kann zu einer Automatisierung von Gesten führen: Ich führe sie aus, ohne darauf zu achten, was ich tue. Mein Körper kann sich verselbständigen. Dies ist bei bestimmten Handlungen wie z. B. beim Autofahren auch notwendig. In Bruchteilen einer Sekunde müssen meine Füße das richtige Pedal treffen und bedienen, ohne dass ich lange überlege, was ich da eigentlich tue. Wer am Morgen seine Schuhe schnürt, muss dabei nicht notwendig an das Schnüren selbst denken. Wenn allerdings die Gedanken zu weit abschweifen, kann auch das Schnüren der Schuhriemen oder das Zuknöpfen der Jacke misslingen. Das wird am Ergebnis deutlich. So kann im Fall einer religiös motivierten Geste derselbe Bewegungsablauf sprechend oder nicht sprechend sein. Woran liegt das? Es liegt an der Präsenz, mit der die Geste ausgeführt wird, mit anderen Worten daran, ob die Konzentration, die innere Sammlung das Unsichtbare sichtbar werden 155 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
III Leiblichkeit, Identität und Transzendenz
lässt. Sich-in-die-Präsenz-Stellen oder In-die-Präsenz-Gehen erscheint deshalb als eine wertvolle Übung. Sie dient der Prägung der geistlichen Präsenz im Leibe. 1 Der Leib ist das unentbehrliche Medium, ohne das der Mensch keine Handlungen vollziehen oder einüben kann. In der Liturgie tritt der Mensch auf sichtbare Weise mit seinem Leib in Beziehung zum unsichtbaren, transzendenten Gott. Konkrete, auch ganz unscheinbare Zeichen und Symbole können Gott und Mensch einander unendlich nahe bringen. 2 Im deutschsprachigen Raum ist vor allem R. Guardini für die Kultur und Bildung eines ganzheitlichen Empfindens und Spürens in der Liturgie eingetreten. »Wir müssen lernen, auch mit unserem Leibe zu beten. Die Haltung des Körpers, Gebärde und Handlung müssen uns unmittelbar, in sich, religiös werden.« 3 Deshalb geschieht Vermittlung mehr durch Einfühlen und Spürenlassen, mehr durch die Wahrnehmung als durch lange Erklärungen. Die Bedeutung und Symbolik der Dinge erschließt sich von selbst, wenn man deren innerstes Wesen erfasst hat. Dass die Fähigkeit, die tiefere Bedeutung liturgischer Handlungen und Symbole zu erfassen, so defizitär geworden ist, führt Guardini auf den Verlust an konkreten Erfahrungen mit den Dingen zurück. Der Mensch hat »den lebendigen Zusammenhang mit der Wirklichkeit verloren. Er wurde Mensch der Stadt, der Begriffe, der Formeln. Er hatte keine unmittelbare Fühlung mit den Dingen mehr; empfand ihre wesenseigene Fülle nicht mehr.« 4 Deshalb kann die Hinführung zu dieser Wirklichkeit nicht über »Wissen« und »Lernen« geschehen, sondern es geht darum, »den Verleiblichungsvorgang, die Symbolwerdung mitleben zu lassen, damit das Ding für den Menschen Mittel des Selbstausdruckes wird« 5. Bemerkenswert ist Guardinis Hinweis auf eine Wende zum Objektiven hin, die er auch in der »phänomenologischen Philosophie« kommen sieht. 6 Auch hier soll eine Umkehr, ein Vorstoß zum Wesen der Sache selbst, vollzogen werden. »Wir müssen wieder die meisterliche 156 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Durchsichtigkeit des Leibes und Transzendenz
Art lernen, die nicht Erfolg will, sondern Wert; nicht rasch zerlaufendes Tun, sondern Sein.« 7 Es geht um die Wiederherstellung einer Beziehung, um das Bewusstwerden einer Wirklichkeit, die uns umgibt und die neu wahrgenommen werden will. Diese Haltung, die »Präsenz« genannt werden kann, bringt meine innere Verfassung zum Ausdruck. Wenn ich nicht wirklich voll und ganz da bin, wirke ich auch abwesend. Die Fähigkeit zur Präsenz ist eine besondere Qualität des Seins im Leib. Präsenz meint eine spürbare Anwesenheit im Augenblick, die echte Begegnung ermöglicht und sie wesentlich beeinflusst. Die Kunst der Präsenz im eigenen Leib hat mit Sammlung und Innerlichkeit zu tun. Sie ist der Zerstreuung der Gedanken und dem Sich-gehen-Lassen im Leib entgegengesetzt. Sie ist mehr als Disziplin, aber ohne eine solche nicht zu erreichen. Die Gesten, die Ausdruck meiner Frömmigkeit oder meiner Teilhabe an einer Kultgemeinschaft sind, können im Leben eines Menschen ungeahnte Wirkungen erlangen. Jan Verkade, später als Pater Willibrord, Benediktinermönch der Erzabtei Beuron, bekannt, erzählt in seiner Autobiographie von seinem inneren Ringen, als er sich zum ersten Mal entschied, bei der heiligen Wandlung zu knien. »Einen Augenblick besann ich mich. Es gab einen schweren Kampf. Was, ich knien? Mein Stolz protestierte mit aller Kraft gegen eine solche Erniedrigung. Aber ich ragte so entsetzlich hoch über alle hinaus! Ich konnte nicht anders und kniete nieder wie die andern. Auf ein Knie! Wie lange ich gekniet habe, weiß ich nicht, vielleicht den ganzen Kanon hindurch. Es kam mir schrecklich lang vor, denn es tat mir fürchterlich weh. Endlich standen die Männer auf, ich mit ihnen. Ich war nicht mehr der gleiche wie früher. Ich war schon halb katholisch. Mein Stolz war gebrochen: ich hatte gekniet!« 8 Das Knien des jungen, noch stolzen Künstlers ist als eine Antwort aufzufassen, eine Antwort auf eine innere Nötigung durch die Gnade, wenn auch hier der 157 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
III Leiblichkeit, Identität und Transzendenz
Druck der knienden Gemeinde mitgespielt hat. In diesem Augenblick beginnt sich der Leib selbstredend auf eine Transzendenz hin zu erstrecken und ganz menschlich zu antworten, d. h. von Gott zu sprechen.
a)
Ein Sprechen auch ohne Worte
Alles Tun und Handeln, das auf Gott hin ausgerichtet ist und Gott im Sinn hat, ob im privaten Raum oder in der Öffentlichkeit der Liturgie, verrät etwas von meiner Beziehung zu Ihm. Das Sprechen von und zu Gott beginnt also längst, bevor die Stimme erklingt. Es geht aus dem Innersten des Menschen hervor. Deshalb ist der Begriff der Haltung, des Habitus als eingeprägte Gewohnheit, die dann zur Person gehört, hier so zentral. Dabei steht die ganzheitliche Formung im Vordergrund und nicht die Leistung, die zu erbringen, oder das Wissen, das mechanisch zu erwerben und wiederzugeben wäre. Diese Formung arbeitet auf ein Ziel hin, das Erik Peterson als Umformung in Christus anerkennt. »Der aber wird am meisten Mensch sein, der sich am meisten dem ›Heiligen Gottes‹ genähert haben wird.« 9 Vor Augen hat Peterson den Menschen, wie er werden kann, wenn er sich umformen lässt, auch auf die Gefahr hin, dass das liturgische Beten zunächst unwahrhaftig erscheint. Diese Schule, die auch Zucht bedeutet, ist vom persönlichen Gebet, das Stimmungen und Schwankungen kennt, zu unterscheiden. In der Liturgie geht es nicht um meine Befindlichkeit, sondern um einen Dienst vor Gott, der stellvertretend für die ganze Kirche vollzogen wird. Ich kann am Karfreitag Klagepsalmen beten, ohne selbst in einer existentiellen Situation der Trauer zu sein. Habe ich die Intention, den Psalm für alle, die in einer solchen Lage sind, zu beten, dann wird mein Gebet auch ohne eigene Betroffenheit »echt« sein. Benedikt schreibt: »Man sollte die Psalmen so singen, dass Geist (mens) und Stimme (vox) in Einklang (con158 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Durchsichtigkeit des Leibes und Transzendenz
cordet) sind« (Benediktsregel 19,7). Mens und cor, Geist und Herz, die Mitte des Menschen werden synonym gebraucht. Es geht primär um die lautere Intention im Vollzug des Gebets und nicht um die persönliche Stimmung. »Entscheidend ist die innere Aufmerksamkeit des Mönchs für das Wort Gottes, das er ausspricht.« 10 Die Eintracht (concordia) oder eben auch die Dissonanz zwischen Denken und Fühlen, Reden und Handeln, Geist und Stimme können von außen wahrgenommen werden. »Der innen in uns wohnt, er sei auch in unserer Stimme.« 11 Christsein und Menschsein bedeutet also, bis ins Leibliche hinein ein offenes Buch zu sein, aus dem man mehr oder weniger deutlich die Antwort auf die Gretchenfrage »Nun sag: wie hast du’s mit der Religion?« ablesen kann. In der Tat: »Sag mir, wie du zu Gott sprichst«, wiederholt R. Schaeffler unermüdlich, »und ich werde dir sagen, welchen Gottesbegriff du hast.« 12 Dieser Satz lässt sich erweitern: Zeig mir, wie du vor Gott stehst, und ich werde dir sagen, was dieser Gott für dich bedeutet. Menschen besitzen die Fähigkeit, durch schlichte Gesten und körperlichen Ausdruck Gott zu bezeugen. Tiefgläubige Menschen können, auch wenn sie einfältig sind, überzeugender von Gott »reden« als Gebildete. So ist die Erzählung von der armen Witwe im Tempel zu verstehen, die ihr letztes Hab und Gut in den Opferkasten hineinwarf (Markus 12,41–44). Ihre Geste ist Jesus nicht entgangen: Die Hand- und Körperbewegung dieser Frau muss ihre letzte, ganz konkrete Hingabe an Gott zum Ausdruck gebracht haben, so dass sie ohne Worte zu sprechen begann. In dieser einfachen, aber sehr starken Geste zeigt sie, wie Gott für sie da ist und was Er ihr bedeutet. Er ist ihr ein und alles, und deshalb kann sie alles geben. Ihre Geste »sagt« mehr als eine lange theologische Rede über die Hingabe an Gott. Die Witwe behält nichts für sich zurück; das Notwendige gibt sie her, während die anderen, die Reichen, nur etwas von ihrem Überfluss gegeben haben. Bei dieser Frau stimmen Geste und innere Gesinnung überein. 159 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
III Leiblichkeit, Identität und Transzendenz
Wie ich mich verhalte, gibt Auskunft über mein Gottesbild und meine Gottesbeziehung. Das Kreuzzeichen, die Kniebeuge können nur im Hier und Jetzt ausgeführt werden und sie »verraten« mich mehr als meine Worte. Der Leib kann nicht lügen. Deshalb ist es unentbehrlich, die gefühlte Dimension des Tuns und Handelns, das Spüren im Leib einzubeziehen. Der Einklang zwischen Tun und Sein, zwischen Innerlichkeit und Geste ist das Ziel, das angestrebt wird, und nicht das, was von Anfang an da ist oder einfach vorausgesetzt werden kann. 13
b)
Zum sichtbaren Ausdruck der Gottesbeziehung
Ziel ist nicht, eine besondere Wirkung nach außen zu erzielen, sondern einen wachsamen Blick nach innen gerichtet zu halten. Entscheidend ist die Frage, ob meine Gesten und meine Haltung wirklich Ausdruck meiner Gottesbeziehung sind oder ob sie so gedankenlos ausgeführt werden, dass der Betrachter – aber auch ich selber – nur denken kann: Dem liegt wirklich nicht daran, ›Diener des Höchsten Gottes‹ (Daniel 3,93) genannt zu werden. Die für alle sichtbare äußere Handlung lässt auf das innere Denken und Fühlen schließen. Benedikt schreibt am Ende des Kapitels über die Demut: »Der Mönch sei nicht nur im Herzen demütig, sondern seine ganze Körperhaltung werde zum ständigen Ausdruck seiner Demut für alle, die ihn sehen« (Benediktsregel 7,62). Wenn also jedes Tun, jede Geste, sichtbarer Ausdruck einer Beziehung zu einer unsichtbaren Wirklichkeit ist, dann wird die Beziehung zu dieser unsichtbaren Wirklichkeit auch am eigenen Leib spürbar werden, und zwar nicht nur für mich selbst, sondern auch für den Betrachter von außen, der nun Zugang zu diesem ›Phänomen‹ hat. Die Frage ist, ob ein solcher sichtbarer Ausdruck intendiert werden kann oder ob er einfach als Frucht eines frommen Lebens zu betrachten ist, etwa wie das Licht zur Sonne gehört. 160 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Der Leib als das Symbol schlechthin
Es handelt sich hier um ein zentrales Problem der religiösen Erziehung. Ohne Einübung und Rückbindung an das Innere bleiben die äußeren Praktiken bedeutungsleer. Die sichtbare Prägung und Umformung des ganzen Menschen sind Zeichen dafür, dass der Glaube alle Bereiche des Lebens durchtränkt und durchdringt. Er hat seinen Wohnsitz im Herzen des Menschen, und dies zeigt sich am ganzen Leib. Alles, was ich denke, tue und lasse, erlangt für mich eine bestimmte Qualität in der Rangordnung der Prioritäten und der Liebe. Eine bewährte Lebensregel lautet: Das Wichtigste zuerst! Sie gilt im profanen Bereich und erst recht für die Beziehung zu Gott. Das erste Gebot: »Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft« (Deuteronomium 6,5) ist das Gebot der Ganzheitlichkeit in der Beziehung zu Gott. Weil der Mensch über Verstand, Herz und auch über physische Kraft verfügt, sollten diese drei als Einheit betrachtet werden. Erst in der Einigung seiner Energien, seiner seelischen, intellektuellen und physischen Kräfte vermag der Mensch glaubhaft die Beziehung zu Gott zu leben und Ihn zu bezeugen.
2)
Der Leib als das Symbol schlechthin
Der Leib ist Symbol meiner Existenz schlechthin. Der Leib ist Fleisch (chair), was bei Merleau-Ponty immer eine beseelte, nie die tote Materie meint. 14 »Chair« ist »Element des Seins« wie Wasser, Feuer, Erde und Luft und nicht zusammengesetzt aus Geist und Materie. 15 »Der Leib vermag die Existenz zu symbolisieren, weil er selbst sie erst realisiert und selbst ihre aktuelle Wirklichkeit ist.« 16 Niemals kann der Leib auf seine Materialität reduziert werden. Der Geist scheint selbst im entstellten oder verunreinigten Körper immer noch durch. Selbst der Leichnam trägt an sich noch die Spuren des Geistes, der ihn verlassen hat. Erst wenn er als ein Objekt oder ein Ding unter 161 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
III Leiblichkeit, Identität und Transzendenz
den Dingen dieser Welt betrachtet und benutzt wird, wird er zum bloßen Körper degradiert. Die Intention der auf ihn gerichteten Blicke enthüllt oder verkennt seine wahre Bestimmung. Der ganze Leib ist aufgrund der Fülle von Bedeutungen und Sinngehalten, die von ihm ausgehen, ein unerschöpfliches Symbol. Michel Henry hat sich in seinem Werk »Inkarnation. Eine Philosophie des Fleisches« phänomenologisch nachgewiesen, was es eigentlich heißt, nicht nur einen Körper zu haben, sondern »ein Fleisch zu sein« 17. Die Existenz des Menschen ereignet sich im Leib. Die zentrale Botschaft des Christentums, dass der göttliche Logos »Fleisch geworden« (Johannes 1,14) ist, einen Leib angenommen hat, musste von Anfang an gegen hartnäckige Häresien verteidigt werden. Sie muss es heute erneut, wenn Christentum auf eine dogmatische oder moralische Lehre reduziert und nicht mehr als lebendige, wiederholbare Erfahrung erlebt wird, die meinem Dasein im bzw. als Fleisch nicht fremd bleibt, denn, so M. Henry, »das Fleisch als solches (ist) Offenbarung« 18. Es kann letztendlich nur vom göttlichen Wort her verstanden werden. Wenn man allerdings im Körper nur die cartesianische res extensa sieht und ihn der Geometrie unterwirft, die als Wissenschaft zum Maßstab der Erkenntnis gesetzt wird, verfehlt man kläglich die Eigenschaft des Fleisches als höchste Möglichkeit des subjektiven Lebens. Das Dasein im Fleisch kann nicht vertretungsweise an ein anderes Subjekt delegiert werden. Auch bei noch so großer Ähnlichkeit bleiben zwei Subjekte grundverschieden, weil das Dasein im Leib Ausdruck des Lebens in seiner höchsten Individualität ist. Bei Henry wird das Fleisch zum eigentlichen Ort der transzendentalen Subjektivität, weil dort die Welt auf uns zukommt, uns in der Eigenart der jeweiligen sinnlichen Empfindungen zugänglich wird und zwar so, dass es zu einer innigen Korrespondenz zwischen der inneren Empfindung und dem Gegenstand kommt: »Dem Kalten des Tisches entspricht das Kalte der Hand«. 19 Dies setzt das Fleisch als Ort der Verflechtung 162 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Der Leib als das Symbol schlechthin
und Auflösung von sich wandelnden Empfindungen voraus. Unser sichtbarer Körper birgt in sich jenes unsichtbare Fleisch, den eigentlichen »lebendigen oder fleischlichen Leib«, »der unsere wahre Wirklichkeit bildet, das Herz wie das Verborgene unseres Seins.« 20 M. Henry sucht die Dualität Merleau-Pontys zwischen empfindendem Leib und empfundenem Körper zu überwinden. Das Fleisch lässt eine solche Differenzierung nicht mehr zu. Es ist Empfundenes und Empfindsames zugleich. Es besitzt eine eigene Fähigkeit zur Transzendentalität, d. h. zur Verobjektivierung von Empfindungen, die nur die meinen sein können und dennoch für die Art und Weise, wie mir die Welt erscheint, konstitutiv sind. Diesen Charakter des Leibes, diese Eigenschaft des Fleisches denkt Henry nicht mehr von der Intentionalität her, sondern von einer »viel ursprünglicheren Leiblichkeit, welche in einem letzten Sinn transzendental, nicht-intentional, nicht-sinnlich ist und deren Wesen im Leben steht« 21. Gerade diese Aufforderung »Zurück zum Leben selbst!« zeigt die Notwendigkeit der Rückkehr zu einem Subjekt, das Fleisch ist. Am Beginn all unserer Erfahrungen, unserer Konstitution der Welt, steht nicht das cartesianische oder kantianische leere Ich, sondern ein inkarniertes Subjekt, das deshalb auch ein fühlendes Subjekt ist, das die Dinge spürt, noch bevor es sie zu denken vermag. 22 Deshalb offenbart das Leben stets sich selbst, und so wird der Leib bzw. das Fleisch zum Symbol des Lebens schlechthin und mehr noch zum Ort der Offenbarung des Heilsereignisses der Inkarnation, die Henry das »christliche Cogito« 23 nennt. Im Kampf gegen die Gnosis halten bereits Irenäus von Lyon und Tertullian daran fest, dass »das Fleisch fähig ist, Gottes Kraft aufzunehmen und festzuhalten« 24. Das Fleisch besitzt schon von sich aus eine Fähigkeit, Transzendenz aufzunehmen und wiederzugeben. Es gibt kein adäquateres Symbol für das Leben selbst als jenes Fleisch, das der menschliche Leib ist. Es ist die Eigenschaft des Fleisches, des Lebens, »sich selbst zu fühlen, sich selbst zu erfahren« 25. 163 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
III Leiblichkeit, Identität und Transzendenz
Als Ganzes ist der Leib Symbol meiner leiblich-geistlichen Existenz. Alles im Leib ist symbolisch angeordnet. Oben herrscht der Kopf, das Haupt, mit dem Seh- und Gehörsinn, so wesentlich für die Orientierung, über den ganzen Körper. Die Hände, die für das Tun, das Handeln und Ausführen, Geben und Nehmen stehen, können sich am Ende der Arme in alle Richtungen strecken und wenden. Die Füße geben dem Körper als Fundament Halt und Sicherheit und zugleich dienen sie mit den Beinen der Beweglichkeit. Sie machen den Menschen »mobil«. Er kann den Ort, an dem er steht, auch verlassen, gehen und laufen. Nicht nur dem Leib als Ganzem, auch den fünf Sinnen kommt diese symbolische Funktion zu. 26 Jede Sinnesfunktion wird mit einer bestimmten Art von Erkenntnis zusammengebracht. Dem Sehen wird das Erkennen, die Einsicht zugeordnet. Das Sehen geht mit dem Tastsinn einher, der ihm als natürliche Ergänzung der Wahrnehmung von Form und Farbe die qualitative Empfindung der Materie liefert. Geruchs- und Geschmackssinn sind sehr subjektive Sinne, durch die die Welt in mich eindringt. Sie stehen im Herzen des sinnlichen Leibes und der affektiv geprägten Beziehung des Menschen zu sich selbst und zum Anderen. Der Gehörsinn steht sozusagen in der Mitte aller anderen Sinne. Durch ihn positioniert sich der Leib als Zentrum einer Welt, die ihn umgibt. 27
3)
Die Pädagogik des Leibes
Im deutschsprachigen Raum sind der Ansatz und das umfangreiche Werk des Anthropologen und Jesuiten Marcel Jousse (1886–1961) heute mit wenigen Ausnahmen wie die Arbeiten von F. Stuit (1997), C. Wulf (1998) 28, I. Baxmann (2000) es beweisen, so gut wie unbekannt. Jousse ist mit Paget wie K. Barck es formuliert »immer noch ein linguistischer und anthropologischer Geheimtipp geblieben«, obwohl W. Benjamin auf ihn 164 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Die Pädagogik des Leibes
Bezug genommen hat. 29 Interessant ist der frühe Hinweis von E. Rosenstock-Huessy (1964) auf Jousse, wenn er über den Ursprung der Sprache schreibt. 30 Vielleicht sind mir neuere Werke entgangen, der letzte Hinweis im deutschsprachigen Raum kommt von E. Schüttpelz (2005). 31 Dieses »Defizit« zeigt sich vor allem dadurch, dass es keine deutsche Übersetzung seiner Werke gibt. Englische und italienische Übersetzungen seiner grundlegenden Werke sind dagegen bereits verfügbar. 32 Auch in seiner französischen Heimat war er zu Lebzeiten wenig beachtet und seine Arbeiten gaben Anlass zu Kontroversen. Jousses Werk ist deshalb schwer einzuordnen, weil es verschiedene Fachbereiche wie Anthropologie und Psychologie, aber auch Pädagogik und Exegese umfasst. Die von ihm begründete Disziplin der »anthropologischen Linguistik« untersucht den logischen Ausdruck des Menschen, der sowohl körperlich, mündlich oder schriftlich sein kann, immer aber Ausdruck einer Intelligenz ist. 33 Dabei wird erforscht, wie Stimme und Geste, Laute und Körperbewegungen, die einen Sinn vermitteln, als »Sprache« zusammenkommen. 34 Seine Untersuchungen konzentriert Jousse auf das aramäische Milieu zur Zeit des Rabbis Jeschuha aus Nazareth. Heute wird er wieder entdeckt. 35
a)
Herkunft von Marcel Jousse
Wer war Marcel Jousse? Um seinen Ansatz zu verstehen, braucht es einen kurzen Blick auf seine Biographie. Jousse wurde 1886 in Westfrankreich geboren. Die ruhige Landschaft an der Sarthe mit ihren Wiesen, Feldern und kleinen Wäldern hat ihn geprägt. Seine Eltern waren einfache Bauern, die weder lesen noch schreiben konnten und doch über ein umfangreiches Wissen verfügten. Jousse spricht von einer »Universität des Bodens« (université de la terre), die neu entdeckt werden müsse. 36 Kennzeichnend für sein Werk sind die lebhafte Er165 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
III Leiblichkeit, Identität und Transzendenz
innerung an die Mutter, die ihm die Sonntagsevangelien rhythmisch und melodisiert beigebracht hat, eine mitunter radikale Kritik an der verkopften Kultur seiner Zeit sowie sein unerschütterlicher Glaube an Gott und den Menschen. Seine landschaftlich-land-wirtschaftliche Herkunft lässt den späteren Priester und Jesuiten dem »Rabbi-Bauern aus Galiläa Iéshoua«, wie er Jesus nennt, sehr nahe sein. Als Offizier wird Jousse in die Vereinigten Staaten geschickt und lernt bei den Indianern eine Kommunikation kennen, in der Gestik eine zentrale Rolle spielt. Zurück in Paris setzt er sein Studium der Anthropologie und der Linguistik fort. 1931 bis 1957 hält er freie Vorlesungen u. a. an der Pariser Sorbonne, an der École d’Anthropologie und schließlich an der École pratique des Hautes Études. 37 1932 eröffnet Jousse mit Gabrielle Desgrées du Loû das »rhythmo-pädagogische Institut«. Als Musikerin und Pädagogin arbeitet sie mit ihm zusammen an der Wiedergabe von Sätzen der Heiligen Schrift, vorgetragen entsprechend der mündlichen Tradition. Sie beziehen den ganzen Leib mit ein und prägen sich darum besonders gut ins Gedächtnis ein. Bei seinen Untersuchungen berührt Jousse Bereiche wie Anthropologie und Ethnologie, aber auch Linguistik und Psychologie. Wenn er sich der biblischen Kultur nähert, dann nicht als gläubiger »Jude, Katholik oder Protestant«, sondern als Anthropologe, der »Gott vor der Tür seines Forschungslabors draußen lassen muss, um sich nur mit dem Realen zu befassen« 38. Zu Lebzeiten hat er nur wenig veröffentlicht, zwei Bücher und eine Reihe von Artikeln. Sein monumentales Werk, vor allem das Korpus der Vorlesungen, wird nach seinem Tod von seiner Mitarbeiterin Gabrielle Baron veröffentlicht.
166 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Die Pädagogik des Leibes
b)
Die Dynamik oraler Kultur
»Alles Wort ist gesprochenes Wort. Das Buch steht ursprünglich nur in seinem, des gelauteten, gesungenen, gesprochenen, Dienst« 39, schreibt F. Rosenzweig. Jousse durfte im eigenen Leben sehr früh die Anziehungs- und Wirkungskraft einer lebendigen Kultur des Wortes erfahren. Als Anthropologe verfügte er über eine scharfe Beobachtungsgabe. Nichts entging dem jungen Marcel: Der Unterschied zwischen dem lauten Lernen von melodisch geprägten Erzählungen im Elternhaus und dem stummen Lesen in der Schule hat ihn sehr beeindruckt. Obwohl selbst kein Jude, hat Jousse diese Erfahrung seiner Kindheit später mit seinen Untersuchungen der aramäischen und hebräischen Kultur verglichen. Er lernte bereits mit zwölf Jahren bei seinem Dorfpfarrer diese beiden Sprachen. Als Anthropologe interessierten ihn später vor allem die Vorgänge des Lernens in den sogenannten »oralen Kulturen« 40. Das gesprochene Wort wird durch die Stimme und den Atem transportiert, geformt und gebildet. Einzelne Muskeln setzen die Stimmbänder in Bewegung. Anders bei der Gebärdensprache. Und doch ist auch eine Gebärdensprache eine Sprache. Der Linguist F. de Saussure stellt fest, dass die stimmliche Natur des linguistischen Zeichens ein sekundäres Phänomen ist. Die Menschen hätten genauso gut die Geste vorziehen können. 41 Manche Schriften, z. B. die hebräische oder chinesische oder die ägyptischen Hieroglyphen, basieren teilweise auf der Wiedergabe von Bildern, die nicht nur konkrete Gegenstände wie ein Haus, sondern auch Vorstellungen oder Handlungen wiedergeben. In diesen Schriften wird die Geste »fixiert«. Gesprochene Worte vermitteln nicht nur einen Sinn, sondern besitzen eine eigene Materialität. Durch die Stimme erreichen uns auch die Emotionen des Sprechenden, also etwas Non-Verbales. Worte kommen in ihrer Materialität von einem Körper und wirken sich auf einen anderen Körper aus, so wie die Geste auch ihre eigene Wirkung von Leib zu Leib entfaltet. 167 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
III Leiblichkeit, Identität und Transzendenz
Dieses Überbringen ist als ganzheitliches Geschehen zu begreifen. Der Rhythmus hat also primär eine gedächtnisstützende und keine ästhetische Funktion, wie dies bei einem schriftlich fixierten Text der Fall ist. Der Rhythmus der Worte, der noch in der Poesie, ob im schriftlichen oder im oralen Stil, zu finden ist, legt Zeugnis ab für diesen Ursprung aus dem Leib. Es ist ein Pulsieren, das an den Pulsschlag in unseren Adern erinnert, ein Wiederkehren von kurzen Bewegungen, die in Länge und Intensität variieren können. 42 Für Jousse ist die rhythmische Geste die Grundlage des Gedächtnisses und damit das Fundament, auf dem eine orale Kultur basiert: »Der Mensch ist seinem Wesen nach ein Mimetiker (mimeur)! Und das muss erklärt werden: ein Mensch macht eine Geste, er lebt. In seiner Geste liegt auch sein Gedächtnis. Er erinnert sich mit all seinen Muskeln.« 43
c)
Die Dynamik der Geste
Jousse widmete 1924 sein erstes Werk »Le style oral et mnemotechnique chez les verbo-moteurs« der Untersuchung solcher Kulturen und prägte den bis dahin unbekannten Begriff des »stil oral« 44. Der »mündliche Stil« unterscheidet sich von der gesprochenen Sprache (langage parlé). Er ist sehr individuell und folgt ganz eigenen Gesetzen. Da das Gedächtnis auf besondere Weise gefordert wird, sind Elemente wie Rhythmik, Reime, Parallelismus und wiederkehrende Worte als Anhaltspunkte für das Gedächtnis grundlegend. 45 Alles soll sich genau einprägen. Dazu braucht es einschlägige und eingängige Formulierungen. In der besonderen Art des Vortragens spielen Atem und Geste eine zentrale Rolle. Werden Werke schriftlich fixiert, die zuerst mündlich überliefert wurden, wie im Fall der Dichtung Homers und der Bibel, dann verlieren sich keineswegs die Merkmale ihrer Oralität, auch wenn sie nun als Texte, Erzählungen oder Gedichte zugänglich sind. Deshalb kann 168 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Die Pädagogik des Leibes
»diese Oralität einwandfrei parallel zur Kenntnis der Schrift existieren«, bemerkt F. Stuit. 46 Aus der Sicht von Jousse markiert dennoch die schriftliche Fixierung den Beginn einer Zivilisation des Todes. Der geschriebene Buchstabe ist etwas Totes. Darin erstarrt das lebendige gesprochene Wort, meint Jousse. Er findet provokative Formulierungen, wenn er gegen eine einseitig auf Schriftlichkeit fixierte Kultur polemisiert. Das Papier wird für das lebendige, gesprochene und von Gesten begleitete Wort zum »Leichentuch« 47. Es fehlen alle leiblichen Komponenten der Begegnung, die eine so entscheidende Rolle spielen für die Weitergabe einer kulturellen oder religiösen Tradition. Jousse fiel auf, dass Jesus von Nazareth selbst ein Meister des lebendigen Wortes war. Er hat selbst nichts Schriftliches hinterlassen. Jousse bekennt: »Wenn ich nicht zuerst die Mechanismen des palästinischen Milieus untersucht hätte, hätte ich niemals die Methodologie des Rabbis Jeschuha verstanden.« 48 Nicht nur die Lehre macht der Jünger sich zu eigen, sondern das, was der Lehrer verkörpert, d. h. was er selbst lebt und ist, soll im Lernenden Fleisch und Blut werden. 49 Denn es geht nicht nur darum, sich an Worte, an eine Lehre zu erinnern, sondern sich diese Lehre so einzuverleiben, dass sie auch in allen Gesten des Alltags durchscheinen kann. Sich an die Lehre zu erinnern heißt hier so viel wie sie im eigenen Leben lebendig werden zu lassen. 50 Wer zum Jünger wird, geht eine Beziehung besonderer Art ein. Angezogen von einem Rabbi, Mönchsvater, Zen-Meister macht sich der Schüler selbst unter der Führung eines Anderen auf den Weg, von dem er sich einen geistlichen Fortschritt verspricht. Dieser Lehrer ist der »Eine«, der eine Gruppe um sich schart (vgl. Matthäus 23,8). 51 Erlangen die Jünger die nötige Reife, können sie selbst für andere zu Lehrern werden. Sie sind dann in der Lage, sich in eine Tradition einzufügen, ohne dem Zwang zur Originalität zu verfallen. Es wird klar, dass nicht eine Lehre, sondern ein Wort, das von Leben erfüllt ist, im Zentrum steht. 169 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
III Leiblichkeit, Identität und Transzendenz
Der Lehrer bzw. »transmetteur« (Überbringer) muss selbst ganz von diesem Wort erfüllt sein. Das Überbringen geschieht weniger vom Mund des Lehrers in das Ohr des Schülers als »von Mund zu Mund«, weil der Schüler das Wort wie einen Bissen Brot aufgreift und es selbst kauend wiedergibt. Es ist im vollen Sinne des Wortes »mündliche Überlieferung«. Deshalb spielt auch die wortgenaue Wiederholung des Überlieferten eine zentrale Rolle. Nichts darf hinzugefügt, nichts darf weggelassen werden (vgl. Deuteronomium 4,2; 13,1). Die Worttreue hat unbedingt zu gelten. Die besondere Form dient dazu, sich leicht und unwiderruflich den Inhalt ins Gedächtnis einzuprägen. Die Erklärung des Gelernten kommt erst an zweiter Stelle. Diese Methode ist vor allem im alten Orient allgemein bekannt und heute keineswegs ausgestorben. 52 So konnten auch extrem lange »Texte« wortgetreu tradiert werden. Die schriftliche Fixierung des Überlieferten bedeutete keineswegs schon, dass die geschriebene Version nun eine höhere Autorität erlangte, wie das für uns »Schriftbesessene« selbstverständlich ist. Der Kirchenhistoriker Eusebius, der sehr bemüht war, zu beweisen, dass er seine Überlieferung über die Worte und Taten Jesu aus erster Hand bekam, schreibt: »Kam einer, der den Älteren gefolgt war, dann erkundigte ich mich nach den Lehren der Älteren und fragte: ›Was sagte Andreas, was Petrus, was Philippus, was Thomas oder Jakobus, was Johannes oder Matthäus oder irgendein anderer von den Jüngern des Herrn, was dann ja auch Aristion und der Presbyter Johannes, ebenfalls Jünger des Herrn, sagen.‹ Denn ich war der Ansicht, dass aus Büchern geschöpfte Berichte für mich nicht denselben Wert haben können wie das lebendige und beständige mündliche Zeugnis.« 53 Wer spricht, artikuliert nicht nur Worte, sondern spricht mit seinem ganzen Leib. Die Stimme hat eine besondere Färbung oder Intonation. Das Wort wird immer von Mimik und Gestik begleitet. Die Sprache, das Ausstoßen von Lauten, die 170 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Die Pädagogik des Leibes
Sinneinheiten wiedergeben, darf nicht isoliert betrachtet werden. Die Körperbewegung ist mehr als eine Begleiterscheinung zur Stimme; als rhythmische Geste ist sie ein unverzichtbares Element, das die Stimme begleitet und untermauert. Je nachdem, wie Geste definiert und welche Funktion ihr zugeordnet wird, fällt ihre Rolle für die Bildung der Identität über das Gedächtnis unterschiedlich aus. Jousse ist Anthropologe und Ethnologe, nicht Philologe. Hier setzt z. B. H. Meschonnic, Dichter, Sprachtheoretiker und Übersetzer des Alten Testaments, mit seiner Kritik an Jousse ein. Er würdigt bei allen Einwänden aber Methode und Inhalt von dessen Arbeit und bezeichnet es als die »größte Intuition Jousses, dass der Mensch mit seinem ganzen Leib denkt« 54. Auch er wurde in Deutschland bislang kaum rezipiert. Doch zurück zu Jousse selbst. Der ganzheitliche Blick auf das Denken, das mehr ist als Hirntätigkeit, ist kennzeichnend für Jousse. Stets geht es um ein globales, d. h. ganzheitliches Phänomen, um Wahrnehmung: »Nicht das Blatt Papier befähigt zu wissen und alles zu verstehen, sondern das ganze, lebendige und handelnde Sein, im Spüren und Erkennen. Auswendiges Wissen, das ist die dem Menschen gemäße Weise. Eine mimische Wiedergabe ist umso leichter verständlich, je mehr sie von vielen Gesten begleitet wird.« 55 Unter »Geste« versteht Jousse alle Bewegungen, ob klein oder groß, ob sichtbar oder unsichtbar, die im »Kompositum Mensch« 56 ausgeführt werden. Entscheidend ist dabei nicht, was sofort ins Auge springt: Durch aufmerksames Beobachten und Hinschauen wird sichtbar, was zunächst verborgen war. Die Geste oder Gebärde ist eine sprechende Bewegung, deren Bedeutung erschließbar ist. Sie ist Leib gewordene Sprache. »Die einzige Logik ist die Logik der Geste.« 57 Für Jousse führt das passive Sprechen und Zuhören zu einer passiven Haltung. Die Geste dagegen leitet ein aktives und lebendiges Zuhören und Lernen ein. 58 Dieses ganzheitliche, beidseitige 171 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
III Leiblichkeit, Identität und Transzendenz
Geschehen ist nicht zu vergleichen mit einer gesprochenen Rede, die lediglich durch Gesten untermauert wird. Das, was der Meister spricht, d. h. mit seinem ganzen Leib artikuliert, wird vom Schüler mit seinem ganzen Leib aufgenommen. Die Ausstrahlung (irradiation) wird mit allen Fasern des Leibes gesendet und ebenso aufgenommen. 59 Die »Inkarnation«, d. h. die Fleischwerdung des Seins des Meisters, soll sich in das Sein des Schülers einprägen. Diese Inkarnation führt dazu, dass der Lehrer vom Schüler buchstäblich aufgenommen, sogar »verspeist« wird. 60 Deshalb geht es auch um eine unablässige, tägliche Wiederholung. »So wie Essen ein tägliches Bedürfnis ist, so sollte dieses ›Sich-ins-Gedächtnis-Einprägen‹ (mémorisation) auch eine tägliche Notwendigkeit werden.« 61 Nach Jousse geht es in dieser ganzheitlichen Pädagogik darum, sich den Inhalt einzuverleiben, d. h. ihn aufzuessen wie das Brot, das ich esse und das so zu meinem Leib wird. Das ist weit mehr als rein kognitive Wissensvermittlung. Diesen Vorgang der Einverleibung nennt Jousse »intussusception mimismologique« 62 (von »intus« = innen und »suscipere« = empfangen, aufnehmen). Es besagt so viel wie Durch-Einverleiben-und-Imitieren-sich-zu-eigen-Machen. Dies beinhaltet zwei Momente: Ein Aufnehmen, das dem Essen und Kauen gleicht, und ein Wiederspielen des Gegenstands, das auch in seiner Abwesenheit stattfinden kann. »Damit allerdings das Spiel eines Gegenstands von uns integriert, verarbeitet und in Gesten verwandelt werden kann, muss die Intussuszeption tiefgreifend und nicht flüchtig sein, so dass sie überhaupt wahrgenommen werden kann.« 63 Für Jousse ist immer das Gesamterleben relevant, das sich nicht einem bestimmten Sinnesorgan oder exterorezeptiver, d. h. nach außen gerichteter Wahrnehmung zuordnen lässt, sondern nun das »mimème«, jenes Wiederspiel, in dem der Mensch das, was er vom Kosmos aufgenommen hat, wiedergibt, und zwar immer in der dreifachen Gliederung von »agent – agissant – agi« (dem, von dem ein Handeln ausgeht; dem, 172 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Die Pädagogik des Leibes
was sich beim Handeln bewegt; dem, was beim Handeln herauskommt). Die Entstehung und Entwicklung des Menschen kann durch ganzheitliche Erfahrung des Wirklichen gefördert werden. Für Jousse ist unser Gehirn das Interface zur Wirklichkeit, das, worin sich uns die Wirklichkeit spiegelt und in immer neuen Verbindungen vermittelt wird. Es ist aber nicht nur das Gehirn als Organ angesprochen. Der ganze denkende und fühlende Mensch ist Empfänger und »Wiedergeber, Wiederspieler« (celui qui rejoue) von Gesten und Worten. Jousse wurde geradezu ungeduldig, als man ihn fragte, wo diese »mimèmes«, die leiblichen Abbildungen des Wirklichen, zu finden seien. Er verwies auf die Natur, auf die fließende Quelle als Ursprung von allem, auf das, was die Quelle, wenn sie zum Bach wird, »tut«: eben fließen. Die mimismische Fähigkeit ist Charakteristikum des Menschen, sie ist seine angeborene Neigung. Deshalb ist der Unterschied zwischen »mimisme« und »mimétisme« wesentlich, will man Jousse richtig verstehen. Die mimetische Fähigkeit kann nicht nur dem Menschen, sondern auch dem Tier zugeordnet werden. 64 Der »Mimismus« dagegen ist mehr als bloße Nachahmung. Sie ermöglicht die Wiedergabe des Wirklichen und kommt zum Vorschein auch in Abwesenheit des Gegenstandes. 65 Es ist das, was Jousse »rejeu«, »Wiederspiel« nennt. 66 »Man versteht wirklich nur das, was man spielend wiedergibt.« 67 Das Siegel der Wirklichkeit, das vom ganzen Kosmos ausgeht und nicht auf bloße Ideen zu reduzieren ist, kann nur im leiblichen Subjekt einprägsam wirken. Es ist die Art und Weise, wie Kinder die Welt in sich aufnehmen und sich zur Wirklichkeit »stellen«. In diesem Spiel entwickelt das Kind seine erste Sprache: die Geste. Sie ist, wie Y. Langlois schreibt, »die erste Sprache des Kindes« 68. Umso mehr kommt es darauf an, diese Geste richtig zu erfassen und zu verstehen. Was Sprache ist, wird zu oft und zu schnell auf die verbale Sprache reduziert. Die Grundlage des Sprechens ist aber in einem viel weiteren Umfeld zu suchen. Das hat Jousse mit seinem Lebenswerk bewiesen. Immer wieder betont er das 173 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
III Leiblichkeit, Identität und Transzendenz
ganzheitliche Geschehen in der menschlichen Kommunikation, im Senden und Empfangen, Lehren und Lernen, im Tun und Sprechen. »Jede Geste ist der ganze Mensch« (Tout geste est tout l’homme) 69. Die rhythmische Geste bildet für Jousse die Grundlage des Gedächtnisses, das im Leib verankert ist, und damit das Fundament, auf dem eine orale Kultur basiert. 70 Die Entdeckung von der erkenntnistheoretischen Bedeutung der Geste hat Jousse dazu animiert, die Art und Weise, wie das Buch, das wir als »Bibel« kennen, tradiert werden kann, zu überdenken. Beim ersten internationalen Kongress für angewandte Psychologie in Paris (1929) schrieb Anina Klebe-Brandt: »Marcel Jousse bezieht seine neuartige, außerordentlich interessante Psychologie auf den gesamten Menschen und alle seine Lebensäußerungen. Er steht damit im Gegensatz zu den meisten übrigen praktischen Psychologen, die die einzelnen seelischen Funktionen voneinander und von der Gesamtheit des seelischen Wesens als solchem trennen und, wie er mit unerhörter Eindringlichkeit und sehr packend vortrug, ›so die Seele gleichsam in viele kleine Teile zerschneiden, denen der lebendige Zusammenhang fehlt‹. So wird etwa das Gedächtnis meist als eine reine Gehirnfunktion dargestellt, während Jousse behauptet, dass der ganze Körper, sein Bewegungssystem und sein rhythmisches Gefühl Träger des Gedächtnisses seien. Er demonstrierte seine Theorie, indem er ein junges Mädchen den Bibelspruch von dem Mann, der sein Haus auf Sand gebaut hat, vortragen ließ, einmal auf gewöhnliche Art und einmal rhythmisch betont. Schon aus diesem kurzen Beispiel erkannte man mit großer Deutlichkeit, wie unverhältnismäßig stärker der Eindruck des rhythmisch betonten Vortrages war. Und da ja das gute Gedächtnis meist auf der Stärke des ersten Eindrucks und der Konzentration darauf beruht, so leuchtet damit die Wahrheit seiner Theorie ein. Noch weit stärker wurde sie durch eine festliche Vorführung langer Teile aus den Evangelien durch 20 junge Mädchen in gleicher Art bestätigt.« 71 174 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Die Pädagogik des Leibes
d)
Rhythmokatechese und »Récitatif biblique«
Das Memorieren von überlieferten Bibeltexten auch unter dem Namen »rhytmo-catéchèse« bekannt, basiert auf einprägsamen Melodien, die nur fünf, höchstens sechs Töne haben und eine Oktave nie überschreiten. Sie sind ursprünglich vom aramäischen Genius inspiriert. 72 Hinzu kommt die erwähnte Schaukelbewegung des Körpers nach vorne und hinten, die den Vortrag rhythmisch unterstützt. Die biblischen Verse werden bei dieser Art Vortrag von einer Reihe Gesten begleitet, die nicht willkürlich sind, sondern verbindlich festgelegt einen genauen Sinn vermitteln. Die passenden Gesten findet man nur durch Annäherung. Es bleibt ein Suchen, das sich in der Praxis bewähren muss. Sie sind Bestandteil des Rezitativs, das nicht in Einzelteile zerlegt werden kann. Es gibt also nicht Text, Musik und Gestik, sondern eine Einheit, die nur als solche vermittelt wird, weil sie durch Wiederholung der Einprägung des Wortes Gottes in die ganze Person dient. Louise Bisson (Kanada) hat den Ansatz als »récitatif biblique« vertieft und weiterentwickelt. Sie stellt sich der Herausforderung, dadurch das Wort der Schrift wirklich zu verstehen, zu verinnerlichen und im eigenen Leben wirksam werden zu lassen, und bietet folgende Definition: »Die Disziplin ›récitatif biblique‹ verbindet die leibliche und die spirituelle Dimension des Menschen, indem sie ihn in der Tradition der mündlichen Überlieferung der Bibel verwurzelt. Lässt man sich auf diese Disziplin ein, so erlernt man die Kunst, sich bewegen zu lassen, innerlich ebenso wie äußerlich, vom lebendigen Hauch eines zeitlosen, heiligen Wortes. Ein ›récitatif biblique‹ ist eine ungekürzte Bibelstelle, die man sich auswendig einverleibt anhand der schaukelnden Bewegung, der Melodie und der Geste.« 73 Vorausgesetzt ist eine Ergriffenheit vom Wort, die die tieferen Schichten des Menschen berührt und zugleich bereit ist, sich nüchterner exegetischer Arbeit zu unterziehen. Das Verstehen geschieht nicht allein auf der intellektuellen Ebene 175 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
III Leiblichkeit, Identität und Transzendenz
von Erklärung und Einsicht, sondern bezieht die ganzheitliche Wahrnehmung und die emotionale Seite ein. Innerlich wie äußerlich kommt der Mensch in Bewegung und öffnet sich für das Wirken Gottes. Das lebendige Wort Gottes wird in Sprache, Melodie, Mimik und Gestik weitergegeben. Dafür muss dieses Wort im eigenen Leib wirklich Fleisch werden. Das Wort in dieser lebendigen Gestalt prägt sich beim Adressaten ein wie ein Siegel im Wachs. Es wird Teil seiner selbst und entfaltet eine identitätsbildende Kraft. »Die pädagogische Kraft dieser ganzheitlichen Methode (mémorisation globale) ist völlig ausreichend belegt durch alle, die sich ihr unterzogen haben.« 74 Von Friederike Hagen (Leipzig), seit 2009 Schülerin von L. Bisson, lernte ich selbst im Sommer 2012 diese Disziplin in der Praxis kennen. 75 Texte, deren Wortlaut mir sehr vertraut waren, weil ich seit fast zwei Jahrzehnten täglich mit der Bibel umgehe, sie höre, lese, meditiere und mit ihnen lebe, begannen auf neue Weise, in mir lebendig zu werden, weil sie »Fleisch« annahmen. Außer wenn ich als Lektorin die Texte vorlesen darf, nehme ich das Wort Gottes selten so unmittelbar in den Mund. Beim Chorgebet singen wir vorwiegend Psalmen, Cantica und Hymnen, die entweder direkt aus der Bibel entnommen oder stark von ihr beeinflusst sind. Dieses Mal aber durfte ich mir auf eine bisher unbekannte Weise Gottes Wort aneignen, indem ich Wort, Melodie und Geste »aus einem Guss« von einem lebendigen Menschen lernte. Das, was mein Mund beim »récitatif biblique« aussprach bzw. sang, wurde von einer Handgeste begleitet, und im Schaukeln des Körpers verspürte ich eine bisher unbekannte Einheit. Es war beglückend und erfüllte mein Herz mit Freude. Weil ich als Christin, Katholikin und Benediktinerin daran glaube, dass die Bibel nicht irgendein Buch unter vielen anderen, sondern Gottes Wort im Menschenwort ist, eine Offenbarung, die sich einer Inspiration ihrer Autoren durch den eigentlichen Autor, nämlich den Heiligen Geist verdankt, spürte ich, wie durch einen Vorgang der Verleiblichung und Ver176 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Die Pädagogik des Leibes
innerlichung dieses Wort auf einmal in mir Fleisch annahm. Das fand ich umso erstaunlicher, als die kurzen Texte, alle den Prophetenbüchern entnommen, mir an sich längst vertraut waren. Wenn mir jetzt diese Texte in den Sinn kommen, dann immer in der Form des »récitatif biblique«. In den Tagen ihres Aufenthalts im Kloster stand ich Friederike Hagen meist allein gegenüber. Zwei Jahre lang wiederholte ich die erlernten Rezitative. Inzwischen habe ich selbst angefangen, probeweise Rezitative zu komponieren. Dies geschah unabhängig von der kanadischen Schule. Ich habe diese schlichten Kompositionen mit einigen Gruppen erprobt. Die Resonanz war ermutigend, so dass ich nun mit Interessierten weiterarbeite. Im Juli 2015 lernte ich Yves Beaupérin persönlich kennen, der nun meine Arbeit weiterbegleiten wird. Durch ihn bekam ich einen tieferen Einblick in jene anthropologischen Gesetze, die für das optimale Funktionieren des Gedächtnisses so grundlegend sind. Wir arbeiteten aber auch allein mit der kleinen Gruppe, die sich in Mariendonk konstituiert hat. Das Wort Gottes ist nicht vor allem dazu bestimmt, nur von einem Einzelnen für die eigene Erbauung aufgenommen zu werden, sondern es konstituiert die Gemeinschaft derer, die es hören und freudig aufnehmen. Gerade das paulinische Bild des einen Leibes mit den vielen Gliedern wird, wenn wir gemeinsam Rezitative entwickeln, neu erfahrbar (vgl. 1. Korintherbrief 12,12 ff). Wir modernen Menschen haben die Grundlage des Gedächtnisses, die im Leib verankert ist, ausgeblendet und so das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. 76 Denn beim Zuhören sprechen wir nicht gleichzeitig die zu uns gesprochenen Worte mit. Unser Mund bewegt sich nicht. Der Kiefer rührt sich nicht. Einzig und allein unser Gehirn strengt sich an, ohne dass es von einem einzigen Muskel unterstützt wird. Juden lernen heute noch die Tora auswendig, indem sie den Körper »schaukeln« 77. 177 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
III Leiblichkeit, Identität und Transzendenz
Der Leib wird zur Stütze bei der Weitergabe der Erzählung gemacht. Die Verankerung dieser Pädagogik im Leib ist durch die Anatomie und Physiologie selbst vorgegeben. 78 Dazu zählen – basierend vor allem auf der dreifachen bilateralen Struktur des Leibes (rechts – links, vorne – hinten, oben – unten) der Bilateralismus, der Formulismus und die Rhythmo-Mimesis. 79 So entsteht eine Anthropologie der globalen Geste, die den Menschen als sprechendes Ganzes auffasst. Niemals kann das Wort isoliert werden und deshalb ist auch das Wort, das, was die Stimme hervorbringt, für Jousse zunächst Geste, Gebärde, Ausdruck eines lebendigen Leibes. 80 Als Jousse am 26. April 1928 im Théâtre des Champs-Elysées die erste Rezitation biblischer Verse präsentierte, wurde dies nicht verstanden. Die Zuschauer meinten, es handle sich um eine »leibliche Performance« (expression corporelle). Da ergriff ihn die Wut, er packte seine Sachen wieder ein und ging. Weitere Demonstrationen erfolgten später in verschiedenen Kontexten und bewiesen die Fruchtbarkeit der geleisteten Arbeit im »Laboratoire de rythmo-pédagogie«, den Jousse 1932 begründet hatte. Die Melodien der Rezitative komponierte die einfühlsame Musiklehrerin Gabrielle Desgrées du Loû, der er 1922 in Jersey (England) begegnet war. Sie arbeitete mit M. Jousse bis zu ihrem Tod 1955. Wie bei allen großen Pionieren löste die Arbeit von M. Jousse entweder Bewunderung oder massive Kritik aus. Zeit seines Lebens zehrte er von der Anerkennung, die er vor allem in Rom bei Pius XI. und dem zukünftigen Kardinal Bea gefunden hatte, als er 1927 vor vollen Sälen seine Vorträge zum »oralen Stil« (style oral) an dem »Institut biblique pontifical« hielt. 81 1932 wurde der Lehrstuhl für »anthropologische Linguistik« an der Pariser École d’Anthropologie für ihn eingerichtet. Nach dem Tod von Jousse organisierte Gabrielle Baron 1973 zwei weitere öffentliche Vorführungen der biblischen Rezitative. Auf die Bitte mehrere Zuschauer dieser Vorfüh178 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Die Pädagogik des Leibes
rungen hin wurde der »Laboratoire d’Anthropologie rythmopédagogique« wiederbelebt, damit die biblischen Rezitative weitertradiert werden konnten. In Frankreich berufen sich heute verschiedene Gruppen und Schulen auf das Erbe von Marcel Jousse. 82 Kurse für das Erlernen dieser »Methode« werden an verschiedenen Orten und in unterschiedlichen Kontexten wie Schulen, geistlichen Zentren, Ordenshäusern und Gemeinden angeboten. Im Vordergrund steht immer die Beziehung zu einem Wort, das in uns lebendig werden will. Alle Ressourcen und Mechanismen des Körpers, Atmung, Ausrichtung, Gestik, Rhythmik und Sprachvermögen, werden mobilisiert und dienen der Einverleibung bzw. dem »Einfleischen« eines lebendigen Wortes, um einen Ausdruck aus der Sprache von K. G. Dürckheim zu gebrauchen. 83 Der Mensch gibt stets wieder, was er aufgenommen hat. Jousse betont die Rolle der konkreten Erfahrung als konstitutiv für die Identität des Menschen. 84 Die ersten Jünger des »Rabbi Jeschuha« waren einfache Fischer, Handwerker oder Zöllner. Das Evangelium ist voll von Verweisen und Gleichnissen, die aus dieser Kultur stammen. Der leibliche Kontakt mit der Wirklichkeit, ob bei der Feldarbeit oder bei der Herstellung von Verbrauchsgegenständen wie Kleidern oder Töpfen, verleiht der geistlichen Dimension der Existenz eine spürbare Verankerung im Alltag. Nun könnte man einwenden, der Fortschritt sei eben unaufhaltsam. Die Entwicklung zunächst von der mündlichen Tradition zu einer Zivilisation der Schrift und nun zu einem digitalen, durch und durch mediatisierten Zeitalter kann tatsächlich nicht rückgängig gemacht werden. Sich dessen bewusst zu werden, kann aber dazu verhelfen, adäquate Wege für die Glaubensvermittlung zu suchen. Wenn im Wort »Gott« immer ein Überschuss an Gehalt steckt, den unsere Fassungskraft nicht aufnehmen kann und auf den es doch letztlich ankommt, dann wird es »für die Schrift, für diese eine Schrift, eine Lebensfrage, dass nicht bloß 179 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
III Leiblichkeit, Identität und Transzendenz
neben ihr, sondern in ihr selbst das Wort erhalten bleibt«, schreibt F. Rosenzweig. 85 Das Wort, auch das durch vielerlei Medien aufbereitete Wort, muss wieder Atem, Fleisch werden, wenn es sich nicht in eine Scheinrealität auflösen will. »Der Atem ist der Stoff der Rede; so ist das Atemschöpfen ihre natürliche Gliederung.« 86 Beim Sprechen und noch mehr beim Singen spielt der Atem eine zentrale Rolle. Beim üblichen stummen Lesen von Buchstaben bleibt er eine leibliche Funktion, derer man nicht gewahr ist und auch nicht gewahr werden muss, weil sie wie selbstverständlich im Hintergrund da ist. Der Ansatz von M. Jousse ist ein Beitrag dazu, die Liebe zu dem uns zugesprochenen Wort Gottes aufzufrischen und real zu »respiritualisieren«. Wie alle Ansätze, die den Leib einbeziehen, bedeutet er einen tiefen Eingriff in die Person und entfaltet deshalb eine nachhaltige Wirkkraft. »Ein Buch, und grade das Buch, von dem in unsrer, der jüdisch-christlichen Kulturwelt jenes Verhängnis der Schriftwerdung und Verliterarisierung des Worts seinen Anfang nahm und an dem auch das Heilmittel, die mündliche Lehre, die Tradition, zuerst erprobt wurde, dieses eine Buch allein unter allen Büchern unsres Kulturkreises […] gerade es und allein es darf auch als Buch selber nicht ganz ins Schrifttum, nicht ganz in die Literatur eingehen«, betont F. Rosenzweig. 87 Dieser Ansatz hilft, die lebendigen Worte des »Rabbi Jeschuha« aus Galiläa neu zu entdecken. Sie sind heute in fast alle Sprachen der Menschheit übersetzt; aber sie warten noch darauf, wieder in die Sprache des Leibes, des Atems und der Geste »rück-übersetzt« zu werden. Man käme so dem Genius einer inspirierten Schrift am nächsten. Gottes Wort nimmt menschliche Gestalt an, in der Sprache und im Laut, aber auch in der Melodie und in der Gestik, denn »vollzogene Offenbarung ist immer Menschenleib und Menschenstimme, und das heißt immer: dieser Leib und diese Stimme im Geheimnis ihrer Einmaligkeit«, schreibt M. Buber. 88 Der Leib steht am Anfang unseres Daseins und unseres 180 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Die Pädagogik des Leibes
täglichen, nie abgeschlossenen »zur Welt Kommens«. Der phänomenologische Ansatz von Husserl und Merleau-Ponty, der der Leiblichkeit eine zentrale Stellung in Erkenntnisprozessen einräumt, findet bei dem Phänomenologen und Psychologen T. Fuchs und bei dem Anthropologen und Ordensmann M. Jousse eine neue Bestätigung. Das Aufnehmen und Wiedergeben geschieht im Leib und durch den Leib, der zum Resonanzraum wird. Hier ist Jousse ganz nah bei MerleauPonty, der den Leib als Sender und Empfänger betrachtet. »Es ist die Wesensbestimmung des menschlichen Leibes, sich in endlos offenen Folgen diskontinuierlicher Akte immer neue Bedeutungskerne einzuverleiben, die sein natürliches Vermögen überschreiten und überhöhen.« 89 Unser Gedächtnis wird von einer ganzheitlichen Wahrnehmung der Wirklichkeit gespeist, die wiederum bei der Konstitution unseres Weltbildes und unserer Werte eine zentrale Rolle spielt. Jousse und Merleau-Ponty betonen stets die Einheit der Wahrnehmung: dessen gewahr werden, was sich gerade zeigen will, und zwar mit allen Sinnen. Das bedeutet, dass die Art und Weise, wie ich die Welt wahrnehme, konstitutiv ist für die Art und Weise, wie sie für mich da ist. Ändert sich meine Wahrnehmung, dann ändert sich auch die Art und Weise, wie die Welt für mich da ist und wie ich über sie spreche. Ändert sich die Wahrnehmung, ändert sich die Welt. Sich auf diese Sicht von Jousse und Merleau-Ponty einzulassen heißt, zu einem Modell der sinnlichen Wahrnehmung zurückzukehren, das vor dem aristotelischen Modell liegt, das »als organspezifizierende und gegenstandidentifizierende Klassifikation der Sinne im Okzident das älteste und wirkungsmächtigste ist« 90. Ihm zufolge verfügt der Mensch über fünf Sinne und diesen werden dann bestimmte Gegenstände und Organe zugewiesen. Die Arbeit mit der Wahrnehmung macht uns aber bewusst, dass wir über mehr »Informationskanäle« verfügen. Wenn interozeptive, d. h. den inneren Organen zugewandte, und exterorezeptive Wahrnehmung 181 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
III Leiblichkeit, Identität und Transzendenz
eingesetzt wird und zugleich die Fähigkeit, das, was sich zeigt, sprachlich zu artikulieren, eingeübt wird, dann ändert sich der Zugang zur Wirklichkeit. Empfindungen wie »schwebend«, »leicht« oder »schwer«, »eng« oder »weit«, »entspannt« oder »verkrampft«, »getragen« oder »abgestoßen« zu sein, sind nicht den einzelnen Sinnen, wie der Sehfähigkeit oder dem Gehör, dem Tast- oder Geruchssinn zuzuordnen, sondern der interozeptiven Wahrnehmung. Sprachliche Wendungen wie »es liegt mir auf dem Magen«, »mir fällt ein Stein vom Herzen«, »mir wird ganz übel«, »ich habe kalte Füße bekommen« oder eine »Gänsehaut«, die Haare, die plötzlich »zu Berge stehen«, bezeichnen unverwechselbare Empfindungen und drücken genau einen Zustand aus, obwohl sie sich nicht eindeutig einem der fünf Sinne zuordnen lassen. Der Leib speichert Gesamteindrücke. Es bildet sich ein Gespür für die Wirklichkeit, wie sie auf den Menschen zukommt. Hinzu kommt jener so wichtige »Takt« für die einzelnen Situationen, der allzu schematische Reaktion verbietet. Ist das gruselige Ereignis vorbei, kann doch das bloße Sich-daran-erinnern die Gänsehaut wieder hervorrufen. Die Fähigkeit, uns zu erinnern, trägt wesentlich zur Konstitution unserer Persönlichkeit bei. Das Fundament unserer Persönlichkeit ist das Gedächtnis, das von im Leib verankerten Erlebnissen gespeist wird. 91 Der Leib speichert Gesamteindrücke. Diese liegen wiederum unserer Persönlichkeit und damit unserer Identität zugrunde. Je weniger der Mensch in seinem Leib lebt, je mehr sein Wissen, seine »Erinnerungen« sich außerhalb seiner selbst befinden, weil er sie der toten Materie, ob in der Form von Technik, Schrift, Büchern, digitalisierten Trägern, aber auch Internet zu jeder Zeit fast von jedem Ort aus zugänglich anvertraut hat, je »vergesslicher« und entwurzelter wird er. W. Benjamin zeigte für die Arbeit von Jousse Interesse, weil er selbst die Erzählung als konstitutiv für das Gedächtnis sah. Außerdem widmete er Untersuchungen dem mimetischen Vermögen des Menschen und sah die Arbeiten Jousse und Paget als bestätigend für die eige182 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Die Pädagogik des Leibes
nen Ergebnisse an. 92 Er kannte die Arbeiten von Jousse zwar nicht direkt, sondern über ein Werk von F. Lefèvre. 93 Für Benjamin steht das Oralgedächtnis im Zentrum der Aufmerksamkeit. Für ihn wie für Jousse ist die Geste der Ursprung der Sprache, wenn er auch einen anderen Blickwinkel als Jousse einnimmt. 94 Marcel Mauss, dessen Vorlesungen Jousse in Paris besuchte, wäre an dieser Stelle ebenfalls zu nennen. Mauss erkannte »die soziale Wirksamkeit« des Rhythmus und wie er »zugleich die literarische Wirksamkeit ausmacht«, schreibt E. Schüttpelz. 95 Der Weg geht also vom Text zur ursprünglichen Geste zurück: »An der Art und Weise, wie diese formuliert werden, an den verschriftlichten Version der ursprünglich oralen Poesie kann man im Nachhinein die Beteiligung des Körperrhythmus erkennen«, fasst C. Wulf den Beitrag von Jousse zusammen. 96 Dieser Bereich ist aber so umfangreich, dass wir lieber an dieser Stelle auf die Werke von Mauss und Jousse selbst, insbesondere auf sein »Style oral rythmique et mnémotechnique chez les verbo-moteurs« (1925), verweisen. Der Veröffentlichung dieses Buches folgte eine Flut von Aufsätzen in Frankreich, aber auch in Italien. 97 Jousse gibt zu, dass dieses Meisterwerk, das er erst nach 18 Jahren Forschungsarbeit veröffentlicht hat, fast ausschließlich aus Zitaten besteht. 98 Mit dieser ungewöhnlichen Arbeitsweise setzt er ein deutliches Zeichen und tritt in die Fußstapfen der orientalischen Erzähler, die Sätze und Sinneinheiten (Schèmes propositionnels traditionnels) neu ordnen und meisterhaft miteinander kombinieren, so dass sie aus ihrem reichen Vorrat »Neues und Altes« hervorholen. (vgl. Matthäusevangelium 13,52) 99 Gesten und Rhythmen weisen eine starke soziale Komponente auf, die besonders im kultischen Bereich wichtig wird. Was im Bereich des Natürlichen, des Menschlichen gilt, spielt ebenfalls eine Rolle, wenn es die Beziehung zur Transzendenz betrifft. Heilige Texte und Schriften, die aus der Oraltradition kommen, tragen den besonderen Stempel dieser Kultur, und 183 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
III Leiblichkeit, Identität und Transzendenz
dieser ist für Jousse der zugrundeliegende Rhythmus. Werden diese Texte wieder gesprochen, in den Mund genommen, so ist es wesentlich, dass sie nicht nur »gesprochen« werden, sondern dass der Rhythmus wieder den Leib ergreift. Die vollständige Hingabe an den heiligen Text – mit »Leib und Seele«, mit dem Mund, aber auch mit den Armen und Füßen – kennen wir so im westlich geprägten Christentum nicht mehr. Der Mund, das gesprochene Wort, hat nun diese umfassende Geste des ganzen Körpers weitgehend verdrängt, der Text hat die Oraltradition zum Verstummen gebracht, und damit ist der eigentliche Ursprung der Sprache und der Poesie, der tief im Kompositum Mensch selbst liegt, in Vergessenheit geraten.
4)
Liturgieunfähigkeit und leibliches Selbst
Es gibt die stereotype Klage über die Liturgieunfähigkeit des heutigen Menschen, begründet in der schwindenden Glaubenspraxis und im mangelnden Verständnis des liturgischen Geschehens und seiner Rolle im Leben des Christen. 100 Wer nie an einem Gottesdienst teilgenommen hat, weiß nicht, wie er sich dort verhalten soll, wann er stehen und wann er sitzen soll. Zu nennen ist zudem die mangelnde Fähigkeit, eine unsichtbare Wirklichkeit im Leib zu vergegenwärtigen. Von demjenigen, der in der Liturgie aktiv agiert, wird viel Präsenz verlangt. Noch mehr als der Lehrer, die Vortragende oder der Anwalt, die sprechend Sachverhalte darlegen und vermitteln, muss der Liturge einerseits ganz da sein und darf sich andererseits doch nicht in den Vordergrund drängen. Schließlich geht es nicht um ihn, sondern um Gott. Er ist und bleibt der eigentlich Handelnde. Liturgie lebt von der doppelten Fähigkeit, unsichtbare Wirklichkeit gewissermaßen sichtbar und das Vordergründige unsichtbar werden zu lassen. Dies bleibt eine gefährliche Gratwanderung. Die im Leib spürbare Erfahrung des Heiligen ist 184 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Liturgieunfähigkeit und leibliches Selbst
die Bedingung für die angemessene Ausführung bestimmter Bewegungen. Dies gilt bereits im profanen Bereich. »Der Gebrauch, den der Mensch von seinem Leibe macht, transzendiert den Körper als bloß biologisch Seiendes.« 101 Jede Geste beinhaltet ein Mehr an Bedeutung, das weit über ihre physisch-physiologische Grenze hinausreicht. 102 Bei der Erfahrung des Heiligen kommt es verstärkt zum Tragen. Bleibt dieser Überschuss an Ausdruck und Bedeutung aus, dann erscheinen liturgische Handlungen als sinnloses Theater, leere Gebärden, die in nichts gründen und nirgendwo hinzielen. Über die zentrale Stellung der Leiblichkeit in der Liturgie ist schon viel nachgedacht worden, aber vielleicht immer noch nicht genug. Die »Rubriken«, jene in den liturgischen Büchern traditionell rot gedruckten Teile, die den ordnungsgemäßen Vollzug der jeweiligen Geste beschreiben, erweisen sich als nutzlos, wenn der innere Bezug zum Eigenleib fehlt. Das Gespür für das, was der Leib als solcher zum Ausdruck bringen soll, ist für die Sprache des Leibes konstitutiv. Dem Vorsteher der Liturgie sollte klar sein, wie er die aktive Teilnahme der Gläubigen durch seine »Körpersprache« begünstigt oder erschwert. Dann wird sein Leib auch für andere zum Fenster der Transzendenz. Guardini sagt: »In der Liturgie handelt es sich zuerst nicht um Gedanken, sondern um Wirklichkeit. Und nicht um vergangene Wirklichkeit, sondern um gegenwärtige, die immer aufs Neue geschieht, an uns und durch uns geschieht; um Menschenwirklichkeit in Gestalt und Handlung.« 103 Was der menschliche Leib in der Liturgie zum Ausdruck bringen soll, ist nichts anderes als die Beziehung zur verborgenen, unsichtbaren Wirklichkeit Gottes. Der Ursprung dieser Wirklichkeit ist außerhalb meiner selbst zu finden. Wenn die »Gedanken« nur Produkte unseres Geistes sind, dann sind sie in der Tat der Wirklichkeit unterlegen. Ist das Gespür für die von mir so ganz verschiedene göttliche Wirklichkeit vorhanden und nicht nur das abstrakte Wissen, dass es sie gibt, so wird auch die einfachste Geste zu 185 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
III Leiblichkeit, Identität und Transzendenz
sprechen beginnen. Fehlt dieses Gespür, dann sieht dieselbe Geste ehrfurchtslos und banal aus. Erst wenn die Beziehung zum Unsichtbaren schlechthin realisiert wird, kann das unendlich Unsichtbare sichtbare Gestalt im endlichen Leib annehmen. Die Bedeutung und die Einzigartigkeit des Leibes müssen also als Potential entdeckt werden, das eine aktive Teilhabe (participatio actuosa) an der Liturgie fördert. Heute ist es nicht leicht, ein Gespür für die unsichtbare Wirklichkeit als Grund aller sichtbaren Wirklichkeit zu entwickeln. Die Allgegenwärtigkeit der virtuellen Welten erweist sich als Hindernis für den Zugang zur unsichtbaren, aber deshalb nicht weniger realen, im Glauben gegebenen Wirklichkeit. In der realen Welt sind alle Geschehnisse der Zeit unterworfen. Körperliche Berührungen, Handlungen und Gesten – alle ereignen sich wesenhaft in der Zeit. Eine Geste, die in der realen Welt von kurzer Dauer ist, kann in der virtuellen und mediatisierten Welt beliebig oft wiederholt werden. Eine Erfahrung des zwischenmenschlichen Kontaktes wird nun in der Isolierung »erlebt«. Wirklichkeits- und Beziehungsfähigkeit schwinden, wenn Kontakte zunehmend virtuell gepflegt werden und in Chat-Rooms stattfinden. 104 Heute entstehen Welten per Mausklick. Sie sind mit einem federleichten Fingerdruck jederzeit und nun schon fast überall abrufbar. Es fällt dann umso schwerer, auf diese verführerische Leichtigkeit digitaler Bilder zu verzichten, um innere Bilder entstehen zu lassen. Aber die Liturgie lebt von der Fähigkeit, durch das Sichtbare hindurch auf das Unsichtbare zu schauen. Der Ruf des Priesters zu Beginn des eucharistischen Hochgebets »Erhebet die Herzen!« wird von einer bestimmten Geste begleitet. Beide Arme erheben sich nach oben. Da der Mensch den Impuls, der von Gebärden ausgeht, mit seinem ganzen Leib aufnimmt, wird die Geste mehr als das Wort die Erhebung der Herzen hervorrufen. Wird sie jedoch ohne jegliche Überzeugung vollzogen, wird sie auch nur eine schlappe, blasse Antwort hervorrufen. Die Motivation der Antworten186 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Liturgieunfähigkeit und leibliches Selbst
den hängt sehr wesentlich von der Motivation dessen ab, der sie einlädt. Wird die Geste überzeugend ausgeführt, werden die Teilnehmer der Liturgie innerlich mitgerissen. Ihr Herz erhebt sich wie von selbst und die Antwort »Wir haben sie beim Herrn« wird nicht nur Bekräftigung einer Glaubenswahrheit, sondern sie wird von einer bestimmten Empfindung im Leib begleitet. Ein Herz, das beim Herrn ist, fühlt sich anders an als eines, das nicht bei ihm ist. Die Empfindung geht nicht immer mit dem Glauben einher und der Glaube darf auch nicht auf die Empfindung reduziert werden. Die Erhebung des Herzens zu Gott ist aber auch kein bloß intellektueller Akt. Das Zusammenfallen von Wort und Gebärde ist maßgebend, um den Vorgang der Herzerhebung selbst zu begreifen. Auch wer nichts von Liturgie versteht, kann hier durch die Gebärde, die eigentliche Sprache des Leibes, mitgerissen werden. Es ergibt sich eine gegenseitige Bestätigung im Wechselspiel zwischen Vorsteher und Teilnehmer an der Liturgie. 105 Die Art und Weise, wie Gesten verstanden werden, ist eine andere als die, wie Worte erschlossen werden. Geschriebenes oder Gesprochenes wird verstandesmäßig interpretiert; Gesten sind selbstsprechend und selbsterklärend. Eine je eigene Welt, die von der Geste sozusagen entworfen wird, entsteht in dem Moment, in dem die Geste ausgeführt wird. 106 Der Leib schafft so wie die gesprochene Sprache selbst seine Bedeutung. Er ist zugleich Bekundung und Offenbarung und nicht bloße Mitteilung von Inhalten, die dieser Sprache selbst fremd wären. Der Leib enthält immer einen Überschuss an signifikantem Gehalt. Um dieses »Mehr« zu erfassen, muss der Leib selbst die Botschaft, die er vermitteln möchte, werden. 107 Das Gespür für die ans Unendliche reichende Bedeutungsvielfalt des Leibes wird zur Voraussetzung für die Fähigkeit, über sich hinaus zu verweisen auf jene größere unsichtbare Wirklichkeit, die Gott ist. Hier kommt das, was Merleau-Ponty »Intentionalität des 187 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
III Leiblichkeit, Identität und Transzendenz
Leibes« nennt, ins Spiel: wenn der Leib den Umweg über den Gedanken nicht mehr braucht, sondern selbst dieser Gedanke geworden ist. 108 Bewegung ist die Art und Weise, wie der Leib nicht in der Zeit und im Raum ist, sondern wie er selbst zu Raum und Zeit wird. Raum und Zeit verändern sich mit dem Leib selbst, mit der Stellung, die er einnimmt, und den Empfindungen, die ihn durchströmen. »Leben« ist »Leiben«; denn wir können der Erfahrung des Daseins im Leib als Dasein in Raum und Zeit nicht entrinnen. 109 Im Fall der Liturgie dehnt sich der Horizont der Bewegung bis zur Transzendenz. Jede Bewegung enthält ein Mehr an Bedeutung, das wie beim Händedruck nicht auf das Zwischenmenschliche reduziert werden kann. Oft geben wir z. B. den Friedensgruß einem Menschen, den wir überhaupt nicht kennen. Wir tun es in der Gewissheit, dass diese Bewegung wirklich eine andere Art von Frieden meint und realisiert, die ihren Ursprung außerhalb unserer selbst hat. Die einfache Geste dagegen, die wahrgenommen wird als Bewegung zum Anderen hin, hat ihren Ursprung in meinem Eigenleib, der ich bin. Menschen haben je nach Kultur, Erziehung, Sozialisation und Veranlagung eine unterschiedliche Beziehung zum Eigenleib. Es ist jedoch ein Trugschluss, von einer intensiven Beziehung zum Eigenleib auf einen großen Glauben oder eine tiefe Religiösität zu schließen. Ein Mensch, der nicht in seinem Leib zu Hause ist, wird unbeholfene Gesten ausführen, und es kann schnell geschehen, dass wir davon ausgehend ein falsches Urteil über ihn fällen. Den Glauben anderer zu beurteilen steht uns aber nicht zu. Nur Gott allein sieht in die Tiefe des Menschenherzens. Den Menschen bleibt dieser Blick verborgen. Der Liturge ist also nicht der perfekte Schauspieler, sondern derjenige, der eine Beziehung zum unsichtbaren Gott im Leib sichtbar werden lässt, auch mit den Brüchen, die ihn in seiner Person und seiner Glaubensgeschichte geprägt haben. Charakter und Temperament, alles, was unser Ich ausmacht, werden ebenfalls durchscheinen, wenn es sich auch niemals um eine 188 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Ding- und Raumerfahrung in der Liturgie
»one man show« handelt, sondern um einen Dienst, der eine Unterordnung und Einordnung des Ich verlangt.
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Ding- und Raumerfahrung in der Liturgie
Heilige Orte und Räume ermöglichen dem Menschen das, was Immanuel Kant als Erfahrung des Erhabenen 110 und Rudolf Otto als Erfahrung des Faszinierenden und Erschreckenden (»mysterium fascinosum et tremendum«) benannt haben. Eine neue Dimension bricht hervor, die des Ganz-Anderen. 111 Wer eine Kirche betritt und nicht merkt, wo er ist, hat sie im Grunde nicht betreten. Er war dort nicht wirklich anwesend, ihm ist die Schwelle zwischen profan und sakral nicht bewusst geworden. Wer dagegen im Kirchenraum zu Hause ist, wird in seinem Benehmen und in seiner Bewegung sicher sein. Er meidet Vertraulichkeit und Unbeholfenheit. Er wird eine ehrfürchtige Haltung einnehmen und konkrete Handlungen wie Kreuzzeichen oder Kniebeuge vollziehen. Eine Kirche ist ein besonderer Raum, der sich von allen anderen Räumen unterscheidet. Der Name »Gotteshaus« drückt aus, dass der eigentliche Bewohner bzw. Besitzer des Hauses Gott ist. Von ihm ist der Mensch eingeladen, dort sein Gast zu sein. Der Mensch verlässt die profane Welt und begibt sich in einen heiligen Bereich, der so konstituiert ist, dass er eine bestimmte Wirkung ausübt. Er erinnert den Menschen an diese göttliche Präsenz. Er drängt sie ihm quasi auf. Im Eingangsbereich jedes Gotteshauses könnte der Satz stehen, den Mose am brennenden Dornbusch vernommen hat: »Komm nicht näher heran! Leg deine Schuhe ab; denn der Ort, wo du stehst, ist heiliger Boden« (Exodus 3,5). Das Ablegen der Schuhe ist auch bei Muslimen und Hindus das Zeichen dafür, dass die Moschee oder der Tempel ein heiliger Ort ist. Wenn unser Dasein in der Welt ein Dasein im Leib ist, ist es nicht weniger ein Dasein im Raum. Die räumliche Dimen189 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
III Leiblichkeit, Identität und Transzendenz
sion der Existenz ist für sie konstitutiv. Wenn ich im Leib bin, bin ich zugleich auch irgendwo. »Leib sein heißt an eine bestimmte Welt geheftet sein, und unser Leib ist zunächst nicht im Raum: er ist zum Raum (Il est à l’espace).« 112 Mein Leib ist mein Ort, aber durch den Leib ist mir auch der Ort und mit ihm der Raum, in dem die Welt mir entgegenkommt, gegeben. »Der Raum ist kein (wirkliches oder logisches) Milieu, in welches die Dinge sich einordnen, sondern das Mittel, durch welches eine Stellung der Dinge erst möglich wird.« 113 Dies gilt für die Art und Weise, wie ich die Dinge wahrnehme und wie ich mit ihnen in das wechselseitige Geschehen der Sinngebung eintrete. In einer Kirche schaut der gläubige Mensch nicht auf die Dinge an sich, sondern sieht in ihnen das, wofür sie stehen. So deutet das kleine rote Licht vor einem Tabernakel auf die Realpräsenz des Herrn in der Eucharistie hin. Fehlt der Bezug zu dieser eucharistischen Präsenz, so wird das rote Licht zu einem Gegenstand, dem keine weitere Bedeutung zukommt, als etwas Helligkeit und Wärme in einer dunklen Ecke zu spenden. Bei einer Gabenprozession geht es nicht um den Transport von Dingen von einem Ort zum anderen, sondern darum, das, was der Mensch selbst empfangen hat, nun feierlich Gott zurückzugeben. Die eigentliche Darbringung vollzieht sich also im Innern, in der Hingabe des Herzens und hat als Korrelat den sichtbaren Gang zum Altar. Fehlt die innere Darbringung, die als Intentionalität der Bewegung aufgefasst werden kann, dann bleibt die Handlung ihrer eigentlichen Bedeutung beraubt. Fasse ich bei einer Eucharistiefeier den Kelch an und trinke daraus, dann wird bereits durch die Geste des Anfassens die Beziehung, die ich zum Blut des Herrn habe, deutlich. Der Kelch mit dem kostbaren Blut verlangt, dass ich ihn mit Ehrfurcht umgreife. Ist mir dieses ehrfürchtige Anfassen zur Gewohnheit geworden, dann wird mir die Geste selbst zur Vergegenwärtigung der eucharistischen Gestalt des Blutes des 190 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Ding- und Raumerfahrung in der Liturgie
Herrn werden. »Man sagt, der Leib habe verstanden und die Gewohnheit sei erlangt, wenn er von einer neuen Bedeutung sich hat durchdringen lassen, einen neuen Bedeutungskern sich angeeignet hat«, schreibt M. Merleau-Ponty. 114 Sich etwas einverleiben heißt so lernen, dass das Gelernte im Leib gespeichert wird und nicht mehr vergessen werden kann. Es wird zum integralen Bestandteil meiner Identität. Natürlich gerät das Gelernte, wenn es nicht mehr aktiv praktiziert wird, in Vergessenheit. Es ist dann aber nicht einfach weg, sondern in tieferen Schichten meines Seins versunken und kann entweder von selbst wieder hochkommen oder aber bewusst aufgerufen werden. Phänomenologisch betrachtet geht es in der Gebärdensprache der Liturgie darum, neue »geheiligte« Beziehungen zu den elementaren Strukturen der Welt wie oben und unten, d. h. zum Himmel (geistig-geistliche Welt) und zur Erde (Materie), zur Nahrung als Opfergabe oder zur Gemeinschaft als Größe, in der das Individuum sich geborgen und aufgenommen weiß, zu stiften. Diese Sprache von Gesten kann wie jede andere Sprache vornehm oder banal »klingen«. Ehrfurcht oder Sinn für das Heilige werden vor allem in der Ausführung von Gesten wahrgenommen oder eben auch vermisst, je nachdem, wie die heiligen Handlungen ausgeführt werden. In der Bildung eines Bewusstseins für das Heilige, das Voraussetzung für die Liturgie ist, soll die Fähigkeit zur Innerlichkeit im Leib verankert werden. Nicht nur der äußere Raum, der äußere Rahmen, lassen die unsichtbare Wirklichkeit Gottes präsent werden, sondern auch die Fähigkeit zu dieser Innerlichkeit, die in jeder Handlung, jedem Wort, ein »Mehr« erblickt und erfährt gegenüber dem, was sich zu zeigen vermag. Es klingt paradox, aber die Liturgie lebt vom realen Erscheinen unsichtbarer Phänomene. Die Fähigkeit zum Vollzug liturgischer Handlungen setzt neben dem Bewusstsein für das Heilige noch eine andere Fähigkeit voraus, nämlich die Kunst der Präsenz oder des Bei-sich-wohnens. 191 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
III Leiblichkeit, Identität und Transzendenz
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Zur Fähigkeit des Bei-sich-wohnens
Wenn Benedikt schreibt, die Mönche sollen das Kloster nicht verlassen, »denn draußen herumzulaufen, sei für sie überhaupt nicht gut« (Benediktsregel 66,6), dann gilt das auch im übertragenen Sinn. Die Klausur, die den Bereich des Klosters nach innen und nach außen markiert, ist Bedingung und Garantie für die Beständigkeit (stabilitas) am Ort und in der Gemeinschaft. Sie will, so sieht es zumindest die Regel vor, konkret gehalten und gelebt werden. »Draußen« meint immer den Bereich außerhalb des Klosterterrains. »Dort« herrschen andere Regeln als im Kloster. Mein Leib kann mir zur Klausur werden, wenn ich in ihm wohne und ihn deshalb bewusst als Ort des Rückzugs, des »habitare secum« erlebe. Ausgehend von diesem Wohnen im Leib gestaltet sich meine Beziehung zur Welt. Gregor der Große beschreibt in seinen Dialogen den Mönchsvater Benedikt als einen Mann, der »bei sich selbst wohnte« 115. »Habitare secum« heißt am inneren Ort seiner selbst sein und ihn nicht verlassen. »Bei sich zu sein in etwas anderem, als was man selbst ist, man selbst zu sein, indem man von etwas anderem, als was man selbst zu sein, indem man von etwas anderem, als was man selbst ist, lebt, leben von … konkretisiert sich in der leiblichen Existenz.« 116 Dieser schwierige Satz von E. Lévinas deutet darauf hin, dass dieses Bei-sich-sein keine Nabelschau und kein in sich selbst verkrümmtes Dasein meint, sondern das Hüten eines kostbaren Gutes, nämlich der Sammlung, im Fall Benedikts also der Sammlung auf Gott hin. Alle Bewegungen nach außen sollten von diesem Innern ihren Ausgang nehmen. Wenn das Handeln nicht mehr aus dieser Innerlichkeit heraus vollzogen wird, entleert sich die Bewegung ihres Bedeutungskerns. Ein unsichtbarer Quell des Handelns, auf dessen Existenz man aber von außen schließen kann, tritt hervor. Denn, wie E. Schillebeeckx bezüglich der Begegnung mit Gott schreibt, »die menschliche Leiblichkeit [ist] die Sichtbarkeit oder das 192 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Zur Fähigkeit des Bei-sich-wohnens
Offenbarwerden der menschlichen Innerlichkeit und deshalb der obligatorische Beziehungspunkt jeder personalen Tätigkeit des Menschen« 117. In moderner Sprache heißt es: »aus der Mitte leben«. Der Mensch, der so lebt, wird nicht hin und her gerissen. Sein Wandeln und Handeln hat eine Verankerung, die nicht außerhalb seiner selbst, sondern in seinem innersten Wesen liegt. Damit ist alles andere als Egozentrismus gemeint. Denn das Sichtbar-werden-lassen jener inneren Quelle bedeutet gerade, dass das Ego zurücktritt, um dem wahren Selbst Raum zu geben und es sichtbar werden zu lassen. Anders gesagt, das ursprüngliche göttliche Bild, das mit allerlei Farben übertüncht war, tritt ans Licht. Damit verliert die Handlung des Einzelnen nicht ihre charakteristischen persönlichen Züge. Er wird nicht seiner Person entleert, sondern diese tritt in ihrer Wahrheit auf. Dieser Vollzug ist immer mit einer bestimmten Form des Im-Leibe-Seins verbunden. Die Einheit und damit die Gestalt des Leibes gleichen einem Kunstwerk, das für viele Deutungen offen ist. 118 In Erinnerung bleibt immer die Gebärde eines konkreten Menschen in einem konkreten Leib. Die Gestalt löst sich nicht von der Handlung, geht aber auch nicht in ihr auf. Die leibhaftige Individualität der Person verleiht jeder Geste eine eigene Aura. Die Schönheit und Würde der Gebärde, ob liturgisch oder profan, bleibt unweigerlich mit der jeweiligen konkreten leiblichen Erscheinung verbunden. Das sich so erfahrende Ich erschöpft sich nicht in einem Begriff, den es von sich hat. Es ist eine Art des erfahrbaren Seins, die auf Innerlichkeit gründet, wie Lévinas anmerkt. 119 In dieser Deutung des Ich stimmt er mit Merleau-Ponty überein. Dieses Bei-sich-sein sieht Lévinas vor allem in der Gestalt des Hauses veranschaulicht. »Wohnen« heißt immer mehr, als in einem Gebäude anwesend zu sein. Der Mensch richtet sein Haus immer nach seiner eigenen Kultur ein, und das Wohnen in diesem Haus wird wiederum durch diese Kultur beeinflusst. 193 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
III Leiblichkeit, Identität und Transzendenz
Das Haus wird vom Menschen in Analogie zum Eigenleib zu seiner »Eigenwelt« gemacht. Im Haus kann der Mensch sich selbst neu ordnen. »Ich muss mich erst sortieren«, wird oft gesagt; gemeint ist: In der Vertrautheit der Umgebung gewinnt der Mensch eine neue Sicherheit, die ihn wieder befähigt, sich dem Fremden zuzuwenden, weil die Beziehung zu den elementaren Dingen wieder in Ordnung gebracht wurde. Diese Ordnung ist nicht materiell zu verstehen, sondern geistig und betrifft die Dimension der Werte. 120 Das Wohnen kann als Sinnbild der Fähigkeit zur Innerlichkeit betrachtet werden. Die Bleibe wird zum Ort des »eigentlichen Empfangs«. Deshalb sieht Lévinas hier eine Verbindung zum Weiblichen, dem Urtyp des Empfangens. Er bezeichnet »das Bleiben als eine Sammlung, ein Zu-sich-kommen, ein Rückzug ins eigene Heim wie eine Zufluchtsstätte, die von einer Gastlichkeit, einer Erwartung, einem menschlichen Empfang aufgetan wird […]. Dieses stille Kommen und Gehen des weiblichen Seins, das mit seinen Schritten die geheimen Schichten des Seins zum Klingen bringt …« 121 Von diesem Ort aus wird sich die Beziehung zur Welt anders gestalten lassen. Der Leib ist nicht mehr nur im Hintergrund präsent, sondern wird bewusst als Ort erlebt, an dem das eigentliche Selbst zur Sprache kommen kann. Das leibgebundene Ich spricht eine lautlose und doch klare Sprache, die einem neuen Sein Raum gibt und Ausdruck verleiht.
7)
Leiblichkeit und Identität
a)
Identitätsbildung
Mit Identität ist die Eigenschaft des Menschen gemeint, in allen Veränderungen des Lebens immer eine und dieselbe Person zu sein, auch wenn er sagt: »Ich habe mich geändert.« Träger der Veränderung ist jenes Ich, das identisch mit sich ist. Paul 194 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Leiblichkeit und Identität
Ricœur macht darauf aufmerksam, dass das Gegenteil von »identisch« sowohl »verschieden«, »veränderlich« als auch »anders«, »fremd« sein kann, je nachdem, ob man hinter dem »identisch« das lateinische idem (gleich) oder ipse (selbst) sieht. 122 Wir stellen die Frage nach der Grundlage unserer menschlichen und geistlichen Identität im Rahmen einer Spiritualität der Wahrnehmung, die dem leiblichen Zugang zur Wirklichkeit den Vorrang einräumt. Die Grundlage der Identität wird im Körper- und Zellgedächtnis gesucht. Das Leibgedächtnis ist der Ort, an dem alle Erfahrungen gegenwärtig sind, die aus der sinnlichen Wahrnehmung und den kognitiv bearbeiteten und bewerteten Empfindungen (angenehm, unangenehm, anregend oder ekelhaft …) stammen. Empfindungen sind immer im Leib lokalisierbar, die intentionalen Gegenstände oder Werte, die mit diesen Empfindungen verbunden sind, dagegen nicht. Der Leib, der die eingegangenen Empfindungen nie wieder vergisst, ist Speicher von Sinngehalten und deshalb auch Matrix komplexer Wertsysteme. 123 Das Wertesystem eines Menschen setzt sich aus leiblichen und kognitiven Elementen zusammen. Der Mensch wird von dieser materiellen oder »hyletischen Schicht«, wie Husserl sie nennt, bis in seine höchsten Entscheidungen hinein beeinflusst; sie bestimmt ihn durch und durch. 124 Auch wenn die intentionalen Erlebnisse, also die im Bewusstseinsstrom vorhandenen Werte, von diesen Empfindungen losgelöst sein können, bedeutet das nicht, dass sie bei der Entstehung der Werte nicht eine maßgebliche Rolle gespielt haben. Wer sich z. B. couragiert für andere einsetzt, kann mit positiven Rückmeldungen rechnen. Dieses Feedback von anderen, aber auch schon seine entsprechende Selbstwahrnehmung lösen positive Gefühle aus, die wiederum mit bestimmten Empfindungen, z. B. der von Weite oder Stärke im Brustkorb, verbunden sind. Wenn dieselbe Person sich in einer anderen Situation als Feigling erweist, dann werden ganz andere Gefühle auftreten, 195 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
III Leiblichkeit, Identität und Transzendenz
Scham, Enttäuschung und mit ihnen andere Empfindungen, die negativ besetzt sind, wie z. B. Enge oder Druck. Unser »Seelenleben« ist also stark vom Leib her bestimmt. Es kann dieses Leben ohne Leib einfach nicht geben. Die Programmiersprache des Leibes ist aber eine recht einfache Sprache. Sie arbeitet mit binären Codes. Sie bejaht das Angenehme und verwirft das Unangenehme. Wo es nicht möglich ist, nach diesem Prinzip zu entscheiden, wird zwischen dem weniger Unangenehmen und dem wirklich Unangenehmen entschieden. Diese »implizit wirksamen Bereitschaften«, wie T. Fuchs sie nennt, beeinflussen maßgeblich die Lebensvollzüge eines Menschen wie die Gestaltung von Beziehungen oder Vorlieben und Aversionen. Wie ich mich zur Welt und zu den anderen Menschen verhalte, bestimmt weitgehend dieser lebendige Speicher aller meiner bisherigen Erfahrungen. Fuchs spricht von einem »unsichtbaren Netz, das uns zu den Dingen und Menschen in Beziehung bringt« 125. Auch das, was sich mir entzieht, was mir momentan nicht bewusst ist, ist im Leib gegenwärtig. Stets ist die Vergangenheit in der Gegenwart präsent in meiner Art und Weise, die Welt, die anderen und mich selbst wahrzunehmen. Es ist das Raster, das meine Wahrnehmung unweigerlich prägt. 126 Das »Unbewusste«, das seit Freud eine so große Rolle für das Verständnis der tieferen Struktur des Menschen spielt, ist »die unerkannte Kehrseite meines Erlebens und Verhaltens oder sein anderer, verborgener Sinn«, schreibt T. Fuchs. 127 Es ist etwas, das in meinen Beziehungen zu anderen und zu mir selbst immer da ist und das horizontale Geflecht der Beziehungen beeinflusst. Hier hat das, was Merleau-Ponty »Zwischenleiblichkeit« nennt, seinen Ort. 128 Damit meint er jenen vorreflexiven Zwischenraum, in dem unartikulierte Beziehungsmuster entstehen und gelebt werden. Den Anderen brauche ich nicht außerhalb meiner Selbst zu suchen. Er lebt in mir. Der Leib besetzt immer die Nahtstelle zwischen innen und außen, zwischen der Welt, dem Anderen und mir. Die Grenze ist aber fließend. Es 196 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Leiblichkeit und Identität
kann sein, dass ich den Anderen als »Einbrecher« erlebe. Plötzlich werde ich damit konfrontiert, dass das, was ich für draußen hielt, sich tief in mich hinein gebohrt hat. Traumatische Erlebnisse hinterlassen feste Spuren im Leib, so dass ganze Lebensperioden mehr in der Form leiblicher Empfindungen als in der Form kognitiver Erinnerungen präsent bleiben. Das ist z. B. bei Kriegserlebnissen häufig der Fall. Es kann aber andererseits auch geschehen, dass mir plötzlich etwas sehr fern oder gar nicht mehr zugänglich erscheint. Das Bewusstsein ist durch eine grundsätzliche Zweideutigkeit gekennzeichnet. Es durchschaut seine eigenen Motive nie ganz, und zwar eben aufgrund der Leibhaftigkeit. Eine bestimmte Haltung, ein Reagieren auf etwas, das längst nicht mehr da ist, das mit der gegenwärtigen Situation nichts zu tun hat, wird an den Tag gelegt und trägt Vergangenes in die Gegenwart hinein. Hier hat der Zwang zur Wiederholung seine Wurzeln. Was ich früher erlebt habe, kommt in einem neuen Zusammenhang wieder zum Vorschein. 129 Ob im Freud’schen Unbewussten oder im Leibgedächtnis: Die Konstitution der eigenen Identität unterliegt Mechanismen, die nicht vom Bewusstsein gesteuert werden. Welche Instanz kann über das, was ich werde und bin, überhaupt noch wachen? In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage nach der eigenen Identität neu. Identität setzt Identifikation, aber auch Distanz voraus. Für Erikson, den Pionier der Identitätsforschung, drückt der Begriff »Identität« eine wechselseitige Beziehung aus, weil er seine erste Referenz beim Eigenen nimmt und doch das Kollektive nicht ausschließt. 130 Wer »ich« sagen kann, hat eine Reihe von Synthesen vollzogen und kann sich von der Umwelt und anderen »Ich« unterscheiden und abgrenzen. Wenn ich nichts mehr hereinlasse, dann erstarre ich; und wenn ich alles aufnehme und zwischen Eigenem und Fremdem nicht mehr unterscheiden kann, dann bin ich bald kein »ich« mehr. In der Wahrung dieser Mitte zwischen innen und außen liegt das Gelingen der Konstitution eigener Identität. Dieser Aufgabe 197 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
III Leiblichkeit, Identität und Transzendenz
muss sich das Individuum stellen, denn Identität fällt ihm nicht von allein zu. Es gibt keinen Widerspruch zwischen sozialer und personaler Identität, weil der Mensch zutiefst ein soziales Wesen ist, d. h., seine Identität bildet er im Dialog und im Leben in einem konkreten sozialen Gefüge, das ihm ermöglicht, in der Verarbeitung von Kontingenz und Veränderung er selbst zu werden. 131 In der Phase der Identitätsbildung braucht ein Mensch die Bestätigung, dass es gut sei, dass er geworden ist, wie er geworden ist, und dass er so auf dem richtigen Weg ist. »Fehlt ein Mindestmaß an Zuwendung und Achtung, gehen Menschen nicht nur psychisch, sondern sogar physisch zugrunde. Den Menschen als rein biologisches Wesen gibt es nicht«, warnt R. Kather. 132 Der Mensch bildet seine eigene Identität leiblich wie geistlich aus in nie abgeschlossenen Prozessen, weil das Erworbene und Erkannte immer neu gedeutet werden kann, solange er in der Zeit lebt. Diese Identität bildet sich in der Auseinandersetzung mit anderen Subjekten. 133 Die Identität, die es herauszubilden gilt, ist wesentlich eine narrative Identität. Darunter ist die Fähigkeit zu verstehen, einfache oder komplizierte Geschichten, in denen das Ich auftaucht, stimmig zu erzählen. Narrative Identität ist wesentlich beeinflusst von Selbst- und Fremdwahrnehmung, und die Leiblichkeit spielt in ihr eine wichtige Rolle. Eigenschaften wie »stark«, »schön«, »schwach« beziehen sich immer auf den Leib, »der ich bin«, und nicht auf den Leib, »den ich habe«. Das Ich taucht in einer doppelten Funktion auf: als Erzähler und als Gegenstand der eigenen Erzählung. Wie ein Mensch sich selbst und die anderen darstellt, gibt Auskunft über das, was er ist. Die narrative Identität ist das Fenster, durch das die biographische Identität nach außen sichtbar wird. Sie konstituiert sich ebenfalls immer neu durch die Fähigkeit eines Menschen, sich von früheren Taten und Haltungen zu distanzieren. Es geht darum, die Dinge, insofern sie mein Leben berühren und damit verändern, zu erfassen. Der Blick ist dabei auf das 198 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Leiblichkeit und Identität
Ende, auf den Tod gerichtet. Gerade das Wissen, dass mein Leben endlich ist, »schärft das Bewusstsein für die eigene, unersetzbare Individualität und kann dadurch zu einem verantwortungsvolleren Umgang mit der eigenen Lebenszeit führen«, schreibt R. Kather. 134 Das Leben wird als ständiger Wachstumsprozess und als Offenheit zur Transzendenz begriffen. Der Blick soll nun auf eine bestimmte Form der Endlichkeit und der Begrenzung gerichtet werden, die aber ebenfalls zum Ort einer transzendentalen Erfahrung werden kann, auf die leibliche Identität, insofern sie von einem konkreten Geschlecht bestimmt wird.
b)
Geschlechtlichkeit und Andersheit
Wenn wir natürliche und geistliche Identität an der Leiblichkeit festmachen, dann heißt das auch, dass diese Identität durch das Geschlecht mitbedingt ist. Die Rolle der Leiblichkeit, d. h. des Bewusstseins, dass ich Leib bin, wird bei der Konstitution der Identität aufgewertet, wenn der wesenhafte Unterschied zwischen den Geschlechtern, statt nivelliert oder sogar negiert zu werden, neu ins Bewusstsein vordringt. »Identität ist eine Wahrnehmungskategorie«, die durch Selbst- und Fremdwahrnehmung konstituiert wird. 135 Die Natur wird zur Vollendung geführt, indem das Vorgegebene angenommen wird. Im Akt der Schöpfung erschafft Gott den Menschen als männlich und weiblich, aber auch als männliches oder weibliches Wesen (vgl. Genesis 1,27). Über diesen einen Vers sind Bibliotheken entstanden, und die Geschichte der Auslegung dieses Verses ist sehr bewegt. Als Gegenüber, als Wesen, das in einer Beziehung steht, wird das erste Menschenpaar erschaffen. Grundgelegt wird hier eine Bestimmung des »Für-einander-Seins«. 136 Je mehr traditionelle Identitäten ihre unhinterfragte Selbstverständlichkeit verlieren, umso mehr wird der Zwang 199 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
III Leiblichkeit, Identität und Transzendenz
zur Wahl der eigenen Identität inklusive der Geschlechtsidentität – oft als falsche Freiheit verstanden – zu wachsender Verunsicherung führen. Der Leib ist nicht nur Leib eines Menschen, sondern immer Leib eines Mannes oder Leib einer Frau. Das Werden von Mann und Frau selbst wird sehr unterschiedlich ausfallen, je nachdem in welcher Kultur ein Kind geboren wird. Diese erste Prägung ist dann maßgeblich für die Art und Weise, wie es die Welt wahrnimmt. »Das Denken ist im ›Ich kann‹ des Leibes tätig, bevor es sich eine Vorstellung von sich bildet und bevor es diesen Leib konstituiert«, schreibt Lévinas. Aus dieser Beziehung zu seinem Leib und in der Abgrenzung vom Leib der Anderen – zunächst der Mutter – entwickelt das Kind die Vorstellung, dass es ein »getrenntes Seiendes« ist, dass es eine eigene, separate und doch von anderen abhängige Existenz führt. Der Weg zur Individualität ist zunächst ein Weg der Trennung. Er beginnt gleich bei der Geburt mit der Abnabelung vom Leib der Mutter. Diese Trennung vom Leib der Mutter markiert den Beginn eines selbstständigen Lebens im eigenen Leib. Es bedarf am Anfang viel Pflege, Zufuhr von Nahrung und Zuwendung, damit das Kind sich zu einem selbstständigen Individuum entwickeln kann. Es erlebt sich als selbstständig und doch auf vielseitige Weise in Beziehungen. In der Begegnung mit dem Anderen, wenn er oder sie dem anderen Geschlecht angehört, erlebt sich der Mensch aber auf besondere Weise als ein Wesen, das nicht »an und für sich« lebt. Vorgeprägt durch Abstammung und Familienbeziehungen sucht das Individuum, indem es sich löst und neu bindet, seinen Platz in dieser Welt und damit auch seine Identität. Die Annahme des Gegebenen wird heute mehr als früher in Frage gestellt. Es ist möglich, das anscheinend »Unveränderliche« doch zu ändern und z. B. sein Geschlecht zu wechseln. Man baut sich eine neue Identität, die der Psyche mehr entsprechen soll, indem man Eingriffe im Körper vornimmt. Solche Grenzfälle führen zu einer Verunsicherung, weil nun der Weg zur Identitätsfin200 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Leiblichkeit und Identität
dung nicht mehr Annahme, sondern Ablehnung des Vorgegebenen bedeuten kann. S. Goertz schreibt: »Das Verhältnis der Person zu sich selbst als körperliches Wesen soll eines des Respekts vor dem ontologisch Vorgegebenen sein, wozu vor allem die komplementäre Zweigeschlechtlichkeit gehört, die auf den geschöpflichen Anfang und Auftrag des Menschseins zurückgeführt wird.« 137 Der Unterschied der Geschlechter gehört zu diesem ontologisch, d. h. in allen Dimensionen des Seins verankerten »Vorgegebenen«. Ich finde mich immer schon als männliches oder weibliches Wesen vor. Dass ich mit dem, was ich »vorfinde« nicht zurechtkommen kann, kommt dann sekundär dazu; an der Vorgabe selbst ändert es nichts. Der Mensch ist grundsätzlich für das andere Geschlecht offen, auf es hin geschaffen, im körperlichen wie im seelischen Bereich, d. h. in seinem Leib. Mann und Frau sind für sich genommen nur das »halbe Menschlein«, schreibt in einer provozierenden Form E. Rosenstock-Huessy. 138 Die Offenheit für den Anderen ist biologisch, d. h. in der Natur und Struktur des Menschen verankert. Tiefe Verwirrung herrscht, wenn Bios und Logos miteinander in Streit geraten, wo Leben und Artikulieren des Lebens nicht mehr in Einklang sind. Diese Zugewandtheit der Geschlechter zueinander findet sein Abbild in der Sprache. Kühn aber erhellend ist der Vergleich des Sprechens mit dem Geschlechtsakt, den E. Rosenstock-Hussey wagt: »Sprechen, dies Wahr- und Wirklichwerden einer Tat, ist ein Geschlechtsakt, im sublimsten Sinne dieses verpönten Wortes.« 139 Und er fügt weiter hinzu: »Wie jeder Akt des ganzen Menschengeschlechts, der durch uns hindurch geschieht, ereignet sie [die Sprache] sich an einem einzigartigen Schnittpunkt von Zeiten und Welträumen, hier und jetzt.« 140 Die neueren »Artikulationsversuche« von gleichgeschlechtlichen Beziehungen scheitern an der Sprache. »Vater-sein« kann nur ein Mann, »Mutter-sein« nur eine Frau. Ist der Partner meines Bruders, wenn er einen hätte, mein Schwager? In einer gleichgeschlechtlichen Beziehung können die Verantwortlichkeiten 201 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
III Leiblichkeit, Identität und Transzendenz
für ein Kind deshalb nur noch nummeriert werden: »Elternteil 1« und »Elternteil 2«. Nur Mann und Frau können »eins« werden und deshalb fruchtbar sein. Indem sie Leben weitergeben, sind sie »Mitschöpfer« Gottes und erfüllen einen Auftrag, den sie sich nicht selbst gegeben haben. Das Paar ist auf ein »Mehr« hin offen, auf eine Zukunft, die es transzendiert. Das Paar ist nicht nur für sich selbst da, sondern offen für einen Anderen, der zugleich kein Anderer ist, weil das Paar sich selbst im Kind »wiederfindet«. Aus zwei wird wieder eins und das Kind setzt auf neue, einzigartige Weise das Sein der Eltern fort. Lévinas sieht die Vaterschaft als »das Verhältnis zu einem Fremden, der, obwohl er der andere ist, Ich ist; das Verhältnis des Ich zu einem Ich-selbst, das mir dennoch fremd ist« 141. Das Kind verdankt sein Dasein anderen, und doch ist es nicht »Werk« oder »Besitz« seiner Eltern. Es ist Frucht einer Liebe, die Leben freisetzt, weil es nicht auf sich selbst bezogen bleibt und sich nicht selbst genügt. Die Fruchtbarkeit dient einerseits der Fortdauer der Spezies. Sie ist zugleich Zeichen einer höheren Ordnung, weil nur die Liebe den Anderen als Anderen wirklich wollen und annehmen kann. Individuen können sich nicht selbst reproduzieren. Sie sind dazu geschaffen, neue, einzigartige und von daher ihnen »fremde« Individuen in die Welt zu setzen. Die grundsätzliche Offenheit für den Anderen, der dann in der Gestalt des Kindes erscheint, wird Offenheit für das, was ich mir selbst niemals geben kann. Es ist eine Gabe und eine Aufgabe, die mir anvertraut ist, und zwar von einem Anderen her, den ich Gott nenne. Wird dieses Kind während der Schwangerschaft »wieder genommen«, weil es im Mutterleib bereits gestorben ist, muss es dennoch »geboren« werden. Der bergende Mutterschoß verwandelt sich in ein Grab, aus dem ein totes Kind »heraustreten« muss, um tot zu bleiben. Eine Frau, die ihr erstes Kind auf diese Weise verlor, konnte mitten in ihrem Leid so wie auch Ijob (Ijob 1,21) aussprechen: »Gott hat’s gegeben, Gott hat’s genommen.« Sie 202 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Leiblichkeit und Identität
wusste, dass »ihr« Kind letztendlich mehr als »ihr« Kind war, dass es eine Gabe Gottes war, die sie nun aus unerklärlichen Gründen, ohne es lebend gesehen zu haben, zurückgeben musste. Die Einwilligung in ihr Schicksal, in den Verlust der »Frucht ihres Leibes«, die Anerkennung, dass sie selbst nicht der eigentliche Ursprung für das nun so vorzeitig früh vollendete Leben dieses Kindes war, führte zu diesem Bekenntnis: Gott allein ist Herr über Leben und Tod. Er bleibt es als Ursprung allen Lebens auch dann, wenn die Warum-Fragen – »Warum ich?«, »Warum mein Kind?« – keine Antwort finden. Ihre Identität als Mutter eines totgeborenen Kindes fand diese Frau nicht nur in der Beziehung zum Vater und zum Kind, sondern auch zu dem, von dem sie eigentlich das Kind »hatte«.
c)
Geschlechtlichkeit und Transzendenz
Der Mensch erlebt sich in seiner Geschlechtlichkeit als Wesen für den Anderen. Die Kraft des Eros lässt ihn nach dem Anderen verlangen: »Das Ich hat seine Einzigkeit als Ich vom väterlichen Eros«, schreibt Lévinas. »Jeder Sohn ist einziger Sohn. Nicht kraft der Zahl! […] Die Liebe des Vaters zum Sohn realisiert die einzige mögliche Beziehung gerade mit der Einzigkeit eines Anderen, und in diesem Sinne muss sich jede Liebe der väterlichen Liebe nähern.« 142 Durch den Anderen, ob in der Gestalt des Partners oder des Kindes, empfange ich, was ich mir selbst nicht geben kann. Wie S. Rouvillois es formuliert, ist der Mensch bis in die »Geographie seines Leibes« hinein auf den Anderen angewiesen. 143 Und doch wird der Andere, Mann oder Frau, niemals das geben können, was diese Sehnsucht zutiefst herbeiwünscht: vollkommene Liebe, vollkommenes Glück, das keinen Abbruch kennt. »Im strengen Sinne des Wortes sind Menschen daher von ihrer Konstitution auf Transzendenz, auf Selbstüberschreitung angelegt«, schreibt R. Kather. 144 Gerade 203 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
III Leiblichkeit, Identität und Transzendenz
die Endlichkeit, die mit der eigenen Geschlechtlichkeit verbunden ist, verweist auf die Unendlichkeit einer Sehnsucht, die nach Transzendenz ruft. Das Unvollendet-Sein im Hinblick auf das, was der Mensch als Wesen ist oder sein kann, taucht nirgendwo so deutlich auf wie in der Geschlechtlichkeit. »Die Erfahrung des Unterschieds der Geschlechter wird also zum Modell jeglicher Erfahrung der Transzendenz«, schreibt Bernheim, Großrabbiner in Frankreich. 145 Nicht nur der Einzelne, sondern auch Paare sind auf Transzendenz angewiesen, denn vom Anderen das vollkommene Glück zu erwarten, ist eine Überforderung, die zum Scheitern der Beziehung führt. Der Glaube an den Gott, der das schenken kann, was wir Menschen einander nicht zu geben vermögen, entlastet die Beziehung. »Unser Sehnsuchtspotential ist auf Dauer in keiner erotischen Beziehung unterzubringen, sondern übersteigt sie grundsätzlich«, so der Psychotherapeut H. Jellouschek. 146 Gefährlich wird es dann, wenn diese Sehnsucht ausschließlich auf den Partner projiziert wird. So sind sowohl die Differenz als auch die Anziehung der Geschlechter als Fenster zur Transzendenz angelegt; als eine Erfahrung des Ganz-Anderen, die auf den verweist, dessen Transzendenz in der Immanenz der Begegnung niemals aufgehoben wird. 147 Die geistliche Dimension des Leibes kommt besonders in der Liturgie zum Vorschein. Der Mensch tritt hier in einen geistlich-leiblichen Dialog mit einem unsichtbaren, aber real gegenwärtigen Gegenüber ein. Niemals erschöpft sich der Sinn einer Geste, einer Handlung in der reinen Immanenz: Stehen, knien, sitzen, die Hände erheben, all das lässt sich nicht auf bloße Körperbewegungen reduzieren. Dem Leib kommt eine unerschöpfliche Symbolfunktion zu, weil er zutiefst auf einen Dialog mit seinem unsichtbaren Partner angelegt ist. So wird verständlich, warum das Hohelied der Liebe in der Darstellung der Liebe zwischen Gott und den Menschen auf die Metaphern des erotischen Liebesspiels zwischen Mann und Frau zurückgreifen konnte. 204 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Leiblichkeit und Identität
d)
Ambivalenz des Geschlechtlichen
Stets ist der Leib in seiner Ambivalenz Teil der Welt, der er zugehört, und gleichzeitig ein Gegenüber für diese Welt, da sie mir erst durch den Leib präsent werden kann. Die intentionale Struktur des Bewusstseins ist zutiefst Struktur des Leibes selbst. Deshalb führt der Leib zu den Sachen selbst, weil er und die Welt »Fleisch« sind. 148 Der Begriff »Fleisch« (chair) bedeutet stets ein Mehr an Sein, eine Unreduzierbarkeit auf eine sichtbare Oberfläche. Deshalb ist das Fleisch (chair) ein »Element des Seins«, ein letzter Begriff, etwas Ursprüngliches, das alles konstituiert, aber sich selbst jeder Konstitution entzieht. 149 Den grundlegenden Unterschied zwischen den Geschlechtern negieren heißt die metaphysische und symbolische Dimension des geschlechtlichen Leibes verkennen. »So wenig wie der Leib überhaupt kann die Geschlechtlichkeit als ein zufälliger Inhalt unserer Erfahrung gelten«, schreibt Merleau-Ponty 150. In dieser Perspektive ist Zölibat nicht der Verzicht auf Geschlechtlichkeit, sondern auf eine bestimmte Art von intimer körperlicher Beziehung. Die geschlechtliche Bestimmung, Mann oder Frau zu sein, meint weit mehr als eine biologische, körperliche Realität. Sie ist eine Option für eine bestimmte Form von Sein, ein Modus, in dem eine Person für sich und für andere existiert. 151 Mann oder Frau sein heißt zunächst nicht, eine bestimmte Rolle oder Funktion übernehmen; denn je nach Gesellschaft und Zeitalter ändern sich diese Rollen. Es geht primär darum, sichtbar eine unsichtbare Wirklichkeit zu verkörpern bzw. zu »verleiblichen«, die dem schöpferischen Auftrag Gottes an mich entspricht. Die bekannte frühscholastische Sentenz: »Die Gnade setzt die Natur voraus, vollendet und erhebt sie«, von Thomas von Aquin und Bonaventura übernommen, behält auch im Computerzeitalter weiter ihre Gültigkeit. 152 Die Beachtung dieser Grundlage wird für die Bildung der geistlichen 205 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
III Leiblichkeit, Identität und Transzendenz
Identität immer wichtiger. Sie ist Potential und Auftrag zugleich. »Nicht allein die wissenschaftlich-objektivierende Perspektive kann daher Gültigkeit beanspruchen; ebenso unverzichtbar für den konkreten Lebensvollzug ist die des erlebten Leibes«, schreibt R. Kather. 153 Was ich im Leib erlebt habe, ist Teil meiner Biographie und mein Leib kann es mir zeitweise schmerzlich bewusst machen, weil mein Bewusstsein immer auch ein inkarniertes Bewusstsein ist.
e)
Leibliche und geistliche Identität
Geistliche Identität ist immer Geschichte. Sie blickt auf verschiedene Prägungen zurück, die dann im Heute angenommen oder verworfen werden. Die Lebensbedingungen der postmodernen Gesellschaft haben einen nicht geringen Einfluss auf unsere Wahrnehmungsfähigkeit und auf die Ausprägung unserer Religiosität. Gerade Menschen, von denen mit Bergsons Worten ein »Mehr an Seele« (suplément d’âme) verlangt ist, weil sie zu »Geistlichen« ausgebildet werden und für ihre Zeitgenossen den Dienst der »Seelsorge« erfüllen, der anders aussieht als der des »Coaches« oder »Managers«, brauchen ein gesundes Gespür für die eigene Leiblichkeit, weil sie der Ort ist, wo die Beziehung zur Transzendenz sichtbar wird. Die Auseinandersetzung mit der Existenz »in einem Leib« kann sekundär reflexiver Art sein, sie sollte aber primär in einer konkreten leiblichen Erfahrung der Wirklichkeit wurzeln, die dann die Grundlage für die Entfaltung der Wahrnehmungsfähigkeit bildet. Die geistliche Identität kann nicht ohne konkrete Erfahrung entstehen; sie kann sich ohne konkrete Erfahrung auch nicht weiterentwickeln. Die Aneignung der erlebten Wirklichkeit, die der Mensch am Anderen wahrnimmt, trägt zur Bildung der eigenen geistlichen Identität bei. Er geht in die Schule eines Anderen, der ihn unterrichtet und einweist. So wird der 206 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Leiblichkeit und Identität
Weg zu Gott eine konkrete Prägung annehmen, die auch am Leib sichtbar wird. Gerade Menschen, die schwer gearbeitet haben, die in ihrem Leib eine Art der Anwesenheit erlebt haben, die anderen fremd ist, die diesen Widerstand der Materie nicht gespürt haben, Bauern, Bergarbeiter, Handwerker, Mechaniker, legen Zeugnis für diese tiefe Verwurzelung des seelischen Prinzips am ganzen Leib: In von Schweiß und Schmutz geprägten Gesichtern leuchten nicht selten Augen, die von einer größeren, tieferen Erfahrung des Lichtes und des Lebens zeugen. Graf Dürckheim hat mit seinem Initiationsweg diese Seite einer leiblich-geistlichen Identität des Menschen stärker ins Bewusstsein gehoben. »Das Werden der Person bedeutet keine nur innere, nur geistig-seelische Entwicklung, sondern immer auch Verwirklichung im Leibe.« 154 Er sieht den Menschen als »eine Weise des göttlichen Seins«, das sich offenbaren will, und zwar dem Wesen dieses einen Menschen entsprechend. 155 Das besondere Übungsfeld für dieses innere Werk, das Reifung bedeutet und, weil es von innen kommt, nur so nach außen dringen kann, ist der Alltag. Die äußeren Bedingungen müssen sich nicht ändern; was sich ändert, ist, wie der Mensch dazu steht. Dieses Stehen ist ein Lernprozess. Es ist die Art und Weise, wie ich für mich und für andere »da bin«. Unter dem »rechten Menschen« versteht Dürckheim den reifen Menschen, der um sich selbst zwar weiß, der aber auch durchlässig geworden ist, weil er nicht mehr um sein so kleines Ich kreist. »Der Leib ist das Ganze der Gestimmtheiten und Gebärden, in denen der Mensch sich selbst als die ihrer selbst bewusste und zugleich die Welt erlebende und in ihr handelnde Person fühlt, ausdrückt und darstellt.« 156 Die Bildung und Festigung einer wahren, rechten Identität des Menschen gründet deshalb im Leib, weil der Leib wiedergibt, wie ich da bin, weil er ist, was ich bin.
207 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
III Leiblichkeit, Identität und Transzendenz
f)
Leib und Gewand
Aufgrund dieser inneren Beziehung zwischen Leib und Identität eines geistlichen Menschen ist es von Bedeutung, darauf zu achten, was »Geistliche« am Leibe tragen. Mit zukünftigen Priestern, die nach einem Primizgewand fragen und deshalb die Paramentenwerkstätten unseres Klosters besuchen, kam ich gerne darauf zu sprechen. Das Gewand drückt nach außen aus, was ich bin und wofür ich stehe. Es ist Zeichen einer besonderen Funktion während des Gottesdienstes und zeigt, dass die Feier des Gottesdienstes selbst sich vom alltäglichen Tun abhebt. Gottesdienste haben je nach Kirchenzugehörigkeit und Art und Zeit der Feier einen eigenen »Dresscode«. Messgewänder werden ausschließlich von Klerikern, d. h. von Männern getragen. Die Weite der Gewänder ist für sie erst einmal gewöhnungsbedürftig. Diese Gewänder stehen vor allem aufgrund ihrer Weite in Kontrast zur modernen Bekleidung, die eng am Leib getragen wird – im Unterschied zu den weiten Gewändern der Antike wie der römischen Toga und den verschiedenen Arten von Tuniken, die in der Albe und der Kasel 157 überlebt haben. Die Fülle des Stoffes unterstreicht Bewegungen und Gebärden. Das Gewand verhüllt den Leib, verleiht aber im Gegenzug auch einfachsten Gesten wie dem Ausbreiten der Arme oder dem Erheben der Hände eine größere Bedeutung. Die Würde des Leibes steht ganz im Dienst eines liturgischen, d. h. Gott gewidmeten Geschehens. Während des Gottesdienstes werden viele Schritte gegangen und verschiedenste Haltungen angenommen: Stehen, Sitzen, Knien, immer geht das Gewand mit. Linien und Formen, die die natürliche Würde von Gesicht oder Hand oder auch die des ganzen Leibes in seiner aufrechten Haltung betonen, ziehe ich allen figürlichen und allzu konkreten Darstellungen vor. Vor allem bin ich dagegen, Messgewänder mit Heiligenfiguren und insbesondere mit weiblichen Figuren zu verzieren, da diese als Teil des liturgi208 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Leiblichkeit und Identität
schen Gewandes, das der Priester anhat, an dessen Leib hin und her bewegt werden. Es genügt, wenn die Heiligen im Kirchenraum in der Form einer Skulptur oder eines Bildes verehrt werden. Wir kennen im Christentum kein Bilderverbot mehr, sollten aber ehrfürchtig mit Bildern umgehen. In die Nähe dessen, was hier intendiert ist, führt ein Satz des Künstlers Maurice Denis: »Sich erinnern, dass ein Bild, bevor es ein Streitross, eine nackte Frau oder eine beliebige Anekdote wird, seinem Wesen nach eine ebene, in einer bestimmten Anordnung mit Farben bedeckte Fläche ist.« So formuliert Denis das Grundgesetz der künstlerischen Moderne: Die Malerei, d. h. die Formierung der Farbe, ist wichtiger als das Motiv. 158 Der Leib, aber auch die Figur des Menschen hat eine eigene Würde. Im Bilderstreit gab es darum blutige Auseinandersetzungen. In der Wahrnehmung bleibt das Messgewand ein Textil und jede Heiligenfigur erst einmal die Abbildung der Gestalt eines Menschen. Der Stoff, aus dem es gemacht wird, darf kostbar sein, und doch darf er nicht dazu missbraucht werden, als Träger der eigenen Frömmigkeit zu fungieren. Der liturgische Dienst hat hier Vorrang vor dem Individuum. Abstrakte Gestaltung oder zurückhaltende Symbolik stehen der liturgischen Handlung, die stets auf das Unsichtbare zielt, nicht im Weg. Sie verhindern, dass die Aufmerksamkeit abgelenkt wird auf ein »Etwas«, auf eine »Abbildung«, die auf dem Gewand angebracht ist. Die Bewegung geht vom Sichtbaren hin zum Unsichtbaren. Dadurch wird so etwas wie Anbetung und Ehrfurcht auch erst möglich. »Der menschliche Leib ist von unten nach oben gerichtet, er hat die Richtung auf das Hohe eingenommen. Der Leib ist nicht die empirische Illusion dieser Ausrichtung, sondern das ontologische Ereignis und das unauslöschliche Zeugnis. Das ›Ich kann‹ kommt aus dieser Höhe«, schreibt Lévinas. 159 Gewänder in der Liturgie besitzen ihre eigene Würde und Symbolik. Man denke an die überragende Bedeutung des Taufkleides, das zum Ausdruck bringt, dass der Täufling nun 209 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
III Leiblichkeit, Identität und Transzendenz
»Christus als Gewand angelegt« (Galaterbrief 3,27) hat. Das Gewand ist Sinnbild für den Leib selbst. Wie man ein Kleidungsstück auszieht, so legt der Mensch im Tod ab, was er bisher war: Leib. »Mit Haut und Fleisch hast du mich umkleidet, mit Knochen und Sehnen mich durchflochten«, spricht Ijob (10,11). Im Buch Ijob ist ein Weiterleben im Leib oder eine Auferstehung des Fleisches nicht denkbar. Ijob spricht doch: »Ohne meine Haut, die so zerfetzte, und ohne mein Fleisch werde ich Gott schauen« (Ijob 19,26). Beim Propheten Ezechiel wird die Wiederbelebung von toten Gebeinen zum Zeichen dafür, dass Gott das, was gestorben war, wieder ins Leben rufen kann, weil er der Herr ist (vgl. Ezechiel 37,5 f.). Paulus wiederum vergleicht das Gewand des Leibes mit einem Zelt oder einem Haus, in dem die Seele bzw. der innere Mensch wohnt. Es ist weiträumig und kann deshalb alles andere »verschlingen« und »bedecken«. »Im gegenwärtigen Zustand seufzen wir und sehnen uns danach, mit dem himmlischen Haus überkleidet zu werden. So bekleidet, werden wir nicht nackt erscheinen. Solange wir nämlich in diesem Zelt leben, seufzen wir unter schwerem Druck, weil wir nicht entkleidet, sondern überkleidet werden möchten, damit so das Sterbliche vom Leben verschlungen werde« (2. Korintherbrief 5,2–4). Das Gewand kann auch Symbol der rechten Gesinnung sein, wenn es etwa im Gleichnis vom himmlischen Hochzeitsmahl heißt: »Als sie sich gesetzt hatten und der König eintrat, um sich die Gäste anzusehen, bemerkte er unter ihnen einen Mann, der kein Hochzeitsgewand anhatte« (Matthäus 22,11). Die Bilder gehen ineinander über: Leib, Kleid, Gewand, Zelt, irdische und himmlische Wirklichkeit zugleich. Dies deutet darauf hin, dass der Leib weit mehr ist als vergängliche Materie, die nach dem Tod zerfällt und entsorgt wird. Er lässt sich nicht auf Knochen, Sehnen, Muskeln, innere Organe und äußere Glieder reduzieren. Die Ehrfurcht vor dem Leib hat Jahrhunderte lang Menschen daran gehindert, Leichname zu zerlegen. 210 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Anmerkungen
Der Leib ist Gottes Werk. Es ist das, was Gott dem Menschen gab, als er ihn gewoben hat im Schoß seiner Mutter (vgl. Psalm 139,13). Dieser Leib ist fähig, die ruach, den Lebensatem Gottes zu empfangen. »Der Leib, der man ist, reflektiert in Spruch und Widerspruch den himmlischen und den irdischen Ursprung des Menschen«, schreibt Dürckheim. 160 Wie könnte es anders sein, als dass der Leib selbst dazu bestimmt ist, von diesem göttlichen Ursprung Zeugnis abzulegen? »Mein Herz und mein Leib jauchzen ihm zu, ihm, dem lebendigen Gott« (Psalm 84,3).
Anmerkungen K. Graf Dürckheim, Vom doppelten Ursprung des Menschen, Freiburg 1973, S. 170. 2 S. Rouvillois, Corps et Sagesse. Philosophie de la liturgie, Paris 1995, S. 51 f. 3 R. Guardini, Liturgische Bildung, Burg Rothenfels 1923, S. 30. 4 Ebd., S. 41. 5 Ebd., S. 47. 6 Ebd., S. 70. 7 Ebd., S. 86. 8 W. Verkade, Die Unruhe zu Gott. Erinnerungen eines Malermönchs, Beuron-Hohenzollern 1953, S. 95. 9 E. Peterson: Was ist der Mensch? Theologische Traktate, München 1951, S. 236. 10 M. Puzicha, Kommentar zur Benediktusregel, St. Ottilien 2012, S. 232. 11 Cyprian, Dom. Or. 3, zitiert in: M. Puzicha, Kommentar zur Benediktusregel, St. Ottilien 2012, S. 233. 12 R. Schaeffler, Kleine Sprachlehre des Gebets, Einsiedeln 1989, S. 24 f. 13 S. Rouvillois, Corps et Sagesse. Philosophie de la liturgie, Paris 1995, S. 68. 14 M. Merleau-Ponty, Le visible et l’invisible, Paris 1964, S. 183, 191. 15 Ebd., S. 184. 16 M. Merleau-Ponty, Phänomenologie, 197 (202). 17 M. Henry, Inkarnation. Eine Philosophie des Fleisches, Freiburg / München 2011, S. 15. 18 M. Henry, Inkarnation, S. 32. 1
211 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
III Leiblichkeit, Identität und Transzendenz M. Henry, Inkarnation, S. 258. M. Henry, Christi Worte. Eine Phänomenologie der Sprache und der Offenbarung, Freiburg / München 2010, S. 22. 21 M. Henry, Inkarnation, S. 187. 22 M. Henry, Inkarnation, S. 188. 23 M. Henry, Inkarnation, S. 214. 24 Irenäus von Lyon, Adv. Haer. V,3.3. 25 M. Henry, Die Barbarei. Eine phänomenologische Kulturkritik, Freiburg / München 1994, S. 82. 26 J. Loenhoff, Zur Genese des Modells der fünf Sinne, Bielefeld 2001. 27 S. Rouvillois, Corps et Sagesse. Philosophie de la liturgie, Paris 1995, S. 160 f. 28 G. Gebauer, C. Wulf: Spiel, Ritual, Geste, Reinbek 1998. 29 K. Barck, Liquidation der Magie und mimetisches Vermögen, in: global Benjamin, Internationaler Walter-Benjamin-Kongress 1992. Hrsg. von Klaus Garbert und Ludger Rehm, München 1999, S. 247. 30 E. Rosenstock-Huessy, Im Prägstock eines Menschenschlages oder Der tägliche Ursprung der Sprache, in: Die Kopernikanische Wende in der Sprachphilosophie, Freiburg / München 2012, S. 129. 31 E. Schüttpelz, Die Moderne im Spiegel des Primitiven: Weltliteratur und Ethnologie (1870–1960), Paderborn 2005. 32 Eine ausführliche Bibliographie über M. Jousse ist im Internet unter: http://mimopedagogie.pagesperso-orange.fr/Bibliographie/bibliographie.htm zu finden. 33 M. Jousse, Le Parlant, la Parole et le Souffle, in: L’anthropologie du geste, Paris 2008, S. 686. 34 Vgl. als Erweiterung die Nutzung des Ansatzes von M. Jousse im Fremdsprachenunterricht: B. Dufeu, Rythme et expression. Apprentissage de l’intonation: quand le son est aussi porteur de sens, in: Le francais dans le monde. Nv.-déc. 1986, No 205, S. 68. www.psychodramaturgie. org. 35 In Frankreich wurde 2011 der 50. Todestag von Jousse mit verschiedenen kulturellen Veranstaltungen und zwei Kolloquien in Paris und in Lyon begangen. Dabei wurde die Bedeutung des Anthropologen für viele Wissenschaften wie Psychologie, Psychiatrie, Linguistik, Ethnologie, Pädagogik, Exegese und Pastoral hervorgehoben. Ein wissenschaftliches Komitee ist im Entstehen, um das Werk von Jousse für unsere Zeit fruchtbar zu machen. 36 M. Jousse, La manducation de la parole, in: L’anthropologie du geste, Paris 2008, S. 540. 37 Mehr über das Leben von M. Jousse in: Y. Beaupérin, Anthropologie du geste symbolique, Paris 2002. 19 20
212 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Anmerkungen M. Jousse, Hautes Études, 7ème leçon 22. 1. 41 p. 88, zitiert in: L’œuvre de M. Jousse entre sa foi en l’homme et sa foi chrétienne. Vortrag von Y. Langlois, gehalten beim Kolloquium »La Foi du pédagogue«. 2/3 juillet 2009 UCO, Angers, S. 6. 39 F. Rosenzweig, Die Schrift und das Wort. Zur neuen Bibelübersetzung (1925), in: Mein Ich entsteht im Du. Ausgewählte Texte zu Sprache, Dialog und Übersetzung, Freiburg / München 2013, S. 121. 40 Unter oraler Kultur versteht man Kulturen, die über keine Schrift, keinen Text für die Weitergabe ihrer Traditionen verfügen. Die Weitergabe einer wirtschaftlichen, kulturellen und auch kultischen Tradition von einer Generation zur anderen geschieht wesentlich durch mündliche Überlieferung. Welch hohen Stellenwert die mündliche Lehre für das Volk Israel hat, wurde vom Herausgeber des babylonischen Talmuds in geradezu hymnischen Tönen beschrieben. Der lebendige Mensch, nicht der tote Buchstabe ist Erbe und Gefäß zugleich. 41 Zitiert in: F. Stuit, Gesten, Rhythmen und Formeln in der Oralität, Diplomarbeit, Mainz 1997, S. 8. 42 F. Stuit, Gesten, Rhythmen und Formeln in der Oralität, Diplomarbeit, Mainz 1997, S. 41. 43 G. Le Floch, Marcel Jousse et l’anthropologie du mimisme, in: Revue des Archives internationales de la danse. Revue trimestrielle, 3è, année, No 2/15 avril 1935, S. 54. Zitiert in I. Baxmann, Mythos: Gemeinschaft. Körper- und Tanzkulturen in der Moderne, München 2000, S. 76. 44 M. Jousse, Le style oral rhythmique et mnémotechnique chez les verbo-moteurs, in: Archive de Philosophie vol. 2 Cahiers 4, Paris 1924 und unter dem gleichen Titel bei Beauchesne erschienen, Paris 1925. 45 F. Stuit, Gesten, Rhythmen und Formeln in der Oralität, Diplomarbeit, Mainz 1997, S. 17. 46 Ebd., S. 15. 47 M. Jousse, L’anthropologie du geste, Paris 2008, S. 180: »Écrire, surtout dans notre milieu ethnique de Style écrit, c’est accoucher et coucher simultanément la mort sur ce linceul mortuaire qu’est la feuille de papier.« 48 M. Jousse, La Parole comme Geste créant et opérant, Hautes Études, 9ème leçon, 21. 1. 36 p. 189, zitiert in: L’œuvre de M. Jousse entre sa foi en l’homme et sa foi chrétienne. Vortrag von Y. Langlois, gehalten beim Kolloquium »La Foi du pédagogue«, 2/3 juillet 2009 UCO, Angers, S. 3. 49 M. Jousse, La manducation de la parole, in: L’anthropologie du geste, Paris 2008, S. 500. 50 Ebd., S. 433. 51 Vgl. B. Gerhardsson, Die Anfänge der Evangelientradition, Wuppertal 1977, S. 34 f. 38
213 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
III Leiblichkeit, Identität und Transzendenz Vgl. D. Grenier, L’Évangile dans le calendrier, Sherbrooke, Quebec, Canada, 2004, S. 23 f., und B. Gerhardsson, die Anfänge der Evangelientradition, Wuppertal 1977, S. 16. 53 Eusebius, Kirchengeschichte, III, 39,3,4. Aus dem Griechischen übers. von P. Häuser. (Bibliothek der Kirchenväter, 2. Reihe, Band 1) München 1932. 54 Für Meschonnic ist der Rhythmus der Bibel einzigartig. Er kritisiert die Ergebnisse, aber auch die Vorgehensweise von Jousse. H. Meschonnic, Critique du rhythme, Anthropologie historique du langage, Lagrasse 1983, S. 687–699. 55 M. Jousse, L’anthropologie du geste, Paris 2008, S. 187. 56 Ebd., S. 54 und Le Parlant, la Parole et le Souffle, parole in: L’anthropologie du geste, Paris 2008, S. 687. 57 M. Jousse, La manducation de la parole, in: L’anthropologie du geste, Paris 2008, S. 565. 58 Ebd., S. 431. 59 Ebd., S. 432. 60 Ebd., S. 565. 61 Ebd., S. 455. 62 Ebd., S. 518 f. 63 F. Stuit, Gesten, Rhythmen und Formeln in der Oralität, Diplomarbeit, Mainz 1997, S. 34. 64 G. Baron, Mémoire vivante. Vie et œuvre de Marcel Jousse, Paris 1981, S. 154. 65 M. Jousse, Du mimisme à la musique chez l’enfant (1935). Travaux du laboratoire de Rythmo-pédagogie. Digitale Version in der Collection: »Les classiques des sciences sociales«, http://classiques.uqac.ca 66 M. Jousse, L’anthropologie du geste, Paris 2008, S. 61 f. 67 M. Jousse, Le Parlant, la Parole et le souffle, Paris 2008, S. 962 f. 68 Y. Langlois, Le Geste, premier langage de l’enfant! Mais quel geste?, in: R. Hétier, Vertus et limites des usages de la parole en éducation: Groupe de recherche sur Idées Pédagogiques, Paris 2013, S. 87 f. Editions L’Harmattan, 01. 10. 2013. 69 M. Jousse, La manducation de la parole, in: L’anthropologie du geste, Paris 2008, S. 564 f. 70 Vgl. dazu B. Gerhardsson, Memory and Manuscript. Oral Tradition and Written Transmission in Rabbinic Judaism and Early Christianity, Uppsala 1961, S. 163 f. 71 Anina Klebe-Brandt, in: Nord und Süd. Monatsschrift für internationale Zusammenarbeit, hrsg. von Prof. Dr. L. Stein, Berlin im Juli 1929, S. 643. 72 M. Jousse interessierte sich für die Arbeiten von Gustaf Dalman, ins52
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Anmerkungen besondere für sein Werk: Palästinischer Diwan. Als Beitrag zur Volkskunde Palästinas gesammelt und mit Übersetzungen und Melodien herausgegeben, (Sammlung volkstümlicher Lieder aus Palästina und Syrien), Leipzig 1901. 73 Übers. F. Hagen, Leipzig: »Le récitatif biblique est une discipline qui allie la dimension corporelle et spirituelle de la personne en l’enracinant dans la tradition orale de la Bible. Quand on entre dans cette discipline on apprend l’art de se laisser mettre en mouvement, à l’intérieur comme à l’extérieur, par le souffle vivant d’une Parole sacrée qui traverse les âges. Un récitatif biblique est un passage intégral de la Bible qu’on inscrit dans le cœur par le balancement, la mélodie et le geste.« Im Internet: http// www.recitatifbiblique.com. http://www.interbible.org/interBible/cithare/ recitatif/index.html. http://www.interbible.org/formation/demo_pro gramme0405_uqac/cours3/recitatif_biblique.htm. 74 M. Jousse, La manducation de la parole, in: L’anthropologie du geste, Paris 2008, S. 436, Anm. 8. 75 Vgl. über die Arbeit von F. Hagen: http://www.inundauswendig.de Zum Zeitpunkt ihres Besuches in der Abtei Mariendonk Sommer 2012 war Frau Hagen noch nicht Kursleiterin der ACRB (Association canadienne du récitatif biblique). Die Kürze des Aufenthaltes machte es ihr nicht möglich, die Disziplin »Recitatif Biblique« mit ihrer ausführlichen Pädagogik, wie sie von der ACRB entwickelt wurde, mit mir zu praktizieren. Meine eigenen Rezitative stehen deshalb heute nicht in direkter Abhängigkeit von der ACRB aus Kanada. Ich stehe selbst am Anfang eines Weges und darf an dieser Stelle meine Anerkennung für die Pionierarbeit, die in diesem Bereich vor allem in Frankreich und Kanada, aber auch von Frau Hagen geleistet wurde, erneut aussprechen. 76 Vgl. A. Perrier, Nouvelle évangélisation – Anthropologie de la transmission, Mai 2007, S. 1. 77 Vgl. die Studie von A. Spire, Plaisir poétique et plaisir musculaire, Paris 1949. Zitiert in: M. Jousse, La manducation de la parole, in: L’anthropologie du geste, Paris 2008, S. 437, Anm. 9. 78 F. Stuit, Gesten, Rhythmen und Formeln in der Oralität, Diplomarbeit, Mainz 1997, S. 23. 79 M. Jousse, L’anthropologie du geste, Inhaltsverzeichnis, Paris 2008. 80 M. Jousse, L’anthropologie du geste, Paris 2008, S. 26. 81 G. Baron, Mémoire vivante. Vie et œuvre de Marcel Jousse, Paris 1981, S. 73–78. 82 Paroles et Gestes und la communnauté du Sappel mit Pierre et Geneviève Davienne, Yves Beaupérin mit dem Institut de mimopédagogie, aber auch geistliche Gemeinschaften wie die Fraternité Saint Marc. Vgl.
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III Leiblichkeit, Identität und Transzendenz www.parolesetgestes.org; www.sappel.info; www.mimopedagogie.com; http://fraternitesaintmarc.free.fr. Pierre Scheffer, Priester und Jesuit, (1934–2014) hat über 50 Jahre gewirkt, das Wort Gottes auf diese Art und Weise zu vermitteln. Er komponierte Rezitative, die vom Volksliedgut geprägt sind. Heute setzt Noël Couchouron SJ sein Werk in Marseille und in Paris (Centre-Sèvres) fort. Vgl. N. Couchouron, Récitatifs bibliques. L’héritage de Marcel Jousse. Choisir, Revue culturelle, ISSN 0009-4994, No. 631–632, 2012, S. 24–26. http://www.choisir.ch/religions/bible/item/1608-r%C3%A9citatifs-bib liques-lh%C3%A9ritage-de-marcel-jousse und http://www.jesuites. com/actu/2011/jousse.htm. 83 K. Graf Dürckheim, Durchbruch zum Wesen, Bern / Stuttgart / Wien 1972, S. 47. 84 M. Jousse, L’anthropologie du geste, Paris 2008, S. 63. 85 F. Rosenzweig, Die Schrift und das Wort. Zur neuen Bibelübersetzung (1925), in: Mein Ich entsteht im Du. Ausgewählte Texte zu Sprache, Dialog und Übersetzung, Freiburg / München 2013, S. 123. 86 Ebd., S. 124. 87 Ebd., S. 122. 88 M. Buber, Zu einer neuen Verdeutschung der Schrift, Beilage zu dem Werk »die fünf Bücher der Weisung« verdeutscht von Martin Buber in Gemeinschaft mit Franz Rosenzweig, Köln 1954, S. 6 89 M. Merleau-Ponty, Phänomenologie, S. 232 (237). 90 J. Loenhoff, Zur Genese des Modells der fünf Sinne, Bielefeld 2001, S. 175. 91 »Da die persönliche Identität in der körperlichen Wirklichkeit begründet ist, können wir sagen: Ich weiß, wer ich bin, indem ich mich erlebe. Am Anfang jeglichen Selbsterlebens und deshalb auch jeder Erinnerung stehen sensorische Informationen.« Die verschiedenen Arten von Wahrnehmung »bilden die Grundlage für ein Selbst- und Weltverhältnis, das sich nicht auf Fantasie und Einbildung gründet, sondern auf erfahrbarer persönlicher Realität. In dieser Realität liegen die Ressourcen für Veränderung«. Handbuch der Körperpsychotherapie Hrsg. von G. Marlock, H. Weiss Stuttgart 2006, S. 568. 92 K. Barck, Liquidation der Magie und mimetisches Vermögen, in: global Benjamin, Internationaler Walter-Benjamin-Kongress 1992. Hrsg. von Klaus Garbert und Ludger Rehm, München 1999. S. 246. 93 F. Lefèvre, Marcel Jousse, une nouvelle psychologie du langage, Paris, 1926, I, 10. Zitiert in: A. Boissière, La part gestuelle du sonore: expression parlée, expression dansée. Main et narration chez Walter Benjamin. Revue DEMéter, juin 2014, Université de Lille-3, disponible via www.univlille3/fr/revues/demeter/manieres/boissiere.pdf.
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Anmerkungen Vgl. A. Boissière, La part gestuelle du sonore: expression parlée, expression dansée. Main et narration chez Walter Benjamin. Revue DEMéter, juin 2014, Université de Lille-3, disponible via www.univ-lille3/ fr/revues/demeter/manieres/boissiere.pdf. 95 Vgl. E. Schüttpelz, Die Moderne im Spiegel des Primitiven: Weltliteratur und Ethnologie (1870–1960), Paderborn 2005, S. 375. 96 C. Wulf (mit G. Gebauer), Spiel, Ritual, Geste, Reinbek 1998, S. 67. 97 G. Baron, Mémoire vivante. Vie et œuvre de Marcel Jousse, Paris 1981, S. 70–72. 98 M. Jousse, »Les lois psycho-physiologiques du style oral vivant et leur utilisation philologique«, Revue d’ethnographie, no 23, 1931, S. 7, digitale Version in der Collection: »Les classiques des sciences sociales«, http:// classiques.uqac.ca 99 M. Jousse, »Les rabbis d’Israël. Les récits rythmiques parallèles, Collection: Études sur la psychologie du geste, Paris 1930. Digitale Version in der Collection: »Les classiques des sciences sociales«, http://classiques. uqac.ca 100 F. Heinrich; C.-J. Roepke, Vorwort, in: Unfähig zum Gottesdienst? Liturgie als Aufgabe aller Christen, Regensburg 1991, S. 7. 101 M. Merleau-Ponty, Phänomenologie, S. 224 (230). 102 M. Merleau-Ponty, Phänomenologie, S. 229 (235). 103 R. Guardini, Von heiligen Zeichen, Mainz 1927, S. 7. 104 Vgl. J. Pausch OSB, Zehn Jahre Kloster Gut Aich, Ein neues Kloster auf der Suche nach Antworten auf die Herausforderungen der Zeit, in: K. Baier / J. Sinkovits (Hg.), Spiritualität und moderne Lebenswelt, Berlin 2006, S. 298. 105 M. Merleau-Ponty, Phänomenologie, S. 219 (226). 106 M. Merleau-Ponty, Phänomenologie, S. 219 (226). 107 M. Merleau-Ponty, Phänomenologie, S. 233 (239). 108 M. Merleau-Ponty, Phänomenologie, S. 168 (173). 109 M. Merleau-Ponty, Phänomenologie, S. 170 (175). 110 I. Kant, Kritik der Urteilskraft, A 74, 75; B 75, 76. 111 R. Otto, Das Heilige, Breslau 1917, S. 28 f. 112 M. Merleau-Ponty, Phänomenologie, S. 179 (185). 113 M. Merleau-Ponty, Phänomenologie, S. 285 (290). 114 M. Merleau-Ponty, Phänomenologie, S. 177 (182). 115 »Dann kehrte er (Benedikt) an die Stätte seiner geliebten Einsamkeit zurück. Allein, unter den Augen Gottes, der aus der Höhe hernieder schaut, wohnte er in sich selbst.« (Gregor der Große, Dialoge II,3,5). 116 E. Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, Freiburg / München 2008, S. 237. 117 E. Schillebeeckx, Personale Begegnung mit Gott, Mainz 1964, S. 63. 94
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III Leiblichkeit, Identität und Transzendenz M. Merleau-Ponty, Phänomenologie, S. 182 (187). E. Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, Freiburg / München 2008, S. 164. 120 Ebd., S. 233. 121 Ebd., S. 223. 122 P. Ricœur, Narrative Identität, in: Vom Text zur Person. Hermeneutische Aufsätze, Hamburg 2005, S. 209. 123 E. Husserl, Hua IV, (Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie II), Den Haag 1952, S. 152 f. 124 E. Husserl, Hua IV, (Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie II), Den Haag 1952, S. 153. 125 T. Fuchs, Leibgedächtnis und Unbewusstes. Zur Phänomenologie der Selbstverborgenheit des Subjekts; Methode und Subjektivität, in: Psycho-Logik 3, Freiburg / München 2008, S. 38. 126 Ebd., S. 37. 127 Ebd., S. 40. 128 M. Merleau-Ponty, Das Auge und der Geist. Philosophische Essays, Hamburg 2003, S. 256. 129 T. Fuchs, Leibgedächtnis und Unbewusstes. Zur Phänomenologie der Selbstverborgenheit des Subjekts; Methode und Subjektivität, in: Psycho-Logik 3, Freiburg / München 2008, S. 46. 130 E. H. Erikson, Das Problem der Ich-Identität, in: Identität und Lebenszyklus, Frankfurt 1973, S. 124. 131 J. Straub, Identitätstheorie, empirische Identitätsforschung und die ›postmoderne‹ armchair psychology, ZBBS Heft 1/2000, S. 174. 132 R. Kather, Person. Die Begründung menschlicher Identität. Darmstadt 2007, S. 101–102. 133 Ebd., S. 120. 134 Ebd., S. 123. 135 D. Bischof-Köhler, Von Natur aus anders, Stuttgart 2002, S. 69. 136 Vgl. M. Balmary, Dieu n'a pas crée l'homme, Paris 1993, S. 76 f. 137 S. Goertz, Aufgaben der Freiheit. Thesen zum Ende gesicherter Geschlechtsidentitäten, in: T. Hoppe (Hg.), Körperlichkeit-Identität. Begegnung in Leiblichkeit, Freiburg / München 2008, S. 165. 138 E. Rosenstock-Huessy, Die Kopernikanische Wendung der Grammatik, in: Die Kopernikanische Wende in der Sprachphilosophie, Freiburg / München 2012, S. 76. 139 Ebd., S. 77. 140 Ebd., S. 80. 141 E. Lévinas, Die Zeit und der Andere, Hamburg 1989, S. 62. 142 E. Lévinas, Totalität und Unendlicheit, S. 407–408. 118 119
218 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Anmerkungen S. Rouvillois, Corps et Sagesse. Philosophie de la liturgie, Paris 1995, S. 342. 144 R. Kather, Person. Die Begründung menschlicher Identität, Darmstadt 2007, S. 175. 145 G. Bernheim, Mariage homosexuel, homoparentalité et adoption: ce que l’on oublie souvent de dire, 2012, S. 21; abrufbar unter http://www. saintbonaventure-lyon.catholique.fr/IMG/pdf/110325519-Mariagehomosexuel-homoparentalite-et-adoption-Ce-que-l-on-oublie-souventde-dire-Essai-de-Gilles-Bernheim-Grand-Rabbin-de-France.pdf. 146 H. Jellouschek, Die Kunst als Paar zu leben, Zürich 1992, S. 139. 147 Vgl. dazu J. B. Madragule Badi, Dieu au-delà de l’être. Le sens éthique de Dieu dans la pensée d’Emmanuel Levinas, Frankfurt 2013, S. 153. 148 Vgl. M. Merleau-Ponty, Le visible et l’invisible, Paris 1964, S. 179: »C’est lui, et lui seul, parce qu’il est un être à deux dimensions, qui peut nous mener aux choses-mêmes, qui ne sont pas elles-mêmes des êtres plats, mais des êtres en profondeur.« 149 M. Merleau-Ponty, Le visible et l’invisible, Paris 1964, S. 184 f. 150 M. Merleau-Ponty, Phänomenologie, S. 202 (208). Eigene Übers. 151 R. Kather, Person. Die Begründung menschlicher Identität, Darmstadt 2007, S. 141. 152 »Gratia supponit naturam et perficit et elevat eam.« Vgl. Bonaventura II. Sent. 9, 9 ad 2; Thomas v. Aquin S. th. I, 1, 8 ad 2, ebd. I, 2, 2 ad 1. 153 R. Kather, Person. Die Begründung menschlicher Identität, Darmstadt 2007, S. 142. 154 K. Graf Dürckheim, Der Alltag als Übung, Bern 1970, S. 24. 155 K. Graf Dürckheim, Der Alltag als Übung, Bern 1970, S. 9 f. 156 K. Graf Dürckheim, Vom doppelten Ursprung des Menschen, Freiburg 1973, S. 171. 157 Albe: das weiße, liturgische [Unter]gewand, das von Klerikern, aber auch Laien, die eine besondere Funktion im Gottesdienst haben, während der Liturgie getragen wird. Kasel: von Casula, kleinem Haus. Weites Gewand, meist im Halbkreis geschnitten, das über der Albe getragen wird. Das Tragen der Kasel ist den Priestern vorbehalten. 158 Aus: A. Smitmans, Pater Willibrord, Jan Verkade OSB, Kunst jenseits von Natur und Gesetz, Beuron 1999, S. 6. 159 E. Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, Freiburg / München 1987, S. 163. 160 K. Graf Dürckheim, Vom doppelten Ursprung des Menschen, Freiburg 1973, S. 172. 143
219 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
IV Erfahrung und Wirklichkeit
»Mit dem Wissen verwandt ist Erfahrung (…). Die Erfahrung ist ein zusammenfassendes Wissen, so dass sie sich auch darum kümmert, wie jedes einzelne beschaffen ist.« Clemens von Alexandrien, Teppiche 2,17,76,2–3
1)
Vom Verlust der Fähigkeit zur Erfahrung
Die heutige Welt wird immer mehr von komplizierter Technik beherrscht. Gleichzeitig wird sie aus demselben Grund auch immer einfacher, weil allerlei Hilfsmittel, Geräte, Fahrzeuge und Medien alltägliche Vorgänge erleichtern, beschleunigen oder sogar ersetzen. Früher mussten für die Weitergabe von Nachrichten noch Raum und Zeit überwunden werden. Was würde Heidegger angesichts des Internets schreiben, der bereits in der »Fernsehapparatur« »den Gipfel der Beseitigung jeder Möglichkeit der Ferne« 1 erblickte? Alles scheint gleich nah und gleich fern. Heute geht alles in Sekundenschnelle und ohne reale Bewegung per Ferngespräch oder über Touchscreen. Wer im Internet einkauft, braucht keine Waren mehr aus dem Regal zu holen und das Schieben eines vollen Einkaufswagens bleibt ihm erspart. In Form von Smartphones, I-Pads oder Tablets passt die Cyberwelt heute in jede Hosentasche. Damit ist grundsätzlich die Möglichkeit gegeben, an jedem Ort und zu jeder Zeit, den realen Raum zu verlassen und das gegenwärtige reale Gespräch abzubrechen, um in die 220 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Vom Verlust der Fähigkeit zur Erfahrung
virtuelle Welt zu »flutschen«. Für die Kommunikation in der realen Welt wird das zunehmend als störend empfunden und für real Anwesende als frustrierend, denn obwohl sie leibhaftig anwesend sind, werden sie gerade in ihrem leiblichen Dasein ignoriert. Der »Fernpartner« geht vor, auch wenn er sich in der Form einer bloßen SMS meldet. Es ist interessant zu beobachten, mit welcher Mimik der Gesprächspartner reagiert. Nicht nur wird der inhaltliche Fluss des Gespräches unterbrochen, sondern auch die emotionale Beziehung durch das für wenige Sekunden »weg-Sein« erheblich gestört. Bildschirm, Tastatur oder Gleitfläche eines Touchscreens stellen weniger Ansprüche an mich als reale Gesprächspartner. Es sind Gegenstände, mit denen ich umgehe, und nicht Menschen. Sie werden aber immer mehr als eine Ausweitung des Selbst erlebt, und deshalb gleicht das Ablegen des Smartphones inzwischen fast einer Amputation. Menschen legen es nur noch zum Schlafen hin und noch am Bett muss es griffbereit sein. Ursache für das, was T. Fuchs »Verlust an Erfahrung« nennt, ist der Mangel an unmittelbarem, leiblichem Kontakt zur Wirklichkeit, der doch der Wahrnehmung zugrunde liegt. Wer Auto fährt, braucht weniger Kraft als einer, der das Rad benutzt oder zu Fuß geht, d. h. »synästhetische Wahrnehmungen schwinden« 2. Dadurch werden die Gegenkräfte nicht mehr erfahren und die Wahrnehmung wird oberflächlicher. Tiefere Dimensionen werden ausgeschaltet, weil sie nicht mehr erlebbar sind. Die leibliche Auseinandersetzung mit der Welt, mit den Kräften der Natur, mit Wind, Schwerkraft und Erde führte in einer archaischen Kultur zu einer ganz anderen Ertüchtigung des Körpers und Einordnung des Menschen in den Kosmos als in unserer postmodernen Kultur, in der einem allerlei technische »Assistenten« einen Großteil der Mühe abnehmen. Dies wirkt sich auch auf das Verständnis aus, das der Mensch von sich selbst hat. Fuchs formuliert: »Sich mit der Wirklichkeit sinnlich und handelnd auseinanderzusetzen und so durch 221 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
IV Erfahrung und Wirklichkeit
die Praxis die Kunst der Wahrnehmung wieder zu erlernen, ist daher nicht etwa eine Frage des ästhetischen Lebensgenusses, sondern eine für unsere Gattung lebenswichtige Erfordernis.« 3 Dagegen wird auf Gebieten wie den Extremsportarten oder im Wellnessbereich körperliches Erleben geradezu heraufbeschworen. Unsere heutige Gesellschaft wird von G. Schulze als »Erlebnisgesellschaft« bezeichnet. 4 Das Grundbedürfnis des Menschen, sich selbst zu spüren, erlischt auch im Zeitalter der Digitalisierung nicht. Das Leben macht sich in all seiner Subjektivität und Sinnlichkeit gerade dort bemerkbar, wo es der Rationalisierung zum Opfer fallen soll. Erhalten geistiggeistliche Erfahrungen in einer Kultur zu wenig Raum, dann nimmt sie dekadente Züge an. M. Henry spricht vom Anbruch einer neuen »Barbarei« und vom »Eintauchen in die Nacht«, weil die moderne Kultur sich von aller Subjektivität und Sinnlichkeit, die zum Leben selbst gehören, zugunsten der Technik, des Messbaren, der »strengen, objektiven, unbestreitbaren Wissenschaft« getrennt hat. 5 Ohne Gespür für das Unsichtbare wird jede Kultur zur Barbarei. »Das Hauptmerkmal der ›modernen‹ Kultur wird also nicht allein durch die wissenschaftliche Kultur gebildet, sondern außerdem durch den von ihrer Seite aus gewollten und vorgeschriebenen Ausschluss aller anderen geistigspirituellen Modelle.« 6 M. Henry verweist auf das hässliche Stromkabel, das den Himmel über den wunderbaren Resten der Festung von Eleutherai, die im 6. vorchristlichen Jahrhundert Attika schützte, durchquert und deren Anblick massiv stört. Mit Beispielen solcher »Barbarei« ließen sich Seiten füllen. 7 Gewiss, der technische Fortschritt lässt sich nicht aufhalten. Das Internet als unerschöpfliche Quelle und Austauschbörse für Informationen hat das enzyklopädische Werk der Aufklärung fortgesetzt und handhabbarer gemacht. Die Universalisierung des Zugangs zum Wissen geht einher mit der rasanten Geschwindigkeit der Datenübertragung. Wenn ich 222 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Vom Verlust der Fähigkeit zur Erfahrung
einen Gegenstand des Wissens suche, erreiche ich ihn ohne nennenswerte leibliche Anstrengung. Die Veränderung in der Gestalt des Mediums betrifft aber auch das Ich. Geschieht die Wissensvermittlung zunehmend online und in Fernkursen, gerät die Gestalt des Lehrers in den Hintergrund. Interaktive Schaltflächen haben seine Präsenz überflüssig gemacht. Der Sachverständige hat den Weisen verdrängt. Die Herausforderung besteht darin, in der »realen Welt« attraktive und menschliche Räume zu gestalten, Räume, in denen nachhaltige Erfahrungen der Wirklichkeit möglich sind, gerade dann, wenn die virtuelle Welt immer mehr an Bedeutung gewinnt. Aufschlussreich ist z. B. der Buchtitel »Smartphone geht vor« von A. Belwe und T. Schutz. 8 Was Medien, auch digitale Medien, dokumentieren, ist nicht die Anwesenheit, sondern die Abwesenheit des Anderen, für den ich mich »erreichbar« mache, um dann womöglich unter dem Zwang dieses Anspruches der immerwährenden Erreichbarkeit zu leiden. Die Zeitspanne zwischen dem Senden einer Nachricht und dem Empfangen der Antwort wird immer kürzer. Die Erwartung steigt, alles müsse sofort erledigt werden. Die Aufgabe einer wahren Menschwerdung setzt aber eine tiefgehende Erfahrung der Inkarnation als grundsätzliche Daseinsbedingung voraus. Allein das Werden des Kindes im Mutterschoß braucht einfach Zeit. Viele grundlegende Erfahrungen können nur durch Aushalten von Distanzen oder Widerständen gemacht werden. Menschliche Reifung ist nicht mit Beschleunigung gleichzusetzen. Die immer dichter komprimierten Schul-, Lehr- und Studiengänge lassen oft keine Zeit mehr für das Reifen im Umgang mit dem erworbenen Wissen und den erlernten Fähigkeiten. Ohne solche Reifungsprozesse aber kann ein Mensch nicht wirklich als »erfahren« oder »weise« gelten. Dazu gehört die Erfahrung der Zeitlichkeit, die nicht mit Unmittelbarkeit gleichzusetzen ist. Der Anthropologe Marcel Jousse war der Überzeugung: »Wenn alles versagt und schiefzugehen scheint, sind Menschen, die dem konkreten Leben am 223 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
IV Erfahrung und Wirklichkeit
nächsten stehen, diejenigen, die den tieferen und authentischeren Sinn für wahre Werte haben.« 9 Die Volksweisheit gibt den klugen Ratschlag »Lass dir Zeit!«. Generationen, die mit weniger Technik und mehr Mühe alltägliche Schwierigkeiten überwunden haben, verfügten über Schätze an Erfahrung, die heute fehlen.
a)
Erfahrungsverlust und Glaubensrückgang
Im Zusammenhang mit dem Verlust an leiblicher Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit ist auch der Rückgang des Glaubens zu sehen. Die Tatsache, dass wir nicht mehr in direkter Abhängigkeit von der Natur, sondern in zunehmend abgesicherten Verhältnissen leben, hat Einfluss auf unsere Beziehung zu Gott. In einer Welt, in der die Rhythmen von Tag und Nacht, von Sonne, Wind und Regen, von Aussaat und Ernte maßgeblich den Alltag prägten, hatte die Beziehung zu Gott eine existentielle Bedeutung. Denn für eine gute Ernte wird man zu Gott beten, nicht aber für bessere Zinsen bei der Bank. Man wird Gott um Schutz für Haus und Vieh bitten, aber nicht um günstigere Preise für Benzin, Strom, Gas oder für sinkende Beiträge bei den so zahlreichen Versicherungen, die der moderne Mensch aus Angst um sein Leben und für die Sicherung seines Wohlstandes abschließt. Auch bei Reisen erscheint die Bitte um Schutz nicht mehr so recht sinnvoll. Viele Risiken werden durch eine komplizierte Elektronik beherrschbar. So kann ein Flugzeug auch bei Nebel seinen Flug fortsetzen, und man wird bei einem Unfall nicht so geschmacklos sein, Gott für den Ausfall von Warnsystemen verantwortlich zu machen. Dagegen wird man bei schwerer Krankheit, Naturkatastrophen oder Kriegen auch heute noch an Gott denken und zu ihm beten, weil in solchen Widerfahrnissen dann doch die eigene Ohnmacht wieder spürbar wird. Die Welten klaffen auseinander: Religion hat nichts mit der Welt, wie sie heute 224 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Vom Verlust der Fähigkeit zur Erfahrung
erlebt wird, zu tun. Sie bietet höchstens eine Art Ausgleich ohne konkrete Berührung mit meiner alltäglichen Welt. Paradigma des Wissens ist nicht die Erfahrung, die man gemacht hat, sondern das überprüfbare Wissen der Naturwissenschaft, für die allein das Messbare Kriterium der Wahrheit ist. Was nicht in Zahlen ausgedrückt werden kann, existiert nicht. Das Experiment, das beliebig oft wiederholbar ist, gewinnt den Vorrang vor Erfahrungen, die ich nicht gewollt herbeiführen kann. Ich kann sie nur machen, wenn ich mich der Herausforderung dieser Begegnung mit der Wirklichkeit jeweils stelle. 10 Mit der Einschränkung des Erfahrungsbereichs geht der moderne Begriff der Wissenschaftlichkeit einher, der sich seit der Renaissance durchgesetzt hat. 11 Dies kann zu absurden Erscheinungen führen, wenn etwa die Schwere einer Behinderung in Prozentzahlen ausgedrückt oder Pflegebedarf in Stufen eingeteilt wird. Denn niemals haben zwei Menschen genau die gleichen Bedürfnisse oder Einschränkungen. Jeder Körper fühlt sich anders an und ist anders zu mobilisieren. Objektiv ist das, was unabhängig vom Subjekt gilt. Das Ideal ist der neutrale Beobachter, der von nichts affiziert, d. h. berührt wird und der deshalb durch einen anderen, gleich qualifizierten Wissenschaftler ausgetauscht werden könnte. Die Frage nach dem Sinn der Erfahrung wird in einem solchen Kontext für sinnlos erklärt. Die großen metaphysischen Fragen nach dem Schönen, Wahren und Guten finden im Raum einer um jeden Preis objektivierbaren Wissenschaft keinen Raum mehr. Denn solche Fragen verlangen nach besonderen Weisen der Anschauung und des Denkens, verschieden von denen der wissenschaftlichen Empirie. R. Schaeffler nennt das die »Heteromorphie« der Erfahrung: 12 Es muss verschiedene Formen geben, weil die Inhalte der Erfahrung unterschiedlich sind. Es liegen ganz unterschiedliche Formen von Erfahrung vor, je nachdem ob es sich um Gegenstände der Natur, um Beziehungen von Menschen untereinander oder aber um »Gott« handelt. Geschlos225 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
IV Erfahrung und Wirklichkeit
sene Systeme, die erfahrungsresistent geworden sind, werden aufgesprengt, wenn eine Grundoffenheit für die dialogische, also auch transzendentale Struktur der Erfahrung erlangt wird. 13 Der Anspruch des Wirklichen muss vernommen werden. Dann sind wir aktiv beteiligt, weil das, was als Gegenstand der Erfahrung zum Bewusstsein kommt, stets das Ergebnis der Verarbeitung dieser Erfahrung selbst ist. In dieser »Begegnung mit dem Anspruch des Wirklichen« wird sich die Wirklichkeit selbst stets als größer erweisen im Vergleich zu der Möglichkeit von Erfahrung, die ich von ihr habe. 14 Auch die Kategorie der Erfahrung, die es mir ermöglicht, dieser Erfahrung einen Sprachausdruck zu verleihen, sie zu reflektieren und mitzuteilen, wird sich dadurch wandeln müssen. Dafür brauche ich eine eigene Grammatik, die dieser Erfahrung selbst fremd ist, nicht aber der Sprache, in der sie »zu Wort kommt«. Für unseren Kontext ist ein konkreter, tragfähiger Begriff von Erfahrung erforderlich, wenn das, was mit religiöser Erfahrung gemeint ist, ausgedrückt werden soll. Eine religiöse Erfahrung, eine Gotteserfahrung ereignet sich immer als »Heimsuchung«, als ein Ereignis, das in sich nicht ungefährlich ist, weil es etwas Raum gibt, das zutiefst nicht absehbar ist. 15 Der Begriff der Gotteserfahrung bleibt leer, wenn diese Erfahrung nicht den Charakter der Beidseitigkeit, der jeder Erfahrung eigentümlich ist, aufweist, d. h. wenn zur Erkenntnis des Gegenstands nicht auch die Veränderung des Subjekts, das diese Erfahrung macht, hinzukommt. Habe ich z. B. erfahren, dass eine Flamme nicht nur leuchtet, sondern auch brennt, so ist das die Erkenntnis einer Eigenschaft des Feuers, aber auch eine Erkenntnis, die mich zu einem anderen macht, nämlich zu einem, der verbrannt wurde. Das gilt für jede Art von Erfahrung: Ich erkenne nicht nur ein »Etwas«, sondern ich verändere mich. So wird eine Spiritualität der Wahrnehmung einen hohen Grad an Wirklichkeit, an realer Erfahrung beinhalten und von daher eine größere existentielle Verbindlichkeit haben als ein rein intellektueller Glaubensakt. Der Mensch erfährt 226 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Vom Verlust der Fähigkeit zur Erfahrung
sich als ein Wesen, das unterwegs ist, dessen Heimat und letztes Ziel nicht irdisch verortet ist. Gemeint ist der Durchbruch einer Transzendenz, derer der Mensch wirklich »gewahr werden« kann. Der Durst nach solcher Erfahrung ist nicht geringer geworden. Das bezeugen der heutige Boom vielseitiger Esoterik und die Sehnsucht nach einer zunehmend ästhetisierten Lebenswelt.
b)
Ästhetik der Lebenswelten
Ästhetik verspricht so etwas wie Halt in einer sich rasch verändernden Welt. Die Ästhetisierung durchdringt alle Lebenswelten, angefangen von den alltäglichsten Produkten, vom Shampoo über Aftershave bis zum Joghurtbecher. Ein besonders erkennbarer Lifestyle trägt zur Bildung eines bestimmten Milieus bei und dient zur Identifizierung mit ihm. Fehlt der entsprechende »Look«, büßt der Mensch an Halt und Zugehörigkeitsgefühl ein. Gegenstände werden weniger wegen ihres Nutzens als aufgrund ihres ästhetischen Wertes angenommen oder verworfen; besonders Kleidung steht unter dem Zwang der schnell vergänglichen Mode. Was nicht mehr zu mir passt, werfe ich weg, und dann kaufe ich unter Umständen dasselbe in einem neuen Design. Auf die Art wird es möglich, sich selbst zu entwerfen, sich ein eigenes Image zu geben. Allerlei Accessoires vervollständigen das Image. Es bleibt dahingestellt, ob ich das auch wirklich bin, wie ich mich darzustellen versuche. Zum Akt der Anschauung gehört wesentlich, dass kein unmittelbarer Nutzen damit verbunden ist. Es genügt, wenn eine Tasse schön ist; man muss nicht unbedingt aus ihr trinken. Man darf sich an Form und Farbe erfreuen, ohne mit dem Anblick der kunstvollen Tasse das Löschen von Durst zu verbinden. Teures Porzellan verbindet Ästhetik mit kulinarischem Genuss: Die Befriedigung des natürlichen Hungers wird zum 227 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
IV Erfahrung und Wirklichkeit
erhabenen Kulturakt. Ein solcher Akt der Freiheit ist dem Tier fremd. Nur für den Menschen kann ein Vogelnest bezaubernd schön aussehen. Mit der ästhetischen Anschauung öffnet sich ein Raum, der die Immanenz der Welt sprengt. »Es kommt zur Begegnung mit dem, was nicht mehr im Bereich des sinnlichen Vermögens liegt.« 16 Ein »Mehr« tut sich auf, das andere Sehnsüchte als die natürlichen Bedürfnisse sättigt. Von Menschen unter extremen Bedingungen wie im KZ wird berichtet, dass sie besser überlebt haben, wenn sie Dinge vollzogen haben, die auf eine höhere Kultur hingewiesen haben, z. B. das Schälen der knapp bemessenen Ration Kartoffeln vor dem Essen oder das Rezitieren von Gedichten. Es ist bekannt, dass der Mensch unter extremen Bedingungen in seinem Benehmen noch »schlimmer« werden kann als ein Tier, das vom immer gleichen Instinkt gesteuert wird. Deshalb bedarf es eines bewussten Willensakts, sich unter keinen Umständen »gehen zu lassen«. Das Leben des vernunftbegabten Menschen ist zutiefst zweckfrei. Kein »um zu« beherrscht ihn. Der Sinn des Lebens ist das, was der Mensch suchen muss, nicht das, was er aufgrund eines Instinktes vorfindet. Wenn er ihn aber dann findet, empfindet er dies als Geschenk, denn wissen, wofür ich lebe, heißt auch wissen, wer ich bin. Wenn religiöses Leben, Gebet und Kult an Raum verlieren, dann werden Kunst und Kultur zur Ersatzreligion erhoben. Ästhetische Werte sollen dann die Aufgabe der Vermittlung zur Transzendenz übernehmen. Mit der entsprechenden Aufmachung bzw. mit dem passenden »Design« erhält auch noch das Banalste den Hochglanz eines geistlichen Produktes. Es zieht an, weil die Sehnsucht nach spiritueller Verankerung geblieben ist. Die ästhetische wie die religiöse Erfahrung stellen hohe Ansprüche, weil ihr Nutzen darin liegt, unnütz zu sein. Ihr Zweck liegt in ihnen selbst. Das Angeschaute oder Erfahrene wird als das Größere, das Maßgebende betrachtet oder erlebt. Aus dieser Begegnung mit einer Transzendenz erwächst die Einsicht, über sich selbst hinauswachsen zu müssen. Die neuen 228 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Vom Verlust der Fähigkeit zur Erfahrung
Museen für Kunst schaffen heute eine Art Ersatz für die religiöse Erfahrung des Erhabenen. Dome und Kathedralen haben nicht mehr das Monopol der Erfahrung der Sakralität. Gezielt können moderne Bauten wie z. B. das Diözesanmuseum für sakrale Kunst »Columba« diese Sehnsucht bedienen. Dem Architekten Peter Zumthor »ist in Köln eine konzentriertes, solitäres Museum gelungen, das für die Kunst ideale Räume schafft und der zerfahrenen Stadt eine Insel der Ruhe und Harmonie schenkt« 17. Aber es erheben sich auch kritische Stimmen gegen die Spiritualisierung der Kunst und die Hervorhebung des kulturellen Wertes von religiösen Bauten oder Gegenständen. Religion und Kunst gehören zwar zusammen, sind aber nicht austauschbar. Von der Kunst darf man keine »Erlösung« erwarten, wenn sie auch die Sehnsucht nach dem Schönen für eine Zeitlang befriedigen kann. »Doch wer die Grenzen zwischen Kunstglauben und Gottglauben aufhebt, landet meist nur im Beliebigkeitsmystizismus. Da wird der Gegenwartskunst eine Spiritualität angedichtet, die sie nicht hat, und umgekehrt werden alle Kultgegenstände in eine Kunstsphäre gerückt, in der primär die ästhetischen Werte zählen«, schreibt der Journalist Hanno Rauterberg. 18 Der Bau bleibt bei aller möglichen Eröffnung einer transzendenten Erfahrung, ohne die die ästhetische Erfahrung nicht zustande kommt, Bau, die Figur Figur, das Bild Bild. Allein der Glaube kann zu sehen geben, »was kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat, was keinem Menschen in den Sinn gekommen ist: das Große, das Gott denen bereitet hat, die ihn lieben« (1. Korintherbrief 2,9). Die affektive Anrührung durch das Schöne ist deshalb unverzichtbar, weil sie tiefer eindringt als die bloße Vernunft. »Der Verstand, das reine Denken, hat keine Macht über die Affekte«, schreibt R. Kather. 19 Die affektive Anrührung »befruchtet« gewissermaßen den Verstand. Bei Platon ist es die Macht des Eros, bei Aristoteles die des Staunens, für Kierkegaard übernimmt die Schwermut diese Rolle und bei Bloch die 229 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
IV Erfahrung und Wirklichkeit
Hoffnung. Was wäre eine Philosophie ohne Affekt? Nichts, denn sie ist doch zutiefst liebendes Wissen und wissende Liebe. In der ästhetischen Erfahrung wird die Erfahrung der Einheit des Blicks auf ein Ganzes, das mehr ist als die Summe seiner Teile und in sich Sinn macht, ausschlaggebend. Sie ist mit der Kraft der Intuition vergleichbar, die den Blick auf die inneren Zusammenhänge gerichtet hält und mehr Potential für neue Entwicklungen besitzt als die empirische Analyse, die sich nur stufenweise von den Teilen zum Ganzen emporarbeiten kann. Die Sehnsucht nach dieser Schau im Ganzen, die dem ästhetischen Urteil zugrunde liegt, bildet einen geeigneten Boden für die religiöse Erfahrung. Beide setzen das Ergriffen-Sein voraus. Die ästhetische Erfahrung genauso wie die religiöse kommt dann zustande, wenn Affekt und Vernunft zusammenfallen. Affekte allein führen leicht in Verwirrung. Nur die Vernunft führt die vielen teils widersprüchlichen und verwirrenden Einzelerlebnisse und Anschauungen zusammen, indem sie ihnen einen Sinn gibt. Eine Erfahrung ist echt, wenn ein Erlebnis so verarbeitet wurde, dass es mitgeteilt werden kann. Das Moment der Reflexion muss zum Erlebten dazu kommen. Erst die sprachliche oder gestalterische Artikulation verleiht ihm eine gewisse Objektivität. Bei ästhetischen und religiösen Erfahrungen kommt hinzu, dass sie die Erfahrungen des Alltags, auch die ganz banalen, transzendieren und auf eine höhere Ebene heben. Sie sind Garanten einer vom Zerfall bedrohten Identität, die, um zu bestehen, einer sie transzendierenden Wirklichkeit bedarf. Indem Ästhetik und Religion auf eine Transzendenz hinweisen und einen Raum für den Einbruch dieser Transzendenz eröffnen, erlangen sie eine überragende Bedeutung. Sie versprechen eine Kohärenz, die der Mensch sich selbst nicht geben und die er nirgendwo anders erfahren kann. Kant formuliert: »Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: Der bestirn230 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Erfahrung aus transzendentalphilosophischer Sicht
te Himmel über mir, und das moralische Gesetz in mir. Beide darf ich nicht als in Dunkelheiten verhüllt, oder im Überschwenglichen, außer meinem Gesichtskreise, suchen und bloß vermuten; ich sehe sie vor mir und verknüpfe sie unmittelbar mit dem Bewusstsein meiner Existenz.« 20 Hier nimmt das moralische Gesetz die Stelle einer Offenbarung ein, die den Menschen über sich hinausträgt und ruft. Diese Art der Erfahrung sprengt die bisher gültigen Kategorien und stellt doch einen gültigen Anspruch an das Erkennen der Wirklichkeit. Ob inner- oder außerhalb der Grenzen der Vernunft, entscheidend ist die Dimension des Ergriffen-Werdens; denn darin ist eine Transzendenz am Werk. In Anlehnung an Husserl kann man sie »transzendental« nennen. Gemeint sind Erfahrungen, die den Sinn aller anderen Erfahrungen verändern und einen objektiven Anspruch erheben. 21 Um der Bedeutung dieser Erfahrungsart näherzukommen, wird ein Ansatz aus der Transzendentalphilosophie zu Rate gezogen.
2)
Erfahrung aus transzendentalphilosophischer Sicht
Die skizzierte Reflexion über Erfahrung im Allgemeinen und über Gotteserfahrung im Besonderen ist dem Ansatz von R. Schaeffler und damit auch Kant und Husserl verpflichtet. Erfahrung wird von Husserl »als Wirklichkeit, d. i. als Dasein erfassendes bzw. setzendes Bewusstsein« im Unterschied zu reinen »idealen Möglichkeiten« definiert«. 22 Für Husserl kann mit Erfahrung »nur der originär gebende Akt, der sich auf Naturwirklichkeit« bezieht, gemeint sein. 23 Hier stoßen wir auf die Tatsache, dass es Erfahrungen nur in singulärer Form gibt. Sie können nicht verallgemeinert werden – und doch verlangt jede Reflexion über den Inhalt der Erfahrung nach allgemein gültigen Begriffen und Anschauungsformen. Deshalb ist es dringend notwendig zu fragen, woher solche Formen und Begriffe gewonnen werden können. 231 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
IV Erfahrung und Wirklichkeit
Die Frage nach der Möglichkeit der Erfahrung und den Formen, in denen sie reflektiert werden kann, steht im Zentrum des Denkens von R. Schaeffler. Es ist die Frage nach der Möglichkeit von Erkenntnis und deshalb eine Frage der Transzendentalphilosophie. Kants Kritik der reinen Vernunft wurde maßgeblich für alle nachfolgende Philosophie, die sich als kritisch versteht. Aber können die Frage, wie sie Kant für die reine Vernunft stellt, und seine Antwort auch auf den Bereich der Erfahrung übertragen werden? Dafür spricht, dass die Fähigkeit zur Erfahrung und die Fähigkeit, diese Erfahrung zu reflektieren, nicht unberührt vom Einfluss der Geschichte bleiben, d. h., sie sind einem Wandel unterworfen auch dort, wo Kant glaubte, apriorische Formen der Vernunft erkannt zu haben, die zeit- und erfahrungsunabhängig seien. Demnach ist die transzendentale Struktur der Erfahrung selbst der Kontingenz bestimmter Erfahrungen unterworfen. 24 Schaeffler möchte den »Monopolanspruch wissenschaftlicher Empirie« 25 brechen und adäquate Kriterien gewinnen, die es ermöglichen, zwischen subjektivem Erlebnis und objektiv gültiger Erfahrung im Bereich der Ethik und der Religion zu unterscheiden. Dafür muss im Rahmen einer Transzendentaltheologie und Hermeneutik eine kritische Methode erarbeitet werden, die dem unverwechselbaren »Objekt« – im Bereich der jüdisch-christlichen Religion Gott – gerecht wird. Er bereitet den Weg für eine Theologie, die das der Kant’schen Philosophie verpflichtete Moment des kritischen Bewusstseins nicht unterdrückt, sondern es zum Prüfstein des Wahrheitsanspruches macht. In seinem zentralen Werk, »Erfahrung als Dialog mit der Wirklichkeit«, legt Schaeffler seine Reflexion über den responsiven Charakter der Erfahrung dar und weist auf den Vorrang des an mich ergangenen Anspruches hin. Jeder Art von Erfahrung liegt eine besondere Art der Wahrnehmung zugrunde und jede Art von Erfahrung ruft deshalb nach einer spezifischen Antwort. »Weder unsere Sinne noch unsere Begriffe 232 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Erfahrung aus transzendentalphilosophischer Sicht
üben einseitig eine ›Herrschaft über die Gegenstandswelt‹ aus, sondern stehen zu dieser in einem dialogischen Wechselverhältnis. Sowohl unser Anschauen als auch unser Denken antwortet auf einen Anspruch des Wirklichen«, schreibt R. Schaeffler. 26 Was ich von einer Sache begrifflich erfassen kann, hängt zunächst mit der Eigenart der Anschauung zusammen. Ohne eine vorausgehende oder nachfolgende Anschauung bleibt der schärfste Begriff leer. Die Kategorien der Anschauung sind selbst immer eine Antwort auf einen Anspruch, auf das, was sich ereignet und mir zeigt. »Dieser Anspruch ist das ›erste Wort‹ im Dialog mit der Wirklichkeit. Unser Anschauen und Denken gibt der Weise, wie die Dinge sich uns zeigen, ihre Gestalt.« 27 Diese Überzeugung, die der Wirklichkeit den Vorrang lässt, führt zu einer Haltung der Demut. Nicht der Mensch ist das Maß aller Dinge, sondern die Wirklichkeit, die immer größer sein wird als das, was er von ihr wahrnimmt. Deshalb behält »die Wirklichkeit, der wir begegnen, in diesem Dialog auch stets das ›letzte Wort‹« 28. Es gilt, eine Offenheit für die Wirklichkeit einzuüben, die die Wahrnehmung nicht einengt. Von dieser Erkenntnis einer »veritas semper maior« leitet sich der responsive Charakter der Erfahrung ab. Als Antwort auf den Anspruch des Wirklichen wird der Erfahrung von vornherein eine dialogische und offene Struktur zugesprochen, weil wir dem an uns gestellten Anspruch mit unserer Antwort, auch im Akt des Denkens selbst, nicht genügen können. Dieser responsive Charakter der Erfahrung erfordert eine kritische Besinnung auf ihren Inhalt und die Formen der Anschauung. Etwas kann sich auf verschiedene Weisen zeigen. Es kann so oder so »erscheinen«. Welche Instanz übernimmt dann die Garantie dafür, dass es sich jeweils um dasselbe handelt? Gesucht ist so etwas wie eine regulative Idee, die die Einheit der Erfahrung in ihren vielseitigen Erscheinungsweisen garantiert. Nicht nur sehen zwei Menschen dieselbe Sache verschieden, weil sie unterschiedlich veranlagt sind, sondern ein 233 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
IV Erfahrung und Wirklichkeit
und derselbe Mensch kann – je nach Zeitpunkt, Umständen usw. – dieselbe Sache in einem anderen Licht sehen. Dieses bestimmte Bewusstsein oder die Verfasstheit eines Menschen sind unumgängliche Realitäten. Man müsste also die Struktur des Bewusstseins klären, um sich der Möglichkeit der Erfahrung selbst nähern zu können. Jede Erfahrung muss bereit sein, sich einer kritischen Instanz zu unterwerfen, damit sie Rechenschaft ablegen kann über sich selbst. Diese kritische Aufgabe übernimmt bei Husserl die transzendentale Subjektivität. Die Erfahrungswelt soll nicht ausgeklammert, sondern durch die Neubegründung der Wahrnehmung abgesichert werden, und zwar gegen alle ideologischen oder auch intellektuellen Versuchungen, man käme in der Wissenschaft ohne die natürliche Erfahrung aus. Die Objektivität der Erkenntnis, gewonnen aus der natürlichen Erfahrung, kann und darf nicht ausschließlich unter dem Monopol wissenschaftlicher – an der Mathematik orientierter – Empirie gedacht und begründet werden. Man darf die Einsicht nicht vergessen, »aus der diese neuzeitliche Wissenschaft hervorgegangen ist: dass alles Erkennen aktives Gestalten ist. […] Wir können die Eigenaktivität nicht mehr verleugnen, die wir in unser Erkennen einbringen.« 29 Diese Eigenaktivität muss Gegenstand einer kritischen Reflexion werden, wenn wir nicht in eine naive Auffassung von Erfahrung zurückfallen und doch heimlich wieder dem Verdacht recht geben wollen, außerhalb der wissenschaftlichen Empirie sei keine Objektivität zu erreichen. Hier ist noch eine Menge Interpretationsarbeit zu leisten. Notwendig ist eine Hermeneutik der Erfahrung. Die von Hegel formulierte Einsicht, »Der sinnlichen Gewissheit muss das Hören und Sehen vergehen, damit sie das Wahrnehmen lernt« 30, findet in diesem Zusammenhang neue Aktualität. Genügte nicht einfach die tolerante Haltung, jeder möge nach seiner Art und Weise leben und die Erfahrungen für gültig halten, die er vor sich selbst bestätigen kann? Warum können wir auf die Objektivität von Erfahrung nicht verzichten? 234 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Erfahrung aus transzendentalphilosophischer Sicht
Erfahrungen sind deshalb erstrebenswert, weil sie die Grundlage unserer Identität als Individuum sind. Weil wir aber als soziale Wesen stets in einem größeren Gefüge leben, ist es wichtig, dass Erfahrungen auch kommunizierbar sind. Eine Gruppe von Menschen, die sich aufgrund gemeinsamer Werte gefunden hat, teilt auch bestimmte Erfahrungen miteinander und verteidigt sie gegen Angriffe von außen. Unsere westliche Zivilisation wird aktuell stark durch die Erfahrung geprägt, dass sie sich mühsam die »Menschenrechte« erkämpft hat. Gleichzeitig verblassen oder verschwinden die »GottesRechte«, die früher als selbstverständlich geltend gedacht wurden. Wie steht es z. B. mit dem Sonntag als freiem Tag für die Ausübung religiöser Praktiken, wenn das Freizeitangebot immer größer wird? Dann gerät der angeblich für Gott freie Tag unter dasselbe Gesetz des Konsums und des Profits wie die Wochentage, mit dem kleinen Unterschied, dass das, was es zu konsumieren gilt, eben »Freizeitangebote« sind. Abschließend ist festzuhalten, dass eine Erfahrung nicht auf das Ereignis, das an ihrer Wurzel liegt, und auch nicht auf ein Erleben auf der Gefühlsebene reduziert werden kann; denn wenn es um bloße Gefühle ginge, wären keine Kriterien erforderlich. Im Bereich des Empfindens ist jeder sein eigener Herr. Die Erfahrung bleibt in einem offenen Dialog mit der Wirklichkeit. Sie kann über sich selbst Rechenschaft ablegen, weil sie eine transzendentale Struktur aufweist, die ihre Objektivität garantiert. Darum ist sie auch bereit, sich einer kritischen Instanz zu unterwerfen. Sie löst sich nicht im Augenblick auf, weil Ich-Kontinuität und Weltkohärenz, die als Basics unserer Identität gelten, in allen Wandlungen von Erfahrungen erhalten bleiben oder neu gewonnen werden können. Sie erfordert aufgrund des antizipatorischen Charakters jeder einzelnen Erfahrung eine stetige Einübung, die der Einübung in die Wahrnehmung gleichkommt. Von dieser Einübung hängt die Fähigkeit zur Erfahrung entscheidend ab. Eine Theorie, die nur auf wissenschaftliche Empirie, auf 235 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
IV Erfahrung und Wirklichkeit
wiederholbare Experimente baut, verschließt sich notwendigerweise gegen alle anderen gültigen Formen objektiver Erfahrung, wie sie in der Ästhetik, der Ethik und der Religion möglich sind. 31 Die ästhetische, aber auch die religiöse Erfahrung bzw. die Gotteserfahrung fallen per Definition nicht in den kontrollierbaren Bereich des Machbaren und Wiederholbaren.
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Erfahrung und die Frage nach dem Sinn
Die Frage, die am besten geeignet ist, den Boden für die Gotteserfahrung zu bereiten, ist die Sinnfrage: Wozu bin ich hier und weshalb bin ich überhaupt? Das Gespür dafür, dass die eigene Existenz sich nicht selbst verdankt und dass eine rein biologische Erklärung unzulänglich ist, um dem Sinn meines Lebens auf die Spur zu kommen, lässt sich nicht verleugnen. Gerade aus dem Gefühl der materiellen Übersättigung heraus kann ein Defizit im geistlichen Bereich deutlich werden. Das dumpfe Gefühl »Das alles erfüllt mich doch nicht; es muss doch noch etwas Anderes geben«, steht nicht selten am Anfang eines geistlichen Weges, eines Suchens nach jener Transzendenz, die sich der Immanenz der Welt entzieht und doch irgendwie in ihr oder durch sie aufzuleuchten vermag. »Das Bedürfnis nach Sinn und das Streben nach Ewigkeit können uns gegen die Grenzwälle des menschlichen Bereichs drücken.« 32 Die Suche nach Sinn führt zur Rückkehr zu sich selbst, zu einem Fühlen und Spüren im eigenen Innern. Häufig sagen Gäste, die für einige Tage in unser Kloster kommen: »Ich muss zu mir selbst finden.« Sie fragen selten zuerst nach Gott. Begegnet ihnen Gott, weil sie hier auf Menschen stoßen, für die Er im Zentrum steht, dann sind sie eher verstört oder überrascht. Sie werden gezwungen, ihre eigene Werteskala zu überprüfen. Sie erleben, dass hier nicht Gesundheit, Macht, Geld, Arbeit, Karriere oder aber Sexualität, Freundschaft, Part236 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Die Frage nach der Möglichkeit der Gotteserfahrung
nerschaft und Familie an erster Stelle stehen, sondern Gott. Um Gottes willen haben die Schwestern »alles verlassen«. Menschen, die Gott gefunden haben, sind aber zunächst von Ihm – Gott – gefunden worden. Die Gäste erfahren, dass die eigene Existenz durch den Glauben eine andere Art von Verwurzelung erfährt und sich andere, in sich durchaus berechtigte und wichtige Verankerungen im Leben grundsätzlich relativieren. Deshalb ist das erste Gebot des Dekalogs die Gottesliebe, die den Menschen in Anspruch nimmt mit seiner ganzen Kraft, aus ganzer Seele und von ganzem Herzen (vgl. Deuteronomium 6,5). Die Erfahrung, dass ich meine Existenz nicht mir selbst verdanke, macht den Menschen empfänglich für den höheren Sinn des Lebens und die Suche nach Gott. Diese Erfahrung von Fragen, die mir begegnen und die ich dennoch nicht allein beantworten kann, weil die Antwort nicht in der Immanenz und Kontingenz einer endlichen Existenz in der Welt zu finden ist, sondern nur, wenn eine Transzendenz hereinbricht, bereitet den Übergang von der Philosophie zur Religion, von der Diskursivität zur Eingebung bzw. zur Kraft der Intuition. Es ist der Weg, im vollen Verlieren seiner selbst sich neu in Gott zu gewinnen. »Das ist im Sittlichen die Demut und im Intellektuellen die reine ›Intuition‹«, schreibt Max Scheler. 33 Die Reflexion über diese Erfahrung, dass ich nach dem eigentlichen Sinn meiner Existenz suche, ohne ihn letztendlich aus mir selbst finden zu können, lässt mich an eine Grenze stoßen, die mir nur dazu auferlegt ist, dass ich mich einer höheren Instanz überantworten kann.
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Die Frage nach der Möglichkeit der Gotteserfahrung
Der Ausdruck Gotteserfahrung kann unter zweierlei Aspekten betrachtet werden. Es kann um die Möglichkeit der Erfahrung Gottes gehen – dann ist es eine Aussage über den Menschen – 237 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
IV Erfahrung und Wirklichkeit
oder darum, dass es zum Wesen dieses Gottes gehört, erfahrbar zu sein – dann ist es eine Aussage über Gott. Dass es so etwas wie Gotteserfahrung gibt, bezeugen Berichte von Menschen aller Zeiten und Kulturen. Dass Gott »erfahrbar« ist, bezeugen die heiligen Schriften der verschiedenen Religionen. Ob diese Schriften direkt von Gott kommen wie etwa der Koran oder von dem Heiligen Geist inspiriert sind wie die Bibel, spielt für unsere Frage keine Rolle. Wichtig ist, dass Gott auf die eine oder andere Weise als ein Gott der Erfahrung »erscheint« und sich selbst auf diesem Weg der Erfahrung zu erkennen gibt. Ohne jene »direkte« Erfahrung ist so etwas wie »Mystik« bedeutungsleer. Der Inhalt der mystischen Erfahrung ist Gott selbst oder die Wirklichkeit, die so genannt wird. Wie sie zustande kommt und welche physischen oder psychischen Zustände mit ihr verbunden sind –, das alles ändert nichts daran, dass es diese Erfahrung geben kann. Die Glaubwürdigkeit jener Erfahrung ist nicht mit der Art der Erfahrung verbunden, sondern ist im Umgang mit dem Alltäglichen zu suchen. Wo führt das hin? Und wie geht der, dem eine solche Erfahrung geschenkt wird, damit um? Für eine Spiritualität der Wahrnehmung sind das wesentlich wichtigere Aspekte als die Fragen nach den Begleitphänomenen, die für die Religionspsychologie im Mittelpunkt stehen. Wenn man apriori postuliert, dass echte religiöse Erfahrungen zum Heil und nicht zum Unheil einer Gesellschaft oder einer Glaubensgemeinschaft führen, stellt sich die Frage, ob es innerhalb einer Religion Maßstäbe für die Echtheit religiöser Erfahrung gibt. Ein Rückblick auf die Geschichte des 20. Jahrhunderts, das aufgrund der abermillionenfachen Vernichtung von menschlichem Leben wie kein anderes ein Zeitalter der Selbstzerstörung der Menschheit zu sein scheint, zeigt, wie wenig Gruppen von Menschen, Nationen, Staaten aus Erfahrungen lernen können. Hinzu kommt die Gefahr einer gewissen Immunität gegen die Evidenz der Erfahrung, wenn Pläne oder Programme auch dann aufrechterhalten werden, wenn 238 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Die Frage nach der Möglichkeit der Gotteserfahrung
die Bedingungen sich drastisch geändert haben und die angestrebten Erfolge ausbleiben. Systeme, wie sie z. B. in der Politik oder in der Wissenschaft anzutreffen sind, können so sehr auf ihren Selbsterhalt bedacht sein, dass sie gegen alle Ansprüche einer Ethik, die aus der Erfahrung kommt, immun werden. Deshalb müssen immer wieder Versuche gestartet werden, die »wissenschaftliche Rationalität und ihre als bedrohlich erlebten technischen Folgen« zu durchbrechen »und so zu einer Erweiterung der Erfahrungsfähigkeit zu gelangen« 34. Es wird nach einer Fähigkeit zur Erfahrung gesucht, die Verantwortung für sich selbst trägt, ohne einem fanatischen Gültigkeitsanspruch zu verfallen. Es ist nötig, Kriterien für die Echtheit religiöser Erfahrung herauszuarbeiten und sie auch im Rahmen einer konkreten Gemeinschaft, für die diese Art Erfahrungen relevant sind, einzuüben; denn jede Form von Fanatismus wirkt zerstörerisch. Deshalb verlangt insbesondere eine Glaubensgemeinschaft nach solchen Kriterien, an denen die Gültigkeit aller weiteren Erfahrungen gemessen werden kann, und nach einer Instanz, die sich als Garant der Echtheit einer Erfahrung erweist, insofern diese mit Ansprüchen an die konkrete Gemeinschaft selbst verbunden ist. Denn die Frage nach der »Fähigkeit zur Erfahrung« betrifft nicht nur den Einzelnen, sondern die Gesellschaft als solche. Dort, wo Erfahrungen und damit auch Werte nicht weiter tradiert werden können, brechen gesellschaftliche Systeme zusammen. Mit der Erfahrung selbst hängt notwendigerweise die Fähigkeit, diese Erfahrung zu kommunizieren, zusammen. Erfahrungen sind nicht einfach da. Zunächst und zumeist sind es Begebenheiten, Zufälle, Widerstände usw. Wir haben bestimmte Erlebnisse, die vielleicht als Erfahrung konstituiert werden können und die sich dann als solche in unserem Leben bewähren müssen. Als Kriterien für die Echtheit einer Gotteserfahrung lassen sich z. B. nennen: Gelassenheit im Umgang mit der eigenen Lebenssituation; Selbstlosigkeit, weil das Schauen der Herr239 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
IV Erfahrung und Wirklichkeit
lichkeit Gottes den Vorrang einnimmt; Demut, weil sie die Fähigkeit vermittelt, größere Zusammenhänge als nur den eigenen Horizont wahrzunehmen, aber auch Offenheit für die Welt und ihre Nöte. 35 Die mystische Erfahrung gilt als Grenzfall religiöser Erfahrung, da sie nur indirekt, an ihren Auswirkungen im Leben des Einzelnen, überprüfbar ist. Hier ist das Verstummen oder ins Schweigen Versinken angesichts des Heiligen das Kriterium dafür, dass es sich um mehr als um ein Selbstgespräch der Seele handelt. 36 Nicht jede religiöse Erfahrung kann als Gotteserfahrung gelten. Eine religiöse Erfahrung kann echt sein, ohne eine reale Berührung mit Gott zu beinhalten. Die Rede von »Gotteserfahrung« kann deshalb zu Missverständnissen führen. Religiöse Erfahrungen müssen für Christen am Maßstab der biblischen Offenbarung gemessen werden. Denn streng genommen sind Gotteserfahrungen nur im Wort Gottes selbst anzutreffen: Die Bibel ist die »norma normans«. Deshalb ist dieses Buch für Juden und Christen zur Heiligen Schrift, d. h. zur Offenbarung als dem letztgültigen Maßstab aller theologischen und religiösen Gottrede des Menschen geworden. Und doch kann der Mensch in den biblischen Texten nicht ohne eine gewisse Ahnung dessen, was eine Gotteserfahrung ist, die Spur der autorisierten Gotteserfahrung erkennen. Zugleich kann keine religiöse Erfahrung sich selbst zum Maßstab erheben, ohne Gefahr zu laufen, eigenen Täuschungen zu erliegen oder sich fremden Gottheiten zu unterstellen. Die Bibel selbst berichtet, dass auch falsche Propheten im Namen Gottes aufgetreten sind. Woran erkennt man eine echte Gotteserfahrung? Erfahrungen erweisen sich erst dann als wirkliche Erfahrungen und nicht als bloßes Erlebnis, wenn sie den eigenen Horizont und das Verständnis des Ich nachhaltig verändern. Dadurch werden sie in den Rang von transzendentalen Erfahrungen erhoben. Neue Rahmenbedingungen entstehen, die die Inhalte der jeweiligen Erfahrungen überdauern und die Struktur nachfolgender Erfahrungen wesentlich verändern. 37 Akte der Erfah240 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Die Frage nach der Möglichkeit der Gotteserfahrung
rung und Gegenstände der Erfahrung sind voneinander zu unterscheiden. »Der Akt der Erfahrung setzt die Konstanz des Ich voraus. Ich könnte keine Erfahrungen machen, wenn ich vergäße, daß ich heute derselbe bin, der gestern andere Beobachtungen gemacht hat. […] Die Gegenstände der Erfahrung aber setzen Kohärenz der Welt voraus.« 38 Im Fall der Gotteserfahrung aber geraten Ich-Konstanz und Weltkohärenz ins Wanken. Es gibt viele Erfahrungen, die mich an der Existenz Gottes zweifeln lassen oder aber mich selbst so in Frage stellen, dass ich zweifle, ob ich es wirklich bin, der diese Erfahrung gemacht hat. Ich-Konstanz und Weltkohärenz gelten aber spätestens seit Kant als Bedingungen für die Entstehung und Konstitution jeder Erkenntnis und damit auch letztlich der Erfahrung. Mit Idee der Welt meint Kant den »Inbegriff aller Erscheinungen, […] im transzendentalen Verstande, die absolute Totalität des Inbegriffs existierender Dinge« 39. Einfacher formuliert, wird die Welt als Kosmos und nicht als Chaos erlebt, so dass alles, was uns begegnet und begegnen kann, »in diesem geordneten Ganzen seine eindeutig bestimmte Stelle findet« 40. Der Garant für die Kontinuität des Ich und der Welt kann nach R. Schaeffler nur Gott selbst sein. »Nicht die kosmische Ordnung als solche garantiert die Einheit dieser Welt, sondern die Identität des Gottes, der sich auch dann noch, wenn ›Himmel und Erde vergehen‹, beim Namen rufen lässt.« 41 Er allein garantiert die Kontinuität von Erfahrungen, die die transzendentalen Bedingungen der Erfahrung selbst – wie Ich-Konstanz und Weltkohärenz – aufsprengen. »Wiederherstellung der Einheit des Ich ist Bedingung der historischen Erfahrung. Und ›Gott‹ könnte ein Name für die Bedingung sein, die diese Wiederherstellung im Durchgang durch die Krise des historischen Bewusstseins möglich macht.« 42 Vor Gott stehe ich in der immer neuen Aufgabe, mich von ihm »lesen« zu lassen 43, seinen Blick auf mein Leben zuzulassen und seine Sicht auf die Welt sein zu lassen, ohne ihn dann 241 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
IV Erfahrung und Wirklichkeit
zur Rechenschaft zu ziehen, was einem Menschen niemals zusteht. So entstehen paradoxe Erfahrungen, denn von Gott gilt: »Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken und eure Wege sind nicht meine Wege – Spruch des Herrn. So hoch der Himmel über der Erde ist, so hoch erhaben sind meine Wege über eure Wege und meine Gedanken über eure Gedanken« (Jesaja 55,8–9). Angesichts singulärer Erfahrungen in meinem Leben brechen Weltkohärenz und Ich-Konstanz teilweise oder sogar ganz zusammen. Sie gelten aber allgemein als Bedingung dafür, dass aus dem bloßen Erlebnis auch eine Erfahrung hervorgehen kann. Gesucht wird also ein neuer Horizont, ein neuer Deutungsschlüssel aller meiner bisherigen Erfahrungen, damit Weltkohärenz und Ich-Konstanz eine neue Festigkeit gewinnen. Wenn ich Gott als diesen Horizont und Deutungsschlüssel aller meiner bisherigen Erfahrungen verstehe, dann wird Er zum Garanten, durch den der Zerfall von Weltkohärenz und Ich-Konstanz als Übergang zu einer neuen Dimension verstanden wird. Er macht es möglich, weil Er die Kontinuität gerade dort, wo sie nach menschlichen Maßstäben zerbricht, gewährleistet. Gott ist immer größer als das, was ich von Ihm zu verstehen vermag, und immer wieder führt Er mich in die Weite, die sich teilweise so anfühlt, als ob Welten zusammenbrechen. Werden diese Zusammenbrüche als Prüfungen auf dem Glaubensweg gedeutet, dann führen sie zu einer Ausweitung beider Konstanten. Dort, wo meine Lebenswelt und ich selbst zu zerbrechen drohen, wird der Glaube zum Fundament eines neuen Lebens und einer neuen Sicht auf das Leben, weil bloße Erlebnisse und Ereignisse dank der neu gewonnen Ich-Konstanz und Weltkohärenz in gültige Erfahrung umgewandelt werden. Die oft notvoll empfundene Begrenztheit der eigenen Existenz wird aufgehoben in der Erfahrung der Größe Gottes. Gott offenbart sich als derjenige, der die neuen Bedingungen einer transzendentalen Erfahrung auch dort begründet, wo 242 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Die Tradition: Gotteserfahrung bei Benedikt von Nursia
sich die Bedingungen aller Erfahrung als brüchig erwiesen haben. Die Verhältnisse ändern sich. Die Art des Sehens, die dem Glaubenden geschenkt wird, ist ein Sehen ins Licht durch das Dunkel hindurch. Es ist also nicht die Intensität des Gefühls, die über die Echtheit einer religiösen Erfahrung als Gotteserfahrung entscheidet, sondern die Relativierung der Verhältnisse. Diese Erfahrung verändert die Sicht auf die Welt, auf das Leben, auf den Alltag. Die Gotteserfahrung ist in sich dialogisch; erst darin zeigt sich, ob diese Erfahrung echt ist, d. h. ob ihr eine wirklichkeitsverändernde Wahrheit zu Grunde liegt oder ob es sich um eine Täuschung handelt. Einblicke in als solche anerkannte Gotteserfahrungen bieten die Lebensgeschichten der Heiligen. Unter vielen anderen wähle ich eine Episode aus dem Leben des heiligen Benedikt, wie Gregor der Große sie in seinen kunstvollen, zur Erbauung geschriebenen Dialogen berichtet.
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Die Tradition: Gotteserfahrung bei Benedikt von Nursia
Gregor überliefert im zweiten Buch seiner Dialoge eine berühmt gewordene Szene aus dem Leben des heiligen Benedikt. »Er stand am Fenster und flehte zum allmächtigen Gott. Während er mitten in dunkler Nacht hinausschaute, sah er plötzlich ein Licht, das sich von oben her ergoß und alle Finsternis der Nacht vertrieb. Es wurde so hell, daß dieses Licht, das in der Finsternis aufstrahlte, die Helligkeit des Tages übertraf. Etwas ganz Wunderbares ereignete sich in dieser Schau, wie er später selbst erzählte: Die ganze Welt wurde ihm vor Augen geführt, wie in einem einzigen Sonnenstrahl gesammelt.« 44 Der Kontext einer solchen Erfahrung kann ganz alltäglich sein. Hier ist es das nächtliche Stehen am Fenster. Dem eher einfältigen Schüler des heiligen Gregor, Petrus genannt, wird die Frage in den Mund gelegt, die vermutlich auch der heutige 243 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
IV Erfahrung und Wirklichkeit
Leser stellen würde: »Wunderbar und ganz erstaunlich! Was du da gesagt hast, daß Benedikt die ganze Welt wie in einem einzigen Sonnenstrahl gesammelt vor Augen haben durfte, das habe ich noch nie erlebt und kann es mir auch nicht vorstellen. Wie könnte denn jemals ein Mensch die Welt als ganze schauen?« 45 Doch es gehört zum Wesen der Gotteserfahrung, dass sie weder mitteilbar noch überprüfbar ist. Die Gotteserfahrung sprengt unsere Vorstellung und unser Denken. Für denjenigen, der mit Gott in Berührung kommt, verändern sich die Bedingungen der Erfahrung selbst, schreibt Gregor. »Wenn die Seele ihren Schöpfer schaut, wird ihr die ganze Schöpfung zu eng. Hat sie auch nur ein wenig vom Licht des Schöpfers erblickt, wird ihr alles Geschaffene verschwindend klein. Denn im Licht innerer Schau öffnet sich der Grund des Herzens, weitet sich in Gott und wird so über das Weltall erhoben. Die Seele des Schauenden wird über sich selbst hinausgehoben.« 46 Die Verwendung der passiven Form – »die Seele wird hinausgehoben« – zeigt, dass Gott der eigentlich Handelnde ist und dass es darum geht, sich seinem Wirken zu überlassen. Das, was draußen ist, verliert an Bedeutung und Größe, weil der Blick konsequent nach innen gerichtet ist. Auf den Grund des Herzens zu kommen, ihn zu berühren, ist Sinn der Übung und mit »Grund« ist nichts anderes als Gott selbst gemeint. »Wenn das Licht Gottes sie (die Seele) über sich selbst hinaus reißt, wird sie in ihrem Innern ganz weit; wenn sie von oben hinabschaut, kann sie ermessen, wie klein das ist, was ihr unten unermeßlich schien.« 47 Im christlichen Kontext ist es nicht unproblematisch, von »Bewusstseinserweiterung« zu sprechen. Das damit Gemeinte bekäme in dieser Ausdrucksweise den Beigeschmack von Selbsterlösung. Das Durchwandern von Bewusstseinsstufen ist eine gnostische Vorstellung. Die Weite des Herzens dagegen ist Kennzeichen des Mönches, der lange im Kloster gelebt hat. »Am Anfang kann der Weg nur eng sein«, schreibt 244 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Die Tradition: Gotteserfahrung bei Benedikt von Nursia
Benedikt im Prolog seiner Regel. Enge oder Weite sind hier nicht räumlich zu verstehen, sondern verweisen auf die Veränderung der Konzentration von sich selbst auf Gott hin. Der Vorgang der conversio ist in sich nie abgeschlossen. Die Rückkehr zu Gott ist das mühevolle Werk, das der Mönch bzw. der Mensch in einem lebenslangen Lernen vollziehen muss. Um sie zu erleichtern, richtete Benedikt Klöster als »Schule« oder als »Werkstatt« ein, in denen gewissermaßen diese Rückkehr im Alltag eingeübt und unter kompetenter Leitung vollzogen wird. Je mehr der Mensch es vermag, mit Gott zu leben, ihn in sein Leben hineinzulassen, umso mehr wird er an Weite gewinnen, weil er die Dinge aus der Perspektive Gottes zu betrachten lernt. Die Erfahrung Benedikts zeigt, dass letztendlich maßgeblich nicht das isolierte Erlebnis einer Schau besonderer Art ist, sondern die Verortung einer solchen Erfahrung in einem gesamten Lebenskontext. Sie schützt davor, sich als Träger eines absoluten Anspruches darzustellen und damit an die Stelle Gottes treten zu wollen. Im Leben Benedikts – von Gregor mit den üblichen Stilmitteln der hagiographischen Tradition überliefert – stellt diese Vision den Höhepunkt auf seinem »dreistufigen Weg zur Heiligkeit« dar. Die drei Stufen bestehen in der Rückkehr zu sich selbst (ad semetipsum reversus est), im Bei-sich-wohnen (habitare secum) und dem Übersich-hinaus-erhoben-sein (rapitur super se). Die erste Stufe stellt den Beginn des geistlichen Weges dar: der eigentliche Vorgang der Bekehrung (conversio). Der Mensch, der außer sich war, wird von der Gnade berührt und findet wieder zu sich selbst. Wenn er bei sich ist, dann vermag keine Zerstreuung ihn von Gott zu trennen. »Dieses ›In-sichsein‹ ist die Voraussetzung, um in der Gegenwart des schauenden Gottes zu leben.« 48 Der Ausdruck »Stufe« kann irreführend wirken. Die drei Stufen folgen zwar aufeinander, sind aber dennoch nicht klar voneinander zu trennen. Sie liegen auch nicht einfach zeitlich hintereinander. 245 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
IV Erfahrung und Wirklichkeit
Parallel zu diesen drei Stufen können auch die drei Schritte, die Gregor beim Vorgang der Sammlung nennt, betrachtet werden: »Der erste Schritt besteht daher darin, daß die Seele sich in sich selbst sammelt, der zweite, daß sie sich in dieser Sammlung wahrnimmt, der dritte, daß sie sich über sich selbst hinaus schwingt und sich unverwandten Blickes der Schau des unsichtbaren Schöpfers hingibt.« 49 Die wahre Rückkehr zu sich selbst ist die Vorstufe der Gotteserfahrung. Es geht um den Vorgang des Leer-werdens für Gott (vacare Deo). Wer von sich selbst und von den geschaffenen Dingen, ob real oder bloß in der Wahrnehmung, voll ist, kann Gottes nicht gewahr werden. »Wenn daher die Seele sich selbst ohne die körperlichen Bilder denkt, tritt sie bereits durch den ersten Eingang. Von diesem Eingang strebt sie zu dem anderen, um etwas von der Natur des allmächtigen Gottes zu erschauen.« 50 Diese Form des Denkens, Spürens und Fühlens einer inneren Wirklichkeit unterscheidet sich von der natürlichen Erfahrung insofern, als dass hier der Strahl der Aufmerksamkeit nicht mehr nach außen, sondern nach innen gerichtet ist. Die Rückkehr in die alltägliche Welt bleibt nicht aus und so wird das Sprechen über eine solche Erfahrung zum Prüfstein der religiösen Erfahrung. Zur Antwort gehört nicht zuletzt das Moment des Verstummens. »Nicht als Antwort-Verweigerung, sondern als das antwortende Raumgeben für das, was der religiöse Mensch das ›Geheimnis‹ nennt.« 51 Der Mensch, der so beschenkt und von Gott ergriffen wurde, hat nicht aktiv etwas unternommen, um zu einer solchen Erfahrung zu gelangen. Er erkennt, dass das Geschehene zunächst Gabe dessen ist, dem er hier begegnet ist. Die Frage, ob Benedikt Gott selbst »gesehen hat«, ist eine müßige Frage. So zu fragen zeugt für Pia Luislampe von einer »falschen Herangehensweise. […] Denn nach Gregor ist Erfahrung Gottes immer eine personale Begegnung, die über die menschlichen Begrenzungen hinaushebt, die zwar noch nicht die endgültige Fülle haben kann, die aber doch unmittelbare Begegnung ist. Was sich dem Men246 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Die Tradition: Gotteserfahrung bei Benedikt von Nursia
schen in der Schau offenbart hat, was er sieht, ist Gott selbst.« 52 Die Gotteserfahrung in der Gestalt der contemplatio ist die innere Schau einer unsichtbaren Wirklichkeit, die sich aber in sichtbarer Gestalt »offenbart«. »Gott ist das Geheimnis, das im innersten Grund unseres Seins unmittelbar anwesend ist. Ihm (diesem ›Du‹, dem persönlichen Gott, der sich hier zeigt) zu begegnen, ist das Ziel der christlichen Kontemplation.« 53 Der neue Dialog mit der Wirklichkeit, der aus der echten Gotteserfahrung hervorgeht, wird zum Grenzfall des Anschauens. Nicht nur das Angeschaute verändert sich, sondern wie bei der ästhetischen Erfahrung auch die Art und Weise des Anschauens selbst. Das Kleinste und Unscheinbarste beginnt von Gott zu sprechen. »Alles ist uns zugedacht«, d. h. die Dimension, die mit »Zufall« wiedergegeben ist, hat keine Macht über den, der alles von Gott her gegeben sieht. Die Fähigkeit, alles, was geschieht, in Verbindung mit Gott zu bringen, ist Bestandteil einer echten religiösen Erfahrung. Aus ihr geht jene veränderte Sicht auf die Welt hervor, die für religiöse Erfahrungen kennzeichnend sind. »Das spezifisch Religiöse liegt in der besonderen Weise, wie die Inhalte der Erzählung, Belehrung, Ermahnung sich dem Bewusstsein des Menschen präsentieren, und in der besonderen Weise, wie der Mensch dasjenige erfasst, was sich ihm so zeigt«, schreibt R. Schaeffler. 54 Wenn Erfahrung im Allgemeinen nur dann möglich ist, wenn Weltkohärenz und Ich-Konstanz gegeben sind, dann wird die religiöse Erfahrung dadurch gekennzeichnet, dass diese beiden Konstanten in Gott ihren Ursprung und ihren Bestand haben. Schaeffler spricht von dem »Axiom«, nach dem uns die Wirklichkeit in der Dialektik von Transparenz und Verhüllung stets »als die größere« erscheint. 55 Man kann günstige Rahmenbedingungen für eine religiöse Erfahrung schaffen, die dann als Gotteserfahrung gedeutet wird, aber niemals diese Erfahrung selbst. Solche Bedingungen können in einem erkenntnistheoretischen Zusammenhang 247 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
IV Erfahrung und Wirklichkeit
entstehen, etwa im Rahmen einer Predigt, eines Vortrags oder in einer Erfahrung sinnlicher Art, z. B. einer tiefen Erfahrung von Natur und Stille. Ob ein Mensch aber eine Gotteserfahrung machen wird oder nicht, hängt von dem Gott ab, »der sich erbarmt, wessen Er will« (Römerbrief 9,18), und von der Freiheit, die er dem Menschen eingestiftet hat. Er selbst beugt sich vor dieser Freiheit. Der Mensch, für den die ganze Welt zum Ort einer Erfahrung geworden ist, die möglicherweise als Gotteserfahrung gedeutet wird, weil er den stummen Lobpreis der Schöpfung wahrnehmen kann, stößt auch dann an eine Grenze in der Erfahrung selbst. Er merkt: »An der Grenze allen Sprechens, also eben da, wo das Wirkliche sich ihm im Schweigen zu entziehen scheint, zeigt seine Erfahrungswelt etwas an, was über alles Sagenkönnen hinausliegt.« 56 Deshalb wird er zum Empfänger und Hörer des Wortes, das ihm vorgelegt wird, eines Wortes, das zugleich Gottes- und Menschenwort ist.
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Gotteserfahrung im Wort (geistliche Lesung und Gottesdienst)
In der Übung der geistlichen Lesung (lectio divina) soll der Mensch sich das Wort Gottes so aneignen, dass es als »Ort der Gottesbegegnung erfahren werden kann« 57. Er soll es meditieren, wiederkäuen, kosten und es sich auf der Zunge zergehen lassen. »Wie bei den Speisen die sinnliche Wahrnehmung die besondere Art jeder Speise erkennt, so ist es bei den Worten der Heiligen Schrift die Einsicht.« 58 Das Wort wird als Gegenüber wahrgenommen, das mich anschaut, zu mir spricht und mich ganz erfüllen will, so dass ich auch »ganz« werde. 59 Die historische Distanz verschwindet und der neue Kontext ist der des jetzigen Lebens. Maßgebend ist die Verortung im Hier und Jetzt, denn es heißt: »Ach, würdet ihr doch heute auf seine Stimme hören!« (Psalm 95,7) So nimmt die geistliche Übung 248 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Gotteserfahrung im Wort (geistliche Lesung und Gottesdienst)
der lectio divina die Form eines intensiven Hörens an, eines Lauschens auf die Stimme des Herrn, so dass der Hörende größten Wert darauf legt, selbst die Zwischentöne, die kleinsten Laute wahrzunehmen. Er will den Sinn des Wortes für sich, für sein Leben erfahren und erfassen. Er weiß, dass dieses Wort wirksam werden will und ihn mahnt, »vom Schlaf aufzustehen« (Benediktsregel Prolog 8), und deshalb will er mit »aufgeschrecktem Ohr« oder »angedonnerten Ohren« hören, d. h. mit Ohren, die sich dem öffnen, was Gott mal leise wie ein sanftes Säuseln, mal laut wie der Donner spricht. 60 Parallel zum Hören geschieht das Öffnen der Augen, die nun das göttliche Licht wahrnehmen. Dieses Licht ist unentbehrlich, damit die göttliche Dimension der Heiligen Schrift aufleuchten kann. Ohne dieses Licht wird der Leser nur Menschliches, manchmal sogar Allzumenschliches wahrnehmen. Die lectio divina steht in tiefer Verbindung mit der Taufe, die auch Erleuchtung genannt wird. 61 Jesus Christus erleuchtet den neuen Menschen; denn es heißt: »Christus wird dein Licht sein« (Epheserbrief 5,14). Weil unser menschliches Leben sich in der Zeit abspielt, will die lectio divina zu einer fortwährenden Übung werden. Sie begleitet das ganze Leben und spendet selbst Leben. Was in der lectio divina geschieht, ist mehr als ein Lesen. Es ist ein Angeschaut- und Angesprochen-Werden. Diese Anschauung ruft und bewegt zu einer Antwort. Der Philosoph J.-L. Chrétien hat treffend formuliert, dass derjenige, der die Bibel wirklich lesen will, sich von ihr lesen lassen muss. 62 So wird Lesen und sich lesen Lassen »ein existentieller Vorgang, der vor allem zu einer Verwandlung des Menschen führen soll. Intellektuelle Kundigkeit genügt nicht, der Text muss verinnerlicht werden.« 63 Wenn ich einen Text lese, kann ich erfahren, dass ich ermutigend oder mahnend, voller Hoffnung oder Trauer angeschaut werde. Ich höre, wie die Frage des Philippus an den Äthiopier auch mir gestellt wird: »Verstehst du auch, was du liest?« (Apostelgeschichte 8,30). Oft – so gebe ich zu – verstehe 249 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
IV Erfahrung und Wirklichkeit
ich nicht. Damit bin ich in guter Gesellschaft, denn auch von den Jüngern Jesu heißt es: »Doch die Jünger verstanden den Sinn seiner Worte nicht« (Lukas 9,45 und 18,34; Johannes 10,6). Das Verstehen geschieht im Leben selbst, wenn mir im Alltag unerwartet der auferstandene Christus begegnet. In dem Maße, wie ich mein Leben mit Christus lebe und gestalte, verstehe ich auch Sein Wort. Diese lebendige Beziehung wird durch die Verkündigung und die Sakramente der Kirche, aber in einer Welt, die immer lauter wird, zunehmend auch durch die Stille genährt. Die erste Erfahrung des Menschen mit Gott muss also keine sprechende Erfahrung sein. Sie kann, wie in Teil II gesehen, zunächst stumm sein, eine Erfahrung der reinen Präsenz. Die Einkehr in die Stille, die Leib und Seele betrifft, wird als Abkehr vom Tun und Hinwendung zum Sein erlebt. Für diesen radikalen Rückzug ins Innerste plädiert Augustinus. Er sehnt sich danach, dass alle Menschen jenes »Licht im Innern« schauen können. 64 Denn in seinem Innern trifft der Mensch ein Gegenüber, das ihm sogar »zusetzen kann«, wie es in den Bekenntnissen heißt. 65 Dieses Gegenüber hat in der christlichen Tradition einen anderen Namen als in der buddhistischen. Es ist nicht das wahre Selbst, sondern der ganz Andere, der wahrnehmbar wird. Die Grunderfahrung mit Gott, von der die Bibel berichtet, wird von R. Schaeffler als eine Erfahrung mit dem »Geist« bezeichnet. Sie ist der »Ursprung einer neuen Existenz«, die den Menschen »an die Grenze seiner eigenen Lebens-, Denk- und Handlungsfähigkeit geführt hat […]. Zu den Äußerungen dieses Geistes gehört auch und sogar vor allem das Wort, durch das der Mensch dem Anruf des Heiligen antworten kann.« 66 Im Wort findet ein lebendiger Austausch statt zwischen dem eigenen Erleben und dem, was ihm von Gott her zufällt. 67 Paradigma für den existenzbegründenden Austausch zwischen Gott und Mensch ist der Lebensatem, »durch den der Mensch sein unverwechselbar individuelles Leben in unvertretbar 250 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Gotteserfahrung im Wort (geistliche Lesung und Gottesdienst)
eigenen Akten vollzieht«, der aber zugleich der »geschenkte Anhauch Gottes ist« 68. Die Begegnung mit Gott nimmt auch die Gestalt von Hören und Sehen an, so dass ein Wechselspiel entsteht. Der Mensch erfährt, dass »alles, was ist, von Gott spricht – aber in einer Sprache, die er nicht nachsprechen kann« 69. Dieser Gedanke liegt z. B. den verschiedenen musikalischen Werken, in denen die Schöpfung zum Lobpreis des Schöpfers aufgerufen wird, zugrunde. Der Mensch vermag zwar die Botschaft zu verstehen, er muss sie aber in seine eigene Sprache übersetzen: »Die Himmel rühmen die Herrlichkeit Gottes, vom Werk seiner Hände kündet das Firmament. Ein Tag sagt es dem andern, eine Nacht tut es der andern kund, ohne Worte und ohne Reden, unhörbar bleibt ihre Stimme« (Psalm 19,2– 4). Die Wahrnehmung, dass die Schöpfung Gottes Herrlichkeit rühmt, wird zum Lied, das von Generation zu Generation weiter tradiert wird. »Ein Wahrnehmbares draußen, das doch nur im Wahrnehmenden, in seinem Anschauen, Hören und Denken, das wird, was es ist: Signalgefüge, verbergendes Offenbarwerden eines Themas, Platzhalterin des Gestaltlosen, dem sie eingestaltet ist.« 70 Genährt durch das Wort, verankert in der Stille, bereichert durch die Liebe, bleibt der Christ nicht isoliert. Er wird gemeinschaftsfähig. Er wird auch dort zu Hause sein, wo die Art, Gottesdienst zu feiern, ihm nicht zusagt. Wichtiger als das Zwischenmenschliche ist ihm die Beziehung zu Christus und zur Kirche. Die aktive Teilnahme (participatio actuosa) an der Liturgie wird für den Menschen, der im Gebet, im Wort Gottes und in der Stille daheim sein kann, nicht davon abhängen, wie viel er selbst sichtbar mitmachen kann. Er wird sich nicht von dem, was äußerlich los ist, oder von dem, was zusätzlich angeboten wird, abhängig machen. Er kann innerlich und äußerlich die Riten vollziehen, Antworten geben, Gesten nachvollziehen. Diese innere wie äußere Teilnahmefähigkeit an der Liturgie setzt ein hohes Maß an Vertrautheit mit dem Glauben vo251 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
IV Erfahrung und Wirklichkeit
raus. Sie hat weniger mit einem Wissen von Inhalten zu tun als mit dem Gespür (sensus) für die Riten, die stets die Brücke vom Sichtbaren zum Unsichtbaren schlagen. Deshalb ist die Wiederbelebung und Wiederentdeckung der Mystagogie, der Einführung in ein gelebtes Mysterium, eine Lehre, die zutiefst Geist und Sinne betrifft, notwendig. Sie ist heute wichtig, um den Sinn für den Glauben selbst (sensus fidei) zu kräftigen. Die Erfahrung wird zur Bedingung für das Verstehen und nicht umgekehrt. Der Sinn der Worte erreicht mich über die Sinne, über den Klang der Stimme, die Gestaltung des Raumes, den Duft des Weihrauchs. So bilden sinnlicher Eindruck und Gehalt des Wortes eine unzertrennliche Einheit. Die Mystagogie nimmt die Leiblichkeit des Menschen ernst und bedient sich ihrer, statt sie auszuklammern. Wird das Erleben tiefer und weiter, erweitert sich auch das eigene Gottesbild. Wer sich z. B. vor Gott nicht »niederwerfen« kann, wird sich auch damit schwer tun, ihn als »Alleinherrscher« anzureden. Die Erfahrungen, die ich gemacht habe, bedingen mein Gottesbild. Ändern sich die Erfahrungen, muss sich notwendigerweise auch das Gottesbild ändern oder es bricht zusammen. Die Bibel ist in der christlichen Tradition das Buch der Gotteserfahrung schlechthin. Auf sehr unterschiedliche Weise wird von Erfahrungen der Menschen mit Gott berichtet, mehr noch: Es wird von der Erfahrung Gottes mit dem Menschen gesprochen, eines Gottes, der zutiefst menschliche Züge annimmt bis dahin, dass er sich dem Verdacht der Projektion und des Anthropomorphismus aussetzt. Es ist nicht leicht, zwischen »Kleid« und »Leib« der Bibel die Balance zu halten. Je nachdem aus welcher Kultur ich komme und welche Prägung ich mitbringe, werden die einzelnen Geschichten, Erzählungen, Lieder und Gesetzestexte mich mehr oder weniger ansprechen. Es ist nicht vorhersehbar, welche Erfahrung ich machen werde, wenn ich der Heiligen Schrift wirklich begegne. 252 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Gotteserfahrung im Wort (geistliche Lesung und Gottesdienst)
Kennzeichen der echten Begegnung ist immer die existentielle Veränderung, die sie nach sich zieht. Die Wiedergewinnung einer überzeugenden und deshalb auch sinnvollen Weise des Sprechens über alltägliche Erfahrungen, in der Gott vorkommt, ist eine dringende Aufgabe, wenn der Glaube an Gott in einer stark säkularisierten Welt lebendig bleiben soll. »Die Bibel ist der vollständigste Ausdruck der Unendlichkeit, mit der die Erschaffung auf uns eindringt und uns bedrängt«, schreibt E. Rosenstock-Huessy. 71 Dieses »Eindringen« setzt eine Empfänglichkeit voraus, das Wort Gottes zu vernehmen, sich von ihm betreffen zu lassen, und in der je eigenen Sprache von dieser Betroffenheit auch zu sprechen. Deshalb, so E. Rosenstock-Huessy, ist echte Sprache auch »Prophetie« und erzählt, »was unerhört und unbeschreiblich für die Gelehrten ist« 72. Wenn das Sprechen über so etwas wie eine »Gotteserfahrung« gelingen soll, dann bedarf es der Übung und noch mehr der Führung des Geistes Gottes selbst. »Gott hat uns im Geist als Bräute empfänglich erschaffen.« 73 Empfänglichkeit ist etwas anderes als Erfindungsreichtum oder erst recht als Modebewusstsein. Gerade in unserer Zeit, in der die Menschen einer ständigen Flut von Informationen und Reizen ausgesetzt sind, in einer Welt, in der so viele Lebensentwürfe und -wege möglich sind, ist es nötig, nach sehr konkreten neuen Wegen und Bedingungen einer echten, ungekünstelten religiösen Erfahrung zu suchen. Der Maßstab für die »Echtheit« einer Gotteserfahrung ist in den Schriften der Bibel und in der Tradition der Kirche zu suchen. Der Kontext, in dem eine Frage gestellt wird, hat Einfluss auf die Art und Weise der Antwort. Deshalb war die Feststellung eines Rückgangs leiblicher Erfahrungen ein wesentlicher Schritt in Richtung einer Neubesinnung auf die Möglichkeit von Erfahrung überhaupt.
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IV Erfahrung und Wirklichkeit
7)
Das sinnvolle Sprechen zu und von Gott
Das Evangelium dringt im »Hier und Heute« an unser Ohr. So wird die Deutung der »Zeichen der Zeit« zur Herausforderung, aber immer mehr auch zu einem konstitutiven Moment des Heilsplans Gottes selbst, der sich in der Menschheitsgeschichte verwirklicht. 74 Der Kontext, die Gesellschaft bleibt nicht ohne Einfluss auf das Gottesbild einer Gemeinschaft und eines Einzelnen. Die Welt der Bibel ist die einer realen, mit Widerständen besetzten Wirklichkeit. Z. B. spielt die Auseinandersetzung mit der Natur eine große Rolle. Weise im biblischen Sinne ist, wer erfahren und gottesfürchtig ist, denn Gott ist der »Herr der Heerscharen« – (damit sind die Sterne gemeint), d. h. er ist der Gott, dem die Natur untertan ist. In der Antike war das Gottes- und Christusbild das eines Herrschers. Dem heutigen Menschen ist das eher fremd. So fehlt ihm oft der Sinn für die abgrundtiefe Distanz zwischen Gott und Mensch. Dem Herrscher klopfte man nicht auf die Schulter; man warf sich vor ihm nieder. Man wartete auf das Zeichen, um sich zu erheben. Ich selbst durfte mehrfach erleben, dass sehr schnell das »Du« angeboten wird, ohne dass ein anderes Empfinden in der Gestaltung von Beziehung Raum bekommt. Der Zwang der Gruppe, die sich mehr oder weniger zufällig zusammengefunden hat, überwiegt. Ohne die Erfahrung der Distanz kann man aber die Erfahrung eines wesenhaft Größeren nicht machen. »Alles Verkürzen und Beseitigen der Entfernungen bringt jedoch keine Nähe«, schreibt Heidegger, der über die Herrschaft des »Abstandlosen« klagt. 75 Die Erfahrung, dass uns Gott nahe kommt, wird durch die Erfahrung des Abstands zu ihm nicht aufgehoben; sie wird so erst möglich und kostbar. Eine wahre Gotteserfahrung ist immer die paradoxe Erfahrung von Nähe und Distanz zugleich. Der Mensch erfährt in der Begegnung mit Gott den unüberbrückbaren Abstand zwischen sich und Ihm. 254 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Das sinnvolle Sprechen zu und von Gott
»Geh weg von mir, ich bin ein Sünder« (Lukas 5,8) ist die erste Aussage des Menschen über sich selbst, nachdem er wahrhaftig Gott begegnet ist. Erst in diesem Gewahrwerden eines unüberbrückbaren Abstands können das Geschenk, ja die Gnade und der Sinn der Erlösung überhaupt spürbar werden. Ohne Distanz ist etwas wie Ehrfurcht nicht möglich. »Alles wird in das gleichförmig Abstandlose zusammengeschwemmt«, schreibt Heidegger. 76 Geht der Sinn für die Unterschiede in den Verhältnissen verloren, dann ist keine Sakralität mehr möglich. Gott wird nur als autoritärer Eindringling erlebt. Das Bewusstsein für die Gnade der Inkarnation, der Menschwerdung setzt die Erfahrung dieses Abstands voraus. Der Ort, an dem der Mensch Gott begegnet, wird als »heiliger Boden« oder als Heiligtum erfahren. Dies macht den sakralen Raum aus. In der Begegnung mit Gott im Dornbusch hört Mose eine Stimme, die ihm befiehlt: »Komm nicht näher heran!« (Exodus 3,5). Der Abstand zwischen Gott und dem Menschen kann nur von Gott selbst überwunden werden. In manchen Kontexten, gerade in unserer von Technik und Medien dominierten Welt, erscheint das Reden von Gott aber zunehmend sinnlos. Um überhaupt sinnvoll von Gott reden zu können, müssen also zunächst entsprechende Kontexte geschaffen und reflektiert werden. 77 Weil Gott selbst in diese Welt hineingesprochen hat, kann die Welt auf vielfältige Weise ein »locus theologicus« sein: Die Welt ist Ort einer relevanten Rede von Gott und stellt insofern eine eigene »Autorität« für die Theologie dar. Die Konsequenzen daraus für den religiösen Bereich und die Weitergabe des Glaubens sind enorm. Zwei Welten prallen aufeinander. R. Schaeffler skizziert die Problemlage so: Wenn ich Sätze bilde, in denen die Vokabel »Gott« vorkommt, weiß der heutige Gesprächspartner oft nicht, wovon ich spreche. Er wird mir erwidern: »Ich weiß nicht, wovon du redest, auf welche Art von Gegenständen sich deine Aussagen beziehen.« 78 In die Sprache Schaefflers übertragen heißt es, diese Erfahrung 255 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
IV Erfahrung und Wirklichkeit
ist dem Verdacht der Sinnlosigkeit ausgesetzt. Es fehlt sowohl der Sachbezug (reference) als auch der Bedeutungsgehalt (meaning). 79 Aber ist der Vorwurf der Sinnlosigkeit oder Sprachlosigkeit etwas grundsätzlich Neues, wenn von Gotteserfahrung die Rede ist? Die Athener spotteten und gingen weg, als Paulus zu seiner Rede von der Auferstehung der Toten ansetzen wollte (Apostelgeschichte 17,32). Bischof J. Wanke spricht von einem »religiösen Sprachverlust«. Viele Zeitgenossen »sind nicht mehr in der Lage, bestimmte menschliche Grunderfahrungen in religiösen Worten oder Zeichen auszudrücken. Christlich-kirchliche Vokabeln sind für sie wie ›Chinesisch‹.« 80 Wo es zu keinem Kontakt mit einer Gemeinschaft mehr kommt, die sich selbst durch Hüten und Bewahren der religiösen Tradition konstituiert, geht die Fähigkeit, ein Wort Gottes, das von außen kommt, wirklich zu hören, verloren. Jedes Sprechen zu Gott, das vom Wort Gottes selbst genährt wird, ist ein Geschenk. In diesem grundsätzlichen Sinne wird Gebet zu einer Gotteserfahrung, weil Gott selbst mir sein Wort auf die Lippen legt, so dass ich zu Ihm sprechen darf und kann. Ein Ausdruck dafür ist der Psalmvers (51,17) »Herr, öffne meine Lippen«, der im Kloster die erste Gebetszeit eines jeden Tages eröffnet. Nach dem Schweigen der Nacht beginnt der neue Tag in dem Bewusstsein, dass Gott mir die Lippen öffnet, damit ich zu ihm sprechen und sein Lob singen kann. In seiner Sprachlehre des Gebets gibt R. Schaeffler den Hinweis: »Was gelernt und eingeübt werden muss, ist einerseits das Verständnis der überlieferten Gebetsformel, andererseits die Intention, in der sie zu sprechen ist […]. Der Beter muss wissen und spüren, dass er nur dasjenige Wort zu sagen, das er von Gott selbst empfangen hat, und nur diejenige Handlung auszuüben hat, zu deren Vollzug er durch Gott selbst ermächtigt worden ist.« 81 Wozu eine solche Bitte um »Öffnung der Lippen«? Um zu vermeiden, dass das Gebet zu einem bloßen Wortschwall wird, 256 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Das sinnvolle Sprechen zu und von Gott
der Beter Gott vergisst und sich nur an seinen eigenen Worten ergötzt. Mit dieser Bitte wird ihm bewusst, an wen er seine Worte richtet. Das ist alles andere als selbstverständlich; denn gemäß der Warnung R. Schaefflers kann der Beter »versucht sein, im sprachlichen Gewand des Gebetes etwas anderes zu tun als zu beten, z. B. die Gemeinde zu disziplinieren, zur rituellen Unterwerfung unter die Absichten des Vorbeters zu motivieren« 82. In der Sprache des Gebets muss die Spannung zwischen Nähe und Distanz spürbar bleiben. Ohne sie wird das Gebet zur leeren Plauderei oder zum banalen Geschwätz. Das gilt nicht nur für die Wahl der Worte, sondern auch für die Gesamthaltung des Beters. Sie ist oft mit einer gewissen Hilflosigkeit verbunden; denn das christliche Gebet ist nicht so stark ritualisiert wie das jüdische oder das muslimische. Das Bewusstsein dafür zu schärfen, dass ich vor Gott hintreten und vor Ihm stehen will, gehört zu den grundsätzlichsten Aufgaben einer Anleitung zum Gebet. Die Haltung drückt immer auch etwas von meiner Gottesbeziehung aus. Ehrfurcht oder Andacht betreffen den Leib genauso wie den Geist. Die Schulung einer angemessenen Haltung beim Gebet erscheint deshalb als eine dringende Aufgabe. Was ich bin, wird zunächst durch meine körperliche Haltung zum Ausdruck gebracht. Wenn ich mich im Gebet an Gott wende, dann ist es zunächst nötig, die passende Anrede zu finden. Auf die Bitte der Jünger: »Herr, lehre uns beten, wie schon Johannes seine Jünger beten gelehrt hat!« (Lukas 11,1) reagiert Jesus als Erstes mit dem Geschenk der Anrede: »Vater unser.« In der Anrede und Anrufung des Namens treffen, wie R. Schaeffler zeigt, Gegenwart und Vergangenheit zusammen. Ich kann nicht Gott in der Gegenwart als »Vater« anrufen, wenn er sich nicht bereits in der Vergangenheit für mich als Vater erwiesen hat. Anrede und Namen Gottes fallen aufgrund der Erfahrung zusammen. Fehlt diese Erfahrung, erscheint die Anrede leer. Wenn ich also fähig sein will, Gott mit seinen mannigfaltigen Namen als den gütigen, allwissenden, liebenden oder aber 257 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
IV Erfahrung und Wirklichkeit
auch als den allherrschenden, gerechten Gott anzurufen, müssen diese Namen von einer gewissen Erfahrung gedeckt sein. Ist die Erfahrung schmal oder gar nicht vorhanden, dann bleiben solche Namen für mich bedeutungslos. Im Alten Testament und in der Liturgie der Kirche, vor allem in den lateinischen Orationen, ist die Anrede Gottes meist als Relativsatz mit partizipialer Form oder einfach als Partizipialname entworfen. Schaeffler nennt als Beispiele: »Der Machende, dass du (Israel) aus Ägypten gingst« (Deuteronomium 8,14) und »der Machende, dass (Menschen) sterben, und Machende, dass (Menschen) leben« (1 Samuel 2,6). 83 So werden vergangene Taten Gottes zur Bildung aktueller Namen verwendet und vergangene Erfahrungen ins Heute gerufen. Das setzt voraus, dass ich die vergangene Geschichte des Volkes Gottes als meine Geschichte erlebe, dass ich auch fähig werde, im eigenen Leben die Taten Gottes zu erkennen, und ihn auch »inmitten der Gemeinde« zu preisen. Während heute das Single-Dasein zur Normalität gehört, kennt die Welt der Bibel feste Strukturen: Volk, Sippe, Gemeinschaft und Familie. Die Geschichte des Individuums ist relativ klein im Vergleich zur Geschichte seines Volkes. Wenn jemand so zu Gott sprechen kann, als gingen ihn all diese vergangenen Geschichten an, dann bekommt seine eigene Geschichte ein Mehr an Gewicht und Bedeutung. Er tritt in ein großes Erbe ein, in das Erbe einer jahrtausendelangen Gottesbeziehung. Exemplarisch ausgedrückt hat dieses biblische Geschichts- und Glaubensbewusstsein Ezer Weizmann, der damalige Präsident des Staates Israel, in seiner Ansprache an die Mitglieder des Deutschen Bundestages und des Bundesrates am 16. Januar 1996. Er sagte: »Das Schicksal hat es gewollt, dass ich und die Angehörigen meiner Generation in einer Zeit geboren wurden, in der Juden in ihr Land zurückkehrten und es neu aufbauen konnten. Ich bin nun nicht mehr ein Jude, der in der Welt umherwandert, der von Staat zu Staat ziehende 258 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Das sinnvolle Sprechen zu und von Gott
Emigrant, der von Exil zu Exil getriebene Flüchtling. Doch jeder einzelne Jude in jeder Generation muss sich selbst so verstehen, als ob er dort gewesen wäre […]. Ich war ein Sklave in Ägypten und empfing die Thora am Berg Sinai […]. Ich habe Jerusalem an den Wassern zu Babel nicht vergessen, und als der Herr Zion heimführte, war ich unter den Träumenden, die Jerusalems Mauern errichteten. Ich habe gegen die Römer gekämpft und bin aus Spanien vertrieben worden […]. Unstet und flüchtig bin ich, wenn ich den Spuren meiner Väter folge. Wie ich sie dort und in jenen Tagen begleite, so begleiten mich meine Väter und stehen hier und heute neben mir.« 84 Je stärker mein Bewusstsein ist, in Beziehung zu dieser Vergangenheit zu leben, desto mehr werde ich fähig, Gott mit solchen Namen anzurufen. Ich weiß, dass meine Existenz an dieses Bekenntnis gebunden ist. 85 Voraussetzung für die aktive Teilnahme an einer kultischen Feier ist, dass ich mir die ihr zugrunde liegenden Erfahrungen der Vergangenheit zu eigen mache. R. Schaeffler stellt sich in verschiedenen seiner Werke die Aufgabe, intensiv nach der richtigen Form des Sprechens von Gott und des Sprechens zu Gott zu suchen. Er möchte für die Nuancen dieses Sprechens sensibilisieren. Dafür muss der Sprachlehrer genauso wie der Beter der Wirklichkeit Gottes, wie sie sich ihm in der eigenen Welt und in der Gemeinschaft der Glaubenden offenbart, gerecht werden. Das kann nur gelingen, wenn die Grundstruktur die des Dialogs mit dieser Wirklichkeit selbst bleibt, mit einer Wirklichkeit, die uns ereilt, weil sie uns voraus ist. Die Rede über religiöse oder Gotteserfahrung wird zur Bewährungsprobe. Sie wird dem Menschen für ihn und auch vielleicht für Andere geschenkt, dient aber niemals der Selbsterhöhung des Individuums oder des Kollektiven. Gott hat man nicht »verpachtet«. Wovon ein Mensch wahrhaftig »berührt« worden ist, das muss sich in seiner Alltagswelt auch widerspiegeln. 86 Ich-Kontinuität und Weltkohärenz erlauben es, Generationen zu überspringen, sich 259 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
IV Erfahrung und Wirklichkeit
mit der religiösen Erfahrung früherer Generationen zu solidarisieren und sie sich zu eigen zu machen. An der Art und Weise, wie das geschieht, entscheidet sich, ob die Identifizierung gelingt oder misslingt, ob es sich um spirituelle Prahlerei handelt oder um das demütige Bekenntnis, dass die Wirklichkeit Gottes stets größer ist. Wahrnehmung ereignet sich im Strahl der Aufmerksamkeit als Ausgerichtet-sein-auf, als Bewusst-sein-von. Kommt die Wahrnehmung einer transzendenten Wirklichkeit zustande, dann wird sie zur kostbarsten Erfahrung, die ein Mensch machen darf. Er begegnet dann jenem Gott, von dem Augustinus sagt, dass er »mir innerlicher als mein Innerstes ist« (interior intimo meo – Confessiones 3,6,12), und der doch zugleich der Herr über das Weltall ist. Diese Erfahrung kann sich als Einheit und Identität stiftend für alle anderen Erfahrungen erweisen. Es gibt keine Möglichkeit, eine solche Erfahrung rückgängig zu machen. Sie wird zum Bestandteil meiner selbst und bleibt auch dann, wenn ich nichts mehr von ihr wissen will. Ich kann mich zwar gegen sie stellen, bekunde aber damit schon, dass ich es bin, der diese Erfahrung gemacht hat. Je mehr es gelingt, alle Erfahrungen des Lebens als Erfahrungen mit Gott zu deuten, desto mehr wächst die eigene Identität. Sie ist die mächtigste Wirkkraft gegen den Zerfall der Weltkohärenz. Dann geht es nicht bloß um ein Wissen-um, sondern um ein Gespür für diese neue Dimension. Ich betrachte die Welt und die Menschen mit neuen Augen, weil ich in ihr und durch sie den Hauch des Ewigen wahrzunehmen vermag. Die Dinge und Ereignisse meines Lebens bekommen die Bedeutung, von Gott zu erzählen. Winzige, beinah unbedeutende Zeichen können als kostbare Spuren der Begegnung mit dieser Dimension wahrgenommen werden. Statt der Leere des Cartesianischen Cogito rückt die Fülle der Husserl’schen Lebenswelt ins Zentrum des Bewusstseins und ergreift ganz von ihm Besitz. 260 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Anmerkungen
Anmerkungen M. Heidegger, Das Ding, in: Vorträge und Ausätze, Pfullingen 1954, S. 162–163. 2 T. Fuchs, Leib und Lebenswelt, Kusterdingen 2008, S. 253. 3 T. Fuchs, Leib und Lebenswelt, Kusterdingen 2008, S. 256–257. 4 G. Schulze, Erlebnisgesellschaft: Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt / New York 1992. 5 M. Henry. Die Barbarei. Eine phänomenologische Kulturkritik, Freiburg / München 1994, S. 75 f. und S. 153: »Was die Wissenschaft ausscheidet, ist mithin eindeutig das Leben und mit ihm alles, was in irgendeiner Weise zu ihm gehört und darauf verweist.« 6 Ebd., S. 204. 7 Ebd., S. 124. 8 A. Belwe, T. Schutz, Smartphone geht vor, Wie Schule und Hochschule mit dem Aufmerksamkeitskiller umgehen können, Bern 2014. 9 M. Jousse, La manducation de la parole in: L’anthropologie du geste, Paris 2008, S. 597. 10 J. Greisch, Les multiples sens de l’expérience et l’idée de vérité, in: Expérience philosophique et expérience mystique, hrsg. von P. Capelle, Paris 2005, S. 60. 11 R. Kather, Person. Die Begründung menschlicher Identität, Darmstadt 2007, S. 109. 12 R. Schaeffler, Erfahrung als Dialog mit der Wirklichkeit, München 1995, S. 90. 13 R. Schaeffler, Erfahrung, S. 92. 14 R. Schaeffler, Erfahrung, S. 92. 15 Vgl. J. Greisch, Les multiples sens de l’expérience et l’idée de vérité, in: Expérience philosophique et expérience mystique, Paris 2005, S. 61. 16 H.-J. Höhn, Spüren – die ästhetische Kraft der Sakramente, Würzburg 2002, S. 36. 17 I. Mazzoni, Ein Haus, das sich über die Spuren der Geschichte wölbt, in: Süddeutsche Zeitung, 17. 9. 2007. 18 H. Rauterberg, Aura der Ruinen, in: DIE ZEIT, Nr. 29, 20. 9. 2007, 5.53. 19 R. Kather, Person. Die Begründung menschlicher Identität, Darmstadt 2007, S. 110. 20 I. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, A 289. 21 R. Schaeffler, La philosophie comme expérience de la réflexion et réflexion sur l’expérience, in: Expérience philosophique et expérience mystique, Paris 2005, S. 29. 22 Husserl, Ideen I, 1,1,1 § 7. 1
261 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
IV Erfahrung und Wirklichkeit Husserl, Ideen I, 1,1,1 § 19. R. Schaeffler, Fähigkeit zur Erfahrung. Zur transzendentalen Hermeneutik des Sprechens von Gott, Freiburg 1982, S. 51. 25 R. Schaeffler, Erfahrung als Dialog mit der Wirklichkeit, Freiburg 1995, S. 309. Vgl auch B. Irlenborn, C. Tapp (Hg.), Gott und Vernunft. Neue Perspektiven zur Transzendentalphilosophie Richard Schaefflers, Freiburg / München 2013, S. 21. 26 R. Schaeffler, Erkennen als antwortendes Gestalten. Oder: Wie baut sich vor unseren Augen die Welt der Gegenstände auf? Freiburg / München 2014, S. 20. 27 R. Schaeffler, Erkennen als antwortendes Gestalten, S. 20. 28 R. Schaeffler, Erkennen als antwortendes Gestalten, S. 20. 29 R. Schaeffler, Erfahrung, S. 311. 30 Hegel, Phänomenologie des Geistes, II, 108 zitiert in: R. Schaeffler, Erfahrung, S. 312. 31 R. Schaeffler, Erfahrung, S. 322. 32 C. Taylor, Ein säkulares Zeitalter, Berlin 2012, S. 1199. 33 M. Scheler, Zur Rehabilitierung der Tugend, Zürich 1950, S. 36. 34 R. Schaeffler, Erfahrung, S. 73. 35 R. Schaeffler, Erfahrung, S. 716 f. 36 R. Schaeffler, Erfahrung, S. 725 f. 37 R. Schaeffler, Fähigkeit zur Erfahrung. Zur transzendentalen Hermeneutik des Sprechens von Gott, Freiburg 1982, S. 60. 38 R. Schaeffler, Fähigkeit zur Erfahrung, S. 61–62. 39 I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 420. 40 R. Schaeffler, Erfahrung, S. 101. 41 R. Schaeffler, Das Gebet und das Argument, Zwei Weisen des Sprechens von Gott. Eine Einführung in die Theorie der religiösen Sprache, Düsseldorf 1989, S. 147. 42 R. Schaeffler, Fähigkeit zur Erfahrung, S. 121. 43 Vgl. J.-L. Chrétien, Sous le regard de la Bible, Paris 2008. 44 Gregor der Große, Dialoge, II, 35, 2–3, St. Ottilien 1995, S. 195. 45 Ebd., II, 35, 5, S. 197. 46 Ebd., II, 35, 6. 47 Ebd., II, 35, 6. 48 P. Luislampe, Kontemplation als schauende Aufmerksamkeit für Gott. Zur Bedeutung der Kontemplation bei Gregor dem Großen besonders in Buch II der Dialoge, in: Das Schauen Gottes wiedererlangen. Kontemplation als Leben des inneren Menschen und als Herz des Mönchtums. Weisungen der Väter, Bd. 21. Hrsg. von L. Eibicht OSB, J. Kaffanke OSB, C. Schäfer OSB, Beuron 2012, S. 41. 49 Gregor der Große, Ezechiel-Homilien, II, 5, 9. 23 24
262 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Anmerkungen Gregor der Große, Ezechiel-Homilien, II, 5, 9. R. Schaeffler, Erfahrung, S. 432. 52 P. Luislampe, Kontemplation als schauende Aufmerksamkeit für Gott, S. 47. 53 P. Luislampe, Kontemplation als schauende Aufmerksamkeit für Gott, S. 50. 54 R. Schaeffler, Religionsphilosophie und Philosophische Theologie von transzendentalem Ansatz, in: B. Irlenborn, C. Tapp, Gott und Vernunft. Neue Perspektiven zur Transzendentalphilosophie Richard Schaefflers, Freiburg 2013, S. 30. 55 R. Schaeffler, Erfahrung, S. 434. 56 R. Schaeffler, Erfahrung, S. 446. 57 M. Puzicha, Lectio divina – Ort der Gottesbegegnung, Erbe und Auftrag 87, Benediktinische Monatschrift, Beuron 2011, (245–263), S. 245. 58 Basilius Regel 110, zitiert in: M. Puzicha, Kommentar zur Benediktusregel, St. Ottilien 2002, S. 230. 59 Vgl. Genesis 17,1 in der Übersetzung Martin Bubers: »Wandle vor mir und sei ganz.« 60 M. Puzicha, Kommentar zur Benediktusregel, St. Ottilien 2002, S. 52. 61 Vgl. Clemens von Alexandrien, Pädagoge, I,6,1–2. 62 J.-L. Chrétien, Sous le regard de la Bible, Paris 2008: lire en se laissant lire. 63 M. Puzicha, Lectio divina – Ort der Gottesbegegnung, S. 256. 64 A. Augustinus, Bekenntnisse, 9, 4. 65 A. Augustinus, Bekenntnisse, 8, 11. 66 R. Schaeffler, Erfahrung, S. 429. 67 R. Schaeffler, Erfahrung, S. 430. 68 R. Schaeffler, Erfahrung, S. 430. 69 R. Schaeffler, Erfahrung, S. 437. 70 R. Schaeffler, Erfahrung, S. 436. 71 E. Rosenstock-Huessy, Die Kopernikanische Wendung der Grammatik, in: Die Kopernikanische Wende in der Sprachphilosophie, Freiburg 2012, S. 92. 72 Ebd., S. 92. 73 Ebd., S. 93. 74 Vgl. dazu G. M. Hoff, Offenbarungen Gottes? Eine theologische Problemgeschichte, Regensburg 2007, S. 248. 75 M. Heidegger, Das Ding, in: Vorträge und Ausätze, Pfullingen 1954, S. 177. 76 M. Heidegger, Das Ding, in: Vorträge und Ausätze, Pfullingen 1954, S. 164. 50 51
263 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
IV Erfahrung und Wirklichkeit R. Schaeffler, Fähigkeit zur Erfahrung. Zur transzendentalen Hermeneutik, des Sprechens von Gott, Freiburg 1982, S. 14–15. 78 Ebd., S. 12. 79 Ebd., S. 12. 80 J. Wanke, Das Evangelium neu entdecken – auf Französisch in: Frei geben, pastoraltheologische Impulse aus Frankreich, hrsg. von R. Feiter und H. Müller, Ostfildern 2012, S. 224. 81 R. Schaeffler, Kleine Sprachlehre des Gebets, Einsiedeln 1988, S. 79. 82 R. Schaeffler, Sprachlehre, S. 108. 83 R. Schaeffler, Das Gebet und das Argument, Düsseldorf 1989, S. 133. 84 http://www.segne-israel.de/dokumente/weizmann.htm 85 R. Schaeffler, Das Gebet und das Argument, S. 165. 86 R. Schaeffler, Erfahrung, S. 726. 77
264 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
V Begegnung und Haltung
»Wenn ich also auch nur in einer kurzen Begegnung mit dir zu tun hatte, so ergriff mich dennoch große Liebe.« Paulinus von Nola, Briefe 18,9
1)
Begegnung – ein heimatloser Begriff?
In der Frühphase der abendländischen Philosophie spielten Begegnungen eine zentrale Rolle. Von Begegnung zu Begegnung pflegte Sokrates in Athen jene tiefsinnigen Gespräche zu führen, die sein Schüler Platon in kunstvolle Dialoge umsetzte und der Nachwelt schriftlich überlieferte. Was aber eine Begegnung eigentlich ist, schien unmittelbar verständlich zu sein, so dass dem Begriff selbst kaum Beachtung geschenkt wurde. In zahlreichen deutschen Lexika der Philosophie und der Theologie sucht man das Eingangswort »Begegnung« vergeblich. 1 Es gibt allerdings Ausnahmen: Im Wörterbuch der phänomenologischen Begriffe taucht das Lemma auf. 2 Im Lexikon des christlichen Glaubens wird Begegnung sogar »als eine Grundkategorie menschlichen Daseins« 3 definiert. Eine weitere erfreuliche Ausnahme bietet ein Wörterbuch der philosophischen Begriffe von 1955. Dort heißt es: »Begegnung, ein in der Philosophie und Theologie der jüngsten Zeit hervortretender Begriff; er bezeichnet, im Gegensatz zu allen bloß äußerlichen Berührungen und sinnleeren Durchkreuzungen von Er265 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
V Begegnung und Haltung
eignisreihen, das Zusammentreffen mit einem Anderen, das dem Menschen durch seine Eigenbedeutung eine verantwortliche Entscheidung abfordert oder es anderweitig in seinem eigenen Werden bestimmt. In Begegnungen großen Stils sowohl zwischen Einzelmenschen als auch zwischen Gemeinschaften verwirklicht sich die Geschichte.« 4 Diese erste Bestandsaufnahme mag genügen als Illustration für das Defizit, das es bei der philosophischen und theologischen Reflexion über diesen Begriff gibt. Die »Begegnung« hat deshalb keineswegs an Anziehungskraft eingebüßt. »Ich fürchte, dieser Begriff erscheint deswegen so anziehend, weil er etwas benennt, was in unserer Gesellschaft schmerzlich vermisst wird«, schreibt R. Schaeffler. »Wir ›laufen aneinander vorbei‹, ohne uns wirklich zu begegnen. Wir nehmen gegenseitig unsere Dienstleistungen in Anspruch und sehen uns nicht ins Gesicht. Und nicht selten scheint man von Gott eine Begegnung zu erhoffen, die zwischen Menschen unter den Bedingungen unserer Gesellschaft nicht gelingt.« 5 Jeder echten Begegnung liegt eine Unmittelbarkeit zugrunde, die in sich das Potential birgt, die ganze eigene Existenz auf den Kopf zu stellen und ihr einen neuen Impuls zu geben. Begegnungen können tiefe Erschütterungen auslösen und das Leben radikal verändern. »Du musst dein Leben ändern« 6 – so lässt Rilke sein Gedicht zum Apoll von Belvedere enden. O. F. Bollnow schlussfolgert, dass »dies nicht sagt, in welcher Weise der Mensch sein Leben ändern soll, sondern es bedeutet viel einschneidender: sein Leben ist nichtig vor der ihm hier gegenüberstehenden unbedingten Wirklichkeit, und nur in einer radikalen Änderung seines ganzen Lebens kann er überhaupt ein eigentliches Sein gewinnen.« 7 Begegnungen dieser Art sind selten und darum kostbar. Der Mensch betritt eine neue Sphäre, die eine ontologische Dimension besitzt und ihn aus dem auf die reine Funktionstüchtigkeit ausgerichteten Alltag herausreißt. 266 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Begegnung – ein heimatloser Begriff?
Bollnow und Löwith 8 ordnen Begegnung ausschließlich der menschlichen und nicht der gegenständlichen Sphäre zu. Guardini spricht von der »Freiheit für«. »Je lebendiger ein Mensch, je ursprünglicher sein Weltverhältnis ist, desto häufiger ereignet sich bei ihm Begegnung.« 9 Guardini betont, der Zwischenraum sei Frucht der Freiheit beider Partner. Deshalb lässt sich eine Begegnung zwar nicht erzwingen, 10 wir können jedoch günstige Bedingungen schaffen, damit Begegnungen zustande kommen. Ob es aber dann tatsächlich zu einer Begegnung kommt, entzieht sich unserer Macht. Guardini weist auf die Notwendigkeit des »Abstands« bei der Begegnung hin, Buber auf das »Gestalt gewordene Zwischen« 11 und auf die »Akzeptation der Andersheit« 12. Es gilt, den Anderen niemals auf das Eigene zu reduzieren. Insofern hat jedes empathische Mitfühlen auch seine Grenze. Ich muss akzeptieren, dass ich den Schmerz des Anderen als den seinen stehen lassen muss, um ihn nicht seiner Würde zu berauben, damit er eben der Andere bleibt, der er ist. Ohne Nähe ist keine Begegnung möglich, ohne Abstand aber genauso wenig. Begegnung ist nicht machbar. Sie entzieht sich unserer Macht, unserem Wollen und Planen. Sie hängt von der Offenheit des Herzens ab, die ein Geschenk ist. Auf diese Weise ist die echte Begegnung ein Zauber, eine Gnade und nicht das Ergebnis eines Strebens. Wenn der Mensch sich von innen her öffnet, dann ereilt ihn die Begegnung wie eine Berührung auf der Haut. Das, was er sich selbst nicht zu geben vermag, wird ihm geschenkt, die beglückende Präsenz des Anderen, die ihn auf verborgene Dimensionen der eigenen Existenz aufmerken lässt. In der Begegnung kommt etwas Neues zustande. Das »Ich« wächst durch das »Du« über sich hinaus und umgekehrt. Neue Möglichkeiten, neue Erfahrungen, neue Wege öffnen sich, wenn zwei Menschen sich wirklich begegnen. Diese Wechselwirkung kennzeichnet die Begegnung wesensmäßig. B. Waldenfels und R. Feiter sprechen von »responsivem« Handeln und Geschehen. Ich sehe, was ich noch nicht gesehen ha267 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
V Begegnung und Haltung
be, weil Augen mich anschauen, und ich sehe, dass ein anderer mich sieht, und ich nehme wahr, dass ich mich gesehen fühle.
2)
Begegnung als dialogische Beziehung
Das Selbstbewusstsein erwacht beim Angeschaut-Werden. Bereits das kleine Kind erprobt und erfährt sich im Wechselspiel der Anschauung mit der Mutter. Erst das »Du« befähigt zum »Ich-Sagen«. Für Buber wird die dialogische zwischenmenschliche Beziehung zum Parameter für die Begegnung mit Gott. Jede interpersonale Begegnung ist für ein »Mehr« offen. Die interpersonale Begegnung gleicht bei Buber einer Offenbarung. Mit dem »Einbruch des Ewigen« vermag sie den Menschen radikal zu verändern. 13 Durch dieses »Mehr«, durch diesen Zwischenraum, der erst durch die Begegnung zustande kommt, empfangen sich die Partner neu und entdecken sich selbst in einer wechselseitigen Beziehung als »Ich« und »Du«. Ohne ein Gegenüber würde das Ich niemals zum Ich. Ein Einzelner werden heißt einem Du, das mir voraus ist, Antwort geben. Dies ist die existentielle Kraft der Begegnung. Aus ihr bricht eine neue, unvorhersehbare Dimension hervor, die ihren transzendentalen Charakter ausmacht. In diese neue Wahrnehmung, die ohne das »Du« nie zustande käme, kann das Ewige, Gott, sich hineinbegeben. Ohne Du kein Ich, d. h. keine Selbstfindung, kein Gewinnen der eigenen Identität. Buber übernimmt für diesen Vorgang einen Ausdruck von Kierkegaard: Es geht um jenes »Werden des Einzelnen«, der sich am Du entdeckt und erprobt. »Werden heißt hier für etwas werden, ›für‹ im strengen Sinn, der den Umkreis der Person selbst schlechthin transzendiert: eben hergerichtet werden für die eine Beziehung, in die man nur als der Einzelne, der Eine, eintreten kann, sie, um derentwillen es den Menschen gibt.« 14 Zugespitzt kann man sagen, dass der Mensch in absoluter Einsamkeit nicht zu sich selbst finden kann. 268 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Begegnung als dialogische Beziehung
In der Begegnung berühren sich das Du und das Ich derart, dass sie sich dadurch konstituieren. Vorab dazu gibt es nur ein »Es«, das auf sein Du wartet – und darin auf seine IchWerdung. Nach Buber geht das Du der »Ich-Gewinnung« voraus. »Ich werde am Du und ich werdend spreche ich Du.« 15 Wenn ich zu jemandem »Du« sagen kann, dann werde ich in diesem Moment zu einem Subjekt, das sich als »Ich« konstituiert. So wie bei einem kleinen Kind, das zunächst zwischen sich und seiner Umgebung, zwischen sich und der Mutter nicht unterscheiden kann. Erst im Verlauf der Zeit entdeckt es, dass sie nicht zum eigenen Ich gehört, sondern ein Gegenüber ist. Dadurch wird sich das Kind seines »Ich« bewusst. Erst wenn der Mensch von einem »Du« angesprochen wird, kann er auch »Ich« sagen. Deshalb gehört das »Du« für Buber in die Kategorie der Grundworte, die existentielle Bedeutung haben, weil sie die Wurzel meines Seins berühren. »Erst mit und im DuSprechen erfolgt die Wesenskonstitution des Ich.« 16 Das Ich ist zutiefst Antwort auf das Angesprochen-Sein vom Du. Gemeint ist nicht ein grammatisches Subjekt in Einzelsätzen, sondern eher eine Art »Platzhalter« in Form eines »Hier bin ich«. Es ist eine sinn- und seinstiftende Antwort zugleich, die z. B. im »Adsum« bei den Liturgien der Beauftragungen und der Weihen auftaucht. Indem ich dieses »Hier bin ich« als Antwort auf den namentlichen Aufruf ausspreche, werde ich zum Ich konstituiert. Wenn keiner ruft, kann jenes Ich nicht wirklich es selbst werden. Das Angesprochen-Werden von einem Du verhilft zur Ich-Konstitution. Darum weist Begegnung für Buber wie für Guardini eine religiöse Dimension auf. 17 Der Andere erscheint in einem neuen Sinnzusammenhang, herausgelöst aus allem Funktionalen. Sein Wesen tritt hervor, wenn ich ihn in einer Haltung echter Aufmerksamkeit wahrzunehmen vermag. »Dann wird aus dem, der vorher ein Fall in der Vielzahl war, dieser Eine – richtiger gesagt: ›Du dort‹ und ›Ich hier‹.« 18 Buber möchte die Welten aber nicht voneinander trennen: oben den 269 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
V Begegnung und Haltung
transzendenten Gott, unten die menschliche Existenz, die sich in der Welt der Immanenz schmerzlich vollzieht. Er schreibt: »Der Zweck der Beziehung ist ihr eigenes Wesen, das ist: die Berührung des Du. Denn durch die Berührung jedes Du rührt ein Hauch des ewigen Lebens uns an.« 19 Die interpersonale Begegnung ist der Ort, an dem das Ewige in unser Dasein einbricht. Dieser Charakter der Begegnung vollzieht sich in jeder echten Erfahrung: Sie ist grundsätzlich als dialogisch zu verstehen und deshalb bewegen die Begegnung sowie die Erfahrung das Ich dazu, sich zu sammeln und als Gegenüber, als angesprochenes Subjekt, eine adäquate Antwort auf die Wirklichkeit zu geben. Das bedeutet nicht, dass das »Ich« die Bedingungen der Begegnung oder der Erfahrung bestimmt, sondern dass das »Du« mich zu einer Antwort bewegt. Natürlich kann das Ich sich nicht von vornherein und immer wieder bei jeder Begegnung oder Erfahrung neu als Ich konstituieren. Dies würde zu einer totalen Zersetzung und Fragmentierung des Ich führen. Die Ich-Kontinuität wird aus der Vergangenheit übernommen. Und doch: Der Appell zu ihrer Aktualisierung geschieht in der Gegenwart. Das Ich wird zu einer einmaligen, nicht vorhersehbaren Gestalt. Der Ich-Konstitution in einer echten Begegnung kann ich nur gerecht werden, wenn ich im Augenblick des »Angesprochen-Seins« eine neue Antwort formuliere. Die Frage nach dem Sinn des Daseins ereilt mich, wenn Dinge sich so zusammenfügen, dass jenes merkwürdige Gefühl auftaucht, das sich einstellt, wenn ich feststelle: »Dies musste genau so in dieser Form, mit diesem Menschen, an dieser Stelle geschehen.« Dann erfahre ich, dass die Welt gelenkt wird, das Leben sich in immer neuen Sinnzusammenhängen ereignen darf. Von Begegnung zu Begegnung erhält das Leben eine Notwendigkeit, die ich als Schicksal, Fügung oder auch als Vorsehung bezeichne, je nachdem, ob ich eine theologische Perspektive zulasse oder nicht. Jede Begegnung in ihrer jeweiligen 270 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Begegnung als dialogische Beziehung
Gestalt führt uns ein Stück näher zu Gott und zu uns selbst, oder aber sie entfremdet uns, nämlich dann, wenn eine Antwort nicht gegeben wird oder nicht gelingt. Durch die Augen des Anderen, in der Konfrontation mit ihm, wird mein eigenes Verstehen an seine Grenzen geführt. Der Anspruch der Wirklichkeit an mich wird aufs Neue vernehmbar. M. Buber sieht die Wirklichkeit selbst als Frucht einer Begegnung im Sinne einer Berührung des Du. »Alle Wirklichkeit ist ein Wirken, an dem ich teilnehme, ohne es mir eignen zu können. Wo keine Teilnahme ist, ist keine Wirklichkeit. Die Teilnahme ist umso vollkommener, je unmittelbarer die Berührung des Du ist.« 20 Selbst ein Baum, um ein Beispiel Bubers, oder eine Quelle, um ein Beispiel R. Guardinis zu nennen, kann zu Hinweisen werden, die »an den Saum des ewigen Du« 21 heranführen. »Ein Wehen von ihm, wenn die Macht der Ausschließlichkeit mich ergriffen hat«, wird vernehmbar. 22 Das Moment des Anspruchs, der durch den Anderen auf mich zukommt, darf nicht zu schnell abgetan werden; denn letztlich geht es immer um den Anspruch Gottes an mein Leben. »Jede Erfahrung beruht auf einer Begegnung und jede Begegnung auf einer Erfahrung. Und dazu gehört aktive Verarbeitung dessen, was wir erleben. Denn ›Begegnung‹, die nicht in diesem Sinne zugleich ›Erfahrung‹ ist, wird leicht zu einer unkontrollierbaren Herrschaft unserer subjektiven Sympathiegefühle.« 23 Die emotionale Seite der Begegnung darf nicht einseitig betont werden. Das Moment der Reflexion, der Rückbesinnung des Subjektes auf das in der Begegnung Erfahrene und seine Integration verlangt nach dem ordnenden Verstand und nach der leitenden Instanz der analytischen Vernunft. Mit anderen Worten, Begegnung muss so verarbeitet werden, dass sie eine wirkliche Erfahrung wird; sonst bleibt sie eine Art Mythos oder erlebter Traum. »Kein Mensch kann dem anderen so begegnen, dass er ihm unmittelbar das Unbedingte, Erfüllende, Beseligende wäre […]. Wohl aber kann in 271 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
V Begegnung und Haltung
der Begegnung höchst beschränkter, fehlerbehafteter Menschen miteinander das Unbedingte Gegenwart werden, dem sich hinzugeben Seligkeit ist […], dort, wo erfahren wird, dass in der konkreten Gestalt des begegnenden Menschen die Gegenwart des Unendlichen geschieht.« 24 Jede Begegnung, die an die Vergangenheit anknüpft – z. B. bei einem Wiedersehen –, verlangt eine Offenheit für das Hier und Jetzt. Das erfordert eine ungeheure Wachsamkeit, die der Einübung bedarf, weil Gewohnheit und Bequemlichkeit dazu verleiten, sich von alten Schemata leiten zu lassen. Wenn ich mich auf ein »Du« einlasse und erst dadurch zum »Ich« finde, dann bin ich zu einer stetigen Umkehr im Denken und Handeln gefordert, da ich nie im Voraus weiß, was für ein Appell vom Du auf mich zukommt. Ich bin gefordert, bestimmte Dinge aufzugeben, um Neues empfangen zu können. Ich bin gefordert, Ungewissheit auszuhalten und auf vertraute Sicherheiten zu verzichten. Denn ich weiß nicht, wie Gott mich ansprechen wird und welcher Erfahrung ich noch bedarf, um Ihm näher zu kommen. Für einen Christen verbirgt sich in jeder Begegnung der Anspruch, dass sich in ihr auch ein Stück Begegnung mit Jesus Christus, dem Mensch gewordenen Gottessohn, realisiert. Deshalb sollen z. B. für Benedikt alle Fremden, die ins Kloster kommen, »wie Christus aufgenommen werden« (Regel 53,1). So können die Mönche die Weisung des Evangeliums erfüllen (vgl. Matthäus 25,35). Begegnung ist letztendlich nichts anderes als die gegenseitige Zuwendung zweier Freiheiten in einem Augenblick, der nicht zu erzwingen ist, sondern beidseitig als Geschenk empfunden wird. Diese Empfindung will aber sehr konkret wahrgenommen werden. Sie ist mit der Freude über das Gelingen der Begegnung verbunden. Nicht das Bewusstsein, im Vergleich zu anderen Menschen privilegiert zu sein, zeugt von echter Gotteserfahrung, sondern das Wissen um eine Zuwendung, die einem unverdient geschenkt wird. 272 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Leibliche Kommunikation und Einleibung
3)
Leibliche Kommunikation und Einleibung
Das Erste, was ich in der Begegnung von einem Menschen wahrnehme, ist in der Sprache des Körpers ausgedrückt. Unser Wahrnehmungsapparat erstellt vor jedem Detail so eine Art Scan des Ganzen. Beispielsweise ist der Gang oft Spiegelbild des inneren Erlebens. »In allen Bezügen, sowohl zu sich selbst als auch zu den Anderen, ist der Leib der unhintergehbare Vermittler, der jedoch als solcher selten wahrgenommen wird«, schreibt Björn Haneberg. 25 Die Begegnung mit dem Anderen modifiziert spürbar mein eigenes Empfinden. Dies kann sogar gegen meinen Willen geschehen, wenn ich z. B. von der Gefühlslage eines Anderen so betroffen bin, dass ich selbst in sie hineingerissen werde und dadurch die nötige Distanz verliere. Andererseits ist die Fähigkeit, Gefühle zu teilen, die Grundlage jedes empathischen und therapeutischen Verhaltens. Mit Einleibung wird die Fähigkeit beschrieben, den Leib als Resonanzraum wahrzunehmen. Das Erleben geht durch den Leib hindurch und nicht an ihm vorbei. Er ist wie das Gehäuse einer Geige, das zwar selbst den Ton nicht erzeugt, ihm aber einen Resonanzraum anbietet, ohne den er nicht zum Klingen kommt. Der Bogen, der die Saiten streicht, ist die eigentliche Ursache für die hörbar werdende Melodie. Der Leib ist also mehr als ein passives Werkzeug, das meinem Willen ausgeliefert ist wie ein Schraubenschlüssel und ohne Eigenleben das vollzieht, was die Hand von ihm will. »Durch wechselseitige Einleibung (d. h. das Entstehen eines übergreifenden Leibes mit dem Andern) kann das Erleben, das der Andere zum Ausdruck bringt, an der Resonanz des eigenleiblichen Spürens abgelesen und in einer primären Weise verstanden werden«, schreibt B. Haneberg. 26 Dieses oszillierende Zwischenspiel ist für zwischenmenschliche Begegnungen von großer Bedeutung. Hier wird noch einmal deutlich, dass Leib und Körper nicht deckungsgleich sind. Man kann den Leib als eine Sphäre betrachten, zu 273 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
V Begegnung und Haltung
der dem Anderen Zugang gewährt oder verwehrt wird. Beim gemeinsamen Musizieren, Tanzen oder Ausführen handwerklicher Tätigkeiten wird die Bedeutung der Einleibung deutlich. Das Gemeinsame, das entsteht, ist immer mehr als die Summe der einzelnen Teile. Es ist ein Sich-Einlassen erforderlich, das nicht gleichbedeutend ist mit Sich-Aufgeben. Wenn ein Musiker in seiner eigenen Partitur unsicher ist, kann er nicht zum Entstehen des Ganzen beitragen, weil er ständig »herausfällt«. Tritt er aber zu selbstsicher und dominant auf, stört er genauso, weil er das Ganze durchbricht und nun zu sehr »auffällt«. Nicht nur die falschen oder zu lauten Töne sind zu hören, sondern auch die Unsicherheit oder die Dominanz werden für die Anderen spürbar. Dadurch wird auch das eigene Befinden modifiziert. 27 Die Einleibung setzt zwingend das gesunde Gleichgewicht zwischen Präsenz und Zurücknahme voraus, ohne das keine menschliche Gemeinschaft möglich ist. Sie ist Antwort auf eine Präsenz, die vom Anderen ausgeht und die es zu empfangen gilt. Der Andere ist für mich also zunächst einmal sein Leib, den ich in einer ganzheitlichen Wahrnehmung »empfange« und der Wohlgefühl oder Abneigung hervorruft, Sympathie oder Antipathie. H. Schmitz spricht von »Bewegungssuggestionen«, die dann am eigenen Leib als leibliche Regungen gespürt werden. 28 Eine aggressive Ansprache ruft eine aggressive Antwort hervor, eine sanfte Stimme beruhigt. Dies ist so selbstverständlich und alltäglich erfahrbar, dass es nicht nötig ist, besondere wissenschaftliche Untersuchungen hinzuzuziehen. Nicht nur Stimmen, sondern auch Blicke, Bewegungen und Gebärden eines Anderen können als subtiles Berührtsein am eigenen Leib gespürt werden. »Die Gebärden können unmittelbar leiblich als erdrückend, lastend, bedrängend, durchdringend oder als aufrichtend, haltend oder tragend erlebt werden«, schreibt B. Haneberg. 29 Leiblichkeit führt zu einer Doppelerfahrung: zur Eigen- und Fremderfahrung, und die beiden sind in stetigem Dialog miteinander. Dieser Dialog setzt 274 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Leibliche Kommunikation und Einleibung
sich fort, wenn der Schmerz der Verweigerung den Eigenleib ergreift, wenn der Andere sich zurückzieht oder die Kommunikation abbricht. Blicke, die sich einander entziehen, treffen wie Pfeile ins Herz. Sie wirken nach, auch wenn der Auslöser nicht mehr gegenwärtig ist. So entstehen besondere Seelenzustände, von denen der bekannteste die Melancholie ist. Der Melancholiker gibt durch Abgespanntheit und Trägheit in der Bewegung seinen inneren Zustand preis. Erst lange Zeit nach dem Abgang des Erregers klingen auch Wut und Eifersucht ab. Daher der dringende Rat, nicht im Affekt zu agieren, denn dies führt dann nur zu einem Reagieren. Es ist keine freie Handlung mehr. Traurigkeit und Freude, Tief- und Hochstimmung nisten nicht nur in der Seele, sondern im ganzen Leib. Etwas erfüllt mich mit tiefer Trauer oder großer Freude. Dieses »mich« ist das, was M. Merleau-Ponty »Eigenleib« nennt. Die Einleibung dient dem nie abgeschlossenen Prozess des Wohnens im eigenen Leib, der wie ein Haus sich auch zeitweise »fremd« anfühlen kann. Sie ist die Vorstufe der Einverleibung und »im Gegensatz zu ihr ein kurzfristiges Phänomen«, schreibt Haneberg. 30 Alles Erlebte bleibt als Einverleibtes im Leibgedächtnis. Die Einleibung ist deshalb von Bedeutung, weil sie einen neuen Zugang zu diesem Speicher schaffen kann und dadurch die Formgebung, die das Erlebte mit sich brachte, verändern kann. Die Erfahrung, für den Anderen nicht mehr sichtbar zu sein, gleicht einem Todesurteil. Wenn er mich nicht mehr sieht, bin ich auch nicht mehr; zumindest für ihn bin ich wie tot. Deshalb bleibt der Ansatz Bubers gültig. Am Du entsteht das Ich, das auch zu bestehen lernt, wenn schmerzhafte DuErfahrungen das Ich in seiner Kernexistenz, der Zwischenleiblichkeit, bedrohen. In diesem Sinne ist der Leib wirklich »Eigenleib«, d. h. der Leib, der ich nun einmal bin und der immer mehr ist als der Körper, den ich habe. 275 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
V Begegnung und Haltung
4)
Der Leib als dialogisches Prinzip
Der Leib ist dialogisch par excellence. Die Bipolarität des Leibes, rechts und links, seine Aufrichtung, oben und unten, und seine Geschlechtlichkeit machen aus ihm das Organ der Begegnung, des Gebens und Empfangens schlechthin. Der Leib kann nicht in den Blick genommen werden, ohne dass die Seele, die »forma corporis«, durchscheint und erscheint. Noch der Leichnam eines Toten ist mehr als nur ein Haufen von Zellen, Knochen und Gewebe. Sein erstarrtes Antlitz spiegelt wider, was der Geist bis zum letzten Atemzug in ihm leibhaftig bewirkt hat. In diesem letzten Ausdruck verdichtet sich die Einheit, die der Leib selber ist. »Die menschliche Leiblichkeit, die Sichtbarkeit oder das Offenbarwerden der menschlichen Innerlichkeit ist deshalb der obligatorische Beziehungspunkt jeder personalen Tätigkeit des Menschen«, schreibt E. Schillebeeckx. 31 Der Leib ist das Ergebnis meiner selbst aus Körper und Geist, das, was sich stets zeigt und niemals entziehen kann. Der Leib ist insofern niemals mein privates Eigentum. Er ist stets für andere da. Er gehört zu meiner und zu ihrer Welt, zu meinem und ihrem Erleben zugleich. »Die Leiblichkeit ist ja die in Erscheinung tretende Innerlichkeit des anderen, durch die ich ihm unmittelbar, ohne irgendwelche objektivierte Medien persönlich begegne.« 32 Ich werde am Du, mein Ich-Leib wird am Du-Leib, und dies nicht nur in der primären Mutter-Kind-Beziehung, sondern ein Leben lang, in jeder Beziehung; denn jede Beziehung ist auf eine bestimmte Art und Weise leiblich geprägt. Ob durch Händeschütteln oder Verbeugung, Kuss oder Umarmung, stets geht es darum, den Anderen im eigenen Leib willkommen zu heißen. Dadurch mache ich mich jedoch verletzbar, weil mich auch Verweigerung oder Anfeindung treffen können, die zu einer »Vergegnung« führen, wie es Buber treffend formuliert; mit dieser Wortschöpfung meint er das Gegenteil von Begegnung. 276 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Der Leib als dialogisches Prinzip
»Eine Begegnung hinterlässt bleibende Spuren am Individuum, die sich tief in das leibliche Befinden, in den gesamten Habitus der Person einschreiben und fortan als Teil der Person erlebt werden«, schreibt B. Haneberg. 33 So wird unsere Identität durch leibhaftige Begegnungen geprägt. Der Leib ist wie eine Tonmasse, die empfänglich ist für Regungen und Anstöße von außen. Sie kerben sich in ihm ein. Vor allem für das Kind ist die Einleibung, das Eins-Werden mit dem eigenen Leib, der zum Spiegel alles Erlebens wird, wesentlich. Dadurch saugt das Kind auf, was gut oder schlecht für es ist. E. Erikson schreibt: »Die Eltern müssen es nicht nur verstehen, das Kind durch Verbieten und Gewähren zu lenken; sie müssen auch imstande sein, vor dem Kind eine tiefe, fast körperliche Überzeugung zu repräsentieren, dass das, was sie tun, einen Sinn hat.« 34 Ein solches Lernen setzt die Fähigkeit voraus, ohne Worte den Sinn einer Handlung zu erfassen. Der leibliche Dialog geht der Sprache voraus und setzt das Gesprochene dann wieder fort. Im ungünstigen Fall geraten Tun und Reden in eine wachsende Distanz zueinander; und der Mensch legt zweierlei Maß an. Nur so ergibt eine Anweisung wie die des Evangeliums einen Sinn: »Tut und befolgt also alles, was sie euch sagen, aber richtet euch nicht nach dem, was sie tun; denn sie reden nur, tun selbst aber nicht, was sie sagen« (Matthäus 23,3). Eine solche Anweisung ist leider als Klugheitsregel höchst notwendig; aber sie kann nur schwer zur Bildung der Identität beitragen, da diese zutiefst leibliches Geschehen und kein kognitiver Prozess ist. Nicht das richtige Verstehen, sondern der ganzheitliche Ausdruck dessen, was der Mensch ist, was er im wahrsten Sinne des Wortes verkörpert, soll verwirklicht werden. Sagt ein Mensch etwas anderes als das, was sein Leib im Moment von ihm vermittelt, kommt die Botschaft getrübt an und sorgt beim Empfänger für Verwirrung. Aus dem leiblichen Dialog mit den Anderen bildet sich eine soziale Kompetenz, da diese immer den Blick von außen auf mich voraussetzt. Die Bildung von einem Außen und 277 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
V Begegnung und Haltung
einem Innen im Leib ist die primäre Ausdrucksform des Selbstbewusstseins. Wenn ich mich selbst aber nur von innen her wahrnehme und nicht lerne, mir auch die Perspektive des Anderen zu eigen zu machen, dann wird es schwierig, sich vom eigenen Erleben zu distanzieren und in eine wahrhaftige Kommunikation einzutreten. Wenn ich lerne, mich so wahrzunehmen, wie andere mich sehen, dann erwerbe ich eine wertvolle Möglichkeit, an der eigenen Identität zu arbeiten. Die Bildung dieser Identität ist also kein passives Geschehen, sondern ein ganz aktives Handeln. Wenn das, was ich wahrnehme, mich prägt, dann werde ich darauf achten, wie ich Menschen und Dinge wahrnehmen will. Wahrnehmung als leibliches Geschehen bedarf der Einübung, weil der Leib als mehr oder weniger feinfühliges Organ fungiert. So ist die leibliche Identität das Ergebnis eines Dialogs mit den Anderen und mit der Welt. »Verachten die Anderen seinen Leib, übernimmt und erlebt der Säugling ihn und sich selbst als einsames und wertloses Stück Fleisch […]. Schlagen sie und verletzen sie seinen Leib, wird er sich von ihm distanzieren, sich dumpf und bedrückt fühlen und seinen Leib zum Panzer gegen die feindliche Außenwelt verwandeln.« 35 Und das gilt nicht nur für den Säugling, sondern für jedes Individuum, denn jeder Mensch ist auf das angewiesen, was er von anderen empfängt. Denn »um zu erfahren, was und wer ich bin, muss ich nicht nur in meinen Leib hineinspüren, sondern in die Gesichter der Anderen blicken, die mich spiegeln« 36. Alles Erlebte wird im Leibgedächtnis gespeichert. Daher beeinflusst es die Identität beständig und wesentlich. Die so gebildete Identität ist dennoch schwer fassbar, weil vielschichtig. Sie ist viel mehr Aufgabe als Errungenschaft. »Die Stabilität einer Identität ist in der Fähigkeit begründet, immer besser zu ›erkennen‹ (Selbstkonzept) und zu ›spüren‹ (erlebter Leib)«, schreibt Haneberg, »was meinem Wesen entspricht und was nicht, sowie zu lernen, die Diskrepanz zwischen Selbsterkenntnis und leiblichem Selbstgefühl auszuhal278 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Der Leib als dialogisches Prinzip
ten und zu überwinden.« 37 Der Leib bildet die Grundlage unseres So-Seins und unseres Da-Seins in der Welt. Losgelöst von seinem Leib ist der Mensch nicht mehr Mensch; er würde zu den rein geistigen Mächten gezählt. Dies widerspräche dem Schöpfungsplan Gottes, der den Menschen aus Lehm formte und in seine Nase den Lebensatem hineinblies. So könnte, wie Haneberg es am Schluss seiner Untersuchung zeigt, »am Leib exemplarisch vorgeführt werden, dass Fühlen und Denken nicht einander ausschließen, sondern eine produktive Einheit bilden, wobei das leibliche Empfinden die Tiefe und Fülle des Erlebens ermöglicht und das Empfinden erst im Denken zu seiner Klarheit gelangt« 38. Das Entdecken des »Ich« hängt von jenem »Du« ab, das zur Antwort der Liebe ruft. Werde ich als »Du« angesprochen, entfaltet sich das Ich als »Selbst« und als »Du«. Die liebende Antwort auf die große Frage des Daseins »Warum bin ich überhaupt?«, begleitet von der Frage »Wer bin ich?«, lautet dann: »Ich bin, weil DU mich liebst und willst.« Dieses Moment wird für Buber zur »Offenbarung«, »wenn der Mensch aus dem Moment der höchsten Begegnung nicht als der gleiche hervorgeht, als der er in ihn eingetreten ist. Der Moment der Begegnung ist nicht ein ›Erlebnis‹, das sich in der empfänglichen Seele erregt und selig rundet: es geschieht da etwas am Menschen.« 39 Begegnung ist ein unwiderrufliches Geschehen. Was der Mensch in der Begegnung empfängt, ist eine Kraft, die ihm Sicherheit vermittelt und die Grundlage für die nächsten Schritte auf dem Weg zur Identitätsfindung bildet. Der Anspruch ist hoch. Mit Recht darf man über die Folgen der Begegnung erschrecken. Das Mehr an Bestätigung ist ein Geschenk, das man sich selbst nicht geben kann. Man darf in der Begegnung etwas weiterreichen, das man selbst empfangen hat. Der Geber gibt, ohne sich seiner Gabe bewusst zu sein. Richtet er die Aufmerksamkeit auf die Gabe, verliert er sie. 279 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
V Begegnung und Haltung
Diese Gabe liegt in der Absichts- und Selbstlosigkeit der Begegnung. Soll die Begegnung einen bestimmten Zweck erfüllen, dann wird sie ihres Wesens beraubt und entleert. Echte Begegnung dient nicht der Vereinnahmung des Anderen für meine Bedürfnisse, sondern lebt von der Freiheit und Autonomie von Menschen, die sich einander zuwenden. Instrumentalisierung zerstört die Begegnung. Wahre Begegnung führt nicht in die Abhängigkeit, sondern in eine größere Autonomie. Ich werde am Du und ich werde immer mehr ich selbst, indem der Andere ein Du für mich bleibt. In der Begegnung ist meine Verantwortung gefordert, die sich vor allem in der nie dauerhaft erreichten und deshalb stets wiederherzustellenden Balance zwischen Nähe und Distanz bewähren muss. Dieses Gleichgewicht kann man mit Buber »Vergegenwärtigung« nennen. »Hier und nun wird mir der andere zum Selbst, und die in der ersten, distanzierenden Bewegung erfolgte Verselbständigung seines Seins erweist sich in einem neuen, höchst prägnanten Sinn als Voraussetzung: Voraussetzung dieser Selbstwerdung-für-mich, die aber nicht psychologisch, sondern streng ontologisch zu verstehen, eher also Selbstwerdung-mit-mir zu nennen ist.« 40 So dient die Begegnung mit dem Anderen, wenn sie absichtslos geschieht, auch der Selbstwerdung. Indem Ich und Du als Seiende in ein gegenseitiges Spiel eintreten, empfangen sie ihr eigenes Sein voneinander. 41 Menschen so zu begegnen, dass der Raum, der in der Begegnung entsteht, ins Unendliche geweitet wird, ist höchste Kunst und zugleich eine natürliche Gabe. Sie verlangt nach Herzensbildung. Auch wenn das Wort altmodisch klingt, es gibt kein besseres für das Gemeinte. Eine ontologische und metaphysische Sphäre tut sich auf, die inneres Wachstum ermöglicht. »In seinem Sein bestätigt will der Mensch durch den Menschen werden und will im Sein des andern eine Gegenwart haben«, schreibt M. Buber. 42 Das echte Gespräch dient nicht primär dem Austausch von Informationen oder Ansichten, sondern eröffnet einen 280 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Begegnung mit dem Antlitz
Raum für das Anders-sein-dürfen. Es ereignet sich in einer ontologischen Sphäre. Es bedarf der leiblichen Präsenz der Gesprächspartner, weil das Da-Sein im Leib die Art und Weise ihrer Präsenz in der Welt, in Raum und Zeit ist. Für den Anderen bin ich zunächst unübersehbar »Leib«. Die Bezüge meines Da-Seins sind für den Anderen nicht ohne ihre leiblichen Korrelate erreichbar: Anmut offenbart sich im Tanz, Traurigkeit oder Freude am ganzen Leib, in verdichteter Weise aber im Antlitz.
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Begegnung mit dem Antlitz
Das menschliche Antlitz ist der Ort der Begegnung schlechthin. Augenkontakte können eine sehr intensive Form der Kommunikation darstellen. Sie schaffen eine Nähe »von Angesicht zu Angesicht«, in der aber auch die Distanz noch wesentlich dazugehört. Das Erleben des Blickes und der gegebenen Distanz wird unterschiedlich ausfallen. Dem Blick des Anderen auf mich nicht ausweichen, sondern ihn aushalten, kann in der Begegnung zur Herausforderung werden. Was gebe ich in einem einzigen »Augen-Blick« nicht alles von mir preis, ohne dass ich es zurücknehmen könnte! Schaut der Andere mich nicht richtig an, dann bin ich irritiert. Das EinanderAnschauen ist wie das Einfädeln des Gesprächs, das erst einmal ohne Worte geschieht. Wenn ich versuche, dem Blick des Anderen auszuweichen, spüre ich Verlegenheit: Ich will und kann es doch nicht oder ich kann und will es doch nicht. Eine dritte Möglichkeit ist ausgeschlossen. Antlitz und Blickkontakt fallen gewissermaßen zusammen. Die zunächst geschuldete Aufmerksamkeit ist die des Blickes. Ich suche den Blick meines Gegenübers, nicht seine Augen. Ich »erblicke« sie rechts und links, nie exakt spiegelbildlich im Gesicht verortet. Experimente mit Fotos zeigen, wie perfekte Symmetrie zur Hässlichkeit führt. Das Gesicht des Blinden schaut seltsam leer aus, weil 281 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
V Begegnung und Haltung
seine Augen nichts fixieren können. Das Gesicht besteht aus einer Vielzahl von Teilen wie Augenbrauen, Lippen, Nase oder Kinn. Das Antlitz dagegen ist eins und ganz. Ein freundliches Gesicht ruft Freundlichkeit hervor, ein von Zorn oder Wut geprägtes Gesicht lässt nichts Gutes ahnen. Wenn ich sage, ich habe »das Gesicht verloren«, meine ich ein Stück meiner Würde. Vom Antlitz ergeht ein unausweichlicher Ruf an mich. Ich erinnere mich, wie ich einmal einen Bettler ignorierte, der an einem Autoparkplatz stand. Als ich wiederkam, verfolgte er mich mit eindringlichem Blick, der an mir haften blieb. Die Begegnung mit dem Antlitz ist für E. Lévinas grundsätzlich asymmetrisch. 43 Sie stellt einen Anspruch, der nicht umkehrbar ist, »eine Liebe ohne Eros« 44. Der stille Appell des Anderen in der Nacktheit des Antlitzes bittet um Zuwendung. Diese Erfahrung ist beunruhigend: eine »Be-un-ruhigung darüber, nicht offen zu sein, in der Beunruhigung darüber, sich wie ein Kern in sich zu verschließen, ein Sich-selbst-Öffnen ist, eine Beunruhigung, die bis zur Spaltung des Innersten geht« 45. Die Angst ist nicht mehr die Angst um das eigene Selbst, sondern um den Anderen. Es ist die Herausforderung eines ethischen Anspruchs, ohne dessen Verwirklichung ich nicht wahrhaft Mensch sein kann. Dieser Appell ist der Ort, in den Gott »einfällt«. Denn er ist derjenige, der immer schon nach mir ruft und auf dessen Ruf ich nur antworten kann: »Hier bin ich!« Deshalb ist die Frage nach Gott zunächst die Frage nach seiner Gegenwart. Sie tut sich kund in der Nähe des Antlitzes des Anderen und der darin gegebenen Anforderung an mich. 46 Eine Nähe, die nicht räumlich gemeint ist, sondern die den Auftrag enthält, Verantwortung zu übernehmen. Dieser ethische Auftrag ist deshalb nicht delegierbar. »Du bist gemeint.« So wird der Andere zu meinem »Nächsten«, dem ich verpflichtet bin in der »Einmaligkeit des Nicht-Austauschbaren«, schreibt Lévinas. 47 Eine Situation, in der ein solcher Anspruch mich ereilt, ist wirklich einmalig, nicht wiederholbar. Sie kann Begegnung ge282 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Begegnung mit dem Antlitz
lingen oder misslingen lassen. Die zu mir hingestreckte Hand des Bettlers ist ein deutlicher Appell, an dem ich nur mit dem festen Willen, mich nicht »jedes Mal« aufhalten zu lassen, vorbeigehen kann. Im Kloster sind Begegnungen mit Bettlern zwar eher selten. Sie gehören zur Welt draußen. Es gibt aber auch innerhalb der Klausur eine Art von hingestreckter Hand, nämlich – bei aller Bestrebung, ein gemeinsames Leben zu führen – das Bedürfnis einer jeden, in ihrer Singularität und Individualität gesehen und wahrgenommen zu werden, auch wenn wir nach außen den gleichen Habit tragen und unser Leben für dasselbe Ideal einsetzen. Wir schauen nicht aneinander vorbei, sondern nehmen die Andere wahr und grüßen einander mit einem vernehmbaren Kopfzeichen und einem Lächeln. So ist es zumindest vorgesehen; die Wirklichkeit bleibt wie so oft hinter dem Ideal zurück. Eine personale Begegnung, so flüchtig sie auch sein mag, ist immer eine Herausforderung. Durch den Blick des Anderen bin ich der Gefahr der Nacktheit ausgesetzt. Sein Blick kann mich »entblößen«, wenn der andere mein Ideal-Ich als Luftgespinst entlarvt und mir eindeutig zu verstehen gibt: »Du siehst dich so, ich aber sehe dich ganz anders.« Ohne ein Minimum an empathischer Grundhaltung bleibt der Mensch dem Menschen ein Wolf. Die grundsätzliche Erfahrung ist zunächst der stumme Ruf: »Töte mich nicht!«, schreibt Lévinas. 48 Je länger und enger Menschen zusammenleben, umso größer wird die Gefahr der Entblößung. Es scheint ein Grund des Scheiterns vieler Partnerschaften zu sein, dass die Beziehung dieser Entlarvung durch den Anderen nicht standhält. Auch die Besten von uns haben immer auch solche Seiten an sich, die sie als armselige Menschenkinder erscheinen lassen, und wenn es ihr unheilbarer Hochmut wäre. In der stabilen Gemeinschaft Kloster geht es nicht anders zu. In der Wahrnehmung der Anderen bleibe ich oft so, wie ich immer für sie war. Meine Wahrnehmung ist zunächst wesentlich bestimmt von der Erinnerung, von dem Bild, das sich mir ins Gedächtnis 283 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
V Begegnung und Haltung
eingeprägt hat. Dieses Bild ist stets das Ergebnis einer Summe von Erfahrungen. Deshalb stehe ich vor der bleibenden Aufgabe, einerseits ich selbst zu sein, andererseits mich gerade durch das Anders-Sein des Anderen so zu verändern, dass ich aus der Begegnung mit ihm als ein Anderer hervorgehe. Nur in diesem Sinne ist die Aussage Bubers »Alles wirkliche Leben ist Begegnung« zu verstehen. Wahres Leben zielt immer auf Wachstum und Veränderung; diese aber geschehen nur als Frucht gelungener Begegnung. Das Leben im Kloster z. B. zielt auf eine Entwicklung hin. Es soll einen Raum eröffnen, in dem die neu Eintretende ihre eigene Berufung verwirklichen kann. Jede, die sich mit der Frage einer solchen Lebensentscheidung auseinandersetzt, wird dieses Ringen als Teil der Berufung empfinden. Hier ist keine Stellvertretung möglich. Soll die Begegnung zum Wachstum einladen, dann wird eine gewisse »Keuschheit« des Blickes erforderlich. Damit ist die Fähigkeit gemeint, über die Fehler Anderer hinwegzuschauen und sie nicht auf ihre negativen Seiten zu reduzieren. Dies ist kein Vertuschen, sondern der Verzicht, im falschen Augenblick auf die Blöße des Anderen zu schauen. Eine Erzählung aus dem Buch Genesis veranschaulicht das: Der Patriarch Noach lag betrunken und nackt am Boden. Seine beiden Söhne begaben sich zu dem Ort, an dem er lag, und zwar rückwärts; und sie deckten ihren Vater mit einem Mantel zu. Es wird ausdrücklich erwähnt, dass »sie ihr Gesicht abgewandt hatten und die Blöße des Vaters nicht sehen konnten« (Genesis 9,23). Durch dieses Verhalten respektierten sie das Verbot, die Blöße des Vaters zu entdecken und seine Scham zu sehen. Die Haltung, die mir zu eigen ist oder die ich annehme, ist der Prüfstein der Begegnung. Noch mehr als an ihren Taten erkennt man Menschen an ihrer Haltung den Dingen, den Anderen und sich selbst gegenüber. Eine Haltung muss erworben werden. Sie kann verschiedene Eigenschaften haben: lebhaft oder matt, unruhig oder träge; entscheidend ist jedoch, ob sie 284 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Begegnung mit dem Antlitz
von Güte und Barmherzigkeit, aber auch von Entschlossenheit und Offenheit gekennzeichnet ist. Das Antlitz ist Wohnort des Menschen. Deshalb sieht Lévinas im weiblichen Antlitz den Archetyp des Empfangens, vielleicht weil er das Haus traditionell noch mit dem Da-Sein der Frau verbindet: »Dieser Empfang des Antlitzes ereignet sich in ursprünglicher Weise in der Sanftmut des weiblichen Antlitzes […]. Dank der Sanftmut wohnt es.« 49 Es findet zu sich selber und kann in eine neue Beziehung zur Welt treten, weil das Haus selbst Ort der »Sammlung« für den Menschen ist. Das Antlitz bietet wie ein Kondensat eine Synthese der Haltung der Person. Die Grundbotschaft lautet Annahme oder Ablehnung. Hier zeigt sich, ob die Würde des Anderen wahrgenommen und respektiert wird. Nicht alle Begegnungen sind Begegnungen auf »Augen-Höhe«. Es gibt verschiedene Grade von funktionellem oder hierarchischem Gefälle zwischen Menschen und entsprechend vielfältige Typen von Beziehung. Trotzdem sollte der Mensch seinesgleichen immer in einer Haltung der Annahme seines Mensch-Seins begegnen. Vielleicht ist es das, was die Begegnung zur Begegnung macht: wenn ich davon ausgehen kann, dass ich »wahrgenommen« werde. Ohne diese grundsätzliche Einstellung ist so etwas wie eine »Erklärung der Menschenrechte« sinnlos. Wenn es die angestrebte Haltung gibt, kann das Ideal in so einem Dokument formuliert werden; das Dokument selbst jedoch ist machtlos, die Haltung hervorzubringen oder zu erzwingen. Begegnung geschieht nicht ohne Freiheit. Unter Zwang ist keine Begegnung möglich. Das Gebot der Liebe, das die Achtung der Würde einschließt, gilt für alle Menschen. Alle sind nach dem Bild Gottes geschaffen. Das Gebot, den Nächsten zu lieben (vgl. Leviticus 19,18 und 19,34), kann auch so übersetzt werden: »Liebe deinen Nächsten; er ist wie Du.« Man kann, wie Lévinas unter Verweis auf die Bedeutung des hebräischen Ausdrucks »kamokha« schreibt, auch übersetzen: »Liebe deinen Nächsten, 285 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
V Begegnung und Haltung
dieses Werk ist wie du selbst« oder »Liebe deinen Nächsten, das bist du selbst; diese Liebe des Nächsten ist es, die du selbst bist« 50. Die Rabbiner ringen also um die rechte Übersetzung und Deutung; aber sie sind sich einig, dass dies ein grundlegender Satz der Tora ist. »Das Alte Testament verträgt mehrere Lesarten, und erst wenn das Ganze der Bibel zum Kontext des Verses wird, klingt der Vers in seinem vollen Sinn«, fügt Lévinas hinzu. 51 Es macht Sinn, dieses Gebot, an dem die Tora und die Propheten hängen (vgl. Matthäus 22,40), in der Fülle der möglichen Übersetzungen wiederzugeben. 52 Die Bibel erweist sich hier als das Buch der Begegnung schlechthin. In ihr sind Begegnungen aufgezeichnet, die maßgeblich sind für jede weitere Begegnung mit Gott. In ihnen scheint das Antlitz des Mensch gewordenen Sohnes Gottes durch, der sich selbst den Menschen zu erkennen gibt: »Wer mich sieht, sieht auch den Vater« (Johannes 14,9). Anschauen und angeschaut werden – hier kristallisiert sich die Sehnsucht des Menschen nach dem Gott, »der nach mir sieht« (Genesis 16,13) und sich auf die Begegnung mit dem Menschen einlässt.
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Antlitz, Leid, Kreuz und Tod
Der Andere bedeutet in seinem Anders-Sein für mich nicht nur Freude, Aussicht auf Hilfe, Liebe und Zuwendung, sondern immer auch Schmerz und Leid, nicht aufgrund einer bestimmten Veranlagung oder gar aus Bosheit, sondern eben weil er anders ist. Die Wahrnehmung dieser Andersheit ist anderer Art als das Feststellen von Unterschieden bei Objekten derselben Gattung. Die Aufzählung von Merkmalen bleibt im Bereich des Äußerlichen. Das Anders-Sein des Anderen ist derart, dass es Leid bedeutet, weil ich es nicht erfasse, sondern es erfasst mich. Man rückt beim Anschauen des Antlitzes des Anderen in eine Nähe, die für Lévinas an die Nähe des Todes erinnert. »Als ob der Tod, den der Andere noch nicht kennt 286 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Antlitz, Leid, Kreuz und Tod
und der ihn in der Nacktheit seines Antlitzes doch schon betrifft, mich anblickt und angeht.« 53 Eine ähnliche Erfahrung wie Rilke mit dem Apoll-Torso durfte ich im Kölner Diözesanmuseum Columba machen. Der Architekt Peter Zumthor hat den Bau als »Ort der Nachdenklichkeit« konzipiert. Der Besucher wird über eine steile Treppe hinaufgeführt und betritt so eine andere Welt. Die Stille und die Weite der Ausstellungsräume für sakrale Kunst lassen ihn den Lärm und die Hektik der Großstadt vergessen. Im ersten Geschoss stößt er auf eine fast lebensgroße Ecce-homo-Figur aus Birnbaumholz vom Anfang des 16. Jahrhunderts. Die Nacktheit des Raumes korrespondiert mit der Nacktheit der bunt bemalten Figur. Eine mächtige geflochtene Dornenkrone bedeckt das Haupt wie ein Turban und wirft deutlich sichtbar ihren Schatten auf die weiße Wand. Der rechte Fuß steht halbschräg vor dem Linken. Beide Füße nehmen Platz auf einer kleinen Halbkugel aus Holz, die auf einem weißen quadratischen Podest aufruht. Angeschwollene Venen und offene Wunden sind am »Leib« sichtbar. Die Sinnlosigkeit des Leidens der so zur Schau gestellten geschundenen Figur verdichtet sich in ihrem Blick. Die offenen Augen fixieren den Besucher nicht. Der Leidende scheint wie betäubt ins Leere zu schauen. Das Warum und Wozu dieses sinnlosen Leidens ereilt den Besucher in der Form des Raumes, der die Figur umgibt. Warum keine weiteren Exponate, so dass der Schmerzensmann zumindest nur einer unter vielen wäre? Ist er vielleicht mehr als ein Exponat unter vielen? Er steht so allein wie verloren in dem großen kahlen Raum. Ist das ein Sinnbild für die beißende Einsamkeit, die mit Leid und Schmerz oft einhergeht? Aber Schmerz und Leid wollen nicht vereinnahmt werden. Ein Vers aus der Karfreitagsliturgie kam mir an diesem Ort in den Sinn: »Ihr alle, die ihr des Weges zieht, schaut doch und seht, ob ein Schmerz ist wie mein Schmerz, den man mir angetan hat.« (Klagelieder 1,12) Genau dies macht den 287 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
V Begegnung und Haltung
Schmerz aus, dass er sich nicht auf Bekanntes reduzieren lässt. Der Schmerz ist Fremdheit in meinem eigenen Leib. Ich spüre ihn nicht, wenn es mir gut geht. Einfache Kopf- oder Zahnschmerzen genügen, um an diese Erscheinung des Fremden in mir zu erinnern. Der so einsame Schmerzensmann vereinigt in sich körperliches und seelisches Leid. Er wirkt wie von einem anderen Stern »ausgesandt« in den kahlen Raum eines modernen Museums. Sein Leiden ist zeitlos; es gehört weder dem Mittelalter noch der Antike noch der Moderne. Wenn der Besucher den Raum verlässt, scheint er ihm noch nachrufen zu wollen: »Willst auch Du weggehen?« (vgl. Johannes 6,67) Sich dem Leid eines Anderen zu nähern, ist keine leichte Aufgabe. Schmerzlich wird es einem etwa beim Besuch in einem Krankenhaus bewusst. Wenn die Besucher kommen und gehen, bleibt der »Kranke« selbst am Ende allein zurück mit seinem Schmerz. In ihrem so einfühlsamen Buch »Leidenschaft – Stärke der Armen, Stärke Gottes« versucht Hadwig Müller, sich im Rückblick auf zehn reiche Jahre an der Seite der Ärmsten noch einmal deren Leiden zu nähern. Sie stellt fest: »Vielleicht habe ich mich allzu selten gefragt, ob und wieweit mein Anderssein für die Armen bisweilen schmerzhaft war. Feststeht, dass ich immer wieder gestaunt habe über das Ausmaß an Feinfühligkeit, mit dem sie erkannten, welchen Raum ich für mich brauchte.« 54 »Raum brauchen« – um den Schmerzensmann war viel Raum. Der Besucher kann kommen und gehen, ausweichen und zurückkommen. Ich brauche »Raum«, wenn ich an meine Grenzen stoße, wenn es mir zu »eng« wird, wenn das, was mir wichtig ist, mit Füßen getreten wird. Die Begegnung mit dem Leid im eigenen Leben wird dann für den Christen zum Prüfstein der Nachfolge Jesu Christi. Das Leiden Christi ist einmalig und unwiederholbar. Er hat stellvertretend für alle den Kreuzestod erlitten. Sein Erlöserwerk ist so schwer zu vermitteln, weil der Mensch lieber auf sich selbst setzt als auf Gott. Von der Verletzlichkeit, die in 288 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Antlitz, Leid, Kreuz und Tod
der Haltung des Schmerzensmanns mit den gebundenen Händen sichtbar wird, schreibt Lévinas, dass sie der Beginn einer Umformung ist: »Wenn man durch jemanden leidet, dann bedeutet die Verletzlichkeit auch, für jemanden zu leiden. Genau um diese Umformung des ›durch‹ ins ›für‹, um diese Stellvertretung des ›für‹ anstelle des ›durch‹ geht es«. 55 Diese Stellvertretung ist zutiefst schon eine biblische und jüdische Realität, bevor sie ihre höchste Verdichtung in Christus und ihren endgültigen Ausdruck im Zeichen des Kreuzes findet. Der Anstoß des Kreuzes bleibt: »für Juden ein empörendes Ärgernis, für Heiden eine Torheit, für die Berufenen aber Christus, Gottes Kraft und Gottes Weisheit« (1. Korintherbrief 1,23 f.). Es ist der Ort, an dem alle menschlichen Erwartungen scheitern, aber auch der Ort, an dem sich die Kraft Gottes erweist. Die Begegnung mit Jesus Christus ist immer Begegnung mit dem Gekreuzigten. Der Ruf, sein Jünger zu werden, ereilt uns im Ruf des Kreuzes: »Wer mein Jünger sein will, der verleugne sich selbst, nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach« (Markus 8,34). Die Begegnung mit dem Leid ist die Vorstufe zur Begegnung mit dem Tod, und die Vorstufe zur Begegnung mit dem Leid ist die Begegnung mit der Fremdheit. Alles, was nicht meins ist, was von außen auf mich zukommt und dessen ich nicht Herr werden kann, löst Angst aus. Ich bin ihm ganz und gar ausgeliefert und erlebe eine Art von Passivität, aber von anderer Art als die Passivität von Empfindungen, die ich mir letztendlich aneigne, indem ich sie wahrnehme. 56 Deshalb führt jede wahre Theologie notwendigerweise in die Nachfolge Christi, sofern sie nicht zur bloßen Religionswissenschaft verkommen ist. 57 Der Weg der Nachfolge Christi führt in die Auferstehung, jedoch durch das Kreuz hindurch. Selbsterlösung gibt es im Christentum nicht. Die Botschaft vom Tod Jesu Christi am Marterpfahl des Kreuzes und von der Auferweckung des Gekreuzigten durch Gott bleibt das zentrale Kerygma, das »Markenzeichen« jeder echten christlichen Gemeinschaft. Wer die289 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
V Begegnung und Haltung
sen Glauben wirklich annimmt, verliert die Angst, im Leben zu kurz zu kommen. Er muss nicht mehr unter allen Umständen das Top-Angebot für sich suchen und überall das Optimum realisieren. Er weiß, dass Christus es vorgezogen hat, sich zu erniedrigen, auf seine Macht zu verzichten, um »den Gehorsam zu lernen« (Hebräerbrief 5,8), und zwar »bis zum Tod am Kreuz« (Philipperbrief 2,8). Das Heil, die Erlösung, ist deshalb auch Erlösung von unserem kleinen »Ich«, wie es im Buddhismus heißt. Angestrebt ist nicht, dass ich ein apathisches, leidfreies Leben führe, sondern dass ich sogar vielleicht, wie Paulus schreibt, »in meinem irdischen Leben das ergänze, was an den Leiden Christi noch fehlt« (Kolosserbrief 1,24). Die Gemeinschaft mit Christus als sakramentale Wirklichkeit ist eine Gemeinschaft auf Leben und Tod, in der Freude und im Leiden, in der Verlassenheit und in der Erwählung. Auf dem Weg des Glaubens und der Nachfolge übernimmt der Christ Verantwortung für sein Leben, indem er Christus immer tiefer in sich aufnimmt und sich von ihm ergreifen lässt. Der Wille, Christus nachzufolgen, bewahrt den Menschen davor, um sich selbst zu kreisen. Er trägt in sich ein anderes Zentrum, das Christus selbst ist. Das Ja zu Gott bedeutet das Sterben aller niederen Motive und Tendenzen. »Man ist sich selber der Feind«, konnte bei einem Familienwochenende in unserem Kloster ein zwölfjähriges Mädchen treffend formulieren. Um diesen eigenartigen Feind zu besiegen, bedarf es der Hilfe Gottes. Christliches Leben vollzieht sich in einer nicht aufzulösenden Spannung zwischen Gottes-, Nächstenund Selbstliebe. Dabei gehört die Torheit des Kreuzes als Zeichen und Preis der unendlichen Liebe Gottes zum Menschen unabdingbar dazu. Das grundsätzliche Vertrauen, dass »für Gott alles möglich ist« (Matthäus 19,26), wird zum Grund einer von Hoffnung geprägten Haltung, die über alle Enttäuschungen hinwegträgt und echte Erneuerung möglich macht. Die Freiheit des Menschen besteht darin, das Heilsangebot Gottes anzunehmen, es abzulehnen oder ihm gegenüber 290 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Antlitz, Leid, Kreuz und Tod
indifferent zu bleiben. 58 »Die heutige wissenschaftliche, technische, genußorientierte Welt sieht sich ohne Ausweg – d. h. ohne Gott – nicht deshalb, weil in ihr alles erlaubt und mittels der Technik möglich ist, sondern weil in ihr alles gleich-gültig ist«, schreibt Lévinas. 59 Wer die eigene Erlösungsbedürftigkeit nicht anerkennt, wird auch die Notwendigkeit eines oft mühevollen Weges, der Ansprüche an mich stellt, nicht einsehen. Die Einwilligung in den geheimnisvollen Heilsplan Gottes ist bereits eine Gnade, d. h. ein Geschenk Gottes, das im Glauben wirksam wird. Es ist »Ja-Sagen« zu einer je größeren Wahrheit als derjenigen, die ich aus mir selbst erreichen kann. Gott greift sehr konkret in das Leben eines Menschen ein. Es vollzieht sich, was die Karmelitin und Mystikerin Elisabeth von Dijon »eine neue Menschwerdung des Wortes« nennt. Sie betet: »Möge ich Ihm (Christus) eine zusätzliche Menschheit sein, in der Er sein ganzes Geheimnis erneuern kann.« 60 Damit ist eine neue existentielle Grundausrichtung gemeint, keine krankhafte oder krankmachende Frömmigkeit. Die Annahme des Heilsangebotes, d. h. der Zuwendung Gottes ist die größte Verantwortung, die ein Mensch für sein Leben wahrnehmen kann. Wenn ein Mensch an Gott glaubt und ihm Raum in seinem Leben lässt, dann stehen ihm Möglichkeiten zur Entwicklung seiner selbst zur Verfügung, die größer sind als bei einem Atheisten. Er darf auf einem festen Grund aufbauen und auf die Unterstützung durch die Gnade des Heiligen Geistes vertrauen. In allen Niederlagen und Enttäuschungen darf er die Kraft des Kreuzes erkennen: »Wenn ich schwach bin, dann bin ich stark« (2. Korintherbrief 12,10). Dies geschieht im Glauben, in einer Umkehrung der natürlichen Werte von »stark« und »schwach«, in einer neuen Positionsbestimmung von »Ersten« und »Letzten«. Die Begründung dafür ist allein das Kreuzesereignis. Das Paradox liegt in der Annahme eines unverdienten Geschenkes Gottes, nämlich in dem Glauben: »Denn Gott hat die Welt so sehr geliebt, dass er seinen ein291 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
V Begegnung und Haltung
zigen Sohn hingab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht zugrunde geht, sondern das ewige Leben hat« (Johannes 3,16). Eine solche Perspektive übersteigt alle Heilungs- und Entwicklungsperspektiven, die einem Menschen je angeboten werden können. Der Tod verliert zwar nicht seinen Schrecken; er wird aber durch den Glauben anders gedeutet, was nicht heißen muss, dass er auch anders »erlebt« wird. In den fast zwanzig Jahren meines Lebens im Kloster habe ich fünfzehn Mitschwestern sterben sehen. Jede starb ihren eigenen Tod und vollendete so ein Leben, das ganz und gar auf dem Glauben gegründet war; nicht frei von Angst und Qual, aber doch getragen vom persönlichen Glauben und vom Glauben der Gemeinschaft. Dieser Glaube verdichtet sich am offenen Sarg, wenn wir von »unserer« Schwester Abschied nehmen. Sie kann nichts mehr »sagen« und dennoch ist der Anblick der Verstorbenen im offenen Sarg, in ihrer »Kukulle«, jenem weit geschnittenen Gewand, das nur beim feierlichen Chorgebet getragen wird und den Leib wie ein Raum umhüllt, wie ein letztes Vermächtnis. Seit ihrer ersten Profess hat sie auf diesen Augenblick hingelebt, denn wer diesen Vers auf die Lippen nimmt, weiß, dass er sich erst nach dem Tod wirklich erfüllen wird: »Nimm mich auf, o Herr, nach deinem Wort, dann werde ich leben. Enttäusche mich nicht in meiner Hoffnung« (Psalm 119,116 61). Diese Hoffnung ist ewiges Leben bei Gott, denn es heißt in der Heiligen Schrift: »Wir wissen, dass wir ihm ähnlich sein werden, wenn er offenbar wird; denn wir werden ihn sehen, wie er ist« (1. Johannesbrief 3,2). Ist eine Schwester gestorben, wird sie von denen, die sie gepflegt haben, gewaschen und »vorbereitet«, d. h. feierlich angezogen. Sie bleibt dann im offenen Sarg einige Tage lang im Kapitelsaal, der das Zentrum des Klosters bildet, liegen. Der Vorgang des Waschens und Ankleidens geschieht mit größter Ehrfurcht. Wie zu keinem anderen Augenblick berühren die Schwestern das Geheimnis des Lebens selbst. Er ist ein Loslassen, ein Abschiednehmen von einem Menschen, der gerade 292 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Antlitz, Leid, Kreuz und Tod
aus der Welt der Lebenden »gerufen« wurde. Bereits beim Sterbeprozess heißt begleiten auch loslassen, damit die Andere ihren Weg auch wirklich gehen kann. Würden die Eltern das Kind zu sehr festhalten, so würde es auch nicht gehen lernen. Was am Anfang des Lebens gilt, gilt auch am Ende. Leben und Sterben sind in Freude und Leid etwas, was das Individuum selbst bewerkstelligen muss. »Es gibt im Leiden eine Abwesenheit jeder Zuflucht«, schreibt Lévinas. 62 Jede stirbt ihren eigenen Tod. In den Stunden des Sterbens werden das Leben und die Beziehungen der Einzelnen überdeutlich. Die Konturen des Lebens gewinnen noch einmal an Schärfe, sagte mir eine Mitschwester, die selbst viele Sterbende begleitet hat. Und dennoch tritt eine neue Dimension auf, die eigens zum Tod gehört. »Das Unbekannte des Todes bedeutet, dass die Beziehung zum Tod sich nicht im Licht vollziehen kann; dass das Subjekt in Beziehung ist zu dem, was nicht von ihm kommt. Wir können sagen, dass es in Beziehung mit dem Geheimnis steht«, schreibt Lévinas. 63 Wenn man aus der Nähe Zeuge des Sterbens eines anderen Menschen wird, erlebt man eine Anwesenheit in der Abwesenheit. Der Übergang von der einen Welt in die andere kann nur von innen her vollzogen werden. Ehrfurcht vor dem Geschehen bedeutet auch Abstand halten. Zwischen der Sterbenden und mir ist der Tod selbst. Der Tod bedeutet das Ende des Subjekts, »weil es ein Ereignis ankündigt, dessen das Subjekt nicht Herr ist«, weil das Subjekt es nicht übernehmen kann, sondern selbst mitgenommen wird. 64 Der Tod konfrontiert uns »mit etwas, dessen Existenz als solche aus Anderheit gebildet ist« 65. Eine große Fremdheit tritt ein, die dennoch die Vertrautheit mit der Verstorbenen nicht aufhebt. Was fremd ist, ist der Tod selbst und nicht diejenige, die gerade in ihrem Sterben mir so nahe stand. Die Erfahrung der Zweidimensionalität an der Grenze zwischen Leben und Tod ist ein Spannungsfeld, das etwas vom Geheimnis einer Gottesbegegnung preisgibt. Der Tod ist das absolut Fremde. Er ist das, was nicht sein kann und zu293 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
V Begegnung und Haltung
gleich doch sehr vertraut ist, zumindest in einer Gemeinschaft, in der Schwestern zu Hause sterben dürfen und als Tote von den anderen »erlebt« werden. Die Berührung des Leichnams ist Berührung mit dem Tod selbst. Für die Lebenden ist es eine Grenzerfahrung, die mit nichts anderem verglichen werden kann. Wenn ich einen Leib berühre, kommt von ihm eine Antwort. Hier fehlt die Antwort. An der Schwelle zum neuen Leben bleiben die Lebenden zurück. Sie bereiten einen leblosen Leib vor, sie machen ihn »ansehnlich« für die Lebenden, aber auch um dieses neuen Lebens selbst willen. Die Ehrfurcht gegenüber dem Leib gilt der Lebenden, weil die Tote sich wie bloße Materie, kalt, starr, ohne jene Hautspannung »anfühlt«. Leben ist Leben im Leib, Sterben ist Sterben des Leibes und ewiges Leben wird Leben im Leib sein, wenn wir uns auch die Gestalt dieses Leibes nicht vorstellen können. »Gewiss, das Andere, das sich anzeigt, besitzt dieses Sein nicht so, wie das Subjekt es besitzt; sein Ausgreifen auf mein Sein ist geheimnisvoll; nicht unbekannt, sondern unverkennbar, widerständig gegen jedes Licht«, schreibt Lévinas. 66 Auf die besondere Eigenart dieser Erfahrung komme ich im folgenden Abschnitt zurück.
7)
Wegweisung für die Gottesbegegnung
Die Berührung durch Gott ist anders als die Berührung durch Menschen, weil Gott der ganz Andere ist und bleibt. Wie beim Tod haben wir es hier mit einem Geheimnis zu tun, das wie der Tod, so Lévinas, nicht »vorweggenommen werden, das heißt ergriffen werden kann« 67. Das Anders-Sein Gottes darf nie unterschlagen werden, sonst besteht die Gefahr der Projektion oder Verharmlosung. Wenn Menschen so etwas wie eine Berührung Gottes erfahren, dann sieht diese jedes Mal anders aus. Wir haben es hier mit einer doppelten Fremdheit zu tun: Fremdheit der Erfahrung und Fremdheit Gottes selbst. Wie im Umgang mit dem Leib, wie in der Begegnung mit dem Ande294 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Wegweisung für die Gottesbegegnung
ren bis in sein Leiden, kann allein die Haltung der Ehrfurcht die Unversehrtheit des Geheimnisses der Existenz bewahren. Über das Thema »Gottesbegegnung« kann man nicht einfach »Bescheid wissen«. Wie am Anfang der Philosophie das Staunen steht, so steht zu Beginn der Theologie die Demut. Ehrfurcht ist jene Mischung aus Staunen und Demut, die auftaucht, wenn die Vertrautheit mit der Welt, mit den Menschen und mit Gott durchbrochen wird. Wer glaubt, jemanden zu durchschauen, der hat die Ehrfurcht vor ihm schon verloren; er wird eine Art »Voyeur«. Max Scheler beginnt seine Betrachtung der Ehrfurcht mit dem Hinweis auf den »deus absconditus«, den verborgenen Gott. Ehrfurcht ist die Haltung, »in der die Verborgenheit Gottes noch wahrnehmbar wird« 68. Gott kann man nicht »durchschauen«. Gerade die Entzauberung der Welt durch den unaufhaltsamen technischen Fortschritt und die Entzauberung des Menschen durch die Wissenschaft, insbesondere durch die Hirnforschung, aber auch durch die Medizin und die Psychologie, machen es dringend notwendig, die Tugend der Ehrfurcht »zu rehabilitieren«, wie Scheler die Absicht seiner kleinen Schrift benannte. Wer von Berufs wegen Menschen im Glauben begleitet und so Anteil an ihrer Erfahrung mit Gott bekommt, läuft Gefahr, etwas wiedererkennen zu wollen, wo es keine Wiedererkennung geben kann. Dies ist die doppelte Spannung der Gottesbegegnung. Sie bleibt einmalig wie Leben und Tod es selbst sind. Die zweite Seite ist: Gott lässt sich nicht auf etwas »Bekanntes« reduzieren. Die Ehrfurcht allein vermag es, »diese ›Fäden ins Unsichtbare hinein‹ zur geistigen Sichtbarkeit gelangen« zu lassen, schreibt Scheler. 69 Biblisch betrachtet heißt diese Tugend dann Gottesfurcht. Es ist jene heilende Haltung, die es verbietet, Gott auf allzu Bekanntes zu reduzieren. Dies heißt wiederum nicht, dass es etwas wie eine Begegnung mit dem EINEN Gott und nicht mit tausend Götzen nicht geben könnte; doch dieser EINE Gott ist der unbekannte Gott, 295 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
V Begegnung und Haltung
der seinen Namen erst in einer lebendigen Beziehung zum Menschen kundtut. Er heißt, der »Gott Abrahams, Israels, Jakobs« oder indirekt auch der Gott eines Menschen, der mir nahe steht, der Gott »meines Herrn Abraham« (vgl. Exodus 3,6; Genesis 24,12). Je mehr sich ein Mensch nach dem Unsichtbaren ausstreckt, je mehr der deus absconditus ihm paradoxerweise »vertraut« wird, umso mehr wird diese innere Haltung auch sein Äußeres durchdringen und wird dies wiederum für andere wahrnehmbar. Gott selbst wird auf leibliche Weise in seinem Geschöpf sichtbar und spürbar. Hier begegnet dem Menschen jenes ewige »Du«, dessen Antlitz der Mensch, so die christliche Hoffnung, im Augenblick des Todes endlich von Angesicht zu Angesicht sehen wird. »Ehrfurcht, Gottesfurcht sind natürliche Wahrnehmungen der unendlichen Differenz von Mensch und Gott; und sie entsprechen dem natürlichen Empfinden des Menschen weitaus eher als der unglaubwürdige Good-guyGott, der zurzeit im Schwange ist«, schreibt Klaus Berger. 70 Glaube setzt das Beziehungsangebot Gottes an den Menschen voraus. Dieses Angebot wird über Menschen vermittelt. Wenn Interesse am Glauben geweckt wird, dann weil eine persönliche Beziehung zustande kommt. Diese muss tragfähig sein. So rückt nicht mehr die Sache in den Mittelpunkt, sondern der Mensch, der schon durch sein bloßes Da-Sein von seiner Erfahrung mit Gott Zeugnis ablegt. Der Adressat findet im Begleiter jemanden, der bereit ist, mit ihm den Weg zu Gott zu gehen, und zwar seinen ganz einmaligen persönlichen Weg. 71 Wo dieses Beziehungsangebot missbraucht wird, macht sich der Mensch schuldig. Es gibt hier nicht mehr ein »Etwas«, wovon ich dir nun mal erzählen möchte, sondern ich lasse dich teilhaben an meinem Leben. Ich bin bereit, mit dir zu schauen, ob vielleicht auch du eine solche Erfahrung machen kannst. Sucht Gott vielleicht auch dich, so wie Er mich gesucht hat? Glaubenserfahrung und Aussage »über« Gott können 296 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Wegweisung für die Gottesbegegnung
sehr widersprüchlich sein, wie die Antwort eines siebzehnjährigen Mädchens auf die Frage nach ihrem Gottesbild und die Stellung des Glaubens in ihrem Leben es zeigt. Sie schreibt: »Gott ist für mich die Vorstellung einer höheren Macht, die eine gewisse Hoffnung in mir hervorruft, dass es jemanden gibt, der mir und Menschen, die mir wichtig sind, eine stützende und leitende Hand in gewissen Aufgaben im Leben bietet. Ob ich einen Bezug zu ihm habe, weiß ich nicht, dafür hat er mich in meinem Leben zu oft im Stich gelassen. Es ist mir nicht vorbestimmt, etwas für mich Bestimmtes zu machen, wofür ich geboren wurde. Ich bin ebenfalls der Meinung, dass ich meinen Eltern danke für meine Existenz und nicht Gott. Das ist für mich vernünftig; der Glaube spielt dabei keine Rolle. Der Glaube spielt in meinem Leben heute eine größere Rolle als früher. Meine Familie ist kaum gläubig und hat mir den Glauben kaum vermittelt. Durch den Schulwechsel an ein katholisches Internat, die Traditionen und Regeln und die Identität der Gruppe dort hat sich ein größerer Bezug aufgebaut. Ich glaube jetzt mehr und es gehört zu mir, Gott als einen Zuhörer anzusehen, allerdings würde ich behaupten, dass der Glaube mich nicht beschreibt und ausmacht. Ich glaube an Gott, ja, aber mein Glaube, den ich ihm schenke, ist eingeschränkt und basiert nur auf wenigen mir erklärbaren, logischen Sachen.« Hinter diesen Sätzen ist Erfahrung spürbar. Nicht der Inhalt einer Religionsunterrichtsstunde wird wiedergegeben, sondern eigene Überlegungen. Der Satz: »Ob ich einen gewissen Bezug zu ihm habe, weiß ich nicht, dafür hat er mich in meinem Leben zu oft im Stich gelassen«, hatte mich betroffen gemacht. Noch ist das Subjekt Gott. Das »Eli, Eli, lema sabachtani?«, das »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?« (Matthäus 27,46) klingt durch. Ohne den Anfang einer Gotteserfahrung kann ich mich nicht von ihm »im Stich 297 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
V Begegnung und Haltung
gelassen« wissen. Einmal war eine Schülerin dabei, die sich beim Chorgebet immer auf den letzten Stuhl in der letzten Reihe unserer Gästekapelle setzte. Weiter weg ging es nicht; sonst hätte sie draußen vor der Kirche gestanden. Für sie war dieser Platz der richtige, genau an der Nahtstelle zwischen innen und außen. Sie erzählte mir ihre Geschichte: Enttäuschungen, was den Glauben angeht, in der Familie, das Zusammenbrechen der Jugendarbeit in der Gemeinde, als eine begnadete Pastoralarbeiterin in Rente ging usw. Das Leben hatte eine andere Wende genommen. Sie schrieb: »Der Freundeskreis hat mir das ersetzt, was die Gemeinde für mich war, Halt und Rückhalt in der Gesellschaft. Der Faktor Glaube war ohne Gemeinde nicht möglich. Andere Dinge haben dann mein Leben gefüllt: Freundeskreis, Jungs/Liebe, Pubertät, Alkohol/Party, und haben den Gedanken an Gott verdrängt.« Für sie war früher die Kommunion der Höhepunkt der Messe gewesen, »wenn man ganz allein mit Gott ist und die Augen schließt, die Hände auf die Augen legt und dann zu Gott, der ganz nah ist, spricht«. Um dem Anderen gerecht zu werden, muss ich mich in ihn hineinfühlen, ihn wahrnehmen, wie er nun mal gerade vor mir ist. Nicht nur das Gesagte ist wichtig, sondern auch, wie er sich in seinem Da-Sein, in seinem Körper, durch seinen Leib, in seinen Bewegungen und Blicken mitteilt. Er ist der Andere, der zunächst einfach da ist. Er ist vor mir gegenwärtig auf eine fast unerschöpfliche Weise im Zusammenspiel zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem, Innen und Außen. Ich erahne stets mehr als das, was sich mir gerade erschließt. Ich muss stets auf der Hut sein, nichts voreilig zu deuten. Die vorrangige Frage ist, unter welchen Bedingungen es mir gelingt, als glaubender Mensch mein Leben so zu gestalten, dass ich dadurch in meinem Mensch-Sein Echtheit und Glaubwürdigkeit verkörpern kann. Die Glaubensvermittlung lebt von der echten Begegnung. Im Vordergrund steht die Erfahrung und nicht zunächst das 298 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Wegweisung für die Gottesbegegnung
Wissen. Die existentielle Berührung, die den Charakter des Unwiederholbaren trägt, lässt eine Tür für das »Mehr« offen. Jede Begegnung ist einmalig und ruft eine Entscheidung hervor. Ich bin mein Leben, ich bin mein Glaube, ich bin die oder der, für die oder den Gott real ist. So kann der Mensch, der die Aufgabe hat, das Evangelium zu verkünden, von Gott wie von einem »Du« erzählen. Gott ist kein »Es«, keine Sache, kein Inhalt einer Unterrichtsstunde. Er ist der, durch den mein Leben das geworden ist, was es heute ist. Deshalb wird der Zeuge zum Sprachrohr einer anderen Dimension, die sich durch ihre bloße Existenz für andere aufschließt. Gott wird dann zumindest in der Form einer Anfrage erlebbar. Wenn der Mensch, der vor mir steht, von Gott sprechen kann, wenn er sagt, dass er mit Ihm lebt, muss es Ihn doch geben, auch wenn ich selbst vielleicht noch nicht recht weiß, wer dieser Gott ist. Als Benediktinerin habe ich auf die Mutterschaft im natürlichen Sinn verzichtet. Ein besonderes Geschenk ist es deshalb, wenn ich im geistlichen Sinn Mutter werden darf. Eine ähnliche Erfahrung machen Priester, die zu geistlichen Vätern werden, aber auch Laien, die andere auf einem geistlichen Weg begleiten. Stets ist es der Andere, der kommt, der diese Fähigkeit hervorruft. Man macht sich nicht selbst zum geistlichen Begleiter, man wird durch den Anderen dazu gemacht. Die Entdeckung des eigenen Selbst geschieht oftmals im Spiegel der Blicke der Anderen. Unverwechselbare Augenblicke der Verfestigung des eigenen Seins geschehen im Wandel der Beziehung. Seit einigen Jahren darf ich drei Studenten auf ihrem Lebens- und Glaubensweg begleiten. Sie sind mir gewissermaßen zu geistlichen Söhnen geworden. Einer von ihnen, ein Chemiestudent, schenkte mir vor zwei Jahren eine einfache Bleistiftskizze, ein Selbstporträt. Martin hatte 2008 bei Besinnungstagen mit dem Gymnasium nach eigener Auskunft »seinen Glauben hier wieder gefunden«. Was hatte er eigentlich verloren? Nicht einen Inhalt, der ihm im Religionsunterricht 299 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
V Begegnung und Haltung
vermittelt wurde, sondern die lebendige Beziehung dazu. Gott sagte ihm nichts mehr. Er war einfach »weg«, wie Gegenstände, die man bei einer Reise vergisst oder verliert. Beim Betrachten der Zeichnung sehe ich, wie der Junge zu sich selbst erwacht. Wenige Striche deuten auf einen wachsenden Bart hin. Die halb geöffneten und doch leuchtenden Augen und das Lächeln weisen auf ein inneres Glück. Um den Hals trägt er an einer Lederschnur das kleine Holzkreuz, das er in unserem Kloster bekommen hatte. Die Zeichnung entstand innerhalb einer halben Stunde am späten Osterabend, schrieb mir Martin. Er steht in einem Türrahmen, an der Schwelle zweier Welten. Der Junge wird zum Mann, der Schüler, der seinen Glauben verloren hatte, hat nun als Student zum dritten Mal die Osternacht in unserem Kloster gefeiert und mit der brennenden Kerze in der Hand und mit voller Stimme Glaubensbekenntnis und Taufversprechen gesprochen. Martin möchte das kleine Kreuz nur dann tragen, wenn er sich wirklich zu seinem Glauben bekennen kann, d. h. wenn er im Innern im Einklang mit der damit ausgedrückten Wirklichkeit steht. Es ist das Zeichen seiner geistlichen Identität als Christ. Unvorstellbar ist es, dass das Zeichen auf »nichts« verweist. Das existentielle Ringen Martins geht mit einer geheimnisvollen Zuversicht einher: »Ja, Rückschläge sind immer dabei, das musste ich im letzten Jahr das erste Mal in meinem Leben auf die harte Tour feststellen. Aber daraus habe ich gelernt, und bin mir sicher, es kommen noch weitere von der Sorte; aber mit guten Freunden und Menschen wie dir, die einem Rückhalt geben, kann man alles meistern, man muss es nur wollen. Das und mein Glaube gibt mir in schweren Momenten, die es ja immer mal wieder gibt, Kraft und Zuversicht.« (…) Und ich merke immer, wenn ich an Gott denke, dass ich mich bestärkt und bestätigt fühle, das zu tun, was notwendig ist. Der Glaube gibt mir weiterhin sehr viel Kraft. Wie in der Geschichte von den Fußspuren im Sand. Ich durchlebe zwar eine für mich schwere Zeit, aber ich weiß, ich bin nicht alleine.« 300 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Wegweisung für die Gottesbegegnung
Solche Zeilen stellen einen dauernden Anspruch an alle Prediger, aber auch an alle geistlichen Gemeinschaften. Es zeigt sich, dass eine geistliche Identität nur an geistlichen Gestalten herangebildet werden kann und dass sie von eigenen Erfahrungen genährt werden muss. Konkrete Orte und konkrete Menschen werden gebraucht, an denen man in verdichteter Form Glauben erfahren und erlernen kann. Die Integration von Enttäuschung bei der Konfrontation mit dem Erleben von Versagen derer, die gerade diese Vorbildfunktion haben, wird dennoch in keinem Leben ausbleiben und auch zum Weg und Prüfstein der eigenen geistliche Reife. »Wir brauchen Vorbilder, an denen wir uns ausrichten können«, sagte mir vor kurzem ein Theologiestudent, der selbst aufgrund tiefer Enttäuschung das Priesterseminar verlassen hatte. Nicht bloßes Wissen wird vermittelt, sondern eine Gesamthaltung, die die eigene Existenz prägt, wird durch Leitbilder veranschaulicht. Benedikt schreibt über den Abt: »Er mache alles Gute und Heilige mehr durch sein Leben als durch sein Reden sichtbar. Einsichtigen Jüngern wird er die Gebote des Herrn mit Worten darlegen, hartherzigen aber und einfältigeren wird er die Weisungen Gottes durch sein Beispiel veranschaulichen. In seinem Handeln zeige er, was er seine Jünger lehrt.« (Benediktsregel 2,12–13) Wenn diese Veranschaulichung ausbleibt, wird geistliches Wachstum beeinträchtigt. Woran erkennt man »geistliche« Menschen? Vielleicht an ihrem Sinn für das Unsichtbare, für das Feine und Verborgene, das Gott, der deus absconditus, heute noch wirkt. Sie besitzen ein feines Gehör für Gott und lieben die Stille. Das Wort Gottes gleicht einem »gestohlenen Wort«, einem »Geflüster« (Ijob 4,12). Geistliche Menschen sind in der Lage, jene Spuren zu entziffern, die aus »Zeichen und Wundern« (vgl. u. a. Apostelgeschichte 5,12) bestehen. Es sind heute jene Fügungen, hinter denen man die Hand Gottes vermuten darf. Thomas von Aquin und nach ihm die Scholastik sprechen von »signa cum locutione«, d. h. von Zeichen, die wie Reden sind. 72 Sie erken301 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
V Begegnung und Haltung
nen die Gegenwart Gottes, wo andere ihn nicht vermuten. Geistliche Menschen wissen, dass der Geist Gottes »weht, wo er will« (Johannes 3,8). Sie verbergen eher ihr Antlitz, wenn sie wie der Prophet Elija vor der Höhle, in der er Zuflucht gesucht hatte, nach Sturm, Erdbeben und Feuer »ein sanftes, leises Säuseln« wahrnehmen (1. Buch der Könige 19,12). Geistliche Menschen werden von Gott berufen. Zu allen Zeiten erwählt er einzelne Menschen, und zwar wie die Heilige Schrift es zeigt, immer »wen er will«. Sie sind Wegbereiter wie Johannes den Täufer, und verweisen auf den, »der kommen soll« (Lukas 7,20). Wenn ihre Zeit zu Ende ist, verstehen sie es auch wieder zurückzutreten. Denn auch sie können sprechen: »Er muss wachsen, ich aber muss kleiner werden« (Johannes 3,30). Diese Gestalten leuchten im Verborgenen weiter, wenn das machtvolle und wegweisende Wort sich in die Stille zurückzieht. Papst Benedikt setzte mit seinem unerwarteten Rücktritt im Februar 2013 ein Zeichen, das innerhalb und außerhalb der Kirche gewürdigt wurde. In einem Interview hieß es: mit der Begründung: »Gott hat es mir gesagt …« 73. Das Abgeben von Würde und Bürde des Amtes zeigt, dass er sich als Verwalter und nicht als Besitzer betrachtet, der über die angemessene, ihm zugemessene Zeit hinaus an einer »Position« festhält. Benedikt XVI. hat wie kaum ein anderer Geistlicher die Kirche und die Theologie des 20. und 21. Jahrhunderts als Priester, Bischof, Papst, Theologieprofessor, Schriftsteller geprägt. Er hinterlässt mit dem bewussten Verzicht auf das Amt ein Zeugnis, das mehr wiegt als viele lehramtliche Verlautbarungen. Wenn Johannes Paul II. gesagt haben soll: »Es gibt keinen Ort für einen emeritierten Papst«, dann hat Benedikt XVI. diesen Ort geschaffen, und zwar innerhalb der sichtbaren Grenzen des Vatikanstaats. Die Kirche des 21 Jahrhunderts erlebt zum ersten Mal einen Papst, der die Stille, das Gebet, das Schweigen und den Rückzug zu wesentlichen Merkmalen seiner sichtbaren Präsenz macht. Vielleicht ist es das deutlichste Kennzeichen von Men302 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Wegweisung für die Gottesbegegnung
schen, die vom Geist Gottes erfüllt sind: die Fähigkeit und Bereitschaft, in ihrem Sein und Handeln, in ihrem Tun und Lassen auf die Größe dessen, der sie berufen hat, hinzuweisen. Sie singen mit dem Psalmisten: »Nicht uns, o Herr, bring zu Ehren, nicht uns, sondern deinen Namen, in deiner Huld und Treue!« (Psalm 115,1) Die souveräne Geste unserer Äbtissin am Tag ihres Rücktritts, als sie den Hirtenstab mit der silbernen Krumma auf den Altar unserer Kirche legte und dann allein durch die Tür hinausging, hat sich mir tief eingeprägt. Die Gemeinschaft, die sie mehr als 20 Jahren geleitet und geprägt hatte, würde auch ohne sie ihre Zukunft meistern. Sie wollte nach ihrem eigenen Ausdruck den Weg dafür »frei machen«. Wir sind auf Gott angewiesen, auf seinen Beistand, auf seinen Ruf. Das Gegenteil, das Festhalten an Aufgaben und Ämtern, auf die Möglichkeit, Einfluss auszuüben, führt zur Verengung und nicht zu einem »Mehr« an Leben, das für das Leben im Heiligen Geist charakteristisch ist. Geistliche Menschen können nur selbst durch geistliche Menschen geprüft werden, denn es heißt: »Wer von den Menschen kennt den Menschen, wenn nicht der Geist des Menschen, der in ihm ist? So erkennt auch keiner Gott – nur der Geist Gottes« (1. Korintherbrief 2,11). Sich hineinfühlen in die Welt derer, die von außen ins Kloster kommen und hier auf Menschen stoßen, für die Gott eine große Selbstverständlichkeit besitzt, bringt Bewegung in das eigene Gottesbild und in die eigene Beziehung zu Gott. Gott schlummert oft im Boot der vertrauten Vorstellungen, Texten und Riten seiner Kirche. Menschen, die auf der Suche sind, vermögen es, ihn zu wecken. Die Wegweisung für die Gottesbegegnung ist niemals ein einseitiges Geschehen.
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V Begegnung und Haltung
Anmerkungen Zwischen »Bedingung« und »Begriff« im Lexikon philosophischer Grundbegriffe der Theologie (Freiburg 2003), zwischen »Bedürfnis« und »Begriff« im Philosophischen Wörterbuch (Berlin 1972), zwischen »Befindlichkeit« und »Bewusstsein« im Lexikon des Existentialismus und der Existenzphilosophie (Darmstadt 2007) taucht er nicht auf. Im großen Historischen Wörterbuch der Philosophie von 1971 suchen wir ihn zwischen »Begabung« und »Begehren« vergeblich, ebenso im Kleinen philosophischen Wörterbuch (Herder 1971) zwischen »Bedingung« und »Begriff« und in Metzlers Philosophie-Lexikon von 1996 zwischen »Befindlichkeit« und »Begehren«. 2 Wörterbuch der phänomenologischen Begriffe, hrsg. von H. Vetter unter Mitarbeit von K. Ebner und U. Kadi, Hamburg 2004. 3 Lexikon des christlichen Glaubens, hrsg. von E. Biser, F. Hahn, M. Langer, München 2003, S. 47. 4 Wörterbuch der philosophischen Begriffe, hrsg. von Johannes Hoffmeister, Hamburg 1955. 5 Brief an die Autorin, 10. 02. 2009. 6 R. M. Rilke, Gesammelte Werke, Frankfurt 1966, S. 117. 7 O. F. Bollnow, Begegnung und Bildung, in: R. Guardini und O. F. Bollnow, Begegnung und Bildung, Würzburg 1960, S. 39. 8 K. Löwith, Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen, Freiburg / München 2013, S. 102 ff. 9 R. Guardini, Begegnung, in: R. Guardini und O. F. Bollnow, Begegnung und Bildung, Würzburg 1960, S. 13. 10 Ebd., S. 13. 11 M. Buber, Urdistanz und Beziehung, Beiträge zu einer philosophischen Anthropologie, Heidelberg 1978, S. 24. 12 Ebd., S. 31. 13 M. Buber, Das dialogische Prinzip, Ich und Du, Zwiesprache, Die Frage an den Einzelnen, Elemente des Zwischenmenschlichen, Heidelberg 1965, S. 110–111. 14 Ebd., S. 215. 15 Ebd., S. 15. 16 C. Schütz, Verborgenheit Gottes. Martin Bubers Werk. Eine Gesamtdarstellung, Zürich 1975, S. 213. 17 R. Guardini, Begegnung, in: R. Guardini und O. F. Bollnow, Begegnung und Bildung, Würzburg 1960, S. 19. 18 Ebd., S. 15. 19 M. Buber, Ich und Du, Heidelberg 1965, S. 65. 1
304 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Anmerkungen Ebd., S. 110–111. Ebd., S. 108. 22 Ebd., S. 10–11. 23 R. Schaeffler, Brief an die Autorin, 10. 02. 2009. 24 R. Schaeffler, Fähigkeit zum Glück, Zürich 1977, S. 31. 25 B. Haneberg, Leib und Identität. Die Bedeutung der Leiblichkeit für die Bildung der sozialen Identität, Würzburg 1995, S. 23. 26 Ebd., S. 25. 27 Ebd., S. 57. 28 H. Schmitz, Phänomenologie der Leiblichkeit, in: Leiblichkeit, Paderborn 1985, S. 92–93, zitiert nach: B. Haneberg, Leib und Identität. Die Bedeutung der Leiblichkeit für die Bildung der sozialen Identität, Würzburg 1995, S. 27. 29 B. Haneberg, Leib und Identität. Die Bedeutung der Leiblichkeit für die Bildung der sozialen Identität, Würzburg 1995, S. 29. 30 Ebd., S. 61. 31 E. Schillebeeckx, Personale Begegnung mit Gott, Mainz 1964, S. 62– 63. 32 Ebd., S. 64. 33 B. Haneberg, Leib und Identität. Die Bedeutung der Leiblichkeit für die Bildung der sozialen Identität, Würzburg 1995, S. 41. 34 E. Erikson, Identität und Lebenszyklus, Frankfurt 1991, S. 72. 35 B. Haneberg, Leib und Identität. Die Bedeutung der Leiblichkeit für die Bildung der sozialen Identität, Würzburg 1995, S. 59. 36 Ebd., S. 71. 37 Ebd., S. 80. 38 Ebd., S. 118. 39 M. Buber, Ich und Du, Heidelberg 1965, S. 110–111. 40 M. Buber, Urdistanz und Beziehung. Beiträge zu einer philosophischen Anthropologie, Heidelberg 1978, S. 35–36. 41 M. Buber, Urdistanz und Beziehung, S. 36. 42 M. Buber, Urdistanz und Beziehung, S. 37. 43 Französisch: Visage. Es gibt kein anderes Wort für die Übersetzung von Gesicht und Antlitz. Vgl. dazu Anmerkung m bei E. Lévinas, Wenn Gott ins Denken einfällt. Diskurse über die Betroffenheit von Transzendenz, Freiburg / München 1985, S. 208–209. 44 E. Lévinas, Wenn Gott ins Denken einfällt. Diskurse über die Betroffenheit von Transzendenz, Freiburg / München 1985, S. 216. 45 Ebd., S. 39. 46 Ebd., S. 221–222. 47 Ebd., S. 66. 48 Ebd., S. 213. 20 21
305 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
V Begegnung und Haltung E. Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, Freiburg / München 1987, S. 216. 50 E. Lévinas, Wenn Gott ins Denken einfällt, S. 115. 51 Ebd., S. 115. 52 Ausführliche Darlegung bei B. Schaller: »… denn er ist wie du«, Themenheft 2001, hrsg. v. Deutscher Koordinierungsrat der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit (DKR), Bad Nauheim. 53 E. Lévinas, Wenn Gott ins Denken einfällt, S. 213. 54 H. Müller, Leidenschaft – Stärke der Armen, Stärke Gottes, Mainz 1998, S. 166. 55 E. Lévinas, Wenn Gott ins Denken einfällt, S. 103. 56 Vgl. E. Lévinas, Wenn Gott ins Denken einfällt, S. 213. 57 Vgl. M. Schneider, Theologie als Nachfolge. Zur existentiellen Grundstruktur von Glaube und Theologie in Geschichte und Gegenwart, Köln 2007. 58 Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, München 1993, Art. 1990: »Die Rechtfertigung löst den Menschen von der Sünde, die der Liebe zu Gott widerspricht, und reinigt sein Herz … Die Rechtfertigung besteht … darin, daß man durch den Glauben an Jesus Christus die Gerechtigkeit Gottes aufnimmt.« 59 E. Lévinas, Wenn Gott ins Denken einfällt, S. 40. 60 E. von Dijon, Licht, das mich führt, Freiburg 1986, S. 139. 61 Übersetzung Abtei Mariendonk. 62 E. Lévinas, Die Zeit und der Andere, Hamburg 1989, S. 42. 63 Ebd., S. 43. 64 Ebd., S. 43 f. 65 Ebd., S. 47. 66 Ebd., S. 47. 67 Ebd., S. 49. 68 M. Scheler, Zur Rehabilitierung der Tugend, Zürich 1950, S. 46. 69 Ebd., S. 46. 70 K. Berger, Jesus, München 2007, S. 101. 71 Dies beweist z. B. eine rezente Studie über die Motivation von jüngeren Ordensmitgliedern, in einen Orden einzutreten, vom Center for Applied Research in the Apostolate Georgetown University Washington DC 2009. http://www.nrvc.net. 72 Thomas von Aquin, Kommentar zu Psalm 50, n. 5 (www.corpus thomisticum.org/): »Donum prophetiae assimilatur auditui, quia propheta non videt Dei essentiam, ut in ea videat revelata, sed quaedam signa veritatis revelatae fiunt in anima prophetae, et haec signa habent se per modum locutionis …« 49
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Anmerkungen http://www.welt.de/politik/ausland/article119248451/Benedikt-XVIGott-hat-es-mir-gesagt.html: »Joseph Ratzinger hat sein Amt als Papst Benedikt XVI. im Februar aus einem ganz simplen Grund abgegeben: »Gott hat es mir gesagt.« Das soll er einem Besucher während eines privaten Gesprächs anvertraut haben, berichtet die katholische Nachrichtenagentur Zenit in ihrem Internetportal.
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Heute Gott suchen – Aufgaben und Antwort – 12 Thesen
Wozu diese »Einführung und Einübung in eine Spiritualität der Wahrnehmung«? Die Suche nach Gott vollzieht sich heute in einer doppelten Bewegung. Der Mensch sucht das wahrhaft Eine, weil er letztendlich in der Zerrissenheit des Vielerlei nicht daheim sei kann. Der wahrhaft Eine ruft ihn, weil Er zutiefst ein Liebender ist und die Liebe sich nicht selbst genügt. Die Wahrnehmung Gottes ist ein intentionales Geschehen und die ursprüngliche »Intention« geht dabei von Gott aus. »Die erste ›Intentionalität‹ der Transzendenz: jemand sucht mich«, schreibt Lévinas. 1 Erste Aufgabe des Menschen ist es, die »Stimme verschwebenden Schweigens« (1. Buch der Könige 19,12), wie Buber übersetzt, zu hören, um antworten zu können und dann in der Antwort wirklich präsent zu sein. Gott selbst ergreift die Initiative. Es kommt darauf an, zu lauschen, zu erspähen, auf den zu warten, der sich in der souveränen Freiheit der Gestalt zeigen will. Gott gibt sich zu verschiedenen Zeiten in unterschiedlichen Gestalten zu erkennen: bei Nacht als Feuersäule, bei Tag als Wolkensäule, heißt es im Buch Exodus (13,22).Sie war dem wandernden Volk Gottes gegeben, »als Führerin auf unbekanntem Weg, als freundliche Sonne auf seiner ruhmvollen Wanderung« (Weisheit 18,3). Wie in der Geschichte des Volkes Israel nimmt der unsichtbare Gott auch in der Geschichte unseres Lebens verschiedene »Gesichter« an. Ein Gespür dafür zu entwickeln, ist der wahre Sinn des Ausdrucks »die Zeichen der Zeit erkennen und deuten« 2. Mit gemeint ist der Sinn für 308 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Demut – Offenheit – Aufgaben – 12 Thesen
das Neue und Unvorhersehbare, das der Geist Gottes von Generation zu Generation wirkt. Ebenso wichtig ist das Bewahren dessen, was erprobt wurde, in Fleisch und Blut übergegangen ist und weiter tragen wird. Wenn wir bei unserem Bild von einer sich wandelnden Gestalt in unterschiedlichen Zeiten bleiben, dann heißt jener Feuersäule und jener Wolke folgen nicht, eine genaue »Gebrauchsanweisung« umsetzen. Dafür wäre so etwas wie die Unterscheidung der Geister nicht erforderlich. Gottes Handeln an uns zeigt sich auf je andere Weise: – In einer von fremden Göttern und Götzen bestimmten Umwelt gibt Er sich in der Gestaltlosigkeit von Feuer und Donner zu erkennen: »Eine Gestalt habt ihr nicht gesehen. Ihr habt nur den Donner gehört.« (Deuteronomium 4,12) – In einer von unzähligen Gesetzen und Rechtsvorschriften überladenen Religion werden zwei zentrale Gebote hervorgehoben: »Ihn mit ganzem Herzen, ganzem Verstand und ganzer Kraft zu lieben und den Nächsten zu lieben wie sich selbst ist weit mehr als alle Brandopfer und anderen Opfer.« (Markus 12,33) – In einer von Macht, Gewalt und Krieg beherrschten Zeit kommt er in der Wehrlosigkeit eines Neugeborenen, der in einer kleinen Stadt von Judäa namens Bethlehem in einer Krippe lag. – In einer sexualisierten und egozentrischen Welt lässt sich Gott in der Keuschheit der ehelichen genauso wie der ehelosen Liebe berühren. Wenn Medien und Werbung die Mann-Frau-Beziehung oft auf eine hedonistische, plakative Karikatur des Eros reduzieren, wird die leise Präsenz Gottes in der Agape und in der Philia, in einer selbstlosen und treuen Liebe, spürbar. – In einer lauten, von Hektik geprägten Zeit wartet Er in der Stille auf uns. 309 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Gottsuche – Ruf – Antwort – Gabe.
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Im Überfluss der Konsumgesellschaft begegnen wir Ihm in den Armen und dort, wo wir Verzicht üben; denn Verzicht schafft Freiheit und Weite. Im unersättlichen Drang nach Neuem – einem weiteren Merkmal der Eventgesellschaft – wird Er im alten, nie abgenützten Wort der zweitausend und mehr Jahre alten Bibel aufleuchten. Gott ist nicht jung oder alt. Er ist; das heißt Er ist auch dort, wo wir Ihn nicht erwarten und nicht suchen.
Zur Spiritualität der Wahrnehmung gehört die Komponente von Bekehrung und Askese. Umkehr meint die nie abgeschlossene Urbewegung des Glaubens: »Zieh weg aus …« (Genesis 12,1), so der Ruf an Abraham. Gerne richten wir uns in vertrauten Haltungen und erprobten Strategien ein. Allzu gerne verteidigen wir unser Profil und halten das bisher Erreichte für die endgültige Gestalt. Gott jedoch ist uns immer voraus und wartet auf uns, auch in der Gestalt des Anderen, des modernen Menschen, der uns zum Rätsel geworden ist, weil er in einer Welt ohne Gott anscheinend bestens zurechtkommt. Der Schmerz der Abwesenheit Gottes, der bis in die Mitte der Kirche dringt und der stumm bleibt, weil wir zu laut geworden sind, kann zum Ansporn werden, Ihn noch intensiver zu suchen und nach Ihm zu fragen. »Sucht ihr mich, so findet ihr mich. Wenn ihr von ganzem Herzen nach mir fragt, lasse ich mich von euch finden – Spruch des Herrn.« (Jeremia 29,13 f.). Askese heißt vor allem bewusster Verzicht auf Rezepte und Maßnahmen, die schnelle Erfolge herbeiführen sollen, wie eine rasche Wende bei den Kirchenaustritten oder eine spektakuläre Steigerung der Gottesdienstbesucherzahlen. Die Logik des Reiches Gottes ist anderer Art. Sie ist durch direkten Zugriff per Umfrage und Statistiken nicht zu erfassen. Jesus spricht vom Himmelreich in Gleichnissen. »Mit dem Himmelreich ist es wie mit dem Sauerteig, den eine Frau unter einen großen Trog Mehl mischte, bis das Ganze durchsäuert war« (Matthäus 13,33). Es geht natürlich nicht um eine Abschaf310 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Demut – Offenheit – Aufgaben – 12 Thesen
fung des kostbaren Glaubenswissens der Tradition, sondern nur um den Hinweis, dass es auch gut und christlich sein kann, zunächst einfach unter den Unwissenden zu verweilen, ähnlich wie die Freunde Ijobs, die zu ihm kamen und erst einmal sieben Tage und sieben Nächte schweigend bei ihm ausharrten (vgl. Ijob 2,13). Es gibt Zeiten, zu denen man sieht, und andere Zeiten, zu denen man nichts sieht. Ein länger ausgedehntes Schweigen ist der beste Mutterboden für das gesprochene Wort. Spiritualität der Wahrnehmung versteht sich als Antwort auf einen Ruf: Aus der unüberschaubaren und komplizierten Welt von heute steigt die Sehnsucht nach einer Spiritualität empor, die den geistlichen Hunger der Menschen sättigen kann. Der hier gegebene Antwortversuch wird aus diesem Ruf geboren. Der Ruf selbst wird allerdings nur in der Antwort »gegeben«, bemerkt Heidegger. 3 Es ist der Ruf, der mich ereilt und der meine Antwort herausfordert. Die erste Entscheidung bestand darin, den Ruf als Ruf wahrzunehmen. Jeder Gerufene läuft Gefahr, zwar den Ruf zu hören, aber davor wegzulaufen und allein zu bleiben. Wer berufen ist, kann nicht anders als diesem Ruf zu folgen und sich ihm anzuvertrauen. Alles andere wäre Verrat. Der Rufende gib sich nur dem Gerufenen zu erkennen und verbirgt sich hinter dem Ruf. Deshalb kann sich der Ruf auch als illusionäres Produkt der eigenen Phantasie erweisen. 4 J.-L. Marion sagt in einer Besinnung auf das Verhältnis von Ruf und Antwort, dass »der Ruf eine abstraktformale Bestimmung der Subjektivität in der Phänomenologie [bleibt …]. Der Ruf hat keine theologische Dimension, er ist ganz neutral.« 5 Hier trennen sich unsere Wege. Aus unserer Sicht wird sich der Rufende dadurch zu erkennen geben, dass sein Ruf den Gerufenen auch irgendwohin führt. Wer seinen Namen hört, setzt sich in Bewegung und sucht: Wer (nicht was) hat mich gerufen? Es ist der Anfang einer Suchbewegung, die wir 311 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Gottsuche – Ruf – Antwort – Gabe.
Gottsuche nennen können. Deshalb kommt der Ruf (appel) in Gestalt einer unverdienten und unverlierbaren Gabe, die erst einmal nur der wahrnimmt, der sie empfängt. Diese ungeschuldete Gabe zeigt sich im Überschuss des Gegebenen, das den Horizont und das »Je« jeder Gabe (donation) sprengt, so J.-L. Marion in seiner Phänomenologie der Gabe, besonders in Etant-donné. 6 Deshalb ist die Antwort selbst immer nur in der Gestalt und Haltung des Empfangens möglich. Sie verlangt Hingabe, bevor sie sich in der Gestalt der Wiedergabe konkretisiert. »Der Exzess des Gegebenen gegenüber der Antwort hat nicht nur eine Blendung des Empfangenden zur Folge, sondern demütigt ihn auch […]. Der Gerufene empfängt den Ruf als Hingegebener (adonné) in seiner Antwort.« Die Gabe ist Ruf und Begegnung zugleich. J.-L. Marion weist darauf hin, dass dieser »Ruf als Geschehen ein unvorhergesehenes Ereignis ist […]. Deshalb ist die Erfahrung des Gerufenseins so schrecklich. Es braucht eine Entscheidung […]. Der Kern des Problems liegt in der Identität des möglichen Rufenden.« 7 Der Ruf ist also anscheinend doch nicht so neutral. Vor dem Rufenden, dem ich mich in der Antwort zuwende oder von dem ich mich vielleicht auch allzu gerne abwenden möchte, wird die Antwort immer kleiner »erscheinen« und unzulänglicher ausfallen. Davor blieben auch die verschiedenen erwähnten Autoren nicht verschont. Die Wahrnehmung des Rufes bedeutet Verlust der Autonomie und deshalb Verletzung meiner Integrität. Wer sich auf eine Spiritualität der Wahr-nehmung einlässt, muss mit diesem Verlust an Selbstbestimmung rechnen. Er nimmt etwas wahr, das wie jede Wahrheit einen ungeheuren Anspruch stellt und nach einer grundlegenden Entscheidung »ruft«. Wer Gott als Gott wahrzunehmen beginnt, kann nicht damit rechnen, ungeschoren mit heiler Haut davonzukommen. Biblische Gestalten zeigen es uns: Die Gottesbegegnung bedeutet für Jakob Verwundung an der Hüfte, für Paulus vorübergehende Blindheit, für Zacharias Verstummen. Andere spüren eine solche 312 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Demut – Offenheit – Aufgaben – 12 Thesen
Verwundung an verborgenen Stellen, die nur sie selbst kennen. Wie äußert sich diese Bereitschaft zum Verlust der von uns Menschen so hochgeschätzten Autonomie, des als selbstverständlich betrachteten Bestimmungsrechts über das eigene Leben, das zur Abschaffung der Sklaverei und der Leibeigenschaft geführt hat? Max Scheler, der als Philosoph und nicht als Moraltheologe für eine Rehabilitierung der Tugend plädiert, bringt es auf den Punkt, wenn er sagt, dass es um den Mitvollzug einer göttlichen Bewegung von oben nach unten, um eine Kenosis, ein Leer-Werden, das zugleich Erniedrigung bedeutet, geht. »Indem wir diese Bewegung mitvollziehen und, all unser Selbst, all seinen möglichen Wert und seine Achtbarkeit und Würdigkeit, die der Stolze fest umklammert, loslassend, uns selbst wahrhaft ›verlieren‹, uns ›dahingeben‹ – angstlos, was hierbei mit uns geschehe –, aber dunkel vertrauend, es könne der Mitvollzug jener göttlichen Bewegung als einer ›göttlichen‹ auch uns nur zum Heile dienend – sind wir ›demütig‹. Auf das echte ›Loslassen‹ unseres Selbst und seines Wertes […] kommt es an!« 8 Ist dieser Abstieg nur »bildlich« zu verstehen? Ist er eine bloße Metapher? Keineswegs! Das »Folge mir nach« Jesu ist nicht ohne das »Er verleugne sich selbst« zu haben. Wie geschieht das? Durch die alltägliche Einwilligung in die Pläne, die Gott mit mir hat. Im »Ja-sagen« zur Wirklichkeit, wie sie ist. Erst in der Annahme und Bejahung dieser Wirklichkeit wird Verwandlung möglich. Wer das Unrecht leugnet, wird sich nicht für die Menschenrechte einsetzen. Das Leben des Einzelnen soll so gestaltet werden, dass es eine verantwortete Antwort auf einen Ruf, der ihn ereilt, wird. Allein die Demut lässt die Antwort als Antwort erscheinen. Sie lässt dem Ruf den Vorrang. Sie gehorcht der Gesetzmäßigkeit jeder Antwort, des »responsiven Handelns«, nach der einprägsamen Formulierung von B. Waldenfels. Sie achtet auf das Eigene der Personen, ob »Juden oder Griechen«, auf den Einzelnen, auf die 313 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Gottsuche – Ruf – Antwort – Gabe.
Umstände, auf Zeit und Stunde. Sie kann zum stummen und doch beredten Zeichen werden, wie in der Szene der Begegnung Jesu mit den Wortführern und Gesetzeslehrern seiner Zeit. Er zog es vor, »mit dem Finger auf die Erde zu schreiben«, statt eine brillante Auslegung des Gesetzesartikels zum Fall »Ehebruch« zu geben (vgl. Johannes 8,6). Fehlt die grundlegende Bereitschaft zum Hören, zum Wahrnehmen der Antwort, dann ist es besser, das Reden zu meiden und Wege der non-verbalen Kommunikation zu gehen. Bei der Rede von Gott ist Zurückhaltung und Vorsicht geboten. Sie darf uns nicht zu schnell über die Lippen gehen, denn nicht nur Gelehrte wie E. Rosenstock-Huessy, sondern auch einfache Menschen nehmen Anstoß daran, wenn Theologen »sich von den Zehn Geboten dispensieren und den Namen Gottes so unnütz im Munde führen […]. Von Gott darf ich nur reden, solange ich fühle, dass er mich auch in diesem Augenblick blamieren kann, oder dass ich mich vor ihm blamieren kann.« 9 Deshalb darf in der Rede von Gott das Moment des Innehaltens niemals ausgeklammert werden. Es lohnt sich, das Fieberhafte an sich zu erspüren und zum Schweigen zu bringen. Die Benediktsregel gibt im Kapitel über die Demut die Anweisung, dass »der Mönch seine Zunge vom Reden zurück hält, in der Schweigsamkeit verharrt und nicht redet, bis er gefragt wird« (7,56). Wie lange dieses Schweigen dauern kann, wird nicht gesagt. Es geht um die lebenslange Einübung in eine Haltung, bis einer kommt und nach der Hoffnung fragt, die uns erfüllt. »Und wenn keiner mehr kommt?«, lautet die ängstliche Frage des Pastoraltheologen. Die Mönchsväter geben eine Antwort, die nicht überholt ist: »Bleibe in deinem Kellion (Mönchszelle) und es wird dich alles lehren.« So wird Theologie wieder aus einer »spirituellen Erfahrung erwachsen« 10. Denn »im Gebet verschieben wir das Zentrum des Lebens vom Selbstbewusstsein zur Selbsthingabe«, schreibt eine Frau, die selbst lange als Äbtissin einem Kloster vorstand. 11 314 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Demut – Offenheit – Aufgaben – 12 Thesen
Spiritualität der Wahrnehmung kennt kein Sprechen »über« Gott mehr. Sie knüpft an die kniende Theologie des Mittelalters an, in der das »Wissen über« von einem »Gespür für« begleitet wurde. Sie ist mehr eine Haltung, die es zu verwirklichen gilt, als ein Inhalt. Denn jedes Wissen von und jedes Reden über ist nur Annäherung an eine Wirklichkeit, die sich zeigt, und zwar gerade auch dadurch, dass sie sich uns entzieht. Was sich in der Erfahrung zu erkennen gibt, ist nicht eine abstrakte Theorie, sondern eine spürbare Wirklichkeit, von der die Existenz berührt worden ist. Dies widerfährt uns in der Wahrnehmung in einer Sinnlichkeit, die jeder Begrifflichkeit voraus ist. Ein Becher frischen Wassers bewirkt gelegentlich mehr als eine dogmatische Abhandlung. Eine leise Berührung oder ein Tanzschritt gleichen Vorlesungen, die in den verborgenen Hörsälen des Lebens gehalten werden. Wenn das Gespür für den Bedeutungsgehalt einer Glaubenswahrheit, eines Sakramentes, eines Symbols da ist, dann werden sie aufleuchten und bejaht werden können. Es braucht dafür nicht unbedingt »Profis«, wohl aber Menschen voller Achtsamkeit. Erst in der Zurückhaltung der eigenen Grundbewegungen auf den Anderen hin, die leicht übergriffig sein können, wird jener leere Raum entstehen, der so notwendig ist, damit die Antwort sich auch als Antwort entfalten kann. Aus dieser Haltung heraus wächst eine »Pastoral und Homiletik der leeren Hände«, die nur in der Demut gegründet sein kann. Demut ist der Weg des Vertrauens, des Loslassens der zu kleinen Insel des Ich. »Indem er kühn sich selbst entlässt – indem er das Ankertau zerschneidet, völlig zerschneidet, das die Welt in seinem Ich ausgeworfen hat –, fürchtet er nicht wie der andere, die Beute der stürmenden Wogen zu werden, sondern mit dem neuen Leben aus den Wurzeln der Dinge auch das innere Kraftspiel des Meeres noch zu sein und unverwundet es mit zu leben, dem er sich überlässt«, schreibt Max Scheler. 12 Dieses Sich-Überlassen geschieht ohne Anstrengung, in 315 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Gottsuche – Ruf – Antwort – Gabe.
Übereinstimmung mit der »gegebenen« Welt. Der Demütige baut sich keine eigene Welt auf. Er hat einen Ruf vernommen. Er weiß, dass allein der, der ihn ruft, auch die Kraft hat, das herbeizuführen, was seine Berufung beinhaltet. Er weiß, dass »häufig nicht die Anstrengung, sondern die Entspannung das Gewünschte herbeizuführen pflegt« 13. Er ist fähig den »eigenen Willen aufzugeben und etwas Höheres wirken zu lassen« 14. Zugabe zur Demut ist deshalb eine echte Gelassenheit, nicht als Gleichgültigkeit den Dingen gegenüber, sondern als Verzicht, sie in den Griff zu bekommen und über sie zu herrschen. Der Demütige hat eine Spiritualität von unten verinnerlicht. Seines ist es nicht, auf dem ersten Platz im grellen Schein von künstlichen Lichtern zu sitzen. Er drängt sich nicht selbst auf, er hat viel Zeit vor sich. Er weiß zutiefst, dass Gott, der von Ewigkeit her Zeit und Stunde bestimmt, anders rechnet als er selbst. Dem Demütigen gehört die Quelle nicht, aus der er trinkt. Eine unausrottbare Zuversicht, eine freudige Hoffnung erfüllt ihn. Vor Leid fürchtet er sich nicht. Er kann weinen und weiß, die Tränen reinigen auch sein Herz. Er kann abgeben, wenn die Zeit dafür gekommen ist. Er tut nichts aus Heldenmut und großartiger Tapferkeit, die in einer gelungenen »Performance« gekrönt wird. Er rechnet nicht damit, dass all seine Wünsche, Sehnsüchte und Vorstellungen im Diesseits erfüllt werden. Ihm sind alltägliche Geschenke, Berührungen des Unsichtbaren, Begegnungen in der Freude und im Leid Grund genug, Gott zu danken oder ihn anzuflehen. Die Wirklichkeit Gottes offenbart sich im Leben des Menschen als eine neue, zunächst unbekannte Dimension und deshalb als eine große Herausforderung. Ihre Wahrnehmung geschieht niemals im enthüllten Schauen, sondern allein im Erspüren und Ertasten. Nicht im Begreifen, sondern im Glauben ereignet sich das Erkennen dieser Wirklichkeit. Gerade in unserer technisierten Welt versuchen Menschen wieder vermehrt, die leibliche Dimension ihrer Existenz 316 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Demut – Offenheit – Aufgaben – 12 Thesen
zu spüren. Das Praktizieren von Extremsportarten, der Boom von Wellness und Fitness sowie die allgegenwärtige Sexualität sind sprechende Beweise dafür. Es gibt aber eine andere, viel feinfühligere Art, seinen Leib und so sich selbst zu spüren und mit sich in einen guten, heilsamen Kontakt zu kommen. Hinweise darauf finden sich in diesem Buch genügend. Diejenigen, die im Dienst der Vermittlung des Glaubens stehen, könnten und sollten sich das stärker zunutze machen. Denn der Leib schafft mir einen Zugang zum Nächsten und zu mir selbst. Die Spiritualität der Wahrnehmung nährt sich aus dem Gespür für ein Leben in dieser Zeit und in diesem Leib. Aufgabe einer Spiritualität der Wahrnehmung ist es, die Bedeutung des Leibes für geistig-geistliche Prozesse wieder bewusst zu machen und so dem Zerfall der geistlichen Identität des westlichen Menschen entgegenzuwirken, ohne in das andere Extrem einer körperfixierten, hedonistischen Kultur zu fallen. Spiritualität der Wahrnehmung weist einen Weg für unsere Zeit, in der Menschen sich nach authentischer Erfahrung sehnen. Sie wollen in Berührung mit etwas kommen, das nicht planbar und nicht käuflich ist. Ohne die grundlegende Erfahrung einer existentiellen Berührung ist jedes Bestreben und Bemühen um Erklärung von Glaubensinhalten fruchtlos, weil die Grundvoraussetzung der Offenbarung fehlt. Gibt es dagegen anfänglich diese Grunderfahrung, kann leicht bei den Erfahrungen, von denen die Heilige Schrift berichtet, angeknüpft werden. Die theologischen Disziplinen Exegese, Dogmatik, Moral- und Fundamentaltheologie kommen ergänzend hinzu, bleiben aber immer sekundär im Vergleich zu jener Erfahrung, die an meinen innersten Kern rührt, indem ich entdecke, dass ich mich nicht selbst geschaffen habe und meine Existenz in Zeit und Raum nicht mir selbst verdanke. Dieser Grunderfahrung des Daseins den Vorrang einzuräumen, ist Ziel einer Spiritualität der Wahrnehmung. Spiritualität der Wahrnehmung ist nichts anderes als ein 317 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Gottsuche – Ruf – Antwort – Gabe.
Appell, der unsichtbaren Wirklichkeit Gottes in unserer Welt und Zeit wieder gewahr zu werden. Wie es unterschiedlich schwere Sorten von Gewichten gibt, so gibt es auch unterschiedliche Arten und Quellen von Erkenntnis. Erkenntnis durch Wahrnehmung ist sicherer als Erkenntnis aus Erinnerung; denn Wahrnehmung ist eine originär gegebene Anschauung. Je mehr ich mich auf sie stützen kann, desto tiefer prägt sich mir die Erkenntnis ein. Ein Erlebnis ist weniger als eine Erfahrung, eine Empfindung weniger als eine Wahrnehmung. Spiritualität der Wahrnehmung ist eine geistliche Lehre im Indikativ, nicht im Imperativ. Es wird zwar ein geistlicher Weg aufgezeigt, aber gerade bei den Themen Berührung, Wahrnehmung, Erfahrung und Begegnung muss ihn jeder für sich und auf seine Weise gehen. Auch wenn Spiritualität der Wahrnehmung in der Berührung des eigenen Fleisches, als Sinnbild der Existenz schlechthin, gründet, ist sie dennoch keine Angelegenheit für ein einsames, frommes Gefühl. Sie möchte in innerem Einklang mit den intellektuellen Herausforderungen von heute stehen, für die hier der phänomenologische Ansatz bemüht wird, besonders seine Neuentdeckung der erkenntnistheoretischen Bedeutung der Leiblichkeit. Sie ist eine Form von Spiritualität, die diesem Ansatz entspricht und ihm verpflichtet ist. Hier lässt sich nichts erzwingen. Der Leser wird auf seine Achtsamkeit verwiesen. Er wird sensibilisiert für bisher ungewohnte Zugänge zur geistlichen Wirklichkeit. Es soll z. B. Interesse und Lust geweckt werden, dem nachzuspüren, was einen äußerlich und innerlich anrührt, aber es gibt keine Gebrauchsanweisung zur Schärfung des Tastsinns. Innerhalb des phänomenologischen Ansatzes wird der anthropologische und theologische Rahmen abgesteckt: Der Mensch ist ein berührendes und berührbares Wesen, und er kann mit Gott in Berührung kommen. Die Seele soll geöffnet werden für den Gott, der sich uns mitteilen und uns nahe kommen will. Wir sind am Ende des Weges einer Einführung in die Spi318 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Demut – Offenheit – Aufgaben – 12 Thesen
ritualität der Wahrnehmung angelangt. Bei der Suche nach einem Text, der das Anliegen zusammenfasst, könnte man auf ein kurzes Gedicht von Klaus Hemmerle verweisen. Dort reflektiert er eigene Erfahrungen von Gastfreundschaft, die ihm während des Urlaubs auf Sardinien von einfachen Menschen, Bauern und Hirten, geschenkt wurde. 15 Wenn die Haustür einen Spalt offen stand, wusste er stillschweigend, dass er als Gast willkommen war: »Gastfreundschaft / Tritt durch den Spalt, / atme die Ordnung, / lerne am Herd / die Würde des Gastes / und empfang / in der Fülle der Gaben / deren königliche / anvertrautes Leid.« R. Feiter deutet es so: »Auf den Spalt kommt es an in der Gastlichkeit und darauf, ihn wahrzunehmen und einzutreten. Mehr als ein Spalt öffnet sich selten. Auf diese fremde Ordnung kommt es an, auf die jeweilige Ordnung dieses Menschen, dieses Lebens, dieses Milieus und darauf, sie zu atmen. Wo ich nur beobachte oder wo ich gar anfange, die Ordnung der Dinge zu verrücken, werde ich nicht zum Gast.« 16 Dem Unsichtbaren und Unscheinbaren Raum zu schaffen, den Spalt oder Schacht zur Transzendenz offen zu halten, damit die Gegenwart Gottes wieder spürbar, wahrnehmbar, erfahrbar wird, wenn es zu einer Begegnung mit uns kommt, das ist Absicht und Ziel einer Spiritualität der Wahrnehmung. Dem Leser, der diesen Weg geduldig mitgegangen ist, werden sich Felder öffnen, auf denen er mit neuer, geschulter Wahrnehmung die Saat des Evangeliums heranwachsen sieht oder sie selbst auszusäen vermag. Er wird – einmal sensibilisiert – nicht zulassen, dass sein Verlangen nach Schauen (libido videndi) zu einem Verlangen nach Wissen (libido sciendi) wird, und er wird sich auf dieser Grundlage einfühlsamer auf die eigentlichen Erfordernisse seiner inhaltlichen Arbeit einlassen können. 17 Er wird selbst zum Nadelöhr werden, durch das sich der Faden des jeweiligen Tuns einfädelt und in das Geflecht des Lebens einwebt. Die Wahrnehmung gibt der Gegenwart, dem, was gerade ist und sich zeigt, den Vorrang vor 319 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Gottsuche – Ruf – Antwort – Gabe.
allen Konstrukten, die entweder aus der Vergangenheit erwachsen oder Projektionen in die Zukunft sind. Sie geht von der unmittelbaren Präsenz eines Gottes aus, der sich von Generation zu Generation als der »Ich bin der ich bin da« (Exodus 3,14) offenbart. Deshalb betrachtet sie alle Phänomene mit neugierigem und verwundertem Interesse wie Mose den Dornbusch, der brannte und doch nicht verbrannte. Sie enthält sich des Urteils, weil sie davon ausgeht, dass Gott einen Plan und einen Weg mit jedem Menschen hat und dass er allein Zeit und Stunde weiß. Sie richtet ihre ganze Aufmerksamkeit auf den nächsten Schritt und peilt das Ziel an – ähnlich wie bei der japanischen Kunst des Bogenschießens: ohne zu zielen, sich von innen her dem Ziel über dieses Ziel selbst hinaus entgegenstrecken. Sie lädt dazu ein, die Stimme Gottes wahrzunehmen als den roten Faden, der zunächst oft unbemerkt durch mein ganzes Leben läuft. Manchmal scheint es, als ob er nur von der Rückseite her sichtbar wäre. Der Schmerz, der in der Begegnung mit der Wirklichkeit Gottes nicht ausbleiben wird, bietet eine gewisse Garantie für die Echtheit der Begegnung und wird grundlegend für den weiteren Weg, der von nun an beginnt. Bei allem Bemühen um Erkenntnis, ob sinnlicher oder spekulativer Art, ist die Konzentration der Schlüssel zum Erfolg. Die Wahrnehmung des Anderen wird von der Fähigkeit abhängen, selbst kongruent zu sein und sich klar darüber Rechenschaft abzulegen, was in meinem Innern vorgeht und welche Wirkung ich auf Außenstehende ausübe. Meine Wahrnehmung präsentiert mir stets beides: das, was draußen ist, und das, was in mir ist. Dies vermengt sich mit dem, was ich meine Wahrnehmung nenne. Je nachdem, wo das Schwergewicht im Augenblick liegt – mehr innen oder mehr außen –, wird die Wahrnehmung des anderen Pols verzerrt. Der Volksmund formuliert diese Weisheit so: »vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr sehen«. Ein Mensch, der zu sehr mit Einzelheiten beschäftigt ist, verliert den Blick für das Ganze. Es muss sich erst 320 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Demut – Offenheit – Aufgaben – 12 Thesen
ein Raum öffnen. Der Wald muss ihm als Wald willkommen sein, dann kann der Mensch einzelne Bäume sehen, d. h. Themen, die ihm wichtig sind, wahrnehmen. Dass dieser Raum entstehen kann, ist eines der Ziele einer Spiritualität der Wahrnehmung. Sie will nicht weltfremd sein und doch Räume schaffen, in denen die unauslöschliche Sehnsucht des Menschen nach seinem Schöpfer mit dem Wasser des Lebens gestillt werden kann. Keine Dimension des menschlichen Lebens ist ihr fremd. Sie weiß zu vermitteln zwischen der Lehre der Kirche und dem Schicksal eines Einzelnen. Sie will zur behutsamen Begleitung ermutigen und anleiten. Sie bleibt wachsam und drängt sich nicht auf, da ihr stets bewusst bleibt, dass nur Gott »Zeit und Stunde kennt« (vgl. 1. Thessalonicherbrief 5,1 f.; Offenbarung 3,3). Die Kirche erschöpft sich nicht in der sichtbaren Gestalt einer menschlichen Institution, die selbstverständlich ihre Grenzen hat und offenkundig mit Fehlern beladen ist. Ihr Auftrag ist es, die Botschaft, die in Jesus von Nazareth ein Gesicht angenommen hat und die allein des Menschen Herz erfüllen kann, so lebendig zu halten, dass diese ungeheure Hoffnung auf ein neues Leben in und mit Gott wahrnehmbar wird. Der sichtbare Erfolg soll nicht der Maßstab unseres Handelns sein. Innere Prozesse brauchen eben mehr Zeit als äußere Veränderungen oder schnell gefasste Vorsätze. Demjenigen, der aus einer Spiritualität der Wahrnehmung leben will, wird ein hohes Maß an Selbsterkenntnis und Selbstkritik abverlangt. Sie ist in sich missionarisch, weil sie auf Glaubwürdigkeit und Authentizität basiert. Ihr sind Zahlen und Prozentanteile nicht wichtig. Die Qualität der angelegten Beziehungen und deren Bestand bedeuten ihr mehr als einmalige Erfolge oder gelungene Events. Die Prophezeiung von Marcel Jousse, dass »die Zukunft des Religiösen in unserer Zivilisation vom tieferen oder weniger tiefen Verständnis des objektiven und analogischen Sinns der großen mimo-dramatischen Erzählungen aus Palästina« 18 321 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Gottsuche – Ruf – Antwort – Gabe.
abhängen wird, scheint sich zu bewahrheiten, zumal in Europa. Der existentielle Bezug zu jenen Ursprungsgeschichten scheint heute verloren gegangen zu sein. Im normalen Alltag ist unser Blick auf Dinge ausgerichtet, die wir benutzen, und wenn wir uns Menschen zuwenden, dann gehören diese zunächst ebenfalls zur Sachwelt, zu unserer Umgebung, weil wir sie nicht aus der Innenperspektive heraus wahrnehmen. Alles, was wir tun, denken, fühlen, wahrnehmen, wie wir einander begegnen, geschieht in unserem Leib. Er steht gewissermaßen am Anfang unseres Daseins und unseres täglichen, nie abgeschlossenen »zur Welt Kommens«. »Der Anfang ist die reine und sozusagen noch stumme Erfahrung, die nun erst zur reinen Aussprache ihres eigenen Sinnes zu bringen ist«, schreibt Husserl. 19 Für das vorliegende Werk ist es charakteristisch, dass man an seinem Ende nur auf den Anfang zurückverweisen kann. Wenn etwas von einer stummen Erfahrung zum Ausdruck gebracht werden konnte, wenn der Leser in der Transzendenz des Leibes einen Hinweis auf den ganz Anderen gefunden hat, dem wir uns in den vier Dimensionen der Berührung, der Wahrnehmung, der Erfahrung und der Begegnung nähern wollten, dann hat dieses Buch seine Bestimmung erfüllt. Zum Abschluss eine Zusammenfassung »Spiritualität der Wahrnehmung in zwölf Thesen«: 1. Auch wenn die Glaubenspraxis stark zurückgegangen ist, hat die Sehnsucht nach Spiritualität, nach einer Berührung durch Gott nicht nachgelassen. 2. Auch in einer durch und durch mediatisierten, technisierten und virtualisierten Welt kann der Mensch von der Gegenwart Gottes so berührt werden, dass er zum Glauben an ihn kommt. 3. Aufgrund der Menschwerdung Gottes in Jesus Christus (Inkarnation) kann der Mensch diese Berührung wahrnehmen und ihrer gewahr werden. 322 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Demut – Offenheit – Aufgaben – 12 Thesen
4.
Das Bewusstsein des Menschen, das im Augenblick auf »etwas« ausgerichtet ist, kann als intentionales Bewusstsein aufgefasst werden. Ganz gleich ob Empfindung, Begriff, Erinnerung, Vorstellung oder Fantasie, dieses Etwas ist dem Bewusstsein immer im Jetzt gegenwärtig und deshalb wahrnehmbar. 5. Grundlage der Identität des Menschen ist die Erinnerung. Grundlage der Erinnerung sind das kognitive und das Leibgedächtnis, der seinen Zellen eingeschriebene lebendige Speicher dessen, was ein Mensch erlebt hat. 6. Der Leib ist so angelegt, dass er eine Beziehung zur Transzendenz aufnehmen und wiedergeben kann. 7. Der Mangel an leiblicher Erfahrung führt zur Entfremdung von der Wirklichkeit und zu einer Verarmung der Fähigkeit zur Erfahrung im Allgemeinen und der Fähigkeit zur religiösen Erfahrung im Besonderen. 8. Die Ermöglichung einer ursprünglichen Erfahrung der Präsenz Gottes im eigenen Leib kann ein neuer Anfang für die Verkündigung der christlichen Botschaft werden. 9. Anfang, Mitte und Ziel der christlichen Verkündigung ist Jesus Christus, das Mensch gewordene Wort Gottes. Christlicher Glaube ist nur dann gegeben, wenn der Mensch dem Gott begegnet, der in Jesus Christus Fleisch angenommen hat. 10. Ohne Gespür für diese Sehnsucht nach echter, glaubwürdiger Begegnung wird die Glaubensvermittlung heute an der Empfänglichkeit der Menschen vorbeigehen. 11. Ohne Gespür für das Besondere ihres Inhalts – früher hätte man von »essentia«, dem Wesen der Sache, gesprochen – wird die Glaubensvermittlung ihr Ziel verfehlen. 12. Spiritualität der Wahrnehmung zielt auf das Gewahrwerden der Präsenz Gottes. Besondere Medien dieses Gewahrwerdens sind Leiblichkeit und Stille, als Wege des Mensch gewordenen Gottes: Et Verbum caro factum est. 323 https://doi.org/10.5771/9783495808115 .
Gottsuche – Ruf – Antwort – Gabe.
Gehen wir noch ein letztes Mal durch den Kreuzgang auf dem Coverbild und beschreiten seine vier Flügel, die »edlen Wahrheiten«, wenn wir sie in ehrfürchtiger Anlehnung an die buddhistische Tradition so nennen wollen. In der Berührung kommt eine transzendente Wirklichkeit auf mich zu, die ich wahrnehmen kann. Nehme ich sie wahr, wird sie zum Bestandteil meiner Erfahrungen. Ich kann sie benennen. Will ich sie bewahren, dann muss ich sie loslassen und die Stelle leer halten, damit der Kreuzgang auch Kreuzgang bleibt und nicht zum Bunker wird. Sie heißt in unserer christlichen Offenbarung: der dreifaltige Gott, und so hat sie sich uns auch zu »erkennen« gegeben, als Gott im Fleisch »erschien«. Aus der Begegnung lebend, sind beide Autoren selbst dankbar für Kritik und Anregungen und hoffen, dass andere, die es besser erspüren und verstehen als sie selbst, das Begonnene fortsetzen werden.
Anmerkungen E. Lévinas, Wenn Gott ins Denken einfällt, Freiburg / München 1985, S. 186. 2 II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute, Gaudium et spes 4. (1965). 3 Heidegger, Post-scriptum, Brief an einen jungen Studenten. 4 J. Wohlmuth, J.-L. Marion, Ruf und Gabe. Zum Verhältnis von Phänomenologie und Theologie, Bonn 2000, S. 62. 5 Ebd., S. 63. 6 J.-L. Marion, Etant-donné. Essai d’une phénoménologie de la donation, Paris 1997. Siehe auch: Le phénomène saturé, in: Phénoménologie et théologie, Présentation de J.-F. Courtine, Paris 1992, S. 89. 7 J. Wohlmuth, J.-L. Marion, Ruf und Gabe. Zum Verhältnis von Phänomenologie und Theologie, Bonn 2000, S. 56; 58. 8 M. Scheler, Zur Rehabilitierung der Tugend, Zürich 1950, S. 18. 9 E. Rosenstock-Huessy, Im Prägstock eines Menschenschlages oder Der tägliche Ursprung der Sprache in: Die Kopernikanische Wende in der Sprachphilosophie, Freiburg / München 2012, S. 246. 1
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Anmerkungen M. Schneider, Theologie als Nachfolge. Zur existentiellen Grundstruktur von Glaube und Theologie in Geschichte und Gegenwart, Köln 2007, S. 7. 11 Äbtissin L. Hecker OSB, »Seine Rechte umfängt mich«, Abtei Mariendonk 2014, S. 8, als Manuskript gedruckt. 12 M. Scheler, Zur Rehabilitierung der Tugend, Zürich 1950, S. 36. 13 Ebd., S. 37. 14 Ebd., S. 40 15 Posthum veröffentlicht 1994. 16 R. Feiter, Antwortendes Handeln. Praktische Theologie als kontextuelle Theologie, Münster 2002, S. 325. 17 B. Waldenfels, Phänomenologie der Aufmerksamkeit, Frankfurt 2004, S. 101. 18 M. Jousse, La manducation de la parole, in: L’anthropologie du geste, Paris 2008, S. 509. 19 E. Husserl, Cartesianische Meditationen, II, 16. Hamburg 1987, S. 40. 10
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